Kapitel 11

IV

Sossimow war ein hochgewachsener Mensch, ziemlich fett, mit dickem, bläßlichem, glattrasiertem Gesichte und ganz hellblondem, glattem Haar; er trug eine Brille und an einem seiner dicken, fetten Finger einen großen goldenen Ring. Er mochte etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein. Bekleidet war er mit einem weiten, eleganten leichten Paletot und hellen Sommerbeinkleidern; überhaupt waren alle Bestandteile seines Anzuges weit, elegant und höchst adrett, die Wäsche tadellos, die Uhrkette schwer, massiv. Seine Bewegungen waren langsam und scheinbar müde, dabei aber von einer studierten Ungezwungenheit; ein gewisser Hochmut kam, obwohl er sich Mühe gab, ihn zu verbergen, doch fortwährend zum Vorschein. Alle, die ihn kannten, hielten ihn für einen etwas schwerfälligen Menschen, sagten ihm aber nach, daß er seine Sache verstände.

»Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder«, rief Rasumichin. »Sieh nur, er ist wieder zu sich gekommen!«

»Ich sehe, ich sehe. Nun, wie fühlen wir uns denn jetzt, he?« wandte sich Sossimow an Raskolnikow, indem er ihn prüfend anblickte und sich zu ihm auf das Sofa setzte, ans Fußende, wo er es sich sofort nach Möglichkeit bequem machte.

»Er ist immer so hypochondrisch«, fuhr Rasumichin fort. »Wir haben ihm eben die Wäsche gewechselt; da fing er beinahe an zu weinen.«

»Sehr begreiflich; mit der Wäsche hätte es ja auch noch Zeit gehabt, wenn er selbst es jetzt nicht mochte … Der Puls ist vorzüglich. Der Kopf tut wohl immer noch ein bißchen weh, nicht wahr?«

»Ich bin gesund, vollständig gesund!« entgegnete Raskolnikow in eigensinnigem, gereiztem Tone; er richtete sich plötzlich auf dem Sofa auf und blickte mit funkelnden Augen um sich, legte sich aber sogleich wieder auf das Kissen zurück und drehte sich nach der Wand zu.

Sossimow beobachtete ihn mit unverwandtem Blicke.

»Sehr gut, … alles, wie es sein muß«, sagte er lässig. »Hat er etwas gegessen?«

Rasumichin gab Auskunft und fragte, was ihm gegeben werden dürfte.

»Er kann alles bekommen, … Suppe, Tee, … Pilze und Gurken natürlich nicht, na, und Fleisch braucht er auch noch nicht, und … na ja, es ist ja weiter nichts zu sagen!« Er wechselte einen Blick mit Rasumichin. »Die Medizin weg, alles weg; ich sehe morgen wieder nach … Es wäre vielleicht auch heute … na ja …«

»Morgen abend führe ich ihn spazieren«, erklärte Rasumichin in bestimmtem Tone. »In den Jussupow-Garten, und dann gehen wir in den Kristallpalast.«

»Morgen würde ich noch Ruhe für ihn empfehlen; übrigens … ein bißchen Bewegung … nun, das wollen wir mal morgen sehen.«

»Jammerschade, heute veranstalte ich gerade eine kleine Festlichkeit aus Anlaß meines Umzuges; es ist bloß ein paar Schritte von hier; da müßte er eigentlich auch mit dabei sein. Er könnte ja auf dem Sofa liegen, und wir würden uns dann um ihn herumsetzen. Aber du, du wirst doch kommen?« wandte sich Rasumichin an Sossimow.

»Vergiß es nicht; du hast es mir versprochen.«

»Vielleicht komme ich, aber wohl etwas später. Was gibt es denn bei dir?«

»Es ist alles ganz einfach: Tee, Schnaps, Hering. Pirog gibt es auch. Es kommen nur gute Bekannte.«

»Wer denn?«

»Lauter Leute hier aus der Gegend und fast sämtlich neue Bekannte – ausgenommen etwa den alten Onkel, und ein neuer Bekannter ist der eigentlich auch: er ist erst gestern hier in Petersburg angekommen; er hat hier geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen. Wir sehen einander nur so alle Jahre einmal.«

»Was ist er?«

»Er hat sein ganzes Leben lang als Postmeister in einer Kreisstadt vegetiert, … jetzt bezieht er eine kleine Pension, er ist fünfundsechzig Jahre alt. Viel zu sagen ist nicht von ihm; aber ich habe ihn ganz gern. Auch Porfirij Petrowitsch kommt, der Untersuchungskommissar, ein Jurist. Aber du kennst ihn ja …«

»Ist der nicht auch irgendwie mit dir verwandt?«

»Nur ganz weitläufig. Aber warum machst du denn so ein böses Gesicht? Du wirst doch nicht deshalb wegbleiben wollen, weil ihr euch einmal miteinander gezankt habt?«

»Der ist für mich Luft.«

»Sehr vernünftig gedacht. Na, dann sind noch ein paar Studenten da, ein Lehrer, ein Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Sametow …«

»Sag mir nur um alles in der Welt, was kannst du oder der hier« (Sossimow wies durch eine Kopfbewegung auf Raskolnikow) »mit einem Menschen wie Sametow für Berührungspunkte haben?«

»Nein, diese wählerischen, mäkligen Menschen! Ihr Prinzipienreiter! … Du läßt dich ganz und gar durch deine Prinzipien wie durch innere Sprungfedern in Bewegung setzen und wagst gar nichts nach eigenem Willen zu tun. Meine Meinung ist: wenn einer ein guter Mensch ist, so genügt das; weiter brauche ich dann gar nichts über ihn zu wissen. Das ist mein Prinzip. Sametow ist ein ganz prächtiger Mensch.«

»Und macht hohle Hände.«

»Na, und wenn schon, was zum Teufel schert mich das? Meinetwegen mag er hohle Hände machen!« rief Rasumichin, der in eine ihm sonst fremde Aufregung hineingeriet. »Habe ich etwa das an ihm gelobt, daß er hohle Hände macht? Ich habe nur gesagt, daß er in seiner Art gut ist. Und wenn man eine so überscharfe Kritik übt, wie viele Menschen können dann überhaupt als gut bezeichnet werden? Ich bin fest überzeugt, daß unter solchen Umständen ein Käufer für meine eigene Person, einschließlich des gesamten Eingeweides, höchstens eine gebackene Zwiebel geben würde, und auch das nur, wenn er dich dabei noch als Zugabe bekommt! …«

»Das ist denn doch zu wenig; ich gebe für dich allein zwei.«

»Und ich für dich nur eine. Du mit deinen Witzen! Sametow ist noch ein junges Bürschchen, und ich treibe noch so mein Späßchen mit ihm; denn man muß ihn freundlich heranziehen und nicht etwa zurückstoßen. Durch Zurückstoßen bessert man einen Menschen nicht, und am allerwenigsten einen jungen Burschen. Bei einem jungen Burschen ist doppelte Vorsicht vonnöten. Ach, ihr Narren mit euren fortschrittlichen Ideen, rein gar nichts versteht ihr! Andre Menschen achtet ihr nicht, euch selbst vergöttert ihr! … Aber wenn du es wissen willst: es verbindet uns sogar ein bestimmtes gemeinsames Interesse.«

»Da bin ich neugierig.«

»Ja, es handelt sich um den Maler, d. h. den Anstreicher … Wir werden ihn schon losbekommen! Übrigens ist jetzt eigentlich für ihn keine Gefahr mehr; die Sache ist jetzt klar, völlig klar. Wir wollen nur noch ein bißchen Dampf dahinter machen.«

»Was ist das für ein Anstreicher?«

»Habe ich dir denn die Geschichte nicht schon erzählt? Ja, ja, jetzt weiß ich, ich habe dir nur den Anfang erzählt … von der Ermordung der alten Pfandleiherin, der Beamtenwitwe, … na, in diese Geschichte ist jetzt ein Anstreicher verwickelt worden …«

»Von dem Morde hatte ich schon früher gehört als du, und die Sache interessiert mich sogar … einigermaßen … aus einem bestimmten Grunde … Ich habe auch in den Zeitungen davon gelesen. Aber nun …«

»Lisaweta ist auch ermordet!« platzte auf einmal Nastasja, zu Raskolnikow gewendet, heraus.

Sie war die ganze Zeit über im Zimmer geblieben und hatte, an die Tür gelehnt, zugehört.

»Lisaweta?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar.

»Jawohl, Lisaweta, die Altwarenhändlerin; kennst du sie nicht? Sie kam manchmal zu uns herunter. Sie hat dir auch einmal ein Hemd ausgebessert.«

Raskolnikow drehte sich nach der Wand, wo er auf der schmutzigen gelben Tapete mit weißen Blümchen sich ein plump gezeichnetes weißes Blümchen mit braunen Strichelchen aussuchte und genau betrachtete: wieviel Blättchen daran seien, was für kleine Zacken an den Blättchen und wieviel Strichelchen. Er fühlte, daß ihm die Hände und Füße taub wurden, als ob sie gelähmt wären; aber er machte nicht einmal einen Versuch, sie zu bewegen, und starrte unverwandt auf das Blümchen.

»Nun also, wie ist das mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimow sehr mißvergnügt Nastasjas Geschwätz.

Diese seufzte und schwieg.

»Der ist nun auch als Mörder verdächtigt worden!« fuhr Rasumichin eifrig fort.

»Was sind denn für Beweise da?«

»Absolut gar keine! Allerdings ist er gerade auf Grund eines Beweismoments festgenommen worden; aber es ist eben kein Beweis, und das ist’s, was wir nachweisen müssen. Es ist genau dieselbe Geschichte wie gleich zuerst nach dem Morde, wo sie die beiden Leute, wie heißen sie doch gleich …, Koch und Pestrjakow, als verdächtig festnahmen. Pfui! Wie dumm die Polizei hier immerzu verfährt; selbst wenn man die Sache nur von fern betrachtet, ekelt es einen. Pestrjakow kommt vielleicht heute zu mir … Übrigens, du weißt ja wohl von diesem Ereignisse schon, Rodja; es passierte noch vor deiner Krankheit, gerade am Abend vor dem Tage, wo du auf dem Polizeibureau in Ohnmacht fielst, als dort davon gesprochen wurde …«

Sossimow blickte Raskolnikow neugierig an; dieser rührte sich nicht.

»Weißt du was, Rasumichin? Ich bin ganz erstaunt über dich, was du für ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen bist!« bemerkte Sossimow.

»Kann sein; aber losbekommen werden wir ihn doch!« rief Rasumichin und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Weißt du, was mich dabei am meisten ärgert? Nicht, daß diese Herren von der Polizei sich irren; einen Irrtum kann man immer verzeihen; ein Irrtum ist sogar etwas ganz Gutes, weil er zur Wahrheit führt. Nein, das Ärgerliche ist, daß sie sich irren und von ihrem eigenen Irrtum entzückt sind. Ich schätze Porfirij sehr, aber … Was hat sie zum Beispiel gleich anfangs irregemacht? Die Tür war versperrt, und als die beiden mit dem Hausknecht hinaufkamen, war sie offen: folglich haben Koch und Pestrjakow den Mord begangen! Das ist nun ihre Logik!«

»Werde doch nicht so hitzig! Es ist den beiden doch nichts weiter passiert, als daß sie verhaftet wurden, und das war doch ein Ding der Notwendigkeit … Übrigens habe ich diesen Herrn Koch schon einmal getroffen; er pflegte, wie sich herausgestellt hat, der Alten verfallene Pfandstücke abzukaufen. Nicht wahr?«

»Ja, er ist ein Gauner! Kauft auch Wechsel auf. Ein unsauberes Gewerbe. Hol ihn der Kuckuck! Verstehst du aber wohl, worüber ich so wütend bin? Über ihre veraltete, abgeschmackte, verdrehte Methode bin ich wütend … Und gerade in dieser Sache läßt sich ein ganz neuer Weg finden. Einzig und allein aus den psychologischen Anhaltspunkten läßt sich zeigen, wie man auf die richtige Spur kommen muß. ›Wir haben Fakta‹, sagen sie. Aber Fakta allein tun’s nicht; man muß doch auch mit den Fakten umzugehen wissen!«

»Und du verstehst dich darauf?«

»Man kann doch aber nicht schweigen, wo man fühlt und weiß, daß man in der Sache etwas nützen könnte, wenn … Donnerwetter noch mal! … Kennst du die Geschichte in ihren Einzelheiten?«

»Ich warte immer noch darauf, etwas über den Anstreicher zu hören.«

»Ach so! Na, dann hör mal zu. Gerade zwei Tage nach dem Morde, vormittags, als sie sich auf der Polizei noch mit Koch und Pestrjakow abmühten – obwohl diese sich über jeden ihrer Schritte ausgewiesen hatten; ein absolut zwingender Unschuldsbeweis! –, da kommt plötzlich ein ganz unerwartetes Faktum zum Vorschein. Ein gewisser Duschkin, ein früherer Bauer, der jetzt dem betreffenden Hause gerade gegenüber eine Kneipe hat, erscheint auf dem Polizeibureau und bringt ein Etui mit einem goldenen Ohrgehänge und erzählt eine lange Geschichte. ›Vorgestern abend, bald nach acht‹ – Tag und Stunde! merkst du was? – ›kam zu mir ein Malergeselle, der auch schon früher manchmal am Tage bei mir gewesen war, er heißt Mikolai, und brachte mir dieses Kästchen mit goldenen Ohrringen, es sind auch Steinchen daran, und wollte es bei mir für zwei Rubel versetzen; und auf meine Frage, wo er trinken?« Und dabei gab ich einem der Kellnerjungen einen Wink, daß er die Tür zuhalten möchte, und kam hinter dem Schenktische vor. Der aber stürmte aus dem Lokal hinaus auf die Straße und im Galopp davon und in eine Seitenstraße hinein – weg war er. Da war nun mein Verdacht bestätigt; der hat den Mord auf seinem Gewissen, ganz entschieden.‹«

»Na gewiß! …« meinte Sossimow.

»Warte, hör mal erst die Geschichte zu Ende! Natürlich wurde alles aufgeboten, um Mikolai ausfindig zu machen; Duschkin wurde festgenommen und Haussuchung bei ihm gehalten; ebenso verfuhr man mit Dmitrij; auch Mikolais Landsleute, bei denen er die Nacht gewesen war, wurden verhört – und vorgestern gelang es, Mikolai selbst zur Stelle zu schaffen. Er war in der Nähe des …schen Schlagbaums in einer Herberge festgenommen worden. Er war dort hingekommen, hatte sein silbernes Taufkreuz vom Halse genommen und für das Kreuz ein Mäßchen Schnaps verlangt. Das war ihm verabfolgt worden. Ein paar Minuten darauf ging die Wirtin in den Kuhstall und sah durch eine Ritze, daß er in der daneben liegenden Scheune seinen Gurt an einen Balken gebunden und eine Schlinge gemacht hatte und gerade auf einen Klotz stieg und sich die Schlinge um den Hals legen wollte. Die Frau erhob ein gewaltiges Geschrei, und alles lief zusammen: ›Na, du scheinst ja ein netter Kunde zu sein!‹ hieß es. – ›Bringt mich nach dem und dem Polizeirevier‹, sagte er, ›ich will alles bekennen.‹ Nun, man transportierte ihn mit allen ihm zustehenden Ehrenbezeugungen nach dem betreffenden Polizeirevier, d. h. hierher. Da ging’s nun los: ›Wie heißt du? Was bist du? Wie alt bist du?‹ – ›Zweiundzwanzig Jahre‹, usw. usw. Frage: ›Als ihr, du und Mitrej, arbeitetet, habt ihr da nicht jemand in der und der Stunde auf der Treppe gesehen?‹ Antwort: ›Es werden schon Leute vorbeigegangen sein; aber wir haben nicht darauf geachtet.‹ – ›Habt ihr nichts gehört, Lärm oder dergleichen?‹ – ›Wir haben nichts Auffälliges gehört.‹ – ›Hast du schon gleich an jenem Tage erfahren, Mikolai, daß die Witwe Soundso mit ihrer Schwester an diesem Tage zu der und der Stunde ermordet und beraubt worden war?‹ – ›Ich habe gar nichts, rein gar nichts davon gewußt; zum ersten Male habe ich davon zwei Tage darauf von Afanassij Pawlowitsch Duschkin in der Schenke gehört.‹ – ›Und wo hast du das Ohrgehänge herbekommen?‹ – ›Das habe ich auf dem Trottoir gefunden.‹ – ›Warum bist du am andern Tage nicht mit Mitrej zur Arbeit gekommen?‹ – ›Ich hatte mich herumgetrieben und getrunken.‹ – ›Wo ist das gewesen?‹ – ›Da und da.‹ – ›Warum bist du vor Duschkin davongelaufen?‹ – ›Weil ich solche Angst hatte.‹ – ›Wovor hattest du denn Angst?‹ – ›Daß sie mich verurteilen werden.‹ – ›Wie konntest du denn davor Angst haben, wenn du dich ganz unschuldig fühlst?‹ Ob du’s mir nun glaubst oder nicht, Sossimow, diese Frage ist tatsächlich gestellt worden, und zwar buchstäblich mit diesen Worten; ich weiß es bestimmt; es ist mir zuverlässig mitgeteilt worden. Was sagst du dazu? Nun?«

»Na, allerdings … Aber es liegen doch Beweismomente vor.«

»Ich rede jetzt nicht von den Beweisen, sondern von dieser Fragestellung, von der Art, in der sie ihre Aufgabe auffassen! Na, lassen wir’s; weiter! Sie haben ihn also so lange gequetscht und geknetet, bis er endlich gestand: ›Ich habe es nicht auf dem Trottoir gefunden, sondern in der Wohnung, wo ich mit Mitrej arbeitete.‹ – ›Wie ist das zugegangen?‹ – ›Das war so: Mitrej und ich hatten den ganzen Tag bis acht Uhr gearbeitet und wollten eben weggehen, und da nahm Mitrej einen Pinsel und schmierte mir Farbe ins Gesicht, ja, ganz voll Farbe schmierte er mir das Gesicht und lief davon und ich hinter ihm her. Und ich lief ihm nach und schrie, was ich konnte. Und als ich von der Treppe in den Torweg einbog, rannte ich in vollem Lauf gegen den Hausknecht und einige Herren an; aber wieviel Herren da bei ihm waren, erinnere ich mich nicht; und der Hausknecht schimpfte auf mich deswegen, und ein andrer Hausknecht schimpfte auch, und die Frau des Hausknechts kam heraus und schimpfte auch auf uns, und ein Herr kam mit einer Dame in den Torweg und schimpfte auch auf uns, weil Mitrej und ich mitten im Wege lagen: ich hatte Mitrej an den Haaren gefaßt und hingeschmissen und keilte ihn, und Mitrej, der unten lag, hatte mich auch an den Haaren gefaßt und keilte mich auch, und wir taten es nicht im Ernst, sondern in aller Freundschaft, aus Spaß. Und dann machte sich Mitrej los und lief auf die Straße und ich hinter ihm her; aber ich kriegte ihn nicht und ging allein in die Wohnung zurück; denn es mußte doch noch aufgeräumt werden. Ich suchte alles zusammen und wartete auf Mitrej, ob er wohl kommen würde. Und bei der Tür nach dem Flur, an der Wand, in der Ecke, da trat ich auf etwas. Ich sah hin, da lag ein Kästchen, in Papier gewickelt. Ich wickelte das Papier auf, da sah ich an dem Kästchen so ganz kleine Häkchen; ich machte die Häkchen auf, und da waren in dem Kästchen Ohrringe drin …‹«

»Hinter der Tür? Hinter der Tür lag es? Hinter der Tür?« rief plötzlich Raskolnikow, sah Rasumichin mit verstörten, angstvollen Augen an und richtete sich langsam, auf den Arm gestützt, auf dem Sofa auf.

»Ja … Aber was hast du denn? Was ist mit dir? Was erregt dich denn so?«

Rasumichin richtete sich gleichfalls auf.

»Nichts! …« antwortete Raskolnikow mit kaum vernehmbarer Stimme, ließ sich wieder auf das Kissen zurücksinken und drehte sich wieder nach der Wand zu. Alle schwiegen ein Weilchen.

»Er war wohl ein bißchen eingeschlummert und nun noch halb im Schlafe«, sagte Rasumichin endlich mit einem fragenden Blick auf Sossimow.

Dieser machte eine leise, verneinende Bewegung mit dem Kopfe.

»Na, fahr nur fort«, sagte Sossimow. »Was kam dann weiter?«

»Ja, was dann weiter kam! Sowie Nikolai die Ohrringe erblickt hatte, hatte er keine Gedanken mehr für die Wohnung und für Dmitrij, sondern nahm seine Mütze und lief zu Duschkin, erhielt von ihm, wie bereits bekannt war, einen Rubel, log ihm vor, er habe das Kästchen auf dem Trottoir gefunden, und verjubelte das Geld sofort. Aber was den Mord anlangt, so blieb er bei seiner früheren Aussage: ›Ich habe gar nichts davon gewußt, rein gar nichts; erst zwei Tage darauf habe ich davon gehört.‹ – ›Und warum bist du seitdem verschwunden gewesen?‹ – ›Aus Furcht.‹ – ›Und warum wolltest du dich aufhängen?‹ – ›Vor Angst.‹ – ›Wovor denn?‹ – ›Daß man mich verurteilen würde.‹ – Na, da hast du die ganze Geschichte. Was meinst du nun wohl, was sie daraus gefolgert haben?«

»Was ist da zu meinen? Es ist eine Spur, wenn auch nur eine unsichere. Ein Faktum. Du verlangst doch nicht, daß sie deinen Anstreicher in Freiheit setzen sollen?«

»Sie betrachten ihn jetzt geradezu als den Mörder! Sie haben keinerlei Zweifel mehr.«

»Unsinn, du ereiferst dich zu sehr. Nun, aber wie steht’s mit den Ohrringen? Du mußt doch selbst zugeben, daß, wenn Ohrringe aus der Truhe des alten Weibes an dem Tage des Mordes und in der Stunde des Mordes in Nikolais Hände gelangen – du mußt doch selbst zugeben, daß er sie dann irgendwie bekommen haben muß. Das hat doch bei einer solchen Untersuchung immer schon eine gewisse Wichtigkeit.«

»Wie er sie bekommen hat! Wie er sie bekommen hat!« rief Rasumichin. »Kannst denn du als Arzt, der du vor allen Dingen die menschliche Natur studieren sollst und dazu mehr Gelegenheit hast als jeder andre – kannst du denn nicht an all diesen Einzelheiten sehen, wes Geistes Kind dieser Nikolai ist? Siehst du denn nicht auf den ersten Blick, daß alles, was er bei den Verhören ausgesagt hat, die heilige Wahrheit ist? Die Ohrringe hat er genauso bekommen, wie er gesagt hat. Er ist auf das Kästchen getreten und hat es aufgehoben!«

»Die heilige Wahrheit! Und dabei hat er selbst eingestanden, daß er das erstemal gelogen hat!«

»Höre mich an, höre aufmerksam zu: der Hausknecht und Koch und Pestrjakow und der andre Hausknecht und die Frau des ersten Hausknechts und eine Bürgerfrau, die gerade damals bei ihr in der Stube des Hausknechts saß, und der Hofrat Krjukow, der gerade in dem Augenblick aus einer Droschke gestiegen war und mit einer Dame am Arm in den Torweg trat – diese alle, also acht bis zehn Zeugen, sagen einstimmig aus, daß Nikolai den Dmitrij auf die Erde geworfen hatte, auf ihm lag und ihn prügelte und daß Dmitrij ihn seinerseits an den Haaren gepackt hatte und ihn auch prügelte. Sie liegen mitten im Wege und versperren die Passage; sie werden von allen Seiten ausgeschimpft und liegen da ›wie die kleinen Kinder‹ (dies buchstäblich der von den Zeugen gebrauchte Ausdruck), liegen einer auf dem andern, kreischen und lachen, lachen beide um die Wette, schneiden dabei die komischsten Gesichter und laufen – der eine hinter dem andern her, um ihn zu greifen – wie Kinder auf die Straße hinaus. Hörst du wohl? Und nun bitte ich zu beachten: oben liegen die noch warmen Körper, hörst du, noch warm; denn so hat man sie gefunden! Wenn die beiden, oder auch nur Nikolai allein, den Mord begangen und dazu noch die Truhe aufgebrochen und ausgeraubt hatten oder auch nur irgendwie an dem Raube beteiligt gewesen waren, so erlaube, daß ich dir nur eine einzige Frage vorlege: läßt sich eine solche Seelenstimmung, also das Kreischen, das Lachen, die kindliche Prügelei im Torweg, vereinigen mit Beilen, Blut, verbrecherischer Schlauheit, Vorsicht, Raub? Soeben haben sie einen Mord begangen, vor nur etwa fünf bis zehn Minuten – denn so kommt es heraus, da die Körper noch warm waren –, und auf einmal denken sie gar nicht weiter an die Leichen und die offene Wohnung, obwohl sie wissen, daß in dem Augenblicke Leute dorthin unterwegs sind, denken auch nicht weiter an die Beute, sondern wälzen sich wie kleine Kinder auf der Erde, lachen und ziehen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich! Und dafür sind zehn übereinstimmende Zeugen vorhanden!«

»Gewiß ist das sonderbar! Selbstverständlich kann es so nicht gewesen sein; aber …«

»Nein, Bruder, nicht ›aber‹; sondern wenn der Umstand, daß das Ohrgehänge an demselben Tage und in derselben Stunde sich in Nikolais Händen befand, wirklich einen wichtigen Belastungsgrund gegen ihn bildet (dieser Umstand ist jedoch durch seine Aussagen ohne weiteres aufgeklärt worden, so daß der Belastungsgrund noch strittig ist), so muß man doch auch die entlastenden Momente in Erwägung ziehen, und um so mehr, da diese unbestreitbar sind. Aber was meinst du? Werden nach dem ganzen Charakter unsrer Justiz die Behörden ein solches Moment, das sich einzig und allein auf die psychologische Unmöglichkeit, lediglich auf die Seelenstimmung gründet, als ein unbestreitbares Moment gelten lassen, als ein Moment, das alle belastenden sachlichen Momente, wie sie auch immer beschaffen sein mögen, umstößt? Und sind die Behörden einer solchen Anschauung überhaupt fähig? Nein, sie werden es nicht so auffassen, unter keinen Umständen; sie werden sich darauf versteifen, daß das Kästchen bei diesem Menschen gefunden worden ist und er sich hat aufhängen wollen, ›worauf er nicht hätte verfallen können, wenn er sich nicht schuldig gefühlt hätte!‹ Das ist die Hauptfrage, und das ist der Grund, weswegen ich mich ereifere! Ist es dir nun klar?«

»Ja, das sehe ich, daß du dich ereiferst. Warte mal, ich habe noch vergessen zu fragen: wodurch ist denn bewiesen, daß das Kästchen mit dem Ohrgehänge wirklich aus der Truhe der Alten stammt?«

»Das ist bewiesen«, antwortete Rasumichin stirnrunzelnd und, wie es schien, verdrossen. »Koch hat das Wertstück wiedererkannt und den Verpfänder genannt, und dieser hat einwandfrei nachgewiesen, daß der Gegenstand ihm gehört.«

»Schlimm! Nun noch eins: hat irgend jemand diesen Nikolai während der Zeit gesehen, wo Koch und Pestrjafkow das erstemal hinaufgingen, und läßt sich nicht irgendwie sein Alibi beweisen?«

»Das ist es ja eben, daß ihn niemand gesehen hat«, erwiderte Rasumichin ärgerlich. »Das ist ja das Üble; selbst Koch und Pestrjakow haben, als sie die Treppe hinaufgingen, von den beiden Malern nichts bemerkt; übrigens würde ihr Zeugnis jetzt auch nicht viel zu bedeuten haben. ›Wir haben gesehen‹, sagen sie, ›daß die Wohnung offenstand und also wohl darin gearbeitet wurde; aber wir haben im Vorbeigehen nicht beachtet und können uns nicht erinnern, ob gerade in dem Augenblicke Arbeiter darin waren oder nicht.‹«

»Hm! … Der ganze Entlastungsbeweis besteht also darin, daß sie einander geprügelt und gelacht haben. Das ist ja allerdings ein starker Beweis; aber … Nun erlaube mal: wie erklärst du selbst denn den ganzen Hergang? Wie erklärst du den Fund der Ohrringe, wenn er sie wirklich da gefunden hat, wo er sie gefunden zu haben angibt?«

»Wie ich das erkläre? Ja, was ist denn da erst noch zu erklären? Die Sache ist ja völlig klar! Wenigstens ist der Weg, den man bei dieser Untersuchung einzuschlagen hat, deutlich gewiesen, und gerade das Kästchen hat ihn gezeigt. Das Ohrgehänge hat der wirkliche Mörder verloren. Der Mörder befand sich oben in der Wohnung, als Koch und Pestrjakow klopften, und hatte von innen zugesperrt. Koch beging die Dummheit, nach unten zu gehen; da sprang der Mörder heraus und lief gleichfalls hinunter; denn einen ändern Ausweg hatte er nicht. Auf der Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakow und dem Hausknecht in der leeren Wohnung, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Nikolai aus ihr hinausgelaufen waren; er stand hinter der Tür, als der Hausknecht und die beiden andern daran vorbei nach oben gingen, wartete, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, und ging dann ganz ruhig hinunter, genau in dem Augenblick, wo Dmitrij und Nikolai auf die Straße hinausgelaufen, alle auseinandergegangen waren und sich niemand mehr im Torwege befand. Vielleicht hat ihn auch jemand gesehen, ohne ihn zu beachten; wer achtet bei solchem Verkehr auf einen einzelnen Passanten? Das Kästchen aber hat er aus der Tasche verloren, als er hinter der Tür stand, und er hat nicht gemerkt, daß er es verlor, weil er den Kopf voll andrer Gedanken hatte. Das Kästchen aber beweist klar, daß er gerade dort gestanden hat. So hängt die ganze Geschichte zusammen!«

»Schlau zurechtgelegt! Wirklich schlau, Bruder! Eigentlich überschlau!«

»Wieso denn? Wieso denn?«

»Nun, weil alles gar zu gut klappte … und ineinandergriff … ganz wie auf dem Theater.«

»Ach …«, begann Rasumichin unwillig; aber in diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und es trat eine neue, keinem der Anwesenden bekannte Person ein.

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Kapitel 12

V

Es war ein Herr schon in reiferen Jahren, von affektiert würdevoller Haltung, mit einem reservierten, süffisanten Gesichtsausdruck; das erste, was er tat, war, daß er in der Tür stehenblieb, mit einem unverhohlenen Staunen, das etwas Beleidigendes hatte, rings um sich blickte und gleichsam mit seinen Blicken fragte: ›Wo bin ich denn hier hingeraten?‹ Mißtrauisch und mit einem erkünstelten Ausdruck von Schreck, ja, als ob er sich verletzt fühlte, musterte er Raskolnikows enge, niedrige »Schiffskajüte«. Mit gleichem Staunen richtete er dann seine Blicke auf Raskolnikow selbst, der unangekleidet, ungewaschen, mit wirrem Haar auf seinem elenden, schmutzigen Sofa lag und ihn auch seinerseits unverwandt betrachtete. Dann begann er mit der gleichen Bedächtigkeit sich den nachlässig gekleideten, unrasierten und ungekämmten Rasumichin anzusehen, der ihm nun ebenso dreist und fragend ins Gesicht blickte, ohne sich vom Platze zu rühren. Dieses gespannte Schweigen dauerte etwa eine Minute lang, und dann trat, wie zu erwarten gewesen war, eine kleine Veränderung der Szenerie ein. Der soeben eingetretene Herr, der wohl aus einigen unzweideutigen Anzeichen gemerkt hatte, daß mit einer übertrieben würdevollen Haltung hier in dieser »Schiffskajüte« nichts auszurichten war, nahm ein etwas freundlicheres Wesen an und fragte in höflichem, wiewohl bestimmtem Tone, indem er sich an Sossimow wandte und jede Silbe betonte:

»Finde ich hier den Studenten oder früheren Studenten Herrn Rodion Romanytsch Raskolnikow?«

Sossimow regte sich langsam und hätte auch vielleicht geantwortet, wenn nicht Rasumichin, an den die Frage gar nicht gerichtet war, ihm zuvorgekommen wäre.

»Da liegt er ja auf dem Sofa! Na, und was wollen Sie?«

Dieses familiäre »was wollen Sie?« war für den gezierten Herrn geradezu ein Schlag ins Gesicht, und er war schon im Begriff, sich zu Rasumichin umzudrehen, beherrschte sich aber noch rechtzeitig und wandte sich schnell wieder zu Sossimow.

»Das da ist Raskolnikow«, murmelte Sossimow, wies mit einer Kopfbewegung nach dem Kranken hin und gähnte dann, wobei er den Mund sehr weit öffnete und sehr lange in dieser Haltung beließ. Hierauf griff er langsam in seine Westentasche, zog eine große, dicke goldene Uhr mit Schutzdeckel heraus, öffnete sie, sah nach und steckte sie dann mit einer ebenso langsamen, trägen Bewegung wieder ein.

Raskolnikow selbst hatte die ganze Zeit über schweigend auf dem Rücken dagelegen und den Ankömmling starr und anscheinend völlig gedankenlos angesehen. Sein Gesicht, das er jetzt von dem interessanten Blümchen auf der Tapete weggewendet hatte, war außerordentlich blaß und trug den Ausdruck eines schweren Leidens, wie wenn er soeben eine qualvolle Operation durchgemacht hätte oder in diesem Augenblicke von der Folter losgelassen wäre. Aber ganz allmählich erregte der eingetretene Herr immer mehr seine Aufmerksamkeit; dann überkam ihn Staunen, darauf Mißtrauen und sogar eine gewisse Furcht. Als aber Sossimow, auf ihn hinweisend, sagte: »Das da ist Raskolnikow«, richtete er sich auf einmal mit einem Ruck auf, setzte sich auf dem Bette aufrecht und sagte in beinahe herausforderndem Tone, aber stockend und leise:

»Ja, ich bin Raskolnikow! Was wünschen Sie?«

Der Fremde blickte ihn aufmerksam an und erwiderte mit starker Betonung:

»Pjotr Petrowitsch Lushin. Ich darf wohl hoffen, daß mein Name Ihnen nicht mehr ganz unbekannt ist.«

Raskolnikow jedoch, der etwas ganz anderes erwartet hatte, sah ihn stumpfsinnig und gedankenlos an und gab ihm keine Antwort, als ob er Pjotr Petrowitschs Namen vorher schlechterdings noch nie gehört hätte.

»Sollten Sie bisher wirklich noch keinerlei Mitteilung über mich erhalten haben?« fragte Pjotr Petrowitsch, einigermaßen unangenehm berührt.

Raskolnikows Antwort bestand darin, daß er sich langsam auf das Kissen zurücksinken ließ, die Hände unter den Kopf schob und die Zimmerdecke betrachtete. Auf Lushins Gesicht malte sich Befremden. Sossimow und Rasumichin begannen, ihn mit noch größerer Neugier zu betrachten, und er wurde am Ende sichtlich verlegen.

»Ich setzte voraus und rechnete damit«, murmelte er, »daß ein Brief, der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht schon vor zwei Wochen an Sie abgegangen ist …«

»Hören Sie mal, warum stehen Sie denn da immer an der Tür?« unterbrach ihn Rasumichin. »Wenn Sie etwas mitzuteilen haben, so setzen Sie sich hin; für zwei, für Sie und Nastasja, ist es dort zu eng. Tritt mal ein bißchen an die Seite, Nastasjuschka, und laß ihn vorbei. Kommen Sie her; da ist ein Stuhl für Sie. Drängeln Sie sich hier durch!«

Er rückte seinen Stuhl vom Tische ab, stellte einen kleinen freien Raum zwischen dem Tische und seinen Knien her und wartete in etwas gezwungener Haltung darauf, daß der Besucher sich durch diese schmale Lücke »durchdrängelte«. Der Augenblick war so gewählt, daß eine Ablehnung dieser Aufforderung nicht wohl möglich war, und der Besucher drängte sich eilig und stolpernd durch den engen Zwischenraum. Als er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich und sah Rasumichin mißtrauisch an.

»Sie brauchen übrigens gar nicht verlegen zu sein«, sagte dieser in ungeniertem Tone. »Rodja ist zwar vier Tage lang krank gewesen und hat drei Tage lang phantasiert; aber jetzt ist er wieder zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Dort sitzt sein Arzt, der ihn soeben untersucht hat; und ich bin Rodjas Kamerad, auch ein gewesener Student, und jetzt seine Wärterin. Also kümmern Sie sich um uns beide gar nicht, genieren Sie sich nicht, sondern sagen Sie ruhig, was Sie hier wünschen.«

»Ich danke Ihnen. Wird aber auch meine Anwesenheit und das Gespräch mit mir den Kranken nicht aufregen?« fragte Pjotr Petrowitsch den Arzt.

»N–nein«, brummte Sossimow. »Das kann ihn eher noch ein bißchen zerstreuen.« Er gähnte wieder.

»Oh, er ist schon längst wieder bei vollem Bewußtsein, seit heute morgen!« fuhr Rasumichin fort, dessen familiärer Ton so ungekünstelt und treuherzig klang, daß Pjotr Petrowitsch daran glaubte und seine Scheu etwas ablegte; es mochte dabei auch der Umstand mitwirken, daß dieser zerlumpte, dreiste Mensch sich als Student vorgestellt hatte.

»Ihre Frau Mutter …«, begann Lushin.

»Hm!« machte Rasumichin laut.

Lushin blickte ihn fragend an.

»Ich wollte nichts sagen. Es war nur so unwillkürlich. Weiter!«

Lushin zuckte mit den Achseln.

»Ihre Frau Mutter hatte, noch während meiner Anwesenheit bei den Ihrigen, einen Brief an Sie begonnen. Nachdem ich nun hier angelangt war, habe ich absichtlich noch einige Tage vergehen lassen und bin nicht sogleich zu Ihnen gekommen, um völlig sicher zu sein, daß Sie inzwischen von allem benachrichtigt wären; jetzt aber sehe ich zu meinem Erstaunen …«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn Raskolnikow ungeduldig und ärgerlich. »Also Sie sind das? Der Bräutigam? Nun, ich weiß schon! … Genug davon!«

Pjotr Petrowitsch fühlte sich offenbar beleidigt; aber er schwieg. Er überlegte angestrengt, was das alles eigentlich zu bedeuten habe. Das Schweigen dauerte wohl eine Minute.

Unterdessen begann Raskolnikow, der sich bei seiner Antwort ein wenig nach ihm hingedreht hatte, ihn von neuem aufmerksam und mit einer Art von besonderer Neugier zu betrachten, als wäre er vorhin mit der Musterung noch nicht fertig geworden oder als wäre ihm an Lushin etwas Neues aufgefallen; er richtete sich sogar ausdrücklich zu diesem Zwecke vom Kissen auf. In der Tat fiel einem an Pjotr Petrowitschs gesamter äußerer Erscheinung etwas Besonderes auf, und speziell etwas, was zu der Bezeichnung »Bräutigam« stimmte, die ihm soeben in so ungenierter Weise erteilt worden war. Es war sehr augenfällig, daß Pjotr Petrowitsch diese paar Tage in der Hauptstadt schleunigst dazu benutzt hatte, um sich in Erwartung der Braut neu zu equipieren und zu verschönern, ein sehr harmloses und erlaubtes Bestreben. Sogar, daß er mit vielleicht allzu starker Selbstzufriedenheit sich dieser erfreulichen Vervollkommnung bewußt war, konnte bei einem Bräutigam verzeihlich erscheinen. Sein ganzer Anzug war eben erst vom Schneider gekommen, und alles war vortrefflich, abgesehen eben davon, daß alles gar zu neu war und gar zu sehr eine bestimmte Absicht bekundete. Auch der elegante, nagelneue Zylinderhut zeugte von dieser Absicht: Pjotr Petrowitsch ging mit ihm allzu respektvoll um und hielt ihn allzu vorsichtig in den Händen. Auch die entzückenden fliederfarbenen, echt Jouvinschen Handschuhe bezeugten dasselbe, schon dadurch, daß er sie nicht angezogen hatte, sondern nur zum Staate in der Hand hielt. Pjotr Petrowitschs Anzug wies vorwiegend helle, jugendliche Farben auf. Er trug ein hübsches hellbraunes Sommerjackett, helle, leichte Beinkleider, eine ebensolche Weste, feine, frischgekaufte Wäsche und eine ganz leichte Batistkrawatte mit rosa Streifchen; und was das Beste war: es stand ihm alles ausgezeichnet. Sein sehr frisches und sogar hübsches Gesicht sah auch ohnedies jünger aus, als es bei einem fünfundvierzigjährigen Manne zu erwarten gewesen wäre. Ein dunkler Backenbart faßte es auf beiden Seiten in gefälliger Kotelettform ein und verdichtete sich sehr hübsch um das sauber rasierte, glänzende Kinn. Auch daß die erst ganz schwach angegrauten Haare von der Hand eines Haarkünstlers frisiert und gekräuselt waren, gab ihm in keiner Weise ein lächerliches oder dummes Aussehen, wie das sonst gewöhnlich bei frisiertem Haare der Fall ist, da es dem Gesichte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einem Deutschen, der sich trauen läßt, verleiht. Wenn in dieser recht hübschen und gereiften Physiognomie doch etwas Unangenehmes und Abstoßendes war, so hatte das andere Gründe. Nachdem Raskolnikow Herrn Lushin in einer so wenig höflichen Weise betrachtet hatte, lächelte er höhnisch, legte sich wieder auf das Kissen und blickte, wie vorher, nach der Zimmerdecke.

Aber Herr Lushin hielt seinen Unwillen zurück und war anscheinend gewillt, all diese Sonderbarkeiten vorläufig nicht zu beachten.

»Es tut mir außerordentlich leid, ganz außerordentlich leid, Sie in einem solchen Zustande zu finden«, begann er von neuem, bemüht, das Schweigen zu brechen. »Hätte ich von Ihrer Krankheit Kenntnis gehabt, so wäre ich früher gekommen. Aber, wissen Sie, die Scherereien mit dem Umzug! … Ich habe außerdem gerade als Advokat eine sehr wichtige Sache im Senat zu erledigen. Ich erwähne gar nicht erst die Sorgen, die auch Sie sich leicht denken können. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mutter und Ihre Schwester, erwarte ich stündlich.«

Raskolnikow bewegte sich langsam, und es hatte den Anschein, als wollte er etwas sagen; seine Miene spiegelte eine gewisse Erregung wider. Fjodr Petrowitsch hielt inne und wartete; aber da nichts weiter erfolgte, fuhr er fort:

»Jawohl, stündlich. Ich habe ihnen als erste Unterkunft eine Wohnung gesucht …«

»Wo?« fragte Raskolnikow mit schwacher Stimme.

»Hier ganz nahe, im Bakalejewschen Hause …«

»Das ist auf dem Wosnessenskij-Prospekt«, unterbrach ihn Rasumichin. »Da hat der Kaufmann Juschin zwei Stockwerke als Hotel garni eingerichtet, die er vermietet. Ich bin einmal dagewesen.«

»Ja, es ist ein Hotel garni …«

»Es ist eine ganz grauenhafte Wirtschaft da – ein Schmutz, ein Gestank! Und berüchtigt ist der Ort auch: es sind da schon schlimme Geschichten passiert. Ja, und weiß der Teufel, was da alles für Volk wohnt! … Ich selbst bin aus einem skandalösen Anlaß hingekommen. Aber billig ist es da.«

»Ich konnte natürlich nicht so viel Erkundigungen einziehen, da ich selbst eben erst nach Petersburg zugezogen bin«, erwiderte Pjotr Petrowitsch gekränkt. »Es sind übrigens zwei saubere, sehr saubere Stübchen, und da es nur für ganz kurze Zeit ist … Ich habe bereits eine größere, ordentliche Wohnung gefunden, die wir nachher beziehen werden«, sagte er, zu Raskolnikow gewendet. »Sie wird jetzt zurechtgemacht; unterdessen behelfe auch ich mich mit einem möblierten Zimmer, wenige Schritte von hier, bei einer Frau Lippewechsel, in der Wohnung eines jungen Freundes von mir, Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow. Er ist es auch gewesen, der mir das Bakalejewsche Haus empfohlen hat …«

»Lebesjatnikow?« sagte Raskolnikow langsam, wie wenn er in seinem Gedächtnisse nachsuchte.

»Ja, Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow; er ist Beamter in einem Ministerium. Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Ja … nein …«, antwortete Raskolnikow.

»Entschuldigen Sie; es schien mir so, nach Ihrer Frage. Ich bin früher sein Vormund gewesen, … ein sehr liebenswürdiger junger Mann … und bildungseifrig … Es macht mir Freude, mit jungen Leuten zu verkehren; man erfährt da immer, was es Neues gibt.«

Pjotr Petrowitsch blickte in der Hoffnung auf Zustimmung alle Anwesenden an.

»Auf welchem Gebiete?« fragte Rasumichin.

»Auf dem allerwichtigsten Gebiete; um mich so auszudrücken: auf dem Gebiete der kapitalsten Lebensinteressen«, erwiderte Pjotr Petrowitsch, der sich über die Frage zu freuen schien. »Sehen Sie, ich habe seit zehn Jahren Petersburg nicht besucht. Alle diese unsere Neuerungen, Reformen, Ideen, all das hat ja auch uns in der Provinz lebhaft interessiert; aber um klarer zu sehen und alles zu sehen, muß man denn doch in Petersburg sein. Nun, und meine Ansicht ist eben, daß man am meisten lernt und erfährt, wenn man mit unserer jungen Generation umgeht. Und ich muß gestehen: ich habe dabei viel Freude gehabt.«

»Worüber denn speziell?«

»Das ist eine sehr umfassende Frage. Ich mag mich irren, aber mir scheint, ich finde da einen klareren Blick, sozusagen mehr Kritik, mehr Tüchtigkeit …«

»Das ist richtig«, bemerkte Sossimow in seiner gedehnten Redeweise.

»Da irrst du, an Tüchtigkeit mangelt es«, fiel Rasumichin ein. »Tüchtigkeit läßt sich nur mühsam erwerben und fällt nicht so ohne weiteres vom Himmel. Aber bei uns ist es schon fast zweihundert Jahre her, daß wir uns von jeder Arbeit entwöhnt haben. Ideen sind ja im Umlauf, das mag sein«, fuhr er, zu Pjotr Petrowitsch gewendet, fort, »auch ein Verlangen nach dem Guten ist vorhanden, wenn auch dieses Verlangen sich etwas kindlich ausnimmt; auch Ehrenhaftigkeit findet sich, obwohl die Zahl der Gauner in einer unheimlichen Weise angeschwollen ist; aber Tüchtigkeit ist trotzdem nicht vorhanden.«

»Da bin ich mit Ihnen doch nicht einverstanden«, erwiderte Pjotr Petrowitsch mit sichtlichem Behagen.

»Gewiß, Übertreibungen und Unregelmäßigkeiten kommen ja vor; aber man muß doch auch nachsichtig sein; die Übertreibungen zeugen von Eifer für die gute Sache und lassen auf die üble äußere Lage schließen, in der sich die gute Sache befindet. Wenn bis jetzt nur wenig geleistet ist, so ist doch zu bedenken, daß die Zeit nur kurz war, von der Beschränktheit der Mittel gar nicht zu reden. Meiner persönlichen Ansicht nach kann man sogar sagen, daß etwas Erkleckliches geleistet ist: neue nützliche Ideen sind verbreitet; eine Anzahl neuer nützlicher Schriften ist an Stelle der früheren phantastischen und romantischen erschienen; die Literatur nimmt einen reiferen Charakter an; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet und dienen zum Gespött … Mit einem Worte, wir haben mit der Vergangenheit endgültig gebrochen, und das ist, meiner Ansicht nach, schon eine bedeutende Tat …«

»Lauter auswendig gelerntes Zeug, wodurch er sich empfehlen möchte!« sagte Raskolnikow ganz unerwartet.

»Wie sagten Sie?« fragte Pjotr Petrowitsch, der nicht genau gehört hatte; aber er erhielt keine Antwort.

»Alles durchaus richtig«, beeilte sich Sossimow einzuschalten.

»Nicht wahr?« meinte Pjotr Petrowitsch und sah Sossimow freundlich an. »Sie müssen doch selbst zugeben«, fuhr er, zu Rasumichin gewendet, fort – aber nunmehr gewissermaßen im Tone des Triumphes und der Überlegenheit, und er hätte beinahe hinzugefügt: »junger Mann« –, »daß ein Fortschreiten stattfindet, wenigstens auf dem Gebiete der Wissenschaft und der nationalökonomischen Theorie …«

»Gemeinplätze!«

»Nein, keine Gemeinplätze! Wenn man mir zum Beispiel bisher sagte: ›Liebe deinen Nächsten!‹ und ich ihn demgemäß liebte, was war dann die Folge?« fuhr Pjotr Petrowitsch mit vielleicht etwas zu weitgehendem Eifer fort. »Die Folge war, daß ich meinen Rock in zwei gleiche Teile zerriß, den einen Teil meinem Nächsten gab und wir so beide halbnackt blieben, nach dem Sprichworte: ›Wer mehreren Hasen zugleich nachjagt, bekommt keinen.‹ Die Wissenschaft aber sagt: ›Liebe vor allen andern dich selbst; denn alles in der Welt beruht auf dem persönlichen Interesse.‹ Wenn man also nur sich selbst liebt, so betreibt man seine Geschäfte mit der gehörigen Sorgfalt, und der Rock bleibt heil. Und die nationalökonomische Theorie fügt hinzu, daß, je mehr wohlgeordnetes Privateigentum, sozusagen ganze Röcke, es im Staate gibt, um so mehr feste Grundlagen für ihn vorhanden sind und um so mehr das Wohl der Gesamtheit gesichert ist. Folglich, wenn ich einzig und allein für mich erwerbe, so erwerbe ich gerade dadurch gewissermaßen auch für alle und bringe es dahin, daß mein Nächster etwas mehr als einen halben Rock erhält, und zwar nicht von der privaten Mildtätigkeit eines einzelnen, sondern infolge der allgemeinen gedeihlichen Entwicklung. Der Gedanke ist so einfach; aber leider hat es allzulange gedauert, bis er sich hat durchsetzen können, da Verstiegenheit und Phantasterei ihm im Wege standen; und doch sollte man meinen, daß nicht viel Scharfsinn erforderlich ist, um einzusehen …«

»Entschuldigen Sie, ich bin auch nicht scharfsinnig«, unterbrach ihn Rasumichin schroff, »und darum wollen wir lieber hiervon aufhören. Ich habe ja auch nur in bestimmter Absicht dieses Gespräch herbeigeführt; im übrigen ist mir diese ganze Art, sich durch leeres Geschwätz selbst ein Amüsement zu machen, und all diese endlosen, nie abreißenden Gemeinplätze und immer dasselbe und immer dasselbe – das ist mir in diesen drei Jahren so zum Ekel geworden, daß ich wahrhaftig schamrot werde, wenn nicht etwa gar ich, sondern auch nur in meiner Gegenwart andre davon reden. Sie haben sich natürlich beeilt, sich durch Schaustellung Ihrer Kenntnisse empfehlend einzuführen; das ist sehr verzeihlich, und ich verüble Ihnen das nicht. Mir persönlich lag jetzt nur daran, zu erfahren, wes Geistes Kind Sie sind; denn sehen Sie, an die gute Sache haben sich in letzter Zeit so viele schlaue Streber von mancherlei Art herangedrängt und haben alles, was sie in die Finger bekamen, in ihrem Interesse so entstellt, daß sie entschieden die ganze Sache versudelt haben. Aber nun genug davon!«

»Verehrter Herr«, begann Lushin und verdrehte überaus würdevoll den Oberkörper, »wollen Sie etwa so unverblümt sagen, daß auch ich …«

»Aber ich bitte Sie! … Wie könnte ich denn! … Nun, genug davon!« damit schnitt Rasumichin die Erörterung kurz ab und wandte sich dann unvermittelt an Sossimow, um das frühere Gespräch fortzusetzen.

Pjotr Petrowitsch war klug genug, der Erklärung Rasumichins sofort Glauben zu schenken. Indes nahm er sich vor, in zwei Minuten wegzugehen.

»Ich hoffe«, sagte er zu Raskolnikow, »daß unsere Bekanntschaft, die wir jetzt eingeleitet haben, sich infolge der Ihnen bekannten Verhältnisse nach Ihrer Genesung noch weiter festigen wird … Vor allen Dingen wünsche ich Ihnen gute Besserung …«

Raskolnikow drehte nicht einmal den Kopf zu ihm hin. Pjotr Petrowitsch machte Anstalten, sich von seinem Stuhle zu erheben.

»Jedenfalls ist der Mord von einem Pfandschuldner begangen!« erklärte Sossimow mit großer Bestimmtheit.

»Unbedingt!« pflichtete ihm Rasumichin bei. »Porfirij spricht seine Gedanken zwar nicht aus, aber er verhört doch die Pfandschuldner.«

»Er verhört die Pfandschuldner?« fragte Raskolnikow laut.

»Ja. Was hast du denn?«

»Nichts.«

»Wie findet er denn die heraus?« fragte Sossimow.

»Einige hat ihm Koch genannt; von ein paar andern Schuldnern standen die Namen auf den Umschlägen der Pfänder notiert; einige meldeten sich auch von selbst, als sie hörten …«

»Na, aber eine geschickte und erfahrene Kanaille muß doch dieser Mörder gewesen sein! So eine Kühnheit! So eine Entschlossenheit!«

»Das ist es ja eben, daß diese Ansicht völlig fehlgeht!« unterbrach ihn Rasumichin. »Das bringt euch alle von der richtigen Fährte ab. Ich aber sage; er war ungeschickt und unerfahren, und dies war sicherlich sein erstes Unternehmen. Bei der Voraussetzung, daß wir es mit Berechnung und einer geschickten Kanaille zu tun haben, ergibt sich eine innere Unwahrscheinlichkeit. Setzen wir aber einen unerfahrenen Mörder voraus, so ergibt sich, daß einzig und allein der Zufall ihm aus der Klemme geholfen hat, und was tut nicht alles der Zufall! Ich bitte dich, die möglichen Hindernisse hat er vielleicht gar nicht vorher überlegt! Und wie hat er die Tat ausgeführt? Er nimmt Dinge weg, die zehn oder zwanzig Rubel wert sind, stopft sich damit die Taschen voll, wühlt in dem Kasten des alten Weibes unter den Lumpen umher, und in der Kommode, im obersten Schubkasten, findet man nachher in einer Schatulle allein an barem Gelde gegen tausendfünfhundert Rubel, abgesehen von den Wertpapieren! Nicht einmal zu rauben hat er verstanden; das einzige, was er verstanden hat, war Morden. Das war sein erstes Unternehmen, sage ich dir, sein erstes Unternehmen; er hat dabei die ruhige Überlegung verloren! Und nicht durch schlaue Berechnung, sondern durch einen reinen Zufall ist er entkommen!«

»Sie sprechen da wohl von der neulichen Ermordung der alten Beamtenwitwe«, mischte sich, zu Sossimow gewendet, Pjotr Petrowitsch in das Gespräch, der schon mit dem Hute und den Handschuhen in der Hand dastand, aber vor dem Weggehen noch ein paar kluge Worte von sich zu geben wünschte.

Es lag ihm offenbar viel daran, einen vorteilhaften Eindruck zu hinterlassen, und die Eitelkeit trug dabei den Sieg über die Klugheit davon.

»Ja. Haben Sie auch davon gehört?«

»Gewiß, bei so naher Nachbarschaft …«

»Kennen Sie die Einzelheiten?«

»Das kann ich nicht behaupten. Aber mich interessiert dabei ein anderer Umstand, ich möchte sagen: eine sozialpolitische Frage. Ich will nicht davon reden, daß in der untersten Volksschicht die Verbrechen im Laufe der letzten fünf Jahre erheblich zugenommen haben; ich will nicht von den Raubüberfällen und Brandstiftungen reden, die jetzt allerwärts und unaufhörlich vorkommen; das Allermerkwürdigste ist vielmehr für mich, daß die Verbrechen auch in den höheren Schichten ebenso zunehmen, ich möchte sagen: in paralleler Kurve. An einer Stelle, hört man, hat ein früherer Student auf offener Landstraße die Post beraubt; an einer andern fabrizieren Leute, die nach ihrer sozialen Stellung zu den besseren Kreisen gehören, falsche Banknoten; dort, in Moskau, wird eine ganze Bande abgefaßt, welche falsche Staatsschuldscheine der letzten Prämienanleihe anfertigte, und einer der Hauptschuldigen war Dozent der Weltgeschichte; dort, im Ausland, wird einer unserer Gesandtschaftssekretäre aus einem rätselhaften pekuniären Anlasse von einem Kollegen ermordet … Und wenn jetzt diese alte Wucherin von einem Angehörigen der höheren Stände getötet wurde – denn einfache Leute versetzen doch keine Goldsachen –, wie läßt sich dann diese Demoralisation des gebildeten Teiles unserer Bevölkerung erklären?«

»Es haben eben viele Veränderungen in den ökonomischen Verhältnissen stattgefunden«, erwiderte Sossimow.

»Wie sich das erklären läßt?« fiel Rasumichin ein. »Das könnte man gerade durch die fest eingewurzelte Untüchtigkeit erklären.«

»Wie meinen Sie das?«

»Was antwortete denn in Moskau Ihr Dozent auf die Frage, warum er Staatsschuldscheine gefälscht habe? ›Alle bereichern sich auf die eine oder andre Art; daher wollte auch ich schnell reich werden.‹ Des Wortlautes entsinne ich mich nicht; aber der Sinn war: reich werden auf andrer Leute Kosten, recht schnell, ohne Arbeit! Wir haben uns gewöhnt, alles zum Leben Nötige einfach vorzufinden, mit fremder Hilfe zu gehen, ohne vorhergehende Mühe zu genießen. Na, und wenn dann ein kritischer Augenblick kommt, dann zeigt sich ein jeder in seinem wahren Charakter …«

»Ja, aber wo bleibt denn da die Moral? Und sozusagen die Prinzipien des Handelns?«

»Worüber erregen Sie sich denn so?« mischte sich, für alle unerwartet, Raskolnikow in das Gespräch. »Das entspricht doch vollständig Ihrer Theorie!«

»Inwiefern soll das meiner Theorie entsprechen?«

»Ziehen Sie aus den Grundsätzen, die Sie vorhin vortrugen, die sich daraus ergebenden Schlüsse, so kommen Sie zu dem Resultate, daß es gestattet ist, andre Menschen zu töten …«

»Aber ich bitte Sie!« rief Lushin.

»Nein, das ist denn doch nicht richtig!« warf auch Sossimow dazwischen.

Raskolnikow lag ganz blaß da; seine Oberlippe zuckte; er atmete mühsam.

»Es hat doch alles seine Grenzen«, fuhr Lushin hochmütig fort. »Eine nationalökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Morde, und wenn man nur annimmt …«

»Ist es wahr, daß Sie«, unterbrach ihn Raskolnikow wieder mit vor Wut bebender Stimme, der man es anmerkte, wie sehr es ihn freute, den andern kränken zu können, »ist es wahr, daß Sie in eben der Stunde, da Sie von Ihrer Braut das Jawort erhielten, ihr gesagt haben, Sie freuten sich ganz besonders darüber, daß sie bettelarm sei, weil es seine großen Vorzüge habe, eine ganz arme Frau zu nehmen, um dann nachher über sie herrschen zu können … und ihr vorhalten zu können, welche Wohltat sie Ihnen zu verdanken habe?«

»Verehrter Herr«, rief Lushin zornig und gereizt; er hatte einen ganz roten Kopf bekommen und völlig die Fassung verloren. »Verehrter Herr, … wie können Sie den Sinn meiner Worte so entstellen! Nehmen Sie es nicht übel, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen sind, oder richtiger: die Ihnen zugetragen wurden, auch nicht eine Spur der Wahrheit enthalten. Aber ich … ich kann mir denken, wer … mit einem Worte … dieser Pfeil … mit einem Worte, Ihre Frau Mutter … Sie kam mir überhaupt, bei all ihren vortrefflichen Eigenschaften, etwas schwärmerisch und romantisch angehaucht vor … Aber ich habe doch nicht im entferntesten geglaubt, daß sie die Sache in einer so phantastisch entstellten Weise auffassen und darstellen würde … Und schließlich … schließlich …«

»Wissen Sie was?« rief Raskolnikow, richtete sich auf dem Kissen auf und sah ihn mit durchdringendem, funkelndem Blicke an. »Wissen Sie was?«

»Nun, was denn also?«

Lushin hielt inne und wartete mit gekränkter, herausfordernder Miene. Das Schweigen dauerte einige Sekunden.

»Wenn Sie sich noch einmal erdreisten, … auch nur ein Wort … über meine Mutter zu sagen, so werfe ich Sie kopfüber die Treppe hinunter!«

»Was hast du denn?« rief Rasumichin.

»Ah, so steht es also!« Lushin wurde blaß und biß sich auf die Lippe. »Hören Sie, mein Herr«, sagte er betont und langsam; er suchte sich mit aller Gewalt zu beherrschen, konnte aber kaum Luft bekommen. »Ich habe schon vorhin, gleich als ich hereingekommen war, Ihre feindliche Gesinnung gegen mich erkannt; aber ich blieb absichtlich hier, um noch mehr in Erfahrung zu bringen. Vieles könnte ich einem Kranken und Verwandten verzeihen, aber dieses … kann ich Ihnen … niemals …«

»Ich bin nicht krank!« rief Raskolnikow.

»Um so schlimmer …«

»Scheren Sie sich zum Teufel!«

Aber Lushin ging bereits von selbst hinaus, ohne den Satz zu Ende zu sprechen; er mußte sich dabei wieder zwischen dem Tisch und dem Stuhl hindurchdrängen. Rasumichin stand diesmal auf, um ihn durchzulassen. Ohne jemand anzusehen, selbst ohne ein Kopfnicken für Sossimow, der ihm schon längst Zeichen gemacht hatte, daß er den Kranken in Ruhe lassen möchte, ging Lushin hinaus; als er gebückt durch die Tür schritt, hielt er vorsichtig seinen Hut an die Schulter. Man konnte glauben, daß es sogar der Krümmung seines Rückens anzusehen war, welch ein Gefühl furchtbarer Kränkung er mit sich davontrug.

»Aber wie kannst du bloß? Wie kannst du bloß?« sagte Rasumichin ganz verblüfft und schüttelte den Kopf.

»Laßt mich in Ruhe, laßt mich alle in Ruhe!« rief Raskolnikow in voller Wut. »Wollt ihr mich denn nicht endlich in Ruhe lassen, ihr Peiniger! Ich fürchte euch jetzt nicht! Niemand fürchte ich jetzt, niemand! Macht, daß ihr von mir wegkommt! Ich will allein sein, allein, allein, allein!«

»Wir wollen gehen!« sagte Sossimow, indem er Rasumichin winkte.

»Aber ich bitte dich! Wir können ihn doch nicht in diesem Zustande verlassen!«

»Wir wollen gehen!« sagte Sossimow noch einmal nachdrücklich und ging hinaus.

Rasumichin überlegte einen Augenblick und lief ihm dann schnell nach.

»Es hätte noch schlimmer werden können, wenn wir ihm nicht den Willen getan hätten«, sagte Sossimow, der bereits auf der Treppe war. »Man darf ihn nicht reizen …«

»Was ist nur mit ihm?«

»Könnte man ihm nur irgendeinen angenehmen Impuls geben; das wäre sehr wesentlich. Bei Kräften war er ja schon wieder … Weißt du, es steckt ihm etwas im Kopfe, was nicht weichen will und ihn bedrückt … Ich fürchte sehr, so ist es; ganz sicher!«

»Ja, vielleicht ist es dieser Herr Pjotr Petrowitsch! Aus dem Gespräche wurde ja klar, daß er Rodjas Schwester heiraten will und daß Rodja darüber unmittelbar vor seiner Krankheit einen Brief erhalten hat …«

»Ja. Daß dieser Mensch auch gerade jetzt herkommen mußte! Vielleicht hat der die ganze Geschichte verdorben. Hast du aber wohl bemerkt, daß er gegen alles gleichgültig ist und zu allem schweigt, mit Ausnahme einer einzigen Sache, die ihn in Harnisch bringt? Ich meine die Mordtat.«

»Ja, ja«, stimmte ihm Rasumichin bei. »Es ist mir sehr aufgefallen. Dieses Thema interessiert ihn, beängstigt ihn. Das kommt wohl daher, daß man ihn gerade an dem Tage, an dem die Krankheit zum Ausbruch kam, im Bureau des Revierinspektors durch ein Gespräch darüber erschreckt hat; er ist damals in Ohnmacht gefallen.«

»Erzähle mir das heute abend ausführlicher; ich werde dir dann auch etwas sagen. Er interessiert mich außerordentlich! In einer halben Stunde will ich noch einmal herankommen und nach ihm sehen … Fieber wird er übrigens nicht mehr haben.«

»Ich danke dir. Ich will unterdessen bei Paschenjka warten und ihn durch Nastasja beobachten lassen.«

Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, blickte Raskolnikow ungeduldig und mißmutig Nastasja an; aber diese zögerte noch fortzugehen.

»Willst du jetzt Tee trinken?« fragte sie.

»Nachher! Ich möchte schlafen! Laß mich allein …«

Er drehte sich krampfhaft nach der Wand hin; Nastasja ging hinaus.

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Kapitel 14

VII

Mitten auf der Straße stand eine elegante, herrschaftliche Kutsche, mit zwei feurigen Grauschimmeln bespannt. Es saß niemand darin; der Kutscher selbst war vom Bock gestiegen und stand daneben; ein paar Männer hielten die Pferde am Zaume… Ringsherum drängten sich eine Menge Menschen, in der vordersten Reihe standen Polizisten. Einer von diesen hielt eine kleine, brennende Laterne in der Hand, mit der er, sich niederbückend, etwas beleuchtete, was auf dem Straßendamme dicht bei den Rädern lag. Alle redeten und schrien, zornig und bedauernd; der Kutscher schien sehr bestürzt zu sein und rief von Zeit zu Zeit aus: »So ein Unglück! O Gott, so ein Unglück!«

Raskolnikow drängte sich, so gut er konnte, durch und erblickte endlich den Anlaß all dieser Aufregung und Neugier. Auf dem Boden lag ein soeben von den Pferden niedergetretener Mann, anscheinend besinnungslos, sehr schlecht, aber doch wie ein »besserer Herr« gekleidet. Er war ganz mit Blut besudelt; Blut rieselte ihm vom Kopfe und vom Gesichte; das Gesicht war ganz zerschlagen, zerschunden und verstümmelt. Offenbar war er von den Hufen sehr schwer verletzt worden.

»Mein Gott!« jammerte der Kutscher. »Wie soll man sich denn noch mehr vorsehen! Ja, wenn ich schnell gefahren wäre oder ihm nicht zugerufen hätte; aber ich fuhr ganz ruhig und gleichmäßig. Alle haben es gesehen und wissen, daß das die Wahrheit ist. Aber so ein Betrunkener hört und sieht eben nichts; das kennt man ja … Ich sah ihn, wie er über die Straße ging und dabei taumelte und beinahe hinfiel – ich rief ihn einmal an, noch einmal, zum dritten Male, und ich hielt die Pferde zurück; aber er lief ihnen direkt zwischen die Beine, da lag er! Ob er es nun mit Absicht tat, oder ob er zu sehr beduselt war – ich weiß nicht. Die Pferde sind jung und schreckhaft; sie zogen an, er schrie auf, da wurden sie noch scheuer, … und da war das Unglück da.«

»Ja, geradeso ist es gewesen«, rief aus der Menge ein Augenzeuge.

»Er hat ihn angerufen, das ist die Wahrheit; dreimal hat er ihn angerufen!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

»Genau dreimal; das haben alle gehört!« rief ein dritter.

Übrigens war der Kutscher nicht allzu niedergedrückt und erschrocken. Die Equipage gehörte offenbar einem reichen, vornehmen Herrn, den sie irgendwo abholen sollte; die Polizisten waren daher natürlich eifrig bemüht, das Verhalten des Kutschers als ordnungsgemäß anzuerkennen. Der Überfahrene sollte auf das Polizeibureau und ins Krankenhaus gebracht werden. Niemand kannte seinen Namen.

Unterdessen hatte sich Raskolnikow etwas weiter hindurchgedrängt und beugte sich aus größerer Nähe über ihn. Auf einmal erleuchtete die Laterne das Gesicht des Unglücklichen: er erkannte ihn.

»Ich kenne ihn, ich kenne ihn!« rief er und drängte sich ganz nach vorn. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, der Titularrat Marmeladow. Er wohnt hier in der Nähe, im Koselschen Hause… Schnell einen Arzt! Ich bezahle es, hier!«

Er zog Geld aus der Tasche und zeigte es einem der Polizisten. Er befand sich in gewaltiger Aufregung.

Den Polizisten war es sehr erwünscht, daß sie den Namen des Verletzten erfahren hatten. Raskolnikow gab auch seinen eigenen Namen und seine Adresse an und befürwortete mit aller Energie, wie wenn es sich um seinen eigenen Vater handelte, den schleunigen Transport des bewußtlosen Marmeladow nach dessen Wohnung.

»Dort, nur drei Häuser weit«, sagte er eifrig, »das Haus gehört einem Herrn Kosel, einem reichen Deutschen… Er war jetzt gewiß gerade in betrunkenem Zustande auf dem Wege nach Hause. Ich kenne ihn… Er ist ein Trinker… Er wohnt da mit seiner Familie, Frau und Kindern; auch eine erwachsene Tochter hat er. Ihn ins Krankenhaus zu schaffen, dauert zu lange; aber hierherum wohnt gewiß ein Arzt. Ich bezahle es, ich bezahle es! Hier findet er doch gleich Hilfe und hat seine richtige Pflege; bis er ins Krankenhaus kommt, ist er schon tot.«

Er hatte dabei auch bereits den Polizisten heimlich etwas in die Hand gedrückt; übrigens war es ja eine ganz klare und gesetzliche Sache, und jedenfalls war Hilfe hier näher zu haben. Es fanden sich hilfsbereite Hände; der Überfahrene wurde aufgehoben und fortgetragen. Das Koselsche Haus war nur etwa dreißig Schritte entfernt. Raskolnikow ging hinten, hielt vorsichtig den Kopf des Verunglückten und gab den Weg an.

»Hierher, hierher! Die Treppe hinauf müssen wir ihn mit dem Kopfe voran tragen; wendet ihn herum… so, so ist’s recht! Ich werde es bezahlen; ich werde mich euch erkenntlich zeigen!« murmelte er.

Katerina Iwanowna wanderte, wie immer, sobald sie nur einen arbeitsfreien Augenblick fand, in ihrem kleinen Zimmerchen auf und ab, vom Fenster nach dem Ofen und zurück; dabei hielt sie die Arme fest über der Brust verschränkt, redete mit sich selbst und hustete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, häufiger und mehr mit ihrer ältesten Tochter, der neunjährigen Polenjka, zu sprechen, die zwar vieles noch nicht verstand, dafür aber sehr wohl begriff, daß es der Mutter ein Bedürfnis war, mit ihr zu reden, und ihr darum immer mit ihren großen, klugen Augen folgte und sich schlau bemühte, zu tun, als ob sie alles verstände. Augenblicklich war Polenjka damit beschäftigt, ihren kleinen Bruder, der den ganzen Tag über nicht recht wohl gewesen war, auszukleiden, um ihn schlafen zu legen. Der Knabe saß schweigend und mit ernster Miene auf einem Stuhle, gerade aufgerichtet und ohne sich zu rühren, die fest zusammengepreßten Beinchen waagerecht ausgestreckt, die Fersen nach vorn, die Fußspitzen auseinander, und wartete darauf, daß ihm für das alte Hemdchen, das in der Nacht gewaschen werden sollte, ein frisches angezogen werde. Er hörte zu, was die Mutter mit der Schwester sprach, machte spielend die Lippen dick, öffnete die Augen weit und saß ruhig da, ganz wie alle artigen kleinen Knaben sich zu benehmen haben, wenn sie zum Zubettgehen ausgezogen werden. Sein noch kleineres Schwesterchen stand in bloßen Lumpen am Bettschirm und wartete, bis es an die Reihe kommen würde. Die Tür nach der Treppe zu war offen, um wenigstens einigermaßen die Wolken von Tabaksrauch abzuleiten, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die arme Schwindsüchtige fortwährend zwangen, lange und qualvoll zu husten. Katerina Iwanowna schien in dieser Woche noch mehr abgemagert zu sein, und die roten Flecke auf ihren Wangen brannten noch greller als früher.

»Du glaubst gar nicht, Polenjka«, sagte sie, im Zimmer auf und ab gehend, »du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie vergnügt und großartig wir in dem Hause meines lieben Papas lebten und wie dieser Trunkenbold mich zugrunde gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Verwaltungsbeamter im Range eines Obersten und beinahe schon Gouverneur; es fehlte ihm nur noch eine Beförderung, so daß alle schon immer zu ihm kamen und sagten: ›Wir betrachten Sie schon als unsern Gouverneur, Iwan Michailowitsch!‹ Als ich … kche! als ich … kche-kche-kche! … oh, dieses elende Dasein!« rief sie, nachdem sie den Schleim abgehustet hatte, und faßte nach ihrer Brust. »Als ich … ach, als auf dem letzten Balle … beim Adelsmarschall … mich die Fürstin Bessemelnaja erblickte, die mir später den Segen erteilte, als ich deinen Papa heiratete, Polenjka, da fragte sie sogleich: ›Ist das nicht das liebenswürdige Mädchen, das bei der Entlassungsfeier den Schleiertanz getanzt hat?‹ (Das Loch muß zugenäht werden; nimm mal eine Nadel und stopfe es jetzt gleich, wie ich es dir gezeigt habe; sonst reißt es morgen … kche! morgen … kche-kche-kche! noch weiter auf!« rief sie unter heftigen Hustenanfällen.) »Damals war der Kammerjunker Fürst Schtschegolskoi eben aus Petersburg angekommen; er tanzte mit mir eine Masurka und wollte am andern Tage zu uns kommen und um meine Hand anhalten; aber ich dankte ihm in den verbindlichsten Ausdrücken und sagte, daß mein Herz bereits einem andern gehöre. Dieser andere war dein Vater, Polenjka; mein Papa wurde furchtbar zornig … Ist das Wasser bereit? Nun, dann gib das Hemd her; und wo sind die Strümpfe? … Lida«, wandte sie sich an die jüngste Tochter, »du kannst diese Nacht einmal ohne Hemd schlafen, das geht schon, … und lege deine Strümpfe daneben, … ich will gleich alles zusammen waschen … Warum bloß dieser Lumpenkerl nicht nach Hause kommt, der Trunkenbold! Sein Hemd trägt er schon so lange, daß es aussieht wie ein Topflappen, und zerrissen ist es auch ganz … Ich könnte es jetzt alles zusammen waschen, damit ich mich nicht zwei Nächte hintereinander zu quälen brauche! O Gott! Kche-kche-kche-kche! Schon wieder! Was ist das?« rief sie, als sie die vielen Menschen auf dem Flur sah und die Männer, die sich mit irgendeiner Last ins Zimmer hineindrängten. »Was ist das? Was bringen die da? O Gott!«

»Wo sollen wir ihn hier hinlegen?« fragte einer der Polizisten, nachdem der blutbefleckte, besinnungslose Marmeladow ins Zimmer gebracht war, und sah sich nach allen Seiten um.

»Auf das Sofa! Legt ihn nur aufs Sofa, mit dem Kopfe hierher!« wies Raskolnikow die Träger an.

»Er ist auf der Straße überfahren worden! Er war betrunken!« rief jemand vom Flur her.

Katerina Iwanowna stand ganz bleich da und atmete nur mühsam. Die Kinder waren heftig erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Polenjka hin, schlang die Arme um sie und zitterte am ganzen Leibe. Nachdem unter seiner Leitung Marmeladow auf das Sofa gelegt worden war, trat Raskolnikow schnell auf Katerina Iwanowna zu.

»Ich bitte Sie dringend, beruhigen Sie sich, erschrecken Sie nicht!« sagte er hastig. »Als er die Straße überschritt, hat ihn eine Kutsche überfahren; beunruhigen Sie sich nicht; er wird ja wieder zu sich kommen; ich habe veranlaßt, daß er hierhergebracht wurde, … ich bin schon einmal bei Ihnen gewesen; Sie erinnern sich vielleicht … Er wird ja wieder zu sich kommen; ich werde alles bezahlen!«

»Dahin hat er es nun gebracht!« schrie Katerina Iwanowna und stürzte zu ihrem Manne hin.

Raskolnikow merkte bald, daß diese Frau nicht zu denen gehörte, die gleich in Ohnmacht fallen. Im nächsten Augenblick lag unter dem Kopfe des Unglücklichen ein Kissen, woran noch niemand gedacht hatte. Katerina Iwanowna begann ihm die Kleider auszuziehen, untersuchte ihn, war eifrig um ihn beschäftigt und verlor nicht den Kopf; an sich selbst dachte sie mit keinem Gedanken mehr, biß sich auf die zitternden Lippen und unterdrückte das Wehgeschrei, das sich ihrer Brust entringen wollte.

Raskolnikow hatte unterdessen jemand beauftragt, schnell einen Arzt zu holen. Einige der Anwesenden wußten, daß ein solcher im Nachbarhause wohnte.

»Ich habe nach einem Arzte geschickt«, sagte er wieder zu Katerina Iwanowna. »Beunruhigen Sie sich darüber nicht; ich werde alles bezahlen. Haben Sie kein Wasser hier? … Und geben Sie mir auch eine Serviette, ein Handtuch oder so etwas, recht schnell; es ist noch nicht recht zu sehen, von welcher Art seine Verletzung ist … Es handelt sich nur um eine Verletzung; tot ist er nicht; dessen können Sie ganz sicher sein … Wir wollen mal hören, was der Arzt sagt!«

Katerina Iwanowna lief zum Fenster. Dort stand in einer Ecke auf einem durchgesessenen Stuhl eine große irdene Schüssel mit Wasser, in der sie die Wäsche der Kinder und ihres Mannes in der Nacht hatte waschen wollen. Diese nächtliche Wäsche bewerkstelligte Katerina Iwanowna immer eigenhändig, mindestens zweimal in der Woche, mitunter auch öfter; denn sie waren so weit heruntergekommen, daß sie Wäsche zum Wechseln so gut wie gar nicht mehr hatten, sondern jedes Familienmitglied fast nur ein einziges Exemplar von jeder Art besaß. Unreinlichkeit konnte Katerina Iwanowna aber nicht ertragen; ehe sie Schmutz im Hause geduldet hätte, quälte sie sich lieber bei Nacht, wenn alle schliefen, über ihre Kräfte hinaus ab, damit am Morgen die nasse Wäsche an einer Leine getrocknet war und die Ihrigen etwas Reines zum Anziehen hatten. Sie ergriff die Schüssel, um sie auf Raskolnikows Wunsch ihm hinzubringen, wäre aber beinahe mit ihr hingefallen. Raskolnikow hatte bereits ein Handtuch gefunden, tauchte es nun ins Wasser und wusch dem Verunglückten das von Blut überströmte Gesicht. Katerina Iwanowna stand dabei; das Atmen machte ihr Schmerzen, und sie drückte die Hände gegen ihre Brust. Sie bedurfte selbst der Hilfe. Raskolnikow begann einzusehen, daß er vielleicht nicht gut daran getan hatte, den Verunglückten hierherschaffen zu lassen. Auch der Schutzmann stand ratlos da.

»Polenjka«, rief Katerina Iwanowna. »Lauf zu Sonja, schnell. Wenn du sie nicht zu Hause triffst, so bestelle jedenfalls, daß der Vater überfahren ist und daß sie gleich herkommen soll, … sowie sie nach Hause kommt. Schnell, Polenjka! Hier, binde dir das Tuch um!«

»Lauf, was du kannst!« rief auf einmal der Knabe von seinem Stuhle. Nachdem er das gesagt hatte, versank er wieder in sein früheres Schweigen und nahm wieder seine gerade Haltung auf dem Stuhle ein, die Augen weit geöffnet, die Fersen nach vorn, die Fußspitzen auseinander.

Unterdessen hatte sich das Zimmer so angefüllt, daß kein Apfel zur Erde konnte. Die Polizisten waren weggegangen bis auf einen, der vorläufig noch dageblieben war und sich bemühte, das Publikum, das von der Treppe her eingedrungen war, wieder auf die Treppe hinauszutreiben. Dafür strömten aus den inneren Zimmern fast alle Mieter der Frau Lippewechsel herein; anfangs drängten sie sich nur an der Türe herum, aber dann ergossen sie sich in dichtem Schwarm in das Zimmer. Katerina Iwanowna geriet darüber in Zorn.

»So laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!« schrie sie den Haufen an. »Das ist wohl ein Schauspiel für euch! Die Zigaretten im Munde! Kche-kche-kche! Es fehlt bloß noch, daß ihr mit den Hüten auf dem Kopfe hereinkommt! … Da hat ja auch einer den Hut auf! … Habt doch wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!«

Der Husten erstickte sie fast; aber die Scheltrede half. Die Mieter hatten offenbar vor Katerina Iwanowna einigermaßen Furcht; einer nach dem andern, drängten sie sich wieder zur Tür zurück mit jenem eigentümlichen Gefühle innerer Befriedigung, das stets, selbst bei den Nächststehenden, rege wird, sobald einem andern ein plötzliches Unglück zustößt, und von dem trotz des aufrichtigsten Mitleides und Bedauerns doch schlechterdings niemand frei ist.

Durch die Tür hörte man jedoch Stimmen, die vom Krankenhause sprachen und daß es nicht in der Ordnung sei, die Mitbewohner ohne Not zu stören.

»Es ist wohl nicht in der Ordnung, daß jemand stirbt?« rief Katerina Iwanowna und lief schon zur Tür, um sie aufzureißen und ihnen eine zornige Strafrede zu halten; aber in der Tür stieß sie mit Frau Lippewechsel selbst zusammen, die eben erst von dem Unglück gehört hatte und nun angelaufen kam, um nach dem Rechten zu sehen. Sie war eine ganz alberne, verdrehte Deutsche.

»Ach, mein Gott!« rief sie und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Ihr Mann betrunken ein Pferd getreten. Ihn ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«

»Amalia Ludwigowna! Ich bitte Sie, zu überlegen, was Sie reden«, begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie immer in hochmütigem Tone, damit diese »sich ihrer Stellung bewußt bliebe«, und selbst jetzt konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen), »Amalia Ludwigowna …«

»Ich Ihnen habe gesagt einmal für immer, daß Sie niemals wagen, mir zu sagen Amalia Ludwigowna; ich heiße Amalia Iwanowna.«

»Sie heißen nicht Amalia Iwanowna, sondern Amalia Ludwigowna, und da ich nicht zu Ihren gemeinen Schmeichlern gehöre wie Herr Lebesjatnikow, der jetzt hinter der Tür lacht« (wirklich war durch die Tür Gelächter zu hören und der Ausruf: ›Sie sind wieder mal aneinandergeraten!‹), »so werde ich Sie immer Amalia Ludwigowna nennen, obgleich ich absolut nicht begreifen kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was Semjon Sacharowitsch zugestoßen ist; er liegt im Sterben. Ich bitte Sie, diese Tür sofort zuzuschließen und niemand hier hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst können Sie ganz sicher sein, daß schon morgen der Generalgouverneur selbst es zu hören bekommt, wie Sie sich benommen haben. Der Fürst kennt mich noch von der Zeit her, als ich noch unverheiratet war, und erinnert sich auch sehr gut an Semjon Sacharowitsch, dem er oftmals Freundlichkeiten erwiesen hat. Es ist allgemein bekannt, daß Semjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner besaß, von denen er selbst sich aus edlem Stolze im Bewußtsein seiner unglücklichen Schwäche zurückgezogen hatte; aber jetzt« (sie wies auf Raskolnikow) »ist uns ein hochherziger junger Mann behilflich, der über große Mittel und Konnexionen verfügt und den Semjon Sacharowitsch schon als Knaben gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalia Ludwigowna …«

Alles dies sprudelte sie mit großer Geschwindigkeit hervor, die sich im Laufe der Rede immer mehr steigerte; aber der Husten setzte auf einmal dem Redestrom ein Ende. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zur Besinnung und stöhnte; Katerina Iwanowna lief zu ihm hin. Der Kranke öffnete die Augen und blickte, noch ohne jemand zu erkennen oder etwas zu verstehen, Raskolnikow an, der neben ihm stand und sich über ihn beugte. Er atmete schwer, in tiefen, einzelnen Stößen; an den Rändern der zusammengepreßten Lippen trat Blut hervor; die Stirn war mit Schweiß bedeckt. Da er Raskolnikow nicht erkannte, begann er unruhig mit den Augen zu suchen. Katerina Iwanowna sah ihn mit trauriger, aber strenger Miene an; die Tränen rannen ihr aus den Augen.

»O Gott, die ganze Brust ist ihm eingedrückt! Und das Blut, das Blut!« sagte sie verzweiflungsvoll. »Wir müssen ihm den Oberkörper vollständig entkleiden! Dreh dich ein bißchen um, Semjon Sacharowitsch, wenn du das kannst!« rief sie ihm zu.

Marmeladow erkannte sie.

»Einen Priester!« sagte er mit heiserer Stimme.

Katerina Iwanowna trat ans Fenster, lehnte sich mit der Stirn gegen den Fensterrahmen und rief verzweifelt:

»Oh, dieses elende Leben!«

»Einen Priester!« sagte der Sterbende nach einer kurzen Pause noch einmal.

»Der wird schon geholt!« schrie ihn Katerina Iwanowna an. Verschüchtert durch den strengen Ton schwieg er. Mit zaghaftem, traurigem Blick suchte er sie; sie kehrte wieder zu ihm zurück und trat an das Kopfende. Er beruhigte sich ein wenig, jedoch nicht für lange.

Seine Augen blieben bald auf der kleinen Lida, seinem Lieblinge, haften, die in einer Ecke stand, wie im Fieber zitterte und ihn mit ihren erstaunt starrenden Kinderaugen ansah.

»Ach … ach …«, sagte er und zeigte beunruhigt auf sie hin. Er wollte etwas sagen.

»Was willst du denn nun noch?« rief Katerina Iwanowna.

»Barfuß! Barfuß!« murmelte er und deutete mit halbirrem Blick auf die nackten Füße des kleinen Mädchens.

»Schweig du nur!« rief Katerina Iwanowna in gereiztem Tone. »Du weißt selbst, warum sie barfuß ist.«

»Gott sei Dank, da ist der Arzt!« rief Raskolnikow erfreut.

Der Arzt trat ein, ein schon älterer Mann, sorgfältig gekleidet, ein Deutscher; er sah sich mit mißtrauischer Miene nach allen Seiten um, dann trat er zu dem Kranken, fühlte den Puls, betastete aufmerksam den Kopf, knöpfte mit Katerina Iwanownas Hilfe das ganz von Blut durchtränkte Hemd auf und entblößte die Brust des Kranken. Die ganze Brust war zerdrückt, zusammengequetscht und zerfleischt; auf der rechten Seite waren mehrere Rippen gebrochen. Auf der linken Seite, gerade über dem Herzen, war ein entsetzlich aussehender, großer schwarzgelber Fleck, der von einem furchtbaren Hufschlage herrührte. Der Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht. Der Polizist erzählte ihm, daß der Überfahrene von einem Rade erfaßt und bei dessen Umdrehungen etwa dreißig Schritte auf dem Pflaster fortgeschleift worden sei.

»Ein Wunder, daß er überhaupt wieder zu sich gekommen ist«, flüsterte der Arzt leise Raskolnikow zu.

»Wie denken Sie über ihn?«

»Er wird gleich sterben.«

»Ist denn gar keine Hoffnung mehr?«

»Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen … Außerdem ist der Kopf gefährlich verwundet … Hm … Vielleicht könnte man noch einen Aderlaß vornehmen, … aber … helfen wird das auch nicht. In fünf bis zehn Minuten stirbt er sicher.«

»Lassen Sie ihn lieber doch noch zur Ader!«

»Meinetwegen … Aber ich sage Ihnen vorher, daß es völlig nutzlos ist.«

Abermals wurden Schritte vernehmbar; die Menge auf dem Flur teilte sich, und auf der Schwelle erschien ein Geistlicher, ein grauhaariger Mann, mit dem Sakrament. Einer von den Polizisten hatte ihn geholt, noch ehe der Verunglückte hinaufgebracht worden war. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm einen vielsagenden Blick. Raskolnikow bat den Arzt, noch ein wenig dazubleiben. Der zuckte die Achseln und blieb.

Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende nahm nichts mehr richtig auf; er konnte nur abgebrochene, undeutliche Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna faßte Lida bei der Hand, hob den Knaben vom Stuhle, ging in die Ecke beim Ofen und fiel auf die Knie; auch die Kinder ließ sie vor sich niederknien. Das kleine Mädchen zitterte nur; der Knabe aber, auf den nackten Knien liegend, hob langsam und bedächtig die Hand in die Höhe, bekreuzigte sich ganz ordnungsgemäß und verbeugte sich bis zum Boden, wobei er mit der Stirn an die Diele schlug, was ihm anscheinend ein besonderes Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt die Tränen zurück; sie betete gleichfalls; von Zeit zu Zeit zog sie dem Knaben das Hemd zurecht; dem kleinen Mädchen warf sie über die allzusehr entblößten Schultern ein Halstuch, das sie, ohne sich von den Knien zu erheben und ihr Gebet zu unterbrechen, aus der Kommode genommen hatte. Unterdessen wurde die nach den inneren Zimmern führende Tür wieder von Neugierigen geöffnet. Auch auf dem Flur drängten sich die Zuschauer in immer dichterer Menge, ohne jedoch die Schwelle des Zimmers zu überschreiten; es waren Mieter aus allen Etagen des Hauses. Nur ein einziges Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene.

In diesem Augenblicke drängte sich vom Flur her Polenjka, die zur Schwester gelaufen war, um diese zu holen, eilig durch die Menge hindurch. Als sie eintrat, war sie vom schnellen Laufen ganz außer Atem; sie nahm sich das Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, trat zu ihr und sagte: »Sie kommt; ich habe sie auf der Straße getroffen.« Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie nieder. Aus dem Menschenschwarm drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen hervor, und seltsam wirkte ihr plötzliches Erscheinen in diesem Zimmer mitten unter Armut und Lumpen, Tod und Verzweiflung. Dürftig zwar war auch ihre Kleidung; sie war mit den billigsten Sachen, aber auffällig, nach Art der Straßendirnen aufgeputzt, nach dem Geschmack und den Gebräuchen, die in dieser eigenartigen Lebenssphäre Geltung haben, und mit deutlicher, schmählicher Hervorkehrung des Zweckes. Sonja blieb auf dem Flur dicht an der Schwelle stehen, überschritt aber die Schwelle nicht, sondern blickte ganz ohne Fassung und wie verständnislos ins Zimmer hinein; an ihr Aussehen schien sie gar nicht zu denken: an das aus vierter Hand gekaufte, hier so unpassende bunte Seidenkleid mit der langen, lächerlichen Schleppe, an die gewaltige Krinoline, die die ganze Tür versperrte, an die hellen Stiefelchen und an den Sonnenschirm, den sie in der Nacht nicht brauchte, aber doch bei sich trug, an den lächerlichen runden Strohhut mit der feuerroten Feder. Unter diesem nach Knabenart schief aufgesetzten Hute blickte ein mageres, blasses, erschrockenes Gesichtchen hervor, mit offenem Munde und vor Schreck starren Augen. Sonja war etwa achtzehn Jahre alt, klein und schmächtig, hatte aber ein recht hübsches Gesicht, schönes blondes Haar und prächtige blaue Augen. Sie blickte unverwandt nach dem Sofa und dem Geistlichen hin; auch sie war vom schnellen Gehen außer Atem gekommen. Endlich merkte sie, daß in der Menge über sie geflüstert wurde; auch vernahm sie wohl einzelne Worte. Sie schlug die Augen nieder, tat einen Schritt über die Schwelle und stand nun im Zimmer, aber immer noch dicht an der Tür.

Beichte und Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna trat wieder an das Lager ihres Mannes. Der Geistliche trat zurück und wandte sich, ehe er wegging, mit einigen Worten der Teilnahme und des Trostes an sie.

»Wo soll ich denn mit diesen hier bleiben?« unterbrach sie ihn, auf die Kinder weisend, in scharfem, gereiztem Tone.

»Gott ist gnädig; hoffen Sie auf die Hilfe des Allerhöchsten …«, begann der Geistliche.

»Ja, ja, gnädig ist er, aber nicht gegen uns!«

»Sie versündigen sich. Sie versündigen sich, meine liebe Dame«, sagte der Geistliche kopfschüttelnd.

»Und daß sie den hier totgefahren haben, ist wohl keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna, auf den Sterbenden weisend.

»Vielleicht werden diejenigen, welche die unfreiwillige Ursache geworden sind, sich bereitfinden, Sie zu entschädigen, wenigstens hinsichtlich des Einkommenausfalles.«

»Sie verstehen mich nicht!« rief Katerina Iwanowna gereizt mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Wofür sollten sie mich entschädigen? Er ist ja selbst in seiner Trunkenheit zwischen die Pferde gelaufen? Und von Einkommen kann keine Rede sein. Von ihm hatten wir kein Einkommen, sondern nur Mühe und Qual. Er vertrank ja alles, der Trunkenbold! Er bestahl uns und trug das Geld in die Schenke; das Geld, wovon die Kinder und ich leben sollten, hat er in der Schenke vergeudet! Gott sei Dank, daß er stirbt! Wir haben dadurch weniger Ausgaben!«

»Sie sollten ihm in der Stunde des Todes verzeihen; aber das ist Sünde, meine liebe Dame, eine solche Gesinnung ist eine große Sünde!«

Katerina Iwanowna war mit dem Kranken beschäftigt: sie reichte ihm zu trinken, wischte ihm den Schweiß und das Blut vom Kopfe und legte die Kissen zurecht; dabei führte sie dieses Gespräch mit dem Geistlichen, indem sie sich nur ab und zu während ihrer Arbeit zu ihm hinwandte. Jetzt aber fuhr sie auf einmal wie eine Rasende auf ihn los.

»Ach, Väterchen! Das sind ja doch alles nur Redensarten, nichts als Redensarten! Verzeihen! Wenn er heute nicht überfahren wäre, so wäre er wieder betrunken nach Hause gekommen. Er hat nur ein einziges, ganz abgetragnes, zerlumptes Hemd; da hätte er sich nun hingelegt und seinen Rausch ausgeschlafen, und ich hätte bis zum Morgen im Wasser geplanscht und seine und der Kinder Lumpen gewaschen und sie vor dem Fenster getrocknet, und wenn’s hell geworden wäre, hätte ich mich hingesetzt, um alles zu flicken – das wäre meine Nacht gewesen! … Also was ist da erst noch von Verzeihung zu reden! Ich habe ihm sowieso schon durch die Tat verziehen!«

Ein furchtbarer, tief aus der Brust kommender Husten hinderte sie weiterzureden. Sie spie den Auswurf in das Taschentuch und hielt es dem Geistlichen zum Ansehen hin, während sie die andre Hand gegen die schmerzende Brust drückte. Das Tuch war ganz voll Blut …

Der Geistliche senkte den Kopf und sagte nichts mehr.

Marmeladow lag im Todeskampfe; er wandte seine Augen nicht von Katerina Iwanownas Gesicht ab, die sich wieder über ihn beugte. Er wollte ihr immer etwas sagen, setzte dazu an, bewegte mühsam die Zunge und brachte ein paar undeutliche Worte heraus; aber als Katerina Iwanowna merkte, daß er sie um Verzeihung bitten wolle, schrie sie ihn sofort in befehlendem Tone an:

»Sei nur still! Du brauchst gar nichts zu sagen! … Ich weiß schon, was du sagen willst!«

Der Kranke verstummte; aber im selben Augenblicke fiel sein umherirrender Blick auf die Tür, und er bemerkte Sonja.

Bisher hatte er sie nicht gesehen, da sie in der Ecke und im Schatten stand.

»Wer ist das? Wer ist das?« sagte er plötzlich in größter Aufregung mit heiserer, keuchender Stimme, wies erschrocken mit den Augen nach der Tür, wo seine Tochter stand, und machte Anstrengungen, um sich aufzurichten.

»Lieg still, lieg still!« schrie ihm Katerina Iwanowna zu.

Aber es war ihm bereits mit einer über seine Kräfte hinausgehenden Anstrengung gelungen, sich auf den Arm zu stützen. Verstört und regungslos starrte er eine Zeitlang seine Tochter an, wie wenn er sie nicht erkenne. Auch hatte er sie noch nie in solcher Kleidung gesehen. Plötzlich erkannte er sie, wie sie, erniedrigt, gramvoll, herausgeputzt und in Scham vergehend, schüchtern darauf wartete, daß auch sie an die Reihe käme, von ihrem sterbenden Vater Abschied zu nehmen. Der Ausdruck grenzenlosen Leides malte sich auf seinem Gesichte.

»Sonja, meine Tochter, verzeih mir!« rief er und wollte ihr die Hand hinstrecken; aber den Halt verlierend, fiel er um und stürzte vom Sofa herunter, mit dem Gesichte gerade auf die Erde. Die Umstehenden sprangen hinzu, um ihn aufzuheben, und legten ihn wieder zurecht; aber er war schon im Verscheiden. Sonja stieß einen schwachen Schrei aus, lief hinzu und schlang die Arme um ihn; so starb er in ihrer Umarmung.

»Nun hat er sein Ziel erreicht!« rief Katerina Iwanowna, als sie sah, daß ihr Mann tot war. »Aber was soll ich nun tun? Wie soll ich sein Begräbnis bezahlen? Und was soll ich denen hier morgen zu essen geben?«

Raskolnikow trat zu ihr.

»Katerina Iwanowna«, begann er, »in der vorigen Woche hat mir Ihr verstorbener Gatte sein ganzes Leben erzählt und mir über alle seine Verhältnisse Mitteilung gemacht … Seien Sie versichert, daß er von Ihnen mit schwärmerischer Verehrung sprach. Seit jenem Abende, als ich erfuhr, wie herzlich er Ihnen allen zugetan war und wie sehr er besonders Sie, Katerina Iwanowna, schätzte und liebte, trotz seiner unseligen Schwäche, – seit jenem Abende waren wir Freunde … Gestatten Sie mir daher jetzt, … dazu mitzuhelfen, … daß meinem verstorbenen Freunde die letzte Ehre erwiesen werde. Hier sind … ich glaube, zwanzig Rubel – und wenn Ihnen das eine kleine Beihilfe sein kann, so … Ich werde … nun ja, ich werde einmal wieder mit herankommen, … ganz bestimmt komme ich wieder her, … vielleicht komme ich schon morgen … Leben Sie wohl!«

Eilig verließ er das Zimmer und drängte sich schnell durch die Menge hindurch, um zur Treppe zu gelangen; aber in dem Menschenhaufen stieß er plötzlich auf Nikodim Fomitsch, der von dem Unglücksfall gehört hatte und nun persönlich das Erforderliche anordnen wollte. Seit dem Vorfall auf dem Polizeibureau hatten sie sich nicht wieder gesehen; aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn augenblicklich.

»Ah, Sie hier?« fragte er ihn.

»Er ist gestorben«, antwortete Raskolnikow. »Ein Arzt ist dagewesen, auch ein Geistlicher; es hat alles seine gute Ordnung gehabt. Regen Sie nur die arme Frau nicht zu sehr auf; sie hat sowieso die Schwindsucht. Sprechen Sie ihr Mut zu, wenn es Ihnen möglich ist … Sie sind ja ein guter Mensch, das weiß ich …«, fügte er lächelnd hinzu und blickte ihm gerade in die Augen.

»Sie haben sich ja so blutig gemacht«, bemerkte Nikodim Fomitsch, als er beim Lichte der Laterne ein paar frische Flecke auf Raskolnikows Weste wahrnahm.

»Ja, ich habe mich blutig gemacht, … ich bin ganz voll Blut!« erwiderte Raskolnikow mit eigentümlicher Miene; darauf lächelte und nickte er ihm zu und stieg die Treppe hinunter.

Er ging sachte und ohne Eile hinab, in fieberhafter Erregung, deren er sich aber nicht bewußt war, ganz erfüllt von dem einen, neuen, unermeßlichen Gefühle des plötzlich über ihn hereinflutenden vollen, mächtigen Lebens. Dieses Gefühl mochte dem Gefühle eines zum Tode Verurteilten ähnlich sein, dem unerwartet seine Begnadigung verkündet wird. Auf der halben Höhe der Treppe holte ihn der Geistliche ein, der wieder nach Hause ging. Schweigend ließ Raskolnikow ihn an sich vorbeigehen und wechselte mit ihm nur eine stumme Verneigung. Aber als er bereits die letzten Stufen hinabstieg, hörte er hinter sich eilige Schritte; es wollte ihn jemand einholen. Es war Polenjka; sie kam ihm nachgelaufen und rief:

»Bitte, hören Sie! Bitte, hören Sie!«

Er drehte sich zu ihr um. Sie kam die letzte Treppe herabgelaufen und blieb dicht vor ihm stehen, eine Stufe höher als er. Es war dunkel, und nur ein schwacher Lichtschimmer drang vom Hofe herein. Raskolnikow konnte das magere, aber liebliche Gesichtchen der Kleinen unterscheiden, die ihm zulächelte und ihn mit kindlicher Fröhlichkeit anblickte. Sie kam mit einem Auftrage, der offenbar ihr selbst große Freude machte.

»Bitte, sagen Sie doch, wie Sie heißen, und auch, wo Sie wohnen!« sagte sie eilig und fast außer Atem.

Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und blickte sie mit einer Art von Glücksgefühl an. Es war ihm ein solches Vergnügen, sie anzusehen, obwohl er sich selbst über den Grund nicht klar war.

»Wer hat dich denn geschickt?«

»Meine Schwester Sonja«, antwortete das Mädchen und lächelte noch fröhlicher.

»Das habe ich mir gedacht, daß dich deine Schwester Sonja geschickt hat.«

»Mama hat mich auch geschickt. Als Sonja mich schickte, kam Mama auch heran und sagte: ›Lauf recht schnell, Polenjka.‹«

»Du hast wohl deine Schwester Sonja recht lieb?«

»Ja, die habe ich am liebsten von allen!« antwortete Polenjka mit großer Bestimmtheit, und ihr Lächeln wurde auf einmal ernster.

»Wirst du mich auch lieb haben?«

Er erhielt keine Antwort; aber er sah, wie das Gesichtchen der Kleinen sich ihm näherte und die weichen Lippen sich harmlos spitzten, um ihn zu küssen. Ihre Arme, die so dünn waren wie Streichhölzchen, umschlangen ihn auf einmal ganz eng, ihr Kopf neigte sich gegen seine Schulter, und das Kind begann leise zu weinen und schmiegte sich mit dem Gesichte immer fester an ihn.

»Unser lieber Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer kleinen Weile, indem sie ihr verweintes Gesichtchen in die Höhe hob und sich mit den Händen die Tränen abwischte. »Es hat uns jetzt ein Unglück nach dem andern betroffen«, fügte sie unvermittelt hinzu, mit der eigentümlich ernsten Miene, welche Kinder mit besonderer Bemühung annehmen, wenn sie »wie die Großen« reden wollen.

»Hat denn dein Papa euch auch lieb gehabt?«

»Unsre Lida hat er am meisten von uns allen lieb gehabt«, fuhr sie sehr ernsthaft und ohne zu lächeln fort; sie redete nun schon ganz wie die Großen, »die hatte er am meisten lieb, weil sie noch so klein ist, und dann auch, weil sie so oft krank ist, und er brachte ihr immer etwas zum Naschen mit, und uns hat er lesen gelehrt und mich auch Grammatik und Religion«, fügte sie mit Selbstbewußtsein hinzu. »Mama hat nichts dazu gesagt; aber wir wußten doch, daß sie es gern hatte, und Papa wußte es auch. Mama will mich jetzt im Französischen unterrichten, weil es für mich Zeit ist, daß ich eine gute Bildung erhalte.«

»Könnt ihr denn auch beten?«

»Oh, gewiß können wir das! Schon lange. Ich bete, weil ich schon groß bin, für mich allein; aber Nikolai und Lida beten laut mit Mama zusammen. Erst sagen sie das Gebet an die Muttergottes, und dann noch ein Gebet: ›Lieber Gott, verzeihe unsrer Schwester Sonja und segne sie‹, und dann noch eins: ›Lieber Gott, verzeihe unserm zweiten Papa und segne ihn‹; denn unser erster Papa ist schon tot, und dieser ist unser zweiter; aber wir beten auch für ihn.«

»Polenjka, ich heiße Rodion; betet manchmal auch für mich. Ihr braucht nur hinzuzufügen: ›und deinem Knechte Rodion‹, weiter nichts.«

»Mein ganzes künftiges Leben lang werde ich für Sie beten«, sagte die Kleine eifrig, und nun lächelte sie auf einmal wieder, fiel ihm noch einmal um den Hals und umarmte ihn innig.

Raskolnikow sagte ihr seinen Namen, gab ihr seine Wohnung an und versprach, morgen bestimmt wieder mit heranzukommen. Ganz entzückt über ihn ging das kleine Mädchen wieder nach oben. Es war zwischen zehn und elf Uhr, als er auf die Straße hinaustrat. Fünf Minuten darauf stand er auf der Brücke, genau auf derselben Stelle, wo sich kurz vorher die Frau ins Wasser gestürzt hatte.

›Nun genug!‹ sagte er sich entschlossen und feierlich. ›Weg mit den Wahnbildern, weg mit der leeren Beängstigung, weg mit all diesen Gespenstern! … Es gibt noch für mich ein Leben! Oder habe ich nicht soeben ein Stück Leben durchgekostet? Mein Leben ist noch nicht mit dem der alten Frau zusammen zerstört und vernichtet! Gott schenke ihr das Himmelreich – und nun genug mit dir, Mütterchen; es ist Zeit, daß du zur Ruhe kommst! Jetzt beginnt die Herrschaft der Vernunft und des Lichtes … und des Willens und der Kraft … Und nun wollen wir einmal sehen! Nun wollen wir uns einmal miteinander messen!‹ fügte er stolz hinzu, als ob er sich an eine dunkle Macht wendete und sie zum Kampfe herausforderte. ›Und ich hatte mich schon darein ergeben, auf der schmalen Felsenplatte zu leben!

Schwach bin ich freilich in diesem Augenblicke noch sehr; aber … die Krankheit scheint jetzt vollständig vorbei zu sein. Das habe ich schon vorhin, als ich ausging, gewußt, daß sie vorübergehen würde. Da fällt mir ein: das Potschinkowsche Haus ist ja nur ein paar Schritte von hier entfernt. Jetzt möchte ich unter allen Umständen zu Rasumichin gehen, auch wenn es weiter als ein paar Schritte wäre … Mag er die Wette gewinnen! … Mag er sich auch darüber amüsieren – immerzu, mag er! … Kraft, Kraft ist erforderlich; ohne Kraft richtet man nichts aus; aber Kraft muß man gerade wieder durch Kraft erwerben; das ist´s, was die meisten nicht wissen‹, fügte er stolz und selbstbewußt hinzu und verließ, kaum imstande die Füße zu heben, die Brücke. Sein Stolz und sein Selbstbewußtsein wuchsen reißend schnell; im nächsten Augenblicke war er schon ein ganz andrer Mensch als im vorhergehenden. Was war denn aber so Besonderes geschehen, das ihn so umgewandelt hatte? Das wußte er eigentlich selbst nicht; wie jemand, der nach einem Strohhalm greift, so glaubte auch er auf einmal, daß er noch weiterleben könne, daß ›es noch für ihn ein Leben gebe‹, daß ›sein Leben noch nicht mit dem der alten Frau zusammen zerstört und vernichtet sei‹. Vielleicht war diese Schlußfolgerung übereilt; aber das kam ihm nicht in den Sinn.

›Und ich habe sie gebeten, den Knecht Gottes Rodion im Gebet zu erwähnen‹, schoß es ihm durch den Kopf. ›Na, das ist für alle Fälle!‹ fügte er hinzu und lachte selbst über seinen kindlichen Einfall. Er befand sich in ausgezeichneter Gemütsstimmung.

Rasumichins Wohnung fand er leicht; im Potschinkowschen Hause war der neue Mieter bereits hinlänglich bekannt, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg. Raskolnikow war die Treppe erst zur Hälfte hinaufgestiegen, als er schon den Lärm und das Stimmengewirr einer großen Gesellschaft vernahm. Die nach der Treppe führende Tür stand sperrangelweit auf; man hörte Geschrei und Streiten. Rasumichins Zimmer war ziemlich groß; die Gesellschaft bestand aus etwa fünfzehn Personen. Raskolnikow blieb im Vorzimmer stehen. Hier beschäftigten sich hinter einer spanischen Wand zwei Dienstmädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars, mit Flaschen, Tellern und Schüsseln, auf denen Pirog und kalter Aufschnitt lagen; all dies war aus der Küche der Wirtsleute hierhergeschafft worden. Raskolnikow ließ Rasumichin herausrufen. Dieser kam hocherfreut angelaufen. Es war auf den ersten Blick zu sehen, daß er ein erhebliches Quantum getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich fast niemals wirklich betrank, war ihm diesmal doch deutlich etwas anzumerken.

»Hör mal«, sagte Raskolnikow eilig, »ich bin bloß hergekommen, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast und daß in der Tat niemand vorher weiß, was alles auf ihn einwirken wird. Hineinkommen kann ich nicht; ich bin so schwach, daß ich jeden Augenblick umfallen könnte. Darum will ich dich nur begrüßen und dir zugleich ›Auf Wiedersehen‹ sagen. Komm morgen zu mir …«

»Weißt du was? Ich bringe dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, daß du so schwach bist, dann …«

»Und deine Gäste? Was ist denn das für ein Krauskopf, der eben hier hereinguckte?«

»Der? Weiß der Kuckuck, wer das ist! Wohl ein Bekannter meines Onkels; vielleicht ist er aber auch ganz von selbst gekommen … Ich lasse meinen Onkel hier bei ihnen; das ist ein Staatskerl; schade, daß du jetzt nicht mit ihm Bekanntschaft machen kannst. Übrigens, hol sie alle der Teufel! Sie brauchen mich jetzt nicht, und ich muß ein bißchen an die frische Luft. So kommst du mir gerade zupaß, Brüderchen; hätte es noch zwei Minuten länger gedauert, so hätte ich mich, weiß Gott, noch mit ihnen geprügelt. Denn einen Blödsinn schwatzen die Kerle zusammen –! Du hast gar keine Vorstellung davon, was solche Menschen alles zusammenschwadronieren können. Übrigens, warum sollst du keine Vorstellung davon haben? Schwadronieren wir nicht auch das Blaue vom Himmel? Mögen sie jetzt schwadronieren, immerzu; im spätern Leben sind sie dann um so gesetzter. Setz dich einen Augenblick; ich will noch Sossimow herholen.«

Sossimow eilte mit großer Lebhaftigkeit auf Raskolnikow zu; es war ihm eine ganz besondere Spannung anzumerken; aber sein Gesicht hellte sich alsbald auf.

»Legen Sie sich sofort schlafen«, ordnete er an, nachdem er den Patienten nach Möglichkeit untersucht hatte, »und zur Nacht nehmen Sie eine Kleinigkeit ein. Nicht wahr, das tun Sie doch? Ich habe schon vorhin etwas für Sie zurechtgemacht … ein Pülverchen.«

»Meinetwegen zwei«, antwortete Raskolnikow. Er nahm das Pulver sofort ein.

»Es ist sehr gut, daß du ihn selbst nach Hause bringen willst«, sagte Sossimow zu Rasumichin. »Wir wollen mal sehen, wie es morgen sein wird; heute jedenfalls läßt sich die Sache recht gut an: ein merkwürdiger Umschwung seit vorhin. Man lernt doch nie aus.«

»Weißt du, was mir Sossimow eben zugeflüstert hat, als wir weggingen?« platzte Rasumichin heraus, sowie sie auf die Straße traten. »Ich will dir nicht alles so geradeheraus sagen, Bruder; denn die Kerle sind doch gar zu dumm. Sossimow beauftragte mich, unterwegs mit dir zu schwatzen und auch dich zum Schwatzen zu bringen und ihm dann alles zu erzählen; denn er hat so die Idee, … daß du … verrückt wärest oder wenigstens nahe daran. Kannst du dir so etwas vorstellen? Erstens bist du dreimal so klug wie er; zweitens können dir seine albernen Ideen ganz schnuppe sein, wenn du nicht wirklich verdreht bist; und drittens hat dieser Fleischkloß, der doch eigentlich Chirurg ist, sich jetzt auf Geisteskrankheiten kapriziert, und was dich betrifft, so hat ihm dein heutiges Gespräch mit Sametow völlig den Kopf verdreht.«

»Hat dir Sametow alles erzählt?«

»Jawohl, und daran hat er sehr gut getan. Ich habe jetzt die ganze Sache bis auf das kleinste verstanden, und Sametow auch … Na ja, mit einem Worte, Rodja, … die Sache ist die … Ich bin jetzt ein bißchen angesäuselt, … aber das macht nichts, … die Sache ist die, daß dieser Gedanke … du verstehst wohl? Er hatte sich wirklich bei ihnen festgesetzt, … du verstehst wohl? Das heißt, keiner von ihnen wagte es laut auszusprechen, solchen horrenden Blödsinn, und namentlich nachdem dieser Malergeselle festgenommen war, kamen sie ganz davon ab. Aber warum sind sie überhaupt solche Dummköpfe? Ich habe damals Sametow ein bißchen durchgeprügelt (das sage ich aber nur ganz unter uns, Brüderchen; bitte, laß dir ja nicht anmerken, daß du es weißt; ich habe bemerkt, daß er etwas empfindlich ist; neulich einmal, als wir bei jener Lawisa waren); aber heute, heute ist ja nun alles klar geworden. Das ging alles von diesem Ilja Petrowitsch aus! Er stützte damals seine Deduktionen auf deinen Ohnmachtsanfall im Polizeibureau: aber nachher hat er sich selbst dessen geschämt; das weiß ich …«

Raskolnikow hörte begierig zu. Rasumichin schwatzte in seiner Trunkenheit alles aus.

»Ich fiel damals in Ohnmacht, weil die Luft so verbraucht war und es so nach Ölfarbe roch«, sagte Raskolnikow.

»Bringt der Mensch auch noch Erklärungen vor! Es war übrigens auch nicht allein die Ölfarbe: das Fieber bereitete sich bei dir schon einen ganzen Monat lang vor, hat Sossimow erklärt. Aber wie dieses Jüngelchen, der Sametow, jetzt geknickt ist, davon kannst du dir gar keine Vorstellung machen! ›Ich bin nicht so viel wert wie der kleine Finger dieses Menschen‹, sagt er; er meint deinen kleinen Finger. Er hat manchmal ganz vernünftige Anschauungen, Brüderchen. Aber die Lektion, die du ihm heute im Kristallpalast erteilt hast, das war ein Meisterstück! Zuerst hast du ihm einen Schreck eingejagt, daß er fast Krämpfe bekommen hätte. Du hast ihn ja beinahe genötigt, wieder an all diesen gräßlichen Unsinn zu glauben, und dann auf einmal hast du ihm die Zunge herausgestreckt: ›Ätsch! Auf dem Holzweg!‹ Vorzüglich! Er ist jetzt ganz niedergeschmettert, ganz zerknirscht! Meisterhaft hast du das gemacht, weiß Gott; so muß man die Kerle behandeln! Jammerschade, daß ich nicht dabei war! Er wartete jetzt mit lebhaftem Interesse darauf, ob du nicht auch zu mir kommen würdest. Auch Porfirij wünscht sehr, deine Bekanntschaft zu machen …«

»Ah … also auch der meint schon … Aber warum hatten sie mich denn für verrückt gehalten?«

»Für verrückt hatten sie dich eigentlich nicht gehalten. Ich habe wohl schon zu viel ausgeplaudert, Brüderchen. Siehst du wohl, unserm Sossimow fiel das heute auf, daß dich nur dieser eine Gegenstand interessierte; jetzt ist es ihm ja klar, warum er dich interessierte; jetzt, wo er alle Umstände kennt … und weiß, wie dich das damals aufregte und sich mit deiner Krankheit komplizierte … Ich bin ein bißchen betrunken, Brüderchen; aber, weiß der Teufel, er hat da so seine eigene Idee … Ich kann dir nur sagen: er kapriziert sich auf Geisteskrankheiten. Aber was wirst du dir daraus machen …«

Beide schwiegen eine halbe Minute lang.

»Höre mal, Rasumichin«, begann dann Raskolnikow, »ich will dir offen sagen: ich war eben bei einem Sterbenden; es ist da ein Beamter gestorben, … ich habe da mein ganzes Geld weggegeben, … und außerdem hat mich soeben ein Wesen geküßt, das, selbst wenn ich jemand ermordet hätte, mich trotzdem … mit einem Worte, ich habe dort noch ein anderes Wesen gesehen … mit einer feuerroten Feder, … aber ich rede ohne Sinn und Verstand; ich bin sehr schwach; stütze mich ein bißchen, … da ist ja auch gleich die Treppe …«

»Was fehlt dir? Was fehlt dir?« fragte Rasumichin beunruhigt.

»Es ist mir ein bißchen schwindlig; aber das ist das wenigste; vor allem ist mir so traurig zumute, so traurig! Als ob ich ein Weib wäre, … wahrhaftig! Sieh mal, was hat das zu bedeuten? Sieh mal, sieh mal!«

»Was ist denn?«

»Siehst du denn nicht? In meinem Zimmer ist Licht, siehst du es? Durch die Ritze …«

Sie standen schon vor der letzten Treppe, bei der Tür der Wirtin, und es war wirklich von hier unten zu sehen, daß in Raskolnikows Kämmerchen Licht war.

»Sonderbar! Vielleicht ist Nastasja drin!« bemerkte Rasumichin.

»Sie kommt nie um diese Zeit in mein Zimmer; auch schläft sie schon längst. Aber … nun meinetwegen! Lebewohl!«

»Was hast du denn? Ich bringe dich doch ganz in deine Wohnung; wir gehen noch beide zusammen hinein!«

»Das weiß ich, daß wir beide zusammen hineingehen; aber ich möchte dir hier die Hand drücken und hier von dir Abschied nehmen. Nun also, gib mir die Hand, leb wohl!«

»Was hast du nur, Rodja?«

»Nichts! … Komm! … Du sollst Zeuge sein …«

Sie stiegen die Treppe hinauf, und Rasumichin konnte sich des Gedankens nicht erwehren, Sossimow möchte doch vielleicht recht gehabt haben. ›Ach, ich habe ihn wohl nur durch mein Geschwätz wirr gemacht!‹ murmelte er vor sich hin. Als sie an die Tür kamen, hörten sie im Zimmer Stimmen.

»Ja, was ist denn da los?« rief Rasumichin.

Raskolnikow griff vor dem andern nach der Klinke, riß die Tür weit auf und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

Seine Mutter und seine Schwester saßen auf dem Sofa und warteten schon seit anderthalb Stunden. Erstaunlicherweise hatte er gerade sie am allerwenigsten erwartet und gar nicht an sie gedacht, obgleich er heute durch Herrn Lushin gehört hatte, daß sie abgereist seien, sich auf der Fahrt befänden und jeden Augenblick da sein könnten. Diese ganzen anderthalb Stunden lang hatten sie um die Wette Nastasja ausgefragt, die auch jetzt vor ihnen stand und ihnen schon alles bis aufs kleinste erzählt hatte. Sie waren außer sich gewesen vor Entsetzen, als sie gehört hatten, daß er »heute davongelaufen« sei, und zwar noch krank und, wie sich aus der Erzählung entnehmen ließ, jedenfalls im Fieberwahn. »O Gott, was wird nur mit ihm geschehen sein!« Beide hatten geweint und in dieser anderthalbstündigen Wartezeit schrecklichste Qualen erduldet.

Raskolnikows Erscheinen begrüßten sie mit einem freudigen Schrei des Entzückens. Sie stürzten auf ihn zu. Aber er stand wie erstarrt da; die unerträgliche Vorstellung, die plötzlich vor seiner Seele wieder auftauchte, wirkte auf ihn wie ein Blitzstrahl. Seine Arme hoben sich nicht, um sie an seine Brust zu drücken; sie waren dazu nicht imstande. Die Mutter und die Schwester umschlangen ihn herzlich, küßten ihn, lachten und weinten. Er tat einen Schritt, wankte und stürzte ohnmächtig zu Boden.

Aufregung, Laute des Schreckens, ängstliches Stöhnen! … Rasumichin, der auf der Schwelle stehengeblieben war, flog ins Zimmer, faßte den Kranken in seine starken Arme, und einen Augenblick darauf lag dieser auf dem Sofa.

»Das hat weiter nichts zu bedeuten!« rief er der Mutter und der Schwester zu. »Es ist nur eine Ohnmacht, eine Kleinigkeit! Der Arzt hat noch vor ein paar Minuten gesagt, daß es ihm weit besser geht und er schon wieder vollkommen gesund ist! Wasser, bitte! … Na, sehen Sie wohl, er kommt schon wieder zu sich, er ist wieder bei Bewußtsein!«

Er faßte Dunja so kräftig an der Hand, daß er ihr fast den Arm ausrenkte, und zog sie nieder, damit sie sähe, daß er »schon wieder bei Bewußtsein« sei. Die Mutter und die Schwester blickten mit Rührung und Dankbarkeit auf Rasumichin, wie auf einen himmlischen Retter; sie hatten schon von Nastasja gehört, welch ein unschätzbarer Helfer für ihren Rodja während der ganzen Dauer der Krankheit dieser Rasumichin gewesen sei. »Ein gewandter junger Mann!« sagte von ihm Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst an diesem Abende, als sie mit Dunja allein war.

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Kapitel 13

VI

Kaum aber war sie hinausgegangen, als er aufstand, die Tür verriegelte, das Bündel mit den Kleidern, das Rasumichin vorhin gebracht und wieder zugebunden hatte, aufband und anfing sich anzukleiden. Sonderbar: jetzt schien er auf einmal ganz ruhig geworden zu sein; sowohl das halb irrsinnige Phantasieren von vorhin als auch die panische Furcht der ganzen letzten Zeit waren verschwunden. Es war der erste Augenblick einer seltsamen, plötzlich eingetretenen Ruhe. Seine Bewegungen waren bestimmt und sicher und bekundeten eine feste Absicht. ›Heute noch, heute noch! …‹ murmelte er vor sich hin. Er merkte indes, daß er in Wirklichkeit noch recht schwach war und daß nur eine sehr starke geistige Spannung, die sich bis zu einem Ruhezustande, zu einer starren Idee gesteigert hatte, ihm Kraft und Selbstvertrauen verlieh; er hoffte indes, daß er auf der Straße nicht hinfallen werde. Nachdem er sich vollständig neu gekleidet hatte, warf er einen Blick auf das Geld, das auf dem Tische lag, überlegte einen Augenblick und schob es in die Tasche. Es waren fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch das Geld, das Rasumichin bei dem Kleiderkauf von den zehn Rubeln herausbekommen hatte, lauter Fünfkopekenstücke. Dann machte er leise den Riegel auf, trat aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinunter und blickte in die Küche hinein, deren Tür weit geöffnet war. Nastasja stand da, mit dem Rücken ihm zugewendet, und blies gebückt die Glut in dem Samowar der Wirtin an. Sie hörte nichts. Und wer konnte auch auf den Gedanken kommen, daß er fortgehen werde? Eine Minute darauf war er auf der Straße.

Es war gegen acht Uhr; die Sonne ging unter. Es herrschte noch dieselbe stickige Schwüle wie vor einigen Tagen; aber gierig sog er diese übelriechende, staubige, verdorbene Großstadtluft ein. Anfangs empfand er ein leichtes Schwindelgefühl; aber eine Art von wilder Energie blitzte plötzlich in seinen entzündeten Augen und auf seinem abgemagerten, blaßgelben Gesichte auf. Wohin er eigentlich ging, wußte er nicht und überlegte er nicht; er wußte nur das eine, daß »diese ganze Sache« heute noch zu Ende kommen müsse, mit einem Male, sofort; daß er, wenn das nicht geschehe, nicht nach Hause zurückkehren werde, weil er »so« nicht länger leben wolle. Aber wie und wodurch er die Sache zu Ende bringen solle, davon hatte er keine Vorstellung und mochte auch gar nicht daran denken. Er verscheuchte diesen Gedanken, der ihm Pein verursachte. Nur das eine fühlte und wußte er, daß alles anders werden müsse, auf die eine oder die andre Weise; ›ganz gleich, wie‹, wiederholte er fortwährend mit einer verzweifelten, starren Zuversichtlichkeit und Entschlossenheit.

Nach alter Gewohnheit lenkte er seine Schritte geradeswegs nach dem Heumarkte, dem üblichen Ziele seiner früheren Spaziergänge. Noch ehe er den Heumarkt erreichte, traf er auf einen jungen schwarzhaarigen Leierkastenmann, der auf der Fahrbahn vor einem kleinen Laden stand und ein sehr sentimentales Lied spielte. Er begleitete damit ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, das vor ihm auf dem Trottoir stand, ganz wie eine Dame der besseren Stände gekleidet, mit Krinoline, Mantille und einem Strohhute, auf dem eine feuerrote Feder prangte; nur war alles alt und abgetragen. Mit einer zitternden Bänkelsängerstimme, die aber doch ganz angenehm und kräftig klang, sang sie in Erwartung eines Zweikopekenstücks aus dem Laden ihr Lied herunter. Raskolnikow blieb neben zwei oder drei andern Zuhörern stehen, hörte ein Weilchen zu, holte ein Fünfkopekenstück heraus und legte es dem Mädchen in die Hand. Das Mädchen unterbrach sofort ihren Gesang bei der gefühlvollsten, höchsten Note, wie abgeschnitten, rief dem Leierkastenmann schroff zu: »Genug!«, und beide wanderten langsam nach dem nächsten Laden.

»Hören Sie solchen Straßengesang gern?« fragte Raskolnikow einen nicht mehr jungen Mann, der neben ihm bei dem Leierkasten stand und wie ein Flaneur aussah. Dieser blickte ihn befremdet und erstaunt an. »Ich höre es gern«, fuhr Raskolnikow fort, aber in einem Tone, als ob er nicht über gewöhnlichen Straßengesang spräche, »ich höre es gern, wenn an einem kalten, dunklen, feuchten Herbstabend zum Leierkasten gesungen wird, und es muß gerade ein feuchter Abend sein, wo alle Leute auf der Straße blaßgrüne, kränkliche Gesichter haben, oder noch besser, wenn bei ruhiger Luft nasser Schnee ganz senkrecht herunterfällt, wissen Sie, und die Gaslaternen so durch die Flocken hindurchblinken.«

»Ich weiß nicht … Entschuldigen Sie …«, murmelte der Herr, betroffen über die Frage und über Raskolnikows sonderbares Aussehen, und ging nach der andern Seite der Straße hinüber.

Raskolnikow ging geradeaus weiter und kam zu der Ecke am Heumarkte, wo jener Kleinbürger und seine Frau ihren Handel hatten, die damals das Gespräch mit Lisaweta führten; aber sie waren jetzt nicht mehr da. Als er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, blickte um sich und wandte sich an einen jungen Burschen in rotem Hemde, der am Eingange eines Mehlladens gähnte.

»Hier an der Ecke hat doch sonst ein Händler, ein Kleinbürger, mit seiner Frau seinen Stand, nicht wahr?«

»Es gibt viele Händler«, antwortete der Bursche und musterte Raskolnikow von oben herab.

»Wie heißt der hier?«

»Wie er getauft ist, so heißt er auch.«

»Bist du nicht auch aus Saraisk? Aus welchem Gouvernement bist du?«

Der Bursche musterte den Fragenden von neuem.

»Bei uns, Ew. Erlaucht, ist gar kein Gouvernement, nur ein Kreis; und mein Bruder, der ist viel herumgereist und klug geworden; aber ich habe immer zu Hause gesessen, und darum weiß ich auch nichts. Also wollen Ew. Erlaucht gnädigst verzeihen.«

»Ist das da oben eine Speisewirtschaft?«

»Das ist ein Restaurant, und ein Billard ist auch da, und Damen wie die Prinzessinnen, vallera!«

Raskolnikow überquerte den Platz. Dort stand an der Ecke ein dichter Menschenhaufe, lauter einfaches Volk. Er drängte sich mitten hinein und betrachtete die Gesichter. Es regte sich in ihm ein unklarer Wunsch, mit all diesen Leuten Gespräche anzuknüpfen. Aber sie beachteten ihn gar nicht und lärmten und schrien unter sich in dichten Gruppen. Er stand ein Weilchen, überlegte und ging dann nach rechts, das Trottoir entlang, in der Richtung nach dem W…-Prospekte. Als er den Platz verlassen hatte, geriet er in eine Seitengasse.

Er war auch früher schon häufig durch diese nur kurze Gasse gekommen, die ein Knie bildet und vom Heumarkte nach der Sadowaja-Straße führt. In der letzten Zeit hatte es für ihn sogar einen besonderen Reiz gehabt, sich in dieser ganzen Gegend umherzutreiben, wenn ihn das Dasein anekelte: »damit der Ekel noch schlimmer würde«. Jetzt aber war er ohne jede Absicht hierhergekommen. Da war ein großes Haus, ganz voll von allerlei Speisewirtschaften und Kneipen; aus diesen kamen alle Augenblicke Frauenzimmer herausgelaufen, so gekleidet, wie es auf der Straße nur bei Besuchen in der nächsten Nachbarschaft üblich ist: mit bloßem Kopf und ohne Umhang. An einigen Stellen bildeten sie auf dem Trottoir dichte Gruppen, namentlich an den Eingängen zum Souterrain; auf zwei Stufen stieg man dort zu verschiedenen, sehr vergnüglichen Etablissements hinunter. In einem derselben wurde gerade ein Heidenlärm vollführt, der über die ganze Straße herübertönte: es wurde auf einer Gitarre geklimpert, Lieder wurden gesungen, es ging sehr lustig her. Ein großer Haufe von Frauenzimmern drängte sich vor dem Eingange; einige saßen auf den Stufen, andre auf dem Trottoir, wieder andre standen und unterhielten sich. Daneben auf dem Straßendamm taumelte laut schimpfend ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette umher; er wollte anscheinend irgendwo hineingehen, hatte aber wohl vergessen, wo. Zwei zerlumpte Kerle schimpften aufeinander ein, und ein sinnlos Betrunkener lag mitten auf der Straße. Raskolnikow blieb bei dem großen Weiberhaufen stehen. Diese Frauenzimmer sprachen mit heiseren Stimmen; sie trugen sämtlich Kattunkleider und ziegenlederne Schuhe und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt; aber es gab darunter auch solche, die nur siebzehn alt sein mochten. Fast alle hatten blaue Flecke von Schlägen im Gesicht.

Ihn interessierte der Gesang und der ganze Spektakel da unten … Man konnte durch das Lachen und Kreischen hindurch hören, wie jemand nach dem Klange der Gitarre und dem wilden Gesange einer hohen Fistelstimme einen verwegenen Tanz ausführte und im Takt mit den Stiefelabsätzen aufstampfte. Aufmerksam, finster und nachdenklich hörte er zu, indem er am Eingange sich vorbeugte und neugierig vom Trottoir in den Flur hineinschaute.

»Lieber Schutzmann, hau mich nicht,
Schuldlos bin ich armer Wicht«,

ertönte die hohe Stimme des Sängers. Raskolnikow gab sich viel Mühe, den Text des Liedes zu verstehen, als ob das für ihn von der größten Wichtigkeit wäre.

›Ob ich nicht auch hineingehe?‹ überlegte er. ›Wie die da lachen in ihrer Betrunkenheit! Wie wär’s, wenn ich mich auch betränke?«

»Wollen Sie nicht mit hereinkommen, lieber Herr?« sagte eines der Frauenzimmer mit ziemlich wohlklingender und noch nicht besonders heiserer Stimme.

Sie war jung und keineswegs abstoßend – die einzige aus der ganzen Gruppe.

»Sieh mal, was du für ein hübsches Mädel bist!« antwortete er, indem er sich aufrichtete und sie ansah.

Sie lächelte; das Kompliment gefiel ihr sehr.

»Sie sind ja selbst auch ein sehr hübscher Herr!« erwiderte sie.

»Aber was sind Sie mager!« bemerkte eine andre mit einer wahren Baßstimme. »Sie sind wohl eben aus dem Krankenhause entlassen?«

»Ihr seid wohl lauter Generalstöchter, aber alle habt ihr Stupsnasen!« unterbrach das Gespräch ein hinzutretender Bauer mit einem verschmitzten Lächeln auf dem breiten Gesichte; er war angeheitert; sein langer Rock stand weit offen. »Hier geht es lustig zu!«

»Geh doch hinein, da du einmal hergekommen bist!«

»Ich will auch hineingehen! Das ist ein Zauber!«

Er stolperte hinunter.

Raskolnikow ging weiter.

»Hören Sie, mein Herr!« rief ihm das Mädchen nach.

»Was?«

Sie wurde verlegen.

»Es wird mir immer ein Vergnügen sein, lieber Herr, Ihnen Gesellschaft zu leisten; aber jetzt, wo Sie mir gegenüberstehen, bringe ich es nicht übers Herz. – Schenken Sie mir doch sechs Kopeken, hübscher Kavalier, zu einem Schlückchen!«

Raskolnikow zog aus der Tasche, soviel er gerade in die Hand bekam: es waren fünfzehn Kopeken.

»Ach, was für ein guter Herr!«

»Wie heißt du denn?«

»Fragen Sie nur nach Duklida.«

»Nein, das ist doch unerhört!« bemerkte eine aus der Gruppe und schüttelte über Duklidas Benehmen den Kopf. »Ich verstehe gar nicht, wie man nur so betteln kann! Da würde ich mich ja in Grund und Boden schämen…« Neugierig blickte Raskolnikow die Redende an; es war ein pockennarbiges Mädchen, ganz voll blauer Prügelflecke, mit geschwollener Oberlippe. Sie sprach die tadelnden Worte ruhig und ernst.

›Wo habe ich‹, dachte Raskolnikow im Weitergehen, ›wo habe ich doch gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Tode spricht oder denkt? Daß, wenn ihm die Möglichkeit gewährt würde, irgendwo hoch oben auf einem Felsen zu leben, auf einer so schmalen Platte, daß gerade nur die beiden Füße Raum zum Stehen fänden, und ringsumher wären Abgründe, Ozean, ewige Finsternis, ewige Einsamkeit und ewiger Sturm, und wenn er so, auf dem schmalen Platze stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre, eine Ewigkeit zubringen könnte: daß es ihm dann besser scheinen würde, so zu leben, als gleich zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ist gleichgültig; nur leben! … Und das ist wahr! 0 Gott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft!… Und ein Schuft ist, wer ihn deswegen Schuft nennt!‹ fügte er einen Augenblick darauf hinzu.

Er gelangte in eine andere Straße. ›Ah! Da ist ja der Kristallpalast! Von dem hat Rasumichin vorhin gesprochen. Aber was wollte ich eigentlich da? Ja, ich wollte lesen! … Sossimow sagte, er habe in den Zeitungen gelesen …‹

»Habt ihr hier Zeitungen?« fragte er beim Eintritt in ein sehr geräumiges und recht sauberes Restaurant, das aus mehreren, jetzt ziemlich leeren Zimmern bestand. Zwei oder drei Gäste tranken Tee, und in einem entfernteren Zimmer saß eine Gruppe von etwa vier Personen, die Champagner tranken. Es schien dem Eintretenden, daß sich Sametow unter ihnen befände; indessen konnte er ihn in dieser Entfernung nicht mit Sicherheit erkennen. ›Meinetwegen!‹ dachte er.

»Wünschen Sie Schnaps?« fragte der Kellner.

»Nein, bring mir Tee. Und bring mir ein paar Zeitungen, alte, so etwa von vor fünf Tagen; du bekommst ein Trinkgeld.«

»Sehr wohl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch Schnaps?«

Die alten Zeitungen und der Tee wurden gebracht. Raskolnikow setzte sich hin und fing an zu suchen: ›Isler – Isler – Azteken – Azteken – Isler – Bartola – Massimo – Azteken – Isler … Donnerwetter! Na, endlich die Lokalnachrichten: eine Frau von der Treppe gefallen – ein Kleinbürger infolge von Trunksucht bankerott geworden – Feuer auf den Peski – Feuer in der Peterburgskaja – nochmal Feuer in der Peterburgskaja – nochmal Feuer in der Peterburgskaja – Isler – Isler – Isler – Isler – Massimo … Ah, da ist es …‹

Endlich hatte er gefunden, was er suchte, und fing an zu lesen. Die Zeilen hüpften ihm vor den Augen; trotzdem las er den ganzen Bericht bis zu Ende und suchte dann gierig in den folgenden Nummern nach weiteren ergänzenden Mitteilungen. Die Hände zitterten ihm beim Umwenden der Zeitungsblätter vor krampfhafter Ungeduld. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn an seinen Tisch. Er sah auf – es war Sametow, derselbe Sametow von neulich und mit demselben äußeren Habitus, mit den Ringen, der Uhrkette, mit dem Nackenscheitel in dem schwarzen, gekräuselten, pomadisierten Haare, mit der eleganten Weste und dem etwas abgescheuerten Rocke und der nicht ganz reinen Wäsche. Er war sehr guter Laune; wenigstens lächelte er vergnügt und gutmütig. Sein bräunliches Gesicht war von dem getrunkenen Champagner etwas erhitzt.

»Ei, sieh da, Sie sind hier?« sagte er erstaunt und in einem Tone, als wäre er mit Raskolnikow schon wer weiß wie lange bekannt. »Und noch gestern, hat mir Rasumichin erzählt, daß Sie noch immer nicht wieder bei Besinnung wären. Das ist ja wunderbar! Ich bin nämlich bei Ihnen gewesen…«

Raskolnikow hatte es sich gleich gedacht, daß Sametow wohl zu ihm herantreten werde. Er legte die Zeitungen weg und wandte sich zu ihm. Auf seinen Lippen lag ein spöttisches Lächeln, und in diesem Lächeln gab sich ein neues Gefühl ungeduldiger Reizbarkeit zu erkennen.

»Das weiß ich, daß Sie da waren«, antwortete er, »ich habe es gehört. Sie haben meinen Strumpf gesucht… Wissen Sie wohl, Rasumichin ist von Ihnen ganz entzückt; er erzählt. Sie wären mit ihm bei Lawisa Iwanowna gewesen, der Dame, für die Sie sich damals so ins Zeug legten; Sie blinzelten noch dem Leutnant Schießpulver so eifrig zu; aber es dauerte lange, bis er begriff; erinnern Sie sich nicht? Und es war doch nicht schwer zu begreifen – eine so klare Sache,… nicht wahr?«

»Ja, überall muß der seine Hände im Spiel haben.«

»Der Leutnant Schießpulver?«

»Nein, Ihr Freund Rasumichin.«

»Aber was führen Sie für ein schönes Leben, Herr Sametow; zu den vergnüglichsten Lokalen haben Sie Zutritt, ohne eine Kopeke zu zahlen! Und wer hat Sie denn da eben mit Champagner traktiert?«

»Ach, wir haben da… ein Gläschen getrunken… Traktieren kann man das nicht nennen!«

»Eine kleine Vergütung! Sie verstehen eben aus allem Vorteil zu ziehen!« Raskolnikow lachte. »Nun, nichts für ungut, Sie braver junger Mann, nichts für ungut!« fügte er hinzu und klopfte Sametow auf die Schulter. »Ich sage das ja, nicht im Ernst, sondern in aller Freundschaft, aus Spaß‘, wie Ihr Malergeselle sagte, als er Mitjka prügelte, Sie wissen wohl, in der Geschichte mit der alten Frau.«

»Aber woher wissen Sie denn das?«

»Ich weiß vielleicht mehr als Sie.«

»Was Sie komisch sind!… Sie sind gewiß noch recht krank. Sie haben nicht gut daran getan, auszugehen.«

»Also ich komme Ihnen komisch vor?«

»Allerdings. Was haben Sie denn da? Lesen Sie Zeitungen?«

»Ja.«

»Es steht viel von Feuersbrünsten darin.«

»Von Feuersbrünsten lese ich nicht.« Hier blickte er Sametow geheimnisvoll an; das spöttische Lächeln erschien wieder auf seinen Lippen. »Nein, von Feuersbrünsten lese ich nicht«, wiederholte er und blinzelte Sarnetow zu. »Aber gestehen Sie nur, lieber junger Mann, daß Sie schrecklich gern wissen möchten, was ich gelesen habe!«

»Es liegt mir gar nichts daran, das zu wissen. Ich habe nur so ganz ohne Absicht gefragt. Eine solche Frage ist doch wohl erlaubt. Was wollen Sie denn nur immer?…«

»Hören Sie mal, Sie sind doch ein gebildeter Mann und haben viele Bücher gelesen, nicht wahr?«

»Ich bin aus der sechsten Klasse des Gymnasiums abgegangen«, antwortete Sametow nicht ohne Selbstbewußtsein.

»Aus der sechsten Klasse! Ach, du mein Spätzchen! Und was hat er für einen schönen Scheitel und für Ringe und ist ein reicher Mann! Ei, was für ein liebes Jüngelchen!«

Hier brach Raskolnikow in ein nervöses Lachen aus und lachte Sametow gerade ins Gesicht. Dieser fuhr zurück, nicht sosehr gekränkt als vielmehr im höchsten Grade erstaunt.

»Nein, was sind Sie für ein komischer Mensch!« sagte Sametow noch einmal sehr ernst. »Mich dünkt, Sie phantasieren immer noch.«

»Ich phantasiere? Da irrst du dich, mein Spätzchen… Also komisch bin ich? Nun, interessant bin ich Ihnen wohl auch, nicht wahr? Bin ich Ihnen interessant?«

»Freilich, freilich!«

»Soll ich Ihnen also sagen, was ich gesucht habe, was ich gelesen habe? Sehen Sie nur, wieviel Nummern ich mir habe geben lassen! Das ist doch verdächtig, nicht wahr?«

»Nun, dann sagen Sie es.«

»Passen Sie auch auf wie ein Schießhund?«

»Was ist denn da groß aufzupassen?«

»Das will ich Ihnen nachher sagen. Jetzt aber, lieber Freund, erkläre ich Ihnen … nein, besser: ›ich gestehe‹ … Nein, auch das ist nicht der richtige Ausdruck … ›Ich gebe eine Aussage ab, und Sie nehmen sie entgegen‹, so stimmt es. Also ich gebe die Aussage ab, daß ich mich interessiert, gesucht, gelesen habe …« Raskolnikow kniff die Augen zusammen und machte eine Pause. »Ich habe nach den Berichten über die Ermordung der alten Beamtenwitwe gesucht und bin nur zu diesem Zwecke hierhergekommen«, sagte er endlich beinahe flüsternd und brachte dabei sein Gesicht dem Gesichte Sametows ganz nahe.

Sametow blickte ihn gerade und unverwandt an, ohne sich zu rühren und ohne sein Gesicht von dem des andern zu entfernen. Besonders seltsam erschien es ihm nachher, daß ihr Schweigen eine volle Minute gedauert hatte und sie einander eine volle Minute so angesehen hatten.

»Nun, was ist denn dabei, daß Sie das gelesen haben?« rief er endlich verwundert und ungeduldig. »Was kümmert das mich? Was ist denn dabei?«

»Das ist dasselbe alte Weib«, fuhr Raskolnikow, der sich bei Sametows letzten Worten gar nicht gerührt hatte, in demselben Flüstertone fort, »das ist dasselbe alte Weib, von dem neulich im Polizeibureau gesprochen wurde; Sie erinnern sich wohl, daß ich dabei in Ohnmacht fiel. Nun, verstehen Sie jetzt?«

»Aber was meinen Sie denn eigentlich? Was soll ich denn verstehen?« erwiderte Sametow beunruhigt.

Raskolnikows unbewegliches, ernsthaftes Gesicht verwandelte sich in einem Augenblicke, und er brach auf einmal wieder in dasselbe nervöse Lachen aus wie vorhin, wie wenn er völlig unfähig wäre, sich zu beherrschen. Und auf einmal stand ihm in größter Deutlichkeit jener noch nicht so weit zurückliegende Moment vor Augen, wo er mit dem Beile hinter der Tür stand, der Riegel hin und her sprang, die beiden vor der Tür schimpften und an der Klinke rüttelten und ihn selbst die Lust anwandelte, sie anzurufen, sie zu schimpfen, ihnen die Zunge herauszustrecken, sie zu höhnen und zu lachen, zu lachen, zu lachen!

»Entweder sind Sie verrückt oder…«, sagte Sametow und stockte, als hätte ihn ein plötzlich in seinem Kopfe aufblitzender Gedanke überrascht.

»Oder? Was meinen Sie mit Ihrem ›oder‹? Nun, was? Reden Sie!«

»Ach was!« antwortete Sametow ärgerlich. »Es ist ja alles dummes Zeug!«

Beide schwiegen. Nach dem plötzlichen, konvulsivischen Lachanfall war Raskolnikow sofort wieder nachdenklich und traurig geworden. Er setzte einen Ellbogen auf den Tisch und stützte den Kopf mit der Hand. Anscheinend hatte er ganz vergessen, daß Sametow da war. Das Schweigen dauerte ziemlich lange.

»Warum trinken Sie denn Ihren Tee nicht? Er wird ja ganz kalt!« sagte Sametow.

»Was? Tee? … Nun, meinetwegen…«

Raskolnikow nahm einen Schluck aus dem Glase, schob ein Stückchen Brot in den Mund und schien, nachdem er Sametow einen Augenblick betrachtet hatte, sich plötzlich wieder an alles zu erinnern und gleichsam wieder aufzuleben. Gleichzeitig nahm sein Gesicht von neuem den spöttischen Ausdruck an. Er trank nun seinen Tee weiter.

»Diese Schurkereien nehmen heutzutage Überhand«, sagte Sametow. »Da las ich neulich in den ›Moskauer Nachrichten‹, daß in Moskau eine ganze Bande von Fälschern abgefaßt ist. Es war eine ordentliche organisierte Gesellschaft. Sie machten Staatsschuldscheine nach!«

»Oh, das ist schon lange her! Das habe ich schon vor einem Monat gelesen«, erwiderte Raskolnikow ruhig. »Also das sind Ihrer Meinung nach Schurken!« fügte er lächelnd hinzu.

»Sind das etwa keine Schurken?«

»Die? Kinder sind das, Gelbschnäbel, aber keine Schurken! Nicht weniger als fünfzig Menschen tun sich zu einem solchen Zwecke zusammen! Hat denn das einen Sinn? Drei ist dabei das zulässige Maximum, und dabei ist noch erforderlich, daß jeder sich auf den andern sicherer verlassen kann als auf sich selbst. Sonst braucht nur einer in der Betrunkenheit zu schwatzen, und die ganze Sache geht in die Brüche. Gelbschnäbel! Sie engagieren unzuverlässige Leute, um die Papiere in Bankgeschäften umzusetzen: wie konnten sie nur so eine Sache dem ersten besten anvertrauen? Und setzen wir selbst den Fall, es wäre ihnen trotz ihrer ungeschickten Maßregeln geglückt, setzen wir den Fall, jeder hätte sich eine Million eingewechselt, nun, wie dann weiter? Wie hätte sich dann ihr ganzes Leben gestaltet? Jeder einzelne wäre dann von dem andern sein ganzes Leben lang abhängig gewesen! Da wäre es doch besser, sich gleich aufzuhängen! Aber sie haben nicht einmal das Umwechseln verstanden: da versucht einer dieser engagierten Helfershelfer in einem Bankgeschäfte solche Papiere umzuwechseln und hat bereits dafür seine fünftausend Rubel erhalten; aber nun fangen ihm die Hände an zu zittern. Viertausend zählt er nach, aber das fünfte Tausend nimmt er, ohne nachzuzählen, hin, auf Treu und Glauben, um es ja nur ja gleich in die Tasche stecken und sich möglichst schnell davonmachen zu können. Na, dadurch erregte er natürlich Verdacht. Und die ganze Sache ging schief wegen eines einzigen Dummkopfes! Wie ist so etwas überhaupt nur möglich!«

»Daß dem die Hände zitterten?« fragte Sametow. »Na, das ist denn doch sehr wohl möglich. Ich bin völlig überzeugt, daß dergleichen sehr leicht passieren kann. Bei dergleichen Dingen versagen manchmal die Nerven.«

»Bei dergleichen Dingen?«

»Sind Sie denn etwa Ihrer Nerven sicher? Nein, ich für meine Person nicht! Für eine Belohnung von hundert Rubeln sich einer solchen Gefahr auszusetzen! Hinzugehen, um ein solches Wertpapier an den Mann zu bringen, und wohin? In eine Bank, wo sie in solchen Sachen gerieben sind – nein, da hätte ich die Ruhe verloren. Und Sie nicht?«

Raskolnikow verspürte wieder die größte Lust, ihm die Zunge herauszustrecken. Alle Augenblicke lief ihm ein Frösteln über den Rücken.

»Ich hätte es anders angegriffen«, begann er. »Beim Umwechseln wäre ich so verfahren: das erste Tausend hätte ich so etwa viermal von allen Seiten nachgezählt, jeden Schein genau angesehen und dann das zweite Tausend vorgenommen; ich hätte angefangen zu zählen, hätte bis zur Mitte gezählt, eine beliebige Fünfzigrubelnote herausgenommen, gegen das Licht gehalten, umgewendet und wieder gegen das Licht gehalten, ob sie auch nicht falsch sei. ›Ich bin darin ängstlich‹, hätte ich gesagt, ›eine Verwandte von mir ist neulich auf diese Art um fünfundzwanzig Rubel geschädigt worden‹, und hätte eine ganze solche Geschichte erzählt. Und wenn ich das dritte Tausend zu zählen angefangen hätte, dann hätte ich gesagt: ›Ach, entschuldigen Sie, ich glaube, ich habe in dem zweiten Tausend das siebente Hundert nicht richtig gezählt; ich habe nun doch Zweifel‹, und hätte das dritte wieder hingelegt und nochmal nach dem zweiten gegriffen – und so bei allen fünfen. Und wenn ich fertig gewesen wäre, dann hätte ich aus dem fünften und aus dem zweiten Tausend je eine Note herausgenommen, sie wieder gegen das Licht gehalten und, wie wenn ich wieder an der Echtheit zweifelte, gesagt: ›Bitte, tauschen Sie mir diese um‹, und so hätte ich den Bankangestellten in Angstschweiß versetzt, so daß er halb verzweifelt gesucht hätte, mich nur endlich loszuwerden! Zuletzt, wenn ich fertig gewesen wäre, wäre ich gegangen, hätte die Tür aufgemacht – und wäre mit einem ›Ach, entschuldigen Sie!‹ noch einmal umgekehrt, um noch etwas zu fragen, irgendwelche Aufklärung zu erhalten. So hätte ich das gemacht!«

»Donnerwetter, was tragen Sie da für feine Kunstgriffe vor!« sagte Sametow lachend. »Der Haken ist dabei bloß: gesprächsweise läßt sich so etwas wohl darlegen; aber bei der Ausführung würden Sie sicher auch Ihre Fehler machen. Ich sage Ihnen, meiner Ansicht nach kann dabei nicht einmal ein geriebener, verwegener Kerl, geschweige denn ein Mensch wie Sie oder ich, sich auf sich selbst verlassen. Aber wozu fernliegende Beispiele heranziehen; wir haben ja ein ganz naheliegendes: die alte Frau, die hier in unserm Revier ermordet wurde. Es muß doch gewiß ein verwegener Mensch gewesen sein; am hellen Tage hat er die Tat riskiert; nur durch ein reines Wunder ist er davongekommen; aber die Hände haben ihm trotzdem gezittert: den Raub durchzuführen hat er nicht verstanden; da haben seine Nerven gestreikt; das sieht man an dem Hergange …«

Es machte den Eindruck, als ob sich Raskolnikow gekränkt fühlte.

»Sieht man das? Nun, dann fangen Sie ihn doch! Vorwärts! Aber bald!« rief er in höhnisch aufstachelndem Tone Sametow zu.

»Man wird ihn schon kriegen!«

»Wer? Sie von der Polizei? Sie wollen ihn kriegen? Na, dann tummeln Sie sich nur! Bei Ihnen ist ja doch immer die Hauptsache: gibt jemand viel Geld aus oder nicht? Wenn einer vorher kein Geld hatte und nun auf einmal viel auszugeben anfängt – na, dann ist ja kein Zweifel, daß der es ist! Darum kann Sie jedes kleine Kind hinters Licht führen, wenn es will!«

»Das ist ja eben das Eigentümliche, daß sie es alle so machen«, erwiderte Sametow. »Da begeht einer mit aller Schlauheit einen Mord, setzt sein Leben aufs Spiel, und dann geht er sofort in eine Kneipe und ist geliefert. Beim auffälligen Geldausgeben werden sie gefaßt. So schlau wie Sie sind eben nicht alle; Sie würden natürlich nicht in eine Kneipe gehen?«

Raskolnikow zog die Augenbrauen zusammen und blickte Sametow starr an.

»Meine Auseinandersetzung von vorhin hat Ihnen wohl Appetit gemacht, und Sie möchten nun auch gern wissen, wie ich mich in diesem Falle benommen hätte?« fragte er mißvergnügt.

»Das möchte ich allerdings gern wissen«, antwortete jener fest und ernst.

Sein Ton und seine Miene waren auffällig ernst geworden.

»Sehr gern?«

»Ja, sehr gern!«

»Nun schön! Das hätte ich also so gemacht«, begann Raskolnikow; wiederum brachte er auf einmal das Gesicht dem Gesichte Sametows ganz nahe, wiederum starrte er ihn unverwandt an, und wiederum dämpfte er seine Stimme zum Flüstertone herab, so daß jener diesmal ordentlich zusammenfuhr. »Ich hätte es so gemacht: ich hätte das Geld und die Wertsachen genommen, und sowie ich den Tatort verlassen hätte, wäre ich sofort, ohne vorher irgendwo einzukehren, in eine Gegend gegangen, wo ein rings eingeschlossener Platz ist und nur Zäune und fast keine Menschenseele – nach einem Gemüsegarten oder so etwas Ähnlichem. Auf diesem Hofe, oder was es nun ist, hätte ich mir schon vorher einen Stein ausgesucht, so ungefähr im Gewichte von einem halben Zentner, in einer Ecke, an einem Zaune; der Stein hat da vielleicht schon seit der Erbauung des Hauses gelegen. Diesen Stein hätte ich aufgehoben – unter ihm muß eine Vertiefung sein –, und in diese Vertiefung hätte ich alle Wertsachen und das Geld hineingelegt. Dann hätte ich den Stein wieder in seine frühere Lage gewälzt, die Erde mit dem Fuße angedrückt und wäre davongegangen. Und nun hätte ich ein, zwei Jahre lang, drei Jahre lang nichts angerührt – na, nun könnt ihr suchen! Es war da, und nun ist’s verschwunden, wie der Zauberkünstler sagt.«

»Sie sind verrückt«, sagte Sametow, unwillkürlich gleichfalls beinahe flüsternd, und rückte von Raskolnikow weg.

Diesem funkelten die Augen; er war erschreckend bleich geworden; seine Oberlippe zuckte und zitterte. Er beugte sich ganz nahe zu Sametow hin und bewegte die Lippen, ohne ein Wort zu sprechen; das dauerte etwa eine halbe Minute. Er wußte, was er tat, hatte aber die Herrschaft über sich verloren. Wie damals der Riegel an der Tür hin und her sprang, so hüpfte jetzt ein furchtbares Wort auf seinen Lippen; jeden Augenblick konnte es sich losreißen, jeden Augenblick; er brauchte es nur aus dem Mund herauszulassen, es nur auszusprechen!

»Und wenn ich nun wirklich das alte Weib und Lisaweta ermordet hätte?« sagte er plötzlich – und kam wieder zur Besinnung.

Sametow blickte ihn verstört an und wurde kreidebleich. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem Lächeln.

»Wie wäre das wohl möglich?« sagte er kaum hörbar.

Raskolnikow blickte ihn grimmig an.

»Gestehen Sie nur: Sie haben es geglaubt? … Ja? Nicht wahr?«

»Durchaus nicht! Ich glaube es jetzt weniger als je!« rief Sametow hastig.

»Nun ist er eingegangen, endlich! Nun haben wir das Spätzchen erwischt! Also haben Sie es früher doch geglaubt, wenn Sie es jetzt ›weniger als je‹ glauben?«

»Aber durchaus nicht!« rief Sametow, augenscheinlich äußerst verlegen. »Also nur darum haben Sie mir mit Ihren Reden einen Schreck eingejagt, um mich zu einem solchen Geständnis zu bringen?«

»Also Sie glauben es nicht? Aber was haben Sie denn damals auf dem Polizeibureau gesprochen, nachdem ich weggegangen war? Und warum hat der Leutnant Schießpulver nach meinem Ohnmachtsanfall mit mir ein Verhör angestellt? He, du!« rief er dem Kellner zu, indem er aufstand und nach seiner Mütze griff, »was bin ich schuldig?«

»Dreißig Kopeken zusammen«, antwortete der herbeilaufende Kellner.

»Da hast du noch zwanzig Kopeken Trinkgeld. Sehen Sie nur, wieviel Geld ich habe«, sagte er zu Sametow und streckte ihm seine zitternde Hand mit den Banknoten hin, »rote und blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel. Wo mag das her sein? Und wie mag ich zu dem neuen Anzuge gekommen sein? Sie wissen ja doch, daß ich nicht eine Kopeke besaß! Sie haben doch gewiß schon meine Wirtin ausgefragt … Na, nun wollen wir es genug sein lassen! Assez causé! Auf Wiedersehen! Auf ein angenehmes Wiedersehen!«

Er ging hinaus, am ganzen Leibe zitternd von einer heftigen nervösen Aufregung, in die sich indes ein Gefühl von fast unerträglich starker Freude mischte; im übrigen war er düster und entsetzlich müde. Sein Gesicht war ganz verzerrt, wie nach einem schweren Anfalle. Seine Ermattung nahm schnell zu. Es stand jetzt mit ihm so, daß seine Kräfte beim ersten Impuls, beim ersten Reiz plötzlich geweckt wurden und sich einstellten und dann ebenso schnell wieder ermatteten, wenn der Reiz aufhörte.

Sametow saß, nachdem er allein zurückgeblieben war, noch lange in Nachdenken versunken auf seinem Platze. Durch Raskolnikow waren alle seine bisherigen Gedanken über einen gewissen Punkt unversehens umgestoßen worden, und er war nun zu einer festen Meinung gelangt.

»Ilja Petrowitsch ist ein Dummkopf!« sagte er mit großer Bestimmtheit.

Kaum hatte Raskolnikow die nach der Straße führende Tür geöffnet, als er auf den Stufen mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Beide, obwohl nur einen Schritt voneinander entfernt, hatten einander nicht gesehen, so daß sie beinahe mit den Köpfen zusammenprallten. Eine Zeitlang maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin war zunächst im höchsten Grade erstaunt; aber plötzlich flammte der Zorn, ein echter, unverstellter Zorn, drohend in seinen Augen auf.

»Also hier bist du!« schrie er aus vollem Halse. »Aus dem Bette ist der Mensch davongelaufen! Und ich habe ihn da sogar unter dem Sofa gesucht! Auf den Dachboden sind wir gegangen. Deinetwegen habe ich Nastasja beinahe durchgeprügelt… Und nun ist er hier! Rodjka! Was bedeutet das? Sage die Wahrheit! Gestehe! Hörst du wohl?«

»Das bedeutet, daß ihr mir alle gründlich zum Ekel geworden seid und daß ich allein sein will«, antwortete Raskolnikow ruhig.

»Allein sein willst du? Du kannst ja noch gar nicht gehen, und dein Gesicht ist weiß wie Leinwand, und du bekommst kaum Luft! Du Dummkopf! Was hast du hier im Kristallpalast zu suchen gehabt? Gestehe sofort!«

»Laß mich in Ruh!« erwiderte Raskolnikow und wollte vorbeigehen.

Aber dieses Benehmen versetzte nun Rasumichin völlig in Wut, und er faßte ihn kräftig an der Schulter.

»›Laß mich in Ruh?‹ Du wagst zu sagen: ›Laß mich in Ruh?‹ Weißt du wohl auch, was ich sofort mit dir tun werde? Ich packe dich mit beiden Armen, schnüre dich zu einem Bündel zusammen, trage dich unterm Arm nach Hause und schließe dich da ein!«

»Höre, Rasumichin«, begann Raskolnikow leise und scheinbar ganz ruhig, »siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht mag? Wie kann es dir nur Vergnügen machen, jemandem Wohltaten zu erweisen, der sich nicht das geringste daraus macht, sie vielmehr nur als drückende Last empfindet? Wozu hast du mich beim Beginn meiner Krankheit aufgesucht? Vielleicht wäre es mir ganz lieb gewesen, zu sterben! Nun, habe ich es dir heute nicht hinlänglich zu verstehen gegeben, daß du mich peinigst, daß du mir … zum Ekel geworden bist? Wahrhaftig, ein eigentümliches Vergnügen, andre Menschen zu peinigen! Ich versichere dir, daß all das ein ernstliches Hindernis für meine Wiederherstellung ist, weil es mich unaufhörlich aufregt. Sossimow ging doch vorhin eben deshalb fort, um mich nicht aufzuregen! Ich bitte dich inständig: laß auch du mich in Ruhe! Und schließlich, was für ein Recht hast du, mich mit Gewalt zurückzuhalten? Siehst du denn nicht, daß ich jetzt völlig bei klarem Verstande rede? Sag selbst: welche Gründe soll ich schließlich noch vorbringen, um dich dazu zu bewegen, daß du dich mir nicht weiter aufdrängen und mir keine Wohltaten mehr erweisen möchtest? Haltet mich meinetwegen für undankbar, für einen gemeinen Menschen; aber laßt mich alle in Ruhe, ich bitte euch flehentlich, laßt mich in Ruhe, laßt mich in Ruhe!«

Er hatte ruhig begonnen und sich im voraus über all das Gift gefreut, das er von sich zu geben beabsichtigte; aber er schloß in voller Wut und mit keuchendem Atem, wie vorher bei dem Gespräch mit Lushin.

Rasumichin stand ein Weilchen da, dachte nach und ließ dann seine Hand los.

»Scher dich zum Teufel!« sagte er leise und fast melancholisch. »Halt!« brüllte er plötzlich los, als Raskolnikow sich rührte, um fortzugehen, »hör mich mal an! Ich erkläre dir hiermit, daß ihr alle, ohne Ausnahme, weiter nichts als Schwätzer und Prahlhänse seid! Trifft euch einmal ein kleines Leid, so benehmt ihr euch damit wie eine Henne, die ein Ei legt! Auch bei solcher Gelegenheit kopiert ihr fremde Autoren. Keine Spur von eigenem, selbständigem Leben ist bei euch zu finden. Kerle wie aus Gallert und statt des Blutes Käsewasser in den Adern! Keinem von euch glaube ich etwas! Die Hauptsache ist euch in allen Lagen immer, euch nur ja nicht wie ein Mensch zu benehmen. Halt! Halt!« schrie er mit gesteigerter Wut, als er merkte, daß Raskolnikow wieder Miene machte, wegzugehen. »Hör mich zu Ende! Du weißt, ich bekomme heute Besuch zur Einweihung meiner neuen Wohnung; vielleicht sind meine Gäste in diesem Augenblicke auch schon da; ich habe meinen Onkel dort gelassen (ich war vorhin eben noch einmal auf einen Sprung dort), damit er die Gäste empfängt. Wenn du also nicht ein Esel wärest, ein ganz dummer Esel, ein rechter Quadratesel, eine bloße Übersetzung aus einer fremden Sprache,… siehst du, Rodja, ich gebe zu, daß du ein verständiger junger Mann bist, aber ein Esel bist du! – also, wenn du nicht ein Esel wärest, so würdest du lieber heute mich besuchen und den Abend bei mir zubringen, als so zwecklos die Stiefelsohlen ablaufen. Ausgegangen bist du ja nun doch einmal; das ist nicht mehr zu ändern! Ich würde dir einen schön weichen Lehnstuhl hinstellen, meine Wirtsleute haben einen… Ein Täßchen Tee, anregende Gesellschaft… Oder du kannst auch auf der Chaiselongue liegen – du liegst dann doch mitten unter uns… Sossimow ist auch da. Nun, wirst du kommen?«

»Nein.«

»Dein ›Nein‹ besagt gar nichts!« rief Rasumichin ungeduldig. »Woher willst du das wissen, daß du nicht kommen wirst? Du kannst für deine künftigen Handlungen keine Bürgschaft übernehmen! Und du hast auch gar kein Verständnis für die Situation. Ich habe mich schon tausendmal ganz ebenso mit andern Leuten aufs gröbste verzankt und bin dann doch wieder zu ihnen hingegangen,… man schämt sich und kehrt dann wieder zu dem Betreffenden zurück. Also vergiß nicht: im Potschinkowschen Hause, im zweiten Stock…«

»In Ihrer Lust, Wohltaten zu erweisen, Herr Rasumichin, kommen Sie womöglich noch dahin, sich von demjenigen, dem Sie sich aufdrängen, ruhig durchprügeln zu lassen.«

»Durchprügeln? Mich? Für den bloßen Gedanken reiße ich ihm die Nase ab! Das Potschinkowsche Haus, Nr. 47, in der Wohnung des Beamten Babuschkin…«

»Ich komme nicht, Rasumichin!«

Raskolnikow wandte sich um und ging fort.

»Ich wette darauf, daß du kommst!« rief Rasumichin ihm nach. »Sonst bist du … Sonst will ich gar nichts mehr von dir wissen! – He, warte mal! Ist Sametow da drin?«

»Ja.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Ja.«

»Hast du auch mit ihm gesprochen?«

»Ja.«

»Worüber denn? Na, hol dich der Kuckuck, dann sag es nicht; ist mir auch gleich. Also: Haus Potschinkow, 47, Wohnung von Babuschkin, vergiß das nicht!«

Raskolnikow ging bis zur Sadowaja-Straße und bog dort um die Ecke. Rasumichin sah ihm in Gedanken versunken nach. Dann machte er mit der Hand eine Gebärde, die etwa besagte: ›Es ist nichts mit ihm anzufangen!‹ und wendete sich dem Eingange zu; aber noch auf den Stufen blieb er stehen.

›Hol’s der Teufel!‹ sagte er in halblautem Selbstgespräche. ›Er redet ganz vernünftig, aber gerade wie wenn … Ich bin aber auch ein Esel! Als ob Verrückte nicht auch vernünftig reden könnten! Und es schien mir, daß Sossimow gerade so etwas fürchtete!‹ Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. ›Wie nun aber, wenn er … Man kann ihn eigentlich jetzt gar nicht allein lassen. Er ertränkt sich am Ende gar … O weh, da habe ich eine Dummheit gemacht! Nein, das geht nicht!‹ Er lief zurück, um Raskolnikow einzuholen; aber von dem war nichts mehr zu sehen. Er spuckte aus und kehrte eiligen Schrittes nach dem Kristallpalaste zurück, um möglichst schnell Sametow zu befragen.

Raskolnikow ging geradeswegs nach der …schen Brücke, stellte sich in der Mitte an das Geländer, stützte sich mit beiden Ellbogen darauf und blickte in die Ferne. Nachdem er sich von Rasumichin getrennt hatte, war er so schwach geworden, daß er sich nur mit Mühe so weit geschleppt hatte. Er hatte die größte Lust, sich irgendwo auf der Straße hinzusetzen oder hinzulegen. Über das Wasser gebeugt, blickte er gedankenlos auf den letzten rosigen Widerschein des Abendrots, nach der Häuserreihe, die in der hereinbrechenden Dämmerung schon ganz dunkel aussah, nach einem einzelnen Fensterchen, das in weiter Entfernung in der linken Uferstraße irgendwo in einer Mansarde von dem letzten Sonnenstrahl, der es für einen Augenblick traf, in flammende Glut versetzt wurde, und auf das immer dunkler werdende Wasser des Kanals, und gerade dieses Wasser schien er mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten. Aber schließlich drehten sich vor seinen Augen rote Kreise, die Häuser fingen an zu wandern, die Vorübergehenden, die Ufer, die Wagen, alles drehte sich und tanzte im Kreise herum. Plötzlich fuhr er zusammen – vor einem neuen Ohnmachtsanfall, den er vielleicht erlitten hätte, bewahrte ihn ein schrecklicher, abstoßender Anblick. Er fühlte, daß sich jemand auf der rechten Seite neben ihn stellte, sah hin und erblickte ein Weib, großgewachsen, mit einem Tuche um den Kopf, mit gelbem, länglichem, ausgemergeltem Gesichte und geröteten, eingesunkenen Augen. Sie blickte geradezu nach ihm hin, sah aber offenbar nichts und unterschied die Menschen nicht. Auf einmal stützte sie sich mit dem rechten Arm auf das Geländer, hob das rechte Bein in die Höhe, schwang es über das Gitter, darauf das linke und stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser teilte sich und verschlang das Opfer für kurze Zeit; aber bald darauf kam die Selbstmörderin wieder an die Oberfläche und trieb langsam stromabwärts; Kopf und Füße hingen im Wasser; der Rücken ragte heraus; der Rock hatte sich zusammengeballt und lag, wie ein Kissen aufgeschwollen, auf dem Wasser.

»Sie hat sich ertränkt! Sie hat sich ertränkt!« riefen ein Dutzend Stimmen; eine Menge Menschen lief zusammen; beide Ufer füllten sich mit Zuschauern; auf der Brücke, um Raskolnikow herum, drängte sich das Volk und drückte und stieß ihn von hinten.

»Herr Gott, das ist ja unsere Afrossinja!« rief nicht weit von ihm eine weinerliche Frauenstimme. »Um Gottes willen, rettet sie! Liebe Männer, zieht sie heraus!«

»Einen Kahn! Schnell einen Kahn!« wurde in der Menge gerufen.

Aber es war kein Kahn mehr nötig; ein Schutzmann war die Treppe zum Kanal hinuntergelaufen, hatte Mantel und Stiefel von sich geworfen und sich ins Wasser gestürzt. Es war keine große Mühe; der Körper der Frau wurde von der Strömung nur zwei Schritte vom Fuße der Treppe entfernt hingetrieben; der Schutzmann ergriff sie mit der rechten Hand am Kleide; mit der linken gelang es ihm, eine Stange zu fassen, die ihm ein Kamerad hinhielt; und nun wurde die Selbstmörderin schnell herausgezogen. Man legte sie auf die Granitplatten der Treppe. Sie kam bald wieder zu sich, richtete sich auf, setzte sich hin und begann zu niesen und zu prusten und mechanisch mit den Händen das nasse Kleid abzuwischen. Sie redete kein Wort.

»Sie hat das Delirium, das Delirium!« heulte dieselbe Frauenstimme, jetzt dicht bei Afrossinja. »Neulich wollte sie sich aufhängen; wir haben sie noch rechtzeitig abgenommen. Ich war jetzt bloß in einen Kaufladen gegangen und hatte mein kleines Mädchen zu Hause gelassen, das sollte auf sie aufpassen – und da mußte auch gleich das Unglück passieren! Sie ist eine Kleinbürgerin, Väterchen«, erklärte sie dem Schutzmann, »sie wohnt bei uns; wir wohnen hier ganz in der Nähe, das zweite Haus von der Ecke dort …«

Das Volk ging auseinander, die Polizisten machten sich noch mit der Geretteten zu schaffen; jemand rief etwas vom Polizeibureau… Raskolnikow betrachtete das alles mit einem seltsamen Gefühle von Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit. Es überkam ihn ein Ekel davor. ›Nein, das ist gräßlich …‹, murmelte er vor sich hin. ›Dieses scheußliche Wasser, … das ist nichts …. Es ist hier weiter nichts los‹, fügte er hinzu, ›es hat keinen Zweck, noch zu warten. Was soll dabei das Polizeibureau? Aber warum ist Sametow nicht im Bureau? Es ist noch nicht zehn Uhr, da ist das Bureau doch offen …‹ Er wandte dem Geländer den Rücken zu und blickte um sich.

»Na, dann also vorwärts! Meinetwegen!« sagte er entschlossen, verließ die Brücke und schlug die Richtung nach dem Polizeibureau ein. Sein Herz war leer und öde. Er mochte nicht denken. Sogar die Unruhe war geschwunden; keine Spur mehr von der Energie, mit der er vor kurzem seine Wohnung verlassen hatte, entschlossen, »diese ganze Sache« heute noch zu Ende zu bringen. Eine vollständige Apathie war an die Stelle dieser Empfindungen getreten.

›Nun gut, auch das ist ein Abschluß!‹ dachte er, während er langsam und müde am Ufer des Kanals hinging. ›Jedenfalls bringe ich die Sache nach meinem eigenen Willen zu Ende … Ist es aber auch ein Abschluß? Ach was, ganz gleich! Ich werde gleichsam auf jener schmalen Felsenplatte weiterleben – ha-ha-ha! Aber was ist das für ein Ende! Und ist es wirklich das Ende? Soll ich es ihnen sagen oder nicht? Ach, hol’s der Teufel! Und ich bin auch müde und möchte mich recht bald irgendwo hinlegen oder hinsetzen! Am meisten schäme ich mich, daß das Ganze so dumm aussieht. Aber auch darum schere ich mich nicht weiter. Was einem doch für abgeschmackte Gedanken in den Kopf kommen …‹

Nach dem Polizeibureau mußte er immer geradeaus gehen und dann bei der zweiten Straßenkreuzung links einbiegen; dann waren es nur noch ein paar Schritte. Aber als er bis zur ersten Kreuzung gekommen war, blieb er stehen, überlegte, bog in die Querstraße ein und machte einen Umweg durch zwei Straßen, vielleicht ohne jede Absicht, vielleicht aber auch, um die Sache wenigstens noch eine Minute lang hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und blickte zur Erde. Plötzlich war es ihm, als ob ihm jemand etwas ins Ohr flüstere. Er hob den Kopf und sah, daß er bei »jenem« Hause, unmittelbar am Tore, stand. Seit »jenem« Abende war er hier nicht wieder gewesen und nicht vorbeigekommen.

Ein unwiderstehliches, unerklärliches Verlangen zog ihn hinein. Er trat in das Haus, durchschritt den ganzen Torweg, ging dann in den ersten Eingang rechts und stieg auf der wohlbekannten Treppe bis zum dritten Stockwerk hinauf. Auf der engen, steilen Treppe war es sehr dunkel. Auf jedem Absatze blieb er stehen und schaute sich neugierig um. Bei dem Absatz des Hochparterre waren die Fensterflügel ganz herausgenommen. ›Das war damals nicht‹, dachte er. Da war auch die Wohnung im ersten Stock, wo Nikolai und Dmitrij gearbeitet hatten. ›Sie ist verschlossen; auch die Tür ist neu gestrichen; also kann ein neuer Mieter einziehen.‹ Da war auch das zweite Stockwerk… und das dritte… ›Hier!‹ Höchst erstaunt blieb er stehen: die Tür zu dieser Wohnung war sperrangelweit offen; es waren Leute darin; Stimmen waren vernehmbar; das hatte er nicht erwartet. Nach kurzem Schwanken stieg er die letzten Stufen hinan und ging in die Wohnung hinein.

Auch diese Wohnung wurde neu hergerichtet; es waren Handwerker darin; das überraschte ihn. Ohne sich über den Grund klarzuwerden, hatte er die Vorstellung gehabt, er werde alles genauso wieder vorfinden, wie er es damals verlassen hatte, vielleicht sogar die Leichname an denselben Stellen auf dem Fußboden. Und was erblickte er nun? Kahle Wände, keine Möbel; seltsam! Er ging an ein Fenster und setzte sich auf das Fensterbrett.

Es waren nur zwei Handwerker da, beides junge Burschen, der eine jedoch erheblich älter als sein noch sehr junger Genosse. Sie beklebten die Wände mit neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der alten, die so zerrissen und unsauber gewesen waren. Dies erregte bei Raskolnikow ein seltsames Mißvergnügen; er blickte diese neuen Tapeten unzufrieden an, als täte es ihm leid, daß alles so verändert würde.

Die Handwerker hatten sich offenbar bei ihrer Arbeit zu lange aufgehalten und rollten jetzt eilig ihre Tapeten zusammen und machten sich fertig, um nach Hause zu gehen. Raskolnikows Erscheinen hatten sie so gut wie gar nicht beachtet. Sie redeten über etwas untereinander. Raskolnikow verschränkte die Arme über der Brust und hörte zu.

»Nun kam sie am Morgen zu mir«, sagte der ältere zu dem jüngeren, »es war noch ganz früh; sie war im höchsten Staat. ›Na‹, sage ich, ›warum präsentierst du dich denn vor mir so riesig fein?‹ – ›Von jetzt an‹, sagte sie, ›will ich ganz zu Ihrer Verfügung stehen, Tit Wassiljewitsch.‹ Na, das war eine Überraschung! Und geputzt war sie – wie aus dem Modejournal, ganz wie aus dem Modejournal!«

»Was ist das, Onkelchen, ein Modejournal?« fragte der jüngere; er war augenscheinlich ein gelehriger Schüler dieses »Onkelchens«.

»Ein Modejournal, Brüderchen, das sind solche Bilder, bunte Bilder, und die kommen jeden Sonnabend mit der Post aus dem Auslande bei den hiesigen Schneidern an; nämlich das ist dazu, damit man weiß, wie man sich anziehen soll, die Männer und ebenso auch die Frauen. Also eine Zeichnung. Die Männer werden meistens in Pekeschen gemalt; für die Frauenzimmer aber gibt es da solche Souffleurs – da ist alles dran!«

»Nein, was es hier in Petersburg nicht alles gibt!« rief der jüngere ganz begeistert. »Außer Vater und Mutter gibt es hier alles!«

»Ja, abgesehen davon, gibt es hier alles«, erklärte in belehrendem Tone der ältere.

Raskolnikow stand auf und ging in das andre Zimmer, wo früher die Truhe, das Bett und die Kommode gestanden hatten; das Zimmer kam ihm jetzt ohne Möbel außerordentlich klein vor. Die Tapeten waren noch die nämlichen; in der einen Ecke hob sich auf der Tapete scharf begrenzt die Stelle ab, wo der Heiligenschrein mit den Heiligenbildern gestanden hatte. Er sah sich nach allen Seiten um, ging dann zu dem Fenster, wo er gesessen hatte, zurück und setzte sich wieder hin. Der ältere Geselle warf ihm einen schrägen Blick zu.

»Was wünschen Sie?« fragte er ihn.

Statt zu antworten, stand Raskolnikow auf, ging auf den Flur hinaus, griff nach dem Klingelzuge und zog daran. Dieselbe Glocke, derselbe blecherne Ton! Er zog zum zweiten und zum dritten Male, horchte und rief sich das Geschehene ins Gedächtnis zurück. Das damalige qualvollfurchtbare, gräßliche Gefühl kam ihm immer deutlicher und lebhafter wieder in die Erinnerung; er fuhr bei jedem Anschlagen der Glocke zusammen, und es wurde ihm dabei immer wohler und wohler zumute.

»Aber was wollen Sie denn eigentlich? Wer sind Sie denn?« rief der Geselle und trat zu ihm hinaus.

Raskolnikow trat wieder in die Tür.

»Ich möchte die Wohnung mieten«, sagte er, »und sehe sie mir an.«

»In der Nacht mietet man keine Wohnung, und außerdem müssen Sie mit dem Hausknecht herkommen.«

»Der Fußboden ist gescheuert; er soll wohl noch gestrichen werden?« fuhr Raskolnikow fort. »Ist kein Blut mehr zu sehen?«

»Was für Blut?«

»Nun, hier ist doch eine alte Frau mit ihrer Schwester ermordet worden. Da stand eine ganze Lache.«

»Aber wer sind Sie denn eigentlich?« rief der Geselle beunruhigt.

»Ich?«

»Ja.«

»Möchtest du das wissen? Komm mit nach dem Polizeibureau; da werde ich es sagen.«

Die Handwerker sahen ihn verwundert an.

»Wir müssen fortgehen; wir haben uns sowieso schon verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen zuschließen«, sagte der ältere Geselle.

»Na, dann wollen wir gehen«, antwortete Raskolnikow gleichmütig, ging voran und stieg langsam die Treppe hinunter. »He, Hausknecht!« rief er, als er unter den Torweg gekommen war.

Dicht bei dem Eingange von der Straße nach dem Hause standen mehrere Menschen und blickten nach den Vorübergehenden, nämlich die beiden Hausknechte, eine Frau, ein Kleinbürger im Schlafrocke und noch jemand. Raskolnikow ging gerade auf sie zu.

»Was wünschen Sie?“ fragte der eine Hausknecht.

»Bist du auf dem Polizeibureau gewesen?«

»Ja, ich bin ganz vor kurzem da gewesen. Was wünschen Sie?“

»Sind die Beamten noch da?«

»Jawohl.«

»Ist auch der Gehilfe des Revierinspektors da?«

»Eine Weile war er da. Was wünschen Sie denn?«

Raskolnikow antwortete nicht und blieb in Gedanken versunken neben ihm stehen.

»Er ist gekommen, um sich die Wohnung anzusehen«, sagte hinzutretend der ältere Geselle.

»Welche Wohnung?“

»Die, wo wir arbeiten. ›Ist das Blut weggescheuert?‹ fragte er. ›Hier ist ein Mord geschehen‹, sagte er, ›und ich bin hergekommen, um die Wohnung zu mieten.‹ Und an der Klingel hat er gezogen; es fehlte nicht viel, daß er sie abgerissen hätte. ›Komm mit aufs Polizeibureau‹, sagte er, ›da werde ich alles erzählen.‹ Er ließ uns keine Ruhe.«

Der Hausknecht musterte Raskolnikow mit erstaunter, unwilliger Miene.

»Wer sind Sie denn?« rief er barsch.

»Mein Name ist Rodion Romanytsch Raskolnikow; ich bin ein gewesener Student und wohne im Schillschen Hause, hier in der Querstraße, nicht weit von hier. Wohnung Nr. 14. Erkundige dich bei dem Hausknecht; er kennt mich.«

Raskolnikow sagte all dies in lässigem, müdem Tone; er wendete sich dabei nicht um, sondern blickte starr nach der bereits ganz dunkel gewordenen Straße.

»Warum sind Sie denn in die Wohnung gegangen?«

»Ich wollte sie mir ansehen.«

»Was hatten Sie da anzusehen?«

»Nehmt ihn doch und bringt ihn auf die Polizei!« mischte sich der Kleinbürger ein; dann schwieg er wieder.

Raskolnikow sah ihn schräg über die Schulter an, musterte ihn aufmerksam und sagte dann ebenso leise und lässig wie vorher:

»Gehen wir hin!«

»Ja, man müßte ihn hinbringen!« sagte noch einmal der Kleinbürger, der wieder mutiger geworden war. »Warum hat er sich gerade danach erkundigt? Was hat er nur vor?«

»Vielleicht ist er betrunken, wer weiß«, murmelte der Geselle.

»Aber was wollen Sie denn?« rief wieder der Hausknecht, der nun ernstlich ärgerlich wurde. »Warum haben Sie sich hier eingeschlichen?«

»Es ist dir wohl bange geworden, mit auf das Polizeibureau zu gehen?« fragte Raskolnikow ihn spöttisch.

»Warum soll mir bange werden? Warum haben Sie sich hier eingeschlichen?«

»Es ist ein Spitzbube!« rief die Frau.

»Was sollen wir noch lange mit ihm reden!« rief der andre Hausknecht, ein riesiger Kerl in langem, offenstehendem Schoßrock, mit einer Menge von Schlüsseln am Gürtel. »Scheren Sie sich weg! … Es ist gewiß ein Spitzbube … Scheren Sie sich weg!«

Er faßte Raskolnikow an der Schulter und stieß ihn auf die Straße. Dieser kam ins Stolpern, fiel jedoch nicht hin, sondern richtete sich wieder auf, blickte alle Zuschauer schweigend an und ging weiter.

»Ein wunderlicher Mensch!« meinte der Geselle.

»Ja, es gibt heutzutage wunderliche Menschen«, erwiderte die Frau.

»Aber ihr hättet ihn doch auf die Polizei bringen sollen«, fügte der Kleinbürger hinzu.

»Es kommt nichts dabei heraus, wenn man sich mit so einem einläßt«, erklärte der große Hausknecht. »Ein Spitzbube war es gewiß! Er legte es selbst darauf an, hingebracht zu werden, das war ja klar, und wenn man sich mit ihm einläßt, kommt man nicht wieder los! Wir kennen das!«

›Soll ich nun hingehen oder nicht?‹ überlegte Raskolnikow, während er an einer Kreuzung mitten auf dem Straßendamm stehenblieb und sich rings umsah, wie wenn er von jemand die Entscheidung erwartete. Aber von keiner Seite her erfolgte eine Antwort; alles war stumm und tot wie die Steine, über die er hinschritt; für ihn war alles tot, für ihn allein … Plötzlich nahm er in der Ferne, etwa zweihundert Schritte von ihm, am Ende der Straße in der Dunkelheit einen Menschenauflauf wahr und hörte lautes Reden und Schreien … Mitten in der Menge stand eine Equipage … Ein Licht flimmerte mitten auf der Straße. ›Was ist da vorgefallen?‹ fragte sich Raskolnikow, wandte sich nach rechts und ging auf den Menschenhaufen zu. Es war, als ob er sich an alles anklammerte, und er lächelte kalt, als er sich dessen bewußt wurde; denn er hatte bereits den festen Entschluß gefaßt, auf das Polizeibureau zu gehen, und war sich ganz sicher gewesen, daß nun alles sogleich zu Ende sein werde.

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Kapitel 15

I

Raskolnikow richtete sich auf und setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin.

Er machte mit einer matten Handbewegung Rasumichin ein Zeichen, daß er mit dem Schwalle unzusammenhängender, eifriger Tröstungen, die er an Mutter und Schwester richtete, aufhören möchte, ergriff die Hände der beiden Frauen und blickte fast zwei Minuten lang schweigend bald die Mutter, bald die Schwester an. Die Mutter erschrak vor seinem Blicke. In diesem Blicke lag grenzenlose Liebe, aber zugleich etwas Starres, das an Irrsinn streifte. Pulcheria Alexandrowna brach in Tränen aus.

Awdotja Romanowna war blaß; ihre Hand zitterte in der des Bruders.

»Geht mit ihm nach eurer Wohnung«, sagte er abgebrochen und zeigte auf Rasumichin. »Bis morgen; morgen wird alles … Seid ihr schon lange da?«

»Heute abend sind wir angekommen, Rodja«, antwortete Pulcheria Alexandrowna. »Der Zug hatte viel Verspätung. Aber ich verlasse dich jetzt um keinen Preis, Rodja. Ich bleibe die Nacht hier um dich …«

»Quält mich nicht!« sagte er gereizt und mit einer abwehrenden Handbewegung.

»Ich, ich werde bei ihm bleiben!« rief Rasumichin. »Ich werde ihn keinen Augenblick allein lassen. Meine Gäste bei mir zu Hause kann alle der Kuckuck holen! Sollen sie meinetwegen die Wände hoch gehen! Mein Onkel kann da die Honneurs machen!«

»Wie soll ich Ihnen nur danken …«, fing Pulcheria Alexandrowna an und drückte Rasumichin von neuem die Hand; aber Raskolnikow unterbrach sie.

»Ich kann nicht, ich kann nicht!« sagte er in nervöser Erregung. »Quält mich nicht! Laßt es nun genug sein, geht weg … Ich kann nicht! …«

»Wir wollen gehen, Mama; wenigstens für einen Augenblick wollen wir aus dem Zimmer hinausgehen!« flüsterte die erschrockene Dunja. »Wir schaden ihm; das ist doch klar.«

»Aber soll ich ihn denn wirklich nicht eine Weile mehr ansehen dürfen, nach drei langen Jahren der Trennung!« rief Pulcheria Alexandrowna unter Tränen.

Jedoch Raskolnikow hielt sie wieder zurück: »Wartet! Ihr unterbrecht mich immer, und dann verwirren sich bei mir die Gedanken … Habt ihr Lushin gesehen?«

»Nein, Rodja, aber er weiß schon, daß wir angekommen sind. Wir haben gehört, Rodja, daß Pjotr Petrowitsch so freundlich war, dich heute zu besuchen«, fügte Pulcheria Alexandrowna einigermaßen verlegen hinzu.

»Ja, … er war so freundlich! … Dunja, ich habe heute zu diesem Lushin gesagt, ich würde ihn die Treppe hinunterwerfen, und habe ihn zum Teufel gejagt …«

»Rodja, was redest du! Du willst doch nicht sagen …«, fing Pulcheria Alexandrowna erschrocken an; aber ein Blick auf Dunja ließ sie verstummen.

Dunja sah ihren Bruder aufmerksam an und wartete, was noch weiter kommen werde. Die beiden Frauen waren bereits durch Nastasja von dem Streite benachrichtigt worden, soweit diese etwas davon hatte begreifen können und wiederzugeben vermochte, und hatten in Ungewißheit und Erwartung die größte Pein erduldet.

»Dunja«, sprach Raskolnikow mit Anstrengung weiter, »ich wünsche diese Heirat nicht, und darum mußt du morgen Herrn Lushin gleich beim ersten Worte eine Absage geben, damit wir von ihm nichts mehr sehen und hören.«

»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.

»Aber Bruder, bedenke doch, was du da sprichst!« begann Dunja aufbrausend; indes sie beherrschte sich sofort wieder. »Du bist vielleicht jetzt nicht imstande, das ordentlich zu überlegen; du bist müde«, sagte sie sanft.

»Du meinst wohl gar, daß ich im Fieber rede? Nein … Du willst Lushin um meinetwillen heiraten. Aber ich nehme dieses Opfer nicht an. Und darum schreibe morgen einen Brief … mit der Absage … Gib ihn mir morgen früh zum Durchlesen, und dann ist die Sache zu Ende.«

»Das kann ich nicht tun!« rief das junge Mädchen gekränkt. »Mit welchem Rechte …«

»Dunjetschka, auch du wirst zu heftig; hör auf; morgen … Siehst du denn nicht …«, rief die erschrockene Mutter und stürzte zu Dunja hin. »Ach, es ist wohl das beste, wir gehen!«

»Er redet im Fieber!« schrie der angetrunkene Rasumichin. »Sonst würde er sich nicht erdreisten, so zu sprechen! Morgen werden all diese dummen Gedanken verflogen sein. Aber daß er ihn heute hinausgejagt hat, ist Tatsache. Das hat sich wirklich so abgespielt. Na, und der wurde schön wütend! … Er hat hier große Reden gehalten, wollte uns mit seinen Kenntnissen imponieren; zuletzt mußte er aber doch mit eingekniffenem Schwanze abziehen.«

»Also das ist wahr?« rief Pulcheria Alexandrowna.

»Bis morgen, Bruder«, sagte Dunja mitleidig. »Wir wollen gehen, Mama! … Auf Wiedersehen, Rodja!«

»Hörst du wohl, Schwester«, rief er ihr nach, indem er seine letzten Kräfte zusammennahm, »ich rede nicht im Fieber; diese Heirat ist eine Gemeinheit. Und mag ich ein Schuft sein; aber du sollst nicht … genug, daß einer … und wenn ich auch ein Schuft bin, aber so eine Schwester werde ich nicht als Schwester anerkennen. Entweder ich oder Lushin! Nun geht …«

»Du bist wohl verrückt geworden, du Tyrann du!« brüllte Rasumichin.

Aber Raskolnikow antwortete nicht mehr und hatte vielleicht auch nicht die Kraft dazu. Er streckte sich auf dem Sofa lang aus und wendete sich völlig erschöpft nach der Wand. Awdotja Romanowna blickte mit lebhaftem Interesse Rasumichin an; ihre schwarzen Augen glänzten; Rasumichin zuckte unter diesem Blicke ordentlich zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand wie versteinert da.

»Ich kann unter keinen Umständen weggehen!« flüsterte sie ganz verzweifelt Rasumichin zu. »Ich bleibe hier, es wird sich schon irgendein Plätzchen für mich finden … Begleiten Sie meine Tochter nach Hause.«

»Sie werden damit alles verderben«, erwiderte, gleichfalls flüsternd, Rasumichin in größter Erregung. »Kommen Sie wenigstens hinaus auf die Treppe. Nastasja, leuchte uns! Ich versichere Ihnen«, fuhr er immer noch mit leiser Stimme fort, als sie bereits auf der Treppe waren, »er hätte heute mich und den Arzt beinahe geprügelt! Verstehen Sie wohl? Sogar den Arzt! Und der tat ihm den Willen, um ihn nicht zu reizen, und ging fort; und ich blieb unten, um auf ihn aufzupassen; aber er kleidete sich an und ging mir davon. Er wird uns auch jetzt davongehen, wenn Sie ihn reizen, mitten in der Nacht, und dann tut er sich womöglich etwas an …«

»Um Gottes willen, was sagen Sie da!«

»Ja, und dann kann auch Awdotja Romanowna unmöglich in diesem Hotel garni ohne Sie allein bleiben. Bedenken Sie nur, was das für ein Haus ist, in dem Sie da eingekehrt sind! Dieser Schuft, der Pjotr Petrowitsch, hätte Ihnen doch auch eine bessere Wohnung … Aber, wissen Sie, ich bin ein bißchen betrunken, und darum kam mir ein Schimpfwort in den Mund; lassen Sie es unbeachtet …«

»Ich möchte hier zu der Wirtin gehen«, entgegnete Pulcheria Alexandrowna, die sich von ihrer Absicht noch nicht abbringen ließ, »und sie bitten, mir und meiner Tochter ein Plätzchen für diese Nacht einzuräumen. Aber ihn so verlassen, das kann ich nicht, das kann ich nicht!«

Während dieses Gesprächs standen sie auf dem Treppenflur dicht vor der Tür zur Wohnung der Wirtin. Nastasja stand schon auf einer tieferen Stufe und leuchtete ihnen. Rasumichin befand sich in großer Aufregung. Noch vor einer halben Stunde, als er Raskolnikow nach Hause begleitete, hatte er zwar eine übermäßige Geschwätzigkeit bewiesen, deren er sich übrigens selbst bewußt gewesen war, war aber dabei doch völlig frisch und munter gewesen, trotz der gewaltigen Menge Alkohol, die er an diesem Abend zu sich genommen hatte. Jetzt aber war er in eine Art von Verzückung geraten, und gleichzeitig schien der getrunkene Branntwein ihm plötzlich von neuem und mit verdoppelter Kraft in den Kopf gestiegen zu sein. Er stand mit den beiden Damen da, hatte sie beide an den Händen gefaßt, suchte sie eifrig zu überreden und entwickelte ihnen seine Gründe mit erstaunlicher Offenherzigkeit; wahrscheinlich um sie besser zu überzeugen, preßte er ihnen beiden bei jedem Worte die Hände wie in einem Schraubstocke schmerzhaft zusammen; dabei verschlang er Awdotja Romanowna geradezu mit den Augen, ohne sich im geringsten Zwang aufzuerlegen. Vor Schmerz versuchten sie ab und zu, ihre Hände aus seinen gewaltigen, knochigen Tatzen herauszureißen; aber er merkte gar nicht, wie es damit stand, sondern zog sie nur immer fester zu sich heran. Hätten sie ihn aufgefordert, sich ihnen zu Gefallen kopfüber die Treppe hinabzustürzen, so hätte er es sofort getan, ohne Überlegen und ohne Zaudern. Pulcheria Alexandrowna, die durch die Sorge um ihren Rodja in größter Unruhe war, hatte zwar die Empfindung, daß der junge Mann sich etwas exzentrisch benehme und ihr gar zu schmerzhaft die Hand drücke; aber da er gleichzeitig für sie eine Art von hilfreichem Engel war, so wollte sie all diese kleinen Übertreibungen nicht weiter beachten. Dem jungen Mädchen aber fielen, obgleich sie von derselben Unruhe erfüllt war, die von einem wilden Feuer funkelnden Blicke des Freundes ihres Bruders gar sehr auf, und obgleich sie nicht von schreckhaftem Charakter war, versetzten sie sie in Verlegenheit, ja fast in Furcht, und nur das unbegrenzte Vertrauen, welches Nastasjas Erzählungen ihr zu diesem sonderbaren Menschen eingeflößt hatten, hielt sie davon ab, wegzulaufen und ihre Mutter mit fortzuziehen. Auch sagte sie sich, daß es augenblicklich vielleicht geradezu unmöglich sei, ihm wegzulaufen. Zehn Minuten darauf hatte sie sich aber bereits erheblich beruhigt. Es war eine Eigenheit Rasumichins, in welchem Zustande er sich auch befinden mochte, sein ganzes Wesen in kürzester Zeit rückhaltlos aufzudecken, so daß ein jeder baldigst wußte, mit wem er es zu tun hatte.

»Zu der Wirtin können Sie unmöglich; das ist ein ganz verdrehter Gedanke!« rief er in dem eifrigen Bemühen, Pulcheria Alexandrowna zu überzeugen. »Sie sind zwar seine Mutter; aber trotzdem wird ihn Ihr Hierbleiben rasend machen, und was dann daraus wird, das mag der Teufel wissen! Also hören Sie mal, was ich tun will: jetzt bleibt Nastasja bei ihm sitzen, und ich begleite Sie beide nach Ihrer Wohnung; denn allein können Sie nicht auf die Straße; bei uns in Petersburg ist es in dieser Hinsicht … Na, schweigen wir davon! … Dann laufe ich von Ihnen sofort wieder hierher zurück und bringe Ihnen nach einer Viertelstunde (Ehrenwort!) genauen Bericht: wie es ihm geht, ob er schläft oder nicht usw. Darauf, hören Sie nur zu, darauf laufe ich von Ihnen flink zu mir nach Hause; da habe ich Gäste sitzen, die sind alle betrunken; da bemächtige ich mich Sossimows – das ist der Arzt, der ihn behandelt, der sitzt jetzt auch bei mir; der ist aber nicht betrunken, der betrinkt sich nie! Den schleppe ich zu Rodja, und dann komme ich sofort wieder zu Ihnen; mithin bekommen Sie binnen einer Stunde zwei Berichte über ihn, und zwar den einen vom Arzte, verstehen Sie wohl! vom Arzte selbst; das ist eine ganz andre Sache als bloß von mir! Sollte es schlimm stehen, so schwöre ich Ihnen, ich bringe Sie wieder hierher; wenn es aber gut geht, nun, dann legen Sie sich ruhig schlafen. Ich für meine Person aber werde die ganze Nacht hier zubringen, auf dem Flur; davon wird Rodja nichts hören; und was Sossimow anlangt, so werde ich anordnen, daß er in der Wohnung der Wirtin übernachtet, damit wir ihn zur Hand haben. Na, was ist für ihn jetzt besser: Sie oder der Arzt? Der Arzt ist doch nützlicher, entschieden nützlicher. Na, also gehen Sie nun nach Hause! Bei der Wirtin können Sie nicht bleiben; ich könnte es wohl; aber Sie können es nicht: sie würde Sie gar nicht hereinlassen, weil sie … nun, weil sie eben eine Närrin ist … Nämlich, wenn Sie den Grund wissen wollen: sie hat mich sehr in ihr Herz geschlossen und würde sofort auf Awdotja Romanowna eifersüchtig werden, und auf Sie auch … Auf Awdotja Romanowna aber ganz bestimmt. Sie hat einen unberechenbaren Charakter, aber auch ganz unberechenbar! Ich bin übrigens auch ein Narr … Na. darauf kommt es nicht an. Kommen Sie! Haben Sie zu mir Vertrauen? Na, sagen Sie: ja oder nein?«

»Kommen Sie, Mama«, sagte Awdotja Romanowna, »er wird gewiß tun, was er versprochen hat. Er hat unserm Rodja schon einmal das Leben gerettet, und wenn sich der Arzt wirklich bereit findet, hier zu übernachten, so ist das doch gewiß das allerbeste.«

»Sehen Sie wohl, sehen Sie wohl, … Sie, ja Sie verstehen mich, weil Sie ein Engel sind!« rief Rasumichin in höchstem Entzücken. »Machen wir uns also auf den Weg! Nastasja, geh flink nach oben und bleib da bei ihm sitzen, mit dem Lichte; in einer Viertelstunde bin ich auch wieder da …«

Obwohl Pulcheria Alexandrowna noch nicht vollständig überzeugt war, so widersetzte sie sich doch nicht länger. Rasumichin gab jeder von ihnen einen Arm und zog sie die Treppe hinunter. Indessen hatte die Mutter in bezug auf ihn doch noch eine Sorge: ›Er ist ja ein geschickter und braver Mensch; wird er aber auch imstande sein, sein Versprechen auszuführen? Bei dem Zustande, in dem er sich befindet!‹

»Ich merke, Sie haben Bedenken wegen meines Zustandes!« unterbrach Rasumichin ihre Gedanken, die er erraten hatte, und ging dabei mit seinen gewaltigen Schritten auf dem Trottoir so schnell vorwärts, daß die beiden Damen kaum mitkommen konnten, was er übrigens gar nicht beachtete. »Dummes Zeug! Das heißt, ich meine: betrunken bin ich ja wie ein Affe; aber das ist ganz egal; meine Betrunkenheit rührt nicht vom Schnaps her. Sondern sowie ich Sie erblickte, da stieg mir auf einmal etwas in den Kopf … Aber kümmern Sie sich um mich weiter gar nicht! Achten Sie nicht auf mich: ich schwatze lauter Unsinn zusammen; ich bin Ihrer unwürdig … Ich bin Ihrer im höchsten Grade unwürdig! Sobald ich Sie nach Hause gebracht habe, gieße ich mir gleich hier am Kanal zwei Eimer Wasser über den Kopf; dann bin ich wieder in Ordnung … Wenn Sie nur wüßten, wie sehr ich Sie beide liebe! … Lachen Sie nicht, und seien Sie nicht böse! … Seien Sie auf alle Menschen böse, bloß nicht auf mich! Ich bin Rodjas Freund, folglich bin ich auch Ihr Freund. Ich möchte so gern … Ich habe es schon vorher geahnt, … schon im vorigen Jahre hatte ich einmal so einen Augenblick … Übrigens habe ich gar nichts geahnt; denn Sie sind ja ganz plötzlich wie vom Himmel heruntergefallen. Ich werde vielleicht die ganze Nacht nicht schlafen können … Dieser Sossimow fürchtete heute, Rodja könnte den Verstand verlieren. Darum darf man ihn nicht reizen …«

»Was sagen Sie da!« rief die Mutter.

»Hat der Arzt das wirklich so gesagt?« fragte Awdotja Romanowna erschrocken.

»Gesagt hat er es; aber es ist nicht an dem, ganz und gar nicht. Er hat ihm auch so eine Medizin gegeben, ein Pulver; ich habe es selbst gesehen. Und nun sind Sie auf einmal gekommen … Ach … Sie hätten lieber erst morgen kommen sollen! Nur gut, daß wir weggegangen sind. In einer Stunde wird Ihnen Sossimow selbst über alles Rapport erstatten. Ja, der ist nie betrunken! Und ich werde mich auch nicht mehr betrinken … Und wie ist das gekommen, daß ich mich so beduselt habe? Das ist daher gekommen, weil sie mich in eine Debatte hineingezogen haben, die verdammten Kerle! Und ich hatte mir selbst ein eidliches Versprechen gegeben, nie mehr zu debattieren!

… Aber was schwafelten die Menschen für einen Blödsinn zusammen! Am liebsten hätte ich auf sie losgeprügelt! Ich habe meinen Onkel dagelassen; der kann den Hausherrn spielen … Na, können Sie das glauben: sie verlangen, man solle sich seiner persönlichen Eigenheiten völlig entäußern, und darin finden sie ihr Ideal! Nur ja nicht man selbst sein, nur möglichst wenig individuell sein! Und das halten sie für das höchste Ziel fortschrittlicher Entwicklung. Und wenn ihr unsinniges Geschwätz wenigstens etwas Eigenes hätte; aber…«

»Gestatten Sie …«, unterbrach ihn Pulcheria Alexandrowna schüchtern. Aber dadurch kam er nur noch mehr in Harnisch.

»Ja, was meinen Sie denn?« schrie Rasumichin noch lauter. »Meinen Sie etwa, ich ereifere mich darüber, daß die Kerle Unsinn reden? Dummes Zeug! Ich habe das sogar ganz gern, wenn die Leute Unsinn reden! Das Unsinnreden ist das einzige Privilegium, das der Mensch vor allen übrigen organischen Wesen hat. Wer Unsinn redet, der gelangt zur Wahrheit! Daß ich Unsinn rede, das macht mich erst recht eigentlich zum Menschen. Zu keiner einzigen Wahrheit ist man gelangt, ohne daß man vorher vierzehnmal, vielleicht auch hundertvierzehnmal Unsinn geredet hätte, und das ist etwas sehr Achtbares, wenn es in individueller Weise geschieht; na, aber wir verstehen nicht einmal, mit unserm eigenen Verstande Unsinn zu reden. Rede Unsinn, aber tue es auf deine eigene Art, und ich gebe dir einen Kuß dafür. Auf seine eigne Art Unsinn zu reden, das ist sogar beinah besser, als nach allgemeinem Schema und nach fremdem Muster die Wahrheit zu reden; im ersten Falle ist man ein Mensch, im zweiten nur ein Papagei. Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen; wohl aber kann man durch jenen törichten Verzicht auf Individualität sich selbst das Leben verderben; dafür fehlt es nicht an Beispielen. Na, was sind wir denn jetzt? In bezug auf Wissenschaft, Fortschritt, Denken, Erfindungsgabe, Ideale, Bestrebungen, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und alles, alles, alles, alles, alles sitzen wir alle ohne Ausnahme gleichsam noch in der untersten Vorbereitungsklasse des Gymnasiums! Wir haben Gefallen daran gefunden, uns mit fremder Weisheit zu behelfen; wir haben uns daran gewöhnt! Ist es nicht so? Habe ich nicht recht?« rief Rasumichin, indem er die Hände der beiden Damen kräftig schüttelte und drückte. »Habe ich nicht recht?«

»O mein Gott, ich weiß es nicht«, sagte die arme Pulcheria Alexandrowna.

»Jawohl, jawohl, … obgleich ich nicht in allen Punkten mit Ihnen derselben Ansicht bin«, erwiderte Awdotja Romanowna ganz ernsthaft, stieß aber gleich darauf einen Schrei aus, so heftig hatte er diesmal ihre Hand zusammengepreßt.

»Ja? Sie sagen ja? Nun, dann … dann … dann sind Sie …«, rief er ganz begeistert, »dann sind Sie ein Ideal von Seelengüte, Reinheit, Vernunft und … Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, ich bitte darum, … und geben auch Sie mir die Ihrige; ich möchte Ihnen die Hände küssen, hier, gleich jetzt, auf den Knien!«

Mitten auf dem Trottoir, das zum Glück gerade menschenleer war, fiel er auf die Knie.

»Aber lassen Sie das doch, ich bitte Sie, was tun Sie denn!« rief Pulcheria Alexandrowna ganz bestürzt.

»Stehen Sie doch auf, stehen Sie doch auf!« sagte Awdotja Romanowna lachend, aber gleichfalls beunruhigt.

»Um keinen Preis, ehe Sie mir nicht Ihre Hände gegeben haben! So, so ist es recht, und nun genug, nun stehe ich auf, und wir wollen weitergehen! Ich bin ein unglücklicher Tölpel, ich bin Ihrer unwürdig, und ich bin betrunken und schäme mich … Sie zu lieben, bin ich nicht würdig; aber vor Ihnen die Knie zu beugen, das ist die Pflicht eines jeden, der nicht geradezu ein Stück Vieh ist! Und darum habe ich vor Ihnen die Knie gebeugt … Da ist auch Ihr Hotel garni, und schon aus diesem Grunde allein war Rodja durchaus im Rechte, als er heute Ihren Pjotr Petrowitsch hinauswarf! Wie konnte der Mensch es wagen, Sie in einem solchen Hause unterzubringen! Das ist ja ein Skandal! Wissen Sie wohl, an was für Personen da Zimmer abgegeben werden? Und Sie sind doch seine Braut! Sie sind doch seine Braut, nicht wahr? Na, dann sage ich Ihnen also, daß Ihr Bräutigam, wenn er so handelt, ein Schuft ist!«

»Erlauben Sie, Herr Rasumichin, Sie vergessen …«, begann Pulcheria Alexandrowna.

»,Ja, ja, Sie haben ganz recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!« rief Rasumichin, seine Übereilung erkennend. »Aber … aber … Sie können mir nicht böse deswegen sein, weil ich so rede! Denn ich rede so, weil ich es wirklich so meine, und nicht etwa, weil … hm, das wäre ja gemein; mit einem Worte: nicht etwa, weil ich in Sie … hm! … na, lassen wir das; ich darf nicht; ich will nicht sagen, warum; ich wage es nicht! … Aber wir hatten heute, als er zu Rodja kam, alle das Gefühl, daß dieser Mensch nicht in unsern Kreis paßt. Nicht weil er sich das Haar vom Friseur hatte kräuseln lassen, nicht weil er es so eilig hatte, seinen Verstand zur Schau zu stellen, sondern weil er ein Aushorcher und Spekulant ist, ein Gauner; und das liegt auf der Hand. Meinen Sie, daß er klug ist? Nein, ein Dummkopf ist er, ein Dummkopf! Na, ist das etwa ein Mann für Sie? Ach, du mein Gott! Sehen Sie, meine Damen« (er blieb plötzlich auf der Treppe zu dem Hotel garni, die sie schon hinaufgingen, stehen), »wenn die Leute da in meiner Wohnung auch alle betrunken sind, aber ehrenhaft sind sie alle; und wenn wir auch Unsinn reden (denn ich rede auch Unsinn), so werden wir durch unser Unsinnreden schließlich doch zur Wahrheit hindurchdringen, weil wir auf einem anständigen Wege gehen; aber Pjotr Petrowitsch … der geht nicht auf einem anständigen Wege. Und obwohl ich eben gehörig auf sie geschimpft habe, so habe ich doch vor ihnen allen Achtung; und sogar was diesen Sametow betrifft, Achtung habe ich allerdings nicht vor ihm, aber ich habe ihn ganz gern, denn er ist noch wie ein junger Hund! Sogar vor diesem Vieh, dem Sossimow, habe ich Achtung, weil er ein ehrenhafter Mensch ist und seine Sache versteht. Aber genug, nun habe ich mir alles vom Herzen gesprochen, und ich hoffe, Sie haben mir nichts übelgenommen. Haben Sie mir auch nichts übelgenommen? Wirklich nicht? Nun, dann kommen Sie! Ich kenne diesen Korridor; ich bin schon mal hier gewesen; hier in Nummer drei war eine arge Skandalgeschichte … Nun, wo ist Ihr Zimmer? Was haben Sie für eine Nummer? Acht? Na, dann schließen Sie nur für die Nacht zu, und lassen Sie niemand herein. In einer Viertelstunde komme ich wieder und bringe Bericht, und dann wieder nach einer halben Stunde komme ich mit Sossimow, Sie werden sehen! Nun adieu! Ich werde mich beeilen!«

»Mein Gott, Dunjetschka, was wird aus all dem noch werden?« sagte Pulcheria Alexandrowna voll Angst und Unruhe zu ihrer Tochter.

»Beruhigen Sie sich, liebe Mama«, antwortete Dunja, während sie Hut und Mantille ablegte. »Diesen Herrn hat uns Gott selbst gesandt, obwohl er geradeswegs von einer Zecherei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen; das ist meine feste Überzeugung. Und was er alles schon für Rodja getan hat …«

»Ach, Dunjetschka, Gott weiß, ob er wieder herkommen wird! Wie habe ich es nur fertigbringen können, Rodja allein zu lassen! … Daß ich ihn so wiederfinden würde, habe ich mir ja nicht träumen lassen! Wie finster er war, gerade als ob er sich über unsre Ankunft gar nicht freute …«

Die Tränen kamen ihr in die Augen.

»Nein, das ist nicht richtig, liebe Mama; Sie haben ihn nur nicht ordentlich sehen können; Sie haben ja immerzu geweint. Die schwere Krankheit hat ihn zu sehr heruntergebracht; das ist der ganze Grund.«

»Ach, diese Krankheit! Was nur daraus noch werden soll! Und wie er mit dir gesprochen hat, Dunja!« sagte die Mutter und blickte dabei ihrer Tochter schüchtern ins Gesicht, um ihre Gedanken dort abzulesen; indes war sie dadurch, daß Dunja soeben ihren Bruder in Schutz genommen hatte, schon halb getröstet; denn danach zu urteilen, mußte sie ihm doch verziehen haben. »Ich bin überzeugt, daß er morgen anders darüber denken wird«, fügte sie hinzu, um die Tochter vollends auszuforschen.

»Ich meinerseits bin überzeugt, daß er morgen ganz ebenso darüber reden wird«, erwiderte Awdotja Romanowna.

Hiermit schloß dieses Gespräch, weil das ein Punkt war, vor dessen näherer Erörterung der Mutter jetzt gar zu bange war. Dunja trat zu ihr hin und küßte sie. Diese schlang, ohne weiter ein Wort zu sagen, ihre Arme innig um die Tochter. Dann setzte sie sich hin, wartete unruhig auf Rasumichins Rückkehr und verfolgte schüchtern mit den Augen die Tochter, die, gleichfalls wartend, die Arme über der Brust verschränkt, tief in Gedanken versunken im Zimmer auf und ab ging. Dieses nachdenkliche Hin- und Hergehen von einer Ecke nach der ändern war schon von jeher Dunjas Gewohnheit gewesen, und die Mutter scheute dann immer, sie in ihren Überlegungen zu stören.

Rasumichin machte ja natürlich eine komische Figur mit seiner so plötzlich in der Trunkenheit entbrannten Leidenschaft für Awdotja Romanowna; aber wer sie ansah, namentlich jetzt, wo sie mit verschränkten Armen traurig und nachdenklich im Zimmer auf und ab ging, der konnte seinen Affekt, auch abgesehen von seinem exaltierten Zustande, recht wohl entschuldbar finden. Awdotja Romanowna war eine außerordentlich schöne Erscheinung, von hohem Wuchs und wundervoller Figur, kräftig und selbstbewußt, was in jeder ihrer Bewegungen zum Ausdruck kam, ohne jedoch der Weichheit und Anmut derselben im geringsten abträglich zu sein. Im Gesicht hatte sie mit ihrem Bruder Ähnlichkeit; aber man konnte sie geradezu eine Schönheit nennen. Ihr Haar war dunkelblond, etwas heller als das des Bruders; die Augen waren fast schwarz, glänzend, stolzblickend, hatten aber dabei doch zeitweilig etwas überaus Freundliches. Sie war blaß, aber diese Blässe hatte nichts Kränkliches; ihr Gesicht strahlte vielmehr von Frische und Gesundheit. Ihr Mund war etwas klein; die frische, rote Unterlippe stand ein ganz klein wenig zu weit vor, ebenso wie das Kinn – die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesichte, die ihm aber den Ausdruck besonderer Charakterfestigkeit, ja sogar einen Anschein von Hochmut verlieh. Ihre Mienen waren gewöhnlich mehr nachdenklich und ernst als heiter; aber wie schön stand dafür auch diesem Gesichte ein gelegentliches Lächeln, ein frohes, jugendliches, sorgloses Lachen! Kein Wunder, daß der feurige, offenherzige, schlichte, ehrliche, hünenhafte und betrunkene Rasumichin, der noch nie etwas Ähnliches gesehen hatte, gleich beim ersten Blicke den Kopf verlor. Dazu kam noch, daß ihm der Zufall wie mit besondrer Absicht Awdotja Romanowna zuerst in dem schönen Augenblicke zeigte, da sie von der Liebe zum Bruder und von der Freude über das Wiedersehen mit ihm verklärt war. Später sah er dann, wie bei den herrischen, schroffen Forderungen des Bruders ihre Unterlippe vor Unwillen bebte – und er konnte nicht widerstehen.

Er hatte übrigens die Wahrheit gesagt, als er vorher in seiner Betrunkenheit auf der Treppe damit herausgeplatzt war, daß Raskolnikows überspannte Wirtin, Praskowja Pawlowna, nicht nur auf Awdotja Romanowna, sondern womöglich auch auf Pulcheria Alexandrowna eifersüchtig werden würde, in der Besorgnis, eine von ihnen könne ihr den neuen Verehrer abspenstig machen. Obwohl Pulcheria Alexandrowna bereits dreiundvierzig Jahre alt war, hatte ihr Gesicht immer noch Spuren ihrer früheren Schönheit bewahrt, und außerdem schien sie weit jünger, als sie wirklich war, wie das der Regel nach bei Frauen der Fall ist, die sich die Heiterkeit der Seele, die Frische der Empfindung und die ehrliche, reine Wärme des Herzens bis ins Alter hinein bewahren. Wir wollen in Parenthese bemerken, daß die Erhaltung all dieser seelischen Eigenschaften eben das einzige Mittel ist, um sich die Schönheit sogar bis ins Alter hinüberzuretten. Ihr Haar fing bereits an zu ergrauen und dünner zu werden; kleine, strahlenförmige Fältchen hatten sich schon längst um die Augen herum gebildet; die Wangen waren infolge von Sorgen und Kummer eingesunken und zusammengetrocknet; aber trotz alledem war dieses Gesicht schön. Es war ein Ebenbild von Awdotja Romanownas Gesicht, nur zwanzig Jahre älter und ohne das Charakteristische der Unterlippe, die bei der Mutter nicht so hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war feinfühlend, aber nicht bis zur Süßlichkeit; sie war schüchtern und nachgiebig, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze: sie konnte in vielem nachgeben, sich in vieles fügen, sogar wo es gegen ihre Überzeugung ging; aber dabei blieb doch immer eine Grenzlinie der Ehrenhaftigkeit, der moralischen Grundsätze und der innersten Überzeugungen bestehen, zu deren Überschreitung keinerlei Verhältnisse sie veranlassen konnten.

Genau zwanzig Minuten nach Rasumichins Weggehen hörten die Frauen, daß jemand mit dem Finger zweimal leise, aber hastig an die Tür pochte; er war zurückgekehrt.

»Ich komme nicht herein, ich habe keine Zeit!« sagte er eilig, als ihm geöffnet worden war. »Er schläft wie ein Bär, fest und ruhig; Gott gebe, daß er zehn Stunden so durchschläft. Nastasja ist bei ihm; ich habe ihr befohlen, nicht eher wegzugehen, als bis ich wieder da bin. Jetzt will ich Sossimow hinschleppen; er wird Ihnen Rapport erstatten, und dann legen Sie sich auch schlafen; ich sehe ja, daß Sie vollständig erschöpft sind …«

Damit lief er von ihnen weg den Korridor entlang.

»Was für ein gewandter und gefälliger junger Mann!« rief Pulcheria Alexandrowna hocherfreut.

»Ja, er scheint ein prächtiger Mensch zu sein«, antwortete Awdotja Romanowna mit besonderer Wärme und begann wieder im Zimmer hin und her zu gehen.

Fast eine Stunde später wurden Schritte auf dem Korridor vernehmbar, und es wurde wieder an die Tür geklopft. Die beiden Frauen hatten diesmal die Wartezeit in vollem Vertrauen auf Rasumichins Versprechen ausgehalten; und er brachte auch wirklich Sossimow mit herbeigeschleppt. Sossimow hatte sich ohne weiteres bereit finden lassen, das Zechgelage zu verlassen und bei Raskolnikow einen ärztlichen Besuch zu machen; aber zu den Damen war er nur ungern und mit großem Mißtrauen mitgekommen, da er den Angaben des betrunkenen Rasumichin nicht recht geglaubt hatte. Aber er fühlte sich in seiner Eigenliebe sogleich beruhigt und sogar geschmeichelt, als er sah, daß man auf ihn wirklich wie auf einen Orakelgott gewartet hatte. Er blieb nur zehn Minuten sitzen, und es gelang ihm in dieser Zeit, Pulcheria Alexandrowna vollständig von seiner Ansicht zu überzeugen und zu beruhigen. Er sprach mit großer Teilnahme, aber sehr gemessen und in geflissentlich ernstem Tone, ganz wie es sich für einen siebenundzwanzigjährigen Arzt bei einer wichtigen Konsultation schickt; mit keinem Worte schweifte er von dem Gegenstande ab und ließ nicht den leisesten Wunsch durchblicken, mit den beiden Damen in mehr persönliche und private Beziehungen zu treten. Als er gleich beim Eintritt bemerkt hatte, wie blendend schön Awdotja Romanowna war, gab er sich Mühe, sie während der ganzen Dauer seines Besuchs überhaupt nicht zu beachten, sondern sich ausschließlich an Pulcheria Alexandrowna zu wenden. Dies alles gewährte ihm eine ganz besondere innere Befriedigung. Was den Kranken anlangte, so erklärte er, daß er ihn augenblicklich in sehr befriedigendem Zustande gefunden habe. Nach seinen Beobachtungen habe die Krankheit des Patienten, außer der üblen materiellen Lage desselben in den letzten Monaten, noch einige seelische Ursachen; sie sei sozusagen das Produkt vieler ineinandergreifender seelischer und materieller Einwirkungen, starker Aufregungen, Befürchtungen, Sorgen, gewisser Ideen usw. Da er so beiläufig wahrnahm, daß Awdotja Romanowna hier mit ganz besonderer Aufmerksamkeit zuhörte, verbreitete er sich über dieses Thema etwas ausführlicher. Auf Pulcheria Alexandrownas ängstliche, schüchterne Frage betreffs des früher von ihm geäußerten Verdachtes einer geistigen Störung antwortete er mit ruhigem, offenem Lächeln, man habe da seinen Worten einen übertriebenen Sinn untergelegt; es sei allerdings bei dem Kranken eine Art von fixer Idee wahrnehmbar, eine gewisse Andeutung von Monomanie (er, Sossimow, widme jetzt diesem außerordentlich interessanten Gebiete der Medizin ein besonderes Studium); aber man müsse sich doch den Umstand gegenwärtig halten, daß der Kranke fast bis zum heutigen Tage im Fieber gelegen habe, und … und jedenfalls werde nun die Ankunft seiner Angehörigen eine kräftigende Wirkung auf ihn ausüben, ihn zerstreuen und zu seiner Genesung beitragen, vorausgesetzt, daß (wie er bedeutsam hinzufügte) es gelinge, neue außerordentliche Erschütterungen von ihm fernzuhalten. Dann stand er auf und verabschiedete sich ruhig und treuherzig, von den heißen Danksagungen der beiden Frauen begleitet; Awdotja Romanowna streckte ihm sogar ganz von selbst die Hand hin und drückte die seine herzlich. So ging er fort, sehr zufrieden mit seinem Besuche und noch mehr mit sich selbst.

»Morgen reden wir darüber weiter; jetzt legen Sie sich jedenfalls hin!« fügte Rasumichin, der mit Sossimow zusammen wegging, ermahnend hinzu. »Morgen, so früh wie möglich, bin ich mit einem Rapport bei Ihnen.«

»Aber was ist diese Awdotja Romanowna für ein scharmantes Mädchen!« bemerkte Sossimow, sich die Lippen leckend, als sie beide auf die Straße traten.

»Scharmant? Du hast gesagt: scharmant!« brüllte Rasumichin, stürzte sich plötzlich auf Sossimow und packte ihn an der Gurgel. »Wenn du es noch ein einziges Mal wagst … Verstehst du mich? Verstehst du mich?« schrie er, schüttelte ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Mauer. »Hast du gehört?«

»Laß mich los, du besoffener Kerl du!« rief Sossimow, sich wehrend. Dann, als der andre ihn losgelassen hatte, blickte er ihn prüfend an und brach auf einmal in schallendes Gelächter aus. Rasumichin stand mit schlaff herabhängenden Armen vor ihm, in ernstem, finsterem Sinnen.

»Natürlich, bin ich ein Esel«, sagte er finster wie eine Gewitterwolke, »aber du bist auch einer.«

»Aber nein, Bruder, ich ganz und gar nicht. Ich habe keine solchen dummen Gedanken im Kopfe.«

Sie gingen schweigend weiter, und erst als sie sich der Wohnung Raskolnikows näherten, unterbrach Rasumichin, von Sorge gequält, das Stillschweigen.

»Höre mal«, sagte er zu Sossimow, »du bist ja ein prächtiger Mensch; aber du bist, selbst abgesehen von deinen sonstigen häßlichen Eigenschaften, auch noch ein Liedrian, das weiß ich, und sogar einer von den allerschlimmsten. Du bist ein nervöser, schwächlicher Taugenichts, hast allerlei Kapricen, bist fett geworden und kannst dir nichts versagen; und das nenne ich schon unwürdig, denn es führt geradeswegs zur Unwürdigkeit. Du hast dich so verweichlicht, daß ich, offen gestanden, schlechterdings nicht begreife, wie du dabei doch ein guter und sogar aufopferungsfähiger Arzt sein kannst. Schläft in einem weichen Federbett (ein Hohn auf die ärztliche Wissenschaft!) und steht trotzdem in der Nacht auf, wenn er zu einem Kranken gerufen wird! Nach drei Jahren wirst du nicht mehr um eines Kranken willen aufstehen … Na, zum Kuckuck, das gehört ja alles nicht hierher, sondern ich wollte sagen: du schläfst heute in der Wohnung der Wirtin (ich habe meine liebe Not gehabt, sie zu überreden), und ich in der Küche; da habt ihr die beste Gelegenheit, miteinander näher bekannt zu werden! Ich meine nicht das, woran du denkst! Davon kann nicht im entferntesten die Rede sein …«

»Ich denke ja auch gar nicht daran.«

»Du wirst an ihr eine schamhafte, schweigsame, schüchterne Frauensperson von einer geradezu verstockten Keuschheit kennenlernen; und trotzdem, wenn ihr einer etwas vorseufzt, so zerschmilzt sie wie Wachs, ja, sie zerschmilzt ordentlich! Befreie mich von ihr, nimm sie mir ab, ich bitte dich um des Teufels willen! Sie ist ein ganz famoses Frauenzimmer! … Ich werde es dir vergelten, mit meinem letzten Blutstropfen!«

Sossimow lachte noch toller als vorher.

»Du bist ja ganz aufgeregt! Aber was soll ich denn mit ihr?«

»Ich versichere dir, du wirst nicht viel Umstände damit haben; du brauchst nur irgendeinen beliebigen Quatsch zu reden; du brauchst dich nur neben sie hinzusetzen und zu reden. Und außerdem bist du ja Arzt; da kannst du sie ja an einer beliebigen Krankheit behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein Klavier in ihrer Wohnung stehen; ich klimpere ja ein bißchen, wie du weißt; und nun habe ich da so ein kleines Lied, das ich spiele, ein echtes russisches Volkslied: ›Ich vergieße heiße Tränen‹ … Sie liebt solche echten Volkslieder – na also, mit dem Liede hat denn auch unser zartes Verhältnis begonnen; aber du bist ja nun gar ein Virtuose auf dem Klavier, ein wahrer Meister, ein zweiter Rubinstein … Ich versichere dir, du wirst es nicht bereuen!«

»Aber hast du ihr denn irgendwelche Versprechungen gemacht, wie? Hast du eine formelle Unterschrift gegeben? Hast du ihr etwa die Ehe versprochen?«

»Nichts, nichts, absolut nichts von der Art! Und sie ist überhaupt nicht so eine; da wollte sich dieser Tschebarow an sie heranmachen …«

»Na, dann laß sie doch laufen!«

»Ich kann sie nicht so einfach laufen lassen!«

»Warum denn nicht?«

»Na, es geht eben nicht; da ist nicht weiter darüber zu reden! Es liegt da eine Art von elementarer Anziehungskraft vor.«

»Warum hast du sie denn betört?«

»Ich habe sie überhaupt nicht betört; ich habe mich sogar eher selbst betören lassen, in meiner Dummheit; ihr aber wird es sicherlich ganz gleich sein, ob ich ihr Verehrer bin oder du, wenn nur jemand neben ihr sitzt und ihr etwas vorseufzt. Du brauchst nur … Ich weiß nicht recht, wie ich dir das klarmachen soll, … du brauchst nur … Na, ich weiß, du warst doch ein guter Mathematiker und beschäftigst dich noch jetzt damit, … na also, fang an, mit ihr die Integralrechnung durchzunehmen; wahrhaftig, ich mache keinen Scherz, ich rede im Ernst, ihr wird das sicherlich ganz gleich sein: sie wird dich ansehen und seufzen, und das wird ihr ein ganzes Jahr hindurch nicht langweilig werden. Ich habe ihr unter anderm sehr lange, mehrere Tage hintereinander, etwas von dem preußischen Herrenhause vorerzählt (denn worüber soll man mit ihr reden?) – sie seufzte nur und schwitzte! Nur von Liebe mußt du nicht sprechen (denn sie ist von einer krampfhaften Zimperlichkeit); aber du mußt so tun, als könntest du es gar nicht übers Herz bringen, fortzugehen – damit ist sie dann ganz zufrieden. Es ist alles bei ihr sehr hübsch eingerichtet; man fühlt sich da ganz wie zu Hause; du kannst da lesen, sitzen, liegen, schreiben … Du kannst sie sogar küssen – wenn du es einigermaßen vorsichtig anfängst …«

»Ja, aber was habe ich von ihr?«

»Ach, wie soll ich dir das nur auseinandersetzen? Sieh mal: ihr beide paßt ganz vortrefflich zueinander! Ich hatte auch schon vorher an dich gedacht … Du wirst dich ja schließlich doch einmal so versorgen! Also kann es dir ja ganz gleich sein, ob früher oder später. Hier findest du so schöne, weiche Federbetten, Bruder – ach! und nicht bloß Federbetten! Hier fühlt sich auch das Herz wohl; hier ist ein wahres Eden, ein ruhiger Ankerplatz, ein stilles Asyl, ein Inbegriff von Pfannkuchen, fetten Fischpasteten, abendlichem Teetrinken, stillen Seufzern und warmen Jacken, behaglichen Plätzen am geheizten Ofen – na, es ist einem, als ob man gestorben wäre und doch gleichzeitig noch lebte, die Vorzüge beider Zustände vereinigt! Na, Bruder, ich habe dir wohl schon zu lange etwas vorgeschwärmt; es ist Zeit zum Schlafengehen! Hör mal: ich pflege in der Nacht manchmal aufzuwachen; na, da will ich dann hingehen und nach ihm sehen. Aber es ist ja weiter nichts mit ihm; dummes Zeug; es ist ja alles gut. Du brauchst dich auch nicht besonders zu inkommodieren; aber wenn du willst, kannst du ja auch gelegentlich einmal nachsehen. Und solltest du etwas bemerken, Fieber zum Beispiel oder Hitze oder so etwas, dann wecke mich gleich. Indes, es ist ja nicht anzunehmen …«

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Kapitel 1

I

An einem der ersten Tage des Juli – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S …gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K … brücke ein.

Einer Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe war er glücklich entgangen. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen, vierstöckigen Hauses und hatte in der Größe mehr Ähnlichkeit mit einem Schranke als mit einer Wohnung. Seine Wirtin, die ihm diese Kammer vermietet hatte und ihm auch das Mittagessen lieferte und die Bedienung besorgte, wohnte selbst eine Treppe tiefer, und jedesmal, wenn er das Haus verlassen wollte, mußte er notwendig auf der Treppe an ihrer Küche vorbeigehen, deren Tür fast immer weit offen stand. Und jedesmal, wenn der junge Mann vorbeikam, ergriff ihn ein peinliches Gefühl der Feigheit, dessen er sich stirnrunzelnd schämte. Er steckte bei der Wirtin tief in Schulden und fürchtete sich deshalb davor, mit ihr zusammenzutreffen.

Nicht daß Schüchternheit und Feigheit in seinem Charakter gelegen hätten; ganz im Gegenteil; aber er befand sich seit einiger Zeit in einem aufgeregten und gereizten Gemütszustande, der große Ähnlichkeit mit Hypochondrie hatte. Er hatte sich derartig in sein eigenes Ich vergraben und sich von allen Menschen abgesondert, daß er sich schlechthin vor jeder Begegnung scheute, nicht nur vor einer Begegnung mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn völlig überwältigt; aber selbst diese bedrängte Lage empfand er in der letzten Zeit nicht mehr als lastenden Druck. Auf Brotarbeit hatte er ganz verzichtet; er hatte keine Lust mehr zu irgendwelcher Tätigkeit. In Wahrheit fürchtete er sich vor keiner Wirtin in der Welt, mochte sie gegen ihn im Schilde führen, was sie wollte. Aber auf der Treppe stehenzubleiben, allerlei Gewäsch über allen möglichen ihm ganz gleichgültigen Alltagskram, all diese Mahnungen ans Bezahlen, die Drohungen und Klagen anzuhören und dabei selbst sich herauszuwinden, sich zu entschuldigen, zu lügen – nein, da war es schon besser, wie eine Katze auf der Treppe vorbeizuschlüpfen und sich, ohne von jemand gesehen zu werden, flink davonzumachen.

Übrigens war er diesmal, als er auf die Straße hinaustrat, selbst erstaunt darüber, daß er sich so vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin fürchtete.

»Eine so große Sache plane ich, und dabei fürchte ich mich vor solchen Kleinigkeiten!« dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. »Hm… ja… alles hat der Mensch in seiner Hand, und doch läßt man sich alles an der Nase vorbeigehen, einzig und allein aus Feigheit… das ist schon so die allgemeine Regel… Merkwürdig: wovor fürchten die Menschen sich am meisten? Am meisten fürchten sie sich vor einem neuen Schritte, vor einem eignen neuen Worte… Übrigens schwatze ich viel zuviel. Darum handle ich auch nicht, weil ich soviel schwatze. Vielleicht aber liegt die Sache auch so: weil ich nicht handle, darum schwatze ich. Da habe ich nun in diesem letzten Monat das Schwatzen gelernt, wenn ich so ganze Tage lang im Winkel lag und an weiß Gott was dachte. Nun also: wozu gehe ich jetzt aus? Bin ich etwa imstande, das auszuführen? Ist es mir etwa Ernst damit? Ganz und gar nicht. Ich amüsiere mich nur mit einem müßigen Spiel der Gedanken; Tändelei! Ja, weiter nichts als Tändelei!«

Auf der Straße war eine furchtbare Hitze; dazu noch die drückende Schwüle und das Gedränge; überall Kalkhaufen, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener besondere Sommergestank, den jeder Petersburger, soweit er nicht in der Lage ist, in die Sommerfrische zu gehen, so gut kennt. All dies zerrte plötzlich auf das unangenehmste an den ohnehin schon reizbaren Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Dunst aus den gerade in diesem Stadtteile besonders zahlreichen Kneipen und die Betrunkenen, auf die man trotz Werktag und Arbeitszeit fortwährend stieß, vollendeten das widerwärtige, traurige Kolorit dieses Bildes. Ein Ausdruck des tiefsten Ekels spielte einen Augenblick auf den feinen Zügen des jungen Mannes. (Um dies beiläufig zu erwähnen: er hatte ein ungewöhnlich hübsches Äußeres, schöne, dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war über Mittelgröße, schlank und wohlgebaut.) Aber bald versank er in tiefes Nachdenken oder, richtiger gesagt, in eine Art von Geistesabwesenheit und schritt nun einher, ohne seine Umgebung wahrzunehmen; ja, er wollte sie gar nicht wahrnehmen. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, zufolge jener Neigung, mit sich selbst zu reden, die er sich soeben selbst eingestanden hatte. Gleichzeitig kam ihm auch zum Bewußtsein, daß seine Gedanken sich zeitweilig verwirrten und daß er sehr schwach war: dies war schon der zweite Tag, daß er so gut wie nichts gegessen hatte.

Er war so schlecht gekleidet, daß ein anderer, selbst jemand, der die Armut schon gewohnt war, sich geschämt hätte, bei Tage in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. Übrigens war dieser Stadtteil von der Art, daß es schwer war, durch die Kleidung hier jemand in Verwunderung zu versetzen. Die Nähe des Heumarktes, die übergroße Zahl gewisser Häuser und ganz besonders die Fabrikarbeiter- und Handwerkerbevölkerung, die sich in diesen inneren Straßen und Gassen von Petersburg zusammendrängte, brachten mitunter in das Gesamtbild einen so starken Prozentsatz derartiger Gestalten hinein, daß es sonderbar gewesen wäre, wenn man sich bei der Begegnung mit einer einzelnen solchen Figur hätte wundern wollen. Aber in der Seele des jungen Mannes hatte sich bereits so viel ingrimmige Verachtung angesammelt, daß er trotz all seiner mitunter stark jünglingshaften Empfindlichkeit sich seiner Lumpen auf der Straße nicht mehr schämte. Anders beim Zusammentreffen mit irgendwelchen Bekannten oder mit früheren Kommilitonen, denen er überhaupt nicht gern begegnete … Als indessen ein Betrunkener, der gerade in einem großen Bauernwagen mit einem mächtigen Lastpferde davor auf der Straße irgendwohin transportiert wurde, ihm plötzlich im Vorbeifahren zurief: »He, du! Hast’nen deutschen Deckel auf dem Kopf!«, aus vollem Halse zu brüllen anfing und mit der Hand auf ihn zeigte: da blieb der junge Mann stehen und griff mit einer krampfhaften Bewegung nach seinem Hute. Es war ein hoher, runder Hut, aus dem Hutgeschäft von Zimmermann, aber schon ganz abgenutzt, völlig fuchsig, ganz voller Löcher und Flecke, ohne Krempe und in greulichster Weise eingeknickt. Aber es war nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sich seiner bemächtigte, eine Art Schreck.

›Hab ich’s doch gewußt!‹ murmelte er bestürzt. ›Hab ich’s mir doch gedacht! Das ist das Allerwiderwärtigste! Irgendeine Dummheit, irgendeine ganz gewöhnliche Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist zu auffällig … Er ist lächerlich, und dadurch wird er auffällig. Zu meinen Lumpen ist eine Mütze absolut notwendig, und wäre es auch irgend so ein alter Topfdeckel, aber nicht dieses Ungetüm. So etwas trägt kein Mensch. Eine Werst weit fällt den Leuten so ein Hut auf, und sie erinnern sich daran … Ja, das ist es: sie erinnern sich seiner nachher, und schon ist der Indizienbeweis da. Bei solchen Geschichten muß man möglichst unauffällig sein, … die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten, die sind die Hauptsache! Gerade diese Kleinigkeiten verderben immer alles …‹

Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er sich sein Vorhaben schon lebhaft ausmalte. Damals freilich glaubte er selbst noch nicht an diese seine Phantasiegemälde und kitzelte nur sich selbst mit ihrer grauenhaften, aber verführerischen Verwegenheit. Jetzt, einen Monat später, hatte er bereits angefangen, die Sache anders zu betrachten, und trotz aller höhnischen Monologe über seine eigene Schwäche und Unschlüssigkeit hatte er sich unwillkürlich daran gewöhnt, das »grauenhafte« Phantasiegemälde bereits als ein beabsichtigtes Unternehmen zu betrachten, wiewohl er an seinen Entschluß noch immer selbst nicht recht glaubte. Sein jetziger Ausgang hatte sogar den Zweck, eine Probe für sein Vorhaben zu unternehmen, und mit jedem Schritte wuchs seine Aufregung mehr und mehr.

Das Herz stand ihm fast still, und ein nervöses Zittern überkam ihn, als er sich einem kolossalen Gebäude näherte, das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der …straße zu lag. Dieses Haus hatte lauter kleine Wohnungen, in denen allerlei einfache Leute wohnten: Schneider, Schlosser, Köchinnen, Deutsche verschiedenen Berufes, alleinstehende Mädchen, kleine Beamte usw. Durch die beiden Haustore und auf den beiden Höfen des Hauses war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Hier gab es drei oder vier Hausknechte zur Aufsicht. Der junge Mann war sehr damit zufrieden, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte gleich vom Tore aus unbemerkt rechts eine Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und eng, ein »Wirtschaftsaufgang«; aber er hatte dies alles schon studiert und kannte es, und diese ganze Örtlichkeit gefiel ihm: in solcher Dunkelheit war selbst ein neugierig forschender Blick nicht weiter gefährlich. ›Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie würde es dann erst sein, wenn es wirklich zur sich alle Augenblicke. Der junge Mann mußte sie wohl mit einem eigentümlichen Blick angesehen haben; denn in ihren Augen funkelte auf einmal wieder das frühere Mißtrauen auf.

»Mein Name ist Raskolnikow, Student; ich war schon einmal vor einem Monat bei Ihnen«, beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen; denn es fiel ihm ein, daß er sehr liebenswürdig sein müsse.

»Ich erinnere mich, Väterchen; ich erinnere mich recht gut, daß Sie hier waren«, erwiderte die Alte bedächtig, hielt jedoch dabei weiter ihre fragenden Augen unverwandt auf sein Gesicht geheftet.

»Nun also … ich komme wieder in einer solchen Angelegenheit«, fuhr Raskolnikow fort, etwas befangen und verwundert über das Mißtrauen der Alten.

›Aber vielleicht ist sie immer so, und ich habe es das erstemal nur nicht beachtet?‹, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl.

Die Alte schwieg ein Weilchen, wie wenn sie etwas überlegte, dann trat sie zur Seite und sagte, indem sie auf die ins Zimmer führende Tür zeigte und dem Besucher den Vortritt ließ:

»Treten Sie ein, Väterchen.«

Das kleine Zimmer, in welches der junge Mann eintrat, war gelb tapeziert; an den Fenstern hingen Musselingardinen; auf den Fensterbrettern standen Geranientöpfe; in diesem Augenblick war das Zimmer von der untergehenden Sonne hell erleuchtet. ›Die Sonne wird also auch dann so scheinen!‹ dachte Raskolnikow unwillkürlich und ließ einen schnellen Blick über das ganze Zimmer gleiten, um die Lage und Einrichtung möglichst kennenzulernen und sich einzuprägen. Etwas Besonderes war im Zimmer nicht zu sehen. Das Mobiliar, durchweg sehr alt und aus gelbem Holze, bestand aus einem Sofa mit gewaltiger, geschweifter hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tische vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem Spiegelchen am Fensterpfeiler, einigen Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen, gelb eingerahmten Bildern, welche deutsche Fräulein mit Vögeln in den Händen darstellten – das war die ganze Einrichtung. In der Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde das Lämpchen. Alles war sehr sauber: die Möbel und die Dielen waren blank gerieben; alles glänzte nur so. ›Das ist Lisawetas Werk‹, dachte der junge Mann. In der ganzen Wohnung hätte man kein Stäubchen finden können. ›Bei boshaften alten Witwen ist solche Reinlichkeit häufig‹, fuhr Raskolnikow in seinen Überlegungen fort und schielte forschend nach dem Kattunvorhang vor der Tür nach dem zweiten kleinen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen; in dieses Zimmer hatte er bisher noch nicht hineinschauen können. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern.

»Was wünschen Sie?« fragte die Alte in scharfem Tone, nachdem sie ins Zimmer getreten war und, wie vorher, sich gerade vor ihn hingestellt hatte, um ihm genau ins Gesicht blicken zu können.

»Ich bringe ein Stück zum Verpfänden. Da ist es!«

Er zog eine alte flache silberne Uhr aus der Tasche. Auf dem hinteren Deckel war ein Globus dargestellt. Die Kette war aus Stahl.

»Das frühere Pfand ist auch schon verfallen. Vorgestern war der Monat abgelaufen.«

»Ich will Ihnen für noch einen Monat Zinsen zahlen. Haben Sie noch Geduld.«

»Es steht bei mir, Väterchen, ob ich mich noch gedulden oder Ihr Pfand jetzt verkaufen will.«

»Was geben Sie mir auf die Uhr, Aljona Iwanowna?«

»Sie kommen immer nur mit solchen Trödelsachen, Väterchen. Die hat ja so gut wie gar keinen Wert. Auf den Ring habe ich Ihnen das vorige Mal zwei Scheinchen gegeben; aber man kann ihn beim Juwelier für anderthalb Rubel neu kaufen.«

»Geben Sie mir auf die Uhr vier Rubel; ich löse sie wieder aus; es ist ein Erbstück von meinem Vater. Ich bekomme nächstens Geld.«

»Anderthalb Rubel und die Zinsen vorweg, wenn es Ihnen so recht ist.«

»Anderthalb Rubel!« rief der junge Mann.

»Ganz nach Ihrem Belieben!«

Mit diesen Worten hielt ihm die Alte die Uhr wieder hin. Der junge Mann nahm sie und war so ergrimmt, daß er schon im Begriff stand wegzugehen; aber er besann sich noch schnell eines andern, da ihm einfiel, daß er sonst nirgendwohin gehen konnte und daß er auch noch zu einem andern Zweck gekommen war.

»Nun, dann geben Sie her!« sagte er grob.

Die Alte griff in die Tasche nach den Schlüsseln und ging in das andre Zimmer hinter dem Vorhang. Der junge Mann, der allein mitten im Zimmer stehengeblieben war, horchte mit lebhaftem Interesse und kombinierte. Es war zu hören, wie sie die Kommode aufschloß. ›Wahrscheinlich die obere Schublade‹, mutmaßte er. ›Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche … alle als ein Bund, an einem eisernen Ringe … Und es ist ein Schlüssel dabei, der ist größer als alle andern, dreimal so groß, mit gezacktem Bart; natürlich nicht von der Kommode … Also ist da noch eine Truhe oder ein Kasten … Das ist interessant. Truhen haben immer derartige Schlüssel … Aber wie gemein ist das alles!‹

Die Alte kam zurück.

»Nun also, Väterchen: wenn wir zehn Kopeken vom Rubel monatlich rechnen, dann bekomme ich für anderthalb Rubel von Ihnen für einen Monat fünfzehn Kopeken im voraus. Und für die beiden früheren Rubel bekomme ich von Ihnen nach derselben Berechnung noch zwanzig Kopeken im voraus. Das macht zusammen fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten also jetzt für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Hier, bitte.«

»Wie? Also jetzt nur einen Rubel und fünfzehn Kopeken?«

»Ganz richtig.«

Der junge Mann ließ sich nicht auf einen Streit ein und nahm das Geld. Er sah die Alte an und zauderte mit dem Fortgehen, als wolle er noch etwas sagen oder tun; aber er schien selbst nicht zu wissen, was denn eigentlich.

»Vielleicht bringe ich Ihnen nächstens noch ein Pfandstück, Aljona Iwanowna, … ein schönes … silbernes … Zigarettenetui, … sobald ich es von einem Freunde zurückbekomme …«

Er wurde verlegen und schwieg.

»Nun, darüber können wir ja dann später sprechen, Väterchen.«

»Adieu … Aber sitzen Sie denn immer so allein zu Hause? Ist Ihre Schwester nicht da?« fragte er möglichst harmlos, während er in das Vorzimmer hinaustrat.

»Was wollen Sie denn von ihr, Väterchen?«

»Nun, nichts Besondres. Ich fragte nur so. Aber Sie müssen auch gleich … Adieu, Aljona Iwanowna!«

Raskolnikow ging in hochgradiger Erregung hinaus. Und seine Erregung wuchs noch immer mehr. Als er die Treppe hinunterstieg, blieb er sogar einigemal stehen, wie wenn ihn ein Gedanke plötzlich ganz übermannt hätte. Und endlich – er war schon auf der Straße – rief er aus:

»O Gott, wie scheußlich das alles ist! Werde ich denn … werde ich denn wirklich … nein, das ist ja ein Unsinn, eine Absurdität!« fügte er entschlossen hinzu. »Wie konnte mir so etwas Gräßliches überhaupt nur in den Sinn kommen? Welcher schmutzigen Gedanken ist meine Seele doch fähig! Ja, es ist eine schmutzige, abscheuliche, ekelhafte, Sache. Und ich habe einen ganzen Monat lang …«

Aber keine Worte und keine Ausrufe waren imstande, seiner Erregung Ausdruck zu geben. Das Gefühl eines gewaltigen Ekels, das schon vorhin sein Herz bedrückt und beklemmt hatte, als er noch auf dem Wege zu der Alten gewesen war, nahm jetzt solche Dimensionen an und trat in solcher Schärfe hervor, daß er nicht wußte, was er vor Unruhe tun sollte. Er ging auf dem Trottoir wie ein Betrunkener, bemerkte die Begegnenden gar nicht und stieß mit ihnen zusammen; erst in der nächsten Straße kam er zur Besinnung. Um sich blickend, gewahrte er, daß er vor einer Kneipe stand, zu der man vom Trottoir eine Treppe hinabstieg, ins Souterrain. Aus der Tür kamen gerade in diesem Augenblick zwei Betrunkene heraus und stiegen, indem sie sich wechselseitig stützten, unter Schimpfworten zur Straße hinauf. Ohne sich lange zu besinnen, stieg Raskolnikow hinunter. Er war noch nie in einem solchen Lokale gewesen; aber jetzt war ihm der Kopf ganz schwindlig, dazu quälte ihn ein brennender Durst. Es verlangte ihn, ein Glas kaltes Bier zu trinken, um so mehr, da er seine plötzliche Schwäche auch auf Rechnung seines leeren Magens setzte. Er nahm in einem dunklen, schmutzigen Winkel an einem klebrigen Tischchen Platz, bestellte Bier und trank gierig das erste Glas aus. Sofort wurde ihm leichter ums Herz, und seine Gedanken klärten sich. ›Das ist ja lauter dummes Zeug‹, sagte er wieder hoffnungsvoll zu sich selbst, ›und es war gar kein Grund zur Aufregung. Eine rein physische Störung! Ein einziges Glas Bier, ein Bissen Brot – und im Augenblick hat sich der Verstand erholt, das Denken wird klar, der Wille fest! Pfui über diese ganze Jämmerlichkeit!‹ Aber obwohl er bei den letzten Worten verächtlich ausspie, sah er schon heiter aus, als wäre er plötzlich von einer furchtbaren Last befreit, und betrachtete mit freundlichen Blicken die anderen Gäste. Doch selbst in diesem Augenblick ahnte er ganz von fern, daß diese ganze Empfänglichkeit für bessere Regungen bei ihm gleichfalls etwas Krankhaftes an sich habe.

In der Schenke waren nur noch wenige Leute. Außer jenen beiden Betrunkenen, denen er an der Treppe begegnet war, hatte unmittelbar nach ihnen noch eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und eine Dirne, mit einer Ziehharmonika das Lokal verlassen. Nach ihrem Weggehen war es still geworden; auch war nun mehr Raum. Zurückgeblieben waren: ein Mann, der bei seinem Biere saß, betrunken, jedoch nicht übermäßig, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; ferner sein Kumpan, ein dicker, sehr großgewachsener Kerl mit grauem Barte; er hatte einen kurzen Kaftan an, war sehr stark betrunken und lag schlafend auf einer Bank; mitunter aber breitete er auf einmal wie in halbwachem Zustande die Arme weit auseinander, schnipste mit den Fingern und schnellte mit dem Oberkörper in die Höhe, ohne jedoch von der Bank aufzustehen; dazu sang er irgendwelchen Unsinn, indem er sein Gedächtnis anstrengte, um sich auf Verse von dieser Art zu besinnen:

»Daß ich – zärtlich zu ihr – war,
Währte – wohl ein ganzes Jahr.«

Oder er wachte auf einmal auf und grölte:

»Auf dem Promenadenplatz
Traf ich meinen einst’gen Schatz.«

Aber niemand nahm an seinem Glücke Anteil; sein schweigsamer Kumpan betrachtete diese Ausbrüche sogar mit Mißtrauen und Feindseligkeit. Es war außerdem noch ein Mann da, anscheinend ein früherer Beamter. Er saß allein für sich bei seiner Flasche Branntwein und seinem Glase; ab und zu nahm er einen Schluck und sah sich um. Er befand sich, wie es schien, gleichfalls in einiger Aufregung.

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