Kapitel 8

I

So lag er sehr lange. Mitunter wurde er halb wach und bemerkte in solchen Augenblicken, daß es schon längst Nacht sei; aufzustehen kam ihm gar nicht in den Sinn. Endlich nahm er wahr, daß die Morgendämmerung bereits angebrochen war. Er lag rücklings auf dem Sofa, noch ganz starr von der bisherigen Bewußtlosigkeit. Ein schreckliches, wildes Geheul schlug von der Straße her schrill an sein Ohr; dieses Geheul hörte er übrigens jede Nacht zwischen zwei und drei Uhr unter seinem Fenster, und es war auch jetzt die Ursache seines Erwachens gewesen. ›Aha! Da kommen auch schon die Betrunkenen aus den Kneipen‹, dachte er. ›Es ist zwei durch.‹ Plötzlich fuhr er auf, als ob ihn jemand vom Sofa in die Höhe gerissen hätte. ›Wie? Schon zwei durch!‹ Er setzte sich auf – und nun fiel ihm alles ein! In einer Sekunde erinnerte er sich wieder an alles.

Im ersten Augenblicke glaubte er, er würde wahnsinnig werden. Ein furchtbarer Frost überfiel ihn; aber dieser Frost kam von dem Fieber her, das sich schon längst während des Schlafes in seinem Körper entwickelt hatte. Jetzt packte ihn ein solcher Kälteschauer, daß ihm die Zähne klapperten und ihm alle Glieder steif wurden. Er öffnete die Tür und horchte; im Hause schlief alles fest. Erschrocken besah er sich selbst und alles ringsherum im Zimmer und begriff gar nicht, wie es nur möglich gewesen war, daß er gestern beim Nachhausekommen die Tür nicht zugeschlossen und sich in den Kleidern, ja sogar mit dem Hut auf dem Kopfe auf das Sofa geworfen hatte. Der Hut war heruntergerollt und lag auf dem Fußboden neben dem Kissen. ›Wenn nun jemand hereingekommen wäre, was hätte sich der gedacht? Gewiß, daß ich betrunken wäre, aber …‹ Er stürzte zum Fenster hin. Es war schon hell genug, und er musterte sich schleunigst, vom Kopfe bis zu den Füßen, vollständig, seine ganze Kleidung, ob auch nicht Blutspuren daran seien. Aber das ließ sich so auf dem Körper nicht gut ausführen; zitternd vor Frost, zog er alle Kleidungsstücke aus und untersuchte jedes von allen Seiten. Er wendete alles, bis auf den letzten Faden und Fetzen, hin und her, und da er sich selbst nicht traute, wiederholte er die Besichtigung dreimal. Aber es schienen keine Spuren vorhanden zu sein; nur da, wo die Hosen unten zerfasert waren und die Fransen herunterhingen, saßen an diesen Fransen dicke Klümpchen geronnenen Blutes. Er nahm sein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Weiter schien nichts da zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die Pfandstücke, die er bei der Alten aus der Truhe herausgenommen hatte, immer noch sämtlich in seinen Taschen steckten! Er hatte bis jetzt noch gar nicht daran gedacht, sie herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt hatte er sich daran erinnert, als er seinen Anzug revidierte. Wie war es nur möglich! Sofort zog er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles hervorgeholt und sogar die Taschen umgewendet hatte, um sich zu vergewissern, daß auch wirklich nichts darin geblieben sei, trug er den ganzen Haufen in eine Ecke. Dort hatte unten im innersten Winkel an einer Stelle die Tapete, die sich von der Wand abgelöst hatte, einen Riß; sofort stopfte er alles in dieses Loch unter die Tapete. ›Es ist hineingegangen; es ist nichts mehr zu sehen, auch der Beutel nicht!‹ dachte er erfreut, indem er langsam aufstand und stumpfsinnig nach der Ecke und dem Risse hinstarrte, der nun noch breiter klaffte. Da fuhr er wieder erschrocken zusammen: ›Mein Gott‹, flüsterte er verzweifelt, ›was ist nur mit mir? Heißt denn das verstecken? Versteckt man denn etwas so?‹

Er hatte ja allerdings nicht auf Wertgegenstände gerechnet; er hatte geglaubt, er würde nur Geld erbeuten, und darum nicht im voraus Verstecke zurechtgemacht. ›Aber worüber habe ich mich denn jetzt eben gefreut?‹ dachte er. ›Versteckt man denn etwas so? Wahrhaftig, aller Verstand läßt mich ja im Stiche!‹ Ganz matt setzte er sich auf das Sofa, und sogleich schüttelte ihn wieder ein unerträglicher Frostschauder. Neben ihm auf dem Stuhle lag der warme, aber jetzt schon ganz zerlumpte Winterüberzieher, den er als Student getragen hatte; den zog er mechanisch zu sich heran und deckte sich damit zu; sofort verfiel er wieder in Schlaf und Fieberphantasien. Er war bewußtlos.

Aber schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und fiel von neuem wie rasend über seine Kleider her. ›Wie konnte ich nur wieder einschlafen, wo doch noch nichts getan ist! Ich habe ja wahrhaftig die Schlinge unter der Achsel noch nicht abgemacht! Ich habe es vergessen! So etwas Wichtiges habe ich vergessen! Ein solches Beweisstück!‹ Er riß die Schlinge ab, riß sie schnell in Stücke und stopfte diese unter das Kissen zwischen die Wäsche. ›Stücke von zerrissener Leinwand werden ja doch wohl in keinem Falle Verdacht erregen, möchte ich meinen!‹ flüsterte er, mitten im Zimmer stehend, vor sich hin; und indem er seine Aufmerksamkeit so anstrengte, daß es ihn physisch schmerzte, begann er wieder ringsumher, auf dem Fußboden und überall, Umschau zu halten, ob er nicht doch noch etwas vergessen habe. Das Gefühl, daß alles, sogar das Gedächtnis, sogar die einfache Denkkraft ihn im Stiche lasse, quälte ihn in unerträglicher Weise. ›Wie? Fängt es wirklich jetzt schon an? Kommt wirklich jetzt schon die Strafe? Wahrhaftig?‹ In der Tat lagen die Fransen, die er von den Hosen abgeschnitten hatte, offen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, so daß sie der erste, der eintrat, sehen mußte. »Was ist denn nur mit mir!« rief er wieder ganz fassungslos.

Da kam ihm ein sonderbarer Gedanke in den Sinn: vielleicht war auch sein ganzer Anzug blutig, vielleicht war eine ganze Menge Flecken daran; aber er sah sie nur nicht, bemerkte sie nicht, weil seine Denkkraft geschwächt und vermindert, sein Verstand verdunkelt war. Auf einmal fiel ihm ein, daß auch an dem Beutel Blut gewesen war. ›Ha, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ja der Beutel damals, als ich ihn in die Tasche steckte, noch feucht war.‹ Eilig drehte er die Tasche um, und wahrhaftig! an dem Taschenfutter befanden sich Flecke, Blutspuren! ›Also versagen meine geistigen Fähigkeiten doch noch nicht ganz; also besitze ich doch noch Denkkraft und Gedächtnis, da ich dies überlegt und kombiniert habe!‹ dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und froh auf. ›Es war einfach eine vom Fieber herrührende Schwäche, eine momentane Geistesverwirrung!‹ sagte er sich und riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblicke fiel ein heller Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel: an dem Strumpfe, der aus dem Stiefel hervorsah, schienen Blutspuren zu sein! Er zog den Stiefel aus: ›Wahrhaftig, es sind Blutspuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut getränkt!‹ Jedenfalls war er damals unachtsamerweise in die Blutlache hineingetreten. ›Aber was soll ich nun damit anfangen? Wo soll ich den Strumpf und die Fransen und die Tasche lassen?‹

Er raffte alles mit beiden Händen zusammen und stand mitten im Zimmer da. ›In den Ofen? Aber im Ofen werden sie zu allererst herumstöbern. Verbrennen? Aber womit? Ich habe ja nicht einmal Streichhölzer. Nein, das beste ist schon, ich gehe draußen irgendwohin und werfe alles weg. Ja, das beste ist, alles wegzuwerfen!‹ sagte er sich und setzte sich wieder auf das Sofa. ›Und zwar sofort, diesen Augenblick, unverzüglich …‹ Aber statt daß er dies tat, sank sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder packte ihn jener unerträgliche eisige Schauder; wieder zog er den Winterpaletot auf seinen Körper. Längere Zeit noch, mehrere Stunden lang, flackerte in seinem Kopfe von Zeit zu Zeit der Gedanke auf: ›Sofort, ohne zu zaudern, muß ich irgendwohin gehen und alles wegwerfen, damit nichts mehr davon zu sehen ist; schnell, ganz schnell!‹ Mehrere Male richtete er sich auf dem Sofa auf und versuchte aufzustehen; aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Schließlich machte ihn ein starkes Klopfen an der Tür wach.

»Mach doch auf! Lebst du noch oder nicht? Immer schläft er und schläft!« schrie Nastasja und schlug mit der Faust gegen die Tür. »Den ganzen lieben, langen Tag schläft er wie ein Faultier. Und er ist auch ein Faultier. Mach auf, sag ich. Es geht schon auf elf!«

»Vielleicht ist er gar nicht zu Hause«, sagte eine Männerstimme.

›Ha, das ist die Stimme des Hausknechts … Was will denn der?‹

Er sprang auf und setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin. Das Herz klopfte ihm so stark, daß es ihm weh tat.

»Wer hat denn den Riegel vorgelegt?« erwiderte Nastasja. »Nun sieh mal einer, er hat angefangen, die Tür zuzuriegeln! Es könnte ihn ja einer wegstehlen! Mach auf, Mensch du, und werde endlich wach!«

›Was wollen die? Warum ist der Hausknecht da? Gewiß ist alles entdeckt. Soll ich Widerstand leisten oder aufmachen? Mag das Unheil seinen Gang nehmen …‹

Er erhob sich ein wenig, beugte sich vornüber und nahm den Riegel ab.

Sein ganzes Zimmer war von so geringen Dimensionen, daß man den Riegel abnehmen konnte, ohne vom Bette aufzustehen.

Richtig: an der Tür standen der Hausknecht und Nastasja.

Nastasja betrachtete ihn mit eigentümlich forschenden Blicken. Er selbst blickte mit verzweifelter und zugleich herausfordernder Miene den Hausknecht an. Der hielt ihm, ohne ein Wort zu sagen, ein graues, zweimal zusammengefaltetes Stück Papier hin, das mit gewöhnlichem Flaschenlack versiegelt war.

»Eine Vorladung, aus dem Bureau«, bemerkte er, als er ihm das Papier übergab.

»Aus was für einem Bureau?«

»Zur Polizei sollen Sie kommen, aufs Polizeibureau. Natürlich aufs Polizeibureau!«

»Aufs Polizeibureau? … Warum?«

»Weiß ich’s? Sie werden vorgeladen, also gehen Sie nur hin!«

Er musterte ihn aufmerksam, sah sich um und machte kehrt, um wieder fortzugehen.

»Du bist wohl ganz krank geworden?« sagte Nastasja, ihn unverwandt ansehend. Auch der Hausknecht wendete für einen Augenblick den Kopf. »Er fiebert schon seit gestern«, fügte sie hinzu.

Raskolnikow entgegnete nichts und hielt das Schriftstück in der Hand, ohne es zu öffnen.

»Steh nur lieber nicht auf«, fuhr Nastasja fort; er tat ihr leid, als sie sah, daß er die Beine vom Sofa herunternahm. »Wenn du krank bist, so geh nicht hin. So eilig wird’s ja nicht sein. Was hast du denn da in der Hand?«

Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen der herausgerissenen Tasche. So hatte er damit geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte er sich, daß er jedesmal, wenn er in der Fieberhitze halb wach geworden war, all diese Dinge von neuem fest in der Hand zusammengepreßt hatte und so wieder eingeschlafen war.

»Na, so was! Hat sich ein paar Lumpen zusammengesucht und schläft damit, wie wenn er einen Schatz hütete …«

Und Nastasja brach in ihr lautloses, krampfhaftes Gelächter aus.

Schleunigst schob er alles unter den Paletot und heftete einen starren, prüfenden Blick auf sie. Obwohl er zu vernünftigen Überlegungen in diesem Augenblicke nur sehr wenig fähig war, so sagte er sich doch, daß man mit einem Menschen, den man verhaften wolle, wohl anders verfahre. – ›Aber trotzdem …, die Polizei?‹

»Du solltest ein bißchen Tee trinken! Willst du welchen? Ich bringe dir welchen; es ist noch übrig …«

»Nein, … ich will hingehen, ich will gleich hingehen«, murmelte er und stellte sich auf die Füße.

»Du kommst ja wohl gar nicht die Treppe hinunter!«

»Ich will hingehen.«

»Na, wie du willst.«

Sie folgte dem vorangegangenen Hausknechte und ging weg. Sofort stürzte er ans Licht, um sich den Strumpf und die Fransen zu besehen. ›Flecken sind da, aber nicht sehr bemerkbar; es ist alles von Schmutz verdeckt, und die Farbe ist schon sehr matt geworden. Wer es nicht schon vorher weiß, sieht nichts. Nastasja hat gewiß von weitem nichts bemerken können; Gott sei Dank!‹ Dann erbrach er mit zitternder Hand die Vorladung und begann zu lesen. Er mußte lange lesen, bis er endlich den Sinn begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung aus dem Polizeirevier, er solle am heutigen Tage um halb zehn im Bureau des Revieraufsehers erscheinen.

›Das ist ja noch nie dagewesen! Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute?‹ fragte er sich in qualvoller Ungewißheit. ›O Gott, wenn es nur schnell zu Ende wäre!‹ Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber selbst, nicht über das Gebet, sondern über sich. Er zog sich eilig an. ›Wenn ich ins Unglück renne, mir ganz gleich! Ob ich den Strumpf anziehe?‹ überlegte er. ›Er wird dann im Staube noch schmutziger, und die Spuren verschwinden.‹ Aber kaum hatte er ihn angezogen, da riß er ihn auch schon wieder voll Ekel und Angst herunter. Nachdem er indessen überlegt hatte, daß er keinen anderen habe, zog er ihn doch wieder an – und lachte wieder auf. ›All solche Empfindungen sind rein konventionell, nur relativ, bloße Äußerlichkeiten‹, dachte er nur ganz flüchtig, wobei er aber am ganzen Leibe zitterte; ›nun habe ich ihn ja doch angezogen! Schließlich habe ich ihn ja doch angezogen!‹ Aber das Lachen ging sofort in Verzweiflung über ›Nein, das geht über meine Kraft …‹, dachte er. Die Beine zitterten ihm. ›Vor Angst‹, murmelte er vor sich hin. Der Kopf war ihm schwindlig und tat ihm weh von der Fieberhitze. ›Das ist eine List! Sie wollen mich durch diese List hinlocken und mich dann plötzlich überrumpeln‹, redete er zu sich weiter, als er auf die Treppe hinaustrat. ›Recht verdrießlich ist, daß ich fast im Fieber rede; wie leicht kann ich da irgendeine Dummheit sagen!‹

Auf der Treppe fiel ihm ein, daß er all die Wertsachen so mangelhaft verwahrt in der Höhlung hinter der Tapete zurückgelassen hatte. ›Und vielleicht benutzen sie gerade meine Abwesenheit zu einer Haussuchung‹, überlegte er und blieb stehen. Aber eine solche Verzweiflung, ja, man möchte sagen, eine solche herausfordernde Dreistigkeit seinem eigenen Verderben gegenüber hatte in seiner Seele Platz gegriffen, daß er mit der Hand eine Gebärde machte, als sei dies ja alles völlig gleichgültig, und weiterging.

›Nur schnell, so schnell wie möglich!‹

Auf der Straße herrschte wieder eine unerträgliche Hitze; diese ganzen Tage her war kein Tropfen Regen gefallen. Wieder Staub, Ziegel, Kalkdunst; wieder der üble Geruch aus den Kramläden und Kneipen, wieder auf Schritt und Tritt Betrunkene, finnische Hausierer und invalide Droschken. Die Sonne schien ihm blendend in die Augen, so daß ihm das Sehen Schmerz machte und der Kopf ihm ganz benommen war – die gewöhnliche Empfindung eines Fieberkranken, der plötzlich auf die Straße in den hellen Sonnenschein hinaustritt.

Als er an die Ecke kam, wo die »gestrige« Straße einmündete, warf er in qualvoller Unruhe einen Blick hinein, nach »jenem« Hause; … aber er wendete sofort die Augen wieder weg.

›Wenn sie mich danach fragen sollten, sage ich vielleicht einfach alles‹, dachte er, als er sich dem Polizeibureau näherte.

Das Bureau war von seiner Wohnung nur etwa fünf Minuten entfernt. Es hatte eben erst neue Räume bezogen, die im dritten Stock eines neuen Hauses lagen. In den alten Diensträumen war er einmal auf einen Augenblick gewesen; aber das war schon sehr lange her. Als er in den Torweg trat, sah er rechts eine Treppe, auf der ein ärmlich gekleideter Mann mit einem Büchelchen in der Hand herunterkam. ›Ein Hausknecht‹, sagte sich Raskolnikow, ›also ist hier das Polizeibureau.‹ Er ging aufs Geratewohl die Treppe hinauf. Sich bei jemand zu erkundigen, dazu hatte er keine Neigung.

›Ich werde hineingehen, mich auf die Knie werfen und alles erzählen‹, dachte er, als er zum dritten Stockwerk gelangte.

Die Treppe war schmal, steil und ganz mit Spülicht begossen. Alle Küchen aller Wohnungen in allen vier Geschossen gingen auf diese Treppe hinaus und standen fast den ganzen Tag offen. Daher war dort eine gräßliche Luft. Herauf und herunter kamen und gingen Polizisten, Hausknechte mit Büchern unter dem Arm und allerlei andre Leute beiderlei Geschlechts, die auf dem Bureau etwas zu erledigen hatten. Die Tür zu dem Bureau selbst stand gleichfalls sperrangelweit offen. Er ging hinein und blieb im Vorzimmer stehen, wo eine Menge einfacher Leute stand und wartete. Auch hier war eine furchtbar stickige Luft, und außerdem verbreitete der frische, noch nicht ordentlich trockene Anstrich der Zimmer mit unreinem Firnis einen Geruch, von dem einem übel werden konnte. Nachdem er ein Weilchen gewartet hatte, entschloß er sich, noch weiter, ins nächste Zimmer, zu gehen. Es waren lauter kleine, niedrige Räume. Eine schreckliche Ungeduld trieb ihn immer weiter. Niemand beachtete ihn. In dem zweiten Zimmer saßen, mit Schreiben beschäftigt, einige Schreiber, dem Äußeren nach eine sonderbare Gesellschaft, obwohl sie ein wenig besser gekleidet waren als er. Er wendete sich an einen von ihnen.

»Was willst du?«

Er zeigte die Vorladung, die ihm vom Bureau zugegangen war.

»Sie sind Student?« fragte der Schreiber nach einem Blick in die Vorladung.

»Ja, gewesener Student.«

Der Schreiber musterte ihn, jedoch ohne alle Neugier. Es war ein Mensch mit auffällig unordentlichem Haar und mit einem eigentümlich starren Blick.

›Von dem wird nichts zu erfahren sein; dem ist ja alles gleichgültig!‹ dachte Raskolnikow.

»Gehen Sie dorthin, zum Sekretär!« sagte der Schreiber und wies mit dem ausgestreckten Finger nach dem letzten Zimmer.

Er ging in dieses Zimmer hinein, das vierte in der Reihe; es war nur klein und gedrängt voll von Menschen; das Publikum war hier etwas besser gekleidet als in den andern Zimmern. Darunter befanden sich auch zwei Damen. Die eine, in ärmlicher Trauerkleidung, saß an einem Tische dem Sekretär gegenüber und schrieb etwas, was ihr dieser diktierte. Die andre Dame, eine sehr volle, stattliche Figur, im Gesichte purpurrot mit noch dunkleren Flecken, luxuriös gekleidet, am Halse eine Brosche in der Größe einer Untertasse, stand etwas abseits und wartete. Raskolnikow schob dem Sekretär seine Vorladung hin. Dieser sah sie flüchtig an und sagte: »Warten Sie ein wenig!« Dann fuhr er fort, sich mit der Dame in Trauer zu beschäftigen.

Raskolnikow atmete nun freier und leichter. ›Es ist sicher etwas anderes!‹ Er faßte allmählich Mut; mit aller Macht ermahnte er sich selbst, Mut zu haben und nicht den Kopf zu verlieren.

›Irgendeine Dummheit, irgendeine noch so geringe Unvorsichtigkeit, und ich kann mich ganz und gar verraten!

Hm! … Schlimm, daß hier keine frische Luft ist‹, dachte er weiter. ›Eine schreckliche Atmosphäre … Der Kopf schwindelt mir noch mehr davon … und der Verstand auch …‹

Er fühlte, daß bei ihm Körper und Geist in arger Unordnung waren, und fürchtete, er werde sich nicht in der Gewalt haben. Er gab sich alle Mühe, sich mit seinen Gedanken an irgend etwas anzuklammern, an etwas ganz Nebensächliches zu denken; aber das wollte ihm schlechterdings nicht gelingen.

Doch den Sekretär betrachtete er sehr angelegentlich; gern hätte er aus seiner Miene Schlüsse gezogen, seine Absichten erraten. Es war ein noch sehr junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit einem gebräunten, lebhaften Gesichte, das ihn älter erscheinen ließ, als er wirklich war; gekleidet war er modisch und stutzerhaft; dazu war er sorgsam frisiert, mit Nackenscheitel, und pomadisiert; an den weißen Fingern mit den sauber gebürsteten Nägeln trug er eine Menge von Ringen, auf der Weste eine goldene Uhrkette. Mit einem anwesenden Ausländer sprach er sogar ein paar Worte Französisch, und zwar nicht schlecht.

»Setzen Sie sich doch, Luisa Iwanowna«, sagte er lässig zu der geputzten Dame mit dem roten Gesichte, die immer noch stand, als wage sie sich nicht hinzusetzen, obgleich ein Stuhl neben ihr stand.

»Ich danke«, sagte sie auf deutsch und ließ sich sachte mit leisem Seidengeknister auf dem Stuhle nieder. Ihr hellblaues, mit weißen Spitzen besetztes Kleid umgab den Stuhl wie ein Luftballon und nahm fast das halbe Zimmer ein. Eine Wolke von Parfümduft verbreitete sich. Aber die Dame genierte sich offenbar, weil sie so viel Platz einnahm und so stark duftete; sie lächelte zwar in einer zugleich ängstlichen und unverschämten Art; jedoch ihre Unruhe war unverkennbar.

Die Dame in Trauer war endlich fertig und stand auf. Da trat geräuschvoll, mit sehr forschem Wesen und jeden Schritt mit eigentümlichen Schulterdrehungen begleitend, ein Polizeioffizier ein, warf seine kokardengeschmückte Uniformmütze auf den Tisch und setzte sich in einen Lehnstuhl. Als die geputzte Dame ihn erblickte, sprang sie hurtig von ihrem Platze auf und machte ihm mit besonderer Liebenswürdigkeit eine Anzahl von Knicksen; aber der Polizeioffizier schenkte ihr nicht die geringste Beachtung, und sie getraute sich nun nicht mehr, in seiner Anwesenheit wieder Platz zu nehmen. Es war der Stellvertreter des Revieraufsehers; sein rötlicher Schnurrbart war horizontal nach beiden Seiten lang ausgezogen; sein auffällig kleines Gesicht drückte außer einer gewissen Frechheit nichts Besonderes aus. Er sah Raskolnikow von der Seite einigermaßen mißbilligend an: der Anzug dieses Menschen war doch gar zu schäbig, und sein Benehmen schien mit diesem armseligen Äußern nicht recht im Einklang zu stehen. Raskolnikow hatte nämlich die Unvorsichtigkeit begangen, ihn zu lange und zu scharf anzustarren, so daß der so Fixierte ordentlich ärgerlich wurde. »Was willst du?« schrie er; er mochte wohl erstaunt darüber sein, daß ein solcher Lumpenkerl überhaupt nicht daran dachte, unter seinen blitzenden Blicken in sich zusammenzukriechen.

»Ich bin hierher bestellt … durch Vorladung …«, antwortete Raskolnikow nachlässig.

»Die Vorladung ist in einer Schuldklage erfolgt«, warf der Sekretär eilig dazwischen, indem er von dem Schriftstücke, mit dem er beschäftigt war, aufblickte. »Er ist Student, und es soll von ihm Geld beigetrieben werden.« Er wandte sich an Raskolnikow: »Hier, lesen Sie das durch!« sagte er, indem er ihm in einem Aktenhefte eine Stelle zeigte und es ihm dann herüberwarf.

›Geld? Was für Geld?‹ dachte Raskolnikow. ›Also ist es jedenfalls nicht die andre Sache!‹ Er fuhr vor Freude zusammen. Es wurde ihm auf einmal unsagbar leicht ums Herz; er fühlte sich von einer schweren Last befreit.

»Und auf welche Stunde sind Sie vorgeladen, mein Herr?« schrie der Polizeileutnant, der ohne eigentlichen Grund immer mehr in seinen Ärger hineingeriet. »Sie sind auf neun Uhr herbestellt, und jetzt ist es schon weit nach elf Uhr!«

»Die Vorladung ist mir erst vor einer Viertelstunde gebracht worden«, entgegnete Raskolnikow laut und über die Achsel weg. Auch er fing nun an, ärgerlich zu werden, und fand sogar ein gewisses Vergnügen darin. »Es ist schon viel von mir, daß ich überhaupt gekommen bin; denn ich bin fieberkrank.«

»Schreien Sie nicht so!«

»Ich schreie nicht, ich rede ganz ruhig; aber Sie schreien mich an. Ich bin Student und lasse mich nicht so anschreien.«

Der Polizeileutnant wurde so wütend, daß er im ersten Augenblicke überhaupt kein Wort herausbringen konnte, sondern nur ein paar zischende Töne hervorsprudelte. Er sprang von seinem Platze auf.

»Schweigen Sie! Sie befinden sich hier in Amtsräumen! Ich verbitte mir Ihre Grobheiten, Herr!«

»Sie befinden sich doch auch in Amtsräumen«, rief Raskolnikow. »Aber trotzdem schreien Sie nicht nur, sondern Sie rauchen sogar eine Zigarette; eine Rücksichtslosigkeit gegen uns alle.«

Es war ihm ein wahrer Genuß, dem Polizeileutnant dies zu sagen.

Der Sekretär sah die beiden lächelnd an. Der hitzige Polizeileutnant war offenbar ganz verblüfft.

»Das geht Sie gar nichts an!« schrie er endlich überlaut. »Geben Sie lieber die Auskunft, die von Ihnen verlangt wird! Zeigen Sie ihm doch einmal die Sache, Alexander Grigorjewitsch! Es ist eine Klage gegen Sie eingegangen. Sie bezahlen Ihre Schulden nicht. Sie scheinen ja ein nobler Patron zu sein!«

Aber Raskolnikow hörte nicht mehr auf ihn, sondern griff begierig nach dem Schriftstück, um möglichst bald ins klare zu kommen. Er las es einmal, zweimal durch, ohne es zu verstehen.

»Was steht denn eigentlich darin?« fragte er den Sekretär.

»Man verlangt von Ihnen Zahlung auf Grund eines Schuldscheines. Sie müssen entweder den Betrag einschließlich aller Gebühren, Strafgelder usw. entrichten oder eine schriftliche Erklärung darüber abgeben, wann Sie voraussichtlich imstande sein werden zu zahlen, und sich zugleich verpflichten, vor Zahlung sich nicht aus der Stadt zu entfernen und von Ihrer Habe nichts zu verkaufen oder zu verbergen. Der Gläubiger aber ist bei Nichtzahlung berechtigt, Ihre Habe zu verkaufen und mit Ihnen nach Maßgabe der Gesetze zu verfahren.«

»Aber … aber ich bin niemandem etwas schuldig.«

»Das ist nicht unsre Sache. Uns ist hier ein verfallener und in gesetzlicher Form protestierter Schuldschein über einhundertundfünfzehn Rubel zur Beitreibung zugegangen, den Sie der verwitweten Frau Kollegienassessor Sarnizyna vor neun Monaten ausgestellt haben und der von der verwitweten Frau Sarnizyna durch Kauf an den Hofrat Tschebarow übergegangen ist; wir fordern Sie deshalb auf, sich darüber zu erklären.«

»Aber das ist ja meine Wirtin!«

»Nun, was tut das zur Sache, daß sie Ihre Wirtin ist?«

Der Sekretär sah ihn mit einem herablassenden Lächeln an, in welchem einerseits Mitleid und Bedauern, andrerseits aber auch ein gewisses Gefühl des Triumphes zum Ausdruck kam, wie über einen Neuling, der zum ersten Male in die Lehre genommen wird. ›Nun‹, sagte sein Lächeln, ›wie ist dir jetzt zumute?‹

Aber was machte Raskolnikow sich jetzt aus einem Schuldscheine und aus der Beitreibung einer Forderung! Um so etwas brauchte er sich jetzt nicht zu beunruhigen; das verdiente überhaupt keine Beachtung. Er stand da, las, hörte, antwortete, stellte sogar selbst Fragen, aber alles rein mechanisch. Das Gefühl des Triumphes darüber, daß er vor dem Untergange bewahrt blieb, die Freude über seine Rettung aus der Gefahr, die ihn bedroht hatte, das erfüllte in diesem Augenblicke sein ganzes Wesen. Alles andre hatte den Platz räumen müssen: die Vorausberechnung der Zukunft, die Zergliederung der eigenen Empfindungen, das Aufgeben und Lösen von Rätseln, die quälenden Zweifel und die immer aufs neue auftauchenden Fragen. Dies war ein Augenblick ganz unmittelbar wirkender, rein animalischer Freude. Aber in ebendiesem Augenblicke spielte sich im Bureau eine Art von Gewitter mit Blitz und Donner ab. Der Polizeileutnant, der über Raskolnikows respektloses Benehmen immer noch sehr erregt und aufgebracht war und offenbar seine erschütterte Autorität wieder zu festigen wünschte, schüttete seinen ganzen Grimm über die unglückliche geputzte Dame aus, die ihn seit seinem Eintritte unausgesetzt mit einem außerordentlich dummen Lächeln angeblickt hatte.

»Ach du, du Person du, na ja, du bist die Richtige!« schrie er plötzlich aus vollem Halse (die Dame in Trauer war bereits weggegangen). »Was ist da bei dir in der vorigen Nacht passiert? Die Schweinerei und Liederlichkeit war ja wieder mal auf der ganzen Straße zu hören! Wieder mal Prügelei und Besoffenheit! Du spekulierst wohl aufs Arbeitshaus? Ich habe es dir ja doch gesagt, zehnmal habe ich es dir ja schon angekündigt, daß ich dich beim elften Male nicht wieder durchlassen werde! Aber du – immer und immer wieder! Du abscheuliches Frauenzimmer, du nichtsnutzige Person du!«

Raskolnikow ließ erstaunt das Schriftstück aus den Händen fallen und blickte ganz entsetzt die geputzte Dame an, mit der so wenig Umstände gemacht wurden. Aber bald begriff er, worum es sich handelte, und sofort fing diese ganze Geschichte an, ihm viel Spaß zu machen. Er hörte mit Vergnügen zu, so daß er sogar Lust bekam zu lachen, einmal über das andre Mal zu lachen … Es kitzelte ihn an allen Nerven.

»Aber Ilja Petrowitsch!« begann der Sekretär in beschwichtigendem Tone, hielt dann aber inne, um den richtigen Augenblick abzuwarten; denn wenn der Polizeileutnant einmal in Wut geraten war, konnte man ihn nur zurückhalten, wenn man ihn fest an den Händen packte; das wußte der Sekretär aus eigener Erfahrung.

Was die geputzte Dame anlangt, so zitterte und bebte sie anfangs bei dem gewaltigen Unwetter, das über sie herniederging; aber merkwürdig! je zahlreicher und kräftiger die Schimpfwörter wurden, um so liebenswürdiger wurde ihre Miene, um so bezaubernder ihr Lächeln dem grimmigen Polizeileutnant gegenüber. Sie trippelte an derselben Stelle umher, knickste ohne Unterlaß und wartete ungeduldig darauf, daß ihr endlich erlaubt würde, selbst ein Wort dazwischen zu reden. Und dieser Zeitpunkt kam.

»Lärm und Schlägerei haben bei mir ganz und gar nicht stattgefunden, Herr Hauptmann«, schwadronierte sie auf einmal los, so daß es klang, als ob Erbsen ausgeschüttet würden. Sie sprach das Russische zwar mit stark deutschem Akzent, aber doch fließend. »Gar kein Skandal ist bei mir gewesen, aber auch gar keiner, und sie waren schon betrunken, als sie zu mir kamen, und ich will alles erzählen, wie es war, Herr Hauptmann, und ich habe gar keine Schuld … Mein Haus ist ein durchaus anständiges, Herr Hauptmann, und es herrscht ein anständiger Ton darin, Herr Hauptmann, und ich bin immer, immer bemüht gewesen, daß kein Skandal entstände. Sie kamen aber schon ganz betrunken an und ließen sich dann noch drei Flaschen geben, und dann hob einer die Beine in die Höhe und fing an, mit den Füßen Klavier zu spielen, und das ist doch ganz und gar nicht schön in einem anständigen Hause, und er hat das ganze Klavier entzwei gemacht, und das ist doch ganz und gar keine Manier, und das habe ich ihm auch gesagt. Aber er ergriff eine Flasche und fing an, alle von hinten mit der Flasche zu stoßen. Und da habe ich schnell den Hausknecht gerufen, und Karl kam, und da hat er Karl ins Auge geschlagen, und Henriette hat er auch ins Auge geschlagen, und mich hat er fünfmal auf die Backe geschlagen. Und das ist doch kein taktvolles Benehmen in einem anständigen Hause, Herr Hauptmann, und ich habe geschrien. Und er hat ein Fenster nach dem Kanal zu aufgemacht und hat aus dem Fenster hinaus wie ein kleines Schwein gequiekt; das ist doch eine Schande. Wie kann man nur aus dem Fenster nach der Straße zu wie ein kleines Schwein quieken! O pfui, pfui, pfui! Und Karl hat ihn von hinten am Frack vom Fenster weggezogen, und da, das ist wahr, Herr Hauptmann, da hat er ihm seinen Frack zerrissen. Und da fing er an zu schreien, wir müßten ihm fünfzehn Rubel Schadenersatz bezahlen. Und ich habe ihm fünf Rubel für seinen Frack bezahlt, Herr Hauptmann. Und das war ein unfeiner Gast, Herr Hauptmann, und er hat den ganzen Skandal angerichtet! Und dann hat er gesagt: ›Ich werde über Sie eine große Satire drucken lassen; denn ich kann in allen Zeitungen alles mögliche über Sie veröffentlichen.‹«

»Also war es ein Schriftsteller?«

»Jawohl, Herr Hauptmann, und was ist das für ein unfeiner Gast, Herr Hauptmann, wenn er in einem anständigen Hause …«

»Na, na! Aber nun genug! Ich habe dir doch schon gesagt und immer wieder gesagt …«

»Ilja Petrowitsch!« sagte der Sekretär noch einmal bedeutsam.

Der Polizeileutnant warf ihm einen schnellen Blick zu; der Sekretär nickte leicht mit dem Kopfe.

»Also, hochverehrte Lawisa Iwanowna«, fuhr der Polizeileutnant fort, »das ist nun mein letztes Wort, und ich sage es dir zum letzten Male. Wenn bei dir in deinem anständigen Hause auch nur noch ein einziges Mal Skandal vorkommt, so soll dich der Teufel frikassieren, um mich eines gewählten Ausdrucks zu bedienen. Hast du’s gehört? Also ein Literat, ein Schriftsteller hat sich in einem ›anständigen Hause‹ fünf Rubel für einen Frackschoß bezahlen lassen? Ja, so sind sie, diese Schriftsteller!« Dabei warf er einen verächtlichen Blick auf Raskolnikow. »Vorgestern war in einem Restaurant auch so ein Vorfall: einer hat zu Mittag gegessen und will nicht bezahlen. ›Ich werde eine Satire über Sie schreiben‹, sagt der Mensch. Wieder ein andrer hat vorige Woche auf einem Dampfschiffe die ehrenwerte Familie eines Staatsrates, Frau und Tochter, mit den gemeinsten Schimpfworten belegt. Aus einer Konditorei wurde neulich einer mit Schlägen hinausgeworfen. Ja, solche Sorte ist das, diese Schriftsteller, Literaten, Studenten, Maulreißer, … pfui! Aber du, mach, daß du wegkommst. Ich werde mal selbst bei dir nachschauen, … dann nimm dich in acht! Hast du’s gehört?«

Luisa Iwanowna knickste eilig und liebenswürdig nach allen Seiten und zog sich knicksend zur Tür zurück; aber in der Tür stieß sie, rückwärts gehend, gegen einen stattlichen Polizeioffizier mit offenem, frischem Gesichte und prächtigem, dichtem, blondem Backenbarte. Es war der Revieraufseher Nikodim Fomitsch selbst. Luisa Iwanowna machte schnell einen ganz tiefen Knicks fast bis zur Erde; dann hüpfte und flatterte sie mit eiligen, kleinen Schritten aus dem Bureau hinaus.

»Na, haben Sie wieder mal Gepolter gemacht, Blitz und Donner, Wirbelwind und Orkan?« Mit diesen Worten wandte sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja Petrowitsch. »Haben die Leute Sie wieder geärgert? Sind Sie wieder mal hitzig geworden? Ich habe es schon auf der Treppe gehört.«

»Ach was!« erwiderte Ilja Petrowitsch vornehm lässig und ging mit ein paar Schriftstücken an einen andern Tisch hinüber; bei jedem Schritte zog er elegant die betreffende Schulter nach. »Da, sehen Sie nur: dieser Herr Schriftsteller, Student wollte ich sagen, d.h. gewesener Student, hat Schuldscheine ausgestellt, bezahlt aber nicht, räumt seine Wohnung nicht, fortwährend laufen Klagen gegen ihn ein – und dabei begehrte er auf, weil ich mir in seiner hohen Gegenwart eine Zigarette angesteckt hatte! Und er selbst läßt sich eine ganz gemeine Handlungsweise zuschulden kommen! Sehen Sie ihn nur an: da steht er in seiner ganzen verlockenden Pracht!«

»Armut ist keine Schande, liebster Freund! Aber ich weiß schon, wie’s zusammenhängt. Sie sind ja bekanntlich das reine Schießpulver und sind mal gleich wieder bei einem scharfen Worte aufgeflammt.« Hier wendete sich Nikodim Fomitsch in liebenswürdigstem Tone zu Raskolnikow: »Sie haben ihm wahrscheinlich etwas übelgenommen und sich dann selbst nicht beherrschen können. Aber zum Übelnehmen hatten Sie keinen Anlaß; denn ich kann Ihnen sagen, er ist der netteste, anständigste Mensch der Welt, aber freilich Schießpulver, das reine Schießpulver! Gleich gerät er in Wut, braust auf, wird hitzig – aber dann ist’s auch wieder zu Ende, alles wieder vorbei! Die Hauptsache aber bleibt doch immer sein goldenes Herz! Auch beim Regimente nannten sie ihn ›Leutnant Schießpulver‹ …«

»Und was war das für ein feines Regiment!« rief Ilja Petrowitsch, höchst befriedigt, daß man ihn so angenehm gekitzelt hatte, aber immer noch ein bißchen schmollend.

Es wandelte Raskolnikow die Lust an, ihnen allen etwas besonders Angenehmes zu sagen.

»Aber ich bitte Sie, Herr Hauptmann«, begann er, zu Nikodim Fomitsch gewendet, in sehr ungezwungenem Tone, »versetzen Sie sich einmal in meine Lage. Ich bin gern bereit, den Herrn um Entschuldigung zu bitten, wenn ich meinerseits einen Verstoß begangen haben sollte. Ich bin ein armer, kranker Student; die Armut drückt mich ganz zu Boden. Ich mußte die Universität verlassen, weil ich jetzt die Ausgaben nicht bestreiten kann; aber ich werde wieder Geld erhalten. Ich habe eine Mutter und eine Schwester im Gouvernement R…, diese werden mir Geld schicken, und ich werde bezahlen. Meine Wirtin ist eine brave Frau; aber weil ich meine Privatstunden verloren und ihr nun schon seit mehr als drei Monaten nichts bezahlt habe, ist sie so böse geworden, daß sie mir sogar kein Mittagessen mehr schickt. Und ich begreife gar nicht, was sie mit diesem Schuldschein will. Jetzt verlangt sie von mir Zahlung auf Grund dieses Schuldscheins; aber wie kann ich denn zahlen, sagen Sie selbst!«

»Aber das geht uns nichts an …«, warf der Sekretär wieder dazwischen.

»Gestatten Sie gütigst, gestatten Sie gütigst, ich bin ja darin ganz Ihrer Meinung, aber gestatten Sie mir gütigst, Ihnen darzulegen«, unterbrach ihn Raskolnikow wieder; er wendete sich aber dabei nicht an den Sekretär, sondern immer an Nikodim Fomitsch und bemühte sich, soviel er nur vermochte, seine Worte auch an Ilja Petrowitsch zu richten, obgleich sich dieser hartnäckig so stellte, als krame er in den Akten herum und beachte ihn in geringschätziger Weise gar nicht, »gestatten Sie auch mir gütigst, Ihnen meinerseits darzulegen, daß ich schon ungefähr drei Jahre bei ihr wohne, gleich von meiner Ankunft aus der Provinz an, und daß ich früher … früher … nun, warum soll ich es nicht eingestehen? Ich habe gleich am Anfange das Versprechen gegeben, ihre Tochter zu heiraten, ein mündliches, vollkommen freiwilliges Versprechen; … sie war ein junges Mädchen, … übrigens, sie gefiel mir sogar ganz gut, … wiewohl ich nicht eigentlich verliebt war, … mit einem Worte: die Jugend, die Jugend! Ich wollte also sagen, daß meine Wirtin mir damals viel Kredit gab und daß ich … nun ja, daß ich etwas leichtsinnig lebte…«

»Solche intimen Mitteilungen verlangen wir von Ihnen gar nicht, mein Herr, und wir haben auch keine Zeit, dergleichen anzuhören!« unterbrach ihn Ilja Petrowitsch grob und triumphierend; aber Raskolnikow in seinem Eifer ließ sich nicht hemmen, obwohl ihm jetzt auf einmal das Reden außerordentlich schwerfiel.

»Gestatten Sie mir bitte, Ihnen alles zu erzählen, … wie alles zusammenhing, und … der Reihe nach … Allerdings ist es eigentlich unnötig, das hier zu erzählen; darin bin ich ganz Ihrer Meinung … Aber vor einem Jahre starb dieses junge Mädchen am Typhus, und ich blieb wohnen, wie vorher, und als die Wirtin in ihre jetzige Wohnung zog, da sagte sie mir, und zwar freundschaftlich, sie schenke mir volles Vertrauen usw. …, aber ob ich ihr nicht einen Schuldschein über einhundertundfünfzehn Rubel ausstellen wolle; so hoch berechnete sie meine Schuld. Bitte zu beachten: sie sagte ausdrücklich, wenn ich ihr einen solchen Schein ausstellte, so werde sie mir wieder so viel Kredit gewähren, wie ich nur irgend wünschte, und niemals, niemals – das waren ihre eigenen Worte – werde sie von diesem Papiere Gebrauch machen, bis ich von selbst zahlen würde … Und jetzt, wo ich meine Privatstunden verloren und nichts zu essen habe, beantragt sie die Beitreibung. Was soll man dazu sagen?«

»Alle diese gefühlvollen Einzelheiten berühren uns hier gar nicht, mein Herr!« Damit schnitt ihm Ilja Petrowitsch in brutalem Tone das Wort ab. »Sie müssen eine Erklärung abgeben und eine Verpflichtung übernehmen; ob Sie aber verliebt waren, und überhaupt all diese pathetischen Erörterungen, das geht uns gar nichts an.«

»Na, seien Sie nur nicht zu hart«, murmelte Nikodim Fomitsch, setzte sich an einen Tisch und begann Schriftstücke zu unterschreiben. Er schien sich wegen der Schroffheit des andern zu schämen.

»Nun, dann schreiben Sie!« sagte der Sekretär zu Raskolnikow.

»Was soll ich schreiben?« fragte dieser recht grob.

»Ich werde es Ihnen diktieren.«

Raskolnikow hatte den Eindruck, als ob jetzt, nach seiner Beichte, der Sekretär ihn nachlässiger und geringschätziger um sich hätte, er sich nicht zu ihnen aussprechen dürfte, nie, wie auch immer sich das weitere Leben gestalten mochte; er hatte bis zu diesem Augenblicke noch nie eine derartige seltsame und fürchterliche Empfindung durchgemacht. Und was das Qualvollste dabei war: es war mehr Empfindung als Bewußtsein oder Erkenntnis; es war eine ganz unmittelbare Empfindung, peinvoller als alle, die ihm das Leben bisher gebracht hatte.

Der Sekretär begann, ihm das Schema der in solchem Falle üblichen Erklärung folgenden Inhalts zu diktieren: Ich kann nicht zahlen; ich verspreche, es dann und dann zu tun; ich werde die Stadt nicht verlassen, meine Habe weder verkaufen noch verschenken usw.

»Aber Sie sind ja gar nicht imstande zu schreiben; die Feder fällt Ihnen ja aus der Hand«, bemerkte der Sekretär und blickte Raskolnikow verwundert an. »Sind Sie krank?«

»Ja, … mir ist schwindlig … Diktieren Sie weiter!«

»Es ist zu Ende. Unterschreiben Sie.«

Der Sekretär nahm das Schriftstück hin und beschäftigte sich wieder mit seinen andern Papieren.

Raskolnikow legte die Feder hin; aber statt aufzustehen und wegzugehen, setzte er beide Ellbogen auf den Tisch und preßte die Hände um seinen Kopf. Es war ihm, als würde ihm ein Nagel in den Scheitel geschlagen. Es kam ihm ein wunderlicher Einfall: sofort aufzustehen, zu Nikodim Fomitsch hinzutreten und ihm das ganze gestrige Ereignis zu erzählen, alles, bis auf die geringsten Einzelheiten, und ihn dann in sein Kämmerchen zu führen und ihm in der Ecke in der Höhlung die Wertsachen zu zeigen. Der Drang, dies zu tun, war so stark, daß er schon aufstand, um es auszuführen. ›Ob ich nicht gut täte, es wenigstens noch einen Augenblick zu überlegen?‹ ging es ihm durch den Kopf. ›Nein, ich tue es lieber ohne jedes Besinnen; dann bin ich die Last los.‹ Aber plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch redete eifrig zu Ilja Petrowitsch, und er hörte folgende Worte:

»Es geht nicht; sie müssen beide freigelassen werden. Erstens spricht alles gegen ihre Schuld; urteilen Sie selbst: Welchen Anlaß hatten sie, den Hausknecht zu holen, wenn sie die Tat begangen hatten? Um sich selbst zu denunzieren? Oder aus Schlauheit? Nein, das wäre nun doch schon überschlau! Und dann: den Studenten Pestrjakow haben die beiden Hausknechte und eine Bürgerfrau dicht am Torwege gesehen, gerade in dem Augenblicke, als er hineinging; er kam mit drei Freunden und trennte sich von ihnen unmittelbar beim Torwege, und dann erkundigte er sich bei den Hausknechten nach der Wohnung, während seine Freunde noch dabeistanden. Na, wie wird sich denn einer nach der Wohnung erkundigen, wenn er mit solcher Absicht kommt! Und Koch, der hat, bevor er zu der Alten ging, eine halbe Stunde unten bei dem Goldschmied gesessen und ist genau um dreiviertel acht von ihm zu der Alten hinaufgegangen. Nun halten Sie das einmal zusammen …«

»Aber erlauben Sie, wie erklärt sich denn der Widerspruch in ihren Angaben: sie sagen selbst, sie hätten geklopft, und die Tür sei von innen zugesperrt gewesen und als sie drei Minuten nachher mit dem Hausknecht hinaufkamen, stellte es sich heraus, daß die Tür offen war!«

»Das ist ja eben der Witz! Der Mörder saß jedenfalls drinnen und hatte den Riegel vorgelegt; und er wäre sicher dort abgefaßt worden, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte, auch noch hinunterzugehen, um den Hausknecht zu holen. Und gerade diese Zwischenzeit hat der Mörder benutzt, um die Treppe hinunterzugehen, und er hat es auf irgendeine Weise fertiggebracht, an ihnen vorbeizuschlüpfen. Koch bekreuzigt sich mit beiden Händen und sagt: ›Wenn ich dageblieben wäre, dann wäre er herausgesprungen und hätte mich mit dem Beile totgeschlagen.‹ Er will ein Dankgebet für seine Rettung abhalten lassen, ha-ha-ha! …«

»Und den Morder hat niemand gesehen?«

»Wie soll man da einen sehen? Das Haus ist die reine Arche Noah«, bemerkte der Sekretär, der von seinem Platze aus zugehört hatte.

»Die Sache ist ganz klar, ganz klar!« rief Nikodim Fomitsch eifrig.

»Nein, die Sache ist sehr unklar!« entgegnete der hartnäckige Ilja Petrowitsch.

Raskolnikow ergriff seinen Hut und ging nach der Tür zu, aber er erreichte sie nicht …

Als er wieder zu sich kam, sah er, daß er auf einem Stuhle saß, daß ihn von rechts jemand stützte und auf der linken Seite ein andrer mit einem gelblichen Glase voll gelblichen Wassers stand und daß Nikodim Fomitsch vor ihm stand und ihn aufmerksam anblickte. Er stand vom Stuhle auf.

»Was ist denn mit Ihnen? Sind Sie krank?« fragte Nikodim Fomitsch in ziemlich scharfem Tone.

»Schon als er vorhin nachschrieb, konnte er kaum die Feder halten«, bemerkte der Sekretär, indem er sich wieder an seinen Platz setzte und sich von neuem an seine Papiere machte.

»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platze aus, wo er nun gleichfalls in seinen Papieren kramte.

Auch er hatte natürlich den Kranken betrachtet, während dieser in Ohnmacht lag, war aber sofort wieder zurückgetreten, als er zu sich kam.

»Seit gestern«, murmelte Raskolnikow.

»Sind Sie gestern aus dem Hause gegangen?«

»Ja.«

»Krank?«

»Ja.«

»Zu welcher Zeit?«

»Zwischen sieben und acht Uhr abends.«

»Und wohin, wenn man fragen darf?«

»Auf die Straße.«

»Nun, Sie antworten ja sehr kurz und klar.«

Raskolnikow hatte seine Antworten in scharfem Tone hervorgestoßen; er war leichenblaß, schlug aber seine schwarzen, entzündeten Augen vor Ilja Petrowitschs Blick nicht nieder.

»Er kann sich kaum auf den Beinen halten, und Sie …« wollte Nikodim Fomitsch einwenden.

»Das tut nichts!« erwiderte Ilja Petrowitsch mit auffälliger Betonung.

Nikodim Fomitsch beabsichtigte, noch etwas hinzuzufügen; aber als er den Sekretär ansah, der gleichfalls seinen Blick unverwandt auf ihn richtete, schwieg er. Auf einmal schwiegen alle. Das machte einen seltsamen Eindruck.

»Nun gut«, schloß Ilja Petrowitsch. »Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«

Raskolnikow ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem Fortgehen sofort ein lebhaftes Gespräch begann, aus welchem Nikodim Fomitschs fragende Stimme am lautesten heraustönte …. Sobald er auf der Straße war, kam er wieder völlig zu sich. ›Eine Haussuchung, eine Haussuchung; sie werden sofort eine Haussuchung vornehmen!‹ sprach er vor sich hin und beeilte sich, nach Hause zu kommen. ›Die Kanaillen haben Verdacht auf mich!‹ Wieder packte ihn die Angst und schüttelte ihn vom Kopf bis zu den Füßen.

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Kapitel 9

II

›Aber wenn nun die Haussuchung schon stattgefunden hat? Wenn ich sie gerade in meiner Kammer antreffe?‹

Indes, da war er ja schon in seiner Kammer. Nichts war vorgefallen; niemand war da; niemand hatte einen Blick hineingeworfen. Auch Nastasja hatte nichts angerührt. Aber, o Gott! Wie hatte er nur vorhin alle diese Wertsachen in dieser Höhlung liegen lassen können!

Er stürzte nach der Ecke hin, steckte die Hand unter die Tapete, holte die einzelnen Gegenstände heraus und stopfte sie sich in die Taschen. Es waren zusammen acht Stück: zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas Ähnlichem (genau sah er es nicht an), ferner vier kleine Etuis aus Saffian. Ein Kettchen war einfach in Zeitungspapier gewickelt. Und dann noch etwas in Zeitungspapier, anscheinend ein Orden.

Er brachte alles in den verschiedenen Taschen unter, in den Paletottaschen und in der heil gebliebenen rechten Hosentasche, und achtete darauf, daß es nicht auffällig aussähe. Auch den Beutel nahm er, mit den Wertsachen zusammen, mit. Dann ging er aus dem Zimmer; diesmal ließ er die Tür absichtlich weit offen stehen.

Er ging schnellen, festen Schrittes, und obgleich er sich ganz erschöpft fühlte, so war doch sein Denken klar. Er fürchtete Verfolgung, fürchtete, daß vielleicht schon in einer halben, in einer Viertelstunde Befehl erteilt werden würde, ihn zu beobachten, also mußte er unter allen Umständen vorher noch alle Spuren vertilgen. Er mußte das erledigen, solange ihm noch ein Rest von Kraft und von Überlegung zur Verfügung stand … Wohin sollte er nun gehen?

Das stand bei ihm schon längst fest: ›Ich werfe alles in den Kanal; dann kräht kein Hahn mehr danach, und die Sache ist zu Ende.‹ Dazu hatte er sich bereits in der Nacht, als er im Fieber lag, entschlossen, in den Momenten, wo er (das war ihm erinnerlich) ein paarmal hatte aufspringen und weggehen wollen: ›Nur schnell, nur schnell, und alles wegwerfen!‹ Aber es zeigte sich jetzt, daß das Wegwerfen nicht so leicht war.

Er ging schon eine halbe Stunde, vielleicht auch länger, am Ufer des Katharinenkanals entlang und blickte prüfend nach den zum Kanal hinabführenden Treppen, an denen er vorbeikam. Aber an eine Ausführung seiner Absicht war gar nicht zu denken: entweder lagen unmittelbar am Fuße der Treppen Flöße, auf denen Waschfrauen ihre Wäsche wuschen, oder es hatten dort Kähne angelegt, und überall wimmelte es nur so von Menschen. Von den Ufern aus konnte man von überall, von allen Seiten, zu ihm hinsehen: wenn da ein Mensch ohne verständlichen Anlaß hinunterging, sich hinstellte und etwas ins Wasser warf, so mußte das ja Verdacht erwecken. Und wie, wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf schwammen? Und das hielt er für sehr wahrscheinlich. Dann sah es jeder. Ohnedies sahen ihn alle Begegnenden schon so an und betrachteten ihn, als ob sie sich um weiter nichts als um ihn zu kümmern hätten. ›Woher das nur kommt?‹ dachte er. ›Oder ob es mir nur so scheint?‹

Schließlich fiel ihm ein, ob es nicht das beste wäre, irgendwohin an die Newa zu gehen. Dort seien weniger Menschen, und man werde nicht so beobachtet, und es sei in jedem Falle bequemer und vor allen Dingen von dem Stadtteil, in dem er wohnte, weiter entfernt. Er wunderte sich, wie er eine halbe Stunde voll Angst und Unruhe in dieser gefährlichen Gegend hatte herumwandern können und ihm dieser Gedanke nicht früher gekommen war. Und nur deshalb hatte er schon eine halbe Stunde nutzlos vergeudet, weil er sich das nun einmal im Halbschlaf, in seinem Fieberzustande so zurechtgelegt hatte. Er war sehr zerstreut und vergeßlich geworden und war sich dessen bewußt! Eile war unbedingt nötig!

Er ging den Wosnessenskij-Prospekt entlang nach der Newa zu. Aber unterwegs stellte er doch noch wieder eine andre Überlegung an. ›Warum muß ich denn gerade nach der Newa gehen und es ins Wasser werfen? Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit wegzugehen, etwa nach den »Inseln«, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle im Walde, unter einem Strauche oder Baume, alles zu vergraben und sich den Platz zu merken?‹ Und obwohl er fühlte, daß er in diesem Augenblicke nicht imstande war, alles klar und vernünftig zu erwägen, so erschien ihm dieser Gedanke doch als ein sehr glücklicher.

Aber auch nach den »Inseln« zu gelangen war ihm nicht beschieden, sondern es ereignete sich etwas anderes. Als er vom Wosnessenskij-Prospekt auf einen freien Platz heraustrat, sah er links den Eingang zu einem Hofe, der von ganz fensterlosen Mauern umgeben war. Rechts, gleich vom Tore an, zog sich die fensterlose, ungestrichene Seitenwand des vierstöckigen Nachbarhauses weit in den Hof hinein. Links, parallel mit der fensterlosen Hauswand und gleichfalls gleich vom Tore an, erstreckte sich ein Bretterzaun etwa zwanzig Schritte weit in den Hof und machte dann einen Knick nach links. Der Hof war ein nur durch dieses Tor zugänglicher umzäunter Raum, auf dem allerlei Baumaterialien lagerten. Weiter hinten im Hofe blickte hinter dem Zaune eine Ecke eines niedrigen, verräucherten, gemauerten Gebäudes hervor, wahrscheinlich einer Werkstatt. Es mochte hier wohl ein Wagenbauer oder ein Schlosser oder ein anderer derartiger Handwerker hausen; denn überall, fast vom Torweg an, war alles schwarz von Kohlenstaub. ›Hier könnte man es heimlich hinwerfen und dann davongehen!‹ dachte er plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte, schlüpfte er durch das Tor hindurch. Gleich dicht am Tore erblickte er eine an den Zaun angenagelte Rinne (wie sie oft in solchen Häusern angebracht werden, wo es viele Arbeiter, Gesellen, Kutscher usw. gibt), und über der Rinne war am Zaune der an solchen Orten überall zu findende Witz mit Kreide angeschrieben: »Hir ist es ferbohten stehen zu bleiben.« Auch das traf sich also gut: es konnte keinen Verdacht erregen, daß er hier hereingegangen und stehengeblieben war. ›Hier will ich schnell alles zusammen irgendwo hinwerfen und weggehen‹, sagte er sich.

Er blickte sich noch einmal um und steckte bereits die Hand in die Tasche, da bemerkte er an der Außenmauer, zwischen dem offenstehenden Torflügel und der Rinne, wo der Abstand nur etwa zwei Fuß betrug, einen großen, unbehauenen Stein, der wohl einen halben Zentner schwer sein mochte und sich unmittelbar gegen diese nach der Straße zu gelegene Mauer lehnte. Auf der andern Seite dieser Mauer war die Straße, das Trottoir; man konnte die Schritte der hier immer recht zahlreichen Passanten hören; aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht etwa jemand von der Straße hereinkam. Da dies sich indes sehr leicht ereignen konnte, mußte er sich beeilen.

Er bückte sich zu dem Steine nieder, faßte ihn mit beiden Händen fest am oberen Ende, nahm alle seine Kraft zusammen und kippte den Stein um. Unter dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; schleunigst warf er den ganzen Inhalt seiner Taschen dort hinein. Der Beutel kam obenauf zu liegen; es blieb aber doch noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein von neuem und kippte ihn mit einem Ruck wieder nach der Mauer zu, so daß er genau wieder auf seine frühere Stelle zu liegen kam, nur daß er ein klein wenig höher schien. Aber er scharrte Erde zusammen und trat sie an den Rändern des Steines mit dem Fuße fest. Es war nichts mehr zu bemerken.

Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder bemächtigte sich seiner für einen Augenblick ein starkes, kaum zu ertragendes Gefühl der Freude, gerade wie vorher auf dem Polizeibureau. ›Nun ist alles beseitigt! Wem in aller Welt kann es in den Sinn kommen, unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt da vielleicht schon seit der Erbauung des Hauses und wird vielleicht noch ebensolange daliegen. Und selbst wenn es gefunden wird, wer kann auf mich verfallen? Alles ist erledigt. Es sind keine Beweise vorhanden.‹ Er lachte auf. Ja, er erinnerte sich später deutlich an dieses nervöse, unhörbar leise, lange Lachen, und daß er die ganze Zeit über gelacht hatte, während er über den Platz ging. Aber als er auf den K…-Boulevard gelangte, wo er vor zwei Tagen das junge Mädchen getroffen hatte, brach sein Lachen plötzlich ab. Andre Gedanken kamen ihm in den Sinn. Er hatte die Empfindung, daß es ihm jetzt gräßlich zuwider sein würde, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals, nachdem das junge Mädchen weggegangen war, gesessen und nachgedacht hatte, und daß er sich auch sehr darüber ärgern würde, jenem schnurrbärtigen Schutzmann wieder zu begegnen, dem er damals die zwanzig Kopeken gegeben hatte. ›Hol ihn der Teufel!‹

Er ging und blickte zerstreut und verdrießlich um sich. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um den einen Hauptpunkt, und er fühlte selbst, daß dies der Hauptpunkt war und daß er jetzt, gerade jetzt, gleichsam Auge in Auge diesem Hauptpunkte gegenüberstand, und daß dies sogar das erstemal in diesen zwei Monaten war.

›Ach was, hol der Teufel die ganze Geschichte!‹ dachte er plötzlich in einem Anfalle maßloser Wut. ›Na, da es nun einmal angefangen hat, ist nichts weiter zu machen; hol der Teufel das neue Leben! O Gott! wie dumm das alles ist! Und wieviel habe ich heute schon gelogen, und wie unwürdig habe ich mich benommen! In wie gemeiner Weise habe ich vorhin vor diesem garstigen Ilja Petrowitsch geliebedienert und zu ihm freundlich getan! Übrigens ist auch das eine Dummheit, daß ich mich darüber ärgere. Ganz egal sollten sie mir alle sein, und ganz egal sollte es mir auch sein, daß ich geliebedienert und freundlich getan habe. Es handelt sich um anderes, um ganz anderes.‹

Plötzlich blieb er stehen; eine ganz unerwartet auftauchende, überaus einfache Frage versetzte ihn in Verwirrung und peinliches Staunen:

›Wenn du wirklich diese ganze Tat als denkender Mensch und nicht als Narr ausgeführt hast, wenn du wirklich ein bestimmtes, festes Ziel hattest, warum hast du denn dann bis jetzt nicht einmal in den Beutel hineingeblickt und weißt gar nicht, was dir in die Hände gefallen ist und weswegen du alle diese Qualen auf dich genommen und dich auf eine so gemeine, garstige, niedrige Tat mit vollem Bewußtsein eingelassen hast? Du wolltest ihn ja noch soeben ins Wasser werfen, diesen Beutel, mitsamt all den andern Sachen, die du auch noch nicht angesehen hattest. Wie geht denn das zu?‹

Ja, das war richtig, ganz richtig. Übrigens war er sich dieses Widerspruchs schon früher bewußt geworden, und diese Frage war für ihn keineswegs neu. Dieser Gedanke war ihm schon in der Nacht gekommen, als er sich ohne alles Schwanken und Widerstreben dafür entschieden hatte, sich der Sachen zu entäußern, wie wenn das so sein müßte und gar nicht anders sein könnte. Ja, er wußte das alles und erinnerte sich daran; ja, er hatte sich beinahe gestern schon dafür entschieden, in dem Augenblicke, wo er neben der Truhe saß und die Etuis hervorholte … Jawohl, so war es! …

›Das kommt alles nur daher, weil ich sehr krank bin‹, sagte er sich schließlich ingrimmig; ›ich habe mich selbst gepeinigt und gemartert und weiß gar nicht mehr, was ich tue. Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit her habe ich mich gepeinigt … Ich werde wieder gesund werden, und dann werde ich mit dieser Selbstquälerei aufhören … Aber wenn ich nun gar nicht wieder gesund werde? O Gott, wie mir das alles zum Ekel geworden ist! …‹ Er ging weiter, ohne nur einmal stehenzubleiben. Er hätte sich sehr gern irgendeine Zerstreuung verschafft; aber er wußte nicht, was er zu diesem Zwecke tun und beginnen sollte. Eine neue, unbezwingbare Empfindung gewann in ihm mit jedem Augenblick immer mehr die Herrschaft: es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel gegen alles, was ihm entgegentrat und ihn umgab, ein heftiger, mit Grimm und Haß gepaarter Ekel. Widerwärtig waren ihm alle Begegnenden, ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Hätte ihn jemand angeredet, er hätte ihn geradezu angespien, wohl gar gebissen.

Er blieb stehen, als er zu der Uferstraße an der Kleinen Newa, auf der Wassilij-Insel nahe bei der Brücke, gelangt war. ›Hier wohnt er ja, hier, in diesem Hause‹, dachte er. ›Wie kommt das, ich bin doch nicht mit Absicht zu Rasumichin gegangen! Wieder dieselbe Geschichte wie damals … Es wäre mir doch interessant, zu wissen: bin ich mit Absicht hergegangen, oder bin ich nur einfach so gegangen und hierher geraten? Aber das ist schließlich gleichgültig; ich habe mir vorgestern vorgenommen, am Tage nach der betreffenden Sache zu ihm hinzugehen. Nun gut, da gehe ich eben zu ihm hin! Warum sollte ich ihn jetzt nicht besuchen können?‹

Er stieg zu Rasumichin nach dem vierten Stockwerke hinauf.

Dieser war zu Hause, in seinem Kämmerchen, er hatte gerade eine Arbeit vor: er schrieb. Die Tür öffnete er ihm selbst. Seit etwa vier Monaten hatten sie einander nicht gesehen. Rasumichin trug einen völlig zerlumpten Schlafrock, hatte Pantoffeln an den bloßen Füßen und war ungekämmt, unrasiert und ungewaschen. Auf seinem Gesichte malte sich das lebhafteste Erstaunen.

»Was ist denn mit dir los?« rief er und betrachtete den eintretenden Kommilitonen vom Kopf bis zu den Füßen. Dann schwieg er und pfiff leise vor sich hin.

»Geht es dir wirklich schon so schlecht, Bruder? Du hast wahrhaftig sogar unsereinen übertrumpft«, fügte er mit einem Blick auf Raskolnikows Lumpen hinzu. »Aber setze dich, du wirst wohl müde sein.«

Als dieser sich auf das mit Wachstuch bezogene Schlafsofa fallenließ, das noch schlechter war als sein eigenes, merkte Rasumichin auf einmal, daß sein Gast krank war.

»Aber du bist ja ernstlich krank; weißt du das?«

Er wollte ihm den Puls fühlen, aber Raskolnikow riß ihm seine Hand weg.

»Wozu das?« sagte er. »Ich bin gekommen … der Grund ist der: ich habe keine Privatstunden … ich würde gern … übrigens, ich brauche gar keine Stunden …«

»Weißt du was? Du redest ja im Fieber!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam beobachtete.

»Nein, ich rede nicht im Fieber …«

Raskolnikow stand vom Sofa auf. Als er zu Rasumichin hinaufgestiegen war, hatte er nicht daran gedacht, daß er ihm werde Auge in Auge gegenübertreten müssen. Erst jetzt beim Versuche wurde er sich sofort darüber klar, daß er in diesem Augenblicke schlechterdings nicht fähig sei, irgend jemandem in der ganzen Welt so gegenüberzutreten. Die Galle stieg ihm auf. Er erstickte fast vor Ärger über sich selbst, darüber, daß er überhaupt Rasumichins Schwelle überschritten hatte.

»Leb wohl!« sagte er ganz unvermittelt und ging zur Tür.

»Aber so warte doch, warte, du schnurriger Kerl!«

»Wozu?« antwortete dieser wie vorhin und riß wieder seine Hand los, die jener ergriffen hatte.

»Zum Kuckuck, warum bist du denn dann gekommen? Du bist wohl verrückt geworden, was? Das nehme ich dir aber übel. Ich lasse dich so nicht weg.«

»Nun, dann höre: ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir niemand kenne, der mir helfen könnte … einen neuen Anfang zu machen; denn du bist besser, ich meine klüger, als die andern alle und kannst beurteilen … Aber jetzt sehe ich, daß ich gar nichts nötig habe, hörst du, absolut nichts, niemandes Gefälligkeiten und niemandes Teilnahme. Ich kann selbst … ganz allein … Na, damit genug! Laßt mich alle in Ruhe!«

»So warte doch noch einen Augenblick, du Schornsteinfeger! Ganz verrückt ist der Mensch! Meinetwegen kannst du ja tun, was du willst. Siehst du, Stunden habe auch ich keine, und das ist mir auch ganz egal. Aber auf dem Trödelmarkt wohnt ein Buchhändler Cheruwimow, von dem kann man ebensogut leben wie von einer Privatstunde. Ich möchte ihn jetzt nicht für fünf fette Privatstunden in Kaufmannsfamilien hingeben. Der hat so einen kleinen Verlag und läßt naturwissenschaftliche Büchelchen erscheinen; die werden horrende gekauft. Schon allein die Titel dann möchte ich noch bemerken: betrachte das nicht als eine Art Gefälligkeit von meiner Seite. Im Gegenteil, gleich als du eintratest, spekulierte ich darauf, daß du mir hierin von Nutzen sein könntest. Erstens bin ich in der Orthographie schlecht beschlagen, und zweitens bin ich im Deutschen sehr schwach, so daß ich das meiste selbst erfinde und mich nur damit tröste, daß das Buch dadurch eher besser als schlechter wird. Na freilich, wer weiß, vielleicht wird es dadurch auch nicht besser, sondern schlechter. Willst du meinen Vorschlag akzeptieren?«

Raskolnikow nahm schweigend den deutschen Druckbogen hin, desgleichen auch die drei Rubel, und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Erstaunt sah ihm Rasumichin nach. Aber als Raskolnikow schon bis auf die Straße gekommen war, kehrte er plötzlich um, stieg wieder die Treppen zu Rasumichin hinauf, legte den Druckbogen und die drei Rubel auf den Tisch und entfernte sich wieder, ohne ein Wort zu sprechen.

»Hast du denn das Delirium?« schrie Rasumichin, der nun schließlich doch wütend wurde. »Warum führst du hier so eine Komödie auf? Hast mich ordentlich wütend gemacht … Warum bist du denn dann eigentlich hergekommen, Mensch?«

»Ich brauche keine Übersetzungen«, murmelte Raskolnikow, während er schon die Treppe hinabstieg.

»Zum Kuckuck, was brauchst du denn?« rief Rasumichin von oben.

Jener stieg schweigend weiter hinunter.

»Hör mal, du, wo wohnst du denn?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Na, dann hol dich der Teufel!«

Aber Raskolnikow war schon auf der Straße. Auf der Nikolaus-Brücke gab es einen für ihn sehr unangenehmen Vorfall, der ihn wieder völlig zur Besinnung brachte. Der Kutscher einer Equipage verabreichte ihm einen gehörigen Schlag mit der Peitsche über den Rücken, weil er beinahe unter die Pferde geraten wäre, obwohl der Kutscher ihn drei- oder viermal angerufen hatte. Dieser Peitschenhieb versetzte ihn in eine solche Wut, daß er nach der Seite bis an das Geländer sprang (es war unverständlich, warum er ganz in der Mitte der Brücke gegangen war, auf dem für Wagen und nicht für Fußgänger bestimmten Raume) und ingrimmig mit den Zähnen knirschte. Die Passanten ringsherum lachten natürlich.

»Das war ihm ganz recht!«

»Gewiß eine abgefeimte Kanaille!«

»Natürlich, stellt sich betrunken, richtet es absichtlich so ein, daß er unter die Räder kommt, und unsereiner muß dann dafür aufkommen.«

»Das ist denen ihr Gewerbe, mein Lieber, das ist denen ihr Gewerbe.«

Aber in dem Augenblicke, als er am Geländer stand, sich den Rücken rieb und immer noch in sinnloser Wut der davonrollenden Equipage nachschaute, fühlte er auf einmal, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf: es war eine schon ältere Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche und ziegenledernen Schuhen, und neben ihr stand ein junges Mädchen mit einem Hute und einem grünen Sonnenschirm, wahrscheinlich die Tochter. »Nimm, Väterchen, um Christi willen.« Er nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es war ein Zwanzigkopekenstück. Nach seinem Anzuge und seiner ganzen äußern Erscheinung hatten sie ihn wohl für einen richtigen Straßenbettler halten können, und daß sie ihm ein ganzes Zwanzigkopekenstück gegeben hatten, das hatte er jedenfalls dem Peitschenhiebe zu verdanken, der ihr Mitleid wachgerufen hatte.

Das Geldstück fest in der Hand haltend, ging er etwa zehn Schritt weiter und wandte sich mit dem Gesichte nach der Newa hin, in der Richtung nach dem Palaste. Am Himmel war auch nicht das kleinste Wölkchen zu sehen, und das Wasser hatte eine fast blaue Farbe, was bei der kaum absehbaren Tiefe, lagen jetzt für ihn sein ganzes früheres Leben und seine früheren Interessen, Aufgaben, Probleme und Eindrücke und dieses ganze Panorama und er selbst und alles, alles … Es schien ihm, als fliege er aufwärts in eine ungewisse Ferne und als entschwinde alles seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Bewegung mit der Hand fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück, das er krampfhaft festhielt. Er öffnete die Hand, starrte die Münze an, holte aus und schleuderte sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Es war ihm, als hätte er in diesem Augenblicke wie mit einer Schere sich selbst von allen und von allem losgeschnitten.

Als er nach Hause kam, war es schon Abend; er mußte also im ganzen gegen sechs Stunden umhergewandert sein. Auf welchem Wege und wie er heimgegangen war, dafür hatte er keine Erinnerung. Er zog die Kleider aus und legte sich, am ganzen Leibe zitternd wie ein abgehetztes Pferd, auf das Sofa, deckte sich mit seinem Mantel zu und versank sofort in Bewußtlosigkeit.

Tief in der Nacht kam er von einem fürchterlichen Geschrei wieder zu sich. O Gott, was war das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen Töne, ein solches Geheul, Gewinsel, Zähneknirschen, solche Tränen, Schläge und Schimpfwörter hatte er noch nie gehört und gesehen. Eine solche Bestialität und Raserei hatte er überhaupt nie für menschenmöglich gehalten. Erschreckt richtete er sich auf und setzte sich in seinem Bette; das Herz drohte ihm jeden Augenblick vor Qual auszusetzen. Das Prügeln, Wimmern und Schimpfen wurde immer ärger. Da unterschied er auf einmal zu seinem höchsten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, winselte und jammerte, wobei sie die Worte so eilig und hastig hervorstieß, daß sie nicht zu verstehen waren; sie flehte um etwas, doch wohl, daß man aufhören möchte, sie zu schlagen; denn sie wurde ganz unbarmherzig auf der Treppe geprügelt. Die Stimme des Schlagenden Ausrufe, sie stritten sich, riefen einander zu; bald steigerten sie ihre Wechselrede bis zum Geschrei, bald ließen sie sie zum Geflüster herabsinken. Es mußten wohl sehr viele Leute dagewesen sein; gewiß war beinahe das ganze Haus zusammengelaufen. ›Aber mein Gott, ist denn das alles möglich? Und warum, warum war er hierhergekommen?‹

Raskolnikow fiel kraftlos auf das Sofa zurück; aber er konnte die Augen nicht mehr schließen; etwa eine halbe Stunde lang lag er so da, in einem so qualvollen Zustande und in einem so unerträglichen Gefühle grenzenloser Angst, wie er das noch niemals durchgemacht hatte. Auf einmal erhellte ein greller Lichtschein sein Zimmer: Nastasja kam mit einem Lichte und mit einem Teller Suppe herein. Sie blickte ihn aufmerksam an, und als sie sah, daß er nicht schlief, stellte sie das Licht auf den Tisch und ordnete daneben, was sie mitgebracht hatte: Brot, Salz, einen Teller und einen Löffel.

»Du hast gewiß seit gestern nichts gegessen. Treibst dich den ganzen Tag herum, wo du doch Fieber hast!«

»Nastasja, warum hat die Wirtin Schläge bekommen?«

Sie sah ihn mit einem prüfenden Blicke an.

»Wer hat denn die Wirtin geschlagen?«

»Jetzt eben, … vor einer halben Stunde, hat es Ilja Petrowitsch getan, der Stellvertreter des Revieraufsehers, auf der Treppe … Warum hat er sie so geschlagen, und warum ist er überhaupt hergekommen?«

Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit gerunzelter Stirn; so sah sie ihn lange an. Ihm wurde ihr forschender Blick unangenehm, ja geradezu beängstigend.

»Nastasja, warum antwortest du nicht?« fragte er zuletzt schüchtern und mit schwacher Stimme.

»Das kommt vom Blute«, erwiderte sie endlich leise, wie wenn sie zu sich selbst spräche.

»Blut? … Was für Blut?« murmelte er. Er wurde ganz blaß und rückte an die Wand.

Nastasja blickte ihn immer noch schweigend an.

»Niemand hat die Wirtin geschlagen«, antwortete sie dann in scharfem, entschiedenem Tone.

Er sah sie an und konnte kaum Atem holen.

»Ich habe es doch mit eigenen Ohren gehört, … ich habe nicht geschlafen, … ich habe aufrecht gesessen«, entgegnete er noch schüchterner. »Ich habe es lange mit angehört. Der Stellvertreter des Revieraufsehers war gekommen. Es war ein großer Auflauf auf der Treppe, die Leute aus allen Wohnungen …«

»Kein Mensch ist hergekommen. Das ist das Blut, das in dir herumtobt. Wenn das keinen Ausweg hat und zu Klumpen gerinnt, davon kommt dann solch unsinniges Gerede … Willst du nicht etwas essen?«

Er antwortete nicht. Nastasja stand noch immer neben ihm, blickte ihn unverwandt an und ging nicht weg.

»Gib mir zu trinken, liebe Nastasjuschka!«

Sie ging nach unten und kam nach zwei Minuten mit Wasser in einem weißen Tonkruge zurück; aber was weiter vorging, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Er erinnerte sich nur, wie er einen Schluck kaltes Wasser aus dem Kruge geschlürft und sich dabei die Brust begossen hatte. Dann hatte er die Besinnung verloren.

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Nachwort

Nachwort

Dostojewskijs Roman »Raskolnikow« ist ein Werk, das an aufwühlender und erschütternder Kraft kaum seinesgleichen kennt. Es bildet einen der Gipfel der Weltliteratur, einen jener Gipfel, von denen sich weite Übersicht in viele Bereiche menschlich-gesellschaftlicher Erscheinungen eröffnet. Niemals zuvor wurde mit einer solchen Wucht wie in diesem Roman die Abgründigkeit, Tragik und der Wahnsinn eines Verbrechens beschrieben. Erst seit Dostojewskij gibt es diese Verbindung packender Kriminalistik und eindringender psychologischer Betrachtung, dieses erbarmungslose Hineinleuchten in das düstere Doppeldasein eines Mörders, dieses Ergründen auch der letzten Ursachen und Motive der Bluttat, diese Beschreibung des ganzen Infernos von Gewissensqualen. Thomas Mann nannte den »Raskolnikow« den »größten Kriminalroman aller Zeiten«.

Dostojewskij hat das Werk 1866 in der Moskauer Zeitschrift »Russkij Westnik« veröffentlicht. Sieben Jahre vorher war er aus der politischen Verbannung zurückgekehrt. Seine Anschauungen hatten sich gegenüber der Frühperiode seines Schaffens, als er mit der russischen Befreiungsbewegung sympathisierte, gewandelt. Erschüttert durch die furchtbaren Eindrücke im Zuchthaus und deprimiert durch die schleichende Nervenkrankheit, die sich zusehends verschlimmerte, neigte er zu Zweifeln und Pessimismus. Die freiheitlichen und sozialistischen Bestrebungen der russischen revolutionären Demokraten fanden bei ihm kein Verständnis und keine Unterstützung mehr. Er glaubte nicht, daß Rußland durch den Sturz der Leibeigenschaftsordnung und des Zarismus einer besseren Zukunft entgegengeführt werden könnte. Seine publizistische Polemik gegen die Demokraten war scharf und bitter. Sie entsprang der Vorstellung, daß Kraft und Zukunft des Landes in der demütigen Ruhe und gottergebenen Gelassenheit des einfachen russischen Menschen lägen, einer Vorstellung, die in diesen Jahrzehnten, als Tausende und aber Tausende russischer Bauern revoltierten und Friedrich Engels das russische Volk als »instinktiven Revolutionär« bezeichnen konnte, durchaus fehl am Platze war.

Dostojewskijs politische Anschauungen begannen den Charakter jenes militanten Slawophilentums anzunehmen, das seine spätere Schaffensperiode kennzeichnet. Er verneinte die aufklärerische Vernunft, lehnte den Kampf für sozialen Fortschritt ab und idealisierte die Lehren der orthodoxen Kirche.

Aber weder das reaktionäre politische Programm Dostojewskijs noch die seit dieser Zeit in seine künstlerischen Werke hineingetragene Polemik gegen Demokraten und Sozialisten bilden den ideellen Kern des grandiosen Romans. Dessen überzeugende Kraft stammt vielmehr aus der unversiegbaren Tiefe eines echten humanen Gefühls, der Sympathie für die Erniedrigten und Beleidigten und der schonungslosen Aufdeckung gesellschaftlicher Krebsschäden.

Dostojewskij gehörte zu den Künstlern, denen die Wirklichkeit ihrer Zeit rätselvoll und problematisch erschien. »Man sagt immer«, schrieb er in sein Tagebuch, »die Wirklichkeit sei langweilig, eintönig: um sich zu unterhalten, müsse man Zuflucht nehmen zur Kunst, zur Phantasie, Bücher lesen. Mir geht es umgekehrt: was gibt es Phantastischeres, Überraschenderes als die Wirklichkeit? Ist sie nicht manchmal am allerunwahrscheinlichsten?«

Das Leben in Rußland bot damals eine Fülle »allerunwahrscheinlichster« Probleme. Der Siegeszug des Kapitalismus bei gleichzeitig nur langsam fortschreitendem Zerfall des Leibeigenschaftssystems und weitgehender Aufrechterhaltung der verknöcherten absolutistischen Herrschaftsformen, machte alle Widersprüche verworrener, steigerte die Not der unteren Volksschichten ins Ungemessene und löste gesellschaftliche Erschütterungen aus, die zeitweise den Bestand der alten Ordnung in Frage stellten. Dostojewskij mußten die mit diesem Geschehen auftretenden Erscheinungen chaotisch, ungeheuerlich und in ihrer Entwicklungstendenz zunächst unfaßbar vorkommen. Aber er schreckte als Künstler nicht vor ihnen zurück. »Wenn in diesem Chaos, in dem sich das gesellschaftliche Leben schon lange und jetzt vor allem befindet«, schrieb er später, »es vielleicht selbst einem Künstler vom Range Shakespeares noch nicht möglich ist, das normale Gesetz und den leitenden Faden zu finden, wird dann nicht wenigstens irgend jemand einen Teil dieses Chaos aufhellen, auch wenn er nicht an den leitenden Faden denkt?«

Die Handlung des Romans »Raskolnikow« spielt während dieser Periode kapitalistischer Frühentwicklung in Petersburg, einer Stadt, die damals allmählich das Gesicht einer modernen kapitalistischen Metropole bekam. Mit der Entwicklung des Geschäftslebens, des Unternehmertums, des privatkapitalistischen Besitzes kamen auch alle anderen Begleiterscheinungen der Kapitalisierung nach Petersburg: der brutale Kampf um den Platz an der Sonne, die völlige Verarmung derer, die in diesem Kampf unterlagen, die Schutzlosigkeit der Besitzlosen, die moralische Degeneration, die Verbreitung von Trunksucht, Prostitution, Verbrechen. Nur in dieser hektischen Atmosphäre konnte ein Verbrechen wie das Raskolnikows ausgebrütet werden.

Dostojewskij verstand nicht, daß die kapitalistische Periode auch für Rußland unvermeidlich war, aber er ahnte, was seinem Lande, in dem viele Erscheinungen der bürgerlichen Ordnung schon offen zutage lagen, drohte. Vier Jahre, bevor er den »Raskolnikow« veröffentlichte, hatte er London, die damalige Hochburg der Bourgeoisie in Europa, gesehen und in einem ergreifenden Kapitel der »Winterlichen Erinnerungen an Sommereindrücke« seine Impressionen beschrieben. Dort liest man: »Wer London besucht, wird mindestens einmal eine Nacht zum Haymarket gehen. Es ist das Stadtviertel, in dem sich nachts in einigen Straßen Tausende von Prostituierten drängen … Am Haymarket bemerkte ich Mütter, die ihre minderjährigen Töchter zu diesem Gewerbe hinführten. Kleine Mädchen von etwa zwölf Jahren fassen den Passanten bei der Hand und bitten ihn mitzukommen. Ich entsinne mich, daß ich einmal auf der Straße in einem Haufen Volk ein Mädchen sah, nicht älter als sechs Jahre, ganz in Lumpen, schmutzig, barfuß, abgemagert und zerschunden: der durch die Lumpen hindurchblickende Körper war übersät mit blauen Flecken. Sie ging ziellos hin und her, als wäre sie nicht bei Bewußtsein; weiß Gott, warum sie sich in dieser Menge herumtrieb; vielleicht hatte sie Hunger. Niemand beachtete sie. Am meisten jedoch berührte mich, daß sie mit einem Ausdruck von solchem Gram, solcher ausweglosen Verzweiflung im Gesicht umherging, daß es sogar unnatürlich und schrecklich schmerzhaft war, dieses kleine Geschöpf anzusehen, das schon so viel Fluch und Verzweiflung ertragen hatte.«

Sicher hat Dostojewskij diese Eindrücke mit vor Augen gehabt, als er im »Raskolnikow« das Schicksal der Armen von Petersburg beschrieb, das Los Sonjas vor allem: den Opfergang und das Martyrium jener Frauen, die noch halbe Kinder waren und schon keine andere Wahl mehr hatten, als sich auf der Straße zu verkaufen.

Das makabre Treiben in den Londoner Elendsvierteln hatte Dostojewskij mit den Worten charakterisiert: »Die vom Festmahl der Menschheit verjagten Millionen drängen und stoßen einander in der unterirdischen Finsternis, in die sie durch ihre höhergestellten Brüder gestürzt sind; tastend pochen sie an irgendwelche Tore, einen Ausweg suchend, um nicht im finsteren Keller zu ersticken.« Man könnte die gleichen Worte dem Roman »Raskolnikow« voranstellen, in dem das Thema der sozialen Ausweglosigkeit die ganze Handlung beherrscht.

Hier, im Elend und in der Hoffnungslosigkeit, liegt der Ansatzpunkt zu Raskolnikows Verbrechen. Hier beginnt sein Plan sich zu kristallisieren. Er will es nicht wahrhaben, daß die Sonjas den Swidrigailows ausgeliefert sind, daß seine eigene Schwester Dunja um seinetwillen einen ähnlichen Leidensweg an der Seite des seelenlosen und niederträchtigen Karrieristen Lushin gehen soll: »Sonjetschka, Sonjetschka Marmeladowa, die ewige Sonjetschka, solange die Welt steht! Habt ihr beide aber auch die Größe dieses Opfers in vollem Umfange ermessen?« Er will nicht wahrhaben, daß Katerina Iwanowna, die Mutter von mehreren kleinen Kindern, schließlich doch am Hunger physisch zugrunde gehen muß. Er will den Tod des ewig betrunkenen Marmeladow nicht wahrhaben und nicht den Selbstmord jener unbekannten Frau, die sich vor seinen Augen in die Newa stürzt.

Angesichts der ihn von allen Seiten umgebenden Ausweglosigkeit und Verzweiflung dämmert der furchtbare Plan herauf. Selbst schon an den Rand des Abgrunds gedrängt und vom Verderben gezeichnet, versucht Raskolnikow dem mörderischen Gesellschaftszustand die Stirn zu bieten. Das »Experiment«, das Dostojewskij mit seinem Helden anstellt, geht um die Frage, ob nicht eine andere, bessere Lösung möglich sei als Leiden und Unterwerfung. Aber das Experiment muß scheitern, da Raskolnikows Verbrechen ein einsamer Protest ist, der wahnwitzige Versuch, durch gewaltsames Durchbrechen aller moralischen und gesetzlichen Schranken mit einem Sprung von der untersten Stufe der Gesellschaft auf die höchste zu gelangen. Die gesellschaftlichen Mißverhältnisse selbst werden durch seine Untat ebensowenig angetastet wie das aus diesen Verhältnissen geborene Prinzip, sich mit allen Mitteln auf die Sonnenseite des Lebens durchzukämpfen.

In den »Winterlichen Bemerkungen über Sommereindrücke« findet sich folgende Formulierung Dostojewskijs über die bürgerliche Freiheit: »Was heißt liberté? Freiheit. Was für eine Freiheit? Die gleiche Freiheit für alle, in den Grenzen der Gesetze alles Beliebige zu tun. Wie kann man alles Beliebige tun? Wenn man eine Million besitzt. Wann besitzt man eine Million? Gibt die Freiheit jedem eine Million? Nein. Was ist ein Mensch ohne eine Million? Ein Mensch ohne eine Million ist nicht der, der alles Beliebige tut, sondern mit dem alles Beliebige getan wird.«

Mit diesem scharfsinnigen Aphorismus umschreibt Dostojewskij auch den Bereich, in dem für den Individualisten Raskolnikow eine Lösung möglich scheint: Geld! reich werden, koste es, was es wolle, so lautet die idée fixe, die sich in Raskolnikows Kopf festgesetzt hat. Eine ganze Philosophie hat er sich in schlaflosen Nächten zurechtgelegt, eine Theorie, wie sie ähnlich später Nietzsche vertreten hat: von der Einteilung der Menschen in Herrscher und Beherrschte, von denen die ersteren Freiheit zu allen, auch den ungesetzlichsten Handlungen hätten, während den letzteren ein ewiges Sklavendasein beschieden sei.

Es ist gelegentlich behauptet worden, Dostojewskij habe mit den Betrachtungen Raskolnikows direkt den antihumanen Theorien Nietzsches vorgearbeitet. Aber hier gibt es einen entscheidenden Unterschied: Dostojewski steht keineswegs auf der Seite seines Helden; er verurteilt das in diesem verkörperte individualistische Prinzip. Der Roman beweist es deutlich genug. Raskolnikow, der davon träumt, ein Übermensch, ein Riese, ein Napoleon zu werden, hat sich einer Selbsttäuschung hingegeben. Das begangene Verbrechen erweist sich als gänzlich nutzlos; es gibt nicht einmal das Gefühl der Macht, sondern umgekehrt nur ein immer stärker werdendes Gefühl der Machtlosigkeit und Schwäche. Der „Übermensch“ Raskolnikow dreht sich jämmerlich im Kreise, Opfer seiner eigenen Fiktion.

Und überhaupt nur vorübergehend gestattet Dostojewskij seinem Helden, aus dem Bereich des Humanen auszubrechen, nur vorübergehend versetzt er ihn in die fatale Grenzsituation: Er muß zurück, mag er sich noch so sehr dagegen auflehnen. Am Ende stürzt das ganze Kartenhaus antihumaner Sophistik in sich zusammen.

Nicht verfochten also, sondern angegriffen und verurteilt hat Dostojewskij den bürgerlich-individualistischen Protest gegen das Elend der bürgerlichen Gesellschaft. Der Dichter läßt Raskolnikow einen Ausweg aus den Gewissensqualen finden, indem dieser das Geständnis ablegt und sich wie Sonja demütig in sein Schicksal ergibt. Der Abtrünnige – so lautet übrigens die wörtliche Übersetzung von „raskolnik“ – kehrt zurück, indem er nicht nur die Sühne des Verbrechens, sondern fortan auch alles Leiden und alle Not freiwillig auf sich nimmt.

Eine tiefere, echtere Lösung des Humanitätsproblems als die des Verzichts auf jeglichen Machtanspruch, selbst auf den Machtanspruch des Guten, hat Dostojewskij nicht gefunden. Er sah nur zwei Möglichkeiten menschlichen Verhaltens: entweder Stolz, Empörung und damit maßlose Entfremdung vom Menschlichen oder christliche Demut, Liebe und bedingungslose Unterwerfung. Die Grundfrage, die der Roman objektiv mit aufwirft: Wie soll man die Gesellschaftsordnung, die einen Raskolnikow zum Raubmord und eine Sonja zur Prostitution treibt, umgestalten und vermenschlichen, bleibt hier unbeantwortet.

Aber auf die von Dostojewskij angegebene Lösung, die wiederum zu seinen reaktionären politischen Idealen hinführt, kommt es nicht an. Schon der demokratische Kritiker Pissarew, ein Zeitgenosse Dostojewskijs, der 1867 einen ausführlichen und klugen Essay über den Roman veröffentlichte, hat darin bemerkt: »Meine Aufmerksamkeit richte ich nur auf die in seinem Roman dargestellten Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens; sind diese Erscheinungen richtig erfaßt, entsprechen die Tatsachen, die den Grundzusammenhang des Romans ausmachen.

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Kapitel 40

I

Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Stromes liegt eine Stadt, der Sitz höherer Verwaltungsbehörden. In der Stadt befindet sich eine Festung, in der Festung ein Gefängnis. In diesem Gefängnis sitzt schon seit neun Monaten der Sträfling zweiter Klasse Rodion Raskolnikow. Seit der Begehung des Verbrechens sind fast anderthalb Jahre vergangen.

Das Gerichtsverfahren gegen ihn hatte sich ohne besondere Schwierigkeiten abgespielt. Der Verbrecher, in seinen Angaben fest, genau und klar, hielt seine Selbstbezichtigung aufrecht, ohne die Begleitumstände zu verwirren, ohne sie zu seinem Vorteil abzuschwächen, ohne die Tatsachen zu verdrehen und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er erzählte den ganzen Hergang beim Morde auf das allergenaueste, erklärte das Geheimnis des wunderlichen Pfandobjektes (des Holzbrettchens mit der Metallplatte), das die ermordete alte Frau bei ihrer Auffindung in den Händen hatte, erzählte eingehend, wie er der Ermordeten die Schlüssel abgenommen habe, beschrieb diese Schlüssel, beschrieb die Truhe und womit sie angefüllt gewesen sei, zählte sogar einige von den Gegenständen auf, die darin gelegen hätten, erklärte das Rätsel von Lisawetas Ermordung, erzählte, wie Koch gekommen sei und geklopft habe und nach ihm der Student, berichtete alles, was sie untereinander gesprochen hätten, wie er, der Verbrecher, dann die Treppe hinuntergelaufen sei und Nikolais und Dmitrijs Geschrei gehört habe, wie er sich in der leeren Wohnung nämlich von dem Arzte Sossimow, seinen früheren Kommilitonen, seiner Wirtin und ihrem Dienstmädchen, auf das bestimmteste bekundet. Alles dies diente als starke Stütze für die Schlußfolgerung, daß Raskolnikow mit einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht auf eine Stufe gestellt werden könne, sondern daß hier denn doch etwas anderes vorliege. Zum größten Verdrusse derjenigen, die diese Ansicht vertraten, machte der Verbrecher selbst so gut wie gar keinen Versuch, sich zu verteidigen; auf die ausdrückliche Frage, was ihn denn eigentlich zu dem Morde und dem Raube veranlaßt habe, antwortete er mit größter Klarheit und überraschender Offenheit, die Ursache seiner ganzen Handlungsweise sei seine üble Lage gewesen, seine völlige Armut und Hilflosigkeit und der Wunsch, sich die ersten Schritte auf seiner Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu ermöglichen, die er bei der Getöteten zu finden gehofft habe. Den Entschluß zum Morde habe er infolge seines leichtsinnigen, kleinmütigen Charakters gefaßt; überdies habe er sich auch noch infolge von Entbehrungen und Mißerfolgen in gereizter Stimmung befunden. Und auf die Frage, was ihn denn zu der Selbstanzeige bewogen habe, erwiderte er offen, daß dies eine Wirkung aufrichtiger Reue gewesen sei. Das alles machte schon beinahe den Eindruck allzu großer Derbheit.

Das Urteil fiel milder aus, als nach der Schwere des verübten Verbrechens eigentlich zu erwarten gewesen war, und zwar vielleicht gerade deswegen, weil der Verbrecher nicht nur jeden Versuch, sich zu rechtfertigen, verschmäht, sondern sogar gewissermaßen ein Bestreben an den Tag gelegt hatte, sich selbst noch mehr zu belasten. All die seltsamen und eigenartigen Umstände, unter denen die Tat begangen war, wurden bei der Strafabmessung berücksichtigt. Der krankhafte Zustand und die schreckliche Armut des Verbrechers vor Begehung der Tat konnten nicht dem geringsten Zweifel unterliegen. Daß er das geraubte Gut nicht zu seinem Nutzen verwandt hatte, wurde teils als Wirkung der erwachenden Reue, teils als Folge seiner nicht normalen geistigen Verfassung bei Ausübung des Verbrechens angesehen. Die Art, wie es zu der von vornherein nicht in Aussicht genommenen Ermordung Lisawetas gekommen war, diente sogar als Beweis, um die letztere Annahme zu erhärten: ein Mensch begeht zwei Morde und denkt dabei nicht daran, daß die Tür offensteht! Ins Gewicht fiel schließlich auch noch, daß das Geständnis gerade zu einer Zeit erfolgt war, wo die Sache durch die unwahre Selbstbezichtigung eines Fanatikers der Demut (Nikolai) ein überaus verworrenes Aussehen angenommen hatte und wo außerdem gegen den wirklichen Verbrecher nicht nur keine klaren Indizien, sondern sogar fast kein Verdacht vorgelegen hatte. (Porfirij Petrowitsch hatte durchaus Wort gehalten.) Alles dies wirkte zusammen, um das Schicksal des Angeklagten milder zu gestalten.

Überdies wurden ganz unerwartet auch noch andere Umstände bekannt, die sehr zugunsten des Angeklagten sprachen. Der frühere Student Rasumichin hatte irgendwo die Nachricht aufgetrieben, für die er dann auch die Beweise beibrachte: daß der Verbrecher Raskolnikow zur Zeit seiner Zugehörigkeit zur Universität mit seinen letzten Geldmitteln einen bedürftigen, schwindsüchtigen Kommilitonen unterstützt und fast ein halbes Jahr lang allein unterhalten hatte. Nachdem dieser gestorben war, hatte er die Sorge für dessen alten, gelähmten Vater auf sich genommen (diesen hatte der Sohn fast von seinem dreizehnten Lebensjahre an durch seine eigene Arbeit vollständig erhalten), den alten Mann schließlich in einem Krankenhause untergebracht und ihn, als dann auch er gestorben war, beerdigen lassen. All diese Mitteilungen übten eine günstige Wirkung auf die Entscheidung von Raskolnikows Schicksal aus. Auch seine bisherige Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen Braut, die verwitwete Frau Sarnizyna, bezeugte, daß, als sie noch in einem anderen Hause, bei den Fünf-Ecken, gewohnt hätten, Raskolnikow bei einer nächtlichen Feuersbrunst aus einer bereits brennenden Wohnung zwei kleine Kinder herausgeholt und dabei selbst Brandwunden davongetragen habe. Diese Angabe wurde sorgsam nachgeprüft und von vielen Zeugen durchaus glaubwürdig bestätigt. Kurz, das Resultat war, daß der Verbrecher in Anbetracht seiner Selbstanzeige und mancher mildernden Umstände nur zu acht Jahren Zwangsarbeit zweiter Klasse verurteilt wurde.

Gleich bei Beginn des Prozesses war Raskolnikows Mutter erkrankt. Dunja und Rasumichin machten es möglich, sie für die ganze Dauer der Gerichtsverhandlungen aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte dazu eine nicht weit von Petersburg an der Eisenbahn gelegene Stadt aus, um den Prozeß in seinem ganzen Gange regelmäßig verfolgen und gleichzeitig möglichst oft mit Dunja zusammenkommen zu können. Pulcheria Alexandrowna litt an einer eigenartigen Nervenkrankheit, verbunden mit einer wenn auch nicht totalen, so doch mindestens partiellen geistigen Störung. Als Dunja von der letzten Zusammenkunft mit ihrem Bruder zurückgekehrt war, hatte sie ihre Mutter schon ganz krank, fiebernd und phantasierend, vorgefunden. Noch an demselben Abend hatte sie sich mit Rasumichin verabredet, was sie der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne antworten wollten, und hatte sogar im Verein mit ihm für die Mutter eine ganze Geschichte ausgesonnen: Raskolnikow sei nach einem fernen Orte an der Grenze Rußlands gereist, infolge eines privaten Auftrages, der ihm endlich Geld und Berühmtheit eintragen werde. Aber es war ihnen verwunderlich, daß Pulcheria Alexandrowna weder damals noch später eine Frage nach dem Ergehen ihres Sohnes stellte. Man konnte vielmehr merken, daß sie selbst eine ganze Geschichte über eine plötzliche Abreise ihres Sohnes im Kopfe hatte; sie erzählte unter Tränen, wie er zu ihr gekommen sei, um Abschied zu nehmen, machte dabei Andeutungen, daß viele sehr wichtige, geheimnisvolle Umstände nur ihr allein bekannt seien und daß Rodja viele sehr mächtige Feinde habe, vor denen er sich verbergen müsse. Was seine künftige Laufbahn anlangte, so glaubte sie, daß sie zweifellos eine glänzende sein werde, sobald gewisse hinderliche Umstände beseitigt sein würden; sie versicherte Rasumichin, ihr Sohn werde mit der Zeit sogar ein großer Staatsmann werden; das bewiesen sein Aufsatz und seine glänzende schriftstellerische Begabung. Diesen Aufsatz las sie fortwährend, mitunter sogar laut, und trennte sich selbst in der Zeit des Schlafes selten von ihm; trotzdem aber fragte sie fast nie, wo sich Rodja jetzt eigentlich befinde, obgleich Dunja und Rasumichin es augenscheinlich vermieden, mit ihr darüber zu sprechen – was schon allein ihren Argwohn hätte erregen können. Schließlich wurde ihnen dieses sonderbare Schweigen der Mutter über gewisse Punkte unheimlich. Sie beklagte sich zum Beispiel gar nicht darüber, daß keine Briefe von Rodja kamen, während sie früher, als sie noch in ihrem Städtchen wohnte, nur von der Hoffnung und der Erwartung gelebt hatte, recht bald einen Brief von ihrem geliebten Sohne zu erhalten. Dieser letztere Umstand war ganz unerklärlich und versetzte Dunja in starke Unruhe; es kam ihr der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schreckliches über das Geschick ihres Sohnes ahne und sich fürchte zu fragen, um nicht etwas noch Schrecklicheres zu erfahren. Jedenfalls aber sah Dunja klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war.

Ein paarmal war es vorgekommen, daß die Mutter selbst das Gespräch so leitete, daß bei Beantwortung ihrer Fragen eine Erwähnung von Rodjas jetzigem Aufenthaltsorte schwer zu umgehen war; da nun die Antworten notgedrungen unbefriedigend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich überaus traurig, düster und schweigsam und verharrte in diesem Zustande sehr lange. Dunja sah schließlich ein, daß es auf die Dauer doch zu schwer war, etwas zu erdichten und der Mutter vorzulügen, und nahm sich nun ein für allemal vor, über gewisse Punkte lieber vollständig zu schweigen; aber es wurde immer klarer und augenscheinlicher, daß die arme Mutter etwas Furchtbares ahnte. Dunja erinnerte sich unter anderem an die Mitteilung ihres Bruders, daß die Mutter die wirren Reden mitgehört habe, die sie in der Nacht vor jenem verhängnisvollen Tage, nach ihrem Zusammensein mit Swidrigailow, im Schlafe geführt hatte; ob sie vielleicht damals etwas von dem wahren Sachverhalte verstanden hatte? Häufig, und zwar manchmal nach mehreren Tagen und sogar Wochen finsteren, brütenden Schweigens und stummer Tränen, geriet die Kranke in eine Art von hysterischer Lebhaftigkeit und begann auf einmal laut und fast ohne Unterbrechung von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der Zukunft zu sprechen … Ihre Phantasien waren mitunter recht seltsam. Die beiden jungen Leute trösteten sie und redeten ihr nach dem Munde – sie durchschaute das vielleicht selbst, daß sie ihr nur nach dem Munde reden und sie trösten wollten; aber dennoch redete und redete sie immer weiter …

Fünf Monate nach der Selbstanzeige des Verbrechers wurde das Urteil über ihn gefällt. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, so oft es nur irgend möglich war. Ebenso Sonja. Endlich kam die Trennungsstunde. Dunja schwur ihrem Bruder, dies solle keine Trennung fürs Leben sein; desgleichen Rasumichin. In Rasumichins jugendlichem, feurigem Kopfe war ein Plan entstanden und zum festen Entschlusse geworden: in den nächsten drei, vier Jahren nach Möglichkeit wenigstens den Grund zu einem künftigen Vermögen zu legen, wenigstens eine gewisse Summe Geldes zusammenzusparen und dann nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Beziehung reich sei, während es an Arbeitern, Menschen und Kapital mangelte; dort wollte er sich dann in derselben Stadt, wo Rodja sein würde, niederlassen, … und da sollte für alle ein neues Leben beginnen. Beim Abschied weinten alle. Raskolnikow war in den letzten Tagen sehr schwermütig gewesen, hatte sich viel nach der Mutter erkundigt und sich fortwährend um sie beunruhigt. Sein Gram und Kummer um sie war so heftig gewesen, daß Dunja sich darüber aufregte. Als er die Einzelheiten über den Krankheitszustand der Mutter erfahren hatte, war er sehr finster geworden. Sonja gegenüber war er die ganze Zeit besonders wortkarg gewesen. Sie hatte sich mit Hilfe des Geldes, das ihr Swidrigailow vor seinem Tode eingehändigt, schon längst reisefertig gemacht und war bereit, der Sträflingsabteilung zu folgen, in der auch er transportiert werden sollte. Hierüber war zwischen ihr und Raskolnikow niemals auch nur ein Wort gesprochen worden; aber beide wußten, daß es so sein werde.

Beim letzten Abschiednehmen lächelte er seltsam, als Dunja und Rasumichin sich in eifrigen Versicherungen ergingen, ein wie glückliches Leben ihnen allen bevorstände, sobald er die Zwangsarbeit hinter sich haben würde, und sagte vorher, daß die Krankheit der Mutter bald einen schlimmen Ausgang nehmen werde. Endlich brachen er und Sonja auf.

Zwei Monate darauf heirateten sich Dunja und Rasumichin. Es war eine traurige, stille Hochzeit. Unter den eingeladenen Gästen befanden sich übrigens auch Porfirij Petrowitsch und Sossimow. Während der ganzen letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines Mannes von festem Willen und ernster Entschlossenheit gezeigt. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle seine Pläne durchführen werde; und sie hatte auch allen Grund, das zu glauben, denn in diesem Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem hatte er wieder angefangen, Vorlesungen auf der Universität zu hören, um seine Studien zu absolvieren. Beide entwarfen fortwährend Pläne für die Zukunft; beide rechneten fest darauf, in fünf Jahren bestimmt nach Sibirien überzusiedeln. Bis dahin verließen sie sich auf Sonjas dortige Wirksamkeit.

einzurichten, die Möbel darin zu säubern, den Fußboden zu scheuern, neue Gardinen aufzuhängen usw. Dunja ängstigte sich darüber, schwieg aber und war ihr sogar behilflich, das Zimmer für den Empfang des Bruders instand zu setzen. Nach einem unruhevollen, in beständigen phantastischen Einbildungen, in frohen Hoffnungen und in Tränen verbrachten Tage erkrankte die Mutter in der Nacht; am Morgen lag sie bereits in starkem Fieber und redete irre. Das Fieber nahm an Heftigkeit zu, und zwei Wochen darauf starb sie. Bei ihrem Irrereden waren ihr Worte entschlüpft, denen man entnehmen konnte, daß sie von dem schrecklichen Schicksale ihres Sohnes weit mehr ahnte, als man geglaubt hatte.

Raskolnikow erfuhr lange nichts vom Tode seiner Mutter, obgleich ein Briefwechsel mit Petersburg gleich vom Anfange seines Aufenthaltes in Sibirien an begonnen hatte. Dieser Briefwechsel fand durch Sonjas Vermittlung statt; sie schrieb regelmäßig jeden Monat nach Petersburg an Rasumichins Adresse und empfing pünktlich jeden Monat aus Petersburg eine Antwort. Sonjas Briefe erschienen Dunja und Rasumichin anfangs etwas trocken und unbefriedigend; aber schließlich fanden sie beide, daß dies die beste überhaupt mögliche Art zu schreiben war, da sie aus diesen Briefen als Schlußergebnis doch eine sehr vollständige und genaue Vorstellung von dem Lose des unglücklichen Bruders und Freundes gewannen. Sonjas Briefe waren mit Nachrichten über materielle Dinge der alltäglichsten Art und mit schlichten, klaren Schilderungen der Äußerlichkeiten in Raskolnikows Sträflingsleben angefüllt, enthielten dagegen weder Darlegungen ihrer eigenen Hoffnungen noch Vermutungen über die Gestaltung der Zukunft, noch Schilderungen ihrer eigenen Gefühle. Seinen Seelenzustand und überhaupt sein ganzes Innenleben darzustellen, das versuchte sie gar nicht; statt dessen standen da nur Tatsachen, das heißt seine eigenen Worte, ausführliche Mitteilungen über seinen Gesundheitszustand, welche Wünsche er dann und wann bei ihren Besuchen ausgesprochen, worum er sie gebeten, was er ihr aufgetragen hatte usw. Bei all diesen Mitteilungen ging sie auf die kleinsten Einzelheiten ein. Auf diese Weise trat schließlich das Bild des unglücklichen Sträflings dem Lesenden ganz von selbst in genauer und deutlicher Zeichnung vor Augen; Irrtümer waren unmöglich, weil alles Vorliegende aus zuverlässigen Tatsachen bestand.

Aber es war wenig Tröstliches, was Dunja und ihr Mann diesen Mitteilungen entnehmen konnten, namentlich in der ersten Zeit. Sonja berichtete stets, er sei beständig finster und schweigsam und interessiere sich kaum für die Nachrichten, die sie ihm jedesmal aus den ihr zugehenden Briefen mitteile. Manchmal frage er nach der Mutter; sie habe ihm, da sie gemerkt hätte, daß er die Wahrheit bereits ahne, schließlich deren Tod mitgeteilt; aber zu ihrem Erstaunen habe nicht einmal diese Todesnachricht auf ihn einen sonderlich starken Eindruck gemacht; wenigstens sei es ihr nach seinem äußeren Benehmen so vorgekommen. Unter anderem schrieb sie auch, obgleich er sich ganz in sich zurückziehe und sich von allen abschließe, habe er sich doch in sein neues Leben einfach und schlicht gefunden; er begreife klar seine Lage, erwarte in näherer Zukunft keine Besserung, gebe sich nicht leichtfertigen Hoffnungen hin, was doch in solcher Lage eine so häufige Erscheinung sei, und wundere sich fast über nichts inmitten der neuen ihn umgebenden Verhältnisse, obwohl sie von der früheren Form seines Daseins so stark verschieden seien. Weiter teilte Sonja mit, sein Gesundheitszustand sei befriedigend. Er gehe an seine Arbeit, ohne daß er sich ihr zu entziehen suche und ohne besonderen Eifer an den Tag zu legen. Hinsichtlich der Kost zeige er große Gleichgültigkeit; aber diese Kost sei, von Sonn- und Festtagen abgesehen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Sonja, etwas Geld angenommen habe, um sich zum täglichen Gebrauche Tee kaufen zu können. Was alles übrige anlange, so habe er herausgespürt), er halte sich von allem Verkehr fern; die anderen Sträflinge könnten ihn nicht leiden; er schweige ganze Tage lang und bekomme eine ganz blasse Gesichtsfarbe. Plötzlich, in ihrem letzten Briefe, schrieb Sonja, daß er sehr ernst erkrankt sei und im Gefangenensaale des Krankenhauses liege.

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Kapitel 41

II

Er war schon lange krank gewesen; aber nicht die Schrecken des Sträflingslebens, nicht die Zwangsarbeit, nicht die Nahrung, nicht das Abrasieren des Kopfhaares, nicht die schlechte Kleidung hatten ihn zugrunde gerichtet; oh, was machten ihm alle diese Qualen und Martern aus! Im Gegenteil, er freute sich sogar über die Arbeit; wenn er körperlich durch die Arbeit abgemattet war, so erlangte er dadurch wenigstens ein paar Stunden ruhigen Schlafes. Und was machte ihm die Kost aus, diese Kohlsuppe ohne Fleisch, mit Schaben darin? In früheren Jahren, als Student, hatte er oft nicht einmal das gehabt. Seine Kleidung hielt warm und paßte zu seiner Lebensweise. Die Ketten fühlte er gar nicht am Leibe. Sollte er sich seines geschorenen Kopfes und der zweifarbigen Jacke schämen? Aber vor wem? Vor Sonja? Sonja fürchtete sich vor ihm, und vor der sollte er sich schämen?

Und doch schämte er sich vor Sonja und ließ sie das dadurch entgelten, daß er sie durch sein verächtliches grobes Benehmen peinigte. Aber er schämte sich nicht des geschorenen Kopfes und der Ketten: sein Stolz war schwer verwundet, und diese Verwundung seines Stolzes war auch die Ursache seiner Krankheit. Oh, wie glücklich wäre er gewesen, wenn er sich selbst hätte eine Schuld beimessen können! Dann hätte er alles gern ertragen, auch Schande und Schmach. Aber so streng er auch mit sich ins Gericht ging, so fand sein verstocktes Gewissen doch in seiner Vergangenheit keine so besonders schreckliche Schuld, außer etwa einem einfachen »Fehlschlag«, wie er einem jeden vorkommen konnte. Er schämte sich namentlich darüber, daß er, Raskolnikow, so blind, taub, unvorsichtig und dumm, gleichsam gemäß dem Spruche eines blinden Fatums, sich zugrunde gerichtet hatte und sich nun einem »absurden« richterlichen Urteil beugen und unterwerfen mußte, wenn er nur einigermaßen innerlich zur Ruhe kommen wollte.

Eine zweck- und ziellose Unruhe in der Gegenwart und in der Zukunft eine stete Selbstaufopferung, durch die nichts erreicht wurde: das war’s, was ihm auf der Welt noch bevorstand. Und was hatte er davon, daß er nach acht Jahren erst zweiunddreißig alt war und noch einmal zu leben beginnen konnte? Wozu sollte er dann noch leben? Was sollte er sich für Ziele setzen? Wonach streben? Sollte er leben, nur um zu existieren? Aber er war ja auch früher tausendmal bereit gewesen, seine Existenz für eine Idee, für eine Hoffnung, ja, sogar für eine Phantasterei hinzugeben. Die bloße Existenz war ihm immer zu wenig gewesen; er hatte stets etwas Größeres erstrebt. Vielleicht war diese Lebhaftigkeit seiner Wünsche das einzige Moment gewesen, auf Grund dessen er sich damals für einen Menschen gehalten hatte, dem mehr gestattet sei als anderen.

Hätte doch das Schicksal ihm wenigstens Reue eingegeben, eine brennende Reue, die das Herz verzehrt und den Schlaf verscheucht, jene Reue, deren schreckliche Qualen einem den Selbstmord durch den Strick oder im Wasser verlockend erscheinen lassen. Oh, er hätte sich über eine solche Reue gefreut! Qualen und Tränen, das ist doch wenigstens Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht.

Oder wenn er sich wenigstens über seine Dummheit hätte ärgern können, wie er sich früher über seine törichten, dummen Handlungen geärgert hatte, durch die er ins Gefängnis gekommen war. Aber wenn er jetzt, wo er bereits im Gefängnis war, »in aller Ruhe« von neuem alle seine früheren Handlungen überdachte und prüfte, so fand er sie ganz und gar nicht so dumm und töricht, wie sie ihm vorher, in jener verhängnisvollen Zeit, erschienen waren.

›Inwiefern‹, dachte er, ›sollte meine Idee dümmer sein als andere Ideen und Theorien, die in der Welt, seit diese Welt besteht, umherschwirren und aufeinanderprallen? Man betrachte nur die Sache unparteiisch, vorurteilsfrei, und ohne sich von Erwägungen alltäglicher Art beeinflussen zu lassen: dann erscheint meine Idee sicherlich gar nicht so … sonderbar. O ihr schwächlichen Umstürzler, ihr dürftigen Denker, warum bleibt ihr immer auf halbem Wege stehen?‹

›Warum erscheint denn meine Tat den Menschen so ungeheuerlich?‹ fragte er sich. ›Deshalb, weil es eine böse Tat ist? Was bedeutet denn das: eine böse Tat? Mein Gewissen ist ruhig. Gewiß, ich habe ein Kriminalverbrechen begangen; gewiß, ich habe den Buchstaben des Gesetzes verletzt und Blut vergossen; nun wohl, nehmt für den Buchstaben des Gesetzes meinen Kopf … und die Sache ist erledigt! Allerdings hätten dann auch viele Wohltäter der Menschheit, die ihre Macht nicht ererbt, sondern selbst an sich gebracht haben, gleich bei ihren ersten Schritten hingerichtet werden müssen. Aber jene Männer führten ihre Schritte mit Kraft und Ausdauer durch, und darum waren sie im Rechte; ich aber wurde dabei schwach, und folglich hatte ich kein Recht, mir diesen Schritt zu erlauben.‹

Nur in diesem einen Punkte erkannte er sein Verbrechen an: nur darin, daß er es nicht zu ertragen vermocht und sich selbst angezeigt hatte.

Er litt auch unter dem Gedanken, warum er sich damals nicht das Leben genommen habe. Warum hatte er damals, als er am Flusse stand, doch die Selbstanzeige vorgezogen? Ob denn wirklich in dem Verlangen zu leben eine solche Kraft steckte und es gar so schwer war, dieses Verlangen zu überwinden? Swidrigailow hatte es doch überwunden, obwohl er sich vor dem Tode fürchtete!

Mit dieser Frage marterte er sich ab, ohne zu wissen, daß er vielleicht schon damals, als er am Flusse stand, den tiefen Irrtum in seinem ganzen Wesen und in seinen Anschauungen geahnt hatte. Er wußte nicht, daß dieses Vorgefühl möglicherweise der Vorbote einer künftigen Krisis in seinem Leben, der Vorbote seiner künftigen Wiedergeburt und seiner künftigen neuen Lebensanschauung war.

Er neigte mehr dazu, das Unterlassen des Selbstmordes auf die unbewußte Wirksamkeit des Instinktes zurückzuführen, über welche obzusiegen und hinwegzuschreiten er wieder einmal nicht die Kraft gehabt habe – er sei eben ein Schwächling und ein unbedeutender Mensch! Er betrachtete seine Mitsträflinge und war erstaunt darüber, wie sehr auch sie alle das Leben liebten und wie teuer es ihnen war. Ja, er hatte den Eindruck, als ob man im Gefängnisse das Leben noch mehr liebe und schätze und wert halte als in der Freiheit. Welche entsetzlichen Leiden und Qualen hatte das Leben manchen von ihnen gebracht, zum Beispiel den Landstreichern; und doch hingen sie so am Dasein! War ihnen denn wirklich ein Sonnenstrahl so viel wert oder ein dichter Wald oder eine kühle, tief in der Wildnis versteckte Quelle? Da hatte nun vielleicht so ein armer Kerl sich eine solche Quelle vor zwei, drei Jahren gemerkt, und nun malte er sich ein Wiedersehen in seiner Phantasie aus wie ein Wiedersehen mit einer Geliebten und träumte von seiner Quelle und von dem grünen Grase ringsumher und von den Vögelchen, die in den Büschen sangen! Bei längerer Betrachtung fand er noch erstaunlichere Beispiele für diese Liebe zum Leben.

Vieles freilich von seiner gesamten Umgebung im Gefängnisleben bemerkte er nicht, und er wollte es eben auch gar nicht bemerken; er lebte gleichsam, ohne aufzublicken; es war ihm widerwärtig und unerträglich, um sich zu schauen. Aber schließlich fiel ihm trotzdem manches auf, und er bemerkte nun unwillkürlich dies und jenes, was er früher nicht einmal geahnt hatte. Am meisten erstaunt war er über die gewaltige, unüberschreitbare Kluft, die zwischen ihm und all diesen Menschen lag. Es war geradezu, als ob er und sie verschiedenen Nationen angehörten. Er und sie betrachteten einander mißtrauisch und feindselig. Er kannte und verstand die Ursachen dieser wechselseitigen Abneigung sehr wohl, hätte aber früher nie geglaubt, daß sie tatsächlich so tief wurzelten und so kräftig wären. Im Gefängnisse befanden sich auch einige verbannte Polen, politische Sträflinge; diese blickten auf die Leute geringeren Standes sehr von oben herab und verachteten sie als ungebildeten Pöbel. Raskolnikow jedoch konnte diese Anschauung nicht teilen; er sah deutlich, daß diese Ungebildeten in vielen Stücken weit verständiger waren als die besagten Polen. Es waren auch Russen da, die gleichfalls dieses gemeine Volk tief verachteten: ein ehemaliger Offizier und zwei Zöglinge geistlicher Seminare. Auch deren Irrtum erkannte Raskolnikow mit voller Deutlichkeit.

Ihn selbst aber konnten alle nicht leiden, und alle mieden ihn. Diese Abneigung steigerte sich schließlich zu wirklichem Hasse. Warum? Das wußte er nicht. Sie verachteten ihn und machten sich über ihn lustig; es machten sich über sein Verbrechen Leute lustig, die weit schlimmere Verbrecher waren als er.

»Du bist ein Herr!« sagten sie zu ihm. »Paßte sich das für dich, mit einem Beil auf die Menschen loszugehen? Das ist nichts für einen Herrn!«

In der zweiten Woche der großen Fasten war er mit seiner Baracke an der Reihe, mehrmals die Kirche zu besuchen als Vorbereitung zum Abendmahle. Er ging mit den anderen zusammen in die Kirche und betete mit ihnen. Dabei kam es einmal zu Streit; er wußte selbst nicht, warum. Alle stürzten mit einem Male ergrimmt auf ihn los.

»Du bist ein Gottesleugner! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie ihm zu. »Totschlagen müßte man dich!«

Niemals hatte er mit ihnen über Gott und über Glaubenssachen gesprochen, und doch wollten sie ihn als einen Gottesleugner totschlagen; er schwieg und widersprach ihnen nicht. Einer von den Sträflingen wollte schon in heller Wut über ihn herfallen; Raskolnikow erwartete ihn ruhig und schweigend, ohne mit der Wimper zu zucken oder eine Miene zu verziehen. Der Wachsoldat konnte gerade noch rechtzeitig zwischen ihn und den mordlustigen Angreifer treten, sonst wäre es zu Blutvergießen gekommen.

Noch eine Frage war da, auf die er keine Antwort finden konnte: Warum hatten sie alle Sonja so lieb? Sie hatte sich niemals um die Gunst der Sträflinge bemüht; diese bekamen Sonja überhaupt nur selten zu sehen, nur ab und zu an den Arbeitsstätten, wenn sie auf einen kurzen Augenblick kam, um ihn zu besuchen. Aber trotzdem war sie bald allen bekannt, alle wußten auch, daß sie ihm gefolgt sei, wußten, wie sie lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht; auch erwies sie ihnen keine besonderen Dienste. Nur einmal, zu Weihnachten, brachte sie für das ganze Gefängnis eine Gabe mit: Pirog und anderes Gebäck. Aber ganz allmählich bildeten sich zwischen ihnen und Sonja mancherlei nähere Beziehungen: sie schrieb für sie Briefe an ihre Angehörigen und gab sie auf die Post. Angehörige, die nach der Stadt gereist kamen, übergaben Sachen, die sie für die Sträflinge bestimmt hatten, und sogar Geld auf deren Wunsch an Sonja zur Weiterbeförderung. Die Frauen und Geliebten der Sträflinge kannten und besuchten sie. Und sobald sie, um Raskolnikow zu besuchen, zu einem Arbeitsplatze kam oder einem Trupp Sträflinge begegnete, der zur Arbeit ging, so nahmen sie alle die Mützen ab und begrüßten sie. »Mütterchen Sofja Semjonowna, du unsere Mutter, du liebe, mitleidende!« sagten diese rohen, gebrandmarkten Sträflinge zu dem kleinen, mageren Wesen. Sie lächelte und erwiderte den Gruß freundlich, und alle freuten sich, wenn sie ihnen zulächelte. Sie liebten sogar ihren Gang, wendeten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging, und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten gar nicht mehr, was sie alles an ihr loben sollten. Sogar medizinische Ratschläge ließen sie sich von ihr geben.

zuammengerufen; wer jedoch eigentlich zusammenrief und warum, das wußte niemand; aber alle waren in großer Aufregung. Die gewöhnlichen Handwerke wurden nicht mehr betrieben; denn jeder trug seine Ideen, seine Reformvorschläge vor, aber es kam zu keiner Einigung; die Bodenbestellung hörte auf. Hier und da sammelten sich die Menschen zu einzelnen Haufen; sie einigten sich über dies und das, schwuren, einander nicht zu verlassen; aber gleich darauf begannen sie etwas ganz anderes zu tun als das, was sie soeben selbst angeregt hatten, beschuldigten sich gegenseitig, prügelten und mordeten sich. Feuersbrünste wüteten; es brach Hungersnot aus. Alle Menschen, alle Habe ging zugrunde. Die Seuche wuchs und verbreitete sich immer weiter. Es entgingen dem Verderben in der ganzen Welt nur sehr wenige Menschen; dies waren die Reinen und Auserwählten, die dazu bestimmt waren, ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu begründen und die Erde zu erneuern und zu reinigen; aber diese Menschen hatte niemand erkannt, niemand hatte ihre Worte und ihre Stimme beachtet.

Es war für Raskolnikow eine Qual, daß dieser sinnlose Traum so fest in seinem Gedächtnis haftete und daß der Eindruck dieser Fieberphantasien so lange nicht schwinden wollte. Schon war die zweite Woche nach Ostern herangekommen; es waren warme, heitere Frühlingstage; im Gefangenensaale des Krankenhauses waren die Fenster geöffnet (sie waren vergittert und davor ging eine Schildwache auf und ab). Sonja hatte ihn während seiner ganzen Krankheit nur zweimal im Krankenhause besuchen können. Es war dazu jedesmal erst die Einholung einer besonderen Erlaubnis erforderlich, und das machte Schwierigkeiten. Aber sie war oft auf den Hof des Krankenhauses gekommen, vor die Fenster, namentlich um die Abendzeit, manchmal nur, um einen Augenblick auf dem Hofe zu stehen und wenigstens von weitem nach den Fenstern des Saales, wo er lag, zu blicken. Eines Tages gegen Abend hatte Raskolnikow, der nun schon fast ganz wiederhergestellt war, ein wenig geschlummert; als er erwachte, trat er zufällig an das Fenster und erblickte plötzlich in einiger Entfernung am Tore des Krankenhauses Sonja. Sie stand da, wie wenn sie auf etwas wartete. In diesem Augenblicke hatte er eine Empfindung, als ob ihm jemand das Herz mit einem Schwerte durchbohre; er fuhr zusammen und trat schnell vom Fenster zurück. Am nächsten Tage kam Sonja nicht, auch nicht an dem dann folgenden; er wurde sich bewußt, daß er mit Unruhe auf sie wartete. Endlich wurde er als genesen aus dem Krankenhause entlassen. Als er in das Gefängnis kam, erfuhr er von den Sträflingen, daß Sofja Semjonowna krank geworden sei, zu Hause das Bett hüten müsse und nicht ausgehen könne.

Er beunruhigte sich darüber sehr und schickte hin, um zu erfahren, wie es ihr gehe. Bald erhielt er Nachricht, daß ihre Krankheit nicht gefährlich sei. Als Sonja ihrerseits hörte, daß er sich so nach ihr sehne und sich um sie so viel Sorge mache, schickte sie ihm einen mit Bleistift geschriebenen Zettel und teilte ihm mit, es gehe ihr schon viel besser; sie habe nur eine leichte Erkältung und werde ihn bald, sehr bald an seiner Arbeitsstätte besuchen. Als er diesen Zettel las, schlug ihm das Herz so heftig, daß es ihn schmerzte.

Es war wieder ein heiterer, warmer Tag. Frühmorgens, um sechs Uhr, ging er zu seiner Arbeit an das Ufer des Flusses, wo in einem Schuppen ein Ofen zum Gipsbrennen eingerichtet war und der Gips auch gestampft wurde. Es hatten sich nur drei Arbeiter dorthin zu begeben. Einer von ihnen war mit dem Wachsoldaten noch einmal nach der Festung zurückgegangen, um ein Werkzeug zu holen; der andere machte Holz zurecht und legte es in den Ofen. Raskolnikow ging aus dem Schuppen hinaus bis dicht ans Ufer, setzte sich auf die dort aufgestapelten Baumstämme und blickte über den breiten, öden Fluß hin. Von dem hohen Ufer aus übersah man weithin die Gegend. Kaum vernehmbar klang von dem fernen jenseitigen Ufer ein Lied herüber. Dort in der unabsehbaren, vom Sonnenlicht überfluteten Steppe hoben sich als kaum wahrnehmbare schwarze Pünktchen die Zelte von Nomaden ab. Dort war das Land der Freiheit; dort wohnten andere Menschen, ganz unähnlich denen auf dem diesseitigen Ufer; dort war gleichsam die Zeit selbst stehengeblieben, als wäre das Zeitalter Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und sah in die Ferne, ohne sich zu rühren und ohne sich von dem Anblicke losreißen zu können. Sein Denken wurde zum Träumen, zum bloßen Schauen; er dachte an nichts mehr; aber eine Art von Sehnsucht beunruhigte und quälte ihn.

Auf einmal stand Sonja neben ihm. Sie war fast unhörbar herangekommen und setzte sich nun zu ihm hin. Es war noch sehr früh am Tage; die Morgenkälte war noch nicht milder geworden. Sie trug ihre alte, ärmliche Pelerine und das grüne Tuch. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren der überstandenen Krankheit; es war recht mager, blaß und kümmerlich geworden. Sie lächelte ihm mit freundlicher, froher Miene zu; aber die Hand streckte sie ihm wie gewöhnlich nur schüchtern hin.

Dies tat sie immer nur schüchtern und mitunter gar nicht, als fürchte sie eine Zurückweisung. Denn er nahm ihre Hand immer wie mit innerem Widerstreben, zeigte sich bei solchen Begegnungen stets verdrossen und schwieg manchmal hartnäckig während der ganzen Zeit, die Sonja bei ihm war. Es kam vor, daß sie vor ihm geradezu zitterte und tiefbetrübt fortging. Jetzt aber trennten sich die Hände beider nicht; er warf ihr einen schnellen, hastigen Blick zu, sprach kein Wort und richtete seine Augen auf die Erde. Sie waren allein; niemand sah sie. Der inzwischen zurückgekehrte Wachsoldat hatte sich gerade umgewandt.

Wie es zuging, wußte er selbst nicht; aber plötzlich war es ihm, als ob ihn eine unwiderstehliche Kraft packte und zu ihren Füßen niederwürfe. Er weinte und umschlang ihre Knie. Im ersten Augenblick erschrak sie heftig, und ihr ganzes Gesicht wurde totenblaß. Sie sprang auf und sah ihn zitternd an. Aber sofort, im gleichen Augenblicke, war ihr alles klar. In ihren Augen leuchtete eine grenzenlose Glückseligkeit auf; sie hatte ihn verstanden, und es gab nun für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebe, sie grenzenlos liebe und daß der langersehnte Augenblick endlich gekommen sei.

Sie wollten sprechen, aber sie konnten es nicht. Die Tränen standen ihnen beiden in den Augen. Beide waren sie blaß und mager; aber auf diesen blassen, kranken Gesichtern strahlte schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, einer völligen Wiedergeburt zu neuem Leben. Die Liebe war es, die diese Wiedergeburt bewirkt hatte; dem Herzen des einen entsprudelten unerschöpfliche Quellen des Lebens für das Herz des anderen.

Sie beschlossen, zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten sie noch vor sich und innerhalb dieser Zeit wieviel bittere Qual und wieviel unendliches Glück! Aber er war wiedergeboren, und er wußte das, fühlte es im tiefsten Innern seines erneuerten Wesens, und sie, sie lebte ja nur sein eigenes Leben mit!

Am Abend ebendieses Tages, als die Baracken bereits geschlossen waren, lag Raskolnikow auf der Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage hatte er sogar die Empfindung, als ob alle Sträflinge, seine bisherigen Feinde, ihn nunmehr anders ansähen. Er knüpfte selbst mit ihnen ein Gespräch an, und sie antworteten ihm freundlich. Diese Wandlung fiel ihm auf; aber es mußte ja wohl so sein; mußte sich jetzt nicht alles, alles ändern?

Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie beständig gepeinigt und ihr das Herz zerrissen hatte; er erinnerte sich ihres blassen, mageren Gesichtchens; aber diese Erinnerungen hatten jetzt für ihn fast nichts Quälendes: er wußte, mit wie grenzenloser Liebe er ihr jetzt alle ihre Leiden vergelten werde.

Und was wollten auch alle, alle diese Qualen der Vergangenheit besagen! Alles, selbst sein Verbrechen, selbst die Verurteilung und die Verschickung zur Zwangsarbeit erschien ihm jetzt in der ersten Glut der Empfindung nur wie ein äußerliches, seltsames Ereignis, ja wie etwas, was gar nicht ihm selbst zugestoßen sei. Indessen war er an diesem Abende nicht imstande, lange und dauernd an etwas zu denken und seine Gedanken auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren; auch hätte er jetzt keine Denkaufgabe lösen können; er konnte nur fühlen. An die Stelle des theoretischen Denkens war das wirkliche Leben getreten, und ganz neue Triebe begannen sich in seiner Seele zu regen.

Unter seinem Kopfkissen lag ein Neues Testament. Mechanisch griff er danach. Dieses Buch gehörte ihr; es war das nämliche, aus dem sie ihm über die Auferweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Zu Beginn seines Sträflingslebens hatte er gedacht, sie würde ihn beständig mit der Religion quälen, immer vom Evangelium zu reden anfangen und ihm Bücher aufdrängen. Aber zu seinem größten Erstaunen hatte sie auch nicht ein einziges Mal davon gesprochen und ihm auch niemals das Neue Testament angeboten. Er selbst hatte kurz vor seiner Krankheit sie um dieses Buch gebeten, und sie hatte es ihm gebracht und schweigend gegeben. Bisher hatte er es überhaupt noch nicht aufgeschlagen.

Auch jetzt schlug er es nicht auf; aber es kam ihm plötzlich der Gedanke: »Müssen ihre Überzeugungen jetzt nicht auch die meinigen sein? Wenigstens ihre Empfindungen, ihre Bestrebungen …«

Auch sie befand sich diesen ganzen Tag über in großer Aufregung; in der Nacht wurde sie sogar wieder krank. Aber sie war so glücklich, und sie war es so wider alles Erwarten geworden, daß sie über ihr Glück ganz erschrocken war. Sieben Jahre noch, nur noch sieben Jahre! In der ersten Zeit ihres Glückes dachten sie beide in manchen Augenblicken an diese sieben Jahre nur so, als ob es sieben Tage wären. Er überlegte nicht einmal, daß das neue Leben ihm doch nicht ganz umsonst zuteil werde, daß er vielmehr einen hohen Preis dafür entrichten, es mit einer großen zukünftigen Tat werde bezahlen müssen …

Aber hier beginnt bereits eine neue Geschichte, die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Sinneswandlung, des allmählichen Überganges aus einer Welt in eine andere, des Bekanntwerdens mit einer neuen, ihm bis dahin völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte den Stoff zu einer neuen Erzählung liefern; aber unsere jetzige Erzählung ist zu Ende.

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Kapitel 5

V

›In der Tat, vor kurzer Zeit hatte ich wirklich noch vor, Rasumichin um Arbeit zu bitten. Er sollte mir Privatstunden oder sonst etwas verschaffen‹, überlegte Raskolnikow; ›aber womit kann er mir jetzt helfen? Angenommen, er verschafft mir Stunden, angenommen sogar, er teilt mit mir seine letzte Kopeke, wenn er noch eine hat, so daß ich sogar imstande bin, mir Stiefel zu kaufen und meinen Anzug ausbessern zu lassen, um zu den Privatstunden gehen zu können,… hm. Aber was dann weiter? Was kann ich mit so ein paar Groschen anfangen? Entspricht das etwa meinem jetzigen Bedürfnisse? Es ist rein lächerlich, daß ich jetzt zu Rasumichin gehen wollte.‹

Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehen wollte, regte ihn in Wirklichkeit mehr auf, als er selbst glaubte; voll Unruhe suchte er irgendwelchen für ihn unheilverkündenden tieferen Sinn in diesem anscheinend ganz gewöhnlichen Vorhaben.

›Wollte ich denn die ganze Angelegenheit einzig und allein durch Rasumichins Beihilfe in Ordnung bringen, und glaubte ich, bei Rasumichin Rettung aus aller Not zu finden?‹ fragte er sich verwundert.

Er sann nach und rieb sich die Stirn, und – seltsam! – ganz unvermutet, plötzlich und fast von selbst kam ihm nach langer Überlegung ein sonderbarer Gedanke.

›Hm… zu Rasumichin‹, sagte er im Tone einer endgültigen Entscheidung vor sich hin und fühlte sich auf einmal völlig ruhig, ›zu Rasumichin werde ich gehen, bestimmt, … aber nicht jetzt gleich. Ich will zu ihm hingehen am Tage nach der betreffenden Sache, wenn die bereits erledigt ist und mein ganzes Leben einen neuen Anfang nimmt.‹

Und auf einmal kam er zur Besinnung.

»Nach der betreffenden Sache!« rief er und sprang von der Bank auf. »Aber wird die denn stattfinden? Wird sie wirklich stattfinden?«

Er verließ die Bank und ging weiter, er lief beinahe. Er war schon im Begriff, umzukehren und nach Hause zu gehen; aber hiergegen stieg ihm ein furchtbarer Ekel auf: dort, in jenem gräßlichen, schrankartigen Kämmerchen, war schon seit mehr als einem Monat dieser ganze Plan in seinem Gehirne herangereift – und er ging immer geradeaus weiter.

Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand sogar ein Frösteln; bei dieser Hitze fror ihn! Mit großer Anstrengung begann er, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, einem inneren Zwange gehorchend, alle Gegenstände, an denen er vorbeikam, zu betrachten, als suche er sich gewaltsam zu zerstreuen; aber das gelang ihm nur schlecht, und er geriet alle Augenblicke von neuem in seine Grübeleien. Wenn er aber dann wieder zusammenfuhr, den Kopf hob und um sich blickte, so hatte er sofort vergessen, woran er eben gedacht hatte, und sogar, wo er ging. Auf diese Weise durchquerte er die ganze seitwärts ab, ging in ein Gebüsch, ließ sich auf das Gras sinken und schlief in demselben Augenblicke ein.

Bei krankhaften Zuständen zeichnen sich die Träume oft durch ungemeine Lebhaftigkeit, Klarheit und außerordentliche Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Der eigentliche Gegenstand des Traumes ist dabei manchmal ganz ungeheuerlich, die näheren Umstände aber und die ganze Art, wie sich der Hergang abspielt, so wahrscheinlich und mit so feinen, überraschenden, aber künstlerisch zu dem Gesamtbilde durchaus passenden Einzelheiten ausgestattet, daß der Träumende im wachen Zustande, und wenn er ein Dichter wie Puschkin oder Turgenjew wäre, sie nicht ersinnen könnte. Solche krankhaften Träume haften immer lange im Gedächtnis und wirken stark auf den gestörten und schon erregten Organismus des Menschen.

Raskolnikow hatte einen furchtbaren Traum. Er träumte von seiner Kindheit, wo er noch in seinem Heimatstädtchen lebte. Er ist sieben Jahre alt und geht an einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater vor der Stadt spazieren. Es ist trübes Wetter, ein schwüler Tag; die Örtlichkeit ist genau dieselbe, wie sie sich in seinem Gedächtnisse erhalten hat; sie ist sogar in seinem Gedächtnisse lange nicht so scharf umrissen, wie sie ihm jetzt im Traume erscheint. Das Städtchen steht deutlich vor ihm da, zum Greifen nahe; ringsum auch nicht ein Weidenbaum; irgendwo, in sehr weiter Ferne, ganz am Horizonte, sieht man die dunkle Silhouette eines Wäldchens. Einige Schritte von dem letzten zur Stadt gehörigen Gemüsegarten entfernt steht eine Schenke, eine große Schenke, die auf ihn stets einen unangenehmen Eindruck gemacht, ja, ihm sogar Furcht eingeflößt hatte, wenn er mit seinem Vater auf dem Spaziergange daran vorbeigekommen war. Dort war immer ein großer Haufen von Menschen, die so entsetzlich schrien, lachten, schimpften, so unanständig und heiser sangen und sich so oft prügelten; in der Umgebung dieser Kneipe Umstand fesselt seine Aufmerksamkeit: heute scheint hier ein Volksvergnügen stattzufinden; da drängt sich ein dichter Menschenhaufe, aus geputzten Bürger- und Bauersfrauen, ihren Männern und allerlei Gesindel bestehend. Alle sind betrunken, alle singen Lieder, und vor der Tür der Schenke steht ein Wagen, aber ein seltsamer Wagen. Es ist einer jener großen Wagen, vor die man große Lastpferde spannt und auf denen man Waren und Branntweinfässer transportiert. Er hatte immer gern diese riesigen Lastpferde betrachtet, mit den langen Mähnen und den dicken Beinen, wie sie ruhig und gemessen einherschritten und einen ganzen Berg hinter sich herzogen, ohne besondere Anstrengung, ja, als wäre es ihnen mit der beladenen Fuhre leichter zu gehen als ohne diese. Aber jetzt ist wunderlicherweise an einen solchen großen Frachtwagen eine kleine, magere, falbe Bauernkracke gespannt, von der Art, wie sie sich (er hatte das oft gesehen) vielfach mit einer hochgepackten Fuhre Holz oder Heu abquälen, namentlich wenn der Wagen im Schmutze oder in tiefen Geleisen stecken bleibt; und dabei hauen dann die Bauern immer so roh, so roh mit der Peitsche auf sie los, manchmal gerade auf das Maul und in die Augen. Und es hatte ihm immer so leid, so leid getan, das mitanzusehen, daß er beinahe geweint hatte; die Mama hatte ihn dann immer vom Fenster weggeführt. Aber plötzlich erhebt sich ein großer Lärm: aus der Schenke kommen unter Schreien und Singen, mit Balalaiken in den Händen, stierartig betrunkene Bauern heraus, große Kerle in roten und blauen Hemden, die Röcke nur lose übergeworfen.

»Setzt euch rauf, setzt euch alle rauf!« schreit einer, ein junger Kerl mit dickem Halse und fleischigem, rotem Gesichte. »Ich fahre euch alle, setzt euch nur rauf!«

Gelächter antwortet auf diese Aufforderung, und es wird geschrien:

»So eine Kracke! Die wird uns auch gerade ziehen können!«

»Du bist wohl nicht gescheit, Mikolka? So eine kleine Stute vor so einen Wagen zu spannen!«

»Die kleine Falbe ist gewiß schon ihre zwanzig Jahre alt, Brüder!«

»Setzt euch nur rauf; ich fahre euch alle!« schreit Mikolka wieder, springt als erster auf den Wagen, faßt die Zügel und stellt sich in seiner ganzen Größe auf das Vorderteil. »Der Braune ist schon lange mit Matwej davon«, schreit er vom Wagen herunter. »Aber diese Stute tut weiter nichts als mich ärgern, Brüder; ich möchte sie am liebsten totschlagen; sie frißt ihr Futter umsonst! Hört ihr wohl: setzt euch rauf! Ich will sie Galopp laufen lassen! Galopp soll sie laufen!«

Er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet sich mit einer wahren Wonne darauf vor, das Pferd zu schlagen.

»Na, setzt euch doch rauf! Immer zu!« wird unter Lachen in der Menge gerufen. »Hört ihr wohl? Sie soll Galopp laufen!«

»Die ist wohl schon seit zehn Jahren nicht mehr Galopp gelaufen.«

»Das wird ein schöner Galopp werden!«

»Nur keine Schonung, Brüder! Jeder muß eine Peitsche nehmen; macht euch fertig!«

»Jawohl, jawohl! Die soll’s kriegen!«

Alle klettern unter Gelächter und Witzworten auf Mikolkas Wagen. Sechs Mann sind hinaufgestiegen, und es können noch mehr sitzen. Sie nehmen noch ein dickes Weib mit gesunder, roter Gesichtsfarbe mit hinauf. Sie trägt ein rotes baumwollnes Kleid, einen Kopfputz aus Glasperlen, an den Füßen plumpe Schuhe; sie knackt Nüsse und lacht. Ringsum in der Menge wird gleichfalls gelacht; und wirklich: warum sollten sie auch nicht lachen? So eine jämmerliche Mähre, und soll eine solche Last im Galopp ziehen! Zwei Burschen auf dem Wagen nehmen sofort jeder eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. »Hüh!« ruft dieser, und die Mähre zieht aus Leibeskräften, kann aber nicht einmal im Schritt damit zurechtkommen, geschweige denn im Galopp; sie trippelt nur mit den Beinen herum, ächzt und knickt ein unter den Hieben der drei Peitschen, die hageldicht auf sie niedersausen. Das Gelächter auf dem Wagen und in der Menge verdoppelt sich; aber Mikolka wird ärgerlich und peitscht in seiner Wut immer wieder auf die Stute los, als ob er wirklich dächte, sie würde noch galoppieren.

»Laßt mich auch mitmachen, Brüder!« schreit ein Bursche aus der Menge, der gleichfalls Lust bekommen hat.

»Steig nur rauf! Steigt nur alle rauf!« ruft Mikolka. »Sie muß alle ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!«

Und er peitscht und peitscht und blickt sich um, womit er sie wohl sonst noch in seiner Raserei schlagen könnte.

»Papa, Papa!« ruft das Kind seinem Vater zu. »Papa, was tun sie da? Papa, sie schlagen das arme Pferd!«

»Komm weg, komm weg!« antwortet der Vater. »Es sind Betrunkene; sie treiben Tollheiten, die Narren. Komm weg; sieh nicht hin.« Und er will ihn wegführen; doch das Kind reißt sich von seiner Hand los und läuft, seiner selbst nicht mächtig, zu dem Pferde. Aber mit dem armen Tiere steht es schon schlecht. Es verliert den Atem, bleibt stehen, zieht wieder an und fällt beinahe hin.

»Peitscht sie tot!« schreit Mikolka. »Jetzt geht’s los! Ich peitsche sie zu Tode!«

»Bist du denn kein Christenmensch, du Satan?“ ruft ein alter Mann aus dem Haufen.

»Hat man denn so etwas schon gesehen, daß so eine Kracke so eine Fuhre ziehen soll!« fügt ein andrer hinzu.

»Du wirst sie noch zu Tode quälen!« ruft ein Dritter.

»Das geht dich nichts an! Sie ist mein Eigentum. Ich kann mit ihr tun, was ich will. Steigt auch ihr noch rauf! Steigt alle noch rauf! Sie muß noch Galopp laufen!«

Plötzlich bricht ein allgemeines Gelächter los und übertönt alles: die Stute hat die unaufhörlichen Hiebe nicht mehr aushalten können und in ihrer Not angefangen auszuschlagen. Selbst der alte Mann kann sich des Lächelns nicht erwehren; wahrhaftig komisch: so ein jämmerliches Tier, und schlägt noch aus!

Zwei Burschen aus der Menge holen sich jeder eine Peitsche und laufen zu der Stute hin, um sie von den Seiten zu hauen. Jeder haut von seiner Seite.

»Aufs Maul! Haut sie in die Augen, in die Augen!« schreit Mikolka.

»Ein Lied, Brüder!« ruft einer auf dem Wagen, und alle, die darauf sind, fallen mit ein. Ein Gassenhauer ertönt; ein Tambourin rasselt; im Refrain wird gepfiffen. Das Weib knackt Nüsse und lacht.

Der Knabe läuft von hinten an das Pferd heran, läuft nach vorn; er sieht, wie es in die Augen geschlagen wird, gerade in die Augen! Er weint; das Herz will ihm brechen; die Tränen laufen ihm über die Wangen. Ein Peitschenhieb streift ihm das Gesicht, er fühlt es nicht; er ringt die Hände, er schreit, er stürzt zu dem grauköpfigen, graubärtigen Manne hin, der den Kopf schüttelt und dieses ganze Treiben mißbilligt. Eine Frau faßt ihn an der Hand und will ihn fortführen; aber er reißt sich los und läuft wieder zu dem Pferde hin. Das Tier ist schon beinahe mit seiner Kraft zu Ende; aber es beginnt noch einmal auszuschlagen.

»Hol dich der Satan!« schreit Mikolka wütend. Er wirft die Peitsche hin, bückt sich und zieht vom Boden des Wagens eine lange, dicke Deichselstange hervor, faßt sie mit beiden Händen am einen Ende und holt mit starker Anstrengung über der Falben aus.

»Er macht sie kaputt!« schreien die Umstehenden.

»Er schlägt sie tot!«

»Sie ist mein Eigentum!« schreit Mikolka und läßt mit aller Wucht die Deichselstange niederschmettern. Man hört einen schweren, dumpfen Schlag.

»Haut sie doch mit der Peitsche, haut sie! Was steht ihr!« rufen Stimmen aus dem Haufen.

Mikolka aber holt zum zweiten Male aus, und ein zweiter Schlag fällt mit aller Wucht auf den Rücken der unglücklichen Mähre. Sie knickt mit dem ganzen Hinterteil ein, springt aber auf und zieht und zieht mit dem Aufgebot der letzten Kräfte nach dieser und jener Seite, um den Wagen in Bewegung zu bringen; aber von allen Seiten schlagen sechs Peitschen auf sie ein, und die Deichselstange erhebt sich von neuem und fällt zum dritten und vierten Male im Takt wuchtig nieder. Mikolka ist ganz rasend, daß er die Stute nicht mit einem Schlage tot bekommt.

»Die ist zählebig!« rufen die Umstehenden.

»Jetzt wird sie bestimmt gleich fallen, Brüder; dann ist’s mit ihr aus!« ruft aus dem Haufen ein interessierter Zuschauer.

»Du solltest ein Beil nehmen und ihr flink den Garaus machen!« ruft ein Dritter.

»Ach was, hol dich der Kuckuck! Macht mal Platz da!« schreit Mikolka grimmig, wirft die Deichselstange von sich, bückt sich noch einmal zum Wagen hinunter und zieht eine eiserne Brechstange hervor. »Vorgesehen!« ruft er und holt mit aller Kraft nach seinem armen Pferdchen aus. Der Schlag schmettert nieder; die Stute schwankt, sinkt zusammen, macht einen Versuch anzuziehen; aber die Brechstange trifft sie von neuem mit voller Wucht in den Rücken, und das Tier fällt auf die Erde, als wären ihm alle vier Beine mit einem Male abgehauen.

»Nun gebt ihr den Rest!« schreit Mikolka und springt wie ein Besessener vom Wagen herunter. Einige Burschen, gleichfalls betrunken und mit geröteten Gesichtern, ergreifen, was ihnen in die Hände kommt, Peitschen, Stöcke, die Deichselstange, und laufen zu der verendenden Stute hin. Mikolka stellt sich auf der einen Seite neben das Tier und fängt an, es mit der Brechstange auf den Rücken zu schlagen, wohin er gerade trifft. Die Mähre streckt das Maul vor, holt noch einmal schwer Atem und stirbt.

»Na, nun hast du ihr das Lebenslicht ausgeblasen!« ruft jemand in dein Haufen.

»Warum wollte sie auch nicht Galopp laufen!«

»Sie ist mein Eigentum!« schreit Mikolka, die Brechstange in den Händen, mit blutunterlaufenen Augen. Er steht da, als bedauerte er, daß nichts mehr da ist, was er schlagen könnte.

»Aber du bist wirklich ein rechter Unchrist!“ rufen jetzt viele Stimmen aus der Menge.

Der arme Knabe ist ganz fassungslos. Laut aufschreiend drängt er sich durch den Schwarm hindurch zu der Falben hin, umfaßt ihren toten, blutigen Kopf und küßt ihn; er küßt sie auf die Augen, auf die Lefzen. Dann springt er plötzlich auf und stürzt in heller Wut, die kleinen Fäuste ballend, auf Mikolka los. In diesem Augenblicke bekommt der Vater, der schon lange hinter ihm her ist, ihn endlich zu fassen und trägt ihn aus dem Gedränge hinaus.

»Komm weg, komm weg!« sagt er zu ihm. »Wir wollen nach Hause gehen!«

»Papa! Warum haben sie… das arme Pferd… totgeschlagen?“ schluchzt er; aber er bekommt keine Luft, und die Worte ringen sich wie einzelne Schreie aus der gepreßten Brust.

»Sie sind betrunken,… sie treiben Unfug,… es geht uns nichts an,… komm weg!« sagt der Vater. Der Knabe schlingt beide Arme um den Vater; aber die Brust ist ihm so beengt, so furchtbar beengt. Er möchte Luft holen, aufschreien, und – er erwacht.

Er erwachte, ganz in Schweiß gebadet, mit feuchtem Haar, keuchend, und stand angstvoll auf.

»Gott sei Dank«, sagte er, »es war nur ein Traum.« Er setzte sich unter einen Baum und holte tief Atem. »Aber wie kommt das? Kündigt sich ein hitziges Fieber bei mir an? So ein grauenhafter Traum!«

Am ganzen Körper fühlte er sich wie zerschlagen; trüb und dunkel war es in seiner Seele. Er setzte die Ellbogen auf die Knie und stützte den Kopf in beide Hände. »Mein Gott!« rief er aus. »Werde ich denn wirklich, wirklich ein Beil nehmen, sie auf den Kopf schlagen, ihr den Schädel zerschmettern,… werde ich in das glitschige, warme Blut treten, das Schloß erbrechen, stehlen und zittern, mich verstecken, ganz mit Blut befleckt,… mit dem Beile… Mein Gott, kann das wirklich geschehen?«

Er zitterte, während er das sagte, wie Espenlaub.

»Aber was ist denn mit dir!« fuhr er, sich wieder aufrichtend, in tiefem Staunen fort. »Ich habe ja doch gewußt, daß ich es nicht würde ertragen können; also warum habe ich mich denn bis jetzt mit diesem Plane gequält? Erst gestern noch, als ich hinging, um diese Probe anzustellen, erst gestern noch wurde es mir vollständig klar, daß ich es nicht aushalten kann… Was will ich denn nun jetzt noch? Warum zweifle ich denn noch immer? Gestern, als ich die Treppe hinunterging, habe ich ja selbst gesagt, daß es gemein, häßlich, niedrig, ja niedrig ist; der bloße Gedanke hat ja ausgereicht, mir Übelkeit hervorzurufen und mich in Schrecken zu versetzen…

Nein, ich werde es nicht aushalten, ich werde es nicht aushalten! Und wenn auch in all diesen Berechnungen kein einziger zweifelhafter Punkt ist; und wenn auch alles, was ich mir in diesem Monate zurechtgelegt habe, klar wie der Tag und richtig wie das Einmaleins ist. O Gott! Ich werde mich ja doch nicht dazu entschließen! Ich werde es nicht aushalten können, nein!… Warum… warum habe ich nur bis jetzt…«

Er stand auf, blickte erstaunt um sich, wie in Verwunderung darüber, daß er hierhergeraten war, und ging nach der T… brücke. Er war blaß, die Augen brannten ihm, alle seine Glieder waren matt und kraftlos; aber auf einmal hatte er die Empfindung, daß er wieder freier atmen könne. Er fühlte, daß er diese schreckliche Last, die ihn so lange bedrückt hatte, nunmehr abgeworfen habe, und es wurde ihm auf einmal leicht und friedlich ums Herz. ›O Gott‹ betete er, ›zeige mir meinen Weg, und ich entsage diesem unseligen Plane!‹

Als er über die Brücke ging, betrachtete er still und ruhig die Newa und die leuchtend rot untergehende Sonne. Trotz seiner Schwäche verspürte er eigentlich keine Müdigkeit. Es war, als ob an seinem Herzen plötzlich ein Geschwür aufgegangen wäre, das sich einen ganzen Monat lang entwickelt hatte. Freiheit! Freiheit! Jetzt war er frei von dieser Bezauberung, dieser Behexung, diesem Taumel, dieser Verlockung!

Sooft er sich später an diese Zeit und an all das erinnerte, was sich mit ihm in diesen Tagen von einer Minute zur ändern, Punkt für Punkt zugetragen hatte, fiel ihm immer ein bestimmter einzelner Umstand auf, so daß er ihn beinahe abergläubisch machte; dieser Umstand war zwar in Wirklichkeit eigentlich nicht besonders ungewöhnlich, erschien ihm aber später stets wie eine Art Vorherbestimmung seines Schicksals.

Nämlich: er konnte es gar nicht begreifen und sich er- klären, warum er, statt auf dem kürzesten und geradesten Wege nach Hause zurückzukehren, was bei seiner Schwäche und Erschöpfung das Zweckmäßigste gewesen wäre, über den Heumarkt nach Hause ging, den zu passieren er nicht den geringsten Anlaß hatte. Der Umweg war ja kein großer, aber es war eben doch ein Umweg und völlig über- flüssig. Gewiß, es war bei ihm schon wer weiß wie oft vorgekommen, daß er nach Hause zurückkam, ohne sich erinnern zu können, durch welche Straßen er gegangen war. Aber warum – so fragte er sich später immer – warum ereignete sich eine so wichtige, für ihn so entscheidende und zugleich so höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte (über den er gar nicht zu gehen brauchte) gerade jetzt zu dieser Stunde, in diesem Augenblicke seines Lebens, gerade bei einer solchen Stimmung seiner Seele und gerade unter solchen Umständen, die allein es ermöglichten, daß diese Begegnung eine entscheidende, endgültige Einwirkung auf sein ganzes Schicksal ausübte? Als ob sie hier absichtlich auf ihn gewartet hätte!

Es war gegen neun Uhr, als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer, die auf Tischen, in Mulden, in Läden und Buden ihre Waren feilgehalten hatten, schlossen ihre Geschäfte oder nahmen ihren Kram weg und verwahrten ihn und begaben sich, ebenso wie ihre Käufer, nach Hause. Bei den Speisewirtschaften, die sich in den Kellergeschossen und auf den schmutzigen, übelriechenden Höfen der Häuser des Heumarktes befanden, und besonders bei den Schenken drängten sich Haufen von allerlei kleinen Gewerbsleuten und Gesindel. Raskolnikow hatte für diese Gegend sowie für die umliegenden Gassen eine besondere Vorliebe, wenn er so ohne bestimmtes Ziel ausging. Hier erregte seine zerlumpte Kleidung bei keinem Menschen eine naserümpfende Aufmerksamkeit; hier konnte man aussehen, wie man wollte, ohne bei jemand Anstoß zu erregen. Gleich an der Ecke der K…gasse hielten ein Kleinbürger und ein altes Weib, seine Frau, auf zwei Tischen ihre Ware feil: Zwirn, Band, baumwollne Tücher und dergleichen. Sie waren gleichfalls schon im Begriff, sich nach Hause zu begeben, wurden aber durch das Gespräch mit einer herangetretenen Bekannten noch aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder schlechthin, wie sie von allen Leuten genannt wurde, Lisaweta, die jüngere Schwester eben jener alten Aljona Iwanowna, der verwitweten Kollegienregistratorin und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um seine Uhr zu versetzen und eine Probe vorzunehmen … Über diese Lisaweta war er schon lange vollständig unterrichtet, und auch sie kannte ihn einigermaßen. Sie war ein großes, plumpes, schüchternes und bescheidenes Mädchen, fast schwachsinnig, fünfunddreißig Jahre alt; sie lebte bei ihrer Schwester in richtiger Sklaverei, arbeitete für sie Tag und Nacht, zitterte vor ihr und ließ es sich sogar gefallen, daß diese sie schlug. Sie stand überlegend mit einem Bündel in der Hand vor dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die beiden setzten ihr etwas mit besonderem Eifer auseinander. Als Raskolnikow auf einmal Lisaweta erblickte, überkam ihn ein seltsames Gefühl, eine Art tiefen Staunens, obgleich an dieser Begegnung eigentlich nichts Erstaunliches war.

»Sie sollten mit den Leuten selber mal reden und sich danach entscheiden, Lisaweta Iwanowna«, sagte der Händler laut. »Kommen Sie morgen zu uns, so gegen sieben Uhr. Die andern werden auch herkommen.«

»Morgen?« antwortete Lisaweta gedehnt und zögernd, als ob sie sich nicht entschließen könne.

»Sie haben viel zuviel Angst vor Aljona Iwanowna!« schwadronierte die Frau des Händlers, ein resolutes Weib. »Wenn man Sie so ansieht – ganz wie ein kleines Kind. Und dabei ist sie nicht einmal Ihre richtige Schwester, sondern nur Ihre Stiefschwester, und was hat sie sich für eine Herrschaft über Sie angemaßt!«

»Ich möchte Ihnen raten«, unterbrach sie der Mann, »sagen Sie Ihrer Schwester diesmal doch nichts davon; sondern kommen Sie zu uns, ohne sie erst zu fragen. Es ist ein vorteilhaftes Geschäft. Nachher wird es Ihre Schwester selbst finden.«

»Dann soll ich also herkommen?«

»Morgen um sieben; und von denen werden auch welche hier sein. Dann können Sie persönlich die Sache ins reine bringen.«

»Tee wollen wir auch machen«, fügte die Frau hinzu.

»Nun gut, ich werde kommen«, erwiderte Lisaweta, immer noch überlegend, und schickte sich langsam an fortzugehen.

Raskolnikow war nun schon an ihnen vorbei und hörte nichts mehr. Er war sachte und unauffällig vorbeigegangen, bemüht, kein Wort von dem Gespräche sich entgehen zu lassen. Sein anfängliches Staunen ging allmählich in Schrecken über, und Kälte lief ihm über den Rücken. Er hatte erfahren, plötzlich und ganz unerwartet erfahren, daß morgen, genau um sieben Uhr abends, Lisaweta, die Schwester der Alten und deren einzige Wohnungsgenossin, nicht zu Hause sein werde und daß also die Alte genau um sieben Uhr abends allein zu Hause war.

Bis zu seiner Wohnung hatte er nur noch wenige Schritte zu gehen. Er kam nach Hause wie ein zum Tode Verurteilter. Er überlegte nichts und war auch völlig außerstande, etwas zu überlegen; aber in seinem ganzen innersten Wesen fühlte er plötzlich, daß er jetzt keine Freiheit der Überlegung, keinen eigenen Willen mehr besitze und daß auf einmal alles endgültig entschieden sei.

Gewiß: wenn er auch jahrelang auf einen günstigen Zufall hätte warten wollen, so wäre doch nicht mit Sicherheit auf eine bessere Chance für das Gelingen seines Planes zu rechnen gewesen, als diese war, die sich ihm soeben auf einmal darbot. Jedenfalls würde es schwer sein, einen Tag vorher zuverlässig, mit größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliche Befragungen und Nachforschungen, in Erfahrung zu bringen, daß am andern Tage um soundso viel Uhr das und das alte Weib, auf das man einen Anschlag plant, mutterseelenallein zu Hause sein wird.

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Kapitel 6

VI

In späterer Zeit erfuhr Raskolnikow zufällig, weshalb der Händler und seine Frau eigentlich Lisaweta zu sich eingeladen hatten. Der Anlaß war ein ganz gewöhnlicher gewesen, der nicht das geringste Absonderliche an sich hatte. Eine von außen zugezogene verarmte Familie wollte ihre Sachen verkaufen, Kleidungsstücke und dergleichen, lauter Frauensachen. Da es unvorteilhaft war, diesen Verkauf auf dem Markte zu bewerkstelligen, so suchten sie eine Zwischenhändlerin. Lisaweta aber gab sich mit dergleichen Geschäften ab: sie übernahm Kommissionen, machte Gänge in Geschäftsangelegenheiten und hatte eine recht bedeutende Praxis, weil sie sehr ehrlich war und immer gleich den äußersten Preis bot; wenn sie einen Preis genannt hatte, dann blieb es auch dabei. Sie redete überhaupt nur wenig und war, wie bereits gesagt, schüchtern und schreckhaft.

Aber Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch geworden. Spuren dieses Aberglaubens blieben bei ihm in der Folgezeit noch lange haften und schienen fast unvertilgbar. Er neigte später immer dazu, in dieser ganzen Angelegenheit etwas Mystisches, Geheimnisvolles, das Walten besonderer Einwirkungen und zusammentreffender Zufälle zu sehen. Es war noch Winter gewesen, da hatte ihm ein Bekannter, der Student Pokorew, vor seiner Abreise nach Charkow gelegentlich im Gespräche die Adresse der alten Aljona Iwanowna mitgeteilt, für den Fall, daß er in die Lage käme, etwas zu versetzen. Lange brauchte er nicht von dieser Adresse Gebrauch zu machen, weil er Privatstunden hatte und sich auf diese Art so leidlich durchschlug. Vor anderthalb Monaten hatte er sich der Adresse erinnert; er besaß zwei Gegenstände, die sich zum Versetzen eigneten: eine alte silberne Uhr, die noch von seinem Vater stammte, und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen, den ihm seine Schwester beim Abschiede als Andenken geschenkt hatte. Er entschied sich dafür, den Ring hinzutragen; als er die Alte gefunden hatte, empfand er gleich beim ersten Blick, noch ehe er etwas Näheres von ihr wußte, einen unbezwingbaren Widerwillen gegen sie, nahm die zwei »Scheinehen«, die sie ihm gab, und kehrte auf dem Heimwege in ein geringes Restaurant ein. Da bestellte er sich Tee, setzte sich hin und überließ sich einem angestrengten Nachdenken. Ein seltsamer Gedanke arbeitete sich in seinem Kopfe hervor, wie ein Küchlein sich aus der Eierschale herauspickt, und beschäftigte ihn ganz außerordentlich lebhaft.

An einem andern Tischchen in seiner nächsten Nähe saßen ein Student, den er nicht kannte und den er sich nicht erinnerte jemals gesehen zu haben, sowie ein junger Offizier. Sie hatten Billard gespielt und tranken jetzt Tee. Auf einmal hörte Raskolnikow, daß der Student mit dem Offizier über eine Pfandleiherin Aljona Iwanowna, die Witwe eines Kollegienregistrators, sprach und ihm ihre Adresse mitteilte. Dies allein schon kam dem zuhörenden Raskolnikow merkwürdig vor: eben erst kam er von dort her, und nun wurde hier gerade von ihr geredet. Er sagte sich natürlich selbst, daß es ein zufälliges Zusammentreffen sei, konnte aber trotzdem eine ganz eigenartige Empfindung nicht loswerden. Und nun war’s, als ob es jemand ausdrücklich darauf anlegte, ihm eine Gefälligkeit zu erweisen: der Student begann seinem Bekannten allerlei Einzelheiten von dieser Aljona Iwanowna zu erzählen.

»Famoses Frauenzimmer«, sagte er. »Von der kriegt man immer Geld. Sie ist reich wie ein Jude; sie kann auf einen Schlag fünftausend Rubel auszahlen, verschmäht aber auch ein Pfand nicht, wenn es nur einen Rubel wert ist. Von uns Studenten sind schon viele bei ihr gewesen. Aber sie ist ein nichtswürdiges Luder …«

Und nun erzählte er, wie boshaft und schikanös sie sei, und daß das Pfand verfallen sei, wenn man sich mit der Einlösung auch nur um einen einzigen Tag verspäte. Sie gebe nur den vierten Teil des wahren Wertes, nehme fünf, ja sieben Prozent monatlich usw. Der Student kam dabei ins Reden und teilte noch weiter mit, die Alte habe eine Schwester, namens Lisaweta, die sich von ihr, dieser winzigen, garstigen Person, fortwährend schlagen lasse und von ihr in völliger Dienstbarkeit, wie ein kleines Kind, gehalten werde, obwohl Lisaweta von recht stattlicher Größe sei.

»Ja, die ist auch ein ganz sonderbarer Vogel!« rief der Student lachend.

Nun fingen sie an, von Lisaweta zu sprechen. Der Student erzählte von ihr mit ganz besonderem Behagen und lachte dabei fortwährend; der Offizier hörte mit großem Interesse zu und bat den Studenten, er möchte diese Lisaweta doch einmal zu ihm schicken; sie solle ihm die Wäsche ausbessern. Raskolnikow ließ sich kein Wort entgehen und erfuhr so mit einem Male alles mögliche: Lisaweta war die jüngere von beiden, eine Stiefschwester der Alten (von andrer Mutter), bereits fünfunddreißig Jahre alt. Sie arbeitete für die Schwester Tag und Nacht, diente im Haushalte als Köchin und Waschfrau, nähte außerdem für Geld, scheuerte in andern Häusern für Lohn und lieferte alles, was sie einnahm, der Schwester ab. Keinen einzigen Auftrag und keine Arbeit wagte sie ohne Erlaubnis der Alten anzunehmen. Die Alte hatte schon ihr Testament gemacht, und Lisaweta kannte es. Dieser fiel nach dem Testamente kein Groschen Geld zu, nur das Mobiliarvermögen, die Stühle und dergleichen; das gesamte Geld war einem Kloster im Gouvernement N… vermacht, mit der Verpflichtung, ewig Seelenmessen für die Verstorbene lesen zu lassen. Lisaweta war eine Kleinbürgerin und gehörte nicht, wie ihre Schwester, dem Beamtenstande an; sie war ledig, schrecklich plump von Gestalt, außerordentlich hoch gewachsen, hatte lange, stark nach auswärts stehende Füße, trug immer schiefgetretene Schuhe aus Ziegenleder und hielt auf Reinlichkeit des Körpers und der Kleidung. Das Interessanteste aber war (und auch dem Studenten erschien das besonders wunderbar, und er lachte darüber herzlich), daß Lisaweta sich fast immer in andern Umständen befand.

»Aber du sagst doch, daß sie so häßlich ist«, bemerkte der Offizier.

»Sie hat so eine braune Gesichtsfarbe, wie wenn sich ein Soldat Frauenkleider angezogen hätte; aber, weißt du, sehr häßlich ist sie keineswegs. Sie hat ein gutmütiges Gesicht und einen guten Ausdruck in den Augen, einen sehr guten Ausdruck. Es ist ganz erklärlich, daß sie vielen gefällt. Sie ist so still, sanft, unverdrossen, willig, zu allem willig. Und ihr Lächeln nimmt sich sogar sehr hübsch aus.«

»Na, sie gefällt dir wohl auch?« lachte der Offizier.

»Nun ja, der Kuriosität halber. Aber ich will dir mal etwas sagen: Diese verfluchte Alte möchte ich totschlagen und berauben, und«, fügte er eifrig hinzu, »ich versichere dir, daß ich es ohne alle Gewissensbisse tun würde.«

Der Offizier lachte wieder laut auf; Raskolnikow aber fuhr zusammen. Wie seltsam, daß er all das hier zu hören bekam!

»Erlaube mal, ich möchte dir eine ganz ernsthafte Frage vorlegen«, fuhr der Student, hitzig werdend, fort. »Ich habe jetzt eben natürlich nur im Scherz gesprochen; aber überlege mal: auf der einen Seite steht ein dummes, verdrehtes, wertloses, boshaftes, krankes, altes Weib, das niemandem nützt, sondern im Gegenteil allen Leuten nur schadet, das selbst nicht weiß, wozu es eigentlich lebt, und nächster Tage ganz von selbst sterben wird. Verstehst du wohl? Verstehst du wohl?«

»Nun ja, das verstehe ich schon«, erwiderte der Offizier und blickte seinen Bekannten, der stark in Eifer geriet, unverwandt und aufmerksam an.

»Höre weiter! Auf der andern Seite stehen junge, frische Kräfte, die, ohne der Welt nützen zu können, zugrunde gehen, weil sie keine Unterstützung finden, und zwar zu Tausenden, allüberall. Hundert, tausend gute Taten und Unternehmungen könnte man für das Geld der Alten, das sie einem Kloster zugedacht hat, ausführen oder fördern. Hunderte, vielleicht Tausende von Existenzen könnten in die richtige Bahn geleitet, Dutzende von Familien vor größter Armut, vor dem Verfall, vor dem gänzlichen Ruin, vor Unsittlichkeit und Geschlechtskrankheiten bewahrt werden – und alles das vermittels ihres Geldes. Wenn man sie ermordet und ihr Geld nimmt, um dann mit dessen Hilfe sich dem Dienste der ganzen Menschheit und der Sache der Allgemeinheit zu widmen: was meinst du, wird dann nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten Taten aufgewogen? Für ein Leben Tausende von Leben, die von Fäulnis und Ruin gerettet sind? Ein einziger Tod, und dafür hundert Leben – das ist doch ein einfaches Rechenexempel! Ja, und was bedeutet auf der großen Weltwaage das Leben dieses schwindsüchtigen, dummen, boshaften alten Weibes? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Schabe, sogar noch weniger, weil die Alte geradezu schädlich ist. Sie verkümmert anderen das Leben: neulich hat sie ihre Schwester Lisaweta vor Wut in den Finger gebissen, so daß er beinahe amputiert werden mußte.«

»Gewiß, sie verdient nicht, daß sie lebt«, entgegnete der Offizier. »Aber die Natur hat es nun doch einmal so eingerichtet.«

»Ach was, Bruder, die Natur kann man doch korrigieren und lenken, sonst müßten wir ja in unsern beschränkten, engherzigen Anschauungen geradezu versinken. Sonst gäbe es keine großen Männer. Es heißt immer: ›Pflicht, Gewissen‹; nun, ich will ja gegen Pflicht und Gewissen nichts sagen; aber was versteht man eigentlich darunter? Warte mal, ich will dir noch eine Frage vorlegen. Hör mal!«

»Nein, nun warte du mal; jetzt werde ich dich etwas fragen. Paß mal auf!«

»Nun?«

»Du hältst da jetzt großartige Reden; aber sage doch mal: würdest du selbst die Alte totschlagen, ja oder nein?«

»Selbstverständlich nein! Ich will ja auch nur sagen, was gerecht und billig wäre. Um mich handelt es sich dabei nicht.«

»Wenn du selbst dich dazu nicht entschließen kannst, so kann meiner Ansicht nach von Gerechtigkeit und Billigkeit dabei nicht die Rede sein. Komm, wir wollen noch eine Partie spielen!«

Raskolnikow befand sich in großer Aufregung. Gewiß, das waren ja ganz gewöhnliche, häufige, jugendlich unreife Gespräche und Gedanken, wie er sie schon oft, nur in andrer Form und über andre Gegenstände, mit angehört hatte. Aber warum mußte er gerade ein solches Gespräch und solche Gedanken gerade jetzt, mit anhören, wo soeben in seinem eigenen Kopfe ganz ebensolche Gedanken rege geworden waren? Und warum mußte er, gerade unmittelbar nachdem er von seinem Besuche bei der Alten den Keim zu seinem Gedanken mitgebracht hatte, auf ein Gespräch über die Alte stoßen? Dieses Zusammentreffen erschien ihm auch später immer seltsam. Dieses unbedeutende Wirtshausgespräch übte hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Sache einen ganz außerordentlichen Einfluß auf ihn aus, als ob da wirklich eine Art von Prädestination, von Fingerzeig vorgelegen hätte …

Als er vom Heumarkte nach Hause zurückgekehrt war, warf er sich auf das Sofa und blieb eine ganze Stunde dort sitzen, ohne sich zu rühren. Unterdes war es dunkel geworden; eine Kerze besaß er nicht; auch kam ihm gar nicht der Gedanke, daß es Zeit wäre, Licht anzuzünden. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er damals überhaupt an etwas gedacht hatte. Endlich spürte er wieder das Fiebern und Frösteln von vorhin, und mit einem Wonnegefühl kam ihm wie eine Erleuchtung der Gedanke, daß man auf einem Sofa auch liegen könne. Sofort überfiel ihn ein fester, bleierner Schlaf, der wie ein Alp auf ihm lastete.

Er schlief sehr lange und traumlos. Nastasja, die am andern Morgen um zehn Uhr zu ihm hereinkam, rüttelte ihn nur mit Mühe wach. Sie brachte ihm Tee und Brot. Der Tee war wieder ein zweiter Aufguß und wieder in ihrer eigenen Teekanne.

»Er schläft noch!« rief sie empört. »Immer schläft und schläft er!«

Mühsam richtete er sich auf. Der Kopf tat ihm weh; er war im Begriff, sich auf die Füße zu stellen, da blickte er sich in seinem Kämmerchen um und sank wieder auf das Sofa zurück.

»Willst du denn noch mehr schlafen?« rief Nastasja. »Du bist wohl gar krank?«

Er antwortete nicht.

»Willst du Tee?«

»Nachher«, brachte er mit Anstrengung hervor, machte die Augen zu und drehte sich nach der Wand.

Nastasja blieb ein Weilchen neben ihm stehen.

»Vielleicht ist er wirklich krank«, sagte sie dann, drehte sich um und ging weg.

Um zwei Uhr kam sie wieder herein mit einer Suppe. Er lag immer noch wie vorher da. Der Tee stand unangerührt. Nastasja fühlte sich ordentlich gekränkt und stieß ihn ärgerlich an.

»So ein Langschläfer!« rief sie ganz empört.

Er setzte sich auf, erwiderte ihr aber nichts und blickte auf den Fußboden.

»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja und erhielt wieder keine Antwort. »Geh doch wenigstens auf die Straße«, sagte sie nach einer kleinen Weile, »und laß dich ein bißchen vom Winde anblasen. Willst du nicht etwas essen?«

»Nachher«, antwortete er mit matter Stimme. »Geh jetzt fort.«

Er winkte ab, als wollte er von nichts mehr wissen.

Sie blieb noch einen Augenblick stehen, sah ihn mitleidig an und ging dann hinaus.

Einige Minuten darauf blickte er auf und sah lange nach dem Tee und der Suppe hin. Darauf nahm er das Brot, ergriff den Löffel und begann zu essen.

Er aß nur wenig, ohne Appetit, nur drei oder vier Löffel Suppe, ganz mechanisch. Der Kopfschmerz hatte sich etwas gelegt. Nachdem er gegessen hatte, streckte er sich wieder auf das Sofa; aber er konnte nicht einschlafen, sondern lag da, ohne sich zu rühren, mit dem Rücken nach oben, das Gesicht in das Kissen gedrückt. Dabei träumte er fortwährend im Wachen, und es waren immer zusammen, so daß er doppelt war, zog seinen weiten, starken, aus dickem Baumwollstoff gemachten Sommerpaletot (das einzige, was er außer dem Hemde auf dem Oberkörper trug) aus und nähte die beiden Enden des Streifens innen unter der linken Achsel an. Die Hände zitterten ihm beim Nähen; aber er überwand sich. Als er den Paletot wieder anzog, war von außen nichts zu sehen. Nadel und Faden hatte er sich schon vor längerer Zeit beschafft; sie hatten seitdem in ein Stückchen Papier gewickelt auf dem kleinen Tische gelegen. Was die Schlinge anlangt, so war das eine sehr geschickte eigene Erfindung von ihm. Die Schlinge war für das Beil bestimmt. Er konnte doch nicht auf der Straße ein Beil in der Hand tragen. Und wollte er es unter dem Paletot verbergen, so mußte er es mit einer Hand festhalten, und dies hätte auffallen können. Jetzt aber, wo er sich die Schlinge eingenäht hatte, brauchte er nur das Eisen des Beiles in diese hineinzustecken; dann hing das Beil auf dem ganzen Wege ruhig unter der Achselhöhle. Steckte er dann noch die Hand in die Seitentasche des Paletots, so konnte er auch das untere Ende des Beilstieles festhalten, damit es nicht hin und her schlenkerte; und da der Paletot sehr weit war, ein richtiger Sack, so konnte man auch von außen nicht bemerken, daß er etwas mit der Hand durch die Tasche hindurch festhalte. Diese Schlinge hatte er sich schon vor zwei Wochen ausgedacht.

Als er damit fertig war, steckte er die Finger in den schmalen Zwischenraum zwischen seinem »türkischen« Schlafsofa und dem Fußboden, tastete in der linken Ecke umher und zog das Pfandobjekt heraus, das er schon lange zurechtgemacht und dort versteckt hatte. Ein wirkliches Pfandobjekt war es nicht, sondern einfach ein glattgehobeltes Holzbrettchen in der ungefähren Größe und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses Brettchen hatte er zufällig bei einem seiner Spaziergänge auf einem Hofe gefunden, wo sich im Hinterhause eine Tischlerei befand. Nachher hatte er dem Brettchen noch ein glattes, dünnes Eisenstreifchen beigesellt, das wahrscheinlich irgendwovon abgebrochen war und das er gleichfalls einmal auf der Straße gefunden hatte. Diese beiden Stücke, von denen das Eisenplättchen etwas kleiner war als das Holzbrettchen, hatte er aneinandergelegt und mit einem Faden über Kreuz fest zusammengebunden; dann hatte er sie sorgsam und hübsch in reines weißes Papier gewickelt und dieses Päckchen so zugebunden, daß es schwierig aufzumachen war. Dies hatte den Zweck, für ein Weilchen die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken, wenn sie sich mit dem Knoten abmühen würde, und dabei den richtigen Augenblick abzupassen. Das Eisenstreifchen hatte er zur Erhöhung des Gewichtes hinzugetan, damit die Alte nicht gleich im ersten Augenblick erriete, daß das »Pfandobjekt« aus Holz war. Alles dies hatte bis zur geeigneten Zeit unter dem Sofa verwahrt gelegen. Eben hatte er das Pfandobjekt hervorgeholt, als er plötzlich jemanden auf dem Hofe rufen hörte:

»Es geht schon stark auf sieben!«

»Schon stark auf sieben! Mein Gott!«

Er lief zur Tür, horchte hinaus, nahm seinen Hut und stieg vorsichtig und geräuschlos wie eine Katze seine dreizehn Stufen hinab. Nun hatte er das wichtigste Stück seiner Aufgabe vor sich: aus der Küche das Beil zu stehlen. Daß die Tat gerade mit einem Beile ausgeführt werden sollte, hatte er schon längst fest beschlossen. Er besaß zwar noch ein Gartenmesser zum Zusammenklappen; aber auf das Messer und namentlich auf seine Kräfte mochte er sich nicht verlassen; darum war es endgültig bei dem Beile geblieben. Wir merken beiläufig hinsichtlich aller endgültigen Entschlüsse, die er in dieser Angelegenheit bereits gefaßt hatte, eine Besonderheit an. Sie hatten eine seltsame Eigenschaft: je endgültiger sie wurden, um so ungeheuerlicher und ungereimter erschienen sie in seinen Augen. Trotz all seiner qualvollen inneren Kämpfe hatte er diese ganze Zeit über auch nicht einen Augenblick lang an die Ausführbarkeit seiner Pläne glauben können.

Ja, selbst wenn es jemals dahin gekommen wäre, daß er bereits alles bis auf das letzte Pünktchen zurechtgelegt und endgültig entschieden gehabt hätte und keinerlei Zweifel mehr zurückgeblieben wären, so hätte er sogar dann wahrscheinlich den ganzen Plan als etwas Ungeheuerliches, Absurdes und Unmögliches fallenlassen. Aber jetzt gab es noch eine wahre Unmenge von Punkten, über die er sich noch nicht schlüssig war, und von bedenklichen Zweifeln. Was die Frage anlangte, woher er sich ein Beil beschaffen könne, so beunruhigte ihn diese Kleinigkeit ganz und gar nicht; denn nichts war leichter als das. Die Sache war die, daß Nastasja, namentlich abends, häufig das Haus verließ; entweder lief sie zu den Nachbarn herüber oder in einen Laden; die Küchentür ließ sie aber immer weit offen stehen. Die Wirtin zankte mit ihr darüber fortwährend. Also brauchte er im rechten Augenblick nur leise in die Küche zu gehen und das Beil zu nehmen und dann eine Stunde darauf, wenn alles erledigt war, wiederzukommen und es wieder hinzulegen. Aber es fehlte doch auch nicht an Bedenken. Gesetzt, er kam nach einer Stunde zurück, und Nastasja war dann bereits heimgekehrt. Dann mußte er natürlich vorbeigehen und warten, bis sie wieder fortging. Wenn sie nun aber inzwischen das Beil vermißte, danach suchte und ein großes Geschrei erhob – dann war der Verdacht da, oder wenigstens die Möglichkeit eines Verdachtes.

Aber da waren noch viele andre Kleinigkeiten, die er bisher weder überlegt noch zu überlegen Zeit gehabt hatte. Er hatte immer nur an die Hauptsache gedacht und die Kleinigkeiten bis zu dem Zeitpunkte verschoben, wo er »mit sich selbst über alles im klaren sein werde«. Aber daß dieser Zeitpunkt jemals kommen werde, war als ganz unmöglich erschienen. Wenigstens ihm selbst war es so erschienen. Er hatte es sich z.B. gar nicht vorstellen können, daß er jemals seinen Überlegungen ein Ende machen, aufstehen und einfach dorthin gehen werde … Selbst seine neuliche Probe, d.h. der Besuch mit der Absicht einer letzten Besichtigung der Örtlichkeit, war ganz und gar nicht etwas ernst Gemeintes gewesen, sondern nur so aus dem Gedanken hervorgegangen: ›Na, wir können ja mal hingehen und probieren; wozu immer bloß daran denken!‹ Und bei dieser Probe hatte seine Energie sich sofort als unzulänglich erwiesen; die Sache war ihm zuwider geworden, und er war, wütend über sich selbst, davongerannt. Und doch, sollte man meinen, hatte er die gesamte moralische Prüfung und Entscheidung der Frage vorher schon erledigt; seine Kasuistik, die so scharf geschliffen war wie ein Rasiermesser, hatte alle Einwendungen gegen die Tat widerlegt, und er hatte in seinem Innern keine weiteren Einwendungen mehr vorgefunden, die ihm zum klaren Bewußtsein gekommen wären. Aber bei diesem Resultate traute er einfach sich selbst nicht und tastete hartnäckig rechts und links nach neuen Einwendungen umher, als ob ihn jemand wie einen Sklaven dazu zwänge und anhielte. Der letzte Tag aber, der Tag, der so unerwarteterweise der letzte geworden war und alles mit einem Male zur Entscheidung gebracht hatte, hatte auf ihn fast völlig mechanisch gewirkt: wie wenn ihn jemand bei der Hand ergriffe und hinter sich herzöge, unwiderstehlich, blindlings, mit übernatürlicher Kraft, ohne Widerrede. Er war gleichsam mit einem Zipfel seiner Kleidung an einem Maschinenrade hängengeblieben, und dieses begann ihn in das Triebwerk hineinzuziehen.

Anfänglich (das war übrigens schon lange her) hatte ihn eine bestimmte Frage viel beschäftigt: nämlich, warum doch fast alle Verbrechen so leicht entdeckt und herausgebracht werden, und warum die Spuren fast aller Verbrecher so deutlich zu erkennen sind. Er gelangte allmählich zu mancherlei interessanten Schlußfolgerungen, und nach seiner Ansicht lag die Hauptursache nicht sowohl in der materiellen Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als vielmehr in dem Verbrecher selbst; der Verbrecher selbst, und zwar fast jeder, unterliege im Augenblicke des Verbrechens einer gewissen Verringerung der Willens- und Urteilskraft, an deren Stelle im Gegenteil ein hochgradiger, kindlicher Leichtsinn trete, und das gerade in dem Augenblicke, wo Urteilskraft und Vorsicht am allernötigsten wären. Nach seiner Überzeugung war der Hergang dieser: die Verdunkelung der Urteilskraft und die Herabminderung des Willens überfallen den Menschen wie eine Krankheit, entwickeln sich stufenweise und erreichen kurz vor der Ausführung des Verbrechens ihren Höhepunkt; sie verbleiben auf demselben im Augenblicke des Verbrechens selbst und noch einige Zeit nachher, je nach der Individualität des Betreffenden; dann verschwinden sie ganz genauso wie jede andere Krankheit. Die Frage aber, ob das Verbrechen selbst durch eine Krankheit hervorgerufen oder ob es irgendwie, vermöge seiner Eigenart, immer von krankheitsartigen Erscheinungen begleitet werde, diese Frage zu entscheiden, fühlte er sich noch nicht imstande.

Indem er zu solchen Resultaten gelangte, sagte er sich, daß mit ihm persönlich bei seiner Tat derartige krankhafte Veränderungen nicht stattfinden könnten, sondern daß seine Urteils- und Willenskraft während der ganzen Dauer der Ausführung seines Vorhabens ungeschwächt bleiben werde, einfach deswegen, weil sein Vorhaben »kein Verbrechen« sei. Wir lassen den ganzen Denkprozeß beiseite, durch den er zu diesem letzten Urteile gelangt war (wir sind ohnedies in diesen Erörterungen schon zu weit gegangen), und fügen nur noch hinzu, daß die äußeren, rein materiellen Schwierigkeiten der Tat bei seinen Überlegungen überhaupt nur eine ganz untergeordnete Rolle spielten. ›Man muß sich diesen Schwierigkeiten gegenüber nur die ganze Willens- und Urteilskraft bewahren, und sie werden sich zu gegebener Zeit alle überwinden lassen, sobald es erforderlich wird, sich mit allen Einzelheiten des Unternehmens bis zur geringsten Kleinigkeit vertraut zu machen …‹ Aber er nahm eben das Unternehmen nicht in Angriff. An die endgültigen Entscheidungen, die er getroffen hatte, glaubte er im Laufe der Zeit immer weniger, und als die Stunde schlug, kam alles ganz anders, gewissermaßen zufällig, ja fast unerwartet.

Ein unbedeutender Umstand kam ihm in die Quere, noch bevor er die Treppe hinuntergestiegen war. Als er zur Küche gelangte, deren Tür wie immer weit offenstand, schielte er vorsichtig hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob auch nicht in Nastasjas Abwesenheit die Wirtin selbst darin sei, und verneinendenfalls, ob auch die nach ihrem Zimmer führende Tür ordentlich geschlossen sei, damit sie es nicht von dort aus sehen könnte, wenn er in die Küche träte, um das Beil zu holen. Aber welchen Schreck bekam er, als er wahrnahm, daß sich Nastasja diesmal nicht nur zu Hause, in ihrer Küche befand, sondern sogar mit einer Arbeit beschäftigt war: sie nahm Wäsche aus einem Korbe und hängte sie auf die Leine! Als sie ihn sah, hörte sie mit dem Aufhängen auf und blickte ihn die ganze Zeit, während er vorbeiging, an. Er wandte die Augen ab und ging vorbei, als hätte er nichts bemerkt. Aber das Unternehmen war damit zu Ende: er hatte kein Beil! Er war höchst bestürzt.

›Wie bin ich nur darauf gekommen‹, dachte er, während er nach dem Tore zu ging, ›wie bin ich nur darauf gekommen, zu glauben, sie würde gerade in dem betreffenden Augenblicke bestimmt nicht zu Hause sein? Warum, warum, ja warum war ich so fest davon überzeugt?‹ Er war ganz niedergeschmettert und fühlte sich beinahe gedemütigt; in seinem Ärger hätte er über sich selbst laut lachen mögen. Eine stumpfsinnige, tierische Wut kochte in ihm.

Nachdenkend blieb er unter dem Torwege stehen. Auf die Straße zu gehen und zwecklos, nur so zum Schein, einen Spaziergang zu machen, das widerstand ihm; nach Hause zurückzukehren widerstand ihm noch mehr. ›Was für eine günstige Gelegenheit habe ich für immer verloren!‹ murmelte er, während er unentschlossen unter dem Tore stand, gerade vor der dunklen Kammer des Hausknechts, die gleichfalls offenstand. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des Hausknechts, von der er nur zwei Schritte entfernt war, sah er unter einer Bank rechts etwas blinken … Er blickte sich um – es war niemand zu sehen. Auf den Zehen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinunter und rief mit gedämpfter Stimme nach dem Hausknechte. ›Es ist richtig, er ist nicht zu Hause. Er wird wohl irgendwo in der Nähe, vielleicht auf dem Hofe sein, da die Tür weit offensteht.‹ Hastig stürzte er nach dem Beil (denn ein solches war es) hin, zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor, befestigte es gleich dort, noch ehe er wieder hinaustrat, in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ die Kammer; niemand hatte ihn bemerkt. ›Wo der Verstand nicht hilft, hilft der Teufel!‹ dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. Dieser Zufall ermutigte ihn außerordentlich.

Er ging auf der Straße ruhig und gemächlich, ohne sich zu beeilen, um keinerlei Verdacht zu erregen. Nach den Vorübergehenden blickte er wenig hin; er gab sich sogar Mühe, ihnen gar nicht ins Gesicht zu sehen und selbst möglichst wenig beachtet zu werden. Da erinnerte er sich seines Hutes. ›Mein Gott! Und vorgestern hatte ich doch Geld und hätte mir statt seiner eine Mütze anschaffen können!‹ Er fluchte ingrimmig.

Als er zufällig in einen Laden hineinschielte, sah er, daß es an einer dort hängenden Wanduhr schon zehn Minuten über sieben war. Er mußte sich beeilen, da er auch noch einen Umweg zu machen hatte; denn er wollte sich dem Hause von der andern Seite her nähern.

Früher, wenn er sich all dies in Gedanken im voraus ausgemalt hatte, hatte er manchmal gemeint, er werde dabei große Furcht haben. Aber er fürchtete sich jetzt nicht sonderlich, ja eigentlich überhaupt nicht. Es beschäftigten ihn in diesem Augenblicke sogar mancherlei ganz fremdartige Gedanken, wiewohl immer nur kurze Zeit. Als er an dem Jussupow-Garten vorbeikam, begann er mit großem Interesse einen Plan zur Anlegung hoher Springbrunnen zu entwerfen, die auf allen freien Plätzen die Luft schön frisch machen würden. Diesen Gedanken weiter verfolgend, kam er allmählich zu der ihm sehr einleuchtenden Idee, man müsse den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnen und dann noch mit dem Michailowskij -Garten vereinigen; das würde für die Stadt einen schönen Schmuck und einen großen Nutzen bedeuten. Dann interessierte ihn auf einmal eine andre Frage: warum eigentlich in allen großen Städten die Menschen (von Gründen äußerer Notwendigkeit ganz abgesehen) eine ganz besondere Neigung dazu haben, gerade in solchen Stadtteilen sich niederzulassen und zu wohnen, wo keine Gärten und Springbrunnen, sondern Schmutz, übler Geruch und allerlei andre häßliche Dinge zu finden sind. Dabei kamen ihm seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkte in den Sinn, und er wurde aus seinen Phantasien wieder für einen Augenblick in die Wirklichkeit versetzt. ›An was für dummes Zeug denke ich da!‹ sagte er sich. ›Nein, besser ist’s schon, an gar nichts zu denken!‹

›Wahrscheinlich klammern sich Menschen, die zur Hinrichtung geführt werden, in derselben Weise mit ihren Gedanken an allerlei Gegenstände an, die ihnen unterwegs in die Augen fallen‹, dachte er flüchtig; aber dieser Gedanke huschte ihm nur momentan, wie ein Blitz, durch den Kopf; er selbst verscheuchte ihn wieder so schnell wie möglich … Aber nun war er schon nahe; da war das Haus; da war der Torweg. Irgendwo tönte von einer Uhr ein einzelner Schlag. ›Wie? Ist es wirklich schon halb acht? Das ist nicht möglich; die Uhr geht gewiß vor.‹

Zu seinem Glücke ging im Torweg auch diesmal wieder alles nach Wunsch. Wie gerufen, fuhr gerade in diesem Augenblicke dicht vor ihm eine gewaltige Fuhre Heu in den Torweg hinein, die ihn die ganze Zeit über, während er durch den Torweg hindurchging, verdeckte, und sowie der Wagen aus dem Torweg in den Hof einfuhr, schlüpfte er in einem Nu nach rechts. Er hörte, wie auf der andern Seite des Wagens ein paar Stimmen schrien und zankten; aber niemand hatte ihn bemerkt, und niemand kam ihm entgegen. Viele Fenster, die auf diesen riesigen, quadratischen Hof hinausgingen, standen in diesem Augenblick offen; aber er hob den Kopf nicht in die Höhe; er fand in sich nicht die Kraft dazu. Die Treppe, die zu der Wohnung der Alten hinaufführte, befand sich ganz in der Nähe, gleich rechts vom Torweg. Schon war er an der Treppe …

Er holte Atem, drückte die Hand gegen das stark klopfende Herz, tastete dabei zugleich nach dem Beile und schob es noch einmal zurecht; dann begann er vorsichtig und leise, alle Augenblicke horchend, die Treppe hinaufzusteigen. Aber auch die Treppe war um diese Zeit völlig leer; alle Türen waren geschlossen; er begegnete keinem Menschen. Im ersten Stock allerdings stand die Tür zu einer leerstehenden Wohnung weit offen, und drinnen waren Maler bei der Arbeit; aber auch diese sahen nicht nach ihm hin. Er blieb einen Augenblick stehen, überlegte und ging dann weiter. ›Gewiß, besser wäre es, wenn die nicht hier wären; aber … es liegen ja noch zwei Stockwerke über ihnen.‹

Aber nun war er im dritten Stock; da war die Tür der Alten, und da gegenüber noch eine andre Wohnung; diese stand leer. Im zweiten Stock war die Wohnung, die gerade unter der Wohnung der Alten lag, allem Anschein nach gleichfalls unbewohnt: die Visitenkarte, die mit Reißstiften an die Tür genagelt gewesen war, war abgenommen – also waren die Leute ausgezogen! … Er konnte kaum Atem holen. Einen Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›0b ich nicht lieber wieder fortgehe?‹ Aber er gab sich keine Antwort und horchte nach der Wohnung der Alten hin: es herrschte dort Totenstille. Dann horchte er noch einmal nach der Treppe hinunter, lange und aufmerksam … Hierauf sah er sich zum letzten Male um, nahm seinen Mut zusammen, rückte seinen Anzug zurecht und fühlte noch einmal nach dem Beil in der Schlinge. ›Ob ich auch nicht allzu blaß aussehe?‹ dachte er. ›Bin ich auch nicht in übermäßiger Erregung? Sie ist mißtrauisch. Ob ich lieber noch einen Augenblick warte, bis das Herz in Ordnung kommt?‹

Aber das Herz kam nicht in Ordnung. Im Gegenteil, es schlug, wie ihm zum Tort, nur immer heftiger. Er konnte es nicht ertragen, noch länger zu warten, streckte langsam die Hand nach der Klingel aus und schellte. Nach einer halben Minute schellte er noch einmal, etwas stärker.

Nichts rührte sich. So einfach weiter zu klingeln hatte keinen Zweck und paßte ihm nicht in seinen Plan. Er sagte sich, daß die Alte sich selbstverständlich in der Wohnung befinde, aber allein zu Hause und darum besonders argwöhnisch sei. Er kannte schon teilweise ihre Gewohnheiten und legte darum noch einmal sein Ohr dicht an die Tür. Ob nun seine Sinne so scharf waren (was sich allerdings schwer annehmen läßt), oder ob es wirklich nicht schwer zu hören war, genug, er vernahm ein vorsichtiges Herumtasten einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Tür. Es stand jemand heimlich dicht am Türschloß und horchte, ganz ebenso wie er hier von außen, so seinerseits versteckt von innen, und hatte anscheinend gleichfalls das Ohr an die Tür gedrückt …

Er machte absichtlich ein paar Bewegungen und brummte ziemlich laut etwas vor sich hin, um nicht den Anschein zu erwecken, als ob er sich verstecken wolle; dann schellte er zum dritten Male, aber sacht, maßvoll und ohne jedes Zeichen von Ungeduld. Sooft er sich in späterer Zeit hieran erinnerte, und zwar in voller Klarheit und Deutlichkeit (denn dieser Augenblick hatte sich seinem Gedächtnisse für das ganze Leben eingeprägt), so war es ihm stets unbegreiflich, wo er nur so viel Schlauheit hergenommen hatte, um so mehr, da sein Verstand sich in einzelnen Augenblicken geradezu verdunkelte und er seinen Körper fast gar nicht fühlte … Einen Augenblick darauf hörte er, wie der Riegel gelöst wurde.

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Kapitel 7

VII

Die Tür wurde wie das vorige Mal nur bis zu einem schmalen Spalt geöffnet, und wieder hefteten sich zwei scharfe, mißtrauische Augen aus der Dunkelheit auf ihn. In diesem Momente verlor Raskolnikow die ruhige Überlegung und beging einen großen Fehler.

Da er befürchtete, die Alte könnte sich ängstigen, weil sie beide allein wären, und da er nicht zu hoffen wagte, sein Äußeres werde sie von seiner Harmlosigkeit überzeugen, so griff er nach der Tür und zog sie an sich heran, damit die Alte sich nicht etwa beifallen ließe, sie wieder zuzumachen. Als sie dies wahrnahm, riß sie zwar die Tür nicht wieder zu sich heran, ließ aber auch nicht den Türgriff los, so daß Raskolnikow sie beinahe mit der Tür auf die Treppe herauszog. Da er aber sah, daß sie quer vor der Tür stand und ihm den Eintritt versperrte, trat er gerade auf sie zu. Die Alte sprang erschrocken zurück und wollte etwas sagen; aber sie konnte kein Wort hervorbringen und blickte ihn nur mit weit geöffneten Augen an.

»Guten Tag, Aljona Iwanowna«, begann er in möglichst ungezwungenem Tone; aber die Stimme gehorchte ihm nicht, sondern bebte und versagte. »Ich bringe Ihnen hier … einen Wertgegenstand … Aber kommen Sie doch lieber dorthin … ans Licht.«

Er ließ sie stehen und ging geradezu, ohne dazu aufgefordert zu sein, ins Zimmer. Die Alte eilte ihm nach; jetzt hatte sie endlich die Sprache wiedergefunden.

»Herr Gott, was wollen Sie denn? Wer sind Sie? Was wünschen Sie?«

»Aber ich bitte Sie, Aljona Iwanowna, Sie kennen mich doch von früher, … Raskolnikow … Hier bringe ich Ihnen das Pfandstück, von dem ich neulich schon gesprochen habe …«

Er hielt ihr das Pfandstück hin. Die Alte sah einen Augenblick nach dem Pfandstück, starrte dann aber sogleich wieder dem zudringlichen Besucher in die Augen. Sie betrachtete ihn aufmerksam, ergrimmt und mißtrauisch. So verging etwa eine Minute; er glaubte sogar in ihren Augen etwas wie Spott zu erkennen, als ob sie alles schon erraten hätte. Er fühlte, daß er die ruhige Überlegung verlor und beinahe Furcht bekam, solche Furcht, daß es ihm schien, wenn sie ihn so, ohne ein Wort zu sagen, noch eine halbe Minute lang ansähe, so würde er davonlaufen.

»Warum sehen Sie mich denn so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennten?« sagte er auf einmal gleichfalls ärgerlich. »Wenn Sie wollen, dann nehmen Sie es; wenn nicht, dann gehe ich zu jemand anders; viel Zeit habe ich nicht.«

Er hatte so etwas eigentlich gar nicht sagen wollen; aber es fuhr ihm so von selbst heraus.

Die Alte gewann ihre Fassung wieder, und der entschiedene Ton des Besuchers beruhigte sie offenbar.

»Aber Väterchen, wie können Sie nur gleich so … Was ist es denn?« fragte sie mit einem Blick auf das Pfandstück.

»Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe ja schon das vorige Mal davon gesprochen.«

Sie streckte die Hand danach aus.

»Aber woher sind Sie denn nur so blaß? Ihnen zittern ja auch die Hände so! Sie haben wohl gebadet, Väterchen?«

»Ich habe Fieber«, antwortete er kurz. »Da kann man schon blaß werden, … wenn man nichts zu essen hat«, fügte er murmelnd hinzu. Die Kraft verließ ihn wieder. Aber seine Antwort hatte den Eindruck der Wahrheit gemacht; die Alte nahm das Pfandstück.

»Was ist das für ein Ding?« fragte sie, indem sie Raskolnikow noch einmal scharf anblickte und das Pfandstück in der Hand wog.

»Ein Wertstück, … ein Zigarettenetui … aus Silber. Sehen Sie es sich nur an.«

»Na, Silber wird es wohl kaum sein … Aber haben Sie das fest verschnürt!«

Während sie sich damit abmühte, den Bindfaden aufzuknüpfen, und sich nach dem Fenster zum Lichte wendete (alle Fenster waren in ihrer Wohnung trotz der Schwüle geschlossen), ließ sie ihn einige Sekunden ganz außer acht und drehte ihm den Rücken zu. Er knöpfte seinen Paletot auf und zog das Beil aus der Schlinge heraus, holte es aber noch nicht ganz hervor, sondern hielt es mit der rechten Hand unter dem Paletot. Seine Arme waren entsetzlich schwach; er hatte selbst die Empfindung, daß sie mit jedem Augenblicke tauber und starrer würden. Er fürchtete, er würde das Beil nicht mehr halten können und fallen lassen; … es wurde ihm auf einmal ganz schwindlig.

»Aber wie haben Sie das verknotet!« rief die Alte ärgerlich und machte eine Bewegung nach ihm zu.

Nun war keine Sekunde mehr zu verlieren. Er zog das Beil ganz hervor, hob es, fast ohne Besinnung, mit beiden Händen in die Höhe und ließ, beinahe ohne eigene Anstrengung, beinahe rein mechanisch, den Beilrücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Er hatte in diesem Augenblicke eigentlich gar keine Kraft in sich gehabt. Aber sobald er einmal das Beil hatte fallen lassen, stellte sich auch die Kraft wieder ein.

Die Alte war wie immer im bloßen Kopf. Ihr hellblondes, zum Teil schon ergrautes, dünnes Haar, wie gewöhnlich stark geölt, war in ein Zöpfchen geflochten, das große Ähnlichkeit mit einem Rattenschwanze hatte, und mit einem zerbrochenen Hornkamm hochgesteckt, der auf ihrem Hinterkopfe abstand. Der Schlag hatte sie, da sie von kleiner Statur war, gerade auf den Scheitel getroffen. Sie schrie auf, aber nur sehr schwach, und sank sofort in sitzender Stellung auf den Boden, hob aber noch schnell beide Hände zum Kopfe. In der einen Hand hielt sie immer noch das Pfandstück. Da schlug er aus voller Kraft noch einmal und noch einmal zu, immer mit dem Rücken des Beiles und immer auf den Scheitel. Das Blut strömte heraus wie aus einem umgestoßenen Glase, und der Körper sank hintenüber gegen Raskolnikows Beine. Raskolnikow trat zurück, ließ ihn vollends hinfallen und bückte sich sogleich zu ihrem Gesichte; sie war bereits tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie herausspringen wollten, die Stirn und das ganze Gesicht in Falten gezogen und krampfhaft verzerrt.

Er legte das Beil auf den Fußboden neben die Tote und griff ihr sogleich in die Tasche, in eben die rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die Schlüssel herausgeholt hatte; dabei nahm er sich in acht, sich nicht mit dem hervorquellenden Blute zu besudeln. Er war bei vollem Verstande; Trübung der geistigen Fähigkeiten und Schwindelgefühl waren nicht mehr vorhanden; aber die Hände zitterten ihm immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr achtsam und vorsichtig gewesen war und sich die größte Mühe gegeben hatte, sich nicht blutig zu machen … Die Schlüssel fand er sofort und zog sie heraus; sie bildeten alle, wie damals, ein Bund und hingen an einem stählernen Ringe. Schnell lief er mit ihnen in das Schlafzimmer. Dies war ein sehr kleines Zimmer mit einem gewaltigen Schrein voll von Heiligenbildern. An einer andern Wand stand ein großes Bett, sehr sauber, mit einer aus lauter kleinen Seidenstückchen zusammengesetzten Steppdecke. An der dritten Wand stand eine Kommode. Aber seltsam! Sowie er die Schlüssel in die Kommode hineinzupassen begann und ihr Klappern hörte, lief ihm ein krampfhafter Schauder über den Leib. Wieder wandelte steckte ihn unbesehen in die Tasche; die Kreuze warf er der Alten auf die Brust. Dann eilte er wieder in das Schlafzimmer; diesmal nahm er auch das Beil mit.

Er beeilte sich aufs äußerste, griff nach den Schlüsseln und mühte sich von neuem mit ihnen ab. Aber es wollte ihm nicht gelingen; sie paßten nicht in die Schlösser. Nicht daß seine Hände so stark gezittert hätten; aber er irrte sich fortwährend: er sah z.B., daß ein Schlüssel nicht der richtige war, nicht paßte; aber er steckte ihn immer wieder von neuem hinein. Endlich besann er sich und überlegte, daß dieser große Schlüssel mit dem gezähnten Barte, der mit den kleinen zusammen an dem Ringe hing, jedenfalls gar nicht von der Kommode war (wie er sich das schon bei seinem vorigen Besuche gesagt hatte), sondern von einer Truhe, und daß in dieser Truhe vielleicht alles Wertvolle verwahrt wurde. Er ließ daher die Kommode stehen und bückte sich sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen bei alten Weibern unter den Betten zu stehen pflegen. So war es denn auch: es stand dort eine ansehnliche Truhe, mehr als zwei Fuß lang, mit gewölbtem Deckel, mit rotem Leder überzogen und mit stählernen Nägeln beschlagen. Der gezähnte Schlüssel erwies sich sofort als genau passend und schloß die Truhe auf. Obenauf lag unter einem weißen Laken ein Pelz von Hasenfell, mit rotem Seidenstoff bezogen; darunter ein seidenes Kleid; dann ein Schal; weiter nach unten hin schienen nur noch lauter Lumpen zu liegen. Vor allen Dingen wischte er sich die blutbefleckten Hände an dem roten Seidenstoff ab. ›Das Zeug ist rot; da wird auf dem Roten das Blut nicht so leicht zu merken sein‹, überlegte er, wurde sich aber plötzlich der Torheit dieser Überlegung bewußt. ›Mein Gott! Werde ich denn verrückt?‹ dachte er erschrocken.

Sowie er aber unter den Lumpen zu kramen begann, glitt auf einmal unter dem Pelze eine goldene Uhr heraus. Nun machte er sich daran, alles umzuwühlen. Wirklich, zwischen den Lumpen lagen Goldsachen versteckt, wahrscheinlich lauter Pfandstücke, verfallene und noch nicht verfallene: Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und dergleichen. Manche dieser Gegenstände befanden sich in Futteralen; andere waren einfach in Zeitungspapier gewickelt, aber sorgsam und ordentlich, in doppelte Bogen, und mit Band verschnürt. Ohne zu zaudern, stopfte er sie sich in die Hosentaschen und Paletottaschen; die Päckchen und Futterale zu öffnen und zu untersuchen, darauf ließ er sich nicht ein.

Aber er hatte noch nicht viel eingesteckt, da hörte er plötzlich in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er hielt inne und horchte, still wie ein Toter. Aber es war alles ruhig; also war es doch wohl nur Einbildung gewesen. Da vernahm er ganz deutlich einen leichten Aufschrei, oder vielmehr: es war, wie wenn jemand ein leises, kurzes Stöhnen ausstieß und dann verstummte. Darauf herrschte wieder Totenstille, eine oder zwei Minuten lang. Er kauerte bei der Truhe und wartete, kaum atmend; aber dann sprang er hastig auf, ergriff das Beil und lief aus dem Schlafzimmer.

Mitten im Zimmer stand Lisaweta, ein großes Bündel in der Hand, und blickte, starr vor Entsetzen, auf die ermordete Schwester hin. Sie war weiß wie Linnen und hatte, wie es schien, nicht die Kraft zu schreien. Als sie ihn hereinstürmen sah, zitterte sie, leise bebend, wie Espenlaub, und über ihr ganzes Gesicht lief ein krampfhaftes Zucken. Sie hob die eine Hand, öffnete den Mund ein wenig, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam nach rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen. Dabei sah sie ihn starr und unverwandt an, schrie aber immer noch nicht, als wenn ihr dazu die Luft fehlte. Er stürzte mit dem Beile auf sie zu. Sie verzog die Lippen so kläglich, wie man es bei ganz kleinen Kindern sieht, wenn sie vor etwas erschrecken, den furchterregenden Gegenstand anstarren und eben losschreien wollen. Und diese unglückliche Lisaweta war nun einmal dermaßen einfältig, verprügelt und eingeschüchtert, daß sie selbst jetzt nicht die Hände aufhob, um ihr Gesicht zu schützen, was doch die natürlichste und notwendigste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, da das Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie hob nur die freie linke Hand ein wenig in die Höhe, aber lange nicht bis zum Gesichte, und streckte sie langsam nach vorn gegen ihn aus, als wenn sie ihn von sich abhalten wollte. Der Schlag traf sie mitten auf den Schädel, mit der Schneide, und hieb mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis zum Scheitel durch. Sie stürzte sofort zu Boden. Raskolnikow wußte einen Augenblick gar nicht recht, was er tat: er ergriff ihr Bündel und warf es wieder von sich; dann lief er ins Vorzimmer.

Die Angst in ihm wuchs immer mehr, namentlich nach diesem zweiten, so völlig unerwarteten Morde. So schnell wie möglich wollte er von hier weg. Und wenn er in diesem Augenblicke fähig gewesen wäre, alles richtig zu sehen und zu beurteilen, wenn er sich auch nur von der ganzen Schwierigkeit seiner Lage, von ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrer Gräßlichkeit und Absurdität hätte eine Vorstellung machen können, wenn er imstande gewesen wäre, zu begreifen, wie viele Hindernisse er noch werde überwinden, ja, wie viele Verbrechen er vielleicht noch werde begehen müssen, um von hier wegzukommen und nach Hause zu gelangen: so hätte er vielleicht alles stehen- und liegenlassen und wäre sofort hingegangen, um sich selbst anzuzeigen, und zwar nicht einmal aus Angst um sich selbst, sondern lediglich aus Entsetzen und Ekel über das, was er getan hatte. Namentlich der Ekel wurde in ihm von einem Augenblicke zum andern immer größer und heftiger. Um keinen Preis wäre er jetzt zu der Truhe oder auch nur in das Zimmer zurückgegangen.

Aber allmählich überkam ihn eine gewisse Zerstreutheit, eine Art von Versonnenheit. Minutenlang vergaß er anscheinend sich und alles andre, oder richtiger gesagt: er vergaß die Hauptsache und haftete mit seinen Gedanken an Kleinigkeiten. Als er indessen zufällig einen Blick in die Küche warf und auf einer Bank einen halb mit Wasser gefüllten Eimer erblickte, fiel ihm ein, seine Hände und das Beil zu waschen. Seine Hände waren blutig und klebrig. Das Beil steckte er mit dem Eisen einfach ins Wasser; dann ergriff er ein Stückchen Seife, das auf dem Fensterbrett in einer zerbrochenen Untertasse lag, und wusch sich im Eimer die Hände. Als er damit fertig war, zog er auch das Beil heraus, spülte das Eisen ab und wusch lange, wohl drei Minuten lang, das Holz, wo es blutig geworden war; er versuchte sogar, die Blutflecke mit Seife zu entfernen. Dann trocknete er alles mit einigen Wäschestücken ab, die in der Küche an einer quer herübergezogenen Leine zum Trocknen aufgehängt waren, und besah lange und mit größter Aufmerksamkeit das Beil am Fenster. Blutspuren waren keine mehr vorhanden; nur war der Stiel noch feucht. Sorgfältig schob er dann das Beil in die Schlinge unter dem Paletot. Darauf besah er, soweit es bei dem schwachen Lichte in der halbdunklen Küche möglich war, den Paletot, die Hosen und die Stiefel. Äußerlich war auf den ersten Blick so gut wie nichts sichtbar; nur die Stiefel wiesen einige Flecke auf. Er befeuchtete einen Lappen und wischte die Stiefel ab. Er war sich übrigens bewußt, daß er bei der Untersuchung nicht gut hatte sehen können und daß ihm vielleicht irgend etwas in die Augen Fallendes doch entgangen war. Tief in Gedanken versunken, stand er mitten in der Küche. Ein quälender, finsterer Gedanke stieg in ihm auf: der Gedanke, er verliere den Verstand und könne in diesem Augenblicke weder überlegen noch sich schützen; er ergreife vielleicht ganz unzweckmäßige Maßregeln … ›Mein Gott! Ich muß fort, ich muß fort!‹ murmelte er und eilte in das Vorzimmer. Aber hier stand ihm ein Schreck bevor, wie er ihn gewiß in seinem Leben noch nicht durchgemacht hatte.

Er stand da, blickte hin und wollte seinen Augen nicht trauen: die Tür, die Außentür vom Vorzimmer nach der Treppe, eben die, an der er vorhin geschellt hatte und durch die er hereingekommen war, stand offen, sogar eine ganze Hand breit offen; weder das Schloß war zugeschlossen noch der Riegel vorgelegt; und so war das die ganze Zeit über gewesen! Die Alte hatte hinter ihm nicht zugemacht, vielleicht aus Vorsicht. Aber, o Gott! er hatte doch nachher Lisaweta gesehen! Wie war es nur möglich gewesen, daß er sich nicht darüber gewundert hatte, wie sie überhaupt hereingekommen war! Sie konnte doch nicht quer durch die Wand gegangen sein!

Er stürzte zur Tür und legte den Riegel vor.

›Aber nein, wieder falsch! Ich muß weg, weg!‹

Er nahm den Riegel wieder ab, öffnete die Tür und horchte nach der Treppe hin.

Er horchte lange. Irgendwo, weit weg, unten, wahrscheinlich im Torweg, schrien und kreischten laut zwei Stimmen, stritten sich und schimpften. ›Was mögen die haben?‹ Er wartete geduldig. Endlich, mit einem Male wurde alles still; der Lärm war wie abgeschnitten; die beiden waren auseinandergegangen. Schon wollte er hinaustreten, da wurde plötzlich in dem darunterliegenden Stockwerk eine nach der Treppe führende Tür geräuschvoll geöffnet, und es begann jemand, eine Melodie vor sich hin singend, die Treppe hinabzusteigen. ›Was nur die Menschen da immer für Lärm machen!‹ dachte er flüchtig. Er zog wieder die Tür ein wenig heran und wartete weiter. Endlich war alles Geräusch verstummt und nichts zu hören. Er wollte schon den Fuß auf die Treppe setzen, als plötzlich wieder neue Schritte erschollen.

Diese Schritte erschollen in weiter Entfernung, noch ganz am untern Ende der Treppe; aber er erinnerte sich später ganz genau und deutlich, daß er damals gleich beim ersten Ton aus einem nicht recht verständlichen Grunde auf den Gedanken gekommen war, es komme da jemand sicher »hierher«, nach dem dritten Stockwerke, zu der Alten. Warum? War der Ton so eigentümlich, so bedeutsam? Es waren schwere, gleichmäßige Schritte, ohne Eile. Da, jetzt war »er« schon fast zum ersten Stock gelangt; da, er stieg noch weiter; es war immer deutlicher zu hören. Nun wurde das schwere Atmen des Heraufkommenden vernehmbar. Da, jetzt begann er schon die dritte Treppe. ›Er kommt hierher!‹ sagte sich Raskolnikow. Und plötzlich hatte er die Empfindung, als ob er versteinert wäre, als wäre dies ein Traum, wo einem träumt, daß man verfolgt wird, und die Verfolger sind schon ganz nahe und wollen einen töten, und man selbst ist am Fleck wie angewachsen und kann keine Hand rühren.

Endlich, als der Ankömmling bereits zum dritten Stockwerk hinaufzusteigen begann, da erst fuhr Raskolnikow plötzlich zusammen und fand gerade noch Zeit, hurtig und behend vom Flur in die Wohnung zurückzuschlüpfen und die Tür hinter sich zuzumachen. Dann erfaßte er den Riegel und legte ihn leise, unhörbar vor. Der Instinkt hatte ihm geholfen. Als er dies erledigt hatte, verbarg er sich unmittelbar hinter der Tür und vermied jedes Geräusch beim Atmen. Der unbekannte Besucher war gleichfalls bereits an der Tür. Sie standen jetzt einander ebenso gegenüber wie vor kurzem er und die Alte, als nur die Tür sie voneinander getrennt und er an ihr gelauscht hatte.

Der Besucher atmete einige Male tief und schwer auf. ›Es ist wohl ein dicker, großer Mann‹, dachte Raskolnikow und umklammerte fest das Beil. Es kam ihm tatsächlich alles wie ein Traum vor. Der Besucher griff nach dem Klingelzuge und schellte kräftig.

Als die Klingel ihr blechernes Klappern hören ließ, bildete sich Raskolnikow ein, es rege sich jemand im Zimmer. Er lauschte sogar einige Sekunden lang allen Ernstes danach. Der Unbekannte schellte noch einmal, wartete wieder ein Weilchen und begann dann ungeduldig mit aller Kraft an der Türklinke zu rütteln. Voll Schrecken sah Raskolnikow, wie der Riegel hin und her sprang, und erwartete mit dumpfer Angst in jedem Augenblick, daß er herabfallen werde. Möglich schien das in der Tat; so heftig wurde gerüttelt. Er dachte schon daran, den Riegel festzuhalten; aber das hätte der andere merken können. Es wurde ihm wieder schwindlig. ›Gleich werde ich umfallen!‹ fuhr es ihm durch den Kopf; aber da begann der Unbekannte zu reden, und er kam sogleich wieder zur Besinnung.

»Was soll denn das heißen? Schlafen die beiden Frauenzimmer wie die Murmeltiere, oder hat sie einer abgemurkst? Verrrfluchte Bande!« schrie er mit kräftiger, voller Stimme. »He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, du holde Schöne! Macht auf! Ach, die nichtswürdige Bande! Ob sie wirklich schlafen?«

Und von neuem riß er wütend wohl zehnmal hintereinander aus voller Kraft an der Klingel. Er war gewiß ein Mann, der etwas darstellte und mit der Alten gut bekannt war.

In diesem Augenblicke wurden leichte, eilige Schritte unweit auf der Treppe vernehmbar; es kam noch jemand. Raskolnikow hatte ihn zuerst gar nicht gehört.

»Ist denn niemand zu Hause?« rief der Hinzugekommene mit wohltönender, fröhlicher Stimme dem ersten Besucher zu, der immer noch an der Klingel riß. »Guten Abend, Koch!«

›Nach der Stimme zu urteilen, muß es ein sehr junger Mann sein‹, sagte sich Raskolnikow.

»Weiß der Teufel! Ich habe schon beinahe das Schloß abgerissen!« antwortete Koch. »Aber woher kennen Sie mich denn?«

»Na, so was! Ich habe Ihnen doch vorgestern im Gambrinus drei Partien Billard hintereinander abgenommen!«

»Ach so-o!«

»Also sie sind nicht zu Hause? Sonderbar! Übrigens recht dumm! Wo kann die Alte bloß hingegangen sein? Ich habe mit ihr geschäftlich zu tun.«

»Ich auch, Väterchen!«

»Na, was ist zu machen? Also müssen wir wieder abziehen! So ein Pech! Ich hatte gedacht, ich würde hier Geld kriegen!« rief der junge Mann.

»Natürlich müssen wir wieder abziehen. Aber warum hat sie mich denn herbestellt? Die alte Hexe hat mir diese Zeit selbst angegeben. Ich habe einen weiten Umweg deswegen gemacht. Und ich begreife gar nicht, wo sie sich herumtreibt, zum Teufel! Das ganze Jahr sitzt sie zu Hause, die Hexe, hockt auf einem Fleck, klagt, daß ihr die Beine weh tun, und nun auf einmal geht sie spazieren!«

»Ob wir mal den Hausknecht fragen?«

»Wonach?«

»Wo sie hingegangen ist und wann sie wiederkommt.«

»Hm! … Hol’s der Teufel! … Können ja mal fragen … Aber sie geht doch sonst nirgends hin …«, und er riß noch einmal an der Türklinke. »Zum Teufel, nichts zu machen! Gehen wir wieder!«

»Warten Sie mal!« rief der junge Mann plötzlich. »Sehen Sie nur einmal her! Sehen Sie wohl, wie die Tür ein bißchen aufgeht, wenn man zieht?«

»Na, und?«

»Also ist sie nicht zugeschlossen, sondern es ist innen der Riegel vorgelegt! Hören Sie wohl, wie der Riegel klappert?«

»Na, und?«

»Begreifen Sie denn nicht? Also ist jemand von ihnen zu Hause. Wenn beide ausgegangen wären, so wäre von außen zugeschlossen und nicht von innen der Riegel vorgelegt. Aber hier – hören Sie wohl, wie der Riegel klappert? Um von innen den Riegel vorzulegen, muß man doch zu Hause sein; ist Ihnen das klar? Also sitzen sie zu Hause und machen nicht auf.«

»Donnerwetter, das ist wahr!« rief Koch erstaunt. »Aber was machen die denn da nur?«

Er rüttelte wütend an der Tür.

»Warten Sie mal!« rief wieder der junge Mann. »Reißen Sie nicht an der Tür! Hier ist etwas nicht in Ordnung … Sie haben ja schon geklingelt und an der Tür gerüttelt, und es ist nicht geöffnet worden; also sind die beiden entweder ohnmächtig oder …«

»Oder was?«

»Wissen Sie was? Wir wollen den Hausknecht holen; mag der sie selbst aufwecken.«

»Gut, tun wir das!«

Sie schickten sich beide an, hinunterzugehen.

»Warten Sie einmal! Bleiben Sie lieber hier, und ich will hinunterlaufen und den Hausknecht holen.«

»Warum soll ich hierbleiben?«

»Man kann nicht wissen …«

»Meinetwegen.«

»Ich studiere ja Jura und will einmal Untersuchungsrichter werden. Hier ist offenbar, of-fen-bar etwas nicht in Ordnung!« sagte der junge Mann, vor Eifer brennend, und lief schnell die Treppe hinunter.

Koch blieb zurück und zog noch einmal ganz sachte an der Klingel; diese schlug nur mit einem einzigen Ton an. Dann begann er leise, als wenn er überlegte und untersuchte, die Türklinke zu bewegen, indem er damit die Tür zu sich heranzog und wieder zurückfahren ließ, um sich nochmals zu vergewissern, daß nur der Riegel vorgelegt sei. Dann bückte er sich keuchend und blickte durch das Schlüsselloch; aber in diesem steckte von innen der Schlüssel, und es war somit nichts zu sehen.

Raskolnikow stand da und preßte die Hand um den Beilstiel; es war ihm, als hätte er Fieber. Er bereitete sich sogar auf einen Kampf mit ihnen vor, wenn sie hereinkämen. Während sie an der Tür gerüttelt und sich miteinander besprochen hatten, war ihm einige Male der Gedanke gekommen, der ganzen Geschichte schnell ein Ende zu machen und sie durch die Tür anzurufen. Dann wieder hatte es ihn gelüstet, sie so lange auszuschimpfen und zu höhnen, bis sie die Tür würden aufbekommen haben. ›Wenn es nur bald soweit wäre!‹ dachte er einen Augenblick.

»Zum Teufel! Der kommt ja aber auch gar nicht wieder!«

Die Zeit verging, eine Minute nach der andern; niemand kam. Koch bewegte sich unruhig hin und her.

»Hol’s der Teufel!« rief er endlich ungeduldig, verließ seinen Posten und ging gleichfalls nach unten. Eilig polterten seine Stiefel auf der Treppe; dann verhallten seine Schritte.

›Mein Gott, was soll ich tun?‹

Raskolnikow löste den Riegel und öffnete die Tür ein wenig; es war nichts zu hören. Ohne etwas dabei zu denken, trat er hinaus, drückte die Tür hinter sich möglichst fest heran und stieg die Treppe hinunter.

Er war bereits auf der Treppe vom zweiten zum ersten Stockwerk, als plötzlich unten ein gewaltiger Lärm entstand. Wo sollte er nun bleiben? Verstecken konnte er sich nirgends; er wollte schon wieder zurück, in die Wohnung der Alten.

»Warte, du Kanaille, du Schuft! Halt ihn auf!«

Mit diesem Geschrei stürzte jemand weiter unten aus einer Wohnung heraus und lief, oder richtiger: fiel die Treppe hinunter, wobei er fortwährend aus vollem Halse schrie:

»Mitjka, Mitjka, Mitjka, Mitjka, Mitjka! Der Teufel soll dich holen!«

Das Geschrei endete mit einem wilden Gekreische; die letzten Töne kamen schon vom Hofe her; dann war alles still. Aber in demselben Augenblicke begannen mehrere Menschen, die laut und eifrig miteinander sprachen, geräuschvoll die Treppe heraufzusteigen; es mochten ihrer drei oder vier sein. Raskolnikow unterschied die wohlklingende Stimme des jungen Mannes. ›Das sind sie!‹

In heller Verzweiflung ging er ihnen geradezu entgegen: mochte werden, was da wollte! Wenn sie ihn anhielten, so war alles verloren, ließen sie ihn vorbei, so war auch alles verloren, da zu erwarten war, daß sie ihn später wiedererkennen würden. Sie waren einander bereits ziemlich nahegekommen; zwischen ihnen war nur noch eine Treppe – da auf einmal zeigte sich die Möglichkeit einer Rettung. Nur wenige Stufen von ihm entfernt auf der rechten Seite, stand die Tür zu einer leerstehenden Wohnung weit offen, zu eben der Wohnung im ersten Stockwerk, in der die Maler gearbeitet hatten und die sie durch ein seltsames Zusammentreffen der Umstände gerade jetzt verlassen hatten. Das waren offenbar die Leute gewesen, die soeben mit solchem Geschrei davongerannt waren. Die Dielen waren frisch gestrichen; mitten im Zimmer stand ein kleiner Eimer und ein Schälchen mit Farbe und einem Pinsel. In einem Nu schlüpfte er durch die offene Tür hinein und verbarg sich hinter der Wand; es war die höchste Zeit gewesen: sie standen schon auf dem Treppenabsatz. Dann wandten sie sich nach der weiter hinaufführenden Treppe und gingen in lautem Gespräche vorüber, nach dem dritten Stockwerke hinauf. Er wartete das ab, ging auf den Zehen hinaus und lief die Treppe hinunter.

Auf der Treppe war niemand; auch im Torwege nicht. Schnell ging er hindurch und bog links in die Straße ein. Er wußte sehr wohl, daß sie in diesem Augenblicke bereits in der Wohnung waren, daß sie sich höchlichst wunderten, sie offen zu finden, während sie doch eben noch zugesperrt gewesen war, daß sie schon die Leichen betrachteten und daß sie in weniger als einer Minute erraten und kombiniert haben würden, daß der Mörder noch soeben dagewesen sei und eine Möglichkeit gefunden habe, sich irgendwo zu verstecken, an ihnen vorbeizuschlüpfen und zu entfliehen; sie mochten auch vielleicht erraten, daß er in der leerstehenden Wohnung gesteckt hatte, während sie daran vorbei hinaufgingen. Aber trotzdem durfte er unter keiner Bedingung wagen, sein Tempo stark zu beschleunigen, obgleich er bis zur nächsten Straßenecke noch gegen hundert Schritte hatte. ›Ob ich wohl in einen Torweg hineinschlüpfe und auf einer fremden Treppe warte? Nein, das ist zu gefährlich! Ob ich das Beil von mir werfe? Ob ich eine Droschke nehme? Zu gefährlich, zu gefährlich!‹

Endlich kam die Querstraße; er bog in sie ein, mehr tot als lebendig. Hier war er schon zur Hälfte gerettet, und er war sich dessen bewußt. Hier war der Verdacht geringer, und außerdem herrschte hier ein starker Verkehr, und er verschwand darin wie ein Sandkorn. Aber alle diese Qualen hatten seine Kraft derart erschöpft, daß er sich kaum mehr rühren konnte. Der Schweiß rann ihm in dicken Tropfen herunter; der Hals war ihm davon ganz feucht. »Na, du hast dich aber gehörig vollgesoffen!« rief ihm einer zu, als er an den Kanal gelangte.

Er konnte seine Gedanken kaum noch zusammenhalten; je weiter er ging, um so schlimmer wurde es. Er erinnerte sich aber später, daß er einen großen Schreck bekommen hatte, als er zum Kanal kam, weil hier weniger Menschen waren und er somit leichter auffallen konnte, und daß er nahe daran gewesen war, wieder in die Querstraße zurückzukehren. Obwohl er vor Erschöpfung beinahe umfiel, machte er dennoch einen Umweg und kam von der ganz entgegengesetzten Seite nach Hause.

Auch den Torweg seines Hauses passierte er in halber Bewußtlosigkeit; wenigstens war er schon auf der Treppe, als ihm das Beil einfiel. Und dabei stand ihm doch noch eine sehr wichtige Aufgabe bevor: es wieder an seinen Platz zu legen, und zwar möglichst unbemerkt. Er war natürlich nicht mehr fähig, zu überlegen, ob es nicht vielleicht weit besser wäre, das Beil überhaupt nicht wieder an den früheren Platz zu bringen, sondern es, wenn auch erst später, auf irgendeinen fremden Hof zu werfen.

Aber es lief alles gut ab. Die Tür zu der Kammer des Hausknechtes war nur angelehnt, nicht zugeschlossen; also war der Hausknecht aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause. Doch Raskolnikow hatte die Fähigkeit, etwas zu überlegen, bereits in dem Grade eingebüßt, daß er einfach auf die Tür zuging und sie öffnete. Hätte ihn der Hausknecht gefragt: »Was wünschen Sie?« so hätte er ihm vielleicht ebenso gedankenlos das Beil hingereicht. Aber der Hausknecht war wieder nicht da, und er konnte unbehindert das Beil auf seinen früheren Platz unter die Bank legen, ja, es sogar wieder, wie es gewesen war, mit einem Holzscheite bedecken. Niemandem, keiner Menschenseele begegnete er dann auf dem Wege bis zu seinem Zimmer; die Tür seiner Wirtin war geschlossen. Als er in sein Zimmer gekommen war, warf er sich, wie er ging und stand, auf das Sofa. Er schlief nicht, befand sich aber in einem Zustande der Geistesabwesenheit. Wäre jetzt jemand zu ihm hereingekommen, so wäre er sofort aufgesprungen und hätte aufgeschrien. Fetzen und Bruchstücke von allerlei Gedanken wimmelten in seinem Kopfe herum; aber trotz aller Anstrengung vermochte er keinen einzigen Gedanken zu Ende zu bilden und festzuhalten.

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Kapitel 35

IV

»Sie wissen vielleicht (übrigens habe ich es Ihnen selbst erzählt)«, begann Swidrigailow, »daß ich hier wegen einer riesigen Summe im Schuldgefängnis saß, ohne die geringste Aussicht, daß ich jemals die Mittel zur Bezahlung besitzen würde. Es hat keinen Zweck, im einzelnen darzulegen, auf welche Weise mich Marfa Petrowna damals loskaufte; wissen Sie, bis zu welchem Grade von Tollheit sich ein Weib manchmal verlieben kann? Sie war eine ehrenhafte, recht kluge, obgleich völlig ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese sehr eifersüchtige, ehrenhafte Frau nach und sich bei allen fortwährend über mich zu beklagen; wie hätte sie das einer solchen neuen, schönen Freundin gegenüber unterlassen können? Ich kann mir denken, daß zwischen den beiden überhaupt von nichts anderem gesprochen wurde als von mir, und zweifellos wurde Awdotja Romanowna mit all den düsteren, geheimnisvollen Märchen bekannt gemacht, die über mich in Umlauf waren … Ich möchte wetten, daß Ihnen auch schon etwas davon zu Ohren gekommen ist?«

»Jawohl, Lushin beschuldigte Sie, Sie hätten sogar den Tod eines kleinen Mädchens verschuldet. Ist das wahr?«

»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit all diesen Abgeschmacktheiten in Ruhe«, erwiderte Swidrigailow ärgerlich und mürrisch. »Wenn Sie so großes Verlangen tragen, über all diesen Unsinn die Wahrheit zu hören, so will ich es Ihnen ein andermal erzählen; aber jetzt …«

»Es wurde auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande hatten, gesprochen; angeblich hätten Sie auch da eine Schuld auf sich geladen.«

»Tun Sie mir den Gefallen und hören Sie damit auf!« unterbrach ihn Swidrigailow wieder mit sichtlicher Ungeduld.

»War das nicht eben der Diener, der nach seinem Tode zu Ihnen ins Zimmer kam, um Ihnen die Pfeife zu stopfen? Sie haben mir ja selbst davon erzählt!« fragte Raskolnikow; sein Ton klang immer gereizter.

Swidrigailow blickte Raskolnikow forschend an, und dem letzteren schien es, als ob in diesem Blicke momentan, blitzartig ein boshaftes Lächeln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrschte sich und antwortete sehr höflich:

»Ja, es war derselbe. Ich sehe, daß dies alles auch Sie außerordentlich interessiert, und halte es für meine Pflicht, bei der ersten passenden Gelegenheit Ihre Wißbegierde zu befriedigen. Hol’s der Teufel! Ich sehe, daß ich wirklich manchem als eine romantische Persönlichkeit erscheinen doch? Ich merke, daß Sie mir jetzt mit großer Aufmerksamkeit zuhören, … Sie interessanter junger Mann! …«

Swidrigailow schlug ingrimmig mit der Faust auf den Tisch. Sein Gesicht hatte sich stark gerötet. Raskolnikow sah deutlich, daß das eine Glas oder die anderthalb Gläser Champagner, die er so sachte in kleinen Schlückchen geschlürft hatte, auf ihn schon berauschend gewirkt hatten, und beschloß, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig.

»Nach allem, was ich da eben von Ihnen gehört habe, bin ich der festen Überzeugung, daß Sie auch bei der Reise hierher es auf meine Schwester abgesehen haben«, sagte er offen und unverhohlen zu Swidrigailow, um ihn noch mehr zu reizen.

»Ach, reden Sie doch nicht so etwas!« erwiderte Swidrigailow, der plötzlich die Herrschaft über sich zurückzugewinnen schien. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, … und außerdem kann mich Ihre Schwester nicht leiden.«

»Ja, das ist auch meine Überzeugung, daß sie Sie nicht leiden kann. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«

»Also davon sind Sie überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« Swidrigailow zwinkerte mit den Augen und lächelte spöttisch. »Sie haben recht, sie liebt mich nicht; aber übernehmen Sie niemals eine Gewähr für die Bewertung von Vorgängen, die zwischen Mann und Frau oder zwischen einem Liebhaber und der Geliebten stattgefunden haben. Da ist immer so ein Winkelchen, das der ganzen Welt verborgen bleibt und nur den beiden bekannt ist. Können Sie garantieren, daß Awdotja Romanowna bei meinem Anblicke einen wirklichen Widerwillen empfunden hat?«

»Aus manchen Worten und Andeutungen in Ihrer Erzählung entnehme ich, daß Sie auch jetzt noch Ihre Absichten bezüglich meiner Schwester eifrig verfolgen, und selbstverständlich sind es ganz gemeine Absichten.«

»Wie? Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« fragte Swidrigailow höchst naiv, ohne das Beiwort, das seinen Absichten beigelegt war, im geringsten zu beachten.

»Auch jetzt in diesem Augenblicke verraten Sie sich. Warum sind Sie denn zum Beispiel so ängstlich? Warum erschraken Sie jetzt eben auf einmal?«

»Ich bin ängstlich und erschrecke? Vor Ihnen erschrecke ich? Eher hätten Sie Anlaß, vor mir Angst zu haben, cher ami. Aber was rede ich nur für dummes Zeug zusammen … Ich sehe, ich bin betrunken; beinahe hätte ich wieder zuviel gesagt. Hol der Teufel den Wein! Heda, Wasser!«

Er ergriff die Flasche und schleuderte sie ohne Umstände zum Fenster hinaus. Filipp brachte Wasser.

»Das ist alles Unsinn«, sagte Swidrigailow, während er ein Handtuch anfeuchtete und es sich gegen den Kopf drückte. »Ich kann Sie mit einem einzigen Worte widerlegen und Ihren ganzen Verdacht als nichtig erweisen. Wissen Sie, daß ich mich wieder verheirate?«

»Sie haben es mir schon früher gesagt.«

»So? Nun, ich hab’s vergessen. Aber damals konnte ich es noch nicht mit voller Sicherheit sagen; denn ich hatte die Braut noch nicht einmal gesehen. Damals war es erst ein Plan. Na, aber jetzt habe ich bereits eine Braut, und die Sache ist abgemacht; und wenn ich jetzt nicht unaufschiebbare Geschäfte hätte, so würde ich Sie jedenfalls sofort zu den Leuten hinführen – denn ich möchte Sie dabei um Ihren Rat bitten. Ach, Donnerwetter! Ich habe ja nur noch zehn Minuten Zeit. Hier ist meine Uhr; sehen Sie selbst. Aber ich will es Ihnen doch noch erzählen; denn es ist ein hübscher kleiner Spaß, meine Heirat meine ich, so in ihrer Art, … aber wo wollen Sie denn hin? Wieder weg?«

»Nein, jetzt habe ich nicht mehr die Absicht, von Ihnen wegzugehen.«

»Überhaupt nicht? Na, wir wollen sehen! Ich werde Sie hinführen, ganz bestimmt, und Ihnen meine Braut zeigen; nur nicht jetzt gleich. Jetzt müssen wir bald gehen, Sie nach Gesicht, das Gesicht einer leidenden Schwärmerin; ist Ihnen das niemals aufgefallen? Na also, an die erinnert sie. Gleich am anderen Tage nach unserer Verlobung brachte ich ihr für anderthalbtausend Rubel Geschenke mit: einen Brillantschmuck, einen aus Perlen, einen silbernen Toilettenkasten – so groß! – mit allerlei Inhalt; das Gesichtchen der kleinen Madonna färbte sich ganz rosig. Ich setzte sie gestern auf meinen Schoß, aber wahrscheinlich doch gar zu ungeniert; denn sie wurde blutrot, und die Tränchen perlten ihr hervor. Aber sie wollte es nicht zeigen; sie glühte über das ganze Gesicht. Die andern waren alle für ein Weilchen aus dem Zimmer hinausgegangen, und ich war mit ihr ganz allein geblieben; da fiel sie mir auf einmal um den Hals (zum ersten Male ganz von selbst), umschlang mich mit ihren beiden Ärmchen, küßte mich und schwur, sie werde mir eine gehorsame, treue, gute Frau sein; sie wolle mich glücklich machen; dazu werde sie ihr ganzes Leben, jede Minute ihres Lebens verwenden; alles, alles wolle sie dafür zum Opfer bringen, und für all das wünsche sie nur meine Achtung zu besitzen; ›weiter‹, sagte sie, ›brauche ich nichts, nichts, gar nichts, keine Geschenke!‹ Das müssen Sie doch selbst sagen: ein solches Geständnis unter vier Augen anzuhören von einem sechzehnjährigen Engelchen im Tüllkleidchen, mit krausen Löckchen, mit der Röte mädchenhafter Verschämtheit auf dem Gesichte und mit Tränen holder Schwärmerei in den Augen – das müssen Sie doch selbst sagen, das hat einen großen Reiz! Nicht wahr, einen großen Reiz! Das ist doch schließlich etwas Wertvolles, nicht? Nicht wahr? Na, … na, hören Sie, … wir wollen einmal zu meiner Braut hinfahren, … nur nicht jetzt gleich!«

»Kurz gesagt, gerade dieser ungeheuerliche Abstand in den Jahren und in der geistigen Entwicklung erregt Ihre Sinnlichkeit! Haben Sie denn wirklich vor, das Mädchen zu heiraten?«

»Aber warum denn nicht? Ganz bestimmt! Jeder sorgt für sich, und am lustigsten lebt derjenige, der sich selbst am besten zu betrügen versteht. Ha-ha! Aber Sie sind ja wohl so ein ganz besonderer Tugendbold? Haben Sie Nachsicht mit mir, Väterchen! Ich bin ein sündiger Mensch. He-he-he!«

»Sie haben aber doch für Katerina Iwanownas Kinder gesorgt. Indessen, Sie werden wohl auch dafür Ihre Gründe gehabt haben; … ich verstehe jetzt alles.«

»Kinder habe ich überhaupt lieb; ich mag Kinder sehr gern«, erwiderte Swidrigailow lachend. »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein höchst interessantes kleines Erlebnis mitteilen, das auch jetzt noch nicht seinen Abschluß gefunden hat. Am ersten Tage nach meiner Ankunft besuchte ich verschiedene Sumpflokale; na, nach sieben Jahren Entbehrung stürzte ich mich mit Wonne da hinein. Sie haben wohl schon gemerkt, daß ich es nicht eilig habe, mit meiner früheren Sippschaft, meinen ehemaligen Freunden und Bekannten wieder in Verkehr zu treten. Na, ich will suchen, möglichst lange ohne sie auszukommen. Wissen Sie, als ich bei Marfa Petrowna auf dem Lande wohnte, bin ich oft ganz krank geworden vor sehnsüchtiger Erinnerung an all diese geheimnisvollen Lokale und Lokälchen, wo jemand, der darin Routine hat, gar manches zu finden vermag. Ein tolles Leben hier in Petersburg; das niedere Volk säuft; die gebildete Jugend überläßt sich einem untätigen Müßiggange, verpufft ihre Kraft in unerfüllbaren Träumereien und Schwärmereien und verkrüppelt geistig durch das ewige Theoretisieren; die Juden, die hier von überallher zusammenströmen, scharren heimlich Geld zusammen, und alles übrige sumpft. Gleich bei meiner Ankunft war es mir, als ob mir der wohlbekannte Geruch dieser Stadt entgegenschlüge. Ich besuchte zufällig eine sogenannte Tanzsoiree – es war ein schauderhaftes Sumpflokal (aber solche Lokale sind mir je unsauberer, um so lieber); na, natürlich wurde ein Cancan getanzt, wie man ihn sich nicht ärger denken kann und wie er zu meiner Zeit überhaupt noch gar nicht existierte. Ja, darin kann man wirklich einen großen Fortschritt konstatieren. Da sah ich auf einmal, wie ein etwa nahmen sie mit tausend Freuden an; sie halten es für eine Ehre, und ich verkehre noch immer bei ihnen … Wenn Sie wollen, können wir einmal hinfahren, nur nicht jetzt gleich.«

»Hören Sie auf mit Ihren gemeinen, schändlichen Geschichten, Sie liederlicher, schändlicher, sinnlicher Mensch!«

»Sie sind ein Schiller, ein russischer Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher? Wissen Sie was? Ich werde Ihnen absichtlich noch mehr solche Geschichten erzählen, bloß um Ihre Äußerungen der Entrüstung zu hören. Das ist mir ein wahrer Genuß!«

»Zweifellos! Ich komme mir ja selbst in diesem Augenblicke lächerlich vor«, murmelte Raskolnikow ärgerlich.

Swidrigailow lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Filipp, zahlte und stand auf.

»Na, ich bin ja ziemlich betrunken! Assez causé!« sagte er. »Es ist mir ein wahrer Genuß gewesen!«

»Sehr begreiflich, daß es für Sie ein Genuß war!« rief Raskolnikow und erhob sich gleichfalls. »Wie sollte es denn auch für einen alten Wüstling nicht ein Genuß sein, von solchen Erlebnissen zu erzählen, während er sich dabei schon wieder mit einem andern unnatürlichen Vorhaben derselben Art beschäftigt, und noch dazu unter diesen Umständen und einem Menschen, wie ich, gegenüber. Das kitzelt!«

»Na, wenn dem so ist«, erwiderte Swidrigailow einigermaßen erstaunt und sah Raskolnikow forschend an, »wenn dem so ist, so sind Sie selbst ein arger Frechling. Wenigstens haben Sie im höchsten Grade das Zeug dazu. Sie sind ein starker Theoretiker, ein sehr starker, … na, und auch zum praktischen Handeln sind Sie ja sehr wohl befähigt. Aber nun genug davon. Ich bedaure aufrichtig, daß ich mich nur so kurze Zeit habe mit Ihnen unterhalten können; aber Sie laufen mir ja nicht davon … Warten Sie nur! …«

Swidrigailow verließ das Restaurant, und Raskolnikow folgte ihm. Swidrigailow war nicht erheblich betrunken; der Champagner war ihm nur für einen Augenblick zu Kopfe gestiegen, und der Rausch verflog mit jeder Minute mehr. Ein offenbar sehr wichtiges Vorhaben beschäftigte ihn stark, und er machte ein sehr ernstes Gesicht. Irgendeine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und versetzte ihn in Unruhe. Raskolnikow gegenüber hatte er in den letzten Minuten auf einmal sein Benehmen geändert und war von Minute zu Minute gröber und spöttischer geworden. Raskolnikow hatte das alles recht wohl bemerkt und war nun gleichfalls in unruhiger Erregung. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig; er beschloß, ihm nachzugehen.

Sie traten auf das Trottoir.

»Sie gehen also nach rechts und ich nach links, oder meinetwegen auch umgekehrt. Jedenfalls adieu, bon plaisir, auf fröhliches Wiedersehen!«

Damit ging er nach rechts, in der Richtung auf den Heumarkt zu.

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Kapitel 36

V

Raskolnikow ging hinter ihm her.

»Was soll denn das bedeuten?« rief Swidrigailow, sich umwendend. »Ich habe Ihnen doch wohl gesagt …«

»Das bedeutet, daß ich jetzt bei Ihnen bleiben werde.«

»Wa-as?«

Beide blieben stehen und blickten einander etwa eine Minute lang an, als ob einer den andern messen wollte.

»Aus allem, was Sie in Ihrer halben Betrunkenheit gesagt haben«, begann Raskolnikow schroff, »schließe ich mit Bestimmtheit, daß Sie Ihre nichtswürdigen Anschläge gegen meine Schwester nicht nur nicht aufgegeben haben, sondern sich sogar mehr denn je damit beschäftigen. Ich weiß, daß meine Schwester heute früh einen Brief erhalten hat. Auch Ihr unruhiges Wesen jetzt während unseres ganzen Zusammenseins ist mir verdächtig. Sehr möglich allerdings, daß es sich bei Ihnen um irgendeine andere Frauensperson handelt, die Sie irgendwo en passant gefunden haben; aber diese Möglichkeit ist für mich belanglos. Ich wünsche mir persönlich Gewißheit zu verschaffen …«

Raskolnikow wäre wohl selbst kaum imstande gewesen, genauer anzugeben, was er eigentlich vorhatte und wovon er sich persönlich Gewißheit zu verschaffen wünschte.

»Nun sehen Sie mal! Wenn Sie es wünschen, werde ich gleich die Polizei rufen.«

»Tun Sie das!«

Wieder standen sie einander eine Minute lang gegenüber. Schließlich veränderte Swidrigailows Gesicht seinen Ausdruck. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß Raskolnikow sich vor dieser Drohung nicht fürchtete, nahm er auf einmal eine sehr heitere, freundschaftliche Miene an.

»Was sind Sie für ein eigentümlicher Mensch! Ich habe absichtlich mit Ihnen noch nicht über Ihre eigene Angelegenheit gesprochen, obwohl mich natürlich die Neugier plagt. Das ist ja eine ganz romanhafte Geschichte. Ich wollte es eigentlich auf eine andere Gelegenheit verschieben; aber Sie bekommen es ja wahrhaftig fertig, sogar einen Toten in Harnisch zu bringen … Na, dann kommen Sie mit; aber ich sage Ihnen im voraus: ich gehe jetzt nur für einen Augenblick zu mir nach Hause, um mir Geld einzustecken; dann schließe ich die Wohnung zu, nehme mir eine Droschke und fahre für den ganzen Abend nach den ›Inseln‹. Also, was haben Sie davon, mich zu begleiten?«

»Zunächst will ich nach Ihrer Wohnung mitgehen, aber nicht zu Ihnen, sondern zu Sofja Semjonowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht an der Beerdigung ihrer Stiefmutter teilgenommen habe.«

»Ganz, wie es Ihnen beliebt; aber Sofja Semjonowna ist nicht zu Hause. Sie ist mit den drei Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer vornehmen alten Dame, mit der ich noch von früher her bekannt bin und die zum Patronat mehrerer Waisenhäuser gehört. Ich habe diese Dame ganz bezaubert, indem ich ihr für die drei Kleinen der verstorbenen Katerina Iwanowna eine Summe Geldes brachte; außerdem habe ich auch noch den Waisenanstalten eine Zuwendung gemacht. Schließlich habe ich ihr noch Sofja Semjonownas Geschichte erzählt, mit allen Details, ohne etwas zu verschleiern. Das machte auf sie ganz gewaltigen Eindruck. Darum ist nun auch Sofja Semjonowna heute nach dem …schen Hotel hinbestellt worden, wo meine Bekannte nach der Heimkehr von der Sommerfrische in die Stadt einstweilen wohnt.«

»Schadet nichts; ich komme doch mit.«

»Wie es Ihnen beliebt; nur kann ich mich Ihnen heute nicht länger widmen. Aber mich geht’s ja nichts an, was Sie tun! Da sind wir schon gleich zu Hause. Sagen Sie mal, ich bin überzeugt, Sie sind eben deshalb so mißtrauisch gegen mich, weil ich bisher so zartfühlend war, Sie nicht mit Fragen zu belästigen, … Sie verstehen mich wohl? Das war Ihnen gewiß gar zu auffällig; ich möchte sogar wetten, daß die Sache so zusammenhängt. Na, wenn man das davon hat, da soll einer nun noch zartfühlend sein!«

»Und an der Tür horchen!«

»Aha, damit kommen Sie mir!« erwiderte Swidrigailow lachend. »Ich hätte mich auch wirklich gewundert, wenn Sie unter den vorliegenden Umständen diesen Punkt unerwähnt gelassen hätten. Ha-ha! Ich habe zwar einiges verstanden, was Sie damals dort für Faxen machten und was Sie dem jungen Mädchen selbst erzählten; aber wie war denn das Ganze eigentlich? Ich bin vielleicht ein ganz rückständiger Mensch und kann nichts mehr ordentlich begreifen. Erklären Sie mir die Sache, liebster Freund, ich bitte Sie inständigst! Erleuchten Sie meinen Geist mit den neuesten Ideen!«

»Sie haben gar nichts hören können; was Sie da sagen, ist alles gelogen!«

»Ich rede ja gar nicht von dem faktischen Inhalte des Gehörten (wiewohl ich übrigens wirklich einiges gehört habe), sondern bloß davon, daß Sie immer ächzen und seufzen und stöhnen! Der Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rege. Jetzt verlangen Sie nun sogar, daß man nicht einmal mehr an der Tür horchen soll. Wenn Sie so streng denken, dann gehen Sie doch zur Behörde hin und erklären Sie: ›So und so ist es mir ergangen, ich habe das und das getan; es war mir in der Theorie ein kleiner Irrtum passiert.‹ Wenn Sie aber der Ansicht sind, an der Tür dürfe man nicht horchen, wohl aber dürfe man alte Weiber mit irgendeinem Gegenstande, der einem gerade in die Hände kommt, zu seinem Vergnügen totschlagen, dann fahren Sie schleunigst nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich rate es Ihnen aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld zur Reise? Ich will Ihnen welches geben.«

»Das liegt durchaus nicht in meiner Absicht!« unterbrach ihn Raskolnikow ärgerlich.

»Ich verstehe (übrigens, machen Sie sich keine Unbequemlichkeiten: Sie haben ja nicht nötig, viel zu reden, wenn Sie nicht mögen); ich kann mir auch denken, mit was für Fragen Sie sich jetzt beschäftigen: doch wohl mit moralischen, nicht wahr? Mit Fragen über Rechte und Pflichten in der bürgerlichen und menschlichen Gesellschaft? Lassen Sie doch dergleichen Überlegungen jetzt beiseite; warum wollen Sie sich damit jetzt noch abgeben? He-he! Etwa, weil Sie immer noch Bürger und Mensch geblieben sind? Aber wenn das der Fall ist, hätten Sie sich nicht mit solchen Geschichten befassen sollen; von Sachen, über die man nicht Bescheid weiß, muß man die Finger lassen. Na, schießen Sie sich doch tot; wie wär’s? Oder haben Sie keine Lust?«

»Es scheint, Sie wollen mich absichtlich reizen, nur damit ich Sie jetzt verlasse …«

»Sie sind ein wunderlicher Kauz; aber da sind wir ja schon an Ort und Stelle; bitte schön, steigen Sie die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Sofja Semjonownas Wohnung; sehen Sie, es ist niemand da! Sie glauben es nicht? Fragen Sie doch bei Kapernaumows; da pflegt sie den Schlüssel abzugeben. Da ist ja auch madame de Kapernaumow selbst; da können wir ja gleich fragen. Was? (Sie spricht etwas undeutlich.) Ausgegangen ist sie? Wohin? Nun, haben Sie es jetzt gehört? Sie ist nicht zu Hause und kommt vielleicht erst spät am Abend zurück. Na, dann kommen Sie jetzt zu mir mit herein. Sie wollten ja doch auch zu mir kommen, nicht wahr? Na, sehen Sie, da sind wir in meiner Wohnung. Frau Rößlich ist nicht zu Hause. Diese Frau ist fortwährend in geschäftlicher Tätigkeit; aber sie ist eine gute Frau, dessen kann ich Sie versichern … Vielleicht könnte sie Ihnen nützlich sein, wenn Sie ein bißchen vernünftiger sein wollten. Na, sehen Sie, bitte: ich nehme aus dem Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier (sehen Sie mal, wieviel ich noch von derselben Sorte habe), und dieses wandert noch heute zum Bankier. Na, haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtisch wird zugeschlossen, die Wohnung wird zugeschlossen, und nun sind wir wieder auf der Treppe. Na, wenn’s Ihnen recht ist, nehmen wir uns eine Droschke. Ich will ja nach den ›Inseln‹. Haben Sie nicht Lust, eine kleine Spazierfahrt zu machen? Hier, ich nehme diese Droschke nach der Jelagin-Insel. Wie? Sie wollen nicht? Also bleiben Sie Ihrer Absicht doch nicht treu? Lassen Sie uns doch fahren; warum denn nicht? Es scheint allerdings, als ob ein Regen kommt; aber das schadet nichts; wir ordnen an, daß das Verdeck in die Höhe geschlagen wird …«

Swidrigailow saß bereits im Wagen. Raskolnikow kam zu der Ansicht, daß sein Verdacht, wenigstens für den Augenblick, unbegründet sei. Ohne ein Wort zu antworten, drehte er sich um und ging wieder zurück nach dem Heumarkte zu. Hätte er sich auch nur ein einziges Mal umgewendet, so würde er noch gesehen haben, wie Swidrigailow, nachdem er nicht mehr als hundert Schritte gefahren war, den Kutscher ablohnte und auf das Trottoir trat. Gleich darauf bog Raskolnikow um eine Ecke, so daß er nun auch gar nicht mehr die Möglichkeit hatte, den andern zu beobachten. Ein Gefühl tiefen Ekels trieb ihn dazu, sich von Swidrigailow zu entfernen. ›Wie konnte ich auch nur einen Augenblick lang von diesem rohen Bösewicht, von diesem gemeinen Wüstling und Schurken etwas erwarten!‹ rief er unwillkürlich in Gedanken aus. Freilich war dieses sein Urteil zu eilig und leichtfertig. Es war in Swidrigailows ganzem Wesen etwas, was ihm wenigstens eine gewisse Originalität, man könnte fast sagen, etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine Schwester betraf, so blieb Raskolnikow doch mit Bestimmtheit bei seiner Überzeugung, daß Swidrigailow nicht gesonnen war, sie in Ruhe zu lassen. Es wurde ihm aber jetzt gar zu schwer, ja geradezu unerträglich, an all dies zu denken und es immer wieder zu überlegen!

Seiner Gewohnheit gemäß war er, sobald er allein geblieben war, schon nach zwanzig Schritten tief in Gedanken versunken. Als er auf die Brücke trat, blieb er am Geländer stehen und blickte auf das Wasser hinab. Unterdessen stand Awdotja Romanowna in einiger Entfernung hinter ihm.

Er war ihr am Anfang der Brücke begegnet, war aber an ihr vorbeigegangen, ohne sie zu beachten. Dunja hatte ihn noch nie in diesem Zustande auf der Straße gesehen und war überrascht und erschrocken. Sie blieb stehen und wußte nicht, ob sie ihn anrufen sollte oder nicht. Auf einmal bemerkte sie den aus der Richtung des Heumarktes her eilig herankommenden Swidrigailow.

Aber dieser schien sich bei seiner Annäherung großer Vorsicht und Heimlichkeit zu befleißigen. Er betrat die Brücke nicht, sondern blieb seitwärts auf dem Trottoir stehen und gab sich die größte Mühe, von Raskolnikow nicht gesehen zu werden. Dunja hatte er schon längst bemerkt und machte ihr Zeichen. Wie es ihr schien, bat er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen, sondern in Ruhe zu lassen, und forderte sie auf, zu ihm hinzukommen.

Dunja tat dies. Sachte ging sie um ihren Bruder herum und trat zu Swidrigailow.

»Wir wollen recht schnell gehen«, flüsterte ihr dieser zu. »Ich möchte nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft etwas merkt. Ich habe mit ihm nicht weit von hier in einem Restaurant gesessen, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und habe mich nur mit Mühe von ihm wieder losgemacht. Er hat aus einer mir unbekannten Quelle von meinem Briefe an Sie Kenntnis erhalten und argwöhnt daher etwas. Sie haben ihm doch jedenfalls nichts davon gesagt? Aber wenn Sie es nicht getan haben, wer kann es sonst gewesen sein?«

»Da sind wir ja schon um die Ecke«, unterbrach ihn Dunja, »und mein Bruder kann uns nicht mehr sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich nicht weiter mit Ihnen gehe. Sagen Sie mir alles hier; das läßt sich alles auch auf der Straße sagen.«

»Erstens läßt sich das schlechterdings nicht auf der Straße sagen; zweitens müssen Sie auch Sofja Semjonowna anhören; drittens will ich Ihnen gewisse Beweismittel zeigen … Na, und schließlich, wenn Sie nicht einwilligen, mit in meine Wohnung zu kommen, so lehne ich es ab, Ihnen irgendwelche Mitteilungen zu machen, und entferne mich sofort. Dabei bitte ich Sie, nicht zu vergessen, daß das höchst interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders völlig in meinen Händen ist.«

Dunja blieb unentschlossen stehen und schaute Swidrigailow forschend an.

»Wovor fürchten Sie sich denn?« bemerkte er ruhig. »Wir sind hier in einer Stadt und nicht auf dem Lande. Und auf dem Lande haben Sie mir mehr Schaden zugefügt als ich Ihnen; hier aber …«

»Ist Sofja Semjonowna von meinem Kommen benachrichtigt?«

»Nein, ich habe ihr keine Silbe davon gesagt und bin nicht einmal ganz sicher, ob sie auch jetzt zu Hause ist. Aber sie ist wahrscheinlich da. Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt; an einem solchen Tage pflegt man keine Besuche zu machen. Vorläufig will ich noch mit niemand über diese Angelegenheit reden und bereue sogar zum Teil, daß ich Ihnen davon Mitteilung gemacht habe. Die geringste Unvorsichtigkeit kann hierbei die Wirkung einer Denunziation haben. Ich wohne gleich hier, in diesem Hause; Sie sehen, wir sind schon da. Da steht der Hausknecht, der zu unserem Hause gehört; der kennt mich ganz genau; sehen Sie, er grüßt; er sieht, daß ich mit einer Dame komme, und hat sich sicherlich bereits Ihr Gesicht gemerkt; das kann Ihnen aber zustatten kommen, wenn Sie sich nun einmal so sehr fürchten und mir Böses zutrauen. Entschuldigen Sie, daß ich so unzart rede. Ich selbst wohne in einer möblierten Wohnung. Sofja Semjonowna wohnt neben mir Wand an Wand, gleichfalls in einem möblierten Zimmer. Die ganze Etage ist in dieser Weise vermietet. Also haben Sie keinen Anlaß, sich wie ein kleines Kind zu ängstigen. Oder bin ich wirklich ein so furchtbarer Mensch?«

Swidrigailows Gesicht verzog sich zu einem freundlich überlegenen Lächeln; aber in Wirklichkeit war ihm nicht nach Lächeln zumute. Das Herz pochte ihm heftig, und der Atem stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich recht laut, um seine wachsende Aufregung zu verbergen; aber Dunja nahm diese besondere Aufregung gar nicht wahr; seine Bemerkung, daß sie sich wie ein kleines Kind vor ihm ängstige und daß er ihr als ein furchtbarer Mensch erscheine, hatte sie gar zu sehr gereizt.

»Obwohl ich weiß, daß Sie ein … ehrloser Mensch sind, fürchte ich mich dennoch nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran!« sagte sie anscheinend ruhig, aber ihr Gesicht war sehr blaß.

Swidrigailow blieb bei Sonjas Wohnung stehen.

»Erlauben Sie, daß ich nachsehe, ob sie zu Hause ist … Nein. Schade! Aber ich weiß, daß sie wahrscheinlich sehr bald zurückkommen wird. Wenn sie ausgegangen ist, so kann sie nur zu einer mir bekannten Dame gegangen sein, um mit ihr über die Waisen Rücksprache zu nehmen, die nun auch ihre Mutter verloren haben. Ich habe mich auch da der Sache angenommen und Fürsorge getroffen. Sollte Sofja Semjonowna nicht binnen zehn Minuten zurückgekehrt sein, so werde ich sie nachher zu Ihnen nach Ihrer Wohnung schicken; wenn Sie es wünschen, heute noch. Na, und da ist auch meine Wohnung. Da sind meine beiden Zimmer. Nebenan, durch diese Tür verbunden, befindet sich die Wohnung meiner Wirtin, einer Frau Rößlich. Nun sehen Sie hierher, ich will Ihnen meine wichtigsten Beweismittel zeigen: aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür hier nach zwei ganz leeren Stuben, die zu vermieten sind. Hier sind sie, … dies müssen Sie sich mit besonderer Aufmerksamkeit ansehen …«

Swidrigailow bewohnte zwei ziemlich geräumige möblierte Zimmer. Dunja blickte mißtrauisch um sich, bemerkte aber nichts Auffälliges, weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, wiewohl sie allerdings hätte bemerken können, zum Beispiel daß Swidrigailows Wohnung zwischen zwei anderen Wohnungen lag, von denen die eine unbewohnt, die andere so gut wie unbewohnt war. Sie hatte ihren Eingang nicht unmittelbar vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Swidrigailow, nachdem er eine verschlossene Tür aufgeschlossen hatte, dem jungen Mädchen eine gleichfalls leere Wohnung, die zu vermieten war. Dunja wollte auf der Schwelle stehenbleiben, da sie nicht begriff, warum er sie aufforderte, das anzusehen; aber Swidrigailow beeilte sich, ihr dies zu erklären.

»Hier, sehen Sie einmal dorthin, in dieses zweite große Zimmer. Beachten Sie die Tür dort; sie ist verschlossen. Neben der Tür steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Den habe ich aus meiner Wohnung dorthin gebracht, um es beim Zuhören bequemer zu haben. Dort gleich hinter der Tür steht Sofja Semjonownas Tisch; da saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber saß hier auf dem Stuhle und horchte, zwei Abende hintereinander, jedesmal etwa zwei Stunden lang – da konnte ich doch gewiß etwas erfahren, meinen Sie nicht?«

»Sie horchten?«

»Ja, allerdings; aber nun kommen Sie in meine Wohnung; hier ist nicht einmal eine Sitzgelegenheit.«

Er führte Awdotja Romanowna in sein erstes Zimmer zurück, das ihm als Wohnzimmer diente, und bot ihr einen Stuhl an. Er selbst setzte sich an das andere Ende des Tisches, gegen sieben Fuß von ihr entfernt; aber in seinen Augen leuchtete schon eben jenes Feuer, vor dem sie früher einmal so heftig erschrocken war. Sie fuhr zusammen und sah sich noch einmal mißtrauisch um. Sie tat das ganz unwillkürlich; ihr Mißtrauen zu zeigen lag offenbar nicht in ihrer Absicht. Aber die einsame Lage von Swidrigailows Wohnung war ihr nun doch schließlich aufgefallen. Sie wollte ihn schon fragen, ob nicht wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, unterließ es aber … aus Stolz. Außerdem quälte ein anderes, unvergleichlich viel größeres Leid als die Furcht für ihre eigene Person ihr Herz. Sie duldete unerträgliche Qualen.

»Da ist Ihr Brief«, begann sie und legte den Brief auf den Tisch. »Ist denn das, was Sie da schreiben, überhaupt möglich? Sie deuten auf ein Verbrechen hin, das mein Bruder begangen habe. Sie deuten zu bestimmt darauf hin; wagen Sie nicht etwa sich jetzt herauszureden. Schon vor Ihrer Mitteilung habe ich von diesem dummen Gerede gehört; aber ich glaube kein Wort davon. Es ist eine schändliche, lächerliche Verdächtigung; ich weiß, wie und woher sie entstanden ist. Beweise können Sie nicht haben; Sie machten sich anheischig, mir Beweise zu liefern: nun, so reden Sie denn! Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich Ihnen nicht glauben werde. Ich werde Ihnen nicht glauben!«

Dunja sagte das schnell und hastig, und für einen Augenblick stieg ihr das Blut ins Gesicht.

»Wenn Sie es für so ganz ausgeschlossen gehalten hätten, daß Sie es glauben könnten, so hätten Sie es doch gewiß nicht riskiert, allein zu mir zu kommen. Warum sind Sie denn gekommen? Nur aus Neugier?«

»Foltern Sie mich nicht, reden Sie, reden Sie!«

»Das muß man sagen: Sie sind ein tapferes Mädchen. Ich habe wahrhaftig gedacht, Sie würden Herrn Rasumichin bitten, Sie hierher zu begleiten. Aber er war auf der Straße weder bei Ihnen noch in der Nähe; ich habe gut Umschau gehalten. Das ist kühn von Ihnen; Sie wollten offenbar Rodion Romanowitsch schonen. Ja, Sie sind in jeder Hinsicht ein himmlisches Wesen … Was nun Ihren Bruder anlangt, ja, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn ja in diesem Augenblick selbst gesehen. Wie sieht er nur aus!«

»Das ist doch wohl nicht das einzige, worauf sich Ihre Behauptung gründet?«

»Gewiß nicht, vielmehr auf seine eigenen Worte. Zwei Abende nacheinander ist er zu Sofja Semjonowna hierher gekommen. Ich habe Ihnen gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine vollständige Beichte abgelegt. Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin, bei der auch er einige Sachen versetzt hatte, ermordet; desgleichen hat er deren Schwester ermordet, eine Händlerin namens Lisaweta, die unvermutet bei der Mordtat dazukam. Er hat sie beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hat sie ermordet, um sie zu berauben, und er hat auch geraubt; er hat Geld und einige Wertsachen weggenommen … Er selbst hat das alles Wort für Wort Sofja Semjonowna erzählt; sie ist die einzige, die von dem Geheimnisse weiß. Aber sie ist bei dem Morde weder durch Rat noch durch Tat beteiligt gewesen, erschrak vielmehr über die Mitteilung gerade ebenso wie Sie jetzt. Sie können beruhigt sein: sie wird ihn nicht verraten.«

»Es ist nicht möglich!« murmelte Dunja mit leichenblassen Lippen, nach Atem ringend. »Es ist nicht möglich. Er hatte ja dazu nicht den geringsten Grund, gar keinen Anlaß … Es ist eine Lüge, eine Lüge!«

»Er wollte rauben, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Wertsachen genommen. Allerdings hat er, nach seiner eigenen Aussage, weder von dem Gelde noch von den Wertsachen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo unter einen Stein gelegt, wo sie noch liegen. Aber das hat er eben nur deshalb getan, weil er sich nicht getraute, davon Gebrauch zu machen.«

»Aber ist es denn denkbar, daß er imstande gewesen sein sollte, zu stehlen und zu rauben? Daß ihm so etwas auch nur hätte in den Sinn kommen können?« rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. »Sie kennen ihn ja doch, Sie haben ihn gesehen; kann denn ein Mensch wie er ein Dieb sein?«

Ihr Ton klang, als ob sie Swidrigailow anflehte; all ihre Angst hatte sie vergessen.

»Da gibt es tausend und abertausend verschiedene Arten und Schattierungen, Awdotja Romanowna. Der gewöhnliche Dieb stiehlt mit dem Bewußtsein, daß er ein Schuft ist; ich habe aber auch schon einmal gehört, daß ein Mann besseren Standes die Post überfallen und ausgeplündert hat; wer weiß, ob der nicht tatsächlich der Ansicht war, etwas ganz Anständiges getan zu haben! Selbstverständlich hätte auch ich es ebensowenig wie Sie geglaubt, wenn ich es von irgendeinem anderen gehört hätte. Aber meinen eigenen Ohren mußte ich glauben. Er hat Sofja Semjonowna auch alle seine Beweggründe auseinandergesetzt; die wollte zuerst ihren Ohren nicht trauen; aber ihren Augen, ihren eigenen Augen mußte sie schließlich doch Glauben schenken. Er selbst hat es ihr ja alles persönlich erzählt.«

»Was waren das für … Beweggründe?«

»Das ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es liegt dabei (ja, wie soll ich Ihnen das nur klarmachen?) eine eigenartige Theorie zugrunde, dieselbe Anschauung, nach der auch ich zum Beispiel finde, daß eine einzige Übeltat erlaubt ist, wenn der Hauptzweck ein guter ist. Eine einzige üble Tat gegenüber hundert guten! Auch ist es sicherlich für einen jungen Mann von hervorragender Begabung und maßlosem Ehrgeiz ein empörender Gedanke, sich sagen zu müssen, daß seine ganze Laufbahn, all seine künftigen Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er nur dreitausend Rubel hätte, daß er aber diese dreitausend Rubel eben nicht hat. Nehmen Sie als anstachelnde Momente noch hinzu: den Hunger, die enge Wohnung, die deutliche Erkenntnis der Kläglichkeit seiner eigenen sozialen Stellung und im Verein damit der Stellung seiner Schwester und seiner Mutter. Die Hauptursachen aber waren Eitelkeit und Stolz, vielleicht indessen, Gott mag’s wissen, daneben auch bessere Motive. Ich breche nicht den Stab über ihn; bitte, glauben Sie das nicht; das steht mir auch gar nicht zu. Es spielte dabei auch eine besondere Theorie eine Rolle (eine Theorie, die nach etwas klingt), nach der die Menschen in zwei Gruppen eingeteilt werden, sehen Sie wohl, in Material und in besondere Menschen, das heißt solche Menschen, für die wegen ihres hohen geistigen Ranges die Gesetze nicht geschrieben sind, sondern die vielmehr selbst für die übrigen Menschen, für dieses Material, für den Kehricht, Gesetzgeber sind. Man muß sagen: eine ganz leidliche Theorie, une théorie comme une autre. Ganz gewaltig hat ihm Napoleon imponiert, das heißt eigentlich hat ihm das imponiert, daß so viele geniale Menschen keine Bedenken trugen, eine einzelne Übeltat zu begehen, sondern, ohne erst lange zu reflektieren, über die Schranken hinwegschritten. Er scheint sich eingebildet zu haben, daß auch er ein genialer Mensch sei; ich meine, er ist eine Zeitlang davon überzeugt gewesen. Sehr niederdrückend war ihm und ist ihm auch noch der Gedanke, daß er zwar verstanden habe, eine Theorie aufzustellen, aber nicht imstande gewesen sei, über die Schranken ohne lange Reflexionen hinwegzuschreiten, und daß er somit kein genialer Mensch sei. Na, und das ist für einen ehrgeizigen jungen Mann demütigend, namentlich in unserer Zeit …«

»Und sollte er keine Gewissensbisse gehabt haben? Sie sprechen ihm also jedes moralische Gefühl ab? So ein Mensch ist er doch nicht!«

»Ach, Awdotja Romanowna, diese Begriffe sind jetzt bei uns arg in Verwirrung geraten; übrigens, eine besondere Ordnung hat wohl nie darin geherrscht. Die Russen haben überhaupt eine schrankenlose Natur, Awdotja Romanowna, ganz wie ihr Land, und neigen außerordentlich stark zum Phantastischen, Ordnungslosen; aber eine solche Neigung zur Schrankenlosigkeit ist, wenn sich nicht besondere Genialität damit vereint, ein Unglück. Wissen Sie wohl noch, wie oft wir beide in ebendiesem Sinne über ebendieses Thema gesprochen haben, wenn wir nach dem Abendessen im Garten auf der Terrasse saßen? Gerade diese Neigung zur Schrankenlosigkeit machten Sie mir damals noch zum Vorwurf. Wer weiß, vielleicht haben wir manchmal gerade in derselben Zeit davon gesprochen, wo er hier lag und sich seinen Plan ausdachte. Bei uns in der gebildeten Gesellschaft gibt es ja eigentlich keine durch das Herkommen geheiligten Grundsätze, Awdotja Romanowna; es müßte denn sein, daß sich jemand dergleichen aus Büchern zusammenstellt oder aus Chroniken ausgräbt. Aber das sind doch meist nur Gelehrte, und, wissen Sie, das sind in ihrer Art rechte Schlafmützen, so daß es für einen Mann von Welt unpassend wäre, es ihnen nachzutun. Übrigens kennen Sie ja meine Anschauungen über diese ganze Frage; ich stehe entschieden auf dem Standpunkte, niemand zu verurteilen. Ich selbst bin ein Nichtstuer und halte an diesem Lebensprinzip fest. Wir haben uns darüber ja schon wiederholt unterhalten. Ich hatte sogar das Glück, durch meine Ansichten Ihr Interesse zu erregen … Aber Sie sind ja so blaß, Awdotja Romanowna!«

»Ich kenne diese Theorie meines Bruders. Ich habe in einer Zeitschrift eine Abhandlung von ihm gelesen über Menschen, denen alles erlaubt ist … Rasumichin hat sie mir gebracht.«

»Rasumichin? Eine Abhandlung Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Hat er eine solche Abhandlung geschrieben? Das war mir nicht bekannt. Die wird gewiß sehr interessant sein! Aber wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?«

»Ich will mit Sofja Semjonowna sprechen«, antwortete Dunja mit schwacher Stimme. »Wie komme ich zu ihr? Sie ist vielleicht schon zurückgekehrt; ich will unter allen Umständen so schnell wie möglich mit ihr sprechen. Mag sie …«

Awdotja Romanowna war nicht imstande, den Satz zu Ende zu sprechen; ihr Atem war wie abgeschnürt.

»Sofja Semjonowna wird erst spät am Abend zurückkommen. Ich muß das annehmen; es war zu erwarten, daß sie sehr bald zurückkommen würde oder, wenn nicht, erst sehr spät.«

»Ah, du lügst also! Ich sehe, … du lügst, … du hast alles gelogen! … Ich glaube dir nicht! Nein! Nein!« rief Dunja in wahrer Wut und ganz außer sich.

Fast ohnmächtig sank sie auf einen Stuhl nieder, den ihr Swidrigailow schnell hinrückte.

»Was ist Ihnen, Awdotja Romanowna? Kommen Sie doch zu sich! Hier ist Wasser! Trinken Sie einen Schluck!«

Er bespritzte sie mit Wasser. Dunja zuckte zusammen und kam wieder zum Bewußtsein.

»Das hat stark gewirkt!« murmelte Swidrigailow mit finsterem Gesichte vor sich hin. »Beruhigen Sie sich, Awdotja Romanowna! Denken Sie daran, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn schon retten, ihm durchhelfen. Wenn Sie es wünschen, bringe ich ihn ins Ausland. Ich habe Geld; in längstens drei Tagen beschaffe ich ihm einen Paß. Und was den Mord betrifft, den er begangen hat, so wird er in seinem Leben noch viele gute Taten tun, so daß das alles wieder wettgemacht wird; darüber mögen Sie ruhig sein. Er kann noch ein großer Mann werden. Nun, wie geht es Ihnen jetzt? Wie fühlen Sie sich?«

»Schlechter Mensch! Sie höhnen noch! Lassen Sie mich …«

»Wohin? Wo wollen Sie denn hin?«

»Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Wie kommt es, daß diese Tür verschlossen ist? Wir sind doch durch diese Tür hereingekommen, und jetzt ist sie verschlossen. Ich habe gar nicht gemerkt, daß Sie sie zuschlossen; wann haben Sie das getan?«

»Ich mußte doch verhüten, daß das, was wir hier besprächen, von anderen Leuten gehört würde. Ich höhne ganz und gar nicht; aber ich bin es allerdings überdrüssig, in dem bisherigen Tone weiterzureden. Wohin wollen Sie in dieser Verfassung gehen? Oder wollen Sie bewirken, daß seine Schuld bekannt wird? Sie werden ihn zur Raserei bringen, und er wird sich selbst anzeigen. Ich muß Ihnen sagen, daß man ihn bereits verfolgt, ihm auf der Fährte ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie doch; ich habe ihn eben gesehen und mit ihm gesprochen; er ist noch zu retten. Warten Sie doch, setzen Sie sich, wir wollen es zusammen überlegen. Darum habe ich Sie ja eben gebeten, zu mir zu kommen, um darüber mit Ihnen allein Rücksprache zu nehmen und alles ordentlich zu überlegen. Aber so setzen Sie sich doch hin!«

»Auf welche Weise können Sie ihn retten? Ist denn noch Rettung möglich?«

Dunja setzte sich. Swidrigailow setzte sich neben sie.

»Das alles wird von Ihnen abhängen, von Ihnen, von Ihnen allein«, begann er mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone; er war so erregt und verwirrt, daß er manche Worte nicht deutlich herausbekam.

Dunja wich erschrocken von ihm zurück. Auch er zitterte am ganzen Körper.

»Sie … ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich … ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort wegbringen; ich selbst werde ihm einen Paß besorgen, oder zwei Pässe, einen für ihn, einen für mich. Ich habe Freunde, ich stehe mit geschäftskundigen Leuten in Verbindung … Wollen Sie? Auch für Sie will ich einen Paß nehmen, … auch für Ihre Mutter … Wozu brauchen Sie diesen Rasumichin? Ich liebe Sie auch, … ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den Saum Ihres Kleides küssen, ich bitte Sie darum! Ich bitte Sie darum! Ich kann es nicht mehr anhören, wie es raschelt. Sagen Sie mir: ›tu das!‹ und ich tue es! Alles will ich tun. Ich will das Unmögliche vollbringen. Woran Sie glauben, daran will auch ich glauben. Ich will alles, alles tun! Sehen Sie mich nicht so an, sehen Sie mich nicht so an! Sie töten mich mit diesem Blicke …«

Er redete wie im Fieber. Es war, als wäre er plötzlich trunken geworden. Dunja sprang auf und stürzte zur Tür.

»Aufmachen! Aufmachen!« rief sie durch die Tür, um jemand herbeizurufen, und rüttelte an ihr mit beiden Händen. »Aufmachen! Ist niemand da?«

Swidrigailow kam wieder zu sich und stand auf. Ein boshaftes, höhnisches Lächeln trat langsam auf seine immer noch zitternden Lippen; dann sagte er leise und mit Nachdruck:

»Da ist niemand zu Hause. Die Wirtin ist ausgegangen, und es ist vergebliche Mühe, so zu schreien. Sie regen sich unnütz auf.«

»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Tür, sofort, du gemeiner Mensch!«

»Den Schlüssel habe ich verloren und kann ihn nicht wiederfinden.«

»Ah! Das ist Gewalt!« rief Dunja, die leichenblaß geworden war, und stürzte sich in eine Ecke, wo sie schleunigst hinter einem dort stehenden Tischchen Deckung suchte.

Sie schrie nicht, sondern heftete ihren Blick fest auf ihren Peiniger und verfolgte scharf jede seiner Bewegungen. Auch Swidrigailow rührte sich nicht von seinem Platze und stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte wieder die Herrschaft über sich gewonnen, wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war bleich wie vorher, und das höhnische Lächeln war nicht verschwunden.

»Sie sagten soeben ›Gewalt‹, Awdotja Romanowna. Wenn ich wirklich Gewalt beabsichtigen sollte, so können Sie sich wohl selbst sagen, daß ich auch die erforderlichen Maßregeln getroffen haben werde. Sofja Semjonowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumows ist es sehr weit; da liegen drei leere, verschlossene Zimmer dazwischen. Schließlich bin ich mindestens noch einmal so stark wie Sie, und außerdem habe ich nichts zu befürchten; denn Sie können auch nachher keine Klage gegen mich anstrengen: Sie werden doch wahrhaftig nicht Ihren Bruder verraten wollen? Auch wird Ihnen nicht einmal jemand glauben: weshalb sollte denn ein junges Mädchen allein zu einem alleinstehenden Manne in die Wohnung gegangen sein? Also selbst wenn Sie Ihren Bruder preisgäben, würden Sie doch nichts gegen mich beweisen können: eine Vergewaltigung ist sehr schwer zu beweisen, Awdotja Romanowna.«

»Schurke!« flüsterte Awdotja entrüstet.

»Nennen Sie mich, wie Sie wollen; aber bitte, beachten Sie, daß ich von Gewalt nur im Sinne einer bloßen Annahme gesprochen habe. Nach meiner persönlichen Überzeugung haben Sie vollkommen recht: eine Vergewaltigung ist eine Gemeinheit. Ich habe von der äußersten Möglichkeit einer Gewalttat auch nur deshalb gesprochen, um Ihnen begreiflich zu machen, daß Sie sich in Ihrem Gewissen nicht beschwert zu fühlen brauchen, wenn Sie … wenn Sie sich entschließen, Ihren Bruder freiwillig in der von mir vorgeschlagenen Weise zu retten. Sie haben sich dann einfach den Umständen gefügt, na, meinetwegen auch der Gewalt, wenn dieses Wort nun einmal unentbehrlich ist. Überlegen Sie es sich ein Weilchen: das Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich aber werde Ihr Sklave sein … mein ganzes Leben lang … Ich will hier warten.«

Swidrigailow setzte sich auf das Sofa, etwa acht Schritte von Dunja entfernt. Für sie bestand nicht der geringste Zweifel an seiner unerschütterlichen Entschlossenheit. Dazu kannte sie ihn zu gut.

Plötzlich zog sie einen Revolver aus der Tasche, spannte den Hahn und legte die Hand mit dem Revolver auf das Tischchen. Swidrigailow sprang auf.

»Aha! Ei, sehen Sie mal!« rief er erstaunt mit boshaftem Lächeln. »Nun, das gibt ja der Sache allerdings eine ganz andere Wendung! Sie erleichtern mir dadurch mein Vorhaben außerordentlich, Awdotja Romanowna! Aber wo haben Sie denn den Revolver her? Etwa von Herrn Rasumichin? Nein doch! Das ist ja mein Revolver! Ein alter Bekannter! Und ich habe damals so danach gesucht! … Der Unterricht im Schießen, den ich auf dem Lande Ihnen zu erteilen die Ehre hatte, ist also doch nicht unnütz gewesen!«

»Der Revolver gehörte nicht dir, sondern Marfa Petrowna, die du ermordest hast, du Bösewicht! Du hattest in ihrem ganzen Hause nichts Eigenes. Ich nahm ihn an mich, sobald ich merkte, wozu du fähig bist. Wage es, mir auch nur einen Schritt näherzukommen, so erschieße ich dich; das schwöre ich dir!«

Dunja befand sich in rasender Erregung. Den Revolver hielt sie schußbereit.

»Na, und was soll aus Ihrem Bruder werden? Ich frage nur so aus Neugier!« sagte Swidrigailow, der immer noch an seinem Platze stand.

»Denunziere ihn, wenn du willst! Nicht von der Stelle! Rühre dich nicht! Ich schieße! Du hast deine Frau vergiftet, das weiß ich; du bist selbst ein Mörder!«

»Wissen Sie das auch ganz bestimmt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?«

»Du hast es getan! Du hast mir selbst Andeutungen darüber gemacht; du hast mir gegenüber von Gift gesprochen, … ich weiß, du bist weggefahren, um dir welches zu beschaffen, … du hattest es bereitliegen … Du hast es getan … Zweifellos hast du es getan, … du Schurke!«

»Und selbst wenn es wahr wäre, so hätte ich es doch nur um deinetwillen … so wärest doch nur du die Ursache gewesen.«

»Du lügst! Ich habe dich immer gehaßt, immer …«

»Ei, ei, Awdotja Romanowna, Sie haben offenbar vergessen, wie Sie damals in Ihrem Bekehrungseifer schon nachgiebiger wurden und auftauten … Ich habe Ihnen das an den Augen angesehen; erinnern Sie sich noch: eines Abends, bei Mondschein, die Nachtigall flötete?«

»Du lügst!« (Dunjas Augen funkelten vor Wut.) »Du lügst, Verleumder!«

»Ich lüge? Na, meinetwegen auch das! Ich habe also gelogen. Es schickt sich nicht, Frauen an solche Dinge zu erinnern.« (Er lächelte.) »Ich weiß, daß du schießen wirst, du reizende Tigerin! Na, dann schieße also!«

Dunja hob den Revolver in die Höhe; sie war totenbleich, die blasse Unterlippe bebte, die großen schwarzen Augen funkelten wie Feuer. Entschlossen blickte sie ihn an und wartete auf die erste Bewegung von seiner Seite. Noch nie hatte er sie so schön gesehen. Er hatte die Empfindung, als ob das Feuer, das in diesem Augenblick aus ihren Augen sprühte, ihn versengte, und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er trat einen Schritt vorwärts, und der Schuß ertönte.

Die Kugel hatte ihm das Haar gestreift und war hinter ihm in die Wand gefahren. Er blieb stehen und lachte leise auf.

»Die Wespe hat gestochen! So ein Mädchen, zielt gerade nach dem Kopfe! … Was ist das? Blut!«

Er zog das Taschentuch heraus, um das Blut abzuwischen, das in einem feinen Streifen über seine rechte Schläfe rann; augenscheinlich hatte die Kugel die Kopfhaut eben nur geritzt. Dunja ließ den Revolver sinken und blickte Swidrigailow an, nicht sowohl erschreckt, sondern in einer Art von scheuem Staunen. Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was geschehen war.

»Na ja, das war vorbeigeschossen! Schießen Sie noch einmal; ich warte«, sagte Swidrigailow leise; er lächelte immer noch, aber sein Lächeln hatte jetzt etwas Düsteres, Trübes. »Wenn Sie so stehenbleiben, kann ich Sie ja packen, ehe Sie dazukommen, den Hahn zu spannen!«

Dunja fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und hob den Revolver wieder in die Höhe.

»Lassen Sie von mir ab!« rief sie verzweifelt. »Ich schwöre Ihnen, ich schieße noch einmal; ich … werde Sie töten …«

»Na, schön, … auf drei Schritt Entfernung kann es ja eigentlich gar nicht ausbleiben, daß man einen totschießt. Na, aber wenn Sie mich nicht totschießen, … dann …«

Seine Augen funkelten und er trat noch zwei Schritte näher.

Dunja drückte ab; aber der Schuß versagte.

»Sie haben nicht sorgfältig geladen. Aber es tut nichts! Sie haben noch eine Patrone darin. Machen Sie Ihren Fehler wieder gut; ich warte.«

Er stand in einer Entfernung von zwei Schritten vor ihr, wartete und sah sie mit wilder Entschlossenheit an; seine Augen flammten in tiefer Leidenschaft. Dunja konnte nicht zweifeln, daß er eher sterben als von ihr ablassen werde. ›Und … und nun, auf zwei Schritt, werde ich ihn sicher töten!‹ sagte sie sich.

Plötzlich schleuderte sie den Revolver von sich.

»Sie hat ihn weggeworfen!« sagte Swidrigailow erstaunt und holte tief Atem.

Ihm war, als hätte sich ihm auf einmal eine Last vom Herzen gelöst, und es war wohl nicht allein der Druck der Todesfurcht; die hatte er in diesem Augenblick vielleicht überhaupt kaum empfunden. Es war die Befreiung von einem anderen, krankhaften, düsteren Gefühle, das er in seiner ganzen Bedeutung selbst nicht hätte definieren können.

Er trat an Dunja heran und legte leise seinen Arm um ihre Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht; aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen; aber es verzogen sich nur seine Lippen; zu sprechen war er nicht imstande.

»Laß mich!« sagte Dunja flehend.

Swidrigailow zuckte zusammen: dieses Du war in ganz anderem Tone gesprochen als vorher.

»Du liebst mich also nicht?« fragte er leise.

Dunja schüttelte verneinend den Kopf.

»Und … du wirst es auch nie können? … Niemals?« flüsterte er voll Verzweiflung.

»Nein, niemals!« flüsterte Dunja.

In Swidrigailows Seele ging einen Augenblick lang ein furchtbarer, stummer Kampf vor sich. Mit einem unbeschreiblichen Blicke schaute er sie an. Plötzlich löste er seinen Arm von ihrem Körper, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und blieb dort stehen, dem Zimmer den Rücken zuwendend.

Es verging noch ein Augenblick.

»Hier ist der Schlüssel!« Er zog ihn aus der linken Überziehertasche und legte ihn hinter sich auf den Tisch, ohne sich umzudrehen und ohne Dunja anzublicken. »Nehmen Sie ihn und gehen Sie schnell fort!«

Er blickte starr durch das Fenster.

Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.

»Schnell! Schnell!« rief Swidrigailow, der sich immer noch nicht rührte und nicht umwandte.

Aber in diesem »Schnell!« war ein furchtbarer Ton deutlich hindurchzuhören.

Dunja verstand diesen Ton, ergriff den Schlüssel, stürzte zur Tür, schloß sie schnell auf und eilte aus dem Zimmer. Einen Augenblick darauf lief sie wie wahnsinnig und wie betäubt aus dem Hause und rannte am Kanal entlang nach der …schen Brücke zu.

Swidrigailow blieb noch etwa drei Minuten lang am Fenster stehen; endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und fuhr sich sachte mit der Hand über die Stirn. Ein sonderbares Lächeln verzerrte sein Gesicht, ein klägliches, trauriges, mattes Lächeln, ein Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das bereits einzutrocknen begann, hatte ihm bei dieser Bewegung die Handfläche beschmutzt; ärgerlich betrachtete er den Fleck; dann befeuchtete er ein Handtuch und wusch sich die Schläfe rein. Auf einmal fiel ihm der Revolver in die Augen, den Dunja von sich geworfen hatte und der gegen die Tür geflogen war. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner, dreischüssiger Taschenrevolver alten Systems; es waren darin noch zwei Patronen und ein Zündhütchen vorhanden. Einmal konnte man also noch damit schießen. Er überlegte ein Weilchen, schob dann den Revolver in die Tasche, ergriff seinen Hut und ging hinaus.

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