Kapitel 32

I

Für Raskolnikow begann nun eine eigenartige Zeit: es war, als hätte sich ein Nebel rings um ihn gebildet und hielte ihn in unentrinnbarer, drückender Vereinsamung gefangen. Wenn er sich später, lange nachher, an diese Zeit erinnerte, so war er der Überzeugung, daß sein Bewußtsein damals manchmal verdunkelt gewesen sei und daß dieser Zustand – mit einigen helleren Zwischenzeiten – fast bis zu der abschließenden Katastrophe gedauert habe. Er war fest überzeugt, daß er sich damals in vieler Hinsicht geirrt habe, zum Beispiel über den Zeitpunkt und die Dauer mancher Ereignisse. Wenigstens erfuhr er in der Folgezeit, wenn er sich zu erinnern suchte und sich bemühte, in diese Erinnerungen Klarheit hineinzubringen, vieles über seine eigene Person nur aus Mitteilungen, die er von andern empfing. Er verwechselte zum Beispiel ein Ereignis mit einem andern; oder er hielt auch eines für die Folge eines Vorfalles, der überhaupt nur in seiner Phantasie existierte. Manchmal bemächtigte sich seiner eine krankhafte, quälende Unruhe, die sogar in einen panischen Schrecken überging. Er entsann sich auch, daß, ganz im Gegensatz zu der sonstigen Angst, Minuten, Stunden, vielleicht sogar ganze Tage von einer Apathie, die ihn befallen hatte, ausgefüllt gewesen waren – von einer Apathie, ähnlich dem krankhaft-teilnahmslosen Zustande mancher Sterbenden. Überhaupt war er in diesen letzten Tagen anscheinend selbst bemüht, eine vollständige, deutliche Erkenntnis seiner Lage zu vermeiden. Einige Ereignisse der allerletzten Zeit, die einer sofortigen Klarstellung bedurften, bedrückten ihn schwer; wie froh wäre er gewesen, sich von derartigen Sorgen befreien und losmachen zu können, mit denen er sich doch in seiner Lage beschäftigen mußte, wenn er sich nicht dem völligen, unvermeidlichen Untergange preisgeben wollte.

Ganz besonders beunruhigte ihn der Gedanke an Swidrigailow; man konnte fast sagen, daß er nur an Swidrigailow dachte. Seit er von ihm in Sonjas Wohnung bei Katerina Iwanownas Tode jene unzweideutigen Äußerungen gehört hatte, die eine so große Gefahr für ihn in sich bargen, schien der gewöhnliche Gang und Fluß seiner Gedanken gestört zu sein. Obgleich ihn diese neue Tatsache aufs äußerste beunruhigte, beeilte sich Raskolnikow nicht, die Sache aufzuklären. Manchmal, wenn er sich auf einmal irgendwo in einem entfernten, stillen Stadtteil in einem elenden Restaurant einsam an einem Tische in Gedanken versunken fand und sich kaum besinnen konnte, wie er dahin geraten war, mußte er plötzlich an Swidrigailow denken; zu seiner Beängstigung wurde er sich deutlich bewußt, daß er sich so bald wie möglich mit diesem Menschen aussprechen und einen endgültigen Beschluß, soweit ein solcher möglich sei, fassen müsse. Einmal, als er aus der Stadt hinausgegangen war, bildete er sich sogar ein, er erwarte dort Swidrigailow und sie hätten dort eine Zusammenkunft verabredet. Ein andermal erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo auf der Erde im Gebüsch und hatte kaum eine Erinnerung daran, wie er dahin gekommen war. Übrigens hatte er in den ersten zwei, drei Tagen nach Katerina Iwanownas Tode Swidrigailow schon ein paarmal getroffen, fast immer in Sonjas Wohnung, wohin er selbst eigentlich ohne bestimmte Absicht und immer nur auf einen Augenblick gekommen war. Sie wechselten miteinander immer nur ein paar kurze Worte und sprachen nie über den Hauptpunkt, als bestände zwischen ihnen eine stillschweigende Verabredung, hierüber vorläufig zu schweigen. Katerina Iwanownas Leiche lag noch in der Wohnung im Sarge. Swidrigailow ordnete alles für das Begräbnis an und scheute dabei keine Mühe. Auch Sonja war sehr in Anspruch genommen. Bei dem letzten Zusammentreffen hatte Swidrigailow Raskolnikow mitgeteilt, daß er die Angelegenheit der Kinder Katerina Iwanownas erledigt habe, und zwar glücklich erledigt; er habe, dank seinen Verbindungen, Persönlichkeiten ausfindig gemacht, mit deren Hilfe es möglich gewesen sei, die Waisen alle drei sofort in sehr anständigen Anstalten unterzubringen; auch das für sie deponierte Geld habe zu diesem Resultate wesentlich beigetragen, weil Waisen, die ein Kapital besäßen, weit leichter unterkämen als mittellose. Er erwähnte auch Sonja, versprach, nächster Tage selbst zu Raskolnikow zu kommen, und bemerkte, er wünsche sich mit ihm zu beraten; eine Besprechung sei durchaus erforderlich, es wären da einzelne Punkte … Dieses Gespräch fand auf dem Flur an der Treppe statt. Swidrigailow blickte Raskolnikow forschend in die Augen und fragte plötzlich nach kurzem Schweigen leise:

»Warum sind Sie denn so verstört, Rodion Romanowitsch? Wirklich, Sie hören zwar zu und sehen einen an; aber es macht den Eindruck, als ob Sie gar nicht verstehen, was man sagt. Immer Courage! Ich möchte gern einmal ausführlicher mit Ihnen sprechen; schade nur, daß ich so viel zu tun habe, mit fremden und eigenen Angelegenheiten … Ach, Rodion Romanowitsch«, fügte er auf einmal hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft! … Das ist die Hauptsache!«

Er trat zur Seite, um den Geistlichen und den Küster, die die Treppe heraufstiegen, vorbeizulassen. Sie kamen, um das Totenamt zu halten. Auf Swidrigailows Anordnung wurde pünktlich zweimal am Tage Totenamt gehalten. Swidrigailow ging weg, seinen Geschäften nach; Raskolnikow blieb einen Augenblick stehen, überlegte und folgte dann dem Geistlichen in Sonjas Wohnung.

was ihn nicht eigentlich in Angst versetzte, aber ihn doch störte, so daß er möglichst schnell wieder in die Stadt zurückkehrte, sich unter die Menge mischte, Restaurants und Schenken besuchte und auf den Trödelmarkt und den Heumarkt ging. Hier wurde es ihm etwas leichter ums Herz, und hier kam es ihm sogar eher einsam vor. In einer Speisewirtschaft wurden gegen Abend Lieder gesungen; da saß er eine ganze Stunde dabei, hörte zu und hatte nachher die Empfindung, daß ihm das recht angenehm gewesen sei. Aber zum Schluß wurde er wieder unruhig, als ob ihn Gewissensbisse quälten: ›Ich sitze hier und höre Lieder mit an und habe doch wahrhaftig Dringenderes zu tun!‹ dachte er. Übrigens wurde er sich gleich dort darüber klar, daß dies nicht das einzige war, was ihn beunruhigte, sondern daß da noch etwas andres war, was eine unverzügliche Entscheidung verlangte, was er aber weder in Gedanken sich deutlich vorstellen noch mit Worten ausdrücken konnte. Alles schlang sich zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammen. ›Nein, lieber doch irgendein Kampf, … sei es wieder mit Porfirij oder mit Swidrigailow! … Wenn mich nur recht bald jemand herausforderte und anfiele! … Ja, ja!‹ dachte er. Er verließ die Speisewirtschaft und fing auf der Straße beinahe an zu laufen. Der Gedanke an Dunja und an die Mutter jagte ihm auf einmal einen jähen Schreck ein. Dies war die Nacht, wo er vor Tagesanbruch auf der Krestowskij-Insel im Gebüsch erwachte, an allen Gliedern vor Fieberfrost zitternd. Er ging nach Hause, wo er am frühen Morgen anlangte. Nach einigen Stunden Schlafs war das Fieber vorüber; aber er erwachte erst sehr spät: es war zwei Uhr nachmittags.

Es fiel ihm ein, daß auf diesen Tag Katerina Iwanownas Beerdigung angesetzt gewesen war, und er war froh darüber, daß er nicht dabeigewesen war. Nastasja brachte ihm etwas zu essen; er aß und trank mit großem Appetit, ordentlich gierig. Sein Kopf war frischer und er selbst ruhiger als an den drei letzten Tagen. Er wunderte sich sogar einen Augenblick über die früheren Anfälle panischer Furcht. Da öffnete sich die Tür, und Rasumichin trat ein.

»Ah! Du ißt ja, also bist du nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikow gegenüber.

Er war aufgeregt und gab sich keine Mühe, dies zu verbergen. Er redete mit sichtlichem Ärger, aber nicht hastig, und ohne die Stimme besonders zu erheben. Es war unschwer zu erkennen, daß ihn eine besondere Absicht, und zwar ausschließlich eine solche, zu diesem Besuche veranlaßt hatte.

»Höre mal!« begann er entschlossen. »Ich schere mich den Teufel um euch alle; aber nach allem, was ich jetzt sehe, ist mir klar, daß ich von euren Geschichten nichts verstehe. Bitte, glaube ja nicht, daß ich gekommen bin, um dich auszufragen; eure Geheimnisse sind mir ganz gleichgültig! Ich will gar nichts davon wissen! Und wenn du mir jetzt von selbst alles enthüllen wolltest, so würde ich es vielleicht gar nicht einmal anhören, sondern mich einfach umdrehen und weggehen. Ich bin nur hergekommen, um persönlich und zuverlässig festzustellen, ob es wahr ist, daß du verrückt geworden seist. Siehst du, manche Leute sind nämlich überzeugt, daß du entweder wirklich verrückt bist oder wenigstens starke Anlage dazu hast. Ich muß dir gestehen, daß ich selbst sehr geneigt war, dieser Meinung beizupflichten, erstens im Hinblick auf deine törichte und zum Teil schändliche Handlungsweise, die sich auf andre Art nicht erklären läßt, und zweitens wegen deines Benehmens neulich deiner Mutter und deiner Schwester gegenüber. Nur ein Unmensch und Schurke konnte sie so behandeln, wenn es kein Verrückter war; und folglich mußtest du verrückt sein …«

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Ich bin soeben bei ihnen gewesen. Aber du selbst hast sie seit damals gar nicht gesehen? Sag mal, wo treibst du dich eigentlich herum? Ich bin schon dreimal bei dir Geheimnisse den Kopf zu zerbrechen. Ich bin nur hergekommen, um mich mal ordentlich satt zu schimpfen«, schloß er und stand auf, »und um mir eine Herzenserleichterung zu verschaffen; aber ich weiß schon, was ich jetzt zu tun habe!«

»Was willst du denn jetzt tun?«

»Was geht dich das an, was ich jetzt tun will?«

»Paß mal auf, du wirst dich dem Trunke ergeben!«

»Woher … woher weißt du das?«

»Das zu erraten ist gerade kein Kunststück!«

Rasumichin schwieg ein Weilchen.

»Du warst von jeher ein sehr scharfblickender Mensch und bist niemals, niemals verrückt gewesen«, bemerkte er dann plötzlich sehr eifrig. »Du hast ganz recht: ich werde mich dem Trunke ergeben! Leb wohl!«

Er machte eine Bewegung nach der Tür zu.

»Ich habe über dich, es war ja wohl vorgestern, mit meiner Schwester gesprochen, Rasumichin.«

»Über mich! Ja …, wo kannst du sie denn vorgestern zu sehen bekommen haben?« fragte Rasumichin und blieb stehen; er war sogar ein wenig blaß geworden, und man konnte merken, daß sein Herz langsamer und mit Anstrengung klopfte.

»Sie war hierhergekommen, sie allein; sie saß hier und sprach mit mir.«

»Das hat sie getan?«

»Allerdings!«

»Was hast du denn zu ihr gesagt, … ich meine, über mich?«

»Ich habe zu ihr gesagt, daß du ein sehr guter, ehrenhafter, arbeitsamer Mensch seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, weil sie das selbst weiß.«

»Das weiß sie selbst?«

»Natürlich! Wo auch immer ich sein mag, was auch immer mir zustoßen mag, bleibe du bei meiner Mutter und bei meiner Schwester als ihr Beschützer. Ich lege sie sozusagen beide in deine Hände. Ich sage das, weil ich genau weiß, wie sehr du meine Schwester liebst, und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt bin. Ich weiß ferner, daß auch sie dich liebgewinnen kann und sogar vielleicht schon liebt. Nun wähle selbst, was du für das beste hältst, ob du dich dem Trunke ergeben willst oder nicht.«

»Rodja … Ja, siehst du … Nun … Ach, zum Teufel! Aber wohin willst du denn eigentlich gehen? Siehst du: wenn das ein Geheimnis ist, dann sag mir nichts davon! Aber ich … ich werde das Geheimnis schon noch erfahren … Ich bin überzeugt, daß es sich dabei sicher nur um irgendeinen Unsinn, um reine Lappalien handelt und daß du allein die ganze Geschichte eingerührt hast. Im übrigen aber bist du ein vortrefflicher Mensch! Ein ganz vortrefflicher Mensch!«

»Ich wollte eigentlich noch hinzufügen, aber du unterbrachst mich, daß das vorhin eine sehr vernünftige Äußerung von dir war: du hättest gar nicht die Absicht, in diese Geheimnisse einzudringen. Laß das alles vorläufig auf sich beruhen und beunruhige dich nicht darüber. Du wirst alles zu gegebener Zeit erfahren, nämlich so bald, wie es nötig ist. Gestern hat jemand zu mir gesagt, der Mensch brauche Luft, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm gehen und ihn fragen, was er darunter versteht.«

Rasumichin stand aufgeregt und mit seinen Gedanken beschäftigt da; er suchte sich etwas zurechtzulegen.

›Er ist ein politischer Verschwörer! Ganz bestimmt! Und er steht unmittelbar vor einem entscheidenden Schritte, das ist sicher! Es kann nicht anders sein, und … und Dunja weiß davon …‹, dache er bei sich.

»Also zu dir kommt Awdotja Romanowna«, sagte er langsam und nachdrücklich, »und du selbst beabsichtigst, mit jemand zusammenzukommen, der da meint, man brauche mehr Luft, mehr Luft, und … und folglich steht auch dieser Brief damit in irgendwelcher Beziehung«, schloß er, als spräche er mit sich selbst.

»Was für ein Brief?«

»Sie hat heute durch einen Boten einen Brief erhalten, der sie sehr aufgeregt hat. Sehr, gar zu sehr. Ich fing an, von dir zu sprechen; aber sie bat mich zu schweigen. Darauf … darauf sagte sie, wir würden uns vielleicht sehr bald trennen müssen; darauf begann sie, ich weiß nicht wofür, mir in warmen Worten zu danken; dann ging sie in ihr Zimmer und schloß sich ein.«

»Sie hat einen Brief erhalten?« fragte Raskolnikow nachdenklich.

»Jawohl; hast du nichts davon gewußt? Hm! …«

Sie schwiegen beide einen Augenblick.

»Leb wohl, Rodja! Weißt du, Bruder, ich … Eine Zeitlang habe ich … Nun aber, leb wohl; sieh mal, eine Zeitlang … Nun, adieu! Ich muß gehen. Dem Trunke werde ich mich nicht ergeben. Jetzt ist das nicht nötig … Wenn du das denkst, irrst du dich!«

Eilig ging er hinaus; aber als er schon draußen war und beinahe schon die Tür hinter sich zugemacht hatte, öffnete er sie plötzlich noch einmal und sagte, indem er dabei zur Seite blickte:

»Da fällt mir noch ein: du erinnerst dich gewiß an diesen Mord, an das Gespräch mit Porfirij, an die alte Frau? Na also, da wollte ich dir nur sagen, daß der Mörder gefunden ist; er hat die Tat selbst eingestanden und der Behörde alle Beweise gegen sich in die Hand gegeben. Denke dir nur, es ist einer von jenen Malergesellen, du besinnst dich, ich habe sie hier bei dir noch so warm verteidigt. Kannst du es wohl glauben, daß er diese ganze Szene, die Prügelei mit seinem Kameraden und das Gelächter auf der Treppe, als der Hausknecht und die zwei Zeugen hinaufstiegen, absichtlich veranstaltet hat, um den Verdacht von sich abzulenken? Welche Schlauheit, welche Geistesgegenwart bei so einem jungen Bürschchen! Es fällt einem schwer, daran zu glauben; aber er hat selbst alles so dargelegt und selbst alles gestanden! Und wie habe ich mich blamiert! Nun, meiner Ansicht nach ist er eben einfach ein Genie in der Verstellungskunst und Findigkeit, ein Genie in der Kunst, die Behörden hinters Licht zu führen, und somit ist kein Grund vorhanden, besonders erstaunt zu sein! Warum sollen nicht auch solche Genies vorkommen können? Und wenn er nicht imstande gewesen ist, seine Rolle bis zu Ende durchzuhalten, sondern ein Geständnis abgelegt hat, so wird mir seine Aussage dadurch nur noch glaubhafter. Sie erweckt so noch mehr Zutrauen! … Aber wie habe ich mich damals blamiert! Und ich hatte mich so gewaltig für diese Menschen ins Zeug gelegt!«

»Sag doch mal, woher hast du denn das erfahren, und warum interessiert es dich so?« fragte Raskolnikow in sichtlicher Aufregung.

»Na, so was! Warum mich das interessiert, fragt der Mensch! … Erfahren habe ich es von Porfirij, auch von andern. Übrigens fast alles von ihm …«

»Von Porfirij?«

»Gewiß.«

»Was … was hat er denn darüber gesagt?« fragte Raskolnikow ängstlich.

»Er hat mir den Hergang ganz vortrefflich erklärt, … psychologisch, so auf seine Art.«

»Er hat es dir erklärt? Er selbst?«

»Jawohl, er selbst; aber nun adieu! Ein andermal will ich dir mehr davon erzählen; aber jetzt habe ich zu tun. Ja, … eine Zeitlang habe ich gedacht … Na, lassen wir es jetzt; ein andermal! … Warum sollte ich mich jetzt betrinken? Du hast mich auch ohne Schnaps betrunken gemacht. Ganz betrunken bin ich, Rodja! Ohne Schnaps bin ich jetzt betrunken; na, nun adieu; ich komme schon mal wieder her; sehr bald!«

Er ging hinaus.

›Er ist ein politischer Verschwörer, ganz sicher!‹ dachte Rasumichin mit größter Bestimmtheit, während er langsam die Treppe hinabstieg. ›Auch seine Schwester hat er mit hineingezogen; bei Awdotja Romanownas Charakter ist das verständlich, sehr verständlich. Sie haben Zusammenkünfte! … Auch sie selbst hat mir ja Andeutungen darüber gemacht … Aus vielen ihrer Äußerungen, … aus manchem kurz hingeworfenen Worte, … aus ihren Andeutungen läßt sich alles mit Sicherheit entnehmen! Und wie wäre denn auch dieser ganze Wirrwarr anders zu erklären? Hm! Und ich dachte schon … O Gott, wie habe ich nur so etwas denken können! Ja, das war eine Verirrung von mir, und ich habe ihm schweres Unrecht getan! Damals bei der Lampe auf dem Korridor hat er mich zu dieser Verirrung gebracht! Pfui, was war das für ein abscheulicher, roher, gemeiner Gedanke von mir! Sehr brav von diesem Nikolai, daß er es eingestanden hat … Und wie einfach sich jetzt alles Vorhergegangene erklärt! Seine Krankheit von damals, sein ganzes sonderbares Benehmen; und auch früher, als er noch auf der Universität war, wie finster und mürrisch war er da immer! … Aber was hat es jetzt mit diesem Briefe für eine Bewandtnis? Da steckt vielleicht auch so etwas dahinter. Von wem ist dieser Brief? Ich vermute … Hm! Nein, das will ich schon alles herausbekommen.‹

Er dachte an Dunja und kombinierte allerlei über sie; es wurde ihm ganz bang ums Herz. Aber er riß sich von der Stelle, wo er in Gedanken stehengeblieben war, los und stürmte davon.

Sobald Rasumichin fortgegangen war, stand Raskolnikow auf, wandte sich zum Fenster, rannte dann bald gegen die eine, bald gegen die andre Wand an, als hätte er die Enge seines Kämmerchens vergessen, … und setzte sich wieder auf das Sofa. Es war, als sei er ein ganz neuer Mensch geworden; er hatte wieder einen Kampf vor sich, und darin lag die Möglichkeit der Rettung, ein Ausweg!

Ja, da zeigte sich ein Ausweg! Die Ereignisse der letzten Zeit hatten aber auch gar zu schwer auf ihm gelastet, einen qualvollen Druck auf ihn ausgeübt und ihn zu ersticken gedroht; eine Art von Betäubung hatte ihn befallen. Seit der Szene mit Nikolai in Porfirijs Bureau war es ihm gewesen, als ob er nicht mehr Atem holen könne vor Beklemmung. Nach dieser Szene mit Nikolai hatte an demselben Tage die Unterredung mit Sonja stattgefunden; seine Aufgabe hatte er dabei ganz und gar nicht in der Weise durchgeführt und zu Ende gebracht, wie er sich das vorher vorgenommen hatte, … er war dabei eben schwach geworden, plötzlich und vollständig! Mit einem Male! Und er hatte damals Sonja zugestimmt, von ganzem Herzen zugestimmt, daß er mit einer solchen Last auf der Seele so ganz allein nicht weiterleben könne! Und Swidrigailow? Swidrigailow war ein Rätsel … Swidrigailow beunruhigte ihn allerdings, aber doch nach einer andern Richtung hin. Auch mit Swidrigailow stand ihm vielleicht ein Kampf bevor. Mit Swidrigailow konnte er vielleicht zurechtkommen, aber Porfirij, das war eine andre Sache.

Also Porfirij hatte diesem Rasumichin selbst den Hergang erklärt, psychologisch erklärt! Er hatte wieder seine verfluchte Psychologie ins Treffen geführt! Porfirij hatte das getan? Sollte denn Porfirij auch nur einen Augenblick lang an Nikolais Schuld geglaubt haben, nach dem Gespräche, das sie miteinander geführt hatten, nach jener Szene, die sich vor Nikolais Eintritt zwischen ihnen beiden abgespielt hatte und für die es keine andre ausreichende Erklärung gab außer einer einzigen? (Raskolnikow hatte sich in diesen Tagen mitunter einzelne Bruchstücke der Szene mit Porfirij flüchtig durch den Kopf gehen lassen; die vollständige Erinnerung an den gesamten Vorgang hätte er nicht ertragen können.) Es waren bei diesem Gespräche von ihnen beiden solche Ausdrücke gebraucht worden, es waren solche Bewegungen und Gesten vorgekommen, sie hatten solche Blicke miteinander gewechselt, manches in einem solchen Tone gesprochen, die Sache hatte sich derartig zugespitzt, daß nach alledem dieser Nikolai, welchen Porfirij gleich beim ersten Worte und bei der ersten theatralischen Bewegung richtig beurteilt hatte, das eigentliche Fundament seiner Überzeugung nicht hatte erschüttern können.

Beachtenswert war doch auch, daß sogar Rasumichin bereits Verdacht geschöpft hatte! Die Szene auf dem Korridor bei der Lampe mußte doch stark auf ihn gewirkt haben. Er war inzwischen zu Porfirij hingelaufen … Aber zu welchem Zwecke hatte ihn dieser hinters Licht geführt? In welcher Absicht hatte er Rasumichin dazu veranlaßt, Nikolai für den Täter zu halten? Ganz sicher hatte er dabei etwas vor; er verfolgte einen bestimmten Plan; aber welchen? Seit jenem Vormittag war allerdings schon geraume Zeit vergangen, sehr viel Zeit, und von Porfirij war nichts zu hören und zu sehen gewesen. Das war natürlich ein besonders schlimmes Zeichen … Raskolnikow griff nach seiner Mütze und ging, mit seinen Gedanken beschäftigt, zur Tür. Es war während dieser ganzen Zeit der erste Tag, wo er sich wenigstens bei klarem Bewußtsein fühlte. ›Ich muß die Angelegenheit mit Swidrigailow ins reine bringen‹, dachte er, ›und zwar so schnell wie möglich, um jeden Preis; auch der scheint darauf zu warten, daß ich selbst zu ihm komme.‹ In diesem Augenblick flammte in seinem müden Herzen plötzlich ein solcher Haß auf, daß er wohl fähig gewesen wäre, einen von diesen beiden, Swidrigailow oder Porfirij, ohne weiteres zu ermorden. Er hatte wenigstens die Empfindung, daß er, wenn nicht jetzt, so doch später imstande sein werde, dies zu tun. »Wir wollen sehen, wir wollen sehen!« sagte er vor sich hin.

Aber in dem Moment, als er die Tür nach dem Flur öffnete, stieß er mit Porfirij selbst zusammen. Dieser trat zu ihm ins Zimmer. Raskolnikow war einen Augenblick ganz starr, aber eben auch nur einen Augenblick. Merkwürdig: er war über Porfirijs Erscheinen nicht sonderlich erstaunt und fast gar nicht erschrocken. Er war nur zusammengezuckt, hatte sich aber schnell, augenblicklich wieder gefaßt. ›Vielleicht kommt nun die Lösung! Aber wie hat er es nur angestellt, daß er so leise hergekommen ist wie eine Katze und ich gar nichts davon gehört habe? Ob er am Ende gar an der Tür gehorcht hat?‹

»Sie haben meinen Besuch gewiß nicht erwartet, Rodion Romanowitsch!« rief Porfirij Petrowitsch lachend. »Ich hatte schon lange vor, einmal bei Ihnen vorzusprechen; nun kam ich jetzt gerade vorbei und dachte: warum soll ich nicht auf ein paar Minuten hinaufgehen und sehen, was er macht? Wollten Sie ausgehen? Ich will Sie nicht lange aufhalten. Nur auf eine Zigarette, wenn Sie gestatten.«

»Bitte, nehmen Sie Platz, Porfirij Petrowitsch, bitte, nehmen Sie Platz!« lud ihn Raskolnikow ein, und sein Gesicht zeigte dabei einen so erfreuten, freundschaftlichen Ausdruck, daß er sich selbst gewundert haben würde, wenn er sich hätte sehen können.

Er hatte den letzten Rest seiner seelischen Kraft zusammengesucht. So steht ein Mensch manchmal eine halbe Stunde lang Todesangst vor einem Räuber aus; wenn ihm aber dann wirklich das Messer an die Kehle gesetzt wird, ist die Angst verschwunden. Er setzte sich seinem Besucher gerade gegenüber und blickte ihn an, ohne mit den Wimpern zu zucken. Porfirij kniff die Augen zusammen und steckte sich eine Zigarette an.

›Nun sprich, sprich!‹ rief es in Raskolnikows Innerem. ›Vorwärts, vorwärts! Warum sprichst du nicht?‹

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Kapitel 33

II

»Ja, ja, diese Zigaretten!« begann Porfirij Petrowitsch endlich, als die Zigarette brannte und er wieder Atem geschöpft hatte. »Es ist für mich verderblich, geradezu verderblich, aber ich kann’s nicht lassen! Ich muß danach husten und bekomme Kratzen im Halse und Atembeschwerden. Wissen Sie, ich bin ängstlich, ich ging neulich zu Doktor B…n; der untersucht jeden Patienten mindestens eine halbe Stunde lang. Als er mich ansah, lachte er; dann beklopfte und behorchte er mich und sagte unter anderm: ›Das Tabakrauchen ist Ihnen nicht zuträglich; Ihre Lungen sind erweitert.‹ Aber wie soll ich das Rauchen unterlassen? Wie soll ich einen Ersatz dafür finden? Ich trinke nicht, das ist das ganze Malheur, he-he-he; ja, es ist ein Malheur, daß ich nicht trinke! So hat alles sein Gutes und sein Schlimmes, Rodion Romanowitsch, sein Gutes und sein Schlimmes!«

›Warum greift er denn wieder zu einem ähnlichen Gesprächsstoff wie neulich?‹ dachte Raskolnikow mit Widerwillen. Der ganze Hergang bei ihrem letzten Zusammensein kam ihm auf einmal ins Gedächtnis, und dasselbe Gefühl, das er damals gehabt hatte, flutete wie eine Welle durch sein Herz.

»Ich bin schon vorgestern abend einmal hier bei Ihnen gewesen; Sie wissen wohl nichts davon?« fuhr Porfirij Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um. »In diesem Zimmer hier war ich. Ich kam, ebenso wie heute, am Hause vorbei und dachte: will ihm doch einen Gegenbesuch machen. Ich ging hinauf, das Zimmer stand weit offen; ich sah mich um, wartete ein Weilchen und ging wieder weg; ich habe mich nicht einmal bei Ihrem Dienstmädchen gemeldet. Sie schließen Ihr Zimmer nicht zu?«

Raskolnikows Gesicht wurde immer finsterer. Porfirij schien seine Gedanken zu erraten.

»Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen, bester Rodion Romanowitsch, um mich mit Ihnen auszusprechen! Das empfinde ich als meine Pflicht und Schuldigkeit Ihnen gegenüber«, fuhr er lächelnd fort und klopfte sogar Raskolnikow mit der Hand leicht auf das Knie.

Aber fast in demselben Augenblicke nahm sein Gesicht plötzlich eine ernste, sorgenvolle Miene an; ja, zu Raskolnikows Verwunderung breitete sich sogar ein Ausdruck von Traurigkeit darüber aus. Er hatte ein solches Gesicht noch nie bei ihm gesehen und ihn dessen auch gar nicht für fähig gehalten.

»Es hat sich das letzte Mal eine eigentümliche Szene zwischen uns beiden abgespielt, Rodion Romanowitsch. Eigentlich auch wohl schon bei unserer ersten Begegnung: aber damals … Na, wir wollen es jetzt zusammenfassen! Nun also: ich habe mich Ihnen gegenüber vielleicht sehr ungehörig benommen; das fühle ich. Erinnern Sie sich wohl noch: als wir uns trennten, da waren Ihre Nerven heftig erregt, und Ihre Knie zitterten, und meine Nerven waren auch heftig erregt, und meine Knie zitterten. Und wissen Sie, wir benahmen uns damals gegeneinander eigentlich nicht mehr in geziemender Form, nicht gentlemanlike. Wir sind ja aber doch gentlemen, das heißt, unter allen Umständen und in erster Linie gentlemen; das müssen wir immer festhalten; Sie erinnern sich wohl, wie weit es damals zwischen uns kam, … es war schon geradezu unziemlich.«

›Was will er denn eigentlich, und wofür hält er mich?‹ fragte sich Raskolnikow erstaunt; er hob den Kopf und blickte seinem Besucher voll ins Gesicht.

»Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es für uns jetzt das beste ist, wenn wir ganz offenherzig miteinander verhandeln«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort; er drehte dabei den Kopf ein wenig zur Seite und schlug die Augen nieder, als wünsche er nicht mehr, sein ehemaliges Opfer durch seinen Blick in Verwirrung zu versetzen, und als verschmähe er seine früheren Kunstgriffe und Listen. »Ja, solche Verdächtigungen und solche Szenen darf man nicht zu lange dauern lassen. Damals hat uns Nikolai noch auseinandergebracht; sonst weiß ich nicht, wie weit die Sache zwischen uns noch gegangen wäre. Dieser verdammte Kleinbürger saß damals bei mir während unseres ganzen Gesprächs hinter der Zwischenwand – können Sie sich das vorstellen? Das ist Ihnen gewiß bereits bekannt; auch weiß ich selbst, daß er nachher bei Ihnen gewesen ist. Aber was Sie damals vermuteten, traf nicht zu: ich hatte nach niemandem geschickt und damals noch keinerlei Anordnungen getroffen. Sie werden mich fragen, warum ich das unterlassen hatte. Ja, was soll ich Ihnen darauf antworten? Mir selbst war die ganze Geschichte damals gar zu plötzlich gekommen. Ich hatte eben erst hingeschickt und die Hausknechte holen lassen. Sie haben die Hausknechte gewiß im Vorbeigehen bemerkt. Damals fuhr mir blitzschnell ein Gedanke durch den Kopf; sehen Sie wohl, Rodion Romanowitsch, ich war damals ganz fest überzeugt. Na, dachte ich, wenn ich auch andre Maßnahmen vorläufig unterlasse, so will ich doch ein Mittel zur Anwendung bringen; dann habe ich wenigstens das Meinige getan. Sie sind außerordentlich reizbar, Rodion Romanowitsch, offenbar von Natur, sogar übermäßig reizbar, neben allen andern Grundzügen Ihres Charakters und Herzens, die ich mir, wenigstens teilweise, richtig erkannt zu haben schmeichle. Na, natürlich sagte ich mir, sogar in jenem Augenblicke: immer glückt das nicht, daß ein Mensch so einfach aufsteht und einem sein ganzes Geheimnis ausplaudert. Vorkommen tut das ja freilich, namentlich, wenn man einen völlig aus der Fassung bringt; aber es ist doch immerhin ein seltner Fall. Das konnte ich mir selbst sagen. Aber ich dachte: wenn ich nur eine kleine Handhabe dabei gewinne! Und wenn es auch nur eine ganz kleinwinzige ist, nur eine einzige, aber so eine, daß man wirklich zufassen kann, etwas Konkretes, und nicht diese bloßen psychologischen Gründe. Denn, dachte ich, wenn jemand schuldig ist, so kann man doch gewiß erwarten, jedenfalls etwas Tatsächliches von ihm herauszubekommen; man darf sogar auf ein ganz unerwartetes Resultat spekulieren. Ich gründete damals meine Spekulation auf Ihren Charakter, Rodion Romanowitsch, ganz besonders auf Ihren Charakter! Darauf setzte ich damals meine größte Hoffnung.«

»Ja, wozu … wozu sagen Sie mir denn das alles jetzt?« murmelte Raskolnikow endlich, ohne sich von seiner eigenen Frage ordentlich Rechenschaft zu geben.

›Was will er nur mit diesen Reden?‹ fragte er sich ratlos. ›Hält er mich wirklich für unschuldig?‹

»Wozu ich Ihnen das sage? Ich bin ja hergekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen; das halte ich sozusagen für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles ganz genau erzählen, wie alles gewesen ist, den ganzen Hergang meiner damaligen Verblendung, um mich so auszudrücken. Ich habe Sie schwer leiden lassen, Rodion Romanowitsch; aber ich bin kein Unmensch. Ich begreife völlig, wie entsetzlich es einem vom Schicksal niedergedrückten, aber stolzen, selbstbewußten, ungeduldigen Menschen, ja, ganz besonders einem ungeduldigen Menschen, sein muß, das alles über sich ergehen zu lassen! Ich halte Sie jedenfalls für einen durchaus vornehm denkenden Menschen, sogar mit Anlage zur Hochherzigkeit, obgleich ich nicht mit allen Ihren Anschauungen übereinstimme, was ich mich für verpflichtet halte, Ihnen von vornherein geradezu und mit vollständiger Aufrichtigkeit zu erklären; denn es liegt mir völlig fern, Sie täuschen zu wollen. Sobald ich Sie kennengelernt hatte, fühlte ich mich zu Ihnen hingezogen. Sie lachen vielleicht über das, was ich da sage? Dazu sind Sie berechtigt. Ich weiß, daß ich Ihnen gleich vom ersten Blicke an zuwider war; denn ich bin ja auch wirklich nicht dazu angetan, daß mich jemand gern haben sollte. Aber urteilen Sie über mich, wie Sie wollen; jetzt jedenfalls wünsche ich meinerseits, mit allen Mitteln den übeln Eindruck, den ich hervorgebracht habe, wiedergutzumachen und zu beweisen, daß auch ich ein Mensch bin, der ein Herz und ein Gewissen hat. Ich rede ganz aufrichtig.«

Porfirij Petrowitsch machte würdevoll eine Pause. Raskolnikow fühlte, wie eine neue Schreckempfindung ihn überkam. Der Gedanke, daß Porfirij ihn für unschuldig halte, hatte auf einmal für ihn etwas Beängstigendes.

»Alles der Reihe nach zu erzählen, wie die Geschichte damals plötzlich anfing«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, »ist wohl kaum nötig, ich meine sogar, völlig überflüssig. Ich Frage an ihn zu richten wagten! … Nun, und dieses Frostgefühl im Rückenmark? Und das Ziehen an der Türklingel im Zustande der Krankheit, des halben Fieberwahns? Also wie können Sie sich nach alledem darüber wundern, Rodion Romanowitsch, daß ich mit Ihnen damals solche Späßchen machte? Und warum mußten Sie auch gerade in jenem Augenblicke zu mir kommen? Wahrhaftig, ganz als ob Sie jemand zu mir hingetrieben hätte; und wenn uns nicht Nikolai noch auseinandergebracht hätte, so … Erinnern Sie sich noch an die Geschichte mit Nikolai damals? Haben Sie das noch gut im Gedächtnis? Das war ja ein Blitzstrahl, ein Donnerschlag, der auf uns niederprasselte! Na, und wie stellte ich mich dazu? Ich habe diesem Blitz und Donner nicht im geringsten Glauben geschenkt; das haben Sie ja selbst gesehen! Ja, noch mehr! Nachher, als Sie weggegangen waren und er mir über manche Punkte auf meine Fragen durchaus passende Auskunft gab, so daß ich selbst erstaunt war, auch da habe ich ihm absolut nichts geglaubt! Sehen Sie, so fest war meine Überzeugung, wie Stahl und Eisen. ›Nein‹, dachte ich, ›daraus wird nichts! Dagegen kann dieser Nikolai nichts ausrichten!‹«

»Aber Rasumichin hat mir doch eben erst mitgeteilt, Sie hielten auch jetzt noch Nikolai für schuldig, und Sie selbst hätten auch ihn, Rasumichin, davon überzeugt, daß …«

Der Atem versagte ihm, so daß er den Satz nicht zu Ende sprechen konnte. Er hörte in unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn völlig durchschaut hatte, seine eigene Erkenntnis verleugnete. Er fürchtete sich, dies zu glauben, und glaubte es nicht. In den immer noch zweideutigen Worten Porfirijs suchte und haschte er mit ängstlichem Eifer nach etwas Deutlicherem. Bestimmterem.

»Herr Rasumichin!« rief Porfirij Petrowitsch in einem Tone, als wäre er höchst erfreut über Raskolnikows Frage, nachdem dieser die ganze Zeit geschwiegen hatte. »He-he-he! Ja, Herrn Rasumichin mußte ich von uns fernhalten, nach dem Sprichwort: was zu zweien Vergnügen macht, da genug an der Qual, die er ausgestanden hatte, als er hinter der Tür versteckt stand und an der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde – nein, er geht nachher im halben Fieberwahn in die nun leere Wohnung, um sich dieses Läuten der Klingel ins Gedächtnis zurückzurufen; er hat ein Verlangen danach, das Kältegefühl im Rücken noch einmal zu verspüren … Nun ja, er hat das allerdings in einem krankhaften Zustande getan; aber noch eines ist besonders merkwürdig: er hat einen Mord begangen, hält sich aber trotzdem für einen ehrenhaften Menschen, verachtet andre Leute, wandelt wie ein Engel der Unschuld einher … nein, Nikolai kann als Täter gar nicht in Betracht kommen, liebster Rodion Romanowitsch, Nikolai unter keinen Umständen!«

Nach allem, was Porfirij im ersten Teile des Gesprächs gesagt hatte und was wie eine Abbitte des Verdachtes geklungen hatte, kamen diese letzten Worte Raskolnikow gar zu überraschend. Er zitterte am ganzen Körper, als ob er einen Dolchstich erhalten hätte.

»Wer … hat denn also … den Mord begangen?« fragte er mit fast versagender Stimme. Aber es war ihm unmöglich, die Frage zurückzuhalten.

Porfirij Petrowitsch warf sich an die Stuhllehne zurück, als ob diese Frage ihm ganz unerwartet gekommen wäre und ihn in das äußerste Erstaunen versetzt hätte.

»Und Sie fragen noch, wer den Mord begangen hat?« erwiderte er, als traue er seinen Ohren nicht. »Sie selbst haben den Mord begangen, Rodion Romanowitsch!« fügte er fast flüsternd, aber im Tone festester Überzeugung hinzu.

Raskolnikow sprang vom Sofa auf, blieb einige Sekunden stehen und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder hin. Leise krampfhafte Zuckungen liefen über sein ganzes Gesicht.

»Die Lippe bebt Ihnen wieder wie damals«, murmelte Porfirij Petrowitsch, und es klang sogar teilnahmsvoll. »Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden, Rodion Romanowitsch«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »daher sind Sie auch so betroffen. Ich bin ja gerade in der Absicht hergekommen, alles frei heraus zu sagen und das Spiel mit aufgedeckten Karten fortzusetzen.«

»Ich habe den Mord nicht begangen«, flüsterte Raskolnikow, ganz wie es erschrockene kleine Kinder zu machen pflegen, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden.

»Doch, doch, Sie sind es gewesen, Rodion Romanowitsch, Sie und kein andrer«, flüsterte Porfirij streng und überzeugt. Dann schwiegen beide, und dieses Schweigen dauerte sonderbar lange, wohl zehn Minuten. Raskolnikow hatte sich mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt und wühlte schweigend mit den Fingern in seinen Haaren. Porfirij saß still da und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikow ihn verächtlich an.

»Sie verfahren wieder nach Ihrer alten Methode, Porfirij Petrowitsch! Immer dieselben Kniffe! Wunderlich, daß Sie dessen nicht selbst überdrüssig werden!«

»Ach, reden Sie doch nicht! Was könnten mir denn jetzt meine Kniffe helfen? Ein ander Ding wäre es, wenn Zeugen bei unserem Gespräche zugegen wären; aber wir reden ja doch unter vier Augen. Sie sehen selbst: ich bin nicht in der Absicht zu Ihnen hergekommen, Sie zu hetzen und zu fangen wie einen Hasen. Ob Sie bekennen oder nicht, ist mir in diesem Augenblicke ganz gleich. Ich für meine Person bin auch ohne Ihr Geständnis überzeugt.«

»Wenn dem so ist, warum sind Sie dann hergekommen?« fragte Raskolnikow gereizt. »Ich richte an Sie dieselbe Frage wie schon früher: Wenn Sie mich für schuldig halten, warum setzen Sie mich nicht ins Gefängnis?«

»Na, das ist eine Frage, die sich hören läßt! Und so will ich sie Ihnen beantworten, indem ich Punkt für Punkt meine Gründe angebe. Erstens: Sie so geradezu ins Gefängnis zu setzen, ist für mich nicht vorteilhaft.«

»Was meinen Sie damit: nicht vorteilhaft? Wenn Sie von meiner Schuld überzeugt sind, dann sind Sie doch verpflichtet …«

»Ach, was hat denn meine Überzeugung zu besagen? Das sind ja doch vorläufig alles nur so Phantasien von mir. Ja, und warum soll ich Sie denn an einen Ort bringen, wo Sie Ruhe haben würden? Wie vorteilhaft das für Sie wäre, wissen Sie offenbar selbst, da Sie ja selbst darum ersuchen. Ich bringe zum Beispiel, um Sie zu überführen, den Kleinbürger hin; aber Sie werden zu ihm sagen: ›Bist du ein Trinker oder nicht? Wer hat mich mit dir zusammen gesehen? Ich hielt dich einfach für betrunken, und du warst auch wirklich betrunken‹ – nun, was könnte ich daraufhin zu Ihnen sagen, namentlich auch, da Ihre Behauptung wahrscheinlicher klingt als die seinige; denn die seinige beruht nur auf einer psychologischen Kombination (und wie paßt so etwas zu seiner dummen Visage), Sie aber treffen ins Schwarze, da der Halunke notorisch ein wüster Säufer ist. Und ich selbst habe Ihnen schon mehrmals offenherzig gestanden, daß diese psychologischen Erwägungen ihre zwei Seiten haben und daß die zweite Seite prävaliert und weit glaublicher erscheint und daß ich im übrigen gegen Sie vorläufig noch gar keine Beweise vorbringen kann. Ich werde Sie nun zwar trotzdem ins Gefängnis setzen, und ich bin (was allerdings ein ungewöhnliches Verfahren ist) sogar selbst zu dem Zwecke hergekommen, Ihnen das alles im voraus anzukündigen; aber ich sage Ihnen geradezu (was wiederum ungewöhnlich ist), daß das für mich nicht vorteilhaft sein wird. Nun weiter, zweitens bin ich zu Ihnen gekommen, weil …«

»Nun also, zweitens?« Raskolnikow atmete noch immer nur mühsam und keuchend.

»Weil, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, ich mich für verpflichtet halte, mich Ihnen gegenüber offen auszusprechen. Ich möchte nicht, daß Sie mich für einen Unmenschen halten, und ich möchte das um so weniger, da ich Ihnen aufrichtig zugetan bin, mögen Sie es mir nun glauben oder nicht. Infolgedessen bin ich drittens zu Ihnen gekommen mit einem offenen, ehrlichen Vorschlage: sich selbst anzuzeigen. Das wird für Sie bei weitem das vorteilhafteste sein, und es ist auch zugleich das vorteilhafteste für mich; denn dann bin ich diese Geschichte los. Nun, was meinen Sie, ist das von mir nicht offenherzig?«

Raskolnikow überlegte eine kurze Weile.

»Hören Sie, Porfirij Petrowitsch, Sie sagten doch selbst, es sei alles nur Psychologie, und nun tun Sie, als wüßten Sie alles mit mathematischer Sicherheit. Wie aber, wenn Sie sich jetzt doch irren?«

»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe so eine kleine Handhabe. Diese kleine Handhabe habe ich damals gefunden; die hat mir Gott gesandt!«

»Was für eine Handhabe?«

»Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. Aber jedenfalls bin ich jetzt nicht mehr berechtigt, Ihre Verhaftung länger hinauszuschieben; ich werde Sie ins Gefängnis setzen. Also überlegen Sie sich das, ob Sie ein Geständnis ablegen wollen. Mir ist es jetzt, für den Augenblick, ganz gleich; Sie sehen somit, daß ich es einzig und allein um Ihretwillen wünsche. Weiß Gott, es ist das beste, Rodion Romanowitsch!«

Raskolnikow lächelte höhnisch.

»Ihre Zumutung ist nicht nur lächerlich, sondern geradezu unverschämt. Nun, gesetzt, ich wäre schuldig (was ich in keiner Weise zugebe), was hätte ich denn dann für Veranlassung, mit einem Geständnisse zu Ihnen zu kommen, da Sie doch selbst erklären, Sie würden mich ohnehin bald an einen Ort bringen, wo ich Ruhe haben würde?«

»Ach, Rodion Romanowitsch, verlassen Sie sich auf das, was ich darüber gesagt habe, nicht allzusehr; einer vollständigen Ruhe werden Sie sich da wohl nicht erfreuen! Das ist ja alles nur Theorie, und noch dazu bloß meine Theorie, und ich kann doch für einen Mann wie Sie keine Autorität sein! Vielleicht verheimliche ich Ihnen auch selbst jetzt noch dies und das. Ich kann Ihnen doch auch nicht gleich alles so ohne weiteres aufdecken, he-he! Und zweitens: wie können Sie erst noch fragen, was Sie von einem Geständnis für Vorteil haben würden? Sie wissen ja doch, welche Strafermäßigung Ihnen dafür zuteil werden wird? Denn wann, zu welchem Zeitpunkte kommen Sie mit Ihrer Selbstanzeige? Überlegen Sie sich das nur! In einem Augenblicke, wo bereits ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze Sache heillos verwirrt hat. Und ich werde (das schwöre ich Ihnen!) es vor Gericht so darstellen und einrichten, daß Ihr Geständnis als ein vollständig unerwartetes, freiwilliges erscheint. Alles, was ich an psychologischen Erwägungen vorgebracht habe, soll so gut wie ungesagt sein; allen aus solchem Grunde gegen Sie geäußerten Verdacht annulliere ich, so daß sich Ihr Verbrechen als eine Art Geistesverwirrung darstellen wird; denn, die Wahrheit zu sagen, eine Geistesverwirrung ist es auch wirklich gewesen. Ich bin ein Ehrenmann, Rodion Romanowitsch, und halte, was ich verspreche.«

Raskolnikow schwieg düster und ließ den Kopf sinken; lange überlegte er, und endlich lächelte er wieder; aber es war jetzt ein sanftes, trauriges Lächeln.

»Ach was, es liegt mir nichts daran!« sagte er, als hätte er Porfirij gegenüber auf alle Verstellung verzichtet. »Es ist nicht der Mühe wert; es liegt mir gar nichts an Ihrer Strafermäßigung!«

»Na ja, das war’s ja gerade, was ich fürchtete!« rief Porfirij erregt; der Ausruf entschlüpfte ihm, wie es schien, ganz unwillkürlich. »Gerade das habe ich gefürchtet, daß Ihnen an unserer Strafermäßigung nichts liegen würde.«

Raskolnikow sah ihn mit traurigem, fragendem Blicke an.

»Ei, ei, mißachten Sie das Leben nicht!« fuhr Porfirij fort. »Sie haben noch ein gutes Stück davon vor sich. Wie können Sie nur sagen, daß Ihnen an einer Strafermäßigung nichts liege! Sie sind ein ungeduldiger Mensch!«

»Was kann mir die Zukunft noch bringen?«

»Ein gutes Stück Leben! Sie sind doch kein Prophet; was wissen Sie denn von der Zukunft? Suchet, so werdet ihr finden! Vielleicht hat Gott gerade an dieser Stelle Ihres Lebensweges auf Sie gewartet. Und Sie würden doch auch die Fesseln nicht lebenslänglich tragen …«

»Ach so, wegen der Strafermäßigung …«, warf Raskolnikow lachend dazwischen.

»Fürchten Sie sich etwa vor der Schande in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft? Kann leicht sein, daß Sie sich davor fürchten, ohne es eigentlich selbst zu wissen; denn Sie sind eben noch jung! Aber dennoch sollte ein Mann wie Sie sich nicht davor fürchten und sich einer Selbstanzeige nicht schämen.«

»Ekelhaft!« flüsterte Raskolnikow verächtlich und widerwillig, als möchte er am liebsten das Gespräch abbrechen.

Er stand wieder auf, als wollte er fortgehen, setzte sich aber in sichtlicher Verzweiflung wieder hin.

»Das ist es eben, ›ekelhaft‹! Sie haben allen Glauben und alles Zutrauen verloren und meinen wohl gar, daß ich Ihnen in plumper Weise schmeichle. Aber wie lange haben Sie denn schon gelebt, und wieviel verstehen Sie vom Leben? Da haben Sie sich nun eine Theorie ersonnen und schämen sich jetzt, daß die Sache schiefgegangen ist und ganz und gar keinen originellen, großartigen Ausgang gehabt hat! Der Ausgang war vielmehr ein recht gemeiner, das ist wahr; aber Sie sind trotzdem nicht ein Schurke, an dem man verzweifeln müßte! Durchaus nicht! Wenigstens haben Sie zu Ihrem Selbstbetruge nicht lange Zeit gebraucht, sondern sind schnell bis zum äußersten gegangen. Wofür ich Sie halte? Ich halte Sie für einen von jenen Menschen, die, selbst wenn man ihnen die Eingeweide aus dem Leibe reißt, ruhig dastehen und lächelnd ihre Peiniger anblicken – wenn sie nur so Gott finden. Nun, finden Sie Gott, und Sie werden leben. Sie haben zunächst schon lange eine Luftveränderung nötig. Seien Sie versichert, auch das Leid ist ein gut Ding. Leiden Sie! Nikolai hat vielleicht ganz recht, daß er nach dem Leide trachtet. Ich weiß, daß es nicht jedermanns Sache ist, das zu glauben; aber lassen Sie sich nicht auf allzu schlaue philosophische Grübeleien ein; überlassen Sie sich einfach ohne viel Kopfzerbrechen dem Leben; seien Sie ohne Sorge: das Leben wird Sie schon ans Ufer tragen und wieder auf die Beine stellen. An was für ein Ufer? Das kann ich nicht wissen. Ich bin nur der festen Überzeugung, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich weiß, daß Sie meine Worte jetzt als eine auswendig gelernte Predigt auffassen; aber vielleicht werden Sie sich meiner Worte in späterer Zeit erinnern, und sie werden Ihnen noch einmal von Nutzen sein; eben darum spreche ich zu Ihnen. Es ist nur gut, daß Sie bloß ein armseliges altes Weib ermordet haben. Hätten Sie sich eine andere Theorie ausgedacht, so hätten Sie am Ende gar eine unendlich viel greulichere Tat begangen! Dafür müssen Sie vielleicht Gott noch dankbar sein; Sie können es ja nicht wissen: vielleicht spart Sie Gott noch zu einem guten Zwecke auf. Beweisen Sie eine hohe Gesinnung; bekämpfen Sie alle Furcht. Ist Ihnen bange vor der Größe der Ihnen bevorstehenden Strafe? Nein, dieser Bangigkeit muß man sich schämen. Da Sie einmal einen solchen Schritt getan haben, so nehmen Sie nun auch Ihre Kraft zusammen! Darin besteht die Gerechtigkeit. Erfüllen Sie, was die Gerechtigkeit verlangt! Ich weiß, daß Sie mir das jetzt nicht glauben; aber das Leben wird Sie einst wieder ans Ufer tragen. Und Sie selbst werden sich später wieder des Lebens freuen. Sie haben jetzt nur Luft nötig, Luft, Luft!«

Raskolnikow schrak ordentlich zusammen.

»Ja, wer sind Sie denn eigentlich?« rief er. »Sind Sie vielleicht ein Prophet, daß Sie mir von der Höhe Ihrer majestätischen Ruhe herab solche weisen Prophezeiungen erteilen?«

»Wer ich bin? Ich bin ein Mensch, der bereits über seinen Höhepunkt hinaus ist, weiter nichts. Ein Mensch, der vielleicht Gefühl und Mitgefühl besitzt, der vielleicht auch dies und das weiß, bei dem aber von einer weiteren Entwicklung nicht mehr die Rede sein kann. Aber mit Ihnen ist das etwas ganz anderes; Ihnen hat Gott noch die Möglichkeit eines ersprießlichen Lebens vorbehalten (freilich, wer weiß, vielleicht vergeht auch Ihr Leben wie ein bloßer Rauch, von dem nichts übrigbleibt). Nun, was ist denn dabei, daß Sie in die andre Menschenklasse übergehen? Sie werden sich doch nicht um den Komfort grämen, Sie mit Ihrem Herzen? Was ist denn dabei, daß vielleicht lange Zeit niemand Sie sehen wird? Nicht um die Zeit handelt es sich, sondern um Sie selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß sich vor allen Dingen als Sonne erweisen, muß leuchten und wärmen. Warum lächeln Sie wieder? Weil ich so poetisch werde, so in der Art Schillers? Und ich möchte wetten, Sie glauben, daß ich mich jetzt bei Ihnen einzuschmeicheln versuche! Na, vielleicht versuche ich das wirklich, he-he-he! Ich habe nichts dagegen, wenn Sie meinen Worten nicht glauben, Rodion Romanowitsch; glauben Sie mir meinetwegen überhaupt niemals völlig; ich habe nun schon einmal so eine verdächtige Art zu reden an mir, das gebe ich zu. Nur eines möchte ich noch hinzufügen: inwieweit ich ein gemeiner oder ein ehrenhafter Mensch bin, das werden Sie ja wohl selbst beurteilen können.«

»Wann beabsichtigen Sie, mich festnehmen zu lassen?«

»Na, so anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch spazierengehen lassen. Überlegen Sie sich die Sache, mein Bester, und wenden Sie sich im Gebete an Gott. Es ist wirklich vorteilhafter, weiß Gott, wirklich vorteilhafter.«

»Aber wenn ich nun davonlaufe?« fragte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Lächeln.

»Nein, Sie laufen nicht davon. Ein Bäuerlein läuft davon, ein moderner Sektierer läuft davon, überhaupt Leute, die fremde Gedanken nachbeten und lebenslänglich glauben, was ihnen einmal vorgesprochen wurde. Sie aber glauben ja nicht mehr an Ihre Theorie; warum sollten Sie also davonlaufen? Und was hätten Sie denn auch von dem Dasein als Flüchtiger? Das Dasein eines Flüchtlings ist häßlich und mühevoll; Sie aber brauchen vor allen Dingen wirkliches Leben und eine fest bestimmte Stellung und geeignete Luft; na, und was würden Sie denn als Flüchtling für eine Luft atmen! Wenn Sie davonlaufen, so werden Sie von selbst wieder zurückkommen. Sie können uns nicht entbehren, Sie brauchen uns notwendig. Aber wenn ich Sie hinter Schloß und Riegel setze – na, dann werden Sie einen Monat oder, sagen wir, auch zwei Monate, drei Monate sitzen, und dann auf einmal (denken Sie an mein Wort!) werden Sie ganz von selbst zu mir kommen; vielleicht wird der Entschluß dazu sogar Ihnen selbst überraschend sein. Noch eine Stunde vorher werden Sie es selbst nicht wissen, daß Sie zu mir gehen und ein Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie schließlich selbst wünschen werden, ›das Leid auf sich zu nehmen‹. Jetzt glauben Sie meinen Worten nicht; aber Sie werden schon selbst zu dieser Ansicht gelangen. Denn das Leid, Rodion Romanowitsch, ist etwas Großes und Heiliges. Stoßen Sie sich nicht daran, daß ich so korpulent geworden bin; das hat damit nichts zu tun; darum kann ich doch damit Bescheid wissen. Lachen Sie nicht darüber: im Leide liegt ein erhabenes Lebensprinzip. Nikolai hat ganz recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«

Raskolnikow stand auf und griff nach seiner Mütze. Porfirij Petrowitsch erhob sich gleichfalls.

»Sie wollen einen Spaziergang machen? Es wird ein schöner Abend werden, wenn nur nicht ein Gewitter kommt. Übrigens wäre das sogar ganz gut; die Luft würde dann frischer werden.«

Er nahm gleichfalls seine Mütze.

»Bitte, bilden Sie sich nur ja nicht ein, Porfirij Petrowitsch«, sagte Raskolnikow finster, in bestimmtem, festem Tone, »daß ich Ihnen jetzt ein Geständnis abgelegt hätte. Sie sind ein merkwürdiger Mensch, und ich habe Ihnen nur aus Neugier zugehört. Gestanden habe ich Ihnen aber nichts … Wollen Sie das nicht vergessen.«

»Schön, schön, weiß schon, ich werde es nicht vergessen – aber Sie zittern ja so! Seien Sie unbesorgt, mein Bester; alles ganz nach Ihrem Wunsche! Machen Sie einen kleinen Spaziergang; allzuviel werden Sie ja nicht mehr gehen können. Für alle Fälle habe ich an Sie noch eine kleine Bitte«, fügte er leiser hinzu. »Die Sache ist ein bißchen peinlich, aber von großer Wichtigkeit: Wenn Sie, das heißt, ich sage das nur für alle Fälle (ich glaube übrigens nicht, daß der Fall eintreten wird, und halte Sie dessen schlechterdings nicht für fähig), wenn Sie möglicherweise … na, also für alle Fälle gesagt … wenn Sie im Laufe dieser vierzig, fünfzig Stunden Lust bekommen sollten, diese Angelegenheit in einer anderen Weise zum Abschluß zu bringen, so in einer mehr phantastischen Art, … will sagen, Hand an sich selbst zu legen (es ist ja eine abgeschmackte Annahme; aber, bitte, nehmen Sie es mir nicht übel); dann hinterlassen Sie doch bitte eine kurze, aber klare Notiz. Ganz einfach, zwei Zeilen, bloß zwei kurze Zeilen, und erwähnen Sie darin doch auch den Stein, das wird sich recht anständig ausnehmen. Nun, also auf Wiedersehen, … ich wünsche Ihnen gute Gedanken und heilsame Entschlüsse!«

Porfirij ging in eigentümlich gebückter Haltung hinaus, wobei er es vermied, Raskolnikow noch einmal anzublicken. Raskolnikow trat ans Fenster und wartete in nervöser Ungeduld so lange, bis seiner Berechnung nach jener auf die Straße gelangt und eine Strecke weit fortgegangen sein konnte. Hierauf verließ auch er schnell das Zimmer.

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Kapitel 34

III

Er eilte zu Swidrigailow. Was er eigentlich von diesem Menschen zu erreichen hoffte, wußte er selbst nicht. Aber dieser Mensch besaß eine verborgene Macht über ihn. Nachdem Raskolnikow sich dessen einmal bewußt geworden war, beunruhigte er sich fortwährend; überdies war auch gerade jetzt die richtige Zeit dafür gekommen.

Unterwegs quälte er sich besonders mit der Frage ab: war Swidrigailow bei Porfirij gewesen?

Soweit er darüber urteilen konnte (und er hätte darauf schwören mögen): nein, er war nicht da gewesen! Er überdachte die Sache immer wieder, ließ den ganzen Besuch Porfirijs noch einmal in der Erinnerung an sich vorüberziehen, hielt alles zusammen: nein, er war nicht da gewesen, er war bestimmt nicht da gewesen!

Aber wenn er noch nicht da gewesen war: würde er zu Porfirij hingehen oder nicht?

Vorläufig neigte Raskolnikow zu der Ansicht, daß jener nicht hingehen werde. Warum? Darüber konnte er sich selbst nicht klarwerden; aber wenn er es auch gekonnt hätte, so würde er sich jetzt darüber nicht besonders den Kopf zerbrochen haben. Dies alles quälte ihn; aber gleichzeitig war er nicht dazu aufgelegt, sich damit zu beschäftigen. Es war merkwürdig, und niemand würde es vielleicht geglaubt haben: aber bei dem Schicksal, das ihm nun in kurzem bevorstand, verweilten seine Gedanken nur flüchtig und obenhin. Ihn quälte etwas anderes, weit Wichtigeres, Außerordentliches, was ihn selbst und dazu noch jemand betraf. Zudem fühlte er eine grenzenlose seelische Müdigkeit, obgleich sein Verstand an diesem Morgen besser arbeitete als an all den Tagen vorher.

War es jetzt, nach allem, was geschehen war, noch der Mühe wert, sich mit der Überwindung all dieser neuen widerwärtigen Schwierigkeiten abzuquälen? War es zum Beispiel der Mühe wert, zu intrigieren, damit Swidrigailow nicht zu Porfirij ginge? Darum einen Menschen wie diesen Swidrigailow zu studieren, zu ergründen und mit ihm Zeit zu verlieren?

Oh, wie ihn dies alles anekelte!

Indessen eilte er trotzdem zu Swidrigailow; ob er doch noch von ihm irgend etwas Neues erwartete, einen Fingerzeig, einen Weg zur Rettung? Greift ja der Ertrinkende nach einem Strohhalm! Führte sie vielleicht das Schicksal oder ein gewisser Instinkt zusammen? Vielleicht war es bei ihm nur Müdigkeit und Verzweiflung; vielleicht war der, den er nötig hatte, gar nicht Swidrigailow, sondern sonst jemand, und Swidrigailow war ihm nur so zufällig in den Wurf gekommen. Er dachte an Sonja. Aber warum sollte er jetzt zu Sonja gehen? Um wieder Mitleidstränen von ihr zu erbetteln? Er fürchtete sich jetzt geradezu vor ihr. Sonja war die Verkörperung eines unerbittlichen Verdikts, eines unabänderlichen Entschlusses. Hier handelte es sich darum, welcher Weg eingeschlagen werden sollte, der ihrige oder der seinige. Gerade in diesem Augenblicke fühlte er sich außerstande, sie zu sehen. Nein, da war es schon besser, Swidrigailow auszuforschen: was da eigentlich dahintersteckte. Und er konnte es sich nicht verhehlen, daß dieser Mensch ihm tatsächlich schon längst in gewisser Hinsicht unentbehrlich sei.

Und doch, was konnten sie beide miteinander gemein haben? Nicht einmal eine Freveltat wäre bei ihnen von gleichem Charakter gewesen. Überdies war dieser Mensch sehr widerwärtig, offenbar ein arger Wüstling, sicher ein schlauer Betrüger, vielleicht auch sehr boshaft. Sein Leumund war ein recht übler. Allerdings, für Katerina Iwanownas Kinder hatte er sich eifrig bemüht; aber wer konnte wissen, welchen Zweck er damit verfolgte und was das bedeutete? Dieser Mensch hatte stets so seine besonderen Absichten und Pläne.

All diese Tage her war ein bestimmter Gedanke Raskolnikow beständig durch den Kopf gegangen und hatte ihn heftig beunruhigt, obwohl er bemüht gewesen war, ihn zu verscheuchen, so sehr fühlte er sich durch ihn bedrückt! Seine Überlegungen waren nämlich folgende: Swidrigailow habe sich in dieser Zeit auffällig an ihn herangemacht; Swidrigailow kenne sein Geheimnis; Swidrigailow habe schon früher schlechte Absichten auf Dunja gehabt. Wenn er solche Absichten nun auch jetzt noch habe? Man könne fast mit Sicherheit sagen, daß dies der Fall sei. Wie, wenn er nun jetzt, wo er sein Geheimnis erfahren und auf diese Weise eine gewisse Macht über ihn erlangt habe, diese Macht als Waffe gegen Dunja zu benutzen beabsichtigte?

Dieser Gedanke hatte ihn oftmals, sogar im Traume, gepeinigt; aber noch nie war er ihm mit solcher Klarheit zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, wo er zu Swidrigailow ging. Und schon dieser bloße Gedanke versetzte ihn in eine ingrimmige Wut. Er sagte sich, dann werde sich alles ändern, auch seine eigene Lage; er müsse dann sein Geheimnis sofort seiner Schwester mitteilen. Er müsse sich vielleicht selbst anzeigen, um Dunja vor unbedachten Schritten zu bewahren. Und was habe es mit dem Briefe für eine Bewandtnis? Heute früh habe Dunja durch einen Boten einen Brief erhalten! Wer in Petersburg könne denn an sie Briefe schreiben? Etwa Lushin? Freilich halte Rasumichin dort Wache; aber Rasumichin wisse von nichts. Vielleicht müsse er sich auch dem entdecken. Mit heftigem Widerwillen dachte Raskolnikow daran, daß das vielleicht notwendig werden könne.

Er sagte sich, daß er unter allen Umständen Swidrigailow so bald wie möglich sprechen müsse, und faßte den bestimmten Entschluß, dies zu tun. Gott sei Dank, hier brauchte er sich nicht mit Einzelheiten abzumühen; hier handelte es sich nur um einen einzigen Hauptpunkt. Aber wenn Swidrigailow wirklich etwas gegen Dunja plante, dann würde er diesen Menschen, wenn er nur irgend könnte …

Raskolnikow hatte sich diese ganze Zeit her so erschöpft gefühlt, daß er jetzt zur Lösung solcher Fragen nur ein einziges Mittel wußte. ›Dann töte ich ihn!‹ dachte er in kalter Verzweiflung. Er empfand einen schweren Druck auf dem Herzen; mitten auf der Straße blieb er stehen und sah sich um, was für einen Weg er eigentlich eingeschlagen habe und wie weit er schon gekommen sei. Er befand sich auf dem …skij-Prospekt, dreißig oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er passiert hatte. Das ganze erste Stockwerk eines Hauses linker Hand war von einem Restaurant eingenommen. Alle Fenster standen weit offen; nach den vielen Gestalten zu urteilen, die sich an den Fenstern bewegten, mußte das Restaurant gedrängt voll von Gästen sein. In dem Hauptsaale ließen sich Liedersänger vernehmen; eine Klarinette und eine Violine ertönten, eine türkische Trommel dröhnte. Man hörte das Gekreisch von Frauenstimmen. Er war schon im Begriff, wieder umzukehren, da er gar nicht begriff, warum er eigentlich in den …skij-Prospekt eingebogen war, als er auf einmal an einem der letzten offenstehenden Fenster des Restaurants Swidrigailow erblickte, der dort mit der Pfeife im Munde dicht beim Fenster an einem Teetische saß. Raskolnikow war überrascht, ja gewaltig erschrocken. Swidrigailow betrachtete und beobachtete ihn schweigend und wollte (worüber Raskolnikow gleichfalls überrascht war) anscheinend aufstehen, um sachte vom Fenster zurückzutreten, ehe er bemerkt würde. Raskolnikow tat sofort, als hätte er ihn nicht bemerkt und sähe ganz in Gedanken zur Seite, beobachtete ihn aber doch mit verstohlenen schrägen Blicken weiter. Das Herz klopfte ihm unruhig. Er hatte sich nicht getäuscht: Swidrigailow wünschte augenscheinlich, nicht gesehen zu werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und wollte sich verbergen; aber während er sich erhob und den Stuhl zurückschob, merkte er wahrscheinlich, daß Raskolnikow ihn sah und beobachtete. Der ganze Vorgang hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Szene, die sich zwischen ihnen bei ihrer ersten Begegnung in Raskolnikows Zimmer, als dieser schlief, abgespielt hatte. Ein schlaues Lächeln wurde um Swidrigailows Mund sichtbar und breitete sich allmählich über sein ganzes Gesicht aus. Beide wußten, daß sie einander sahen und beobachteten. Schließlich lachte Swidrigailow laut auf.

»Na also! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie mögen; ich bin hier!« rief er aus dem Fenster.

Raskolnikow ging zum Restaurant hinauf.

Er fand ihn in einer sehr kleinen, einfenstrigen Seitenstube, die an den großen Saal grenzte, in dem an zwanzig kleinen Tischen bei dem unschönen Gesange eines schauderhaften Chors Kaufleute, Beamte und eine Menge anderer Leute Tee tranken. Aus einem andern Zimmer tönte das Klappern von Billardbällen herüber. Auf einem Tischchen hatte Swidrigailow eine angebrochene Flasche Champagner und ein halbvolles Glas vor sich stehen. In dem Zimmer befanden sich auch ein Junge mit einer kleinen Drehorgel und ein derbes, rotbäckiges Mädchen in einem gestreiften, stark aufgeschürzten Rock, einen Tirolerhut mit Bändern auf dem Kopfe, eine etwa achtzehnjährige Sängerin, die, unbekümmert um den Chorgesang im angrenzenden Saale, mit recht heiserer Altstimme zur Drehorgel einen Gassenhauer sang.

»Na, nun ist’s genug!« unterbrach Swidrigailow den Gesang bei Raskolnikows Eintritt.

Das Mädchen brach sofort ab und blieb respektvoll wartend stehen. Auch ihre vulgäre Reimerei hatte sie mit ernster, respektvoller Miene heruntergesungen.

»He, Filipp, ein Glas!« rief Swidrigailow.

»Ich möchte keinen Wein trinken«, sagte Raskolnikow.

»Wie Sie belieben; aber ich meinte Sie auch nicht. Trink, Katja! Heute brauche ich dich nicht mehr; du kannst gehen!«

Er goß ihr ein ganzes Glas Wein ein und legte ihr einen Rubelschein hin. Katja trank das Glas auf einmal aus, in der Weise, wie Frauen Wein trinken, das heißt ohne abzusetzen, in zwanzig Schlucken, nahm den Schein, küßte Swidrigailow die Hand, die dieser ihr mit sehr ernster Miene zum Kusse überließ, und verließ das Zimmer; hinter ihr her trottete auch der Junge mit der Drehorgel. Sie waren beide von der Straße heraufgeholt worden. Swidrigailow wohnte kaum eine Woche in Petersburg und stand doch schon mit seiner ganzen Umgebung in einer Art von patriarchalischem Verhältnis. Auch der Kellner Filipp gehörte bereits zu seinen »Bekannten« und benahm sich gegen ihn äußerst devot. Die Tür nach dem Saale wurde meist geschlossen; Swidrigailow fühlte sich dann in diesem Zimmer wie zu Hause und brachte hier manchmal ganze Tage zu. Das Restaurant war schmutzig und schlecht und nicht einmal mittleren Ranges.

»Ich wollte Sie in Ihrer Wohnung aufsuchen«, begann Raskolnikow, »bog aber in Gedanken vom Heumarkt in den …skij-Prospekt ein. Ich tue das sonst nie und gehe hier niemals entlang. Ich pflege vom Heumarkt aus immer rechts zu gehen. Auch ist dies gar nicht der Weg nach Ihrer Wohnung. Aber kaum war ich hier eingebogen, da sah ich Sie auch! Ganz seltsam!«

»Warum sagen Sie nicht geradezu: es ist ein Wunder?«

»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.«

»Was haben doch diese Leute alle für eine schnurrige Art, zu denken!« rief Swidrigailow lachend. »Trotzdem sie in ihrem Herzen an Wunder glauben, mögen sie es doch nicht eingestehen! Eben haben Sie ja selbst gesagt, daß es ›vielleicht‹ nur ein Zufall ist. Und mit welcher Feigheit sich hier alle Leute davor fürchten, eine eigene Meinung zu haben, davon können Sie sich gar keine Vorstellung machen, Rodion Romanowitsch! Von Ihnen rede ich nicht; Sie haben eine eigene Meinung und haben sich nicht gescheut, sie zu haben. Dadurch haben Sie auch mein Interesse erregt.«

»Durch weiter nichts?«

»Na, dieser Grund ist doch schon ausreichend.«

Swidrigailow war offenbar in angeregter Stimmung, indessen nur in geringem Grade; von dem Weine hatte er nur ein halbes Glas getrunken.

»Ich möchte meinen, Sie kamen zu mir, noch ehe Sie wußten, daß ich fähig sei, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung nennen«, bemerkte Raskolnikow.

»Na ja, damals hatte es einen anderen Grund. Jeder hat so seine eigenen Wege. Aber was das Wunder anlangt, so muß ich Ihnen sagen, daß Sie diese letzten zwei, drei Tage geschlafen zu haben scheinen. Ich selbst habe Ihnen dieses Restaurant bezeichnet, und daß Sie geradeswegs hierher kamen, war ganz und gar kein Wunder; ich selbst habe Ihnen den ganzen Weg beschrieben und habe Ihnen die Stelle, wo es liegt, und die Stunden, wann ich hier zu treffen bin, angegeben. Besinnen Sie sich?«

»Nein, ich habe es vergessen«, antwortete Raskolnikow verwundert.

»Das muß ich annehmen. Zweimal habe ich es Ihnen sogar gesagt. Die Adresse hat sich Ihrem Gedächtnisse mechanisch eingeprägt. Und so bogen Sie auch mechanisch in diese Straße ein, genau gemäß der angegebenen Adresse, aber ohne es selbst zu wissen. Schon damals, als ich es Ihnen sagte, hatte ich von Ihnen den Eindruck, daß Sie mich nicht verstanden hätten. Sie verraten sich gar zu sehr, Rodion Romanowitsch. Und noch eines: ich glaube, es gibt in Petersburg viele Leute, die im Gehen Selbstgespräche halten. Es ist eben eine Stadt von Halbverrückten. Gäbe es bei uns einen ernstlichen Betrieb der Wissenschaften, so könnten die Ärzte, die Juristen und die Philosophen die wertvollsten Untersuchungen über die Petersburger Bevölkerung anstellen, jeder in seinem Fache. Es gibt wenige Orte, wo sich so viele düstere, starke, seltsame Momente, die auf die menschliche Seele wirken, vereinigt finden wie in Petersburg. Wie mächtig sind allein schon die Einwirkungen des Klimas! Und dabei ist nun Petersburg der administrative Mittelpunkt von ganz Rußland, so daß der Charakter dieser Hauptstadt auf das ganze Reich zurückwirken muß. Aber davon wollte ich jetzt nicht reden, sondern davon, daß ich Sie schon einige Male heimlich von der Seite her beobachtet habe. Wenn Sie aus dem Hause treten, halten Sie den Kopf noch gerade. Nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn schon sinken und legen die Hände auf den Rücken. Sie haben die Augen offen, nehmen aber zweifellos weder vor sich noch rechts oder links etwas wahr. Darauf fangen Sie an, die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie manchmal die eine Hand frei machen und damit gestikulieren; schließlich bleiben Sie längere Zeit mitten auf dem Wege stehen. Das ist recht bedenklich. Vielleicht beobachtet Sie außer mir sonst noch jemand, und das könnte Ihnen doch zum Schaden gereichen. Mir kann es im Grunde ganz egal sein, und Sie davon zu kurieren wird mir doch nicht gelingen; aber Sie verstehen mich gewiß.«

»Sie wissen also, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikow und blickte ihn forschend an.

»Nein, davon weiß ich nichts«, erwiderte Swidrigailow anscheinend verwundert.

»Nun, dann wollen wir von mir nicht weiter reden«, murmelte Raskolnikow mit finsterem Gesichte.

»Schön, reden wir nicht von Ihnen.«

»Sagen Sie mir lieber, wenn Sie hierhergehen, um zu trinken, und mich selbst zweimal aufgefordert haben, zu Ihnen hierherzukommen, warum wollten Sie denn dann vorhin, als ich Sie von der Straße aus am Fenster sah, zurücktreten und sich verstecken? Ich habe das recht wohl gemerkt.«

»He-he! Aber warum lagen Sie denn damals, als ich bei Ihnen zu Hause auf der Schwelle stand, mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und taten, als ob Sie schliefen, wiewohl Sie doch wach waren? Ich habe das recht wohl gemerkt.«

»Ich konnte dazu … meine Gründe haben, … das wissen Sie selbst.«

»Meine Gründe konnte auch ich haben, wenn Sie sie auch nicht kennen.«

Raskolnikow setzte den rechten Ellbogen auf den Tisch, stützte mit den Fingern der rechten Hand sein Kinn von unten und heftete seinen Blick unverwandt auf Swidrigailow. Er betrachtete etwa eine Minute lang sein Gesicht, das ihm auch früher schon immer seltsam erschienen war. Es war ein ganz merkwürdiges Gesicht, das große Ähnlichkeit mit einer Maske hatte: weiß, rotwangig, mit purpurnen Lippen, hellblondem Barte und noch ziemlich dichtem, blondem Haupthaar. Die Augen waren, man hätte sagen können, allzu blau und ihr Blick allzu starr und unbeweglich. Es lag etwas überaus Unangenehmes in diesem hübschen Gesichte, das im Verhältnis zu Swidrigailows Alter außerordentlich jugendlich aussah. Swidrigailow trug einen eleganten, leichten Sommeranzug; eine besondere Eleganz legte er auch mit seiner Wäsche an den Tag. An einem Finger prangte ein massiver Ring mit einem wertvollen Steine.

»Muß ich mich nun wirklich auch noch mit Ihnen herumbalgen?« sagte Raskolnikow plötzlich, indem er mit krampfhafter Ungeduld geradeswegs auf sein Ziel losging. »Sie sind ja zwar vielleicht ein höchst gefährlicher Mensch, wenn Sie mir schaden wollen; aber ich habe keine Lust mehr, Komödie zu spielen. Ich werde Ihnen sofort zeigen, daß mir an meinem persönlichen Wohle nicht so viel gelegen ist, wie Sie wahrscheinlich meinen. Mögen Sie also wissen: ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen offen zu sagen, wenn Sie an Ihren früheren Absichten in bezug auf meine Schwester noch festhalten sollten und wenn Sie vorhaben sollten, zu diesem Zwecke etwas von dem, was Sie in letzter Zeit erfahren haben, auszunutzen, so schlage ich Sie tot, ehe es Ihnen gelingt, mich ins Gefängnis zu bringen. Auf mein Wort ist Verlaß; Sie wissen, daß ich imstande sein würde, es wahr zu machen. Und zweitens: wenn Sie mir etwas mitzuteilen wünschen (denn ich hatte diese ganze Zeit her den Eindruck, als wollten Sie mir etwas sagen), so tun Sie das unverzüglich; denn die Zeit ist kostbar, und es wird vielleicht sehr bald schon zu spät sein.«

»Warum haben Sie es denn so eilig?« fragte Swidrigailow, ihn neugierig anblickend.

»Jeder hat seine eigenen Wege«, entgegnete Raskolnikow finster und ungeduldig.

»Eben erst haben Sie mich aufgefordert, ganz offen zu sein, und Sie selbst verweigern auf die erste Frage, die ich an Sie richte, die Antwort«, bemerkte Swidrigailow lächelnd. »Sie haben immer die Vorstellung, als verfolgte ich bestimmte Zwecke, und daher betrachten Sie mich mit solchem Argwohn. Allerdings, in Ihrer Lage ist das sehr begreiflich. Aber obgleich ich lebhaft wünsche, Ihnen näherzutreten, werde ich mir dennoch keine Mühe geben, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wahrhaftig, le jeu ne vaut pas la chandelle, und es lag auch nicht im geringsten in meiner Absicht, mit Ihnen über etwas so ganz Besonderes zu sprechen.«

»Nun, was wollten Sie denn dann eigentlich von mir? Sie haben sich doch an mich herangemacht?«

»Sie sind mir einfach ein interessantes Beobachtungsobjekt. Sie erregten meine Aufmerksamkeit durch das Romantische Ihrer Situation, das war’s! Außerdem sind Sie der Bruder einer Dame, für die ich mich sehr interessierte. Und endlich habe ich seinerzeit von ebendieser Dame außerordentlich oft und viel über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie auf die Dame großen Einfluß haben. Sind das nicht genug Gründe? He-he-he! Übrigens, offen gestanden, Ihre Frage ist für mich recht knifflich, und es fällt mir schwer, sie Ihnen zu beantworten. Nun, sehen Sie mal, Sie sind doch jetzt nicht bloß wegen dieser einen Angelegenheit zu mir gekommen, sondern auch, um etwas Neues von mir zu hören? Nicht wahr? Ist’s nicht so?« fragte Swidrigailow eindringlich mit schlauem Lächeln. »Und nun stellen Sie sich einmal vor, daß ich selbst, schon auf der Reise hierher, im Eisenbahncoupé, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas Neues sagen würden und daß es mir gelingen würde, bei Ihnen eine Anleihe zu machen! Ja, sehen Sie, so steht es mit meinem Reichtum!«

»Was denn für eine Anleihe?«

»Ja, was soll ich Ihnen darauf antworten? Darüber bin ich selbst im unklaren. Sehen Sie nur, in was für einem elenden Restaurant ich die ganze Zeit über herumhocke, und das ist mein Element; das heißt, mein Element ist es eigentlich nicht; na, aber man muß doch irgendwo die Zeit hinbringen. Und hier habe ich wenigstens diese arme Katja – haben Sie sie gesehen? … Ja, und wenn ich noch ein Vielfraß wäre oder ein Gourmet; aber da können Sie sehen, was für Zeug ich essen kann« (er zeigte mit dem Finger nach einer Ecke, wo auf einem kleinen Tischchen in einem Blechschüsselchen die Überreste eines schauderhaften Beefsteaks mit Kartoffeln standen). »Apropos, haben Sie schon zu Mittag gegessen? Ich habe nur ein paar Bissen gegessen und mag nicht mehr. Wein zum Beispiel trinke ich überhaupt nicht. Außer Champagner trinke ich gar keinen Wein, und auch Champagner trinke ich den ganzen Abend über nur ein einziges Glas, und auch davon bekomme ich schon Kopfschmerzen. Die Flasche hier habe ich mir bloß geben lassen, um mich ein bißchen aufzukratzen; denn ich habe einen Weg vor, und Sie finden mich in einer besonderen Gemütsstimmung. Das war auch der Grund, weshalb ich mich vorhin wie ein Schuljunge versteckte; denn ich dachte, Sie könnten mir dabei hinderlich werden; aber ich glaube« (er zog die Uhr heraus), »ich kann noch eine Stunde mit Ihnen zusammen sein; es ist erst halb fünf. Glauben Sie mir, ich würde viel darum geben, wenn ich nur irgendeine Tätigkeit hätte, na, sagen wir mal, wenn ich Gutsbesitzer wäre oder Vater oder Ulan, Photograph, Journalist, … aber ich habe rein gar nichts, so gar keine eigene Tätigkeit! Manchmal langweile ich mich furchtbar. Wirklich, ich dachte, Sie würden mir etwas Neues sagen.«

»Ja, was sind Sie denn eigentlich für ein Mensch, und warum sind Sie nach Petersburg gekommen?«

»Was ich für ein Mensch bin? Nun, das wissen Sie ja: ich bin ein Adliger, habe zwei Jahre bei der Kavallerie gedient; dann habe ich hier in Petersburg herumgebummelt; dann habe ich Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Das ist mein Lebenslauf!«

»Sie waren ja wohl auch Spieler?«

»Nein, Spieler eigentlich nicht. Ein Falschspieler ist kein Spieler.«

»Also Sie waren Falschspieler?«

»Ja, das bin ich auch gewesen.«

»Da haben Sie wohl auch manchmal Prügel bekommen?«

»Das ist auch vorgekommen. Nun, und …?«

»Nun, da konnten Sie doch den Betreffenden zum Duell fordern. Das ist doch eine erfrischende Abwechselung.«

»Ich will Ihnen nicht widersprechen und habe überhaupt in philosophischen Debatten keine Übung. Ich muß gestehen, ich bin hauptsächlich der Weiber wegen mit solcher Beschleunigung hierher gereist.«

»Nachdem Sie Marfa Petrowna eben erst beerdigt haben?«

»Nun ja«, erwiderte Swidrigailow mit ganz ungeniertem, offenherzigem Lächeln. »Was ist denn dabei? Sie scheinen etwas Schlimmes darin zu finden, daß ich so von den Weibern rede?«

»Sie meinen, ob ich die Unsittlichkeit für etwas Schlimmes halte?«

»Die Unsittlichkeit! Nun, das ist doch etwas zuviel gesagt! Aber ich möchte Ihnen zunächst einmal meine Ansicht über die Weiber im allgemeinen sagen; wissen Sie, ich bin gerade dazu aufgelegt, ein bißchen zu plaudern. Sagen Sie bloß, warum sollte ich mir denn Enthaltsamkeit auferlegen? Warum sollte ich mir die Weiber versagen, wenn das nun einmal meine Passion ist? Wenigstens habe ich doch eine Beschäftigung dadurch.«

»Sie suchen hier also weiter nichts als Unsittlichkeit?«

»Na, wenn Sie es so nennen wollen, meinetwegen! Sie immer mit Ihrer Unsittlichkeit! Indessen habe ich es ganz gern, daß Sie so offen und geradezu fragen. Diese Unsittlichkeit hat wenigstens das Gute, daß sie etwas Dauerndes ist, sogar etwas in der Natur Begründetes, von aller Theorie Unabhängiges, etwas, was einem wie eine Art von stets glühender Kohle im Geblüte wohnt und sich nicht so bald auslöschen läßt, so besonders schnell vielleicht nicht einmal bei höherem Lebensalter. Sagen Sie selbst, ist das etwa nicht in seiner Art auch eine Beschäftigung?«

»Wie können Sie daran Ihre Freude haben? Es ist eine Krankheit, eine gefährliche Krankheit.«

»Nun, das ist doch etwas zuviel gesagt! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, wie alles, was über das richtige Maß hinausgeht (und auf diesem Gebiete wird es unfehlbar oft vorkommen, daß das richtige Maß überschritten wird); aber erstens ist das doch bei verschiedenen Menschen verschieden; und zweitens möge man sich eben, wie bei allen Dingen, so selbstverständlich auch hierbei, des Maßhaltens befleißigen; Ökonomie, wenn auch in einer gemeinen Sphäre. Aber was soll man tun? Wenn es dieses Vergnügen nicht gäbe, könnte man sich ja gleich erschießen! Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch die Pflicht hat, die Langeweile zu ertragen, aber trotzdem …«

»Würden Sie es fertigbringen, sich zu erschießen?«

»Hören Sie mal!« erwiderte Swidrigailow, indem er mit einer Gebärde des Widerwillens die Frage von sich wies. »Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie davon nicht«, fügte er hastig hinzu und sogar ganz ohne den prahlerischen Beiklang, den alle seine vorhergehenden Worte gehabt hatten. Selbst sein Gesicht schien sich verändert zu haben. »Ich bekenne mich da einer unverzeihlichen Schwäche schuldig; aber ich kann nichts dagegen machen: ich fürchte mich vor dem Tode und mag nicht von ihm reden hören. Wissen Sie wohl, daß ich so ein Stück Mystiker bin?«

»Ach ja! Marfa Petrownas Geist ist Ihnen ja erschienen! Nun, dauern diese Erscheinungen noch fort?«

»Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg ist es noch nicht vorgekommen; hol der Teufel die Geistererscheinungen!« rief er ärgerlich. »Nein, lassen Sie uns lieber über diese … ja, aber … Hm! Schade, ich habe nicht mehr viel Zeit; ich kann nicht mehr lange mit Ihnen zusammenbleiben; es tut mir sehr leid! Ich hätte Ihnen noch etwas mitzuteilen.«

»Wo wollen Sie denn hin, zu einem Frauenzimmer?«

»Allerdings; ein ganz unverhoffter Zufall … Aber das war es nicht, wovon ich jetzt mit Ihnen reden wollte.«

»Und die Ekelhaftigkeit dieses ganzen Treibens wirkt gar nicht mehr auf Sie? Haben Sie schon die Kraft verloren, sich selbst ein ›Halt!‹ zuzurufen?«

»Und Sie, Sie erheben für Ihre eigene Person Anspruch darauf, Kraft zu besitzen? He-he-he! Sie haben mich soeben in Verwunderung versetzt, Rodion Romanowitsch, obgleich ich dergleichen voraussah. Sie, Sie reden mir von Unsittlichkeit und Ästhetik! Sie spielen sich als eine Art von Schiller auf, als Idealisten! Alles das hat natürlich seinen notwendigen inneren Zusammenhang, und man müßte sich wundern, wenn es anders wäre; aber trotzdem kommt es einem in der Wirklichkeit sonderbar vor … Schade nur, daß ich so wenig Zeit habe; denn Sie sind eine überaus interessante Persönlichkeit! Apropos, lieben Sie Schiller? Ich habe ihn außerordentlich gern.«

»Aber was sind Sie für ein Prahler!« erwiderte Raskolnikow mit merklichem Widerwillen.

»Das bin ich nicht, wahrhaftig nicht!« antwortete Swidrigailow lachend. »Übrigens will ich darüber nicht streiten; mag ich ein Prahler sein! Aber warum soll man auch nicht ein bißchen prahlen, wenn man niemandem etwas damit zuleide tut? Ich habe sieben Jahre lang bei Marfa Petrowna auf dem Lande gelebt; darum bin ich jetzt geradezu froh, ein bißchen plaudern zu können, wo ich einen klugen Menschen wie Sie getroffen habe, einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen. Außerdem habe ich auch ein halbes Glas Wein getrunken, und das ist mir schon ein klein wenig in den Kopf gestiegen. Die Hauptsache aber ist: ich habe da so eine Geschichte, die mich sehr aufregt, über die ich aber schweigen möchte. Aber wo wollen Sie denn hin?« fragte Swidrigailow plötzlich sehr erstaunt.

Raskolnikow hatte sich zum Aufstehen angeschickt. Er fühlte sich bedrückt, beklommen, unbehaglich und bedauerte, hergekommen zu sein. Über Swidrigailow hatte er sich die Überzeugung gebildet, daß dies der fadeste, wertloseste Bösewicht sei, den es auf der Welt gebe.

»Ach was! Bleiben Sie doch noch ein Weilchen sitzen«, bat Swidrigailow, »und lassen Sie sich etwas geben, etwa ein Glas Tee. Na, bleiben Sie noch ein Weilchen; ich werde Ihnen auch keinen Unsinn mehr vorreden, ich meine über mich. Ich werde Ihnen etwas erzählen. Na, wenn’s Ihnen recht ist, so will ich Ihnen erzählen, wie mich eine Dame, um in Ihrer Sprache zu reden, ›rettete‹. Das wird sogar eine Antwort auf Ihre erste Frage sein, weil diese Dame Ihre Schwester war. Soll ich es Ihnen erzählen? Wir füllen damit auch die Zeit aus.«

»Erzählen Sie; aber ich hoffe, Sie …«

»Oh, seien Sie unbesorgt! Übrigens kann Awdotja Romanowna sogar einem so schändlichen und hohlen Menschen wie mir nur die allergrößte Hochachtung einflößen.«

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Kapitel 28

II

Es würde schwer sein, genau die Ursachen anzugeben, die in Katerina Iwanownas verwirrtem Kopfe den Plan zu diesem sinnlosen Gedächtnismahle hatten entstehen lassen. In der Tat waren darauf fast zehn Rubel von den mehr als zwanzig verwendet worden, die sie von Raskolnikow, eigentlich zu Marmeladows Beerdigung, erhalten hatte. Vielleicht hielt es Katerina Iwanowna für ihre Pflicht dem Verstorbenen gegenüber, sein Andenken »in angemessener Form« zu ehren, damit alle Mitbewohner und ganz besonders Amalia Iwanowna zu der Erkenntnis kämen, daß er »nicht nur nicht geringer als sie, sondern sogar vielleicht etwas weit Besseres« gewesen sei und daß niemand von ihnen ein Recht habe, über ihn die Nase zu rümpfen. Möglicherweise hatte am allermeisten dazu jener besondere Stolz armer Leute beigetragen, welcher bei gewissen herkömmlichen Feierlichkeiten, die nach unsrer ganzen Lebensordnung nun einmal für alle und jeden obligatorisch sind, gar manchen armen Tropf veranlaßt, mit Aufbietung der letzten Kräfte großzutun und die letzten gesparten Groschen dranzuwenden, um nur »nicht schlechter als andre« zu sein und um nur nicht von jenen andren »ins Gerede gebracht« zu werden. Auch wünschte Katerina Iwanowna wahrscheinlich gerade bei diesem Anlasse und gerade in diesem Augenblicke, wo sie anscheinend von aller Welt verlassen war, allen diesen »niedrigstehenden, abscheulichen Mitbewohnern« zu zeigen, daß sie sich nicht nur auf gute Lebensart verstehe und Gäste zu bewirten wisse, sondern ihrer Herkunft nach überhaupt nicht für ein solches Los bestimmt sei, daß sie vielmehr »in dem vornehmen, man könnte sogar sagen: aristokratischen Hause eines Beamten im Range eines Obersten« ihre Jugend verlebt habe und ganz und gar nicht dazu erzogen sei, selbst den Fußboden zu fegen und in der Nacht zerlumptes Kinderzeug zu waschen. Von solchen Anfällen eines törichten Stolzes und einer sinnlosen Prunksucht werden manchmal gerade ganz arme, tiefgebeugte Leute heimgesucht, und es wird dadurch mitunter bei ihnen ein geradezu krankhaftes, unwiderstehliches Verlangen erregt. Übrigens gehörte Katerina Iwanowna gar nicht zu diesen Tiefgebeugten: die äußeren Umstände konnten ihr wohl den Tod bringen, nicht aber sie seelisch beugen, das heißt sie einschüchtern und zur Unterordnung unter einen fremden Willen zwingen. Außerdem sagte Sonja von ihr nicht ohne Grund, daß ihr Geist gestört sei. Ein bestimmtes, abschließendes Urteil war ja zwar darüber noch nicht möglich; aber immerhin hatte in letzter Zeit, im ganzen letzten Jahre, ihr armes Hirn zu viel Qualen auszustehen gehabt, als daß es nicht dadurch einigen Schaden hätte erleiden müssen. Auch trägt, wie die Ärzte sagen, eine stark vorgeschrittene Schwindsucht zur Störung der geistigen Fähigkeiten bei.

Mehrere Weine, verschiedene Sorten Wein waren nicht vorhanden, auch kein Madeira; das war von Lushin eine Übertreibung gewesen; aber Wein war da. Auf dem Tische stand Branntwein, Rum und Lissabonner Wein, alles von schlechtester Qualität, aber in ausreichender Menge. An Speisen waren außer Kutja drei oder vier Gerichte vor*handen, besonders streng und ersuchte sie dann sehr von oben herab, am Tische Platz zu nehmen. Da sie aber, Gott weiß warum, meinte, an dem Ausbleiben der Nichterschienenen trage Amalia Iwanowna die Schuld, so fing sie auf einmal an, diese äußerst geringschätzig zu behandeln; die letztere bemerkte das sofort und fühlte sich darüber im höchsten Grade pikiert. Ein solcher Anfang ließ kein gutes Ende erwarten. Endlich saß alles am Tische.

Raskolnikow war fast in demselben Augenblicke eingetreten, als sie vom Kirchhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna hatte sich über seine Ankunft ganz außerordentlich gefreut, erstens weil er der einzige »Gebildete« unter allen Gästen war und »bekanntlich in zwei Jahren an der hiesigen Universität eine Professorenstelle erhalten werde«, und zweitens weil er sich sofort in respektvoller Weise bei ihr entschuldigte, daß er trotz seines aufrichtigen Wunsches nicht habe an der Beerdigung teilnehmen können. Sie hatte ihn ordentlich mit Beschlag belegt, ihm am Tische den Platz zu ihrer Linken angewiesen (rechts von ihr saß Amalia Iwanowna), und trotz der steten Unruhe und Sorge, daß die Gerichte nur auch ja richtig herumgingen und alle Gäste hinreichend damit versehen würden, trotz des quälenden Hustens, der sie alle Augenblicke unterbrach und sie zu ersticken drohte und gerade in den letzten zwei Tagen besonders zugenommen zu haben schien, wandte sie sich nun fortwährend an Raskolnikow und schüttete alles, was sich an unangenehmen Empfindungen bei ihr angesammelt hatte, und all ihre gerechte Entrüstung über dieses mißglückte Gedächtnismahl vor ihm aus, wobei die Entrüstung oft von einem sehr heiteren, sehr ungenierten Lachen über die versammelten Gäste, namentlich aber über die Wirtin selbst, abgelöst wurde.

»An allem ist diese Eule schuld. Sie verstehen wohl, wen ich meine: die da, die da!« Dabei wies Katerina Iwanowna durch eine Kopfbewegung nach der Wirtin hin. »Sehen Sie sie nur mal an: sie reißt die Augen auf; sie merkt, daß wir von ihr reden, kann aber nicht verstehen und sperrt nun die Augen weit auf. Pfui, so eine Eule, ha-ha-ha! … Kche-kche-kche! Und was bezweckt sie denn eigentlich mit ihrer Haube? Kche-kche-kche! Haben Sie wohl bemerkt, sie möchte gern alle glauben machen, daß sie hier die hohe Gönnerin sei und mir durch ihre Anwesenheit eine Ehre erweise. Ich hatte sie, in der Meinung, es mit einer anständigen Dame zu tun zu haben, gebeten, mir zu dieser Feier Leute besseren Standes und namentlich die Bekannten des Verstorbenen einzuladen; und nun sehen Sie nur, wen sie mir hergebracht hat: wahre Hansnarren! Mistfinken! Sehen Sie nur den da mit dem unreinen Teint; so ein Rotzkerl! Und diese Polacken … ha-ha-ha! Kche-kche-kche! Kein Mensch hat sie je vorher hier zu sehen bekommen; auch ich habe sie noch nie gesehen; nun frage ich Sie: warum sind die hergekommen? Sie sitzen so hübsch brav in einer Reihe nebeneinander! Pan, Sie da!« rief sie auf einmal einem von ihnen zu. »Haben Sie sich auch Pfannkuchen genommen? Langen Sie doch noch zu! Trinken Sie Bier! Mögen Sie keinen Schnaps? Sehen Sie: er ist aufgesprungen und verbeugt sich; sehen Sie nur, sehen Sie nur; die armen Kerle sind gewiß ganz ausgehungert. Na immerzu, mögen sie essen! Wenigstens machen sie keinen Lärm; aber … aber … allerdings … ich bin in Sorge um die silbernen Löffel der Wirtin! … Amalia Iwanowna«, wandte sie sich auf einmal ziemlich laut an diese, »wenn Ihnen etwa Ihre Löffel gestohlen werden sollten, so übernehme ich keine Haftung, das sage ich Ihnen im voraus. – Ha-ha-ha!« lachte sie, sich wieder an Raskolnikow wendend, auf, machte ihm wieder mit dem Kopfe ein Zeichen nach der Wirtin hin und freute sich über ihre witzige Bemerkung. »Sie hat nicht verstanden, sie hat wieder nicht verstanden! Sie sitzt mit aufgesperrtem Munde da; sehen Sie nur: eine Eule, eine richtige Eule, ein Uhu mit neuen Haubenbändern, ha-ha-ha!«

Hier ging das Lachen wieder in einen unerträglichen Husten über, der fünf Minuten lang anhielt. Auf dem Taschentuche zeigten sich Blutflecke, Schweißtropfen erschienen auf ihrer Stirn, die roten Flecke auf den Wangen traten schärfer hervor. Schweigend wies sie Raskolnikow das Blut; aber kaum hatte sie sich wieder erholt, so begann sie von neuem, ihm mit außerordentlicher Lebhaftigkeit zuzuflüstern:

»Sehen Sie, ich hatte ihr den, man kann wohl sagen, sehr delikaten Auftrag gegeben, diese Dame und ihre Tochter einzuladen; Sie wissen doch, von wem ich spreche? Dabei war ein sehr taktvolles Benehmen, eine besondere Geschicklichkeit erforderlich; aber sie hat es so töricht angegriffen, daß dieses eben von auswärts angekommene dumme Frauenzimmer, diese hochmütige Kreatur, diese unbedeutende Provinzialin, nur weil sie eine Majorswitwe ist – sie ist nämlich hergekommen, um sich eine Pension auszuwirken und die Behörden mit ihren Besuchen zu belästigen; bei ihren fünfundfünfzig Jahren färbt sie sich noch die Augenbrauen und schminkt sich, das ist Tatsache, … und eine solche Kreatur hat nicht die Gewogenheit gehabt, zu erscheinen; ja, sie hat sich nicht einmal wegen ihres Ausbleibens entschuldigen lassen, wie das doch in solchen Fällen die gewöhnlichste Höflichkeit erfordert! Ich kann nicht begreifen, warum auch Pjotr Petrowitsch nicht gekommen ist. Aber wo ist Sonja? Wo mag sie hingegangen sein? Ah, da ist sie ja, endlich! Nun, Sonja, wo bist du denn gewesen? Wunderlich, daß du sogar bei der Beerdigungsfeier für deinen Vater so unpünktlich bist. Rodion Romanowitsch, gestatten Sie, daß sie neben Ihnen Platz nimmt. Da ist dein Platz, Sonja, … lang zu, nimm, was du magst. Nimm von dem Fisch in Gelee; der ist recht gut. Du sollst auch gleich Pfannkuchen haben. Haben die Kinder auch etwas bekommen? Polenjka, habt ihr auch alles? Kche-kche-kche! Nun, schön! Sei recht artig, Lida, und du, Kolja, schlenkere nicht mit den Beinen; sitze, wie es sich für ein anständiges Kind schickt. Was sagst du, Sonja?«

Sonja richtete ihr schnell Pjotr Petrowitschs Entschuldigung aus, wobei sie sich Mühe gab, recht laut zu sprechen, damit es alle hören könnten, und recht gewählte, respektvolle Ausdrücke zu gebrauchen, die sie sich von Pjotr Petrowitsch gemerkt hatte und noch weiter ausschmückte. Sie fügte hinzu, Pjotr Petrowitsch habe ihr besonders aufgetragen, zu bestellen, daß er, sobald es ihm irgend möglich sei, schleunigst herkommen werde, zum Zwecke ungestörter Besprechung geschäftlicher Angelegenheiten und zum Zwecke von Verabredungen darüber, was sich nun weiter tun und unternehmen lasse usw. usw.

Sonja wußte, daß dies dazu beitragen werde, Katerina Iwanowna zu beruhigen und friedlicher zu stimmen, da es ihr schmeichelte und namentlich ihren Stolz befriedigte. Sie setzte sich neben Raskolnikow, den sie kurz begrüßte und mit einem forschenden Blick eine Sekunde lang betrachtete. Die ganze übrige Zeit vermied sie es aber, ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. Sie schien zerstreut, wiewohl sie fortwährend die Augen auf Katerina Iwanownas Gesicht gerichtet hielt, um ihr Dienste zu erweisen. Weder sie noch Katerina Iwanowna waren in Trauerkleidung, da sie keine derartigen Sachen besaßen; Sonja trug ein ziemlich dunkles braunes Kleid und Katerina Iwanowna das einzige, das sie hatte, ein dunkles, gestreiftes Kattunkleid. Die Nachricht über Pjotr Petrowitsch machte sich vorzüglich. Nachdem Katerina Iwanowna sehr würdevoll Sonjas Bericht angehört hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll nach Pjotr Petrowitschs Befinden. Darauf flüsterte sie sofort sehr vernehmlich dem neben ihr sitzenden Raskolnikow zu, daß es einem so angesehenen, wohlsituierten Manne wie Pjotr Petrowitsch allerdings habe peinlich sein müssen, sich in eine so eigenartige Gesellschaft zu begeben, trotz seiner treuen Anhänglichkeit an ihre Familie und seiner alten Freundschaft für ihren Papa.

»Eben deswegen bin ich Ihnen besonders dankbar, Rodion Romanowitsch, daß Sie es nicht verschmäht haben, an meinem Tische einen Bissen zu genießen, trotz dieser Umgebung«, fügte sie ziemlich laut hinzu. »Ich bin aber überzeugt, daß nur die innige Freundschaft, die Sie mit meinem armen verstorbenen Gatten verband, Sie bewogen hat, Ihr Wort zu halten.«

Sie ließ noch einmal einen würdevollen, stolzen Blick um ihre Tafelrunde herumwandern und erkundigte sich plötzlich mit besonderer Sorglichkeit laut über den Tisch hinüber bei dem tauben alten Manne, ob er nicht noch ein Stückchen Braten möge und ob er auch Lissabonner bekommen habe. Der Alte antwortete nicht und konnte lange Zeit nicht begreifen, wonach er eigentlich gefragt wurde, obwohl seine Nachbarn ihn des Spaßes wegen anstießen, er möchte doch antworten. Er blickte nur mit offenem Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch steigerte.

»Nein, so ein Tölpel! Sehen Sie nur, sehen Sie nur! Wozu man mir den bloß hergebracht hat! Was aber Pjotr Petrowitsch anlangt, so war ich stets von seiner freundlichen Gesinnung überzeugt«, fuhr Katerina Iwanowna, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Der steht natürlich auf einer ganz andern Stufe«, hier wandte sie sich mit lauter Stimme, in scharfem Tone und mit sehr strenger Miene an Amalia Iwanowna, die darüber ganz ängstlich wurde, »auf einer ganz andern Stufe als Ihre beiden neuen Mieterinnen, diese aufgedonnerten Weibsbilder mit ihren langen Schleppen! Solche Frauenzimmer hätten in dem Hause meines Papas nicht einmal als Köchinnen dienen dürfen, und mein verstorbener Gatte hätte ihnen eine Ehre damit erwiesen, wenn er ihren Besuch entgegengenommen hätte, was eben nur ein Ausfluß seiner unerschöpflichen Herzensgüte gewesen wäre.«

»Trinken, das tat er gern; das liebte er sehr; ganz gehörig hat er getrunken!« rief auf einmal der verabschiedete Proviantbeamte und goß sein zwölftes Glas Schnaps hinunter.

»Das war allerdings eine Schwäche meines verstorbenen Gatten, und sie war allgemein bekannt«, antwortete Katerina Iwanowna sofort auf diese Bemerkung, »aber er war ein guter, edler Mensch, der seine Familie liebte und schätzte; das Unglück war nur, daß er in seiner Gutherzigkeit allerlei verkommenen Subjekten zuviel Vertrauen schenkte und Gott weiß mit wem zusammen trank, mit Leuten zusammen, die nicht wert waren, ihm die Schuhriemen zu lösen. Denken Sie sich, Rodion Romanowitsch, wir haben in seiner Tasche einen Hahn von Pfefferkuchen gefunden. Trotz seiner Betrunkenheit hatte er doch noch an die Kinder gedacht.«

»Einen Hahn? Sagten Sie nicht: einen Hahn?« rief der Proviantbeamte.

Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie war nachdenklich geworden und seufzte.

»Sie meinen gewiß auch wie alle, daß ich zu streng gegen ihn gewesen sei«, fuhr sie, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Aber das ist nicht richtig! Er hat mich hochgeschätzt; außerordentlich hoch hat er mich geschätzt! Er war eine gute Seele! Und wie leid hat er mir manchmal getan! Er saß oft so in einer Ecke da und schaute mich an; so leid tat er mir; ich wäre am liebsten freundlich zu ihm gewesen; aber ich sagte mir: ›Wenn du jetzt freundlich zu ihm bist, betrinkt er sich wieder.‹ Nur durch Strenge war es möglich, ihn einigermaßen davon zurückzuhalten.«

»Ja, ja, manchmal wurde er auch an den Haaren gerissen; das war nichts Seltenes!« schrie der Proviantbeamte wieder und goß noch ein Glas hinunter.

»Manchen Dummköpfen wäre es heilsam, wenn sie nicht nur an den Haaren gerissen, sondern sogar mit dem Besenstiel geprügelt würden. Ich meine damit nicht den Verstorbenen!« erwiderte Katerina Iwanowna scharf.

Die roten Flecke auf ihren Wangen zeichneten sich immer greller ab; ihre Brust atmete schwer. Sie war offenbar nahe daran, eine Skandalszene zu beginnen. Viele kicherten; denen hätte so etwas augenscheinlich das größte Vergnügen gemacht. Sie fingen an, den Proviantbeamten anzustoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Zweifellos wollten sie die beiden aneinanderhetzen.

»Gestatten Sie mir die Frage: was haben Sie damit gemeint?« begann der Proviantbeamte. »Das heißt, auf wen … sollte das gehen, … was Sie soeben bemerkten? … Na, übrigens, ich will doch lieber nicht … Dummes Zeug! Eine Witwe! So ein armes Tierchen! Ich verzeihe es ihr … Ich geb’s auf!« Und er griff wieder zum Schnaps.

Raskolnikow saß da und hörte schweigend und voll Widerwillen zu. Die guten Bissen, die ihm Katerina Iwanowna alle Augenblicke auf den Teller legte, rührte er nur aus Höflichkeit an, nur um sie nicht zu kränken. Er blickte unverwandt Sonja an. Sonja aber wurde immer unruhiger und ängstlicher; sie ahnte, daß dieses Gedächtnismahl kein friedliches Ende nehmen werde, und beobachtete voll Furcht, wie die Gereiztheit ihrer Stiefmutter immer schlimmer wurde. Sonja wußte unter anderm, daß sie, Sonja, selbst die Hauptursache war, weswegen die beiden kürzlich angekommenen Damen Katerina Iwanownas Einladung in so verächtlicher Weise abgelehnt hatten. Sie hatte von Amalia Iwanowna selbst gehört, daß die Mutter sich durch die Einladung geradezu beleidigt gefühlt und gefragt habe, wie man ihr denn zumuten könne, ihre Tochter neben »dieses Mädchen« zu setzen. Sonja vermutete, daß Katerina Iwanowna dies bereits auf irgendwelchem Wege erfahren habe, und wußte, daß eine beleidigende Äußerung über sie, Sonja, auf Katerina Iwanowna heftiger wirkte als eine über sie selbst oder über ihre Kinder oder über ihren vornehmen Papa, mit einem Worte: ihr als tödliche Beleidigung galt. So sah denn Sonja voraus, daß Katerina Iwanowna jetzt keine Ruhe haben werde, »ehe sie nicht diesen hoffärtigen Frauenzimmern würde bewiesen haben, daß sie alle beide usw. usw.« Unglücklicherweise schickte in diesem Augenblicke jemand vom andern Ende des Tisches her an Sonja einen Teller, auf welchem zwei aus Schwarzbrot geknetete Herzen, von einem Pfeil durchbohrt, lagen. Katerina Iwanowna geriet sofort in Wut und bemerkte laut über den Tisch hinüber, der Übersender müsse wohl ein betrunkener Esel sein. Amalia Iwanowna, die gleichfalls ahnte, daß Unheil im Anzuge sei, und sich gleichzeitig durch Katerina Iwanownas Hochmut in tiefster Seele gekränkt fühlte, beabsichtigte dem Gespräche eine andre Richtung zu geben und so die unangenehme Stimmung der Gesellschaft zu bessern. Deshalb, und auch um bei dieser Gelegenheit ihre eigene Person in der allgemeinen Achtung steigen zu lassen, begann sie auf einmal ohne äußere Veranlassung zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr, »Karl aus der Apotheke«, eines Nachts in einer Droschke gefahren sei; der Kutscher habe ihn ermorden wollen, und Karl habe ihn »serr, serr« gebeten, ihn doch nicht zu ermorden, und habe geweint und die Hände gefaltet, und »erschreckt« und vor Furcht »sei ihm das Herz gebeben«. Katerina Iwanowna bemerkte dazu, wenn auch lächelnd, Amalia Iwanowna täte besser, keine Geschichten auf Russisch zu erzählen. Diese fühlte sich noch mehr gekränkt und erwiderte, ihr Vater, ein geborener Berliner, sei eine sehr hochgestellte Persönlichkeit gewesen und habe immer »beim Gehen seine Hände in Taschen gesteckt«. Die spottlustige Katerina Iwanowna konnte sich nicht mehr halten und brach in ein lautes Gelächter aus, so daß Amalia Iwanowna den letzten Rest von Geduld verlor und sich kaum noch beherrschen konnte.

»Nein, diese Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna wieder Raskolnikow zu; sie war ordentlich lustig geworden. »Sie wollte sagen, er habe immer die Hände in den Taschen gehabt; es klang aber so, als habe er fremde Taschen ausgeräumt, kche-kche! Haben Sie wohl auch schon bemerkt, Rodion Romanowitsch, daß alle diese Ausländer in Petersburg, und ganz besonders die Deutschen, die hier bei uns zusammenströmen, ohne Ausnahme dümmer sind als wir? Nun, sagen Sie selbst, kann ein vernünftiger Mensch so erzählen, daß ›diesem Karl aus der Apotheke das Herz gebeben sei‹ und daß er (so eine Rotznase!), statt dem Droschkenkutscher die Hände zu binden, die Hände gefaltet und geweint und sehr gebeten habe? Ach, dieses dumme Frauenzimmer! Sie bildet sich ein, was sie da erzählt, sei furchtbar rührend, und ahnt gar nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist der betrunkene Proviantbeamte da weit klüger als diese Person. Bei ihm sieht man wenigstens ohne weiteres, daß er ein Liedrian ist und den letzten Rest seines Verstandes durch Trinken ruiniert hat; aber diese Deutschen haben alle so etwas Affektiertes, Ernsthaftes … Sehen Sie nur, wie sie dasitzt und die Augen aufreißt. Sie ärgert sich! Sie ärgert sich! Ha-ha-ha! Kche-kche-kche!«

Katerina Iwanowna, die nun sehr vergnügt geworden war, kam auf alles mögliche zu reden und begann unter anderm zu erzählen, wie sie mit Hilfe der erwirkten Witwenpension in ihrer Heimatstadt T… ganz bestimmt ein vornehmes Mädchenpensionat eröffnen werde. Hiervon hatte Raskolnikow aus Katerina Iwanownas eigenem Munde bisher noch nichts erfahren, und so erging sie sich denn alsbald in der Ausmalung der verlockendsten Einzelheiten. Auf einmal befand sich in ihren Händen (man wußte gar nicht, woher es so plötzlich gekommen war) eben jenes Belobigungszeugnis, das noch der verstorbene Marmeladow in der Schenke Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, als er ihm erzählte, daß seine Gattin Katerina Iwanowna bei der Entlassungsfeier aus dem Institut »in Gegenwart des Gouverneurs und andrer hoher Persönlichkeiten« den Schleiertanz getanzt habe. Dieses Belobigungszeugnis wollte Katerina Iwanowna augenblicklich offenbar dazu benutzen, ihre Berechtigung zur Gründung eines Pensionates nachzuweisen; hauptsächlich aber hatte sie es in der Absicht bereitgehalten, »den beiden aufgedonnerten Weibsbildern mit den langen Schleppen« gehörig das Maul zu stopfen, wenn sie zum Gedächtnismahle kämen, und Iwanowna stand vom Stuhle auf und bemerkte ihr in strengem Tone mit anscheinend ruhiger Stimme, wiewohl sie ganz blaß war und ihre Brust sich heftig hob und senkte: wenn sie sich noch ein einziges Mal erdreiste, ihren Lumpenkerl von Vater mit ihrem Papa auf eine Stufe zu stellen, so würde sie, Katerina Iwanowna, ihr die Haube abreißen und mit Füßen treten. Als Amalia Iwanowna das hörte, fing sie an im Zimmer hin und her zu rennen und schrie aus vollem Halse, sie sei die Wirtin und Katerina Iwanowna solle augenblicklich aus der Wohnung ausziehen. Dann stürzte sie zum Tische und raffte die silbernen Löffel zusammen. Ein gräßlicher Lärm und Skandal entstand; die Kinder fingen an zu weinen. Sonja bemühte sich, Katerina Iwanowna zurückzuhalten, aber als in Amalia Iwanownas Gekreische auch etwas von dem gelben Scheine vorkam, stieß Katerina Iwanowna Sonja von sich und stürzte auf Amalia Iwanowna los, um ihre Drohung betreffs der Haube unverzüglich zur Ausführung zu bringen. In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle des Zimmers erschien Pjotr Petrowitsch Lushin. Er stand einen Moment still und musterte mit scharfem, prüfendem Blicke die ganze Gesellschaft. Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin.

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Kapitel 29

III

»Pjotr Petrowitsch!« schrie sie. »Schützen Sie mich! Machen Sie dieser dummen Kreatur klar, daß sie sich nicht unterstehen darf, sich gegen eine vornehme Dame, die ins Unglück geraten ist, so zu benehmen; sagen Sie ihr, daß es ein Gericht gibt … An den Generalgouverneur selbst werde ich mich wenden … Sie wird sich zu verantworten haben … Gedenken Sie der Gastfreundschaft, die Sie bei meinem Vater genossen haben, und schützen Sie uns in unserer Verlassenheit!«

»Erlauben Sie, Madame … Erlauben Sie, erlauben Sie, Madame«, wehrte Pjotr Petrowitsch sie von sich ab. »Ihren Herrn Vater habe ich, wie Sie wissen, gar nicht die Ehre gehabt zu kennen … Erlauben Sie, Madame!« (Hier lachte jemand laut auf.) »Und mich in Ihre ewigen Zänkereien mit Amalia Iwanowna einzumengen liegt durchaus nicht in meiner Absicht … Mich führt eine eigne Angelegenheit her, und ich möchte sofort mit Ihrer Stieftochter Sofja … Iwanowna sprechen, so ist ja wohl der Name. Erlauben Sie mir, näherzutreten.«

Nach diesen Worten ging Pjotr Petrowitsch seitwärts um Katerina Iwanowna herum und begab sich in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Sonja befand.

Katerina Iwanowna blieb, wie vom Donner gerührt, starr auf demselben Fleck stehen. Es war ihr unbegreiflich, wie Pjotr Petrowitsch in Abrede stellen konnte, bei ihrem Papa Gastfreundschaft genossen zu haben. Nachdem sie sich die Geschichte von dieser Gastfreundschaft einmal ausgedacht hatte, glaubte sie selbst steif und fest daran. Und Pjotr Petrowitschs geschäftsmäßiger, trockner Ton, in dem sogar etwas Verächtliches, Drohendes lag, versetzte sie in Bestürzung. Auch die anderen Anwesenden waren bei seinem Erscheinen alle allmählich still geworden. Ganz abgesehen davon, daß dieser »ernste Geschäftsmann« einen schneidenden Kontrast gegen die ganze übrige Gesellschaft bildete, war auch klar, daß er aus irgendeinem wichtigen Anlasse gekommen war, daß nur eine außerordentliche Ursache ihn in diese Gesellschaft hatte führen können und daß somit gleich etwas passieren mußte. Raskolnikow, der neben Sonja stand, trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen; Pjotr Petrowitsch bemerkte ihn anscheinend gar nicht. Einen Augenblick darauf erschien auch Lebesjatnikow auf der Schwelle; ins Zimmer hinein kam er nicht, sondern blieb, lebhaft interessiert, beinahe verwundert, dort stehen; er hörte zu, schien aber lange Zeit aus dem, was da vorging, nicht klug zu werden.

»Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht störe; aber es ist eine ziemlich wichtige Angelegenheit«, bemerkte Pjotr Petrowitsch für alle Anwesenden, ohne sich an jemand im besonderen zu wenden. »Es ist mir sogar recht erwünscht, eine größere Zuhörerschaft zu haben. Amalia Iwanowna, ich bitte Sie in Ihrer Eigenschaft als Wirtin der Wohnung ganz ergebenst, dem Gespräche, das ich jetzt mit Sofja Iwanowna führen werde, Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sofja Iwanowna«, fuhr er fort, indem er sich nunmehr direkt an die höchst erstaunte und schon im voraus erschrockene Sonja wandte, »von meinem Tische im Zimmer meines Freundes Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow ist, wie sich unmittelbar nach Ihrem Besuche herausgestellt hat, eine mir gehörige Banknote im Werte von hundert Rubel verschwunden. Wenn Sie auf irgendwelche Weise wissen und uns zeigen, wo sie sich jetzt befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und nehme alle Anwesenden dafür als Zeugen, daß die Sache damit abgetan sein wird. Im entgegengesetzten Falle werde ich mich genötigt sehen, zu sehr ernsten Maßregeln zu greifen, und dann … würden Sie sich den Schaden selbst zuzuschreiben haben.«

Im Zimmer herrschte absolutes Schweigen. Sogar die weinenden Kinder waren still geworden. Sonja stand leichenblaß da, blickte Lushin an und war unfähig, etwas zu antworten. Sie schien ihn noch gar nicht verstanden zu haben. So vergingen einige Sekunden.

»Nun also, wie ist’s?« fragte Lushin und blickte sie fest an.

»Ich weiß nicht … ich weiß von nichts …«, erwiderte Sonja endlich mit schwacher Stimme.

»Nicht? Sie wissen es nicht?« fragte Lushin noch einmal und schwieg wieder ein paar Sekunden. »Besinnen Sie sich, Mademoiselle«, fuhr er dann in strengem Tone fort, aber immer noch so, als ob er ihr ins Gewissen redete, »denken Sie nach; ich bin gern bereit, Ihnen noch etwas Zeit zur Überlegung zu lassen. Bitte, erwägen Sie dies: wenn ich Interesse Ihrer armen Stiefmutter zu einer Besprechung ein; ich überreiche Ihnen eine meinen Verhältnissen entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich auf demselben Fleck, gleich in demselben Augenblick für all dies durch eine derartige Handlungsweise! Nein, das ist denn doch gar zu häßlich! Dafür müssen Sie eine Lektion erhalten. Nun überlegen Sie; ja, als Ihr aufrichtiger Freund (denn einen bessern Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben) bitte ich Sie: kommen Sie zur Besinnung! Sonst werde ich unerbittlich sein! Nun, wie ist’s?«

»Ich habe Ihnen nichts weggenommen«, flüsterte Sonja in höchstem Entsetzen. »Sie haben mir zehn Rubel gegeben; hier, bitte, nehmen Sie sie zurück.«

Sie zog ihr Taschentuch aus der Tasche, suchte den Knoten, knüpfte ihn auf, nahm den Zehnrubelschein heraus und hielt ihn Lushin hin.

»Und wegen der übrigen hundert Rubel wollen Sie kein Geständnis ablegen?« sagte er im Tone des Vorwurfs und der eindringlichen Mahnung, ohne die Banknote zu nehmen.

Sonja blickte um sich. Alle schauten mit so furchtbaren, strengen, spöttischen, feindseligen Gesichtern nach ihr hin. Sie richtete ihre Augen auf Raskolnikow, … dieser stand an der Wand, die Arme über der Brust verschränkt, und sah sie mit flammendem Blicke an.

»O Gott!« stöhnte sie unwillkürlich auf.

»Amalia Iwanowna, es wird erforderlich sein, die Polizei zu benachrichtigen, und deshalb bitte ich Sie ergebenst, zunächst den Hausknecht rufen zu lassen«, sagte Lushin leise und sogar in freundlichem Tone.

»Gott der Barmherzige! Das habe ich mir doch gedacht, daß sie stiehlt!« rief Amalia Iwanowna und schlug die Hände zusammen.

»So? Das haben Sie sich gedacht?« fragte Lushin schnell. »Also hatten Sie auch früher schon irgendwelche Gründe zu solcher Annahme. Ich bitte Sie, verehrteste Amalia Iwanowna, sich Ihrer Worte zu erinnern, die Sie ja übrigens auch in Gegenwart von Zeugen gesprochen haben.«

Auf allen Seiten erhob sich nun plötzlich lautes Reden. Alle kamen in lebhafte Bewegung.

»Wie? Wie?« schrie auf einmal Katerina Iwanowna, die von ihrer ersten Bestürzung wieder zu sich gekommen war, und stürzte wie ein Hund, der sich von der Kette losgerissen hat, auf Lushin zu. »Wie? Sie beschuldigen sie des Diebstahls? Meine Sonja? Oh, Sie Schurke, Sie Schurke!«

Sie eilte zu Sonja hin und umschlang sie fest, ganz fest mit ihren abgemagerten Armen.

»Sonja, wie hast du die zehn Rubel von ihm annehmen können! Oh, du Einfältige! Gib sie her! Gib gleich diese zehn Rubel her! Da! Nehmen Sie!«

Katerina Iwanowna riß Sonja die Banknote aus der Hand, knüllte sie zu einem Knäuel zusammen und schleuderte ihn, weit ausholend, Lushin gerade ins Gesicht. Der Knäuel traf ihn ins Auge und fiel zurückprallend auf den Fußboden. Amalia Iwanowna sprang hinzu und hob das Geld auf. Pjotr Petrowitsch wurde zornig.

»Haltet die Verrückte fest!« rief er.

In der Tür erschienen in diesem Augenblicke neben Lebesjatnikow noch einige Personen, zwischen denen auch die beiden neulich angekommenen Damen hervorschauten.

»Wie? Verrückt? Ich soll verrückt sein? Du Esel!« kreischte Katerina Iwanowna. »Du bist selbst ein Esel, ein Rechtsverdreher, ein grundgemeiner Mensch! Sonja, Sonja wird ihm Geld wegnehmen! Sonja eine Diebin! Eher könnte sie dir etwas geben, du Esel!« Katerina Iwanowna brach in ein hysterisches Lachen aus. »Habt ihr schon je einen solchen Esel gesehen?« wandte sie sich ringsum an alle und zeigte auf Lushin. »Wie? Du auch?« Es fiel ihr gerade die Wirtin in die Augen. »Du altes Hökerweib, auch du willst das bestätigen, daß sie gestohlen hat? Du greulicher preußischer Affe in der großen Krinoline! Oh, ihr Lumpenbande! Sie ist ja seitdem gar nicht aus dem Zimmer hinausgegangen; gleich als sie von dir, du Schurke, zurückkam, hat sie sich ganz in meiner Nähe an den Tisch gesetzt; das haben alle gesehen. Da neben Rodion Romanowitsch hat sie gesessen! Also visitiert sie doch! Da sie nirgends hingegangen ist, müßte sie ja das Geld noch bei sich haben! Visitiere sie nur, visitiere sie nur! Aber wenn du nichts findest, Freundchen, dann sollst du zur Verantwortung gezogen werden! Zum Zaren, zum Zaren selbst laufe ich hin; er ist barmherzig; ich werfe mich ihm zu Füßen, gleich, heute noch! Ich bin ein schutzloses Weib! Man wird mich vorlassen! Denkst du etwa, ich werde nicht vorgelassen werden? Da irrst du dich, ich werde schon zu ihm gelangen! Du hast wohl darauf gerechnet, daß sie so schüchtern ist? Darauf hast du wohl deine Hoffnung gesetzt? Aber dafür bin ich um so kühner, Brüderchen! Du wirst den kürzeren ziehen! So visitiere sie doch! Immer zu! Nur zu!«

Und Katerina Iwanowna packte in ihrer Wut Lushin an und zerrte ihn zu Sonja hin.

»Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen, und will die Verantwortung auf mich nehmen, … aber benehmen Sie sich ruhiger, Madame, benehmen Sie sich ruhiger. Daß Sie kühn sind, sehe ich nur zu gut … Indessen, eine Visitierung, … das … das … geht doch nicht so«, murmelte Lushin, »das muß in Gegenwart der Polizei geschehen, … es sind ja freilich auch jetzt Zeugen genug vorhanden … Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen … Aber in jedem Falle ist das für einen Mann eine mißliche Sache, … wegen des Geschlechts … Wenn es unter Amalia Iwanownas Beihilfe geschehen könnte, … allerdings ist das kein ordnungsmäßiges Verfahren … Sicherlich nicht!«

»Bestimmen Sie selbst, wer sie visitieren soll! Mag es tun, wer da will!« schrie Katerina Iwanowna. »Sonja, wende ihnen deine Taschen um! Da, da! Sieh, du Scheusal, da, sie ist leer, hier steckte das Taschentuch drin, die Tasche ist leer, siehst du! Da ist die andre Tasche, da, da! Siehst du, siehst du!«

Dabei wandte Katerina Iwanowna die beiden Taschen nacheinander um oder riß sie vielmehr nach außen. Aber aus der zweiten, der rechten Tasche, flog plötzlich eine Banknote heraus, beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel dann vor Lushins Füßen auf den Boden. Alle hatten es gesehen; viele schrien auf. Pjotr Petrowitsch bückte sich, nahm die Banknote mit zwei Fingern vom Fußboden auf, hob sie in die Höhe, so daß es alle sahen, und faltete sie auseinander. Es war ein auf den achten Teil seiner Größe zusammengelegter Hundertrubelschein. Pjotr Petrowitsch bewegte seinen Arm im Kreise herum und zeigte die Banknote allen.

»Eine Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« heulte Amalia Iwanowna. »Nach Sibirien müssen sie geschickt werden! Hinaus!«

Von allen Seiten erschollen Ausrufe des Staunens und der Entrüstung. Raskolnikow schwieg und wendete die Augen nicht von Sonja ab; nur selten warf er Lushin einen schnellen Blick zu. Sonja stand wie besinnungslos immer noch auf demselben Fleck; sie schien kaum erstaunt zu sein. Plötzlich übergoß eine glühende Röte ihr ganzes Gesicht; sie schrie auf und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Nein, ich bin es nicht gewesen! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!« rief sie mit einem herzzerreißenden Aufschrei und stürzte zu Katerina Iwanowna hin.

Diese schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich, als wollte sie sie mit ihrer Brust gegen alle verteidigen.

»Sonja, Sonja, ich glaube es nicht! Siehst du wohl, ich glaube es nicht!« rief sie, allem Augenschein zum Trotz, preßte sie immer wieder an sich wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, ergriff ihre Hände und bedeckte auch diese mit heißen Küssen. »Du solltest das genommen haben? Ach, was sind das für dumme Menschen! O Gott! Dumm seid ihr, dumm!« rief sie, zu allen gewendet. »Ihr wißt noch gar nicht, ihr habt keine Ahnung davon, was für ein Herz sie hat, ein wie gutes Mädchen sie ist! Sie sollte jemandem etwas wegnehmen, sie! Eher zieht sie sich das letzte Kleid vom Leibe und verkauft es und geht barfuß und gibt euch alles hin, wenn ihr in Not seid; so ist sie! Auch den gelben Schein hat sie nur deshalb genommen, weil meine Kinder vor Hunger umkamen; um unsertwillen hat sie sich verkauft! … Ach, du Dahingeschiedener! Ach, du Dahingeschiedener! Siehst du wohl? Siehst du wohl? Das ist nun dein Gedächtnismahl! O Gott! So verteidigt sie doch; was steht ihr alle da? Rodion Romanowitsch! Warum treten denn Sie, Sie nicht für sie ein? Glauben Sie es etwa auch? Ihr alle seid nicht so viel wert wie ihr kleiner Finger, ihr alle, ihr alle! O Gott! Schütze du sie doch endlich!«

Das Weinen der armen schwindsüchtigen, hilflosen Katerina Iwanowna schien doch auf die Anwesenden starken Eindruck zu machen. Es lag ein solcher Jammer, ein solches Leid in diesem schmerzverzerrten, abgemagerten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen eingeschrumpften, noch blutigen Lippen, in dieser heiser kreischenden Stimme, in diesem aufschluchzenden Weinen, das wie Kinderweinen klang, in diesem vertrauensvollen, kindlichen und dabei doch verzweifelten Flehen um Schutz, daß, wie es schien, alle mit der Unglücklichen Mitleid empfanden. Pjotr Petrowitsch wenigstens beeilte sich, »sein Bedauern auszusprechen«.

»Madame, Madame!« rief er mit erhobener Stimme. »Sie selbst werden ja durch das Geschehene gar nicht berührt! Niemand beschuldigt Sie der Anstiftung oder der Teilnehmerschaft, um so weniger, als Sie ja durch das Umwenden der Taschen die Überführung bewerkstelligt haben; daraus geht ja klar hervor, daß Sie nichts Übles vermuteten. Ich bin bereit, mein außerordentliches Bedauern auszusprechen, wenn, um mich so auszudrücken, es die bittre Armut gewesen ist, wodurch sich Sofja Semjonowna hat verleiten lassen; aber warum, Mademoiselle, wollten Sie denn kein Geständnis ablegen? Fürchteten Sie die Schande? Es war wohl Ihr erster Schritt gewesen? Sie waren vielleicht zu fassungslos? Alles begreiflich, sehr begreiflich! … Aber andrerseits, warum haben Sie sich auch auf solche Dinge eingelassen? Meine Herrschaften!« wandte er sich an alle Anwesenden, »meine Herrschaften! Aus Mitleid und sozusagen aus Teilnahme an diesem Schmerze bin ich bereit zu verzeihen, selbst jetzt noch, trotz der persönlichen Beleidigungen, die mir widerfahren sind. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Beschämung als Lehre für die Zukunft dienen«, wandte er sich an Sonja; »ich meinerseits werde von weiteren Maßregeln absehen; meinetwegen mag die Sache hiermit abgetan sein. Also genug davon!«

Pjotr Petrowitsch schielte verstohlen zu Raskolnikow hin; ihre Blicke begegneten einander. Raskolnikows flammender Blick drohte den andern zu Asche zu verbrennen. Katerina Iwanowna schien überhaupt nichts mehr gehört zu haben; sie umarmte und küßte Sonja wie eine Wahnsinnige. Auch die Kinder umschlangen von allen Seiten Sonja mit ihren Ärmchen, und Polenjka, die übrigens nicht recht verstand, worum es sich handelte, war ganz in Tränen aufgelöst, verging fast vor Schluchzen und verbarg ihr vom Weinen geschwollenes hübsches Gesichtchen an Sonjas Schulter.

»Ist das eine Gemeinheit!« rief plötzlich eine laute Stimme in der Tür.

Pjotr Petrowitsch blickte sich hastig um.

»Ist das eine Gemeinheit!« sagte Lebesjatnikow noch einmal und blickte ihm unverwandt in die Augen.

Pjotr Petrowitsch zuckte ordentlich zusammen. Alle bemerkten es und erinnerten sich dessen später. Lebesjatnikow trat ins Zimmer herein.

»Und Sie haben sich erdreistet, mich als Zeugen anzurufen?« sagte er, indem er auf Pjotr Petrowitsch zutrat.

»Was soll das bedeuten, Andrej Semjonowitsch? Wovon reden Sie?« murmelte dieser.

»Das bedeutet, daß Sie ein Verleumder sind! Das habe ich gemeint!« sagte Lebesjatnikow erregt und blickte ihn zornig mit seinen schwachsichtigen Augen an.

Er war furchtbar ergrimmt. Raskolnikow ließ keinen Blick von ihm, als ob er jedes Wort auffinge und auf die Waagschale legte. Wieder herrschte Schweigen. Pjotr Petrowitsch hatte fast ganz seine Fassung verloren, namentlich im ersten Augenblick.

»Wenn Sie mir damit …«, begann er stotternd. »Aber was haben Sie denn? Sind Sie bei Sinnen?«

»Ich bin schon bei Sinnen; aber Sie sind ein Schurke! Ach, was ist das für eine Gemeinheit! Ich habe hier jetzt den ganzen Vorgang mit angehört; ich habe absichtlich immer noch gewartet, um über die Sache völlig klarzuwerden; denn ich muß gestehen, selbst jetzt durchschaue ich den logischen Zusammenhang noch nicht ganz … Warum haben Sie denn eigentlich das alles getan? Das ist mir unbegreiflich!«

»Aber was soll ich denn getan haben? So hören Sie doch auf, in sinnlosen Rätseln zu sprechen! Oder sind Sie vielleicht betrunken?«

»Sie mögen vielleicht trinken, Sie gemeiner Mensch, ich nicht. Ich trinke überhaupt nie Schnaps, weil das meinen ganzen Anschauungen widerstreitet! Denken Sie sich«, hier wandte Lebesjatnikow sich an alle Anwesenden, »er selbst hat eigenhändig diesen Hundertrubelschein Sofja Semjonowna gegeben. Ich habe es gesehen, ich bin Zeuge, ich kann es beschwören! Er selbst, er selbst!«

»Sie sind wohl übergeschnappt, Sie Milchbart?« kreischte Lushin. »Da steht sie Ihnen ja selbst persönlich gegenüber, und sie selbst hat hier soeben in Gegenwart aller ausgesagt, daß sie außer den zehn Rubeln nichts von mir bekommen hat. Wie können Sie denn da behaupten, daß ich ihr den Schein gegeben hätte?«

»Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!« rief Lebesjatnikow nachdrücklich. »Und obwohl das Schwören meinen Anschauungen widerstreitet, so bin ich doch bereit, sofort vor Gericht jeden beliebigen Eid darauf abzulegen; denn ich habe gesehen, wie Sie ihr die Banknote heimlich zusteckten! Nur dachte ich Dummkopf, Sie wollten ihr damit eine Wohltat erweisen! Als Sie sich in der Tür von ihr verabschiedeten und sie sich umwandte und Sie ihr mit der einen Hand die Hand drückten, da haben Sie mit der andern Hand, mit der linken, ihr heimlich die Banknote in die Tasche gesteckt. Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!«

Lushin wurde blaß.

»Was schwatzen Sie da zusammen!« schrie er dreist. »Wie hätten Sie überhaupt, da Sie doch am Fenster standen, die Banknote erkennen können! Das war wohl eine Augentäuschung; Sie mit Ihrer Kurzsichtigkeit! Sie faseln!«

»Nein, es war keine Augentäuschung! Und obwohl ich weit weg stand, so habe ich doch alles gesehen, ja, alles; und obwohl es vom Fenster aus allerdings schwer war, die Banknote zu erkennen (darin haben Sie recht), so wußte ich doch infolge eines besonderen Zufalls genau, daß es gerade ein Hundertrubelschein war; denn als Sie Sofja Semjonowna den Zehnrubelschein gaben, da nahmen Sie (das habe ich selbst gesehen) gleichzeitig einen Hundertrubelschein vom Tische. Das habe ich gesehen, weil ich damals gerade in der Nähe stand; und da mir dabei sofort ein bestimmter Gedanke kam, so vergaß ich es nicht, daß Sie die Banknote in der Hand hatten. Sie hatten sie zusammengefaltet und hielten sie die ganze Zeit über in der geschlossenen Hand. Später hatte ich es schon beinahe wieder vergessen; aber als Sie aufstanden, nahmen Sie die Banknote aus der rechten Hand in die linke und hätten sie dabei beinahe fallenlassen; da erinnerte ich mich wieder, weil mir wieder derselbe Gedanke kam, daß Sie ihr nämlich, ohne daß ich es merken sollte, eine Wohltat erweisen wollten. Sie können sich vorstellen, wie ich nun aufpaßte – na, und da sah ich, wie es Ihnen gelang, ihr die Banknote in die Tasche zu schieben. Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen, und ich will es beschwören.«

Lebesjatnikow war fast außer Atem gekommen. Von allen Seiten erschollen Ausrufe verschiedener Art, meistens des Staunens; jedoch waren auch solche darunter, die einen drohenden Ton annahmen. Alle drängten sich zu Pjotr Petrowitsch hin. Katerina Iwanowna stürzte auf Lebesjatnikow zu.

»Andrej Semjonowitsch! Ich habe Sie verkannt! Beschützen Sie sie! Sie sind der einzige, der für sie eintritt! Sie ist eine Waise; Gott hat Sie ihr gesandt! Andrej Semjonowitsch, bester Freund, Väterchen!«

Bei diesen Worten warf sich Katerina Iwanowna, die kaum noch wußte, was sie tat, vor ihm auf die Knie.

»So ein Blödsinn!« schrie Lushin, rasend vor Wut. »Sie schwatzen Blödsinn, mein Herr! … ›Ich vergaß, ich erinnerte mich, ich erinnerte mich, ich vergaß‹, was hat das für Wert! Also ich hätte ihr die Banknote absichtlich zugesteckt? Wozu? Welchen Zweck sollte ich dabei gehabt haben? Was habe ich zu schaffen mit dieser …«

»Wozu? Das ist es ja eben, was ich selbst nicht verstehe; aber daß ich eine wahre Tatsache erzähle, das ist sicher! Ich irre mich ganz und gar nicht, Sie abscheulicher Mensch, Sie Verbrecher; ganz im Gegenteil erinnere ich mich genau, wie mir aus diesem Anlaß gleich damals eine bestimmte Frage in den Kopf kam, nämlich als ich Ihnen dankte und Ihnen die Hand drückte. Ich fragte mich nämlich, warum Sie es ihr eigentlich heimlich in die Tasche gesteckt hätten. Das heißt, warum gerade heimlich? Sollten Sie das wirklich nur deswegen getan haben, weil Sie es vor mir verheimlichen wollten, da Sie wußten, daß ich der entgegengesetzten Meinung bin und die private Wohltätigkeit verwerfe, die ja doch nie eine radikale Heilung herbeiführt? Na, ich kam schließlich zu der Meinung, Sie möchten sich wohl tatsächlich vor mir darüber schämen, daß Sie einen solchen Batzen Geld weggäben, und außerdem dachte ich, Sie wollten ihr vielleicht eine Überraschung bereiten und sie in Staunen versetzen, wenn sie in ihrer Tasche volle hundert Rubel fände; denn manche Wohltäter lieben es sehr, ihren Wohltaten in solcher Weise noch einen besonderen Anstrich zu geben; das weiß ich recht wohl. Dann kam mir auch der Gedanke, daß Sie sie vielleicht auf die Probe stellen wollten, ob sie wohl, wenn sie das Geld fände, kommen würde, um sich zu bedanken. Dann, daß Sie vielleicht dem Danke aus dem Wege gehen wollten, … na, wie man so sagt, daß die rechte Hand nicht wissen soll, … kurz, etwas in dieser Art. Nun also, es kamen mir damals eine ganze Menge verschiedener Gedanken in den Sinn, so daß ich beschloß, über alles dies später nachzudenken; ich hielt es aber für taktlos, Ihnen gegenüber zu äußern, daß ich um Ihr Geheimnis wisse. Gleich darauf jedoch fiel mir ein, Sofja Semjonowna könnte am Ende gar das Geld verlieren, ehe sie von seinem Vorhandensein etwas gemerkt hätte; darum beschloß ich, hierherzugehen, sie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß ihr ein Hundertrubelschein in die Tasche gesteckt worden sei. Da ich aber dabei an dem Zimmer der Kobyljatnikowschen Damen vorbeikam, so ging ich vorher noch zu ihnen hinein, um ihnen die ›Allgemeine Kritik der positiven Methode‹ zu überbringen und ihnen besonders einen Artikel von Piderit (übrigens auch einen von Wagner) zu empfehlen; dann kam ich hierher und wurde hier Zeuge dieser abscheulichen Szene! Hätte ich denn nun alle diese Gedanken haben, alle diese Überlegungen anstellen können, wenn ich nicht tatsächlich gesehen hätte, daß Sie ihr die hundert Rubel in die Tasche steckten?«

Als Andrej Semjonowitsch seine wortreichen Erläuterungen mit einer so logischen Folgerung abgeschlossen hatte, war er ganz matt geworden, und der Schweiß rann ihm vom Gesichte. Denn leider besaß er nicht die Fähigkeit, seine Gedanken auf russisch klar und deutlich darzulegen (übrigens beherrschte er auch keine andere Sprache), so daß er jetzt nach seiner sachwalterischen Großtat auf einmal ganz erschöpft war; ja, es sah sogar so aus, als ob er davon magerer geworden wäre. Trotzdem hatte sein Rede ganz außerordentlich gewirkt. Er hatte mit so lebhaftem Affekt und in so echtem Tone eigener Überzeugung gesprochen, daß ihm offenbar alle glaubten. Pjotr Petrowitsch fühlte, daß seine Sache schlecht stand.

»Was kümmert es mich, was Ihnen da für dumme ›Fragen‹ in den Kopf gekommen sind«, rief er. »Das ist kein Beweis! Das können Sie alles geträumt haben; weiter nichts! Und ich sage Ihnen, mein Herr, daß Sie lügen! Sie lügen und verleumden mich, weil Sie auf mich wütend sind, namentlich aus Ärger darüber, daß ich von Ihren freidenkerischen, gottlosen sozialen Plänen nichts wissen wollte. Das ist der ganze Grund!«

Aber diese Ausrede brachte ihm keinen Nutzen; im Gegenteil, auf allen Seiten wurde ein unwilliges Murren laut.

»Aha, so willst du dich herausreden!« rief Lebesjatnikow. »Aber da irrst du dich! Rufe nur die Polizei, dann will ich einen Eid schwören! Nur das eine kann ich nicht begreifen: warum er eine so gemeine Handlung riskiert hat! So ein abscheulicher, niederträchtiger Mensch!«

»Ich kann es erklären, warum er eine solche Handlung gewagt hat, und werde nötigenfalls auch meinerseits einen Eid ablegen«, sagte nun endlich Raskolnikow mit fester Stimme und trat vor.

Er war anscheinend ruhig und festen Sinnes. Schon bei seinem bloßen Anblicke wurde es allen klar, daß er wirklich wußte, wie die Sache zusammenhing, und daß die Lösung des Rätsels jetzt erfolgen werde.

»Jetzt ist mir alles völlig verständlich geworden«, fuhr Raskolnikow fort und wandte sich dabei direkt an Lebesjatnikow. »Gleich vom Beginne dieser Szene an argwöhnte ich, daß irgendein schändlicher Betrug dahinterstecke; dieser Argwohn gründete sich auf gewisse besondere Umstände, der kleine Finger von Sofja Semjonowna, über die er so abfällig gesprochen habe. Auf seine Frage, ob ich wohl Sofja Semjonowna auffordern würde, neben meiner Schwester Platz zu nehmen, antwortete ich, daß ich es bereits an eben dem Tage getan hätte. Erbittert darüber, daß meine Mutter und meine Schwester nicht auf seine Verleumdungen hin sich mit mir verfeinden wollten, sagte er ihnen im weiteren Wortwechsel unverzeihliche Frechheiten. Es kam zu einem vollständigen Bruche, und er wurde aus dem Hause gewiesen. Alles dies begab sich gestern abend. Jetzt bitte ich Sie, ganz besonders aufzumerken: Stellen Sie sich vor, es wäre ihm jetzt gelungen, zu beweisen, daß Sofja Semjonowna eine Diebin sei, so hätte er doch damit zugleich meiner Mutter und meiner Schwester bewiesen, daß er mit seiner üblen Beurteilung nahezu recht gehabt habe und daß er mit Fug und Recht über die von mir vorgenommene Gleichstellung meiner Schwester mit Sofja Semjonowna empört gewesen sei und daß er somit durch einen Angriff auf mich die Ehre meiner Schwester, seiner Braut, verteidigt und geschützt habe. Kurz, durch alles dies hätte er mich mit meinen Angehörigen entzweien können, und er hoffte bestimmt, auf diese Art wieder mit ihnen in ein freundliches Verhältnis zu gelangen. Davon will ich schon gar nicht einmal reden, daß er sich dabei auch an mir persönlich rächen wollte, weil er Grund zu der Annahme hatte, daß Sofja Semjonownas Ehre und Glück mir sehr teuer seien. Das also war sein ganzer wohlüberlegter Plan! So fasse ich die Sache auf. Das war der ganze Grund für sein Handeln; ein anderer kann nicht existieren.«

So oder ungefähr so schloß Raskolnikow seine Rede, die oftmals durch Ausrufe seiner aufmerksamen Zuhörer unterbrochen worden war. Aber trotz aller Unterbrechungen hatte er energisch, ruhig, bestimmt, klar und fest gesprochen. Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein ernster Gesichtsausdruck machten auf alle einen gewaltigen Eindruck.

»Ja, ja, so muß es gewesen sein!« pflichtete ihm Lebesjatnikow, ganz hingerissen, bei. »So muß es gewesen sein; denn gleich nachdem Sofja Semjonowna zu uns ins Zimmer getreten war, fragte er mich ausdrücklich, ob Sie hier wären, ob ich Sie unter Katerina Iwanownas Gästen gesehen hätte. Er rief mich dazu beiseite, ans Fenster, und fragte mich dort leise. Folglich war ihm für die Ausführung seines Vorhabens Ihre Anwesenheit notwendig. Das ist richtig, das ist alles ganz richtig!«

Lushin schwieg und lächelte verächtlich. Indes sah er sehr blaß aus. Er schien zu überlegen, wie er sich wohl aus der Affäre ziehen könnte. Vielleicht hätte er mit Vergnügen alles auf sich beruhen lassen und wäre davongegangen; aber das war im gegenwärtigen Augenblicke so gut wie unmöglich; damit hätte er geradezu die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zugegeben, auch in dem Punkte, daß er Sofja Semjonowna verleumdet habe. Außerdem war das Publikum, das sowieso schon angetrunken war, allzu aufgeregt. Der Proviantbeamte, der übrigens nicht alles verstanden hatte, schrie am allermeisten und brachte einige Maßnahmen in Vorschlag, die für Lushin sehr unangenehm gewesen wären. Es standen aber auch Leute da, die nicht betrunken waren; denn aus allen Zimmern waren die Mieter zusammengeströmt. Die drei Polen zeigten sich besonders ergrimmt und schrien ihm fortwährend zu: »Pan łajdak!« (Sie Lump!), wobei sie noch allerlei Drohungen auf polnisch murmelten. Sonja hatte gespannt zugehört, schien aber gleichfalls nicht alles verstanden zu haben; sie machte den Eindruck, als sei sie soeben aus einer Ohnmacht erwacht. Sie wandte ihre Augen von Raskolnikow nicht ab, in dem Gefühle, daß er ihr einziger Schutz sei. Katerina Iwanowna atmete mühsam und pfeifend und befand sich allem Anscheine nach in einem Zustande furchtbarer Erschöpfung. Am dümmsten stand Amalia Iwanowna da; sie hielt den Mund geöffnet und konnte offenbar aus der Sache absolut nicht schlau werden. Das einzige, was sie begriff, war, daß Pjotr Petrowitsch irgendwie in die Klemme geraten sein müsse. Raskolnikow bat, noch etwas hinzufügen zu dürfen; aber man ließ ihn nicht weiterreden; alle schrien und drängten sich unter Schimpfworten und Drohungen um Lushin herum. Dieser aber zeigte sich nicht feige. Da er sah, daß er bezüglich der gegen Sonja erhobenen Beschuldigung sein Spiel verloren hatte, so nahm er seine Zuflucht ohne weiteres zur Unverschämtheit.

»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie; drängen Sie nicht so; lassen Sie mich hindurch!« sagte er, indem er sich durch den Haufen hindurcharbeitete. »Und tun Sie mir den Gefallen, Ihre Drohungen zu unterlassen; ich versichere Ihnen, das ist ganz zwecklos, Sie erreichen dadurch nichts; ängstlich bin ich nicht; im Gegenteil werden Sie, meine Herren, dafür zur Verantwortung gezogen werden, daß Sie ein Kriminalvergehen in Schutz genommen haben. Die Diebin ist völlig überführt, und ich werde die Sache weiter verfolgen. Die Herren vom Gericht sind nicht so blind und … nicht betrunken und werden nicht zwei solchen notorischen Gottesleugnern, Revolutionären und Freidenkern Glauben schenken, die mich aus persönlicher Rachsucht beschuldigen, was sie ja in ihrer Dummheit selbst eingestehen … Also erlauben Sie!«

»Ziehen Sie sofort aus meinem Zimmer aus und lassen Sie sich nie wieder bei mir blicken; zwischen uns beiden ist alles zu Ende! Und wenn ich bedenke, wie ich mich abgequält habe, ihm unser ganzes System auseinanderzusetzen, … volle zwei Wochen lang! …«

»Ich habe Ihnen doch vorhin, als Sie mich noch zurückhalten wollten, selbst gesagt, Andrej Semjonowitsch, daß ich auszuziehen beabsichtigte; jetzt füge ich nur noch hinzu, daß Sie ein Dummkopf sind. Ich wünsche Ihnen guten Erfolg für eine Kur Ihrer physischen und geistigen Sehkraft. Erlauben Sie, meine Herren!«

Er drängte sich durch; aber ihn so leichten Kaufs, lediglich unter Schimpfwörtern, wegzulassen, das war nicht im Geschmacke des Proviantbeamten; er nahm ein Glas vom Tische, holte aus und warf damit nach Pjotr Petrowitsch. Indessen flog das Glas Amalia Iwanowna gerade an den Kopf. Sie kreischte auf; der Proviantbeamte aber, der bei dem Schwunge das Gleichgewicht verloren hatte, sank schwerfällig unter den Tisch. Pjotr Petrowitsch begab sich in sein Zimmer und hatte bereits eine halbe Stunde darauf das Haus verlassen. Die von Natur ängstliche Sonja hatte schon von jeher gewußt, daß niemand leichter ins Verderben zu bringen war als sie und daß jeder sie fast straflos beleidigen konnte; trotzdem aber hatte sie es bis auf diese Stunde für möglich gehalten, dem Unglück durch Vorsicht, durch Sanftmut und durch Demut allen und jedem gegenüber zu entgehen. Die jetzige Enttäuschung war ihr gar zu schmerzlich. Sie war allerdings imstande, geduldig und ohne Murren alles, auch dies, zu ertragen; aber im ersten Augenblicke fiel es ihr doch gar zu schwer. Als der erste Schreck und die erste Betäubung vorüber waren und sie alles begriff und sich vergegenwärtigte, da preßte ihr, trotz ihres Triumphes und des völligen Beweises ihrer Schuldlosigkeit, das Gefühl der Hilflosigkeit und der erlittenen Kränkung doch das Herz qualvoll zusammen. Ein Weinkrampf befiel sie. Schließlich konnte sie es nicht länger aushalten; sie stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause. Das geschah, gleich nachdem Lushin weggegangen war. Amalia Iwanowna mochte, als ihr unter lautem Gelächter der Anwesenden das Glas gegen den Kopf flog, es auch nicht ruhig hinnehmen, daß sie so für fremde Sünden büßen sollte. Kreischend stürzte sie wie eine Rasende auf Katerina Iwanowna los, der sie die Schuld an allem beimaß.

»Hinaus aus der Wohnung! Augenblicklich! Marsch, hinaus!«

Mit diesen Worten fing sie an, alles, was ihr von Katerina Iwanownas Sachen unter die Hände kam, auf dem Fußboden auf einen Haufen zusammenzuwerfen. Katerina Iwanowna, ohnehin schon völlig erschöpft, halb ohnmächtig, atemlos und blaß, sprang von dem Bette, auf das sie kraftlos niedergesunken war, in die Höhe und warf sich auf Amalia Iwanowna. Aber der Kampf war zu ungleich; Amalia Iwanowna stieß sie wie eine Feder von sich.

»Wie? Nicht genug daran, daß man uns auf das gottloseste verleumdet hat, will auch diese Kreatur ihr Mütchen an mir kühlen? Wie? Am Begräbnistage meines Mannes, nachdem sie eben an meinem gastlichen Tische gesessen hat, jagt sie mich aus der Wohnung, auf die Straße, mit den vaterlosen Waisen? Ja, wo soll ich denn bleiben?« stöhnte das arme Weib schluchzend und keuchend. »O Gott!« rief sie auf einmal, und ihre Augen funkelten, »gibt es denn keine Gerechtigkeit? Wenn du uns arme Verlassene nicht schützest, wen willst du denn dann schützen? Aber wir wollen einmal sehen! Es gibt noch Recht und Gerechtigkeit auf der Welt, und ich werde sie zu finden wissen! Und sofort! Warte nur, du gottloses Geschöpf! Polenjka, bleibe bei den Kindern; ich komme bald wieder. Wartet auf mich, wenn’s nicht anders ist, auf der Straße! Wir wollen doch einmal sehen, ob es noch Gerechtigkeit auf der Welt gibt!«

Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne Tuch von drap de dame um den Kopf, das der verstorbene Marmeladow in seiner Erzählung Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, drängte sich durch den wüsten, betrunkenen Schwarm der Gäste hindurch, die noch immer das Zimmer füllten, und lief weinend und wehklagend auf die Straße hinaus, in der festen Absicht, irgendwo sofort unter allen Umständen und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden. Polenjka verkroch sich in ihrer Angst mit den Kindern in die Ecke auf den Kasten, umschlang, am ganzen Leibe zitternd, die beiden Kleinen und wartete so auf die Rückkehr der Mutter. Amalia Iwanowna tobte im Zimmer umher, kreischte, jammerte, schleuderte alles, was ihr in die Hände kam, auf den Fußboden und vollführte einen greulichen Spektakel. Die Mieter schrien durcheinander: manche redeten über das Vorgefallene, soweit sie es verstanden hatten; andere zankten sich und beschimpften sich; einige fingen an zu singen.

»Jetzt wird es auch für mich Zeit«, dachte Raskolnikow. »Nun wollen wir einmal sehen, Sofja Semjonowna, was Sie jetzt sagen werden!«

Er ging nach Sonjas Wohnung.

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Kapitel 3

III

Am andern Tage erwachte er erst spät, nach einem unruhigen Schlafe, der ihn nicht gekräftigt hatte. Er erwachte in verbitterter, gereizter, ingrimmiger Stimmung und blickte sich mit wahrem Hasse in seinem Kämmerchen um. Dies war ein winziger Käfig, sechs Schritte lang, der mit seiner gelblichen, verstaubten, sich überall von der Wand loslösenden Tapete einen überaus kläglichen Eindruck machte und so niedrig war, daß es einem nur einigermaßen hochgewachsenen Manne darin bange wurde und er jeden Augenblick befürchten mußte, mit dem Kopfe an die Decke zu stoßen. Das Mobiliar paßte zu der Räumlichkeit: es waren drei alte, etwas defekte Stühle da; in einer Ecke ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon an der Staubschicht, die sie bedeckte, war zu erkennen, daß seit langer Zeit keines Menschen Hand sie mehr berührt hatte; endlich ein plumpes, großes Sofa, das beinahe die ganze Längswand und die halbe Breite des Zimmers einnahm; einstmals war es mit Kattun überzogen gewesen, von dem aber jetzt nur Fetzen übrig waren; es diente dem Bewohner als Bett. Oft schlief er darauf so, wie er gerade war, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, mit seinem alten, abgenutzten Studentenpaletot zugedeckt, unter dem Kopfe nur ein kleines Kissen, unter welches er alles, was er an reiner und getragener Wäsche besaß, herunterpackte, um es am Kopfe etwas höher zu haben. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen.

Schwerlich konnte jemand tiefer sinken und mehr verkommen; aber Raskolnikow empfand dies in seinem jetzigen Gemütszustande sogar als angenehm. Er hatte sich von allen Menschen völlig zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Magd, die die Aufwartung zu besorgen hatte und manchmal einen Blick in sein Zimmer warf, erregte ihm die Galle und reizte ihn zu Krämpfen. Es ist das eine häufige Erscheinung bei Leuten, die an einer bestimmten fixen Idee leiden und ihre Gedanken immer nur auf diesen einen Punkt richten. Seine Wirtin hatte schon vor zwei Wochen aufgehört, ihm Essen zu verabfolgen; aber er hatte noch gar nicht daran gedacht, hinzugehen und sich mit ihr darüber auseinanderzusetzen, obwohl er seitdem eben kein Mittagbrot hatte. Nastasja, die Köchin und einzige Magd der Wirtin, war in gewisser Hinsicht mit dieser Stimmung des Mieters ganz zufrieden; sie hatte nämlich vollständig aufgehört, bei ihm aufzuräumen und auszufegen, und nur so etwa einmal wöchentlich, wenn es sich gerade traf, griff sie nach dem Besen. Sie war es auch, die ihn jetzt weckte.

»Steh auf! Was schläfst du denn noch?« rief sie, neben ihm stehend. »Es ist schon neun durch. Ich habe dir Tee gebracht; willst du ein bißchen Tee trinken? Du bist wohl schon ganz verhungert?«

Raskolnikow öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja.

»Den Tee schickt mir wohl die Wirtin?« fragte er und richtete sich langsam und mit schmerzlichem Gesichtsausdrucke auf dem Sofa auf.

»Die Wirtin wird dir gerade Tee schicken!«

Sie stellte ihre eigene Teekanne, die einen großen Sprung hatte, mit einem zweiten Aufguß vor ihn hin und legte zwei Stückchen gelben Zuckers dazu.

»Hier, Nastasja«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht und ein Häufchen Kupfermünzen hervorgeholt hatte (er hatte in seinen Kleidern geschlafen), »nimm das und geh und kaufe mir Semmeln. Und bringe auch vom Fleischer ein Stückchen Wurst mit, billige.«

»Semmeln will ich dir gleich holen, aber willst du nicht statt der Wurst lieber Kohlsuppe? Sehr gute Kohlsuppe, von gestern. Ich hatte schon gestern welche für dich beiseite gestellt, aber du kamst erst so spät nach Hause. Sehr gute Kohlsuppe!«

Als sie die Kohlsuppe gebracht hatte und er zu essen begann, setzte sich Nastasja neben ihn auf das Sofa und fing an zu plaudern. Sie war vom Lande und sehr redselig.

»Praskowja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen«, sagte sie.

Er zog das Gesicht finster zusammen.

»Bei der Polizei? Warum denn?«

»Du bezahlst nicht und ziehst auch nicht aus. Ist doch klar.«

›Zum Teufel, das hat gerade noch gefehlt!‹ murmelte er zähneknirschend. ›Nein, das ist mir jetzt … sehr ungelegen.‹ – »So ein dummes Frauenzimmer«, fügte er laut hinzu. »Ich werde heute mal zu ihr hingehen und mit ihr sprechen.«

»Dumm mag sie schon sein, gerade so wie ich; aber du bist doch nun so ein kluger Mensch und liegst immer da wie ein Sack, und man sieht nicht, daß du etwas schaffst. Früher gingst du Kinder unterrichten, wie du sagst; warum tust du denn jetzt gar nichts?«

»Ich tue doch etwas …«, erwiderte Raskolnikow mißmutig und finster.

»Na, was denn?«

»Ich habe eine Arbeit vor.«

»Was denn für eine Arbeit?«

»Ich denke«, antwortete er nach einer kurzen Pause ernst.

Nastasja wälzte sich ordentlich vor Lachen. Sie war sehr lachlustig, und wenn sie einmal ins Lachen kam, so lachte sie lautlos, mit dem ganzen Körper sich schüttelnd und schaukelnd, bis sie nicht mehr konnte.

»Du hast dir wohl schon viel Geld verdient mit dem Denken?« vermochte sie endlich herauszubringen.

»Wenn man keine Stiefel hat, kann man keine Stunden geben. Übrigens pfeife ich darauf.«

»Die Leute sagen: Spuck nicht in den Brunnen, aus dem du trinken mußt.«

»Für solche Privatstunden bekommt man einen Quark. Was soll ich mit so ein paar Kopeken?« fuhr er verdrossen fort, wie wenn er seine eigenen Gedanken beantwortete.

»Du möchtest wohl gleich mit einem Male ein ganzes Kapital verdienen?«

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu.

»Ja, ein ganzes Kapital«, erwiderte er nach kurzem Überlegen entschieden.

»Na, mach’s nur lieber so ganz allmählich, sonst muß man sich ja vor dir fürchten. Das klingt ja ganz schrecklich. Soll ich nun Semmeln holen oder nicht?«

»Wie du willst.«

»Ja, das hatte ich ganz vergessen: während du gestern fort warst, ist ein Brief für dich angekommen.«

»Ein Brief? An mich? Von wem?«

»Von wem, weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei Kopeken von meinem Gelde gegeben. Die gibst du mir doch wieder, nicht wahr?«

»So hole mir doch den Brief, um Gottes willen, hol ihn her!« rief Raskolnikow in größter Aufregung. »O Gott!«

Einen Augenblick darauf war der Brief zur Stelle. Wirklich: von seiner Mutter, aus dem Gouvernement R…! Er wurde blaß, als er ihn in Empfang nahm. Schon seit langer Zeit hatte er keinen Brief erhalten; aber jetzt machte ihm plötzlich noch etwas anderes das Herz beklommen.

»Bitte, geh hinaus, Nastasja! Da sind deine drei Kopeken; nur geh recht schnell hinaus, ich bitte dich dringend«

Der Brief zitterte ihm in den Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Gegenwart aufmachen; es verlangte ihn, mit diesem Briefe allein zu sein. Sobald Nastasja hinausgegangen war, führte er ihn schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann betrachtete er noch lange die Handschrift der Adresse, die ihm so wohlbekannte und liebe, feine, schräge Handschrift seiner Mutter, seiner Mutter, die ihn einst lesen und schreiben gelehrt hatte. Er zauderte; es war sogar, wie wenn er sich vor etwas fürchtete. Endlich öffnete er ihn; es war ein großer, dicker Brief von zwei Lot; zwei große Briefbogen waren mit kleiner Schrift ganz vollgeschrieben.

»Mein lieber Rodja«, schrieb die Mutter, »es sind schon mehr als zwei Monate, daß ich mich nicht brieflich mit Dir unterhalten habe; das ist mir selbst sehr schmerzlich gewesen, und ich habe sogar manche Nacht vor allerlei Gedanken nicht geschlafen. Du wirst mir aber gewiß wegen dieses meines unfreiwilligen Schweigens nicht böse sein. Du weißt ja, wie ich Dich liebe; Du bist mir und Dunja unser ein und alles, unsere ganze Hoffnung, unsere Zuversicht. Wie war mir zumute, als ich erfuhr, daß Du schon seit einigen Monaten aus Mangel an Existenzmitteln die Universität verlassen hast und daß Deine Privatstunden und sonstigen Erwerbsquellen aufgehört haben! Wie konnte ich Dir mit meinen hundertundzwanzig Rubeln in dieser Hinsicht Dunjetschka gesagt, sie könne sich auf sich selbst verlassen; es sei kein Grund vorhanden, sich darüber zu beunruhigen, und sie könne vieles ertragen, unter der Voraussetzung, daß in ihren wechselseitigen Beziehungen immer Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrsche. Er schien mir anfangs auch etwas schroff; aber das kann ja auch gerade daher kommen, weil er ein freimütiger, redlicher Mensch ist, und so wird es gewiß sein. Zum Beispiel bei seinem zweiten Besuche, als er schon das Jawort erhalten hatte, bemerkte er im Gespräche, er habe schon früher, noch ehe er Dunja gekannt habe, sich vorgenommen, ein ehrenhaftes Mädchen, aber ohne Mitgift, zu nehmen, und unbedingt eine solche, die schon die Armut aus eigener Erfahrung kenne; denn, wie er uns auseinandersetzte, der Mann müsse seiner Frau nichts zu verdanken haben; weit besser sei es, wenn die Frau den Mann als ihren Wohltäter betrachte. Ich muß hinzufügen, daß er sich etwas milder und freundlicher ausdrückte, als ich es hier geschrieben habe; denn ich habe den eigentlichen Wortlaut vergessen und erinnere mich nur noch an den Sinn, und überdies sagte er das ganz und gar nicht nach vorheriger Überlegung, sondern weil er beim Reden so in Zug gekommen war, im Eifer des Gespräches, so daß er sich sogar nachher bemühte, es zu korrigieren und abzuschwächen. Aber mir kam das doch ein wenig schroff vor, und ich äußerte nachher diese meine Empfindung Dunja gegenüber. Aber Dunja antwortete mir sogar ärgerlich: ›Worte sind noch keine Taten‹, und das ist gewiß richtig. Dunja hat die ganze Nacht, bevor sie sich dazu entschloß, schlaflos zugebracht; in dem Glauben, daß ich schon schliefe, stand sie vom Bette auf und ging die ganze Nacht über im Zimmer hin und her; zuletzt kniete sie vor dem Heiligenbilde nieder und betete lange und mit heißer Inbrunst; am Morgen erklärte sie mir dann, sie habe sich dazu entschlossen.

Ick habe schon erwähnt, daß Pjotr Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg begeben wird. Er hat dort wichtige Geschäfte Wiedersehen und gebe Dir meinen mütterlichen Segen. Lieber Rodja, liebe Deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie Dich liebt, und sei Dir bewußt, daß sie Dich grenzenlos liebt, mehr als sich selbst. Sie ist ein Engel, und Du, Rodja, bist unser ein und alles, unsere ganze Hoffnung, unsere ganze Zuversicht. Wenn Du nur glücklich bist, dann sind wir es auch. Betest Du auch wohl wie früher zu Gott, lieber Rodja, und glaubst Du an die Gnade unsres Schöpfers und Erlösers? Ich fürchte in meinem Herzen, daß auch Du Dich von dem Unglauben, der in neuester Zeit Mode geworden ist, habest anstecken lassen. Wenn es so sein sollte, dann will ich für Dich beten. Denke daran, mein Sohn, wie Du damals, als Du noch ein Kind warst und Dein Vater noch lebte, auf meinem Schoße Deine Gebete lalltest und wie glücklich wir damals alle waren. Adieu, oder vielmehr: auf Wiedersehen! Ich umarme Dich von ganzem, ganzem Herzen und küsse Dich unzählige Male.

Deine bis in den Tod getreue
Pulcheria Raskolnikowa.«

Fast die ganze Zeit, während Raskolnikow las, vom Anfang des Briefes an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er aber bis zum Schlüsse gelangt war, war es bleich und krampfhaft verzerrt, und ein trübes, bitteres, ingrimmiges Lächeln spielte auf seinen Lippen. Er legte sich mit dem Kopfe auf sein dünnes, abgenutztes Kissen und dachte lange, lange nach. Heftig schlug ihm das Herz, und heftig wogten seine Gedanken hin und her. Schließlich wurde es ihm zu schwül und zu eng in diesem gelben Kämmerchen, das wie ein Schrank oder wie ein Koffer aussah. Sein Blick und seine Gedanken verlangten nach freiem Räume. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne sich davor zu fürchten, daß er jemandem auf der Treppe begegnen könnte; dieser Gedanke kam ihm gar nicht. Er schlug die Richtung nach der Wassilij-Insel ein, den W…-Prospekt entlang, als hätte er einen eiligen Geschäftsgang dorthin, ging aber nach seiner Gewohnheit, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hin flüsternd und sogar laut mit sich redend, worüber sich die Vorübergehenden nicht wenig wunderten. Viele hielten ihn für betrunken.

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Kapitel 24

IV

Raskolnikow aber ging geradeswegs nach dem Hause am Kanal, wo Sonja wohnte. Es war ein altes zweistöckiges, grün angestrichenes Haus. Er suchte den Hausknecht auf, der ihm so ungefähr beschrieb, wo der Schneider Kapernaumow wohne. Auf dem Hofe fand er in einer Ecke den Eingang zu einer engen, dunklen Treppe, gelangte auf ihr, langsam hinaufsteigend, endlich zum ersten Stockwerk und trat auf eine Galerie hinaus, die an diesem Stockwerk auf der Hofseite hinlief. Während er in der Dunkelheit umhertappte, ohne den Eingang zu Kapernaumows Wohnung finden zu können, wurde plötzlich drei Schritte von ihm entfernt eine Tür geöffnet; ganz mechanisch trat er hinzu und faßte nach ihr.

»Wer ist da?« fragte ängstlich eine weibliche Stimme.

»Ich bin es, … ich wollte zu Ihnen«, antwortete Raskolnikow und trat in ein winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle ein Licht in einem verbogenen Messingleuchter.

»Sie sind es! O Gott!« rief Sonja mit schwacher Stimme und blieb wie erstarrt stehen.

»Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?«

Raskolnikow vermied es, sie anzusehen, und trat schnell in das Zimmer.

Einen Augenblick darauf kam auch Sonja mit dem Lichte herein, stellte das Licht hin und blieb selbst ganz fassungslos vor ihm stehen; sie befand sich in unbeschreiblicher Aufregung und war über seinen unerwarteten Besuch augenscheinlich im höchsten Grade erschrocken. Plötzlich übergoß tiefe Röte ihr bleiches Gesicht, und die Tränen traten ihr in die Augen … Sie fühlte sich sehr bedrückt und schämte sich und empfand dabei doch eine Art von wonniger Freude … Raskolnikow wendete sich schnell von ihr ab und setzte sich auf einen Stuhl am Tische. Mit einem schnellen Blicke musterte er das Zimmer.

Das Zimmer war groß, aber außerordentlich niedrig; es war das einzige, welches Kapernaumows vermieteten; die zu ihnen führende Tür befand sich in der Wand links und war geschlossen. Gegenüber, in der Wand rechts, befand sich noch eine andre Tür, die fest zugenagelt war. Dort lag schon eine andre Wohnung, die Nachbarwohnung, die eine andre Nummer hatte. Sonjas Zimmer glich einer Scheune; es bildete ein ganz unregelmäßiges Viereck, wodurch es sehr mißgestaltet aussah. Die nach dem Kanal zu gelegene Wand, welche drei Fenster hatte, verlief schräg; infolgedessen verlor sich die eine sehr spitze Ecke des Zimmers ganz im Hintergrunde, so daß man sie bei der schwachen Beleuchtung gar nicht einmal ordentlich erkennen konnte; die andre Ecke dagegen war in häßlichem Grade stumpf. In diesem ganzen großen Zimmer standen fast gar keine Möbel. In der Ecke rechts stand ein Bett; daneben, mehr nach der Tür zu, ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett war, stand dicht an der nach der fremden Wohnung führenden Tür ein einfacher Brettertisch; darüber lag eine blaue Decke; neben dem Tische standen zwei Rohrstühle. Ferner stand an der gegenüberliegenden Wand in der Nähe der spitzen Ecke eine kleine Kommode aus einfachem Holze, die in dem leeren Raume wie verloren aussah. Das war alles, was sich im Zimmer befand. Die gelbliche, abgenutzte und zerrissene Tapete war überall in den Zimmerecken schwarz geworden, was darauf schließen ließ, daß es hier im Winter feucht und muffig war. Die Ärmlichkeit war überall sichtbar: es fehlte sogar am Bette der Vorhang.

Sonja blickte den Besucher schweigend an, der ihr Zimmer so aufmerksam und ungeniert betrachtete, und fing schließlich vor Furcht an zu zittern, als stände sie vor einem Richter, der über ihr Geschick entscheiden sollte.

»Ich komme zu so später Stunde … Es ist wohl schon elf?« fragte er, immer noch, ohne sie anzusehen.

»Ja«, murmelte Sonja. »Ach ja, es ist elf«, fuhr sie eilig fort, als käme darauf für sie viel an. »Eben hat bei den Wirtsleuten die Uhr geschlagen, … ich habe es selbst gehört … Es ist elf.«

»Es ist das letztemal, daß ich zu Ihnen komme«, fuhr Raskolnikow düster fort, obwohl es überhaupt erst das erstemal war. »Ich werde Sie vielleicht nie wiedersehen.«

»Sie wollen … wegreisen?«

»Ich weiß es nicht … Das wird sich alles morgen zeigen …«

»Also werden Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna kommen?« fragte Sonja mit bebender Stimme.

»Ich weiß es nicht. Morgen früh wird sich alles zeigen … Aber darum handelt es sich nicht: ich bin hergekommen, um Ihnen nur wenige Worte zu sagen …«

Er hob seinen schwermütigen Blick zu ihr auf und bemerkte erst jetzt, daß er saß und sie immer noch vor ihm stand.

»Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch hin!« sagte er mit veränderter, leiser, milder Stimme. Er blickte sie einen Augenblick lang freundlich und beinahe mitleidig an.

»Wie mager Sie sind! Was haben Sie für eine Hand! Ganz durchsichtig! Finger wie bei einer Toten!«

Er ergriff ihre Hand. Sonja lächelte schwach.

»Ich bin immer so gewesen«, erwiderte sie.

»Auch als Sie noch zu Hause wohnten?«

»Ja.«

»Nun ja, natürlich!« stieß er kurz hervor, und sein Gesichtsausdruck und der Klang seiner Stimme veränderten sich plötzlich wieder.

Er blickte noch einmal um sich.

»Sie haben das Zimmer dem Schneider Kapernaumow abgemietet?«

»Ja.«

»Ihre Wirtsleute wohnen dort, hinter dieser Tür?«

»Ja … Sie haben ein ebensolches Zimmer.«

»Wohnen die alle in einem Zimmer?«

»Ja.«

»Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten«, sagte er düster.

»Die Wirtsleute sind sehr gut und freundlich«, antwortete Sonja, die immer noch nicht die Fassung wiedergewonnen und ihre Gedanken gesammelt hatte. »Auch alle Möbel und alles hier … alles gehört ihnen. Es sind sehr brave Leute, und auch die Kinder kommen oft zu mir …«

»Stottert die Familie nicht?«

»Ja, er stottert und ist außerdem lahm. Und die Frau stottert auch … Das heißt, eigentlich stottern tut sie nicht, aber sie spricht nicht alle Buchstaben aus. Es ist eine gute Frau, eine sehr gute Frau. Er ist früher Knecht auf einem Gute gewesen. Sie haben sieben Kinder, … bloß der älteste stottert, die andern sind nur immer krank, … aber stottern tun sie nicht … Aber woher wissen Sie das?« fügte sie einigermaßen erstaunt hinzu.

»Ihr Vater hat mir damals alles erzählt. Auch von Ihnen hat er mir alles erzählt … Auch wie Sie um sechs Uhr weggingen und um neun wiederkamen, und wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien gelegen hat.«

Sonja wurde befangen.

»Ich habe ihn heute gesehen«, flüsterte sie zaghaft.

»Wen?«

»Den Vater. Ich ging auf der Straße, da nebenan, an der Ecke, zwischen neun und zehn, und da war mir, als ginge er vor mir. Ganz genau wie er. Ich wollte schon zu Katerina Iwanowna gehen …«

»Gingen Sie spazieren?«

»Ja«, flüsterte Sonja kurz; sie wurde wieder befangen und schlug die Augen nieder.

»Als Sie noch bei dem Vater wohnten, hat wohl manchmal nicht viel daran gefehlt, daß Katerina Iwanowna Sie geschlagen hätte?«

»Ach nein! Was sagen Sie da! Nein, nein!« erwiderte Sonja und blickte ihn beinahe erschrocken an.

»Also haben Sie Ihre Stiefmutter lieb?«

»Aber ja-a, ja-a, gewiß!« antwortete Sonja in gedehntem klagendem Tone und faltete mit schmerzlichem Ausdruck die Hände. »Ach, Sie sollten sie kennen … Wenn Sie nur alles wüßten! Sie ist ja ganz wie ein Kind … Es ist, als ob ihr Verstand gelitten hätte … von all dem Kummer. Und wie klug sie früher war, … wie hochherzig, … wie gut! Davon wissen Sie nichts, … ach!«

Sonja sagte das im Tone der Verzweiflung und rang in schmerzlicher Erregung die Hände. Eine heiße Röte trat wieder in ihre blassen Wangen, und ihre Augen spiegelten die Qual wider, die sie empfand. Es war deutlich, daß eine kräftige Saite ihres Herzens angeschlagen war, daß es ihr ein Bedürfnis war, etwas über ihre Stiefmutter zu sagen, sie zu verteidigen. Eine Art von unersättlichem Mitleid, wenn man sich so ausdrücken kann, malte sich auf ihren Zügen.

»Geschlagen! Was sagen Sie nur! O Gott, geschlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei gewesen? Nun, was wäre dabei gewesen? Sie kennen sie nicht, kennen sie gar nicht … Sie ist so unglücklich, ach, so unglücklich! Und krank! … Sie verlangt nach Gerechtigkeit … Sie ist ehrenhaft. Sie ist fest davon überzeugt, daß in der Welt Gerechtigkeit herrschen müsse, und fordert sie auch für sich … Und wenn man sie martern wollte, sie würde nichts Ungerechtes tun. Sie sieht nicht, daß es eben bei den Menschen nicht gerecht zugehen kann, und regt sich darüber auf … Wie ein Kind ist sie, wie ein Kind! Sie ist eine Gerechte, eine Gerechte!«

»Und was wird nun mit Ihnen werden?«

Sonja sah ihn fragend an.

»Die Hinterbliebenen sind nun doch auf Sie angewiesen. Das war freilich auch früher mit der ganzen Familie so, und auch der Verstorbene kam zu Ihnen, um Sie um Geld zum Trinken zu bitten. Aber was wird jetzt werden?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sonja traurig.

»Werden die dort wohnen bleiben?«

»Ich weiß es nicht; sie sind die Miete schuldig; die Wirtin hat, wie ich gehört habe, heute gesagt, sie wollte sie heraussetzen; aber Katerina Iwanowna sagt, sie würde auch von selbst nicht einen Augenblick länger dableiben.«

»Woher ist sie denn so couragiert? Sie hofft wohl auf Hilfe von Ihrer Seite?«

»Ach, sprechen Sie nicht so! … Wir gehören zueinander, wir bilden eine einzige Familie!« antwortete Sonja, wieder in Erregung und sogar etwas gereizt, ganz wie wenn ein Kanarienvogel oder ein andres kleines Vögelchen böse wird. »Was soll sie denn anfangen? Nun, was soll sie anfangen?« fragte sie eifrig und hitzig. »Und wieviel, wieviel hat sie heute geweint! Der Verstand ist bei ihr gestört; haben Sie das nicht bemerkt? Er ist wirklich gestört; bald regt sie sich wie ein kleines Kind darüber auf, ob auch morgen bei dem Gedächtnismahl alles anständig sein wird, daß nur ja ein Imbiß da sei und das andre alles, … bald wieder ringt sie die Hände, spuckt Blut, weint und fängt auf einmal verzweifelt an, mit dem Kopfe gegen die Wand zu schlagen. Dann beruhigt sie sich wieder; sie setzt ihre ganze Hoffnung auf Sie: sie sagt, Sie seien jetzt ihr Helfer, und sie werde sich irgendwo ein bißchen Geld leihen und nach ihrer Heimatstadt reisen, und mich werde sie auch mitnehmen; und dort wolle sie ein vornehmes Mädchenpensionat errichten und mir dabei eine Stelle als Inspektorin geben, und dann werde für uns ein ganz neues, schönes Leben beginnen; und sie küßt mich, umarmt mich und tröstet mich und glaubt an diese Hirngespinste, glaubt fest daran! Nun, kann man ihr da wohl widersprechen? Und dabei hat sie heute den ganzen Tag gescheuert, gewaschen und geflickt; das Waschfaß hat sie selbst mit ihren schwachen Kräften ins Zimmer geschleppt; dabei ging ihr der Atem aus, und sie ist auf das Bett hingefallen. Und heute vormittag bin ich mit ihr zusammen in einen Laden, gegangen, um für Polenjka und Lida Schuhe zu kaufen, weil ihre alten vollständig zerrissen sind; aber als wir nun bezahlen sollten, hatten wir nicht genug Geld; es fehlte eine ziemliche Menge. Und sie hatte so hübsche kleine Stiefelchen ausgesucht; denn sie besitzt einen guten Geschmack; Sie kennen sie nur nicht … Und da fing sie im Laden so an zu schluchzen, in Gegenwart des Kaufmanns und seiner Leute, darüber, daß das Geld nicht reichte … Ach, es tat mir so leid, das mit anzusehen!«

»Unter solchen Umständen ist es schon zu verstehen, daß Sie … so leben«, sagte Raskolnikow mit bitterem Lächeln.

»Und tut sie Ihnen denn nicht auch leid?« ereiferte sich Sonja wieder. »Ich weiß doch, daß Sie selbst ihr das letzte Geld, das Sie hatten, hingegeben haben, und Sie hatten eigentlich noch nichts von dem Elend gesehen. Und wenn Sie erst alles sähen, o Gott! Und wie oft, wie oft bin ich daran schuld gewesen, daß sie weinte! Noch in der vorigen Woche! Ach, ich Schändliche! Nur eine Woche vor seinem Tode! Ich habe hartherzig gehandelt. Und wie oft, wie oft habe ich das getan! Ach, ich habe heute den ganzen Tag daran gedacht, und es ist mir so schmerzlich gewesen!«

Bei diesen Worten rang Sonja, durch die Erinnerung schmerzlich ergriffen, die Hände.

»Sie behaupten, Sie seien hartherzig gewesen?«

»Ja, das bin ich gewesen! Ich war damals zu ihnen hingekommen«, fuhr sie weinend fort, »und da sagte der Verstorbene zu mir: ›Lies mir etwas vor, Sonja, ich habe Kopfschmerzen; lies mir etwas vor, … da ist ein Buch‹; er hatte da irgendein Buch, das hatte er von Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow bekommen; der wohnt auch dort; von dem bekam er immer solche seltsamen Bücher. Und ich sagte: ›Ich habe keine Zeit, ich muß weggehen‹, und wollte ihm nicht vorlesen. Und ich war auch hauptsächlich nur deshalb zu ihnen gegangen, um Katerina Iwanowna meine Kragen zu zeigen; nämlich eine Althändlerin, Lisaweta, hatte mir Kragen und Manschetten besorgt, die waren recht billig, sehr hübsch, ganz neu, mit einem netten Muster. Und sie gefielen Katerina Iwanowna sehr; sie knöpfte sich einen Kragen um und legte ein Paar Manschetten an und besah sich im Spiegel; sie gefielen ihr sehr; ganz außerordentlich gefielen sie ihr. ›Schenk sie mir, Sonja‹, sagte sie, ›bitte, sei so gut!‹ Sie sagte ›bitte!‹ und hätte sie so sehr gern gehabt. Aber sie hat ja jetzt gar keine Verwendung für solche Wäsche; es schwebte ihr wohl nur die frühere, glückliche Zeit vor. Sie betrachtete sich im Spiegel und fand sich so schön damit, und sie hat doch nichts, was dazugehört, nichts, einfach gar nichts an Kleidern und sonstigen Sachen; und schon seit vielen Jahren nicht! Aber sie bittet nie jemand um etwas; sie ist stolz und gibt lieber selbst das Letzte weg. Und nun hatte sie mich doch gebeten – so hatten ihr die Kragen und die Manschetten gefallen! Aber mir tat es leid, sie wegzugeben, und ich sagte: ›Wozu können Sie sie denn gebrauchen, Katerina Iwanowna?‹ So habe ich gesagt: ›Wozu können Sie sie gebrauchen?‹ Das hätte ich nicht zu ihr sagen sollen! Sie sah mich so traurig an, und es war ihr so schmerzlich, daß ich es ihr abgeschlagen hatte, und es tat mir so leid, das zu sehen … Und nicht wegen der Kragen und Manschetten war sie traurig, sondern darüber, daß ich ihr etwas abgeschlagen hatte; das sah ich recht wohl. Ach, wie gern möchte ich jetzt das alles ungeschehen machen und alle meine früheren Worte zurücknehmen! … Wie schändlich bin ich gewesen! … Aber wozu sage ich Ihnen das? Das hat ja für Sie kein Interesse!«

»Also diese Althändlerin Lisaweta haben Sie gekannt?«

»Ja … Haben Sie sie etwa auch gekannt?« fragte Sonja etwas verwundert.

»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht, im letzten Stadium; sie wird bald sterben«, sagte Raskolnikow nach kurzem Schweigen, ohne auf Sonjas Frage zu antworten.

»Ach nein, nein, nein!«

Und Sonja ergriff unwillkürlich und unbewußt seine beiden Hände, als wollte sie ihn anflehen, dies abzuwenden.

»Aber es ist ja sogar das beste, wenn sie stirbt.«

»Nein, das ist nicht das beste, nicht das beste, durchaus nicht das beste!« rief sie angstvoll und heftig.

»Und was wird dann aus den Kindern? Wo werden Sie die unterbringen? Sie werden sie doch wohl zu sich nehmen?«

»Ach, ich weiß es nicht!« rief Sonja verzweifelt und griff nach ihrem Kopfe.

Es war augenscheinlich, daß sie selbst sich schon oft, schon sehr oft diesen Gedanken hatte durch den Kopf gehen lassen und Raskolnikow ihn nur von neuem wachgerufen hatte.

»Nun, und wenn Sie jetzt, noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten, krank werden und man Sie ins Krankenhaus bringt, was wird dann aus den andern?« fragte er mit erbarmungsloser Hartnäckigkeit weiter.

»Ach, sagen Sie doch so etwas nicht! Sagen Sie doch so etwas nicht! Das kann doch nicht geschehen!« Sonjas Gesicht verzerrte sich in furchtbarer Angst.

»Warum soll das nicht geschehen können?« fuhr Raskolnikow mit grausamem Lächeln fort. »Sind Sie dagegen irgendwie versichert? Also, was wird dann aus den andern werden? Sie werden alle zusammen auf die Straße gehen; die Mutter wird husten und betteln und mit dem Kopfe gegen eine Wand schlagen, wie heute, und die Kinder werden weinen … Und dann wird sie hinfallen und nach der Polizeiwache gebracht werden und von da ins Krankenhaus, und dann wird sie sterben, und die Kinder …«

»Ach nein! Das wird Gott nicht zulassen!« rang es sich wie ein Angstschrei aus Sonjas gequälter Brust. Während sie seine Worte anhörte, hatte sie ihn flehend angeblickt und in stummer Bitte die Hände gefaltet, als ob alles von ihm abhinge.

Raskolnikow stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Sonja stand in tiefem Gram da, mit gesenktem Kopfe und schlaff herabhängenden Armen.

»Können Sie nicht etwas sparen? Etwas zurücklegen für die Zeit der Not?« fragte er, indem er plötzlich vor ihr stehenblieb.

»Nein«, flüsterte Sonja.

»Selbstverständlich sagen Sie nein! Aber haben Sie es auch versucht?« fügte er beinahe spöttisch hinzu.

»Ja, ich habe es versucht.«

»Aber es ging nicht! Nun ja, natürlich! Wozu frage ich da erst!«

Er setzte seine Wanderung im Zimmer fort. Es verging wieder etwa eine Minute.

»Sie nehmen nicht täglich etwas ein?«

Sonja wurde noch befangener als vorher, und die Röte stieg ihr wieder ins Gesicht.

»Nein«, flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung.

»Mit Polenjka wird es gewiß ebenso werden«, sagte er plötzlich.

»Nein! Nein! Das kann nicht sein, nein!« schrie Sonja in Verzweiflung laut auf, als hätte jemand sie mit einem Messer verwundet. »Gott wird so etwas Fürchterliches nicht zulassen!«

»Er läßt es ja doch bei so vielen andern zu!«

»Nein, nein! Gott wird sie davor bewahren!« wiederholte sie ganz außer sich.

»Aber vielleicht gibt es überhaupt keinen Gott«, antwortete Raskolnikow mit einer Art von Schadenfreude, lachte auf und sah sie an.

Auf Sonjas Gesichte ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor; krampfhafte Zuckungen liefen darüber hin. Ein unbeschreiblicher Vorwurf lag in dem Blicke, mit dem sie ihn ansah; sie wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen; sie brach nur in ein bitterliches Schluchzen aus und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Sie sagen, bei Katerina Iwanowna sei der Verstand gestört; aber auch Ihr eigener Verstand ist gestört«, sagte er nach einem kurzen Schweigen.

Es vergingen fünf Minuten. Er ging die ganze Zeit über schweigend auf und ab, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen funkelten. Er faßte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah ihr gerade in das von Tränen überströmte Gesicht. Seine trockenen, heißen Augen blickten scharf und durchdringend; seine Lippen zuckten heftig … Plötzlich beugte er sich mit dem ganzen Leibe nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren Fuß. Sonja wankte erschrocken von ihm wie von einem Wahnsinnigen zurück. Und er sah auch wirklich völlig wie ein Wahnsinniger aus.

»Was ist Ihnen? Was tun Sie da? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Er erhob sich sofort wieder.

»Nicht vor dir habe ich meine Knie gebeugt, sondern vor dem ganzen unendlichen Leide der Menschheit«, sagte er wie in wildem Ingrimm und trat ans Fenster. »Höre«, fügte er hinzu, als er einen Augenblick darauf zu ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem Verleumder gesagt, daß er nicht soviel wert ist wie dein kleiner Finger … und daß ich heute meiner Schwester eine Ehre angetan habe, indem ich sie neben dir sitzen ließ.«

»Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können! Und etwa gar in Gegenwart Ihrer Schwester?« rief Sonja erschrocken. »Neben mir sitzen! Eine Ehre! Aber ich bin ja eine … Ehrlose … Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können!«

»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich das von dir gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, das ist die Wahrheit«, fügte er in schwärmerischem Tone hinzu. »Und ganz besonders bist du deshalb eine Sünderin, weil du dich nutzlos getötet und zum Opfer gebracht hast. Ist das nicht gräßlich? Ist das nicht gräßlich, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so hassest, und gleichzeitig selbst weißt (du brauchst ja nur die Augen zu öffnen), daß du niemandem dadurch hilfst, niemand aus seinem Elend errettest! Ja, ich bitte dich um alles in der Welt«, rief er beinahe wütend, »sage mir doch nur: wie kann solche Schande und Gemeinheit in deiner Seele neben andern, ganz entgegengesetzten, heiligen Empfindungen Raum finden? Da wäre es doch richtiger, tausendmal richtiger und vernünftiger, kopfüber ins Wasser zu springen und mit einem Schlage alledem ein Ende zu machen!«

»Aber was soll dann aus den andern werden?« fragte Sonja leise und blickte ihn mit schmerzlichem Ausdrucke an; verwundert schien sie aber über seinen Vorschlag ganz und gar nicht zu sein. Raskolnikow sah sie in seltsamer Weise prüfend an.

Schon allein in ihrem Blicke hatte er alles gelesen. Also sie hatte tatsächlich diesen Gedanken bereits selbst gehabt. Vielleicht hatte sie in der Verzweiflung schon oftmals und ernstlich überlegt, wie sie ihrem Elende mit einem Schlage ein Ende machen könne, so ernstlich, daß sie sich jetzt über seinen Vorschlag weiter nicht wunderte. Selbst die Grausamkeit seiner Worte war ihr nicht zum Bewußtsein gekommen; auch der Sinn seiner Vorwürfe und seine besondre Auffassung von ihrer Schande war ihr offenbar unklar geblieben; auch das durchschaute er. Er seinerseits aber begriff vollständig, welche Folterqualen, und zwar schon seit langer Zeit, ihr der Gedanke an ihre ehrlose, schmähliche Lage bereitete. ›Was in aller Welt‹, dachte er, ›was hat sie bisher zurückhalten können, alledem mit einem Schlage ein Ende zu machen?‹ Er hatte erst jetzt völlig verstanden, welch eine Bedeutung für dieses Mädchen diese armen, kleinen, vaterlosen Kinderchen hatten und diese bedauernswerte, halb irrsinnige, schwindsüchtige Katerina Iwanowna, die mit dem Kopfe gegen die Wand schlug. Aber nicht minder klar war es ihm, daß Sonjas Charakter und die freilich nur mäßige Bildung, die sie genossen hatte, ihr hatten ein Antrieb sein müssen, sich aus dieser Lage zu befreien. So war für ihn immer noch nicht die Frage beantwortet: wenn sie nicht die Kraft hatte, sich ins Wasser zu stürzen, wie hatte sie so lange schon in dieser Lage verbleiben können, ohne den Verstand zu verlieren? Gewiß, er sah ein, daß Sonjas Lage eine Erscheinung war, wie sie nur gelegentlich in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen vorkommt, wiewohl leider keineswegs nur ganz vereinzelt und ausnahmsweise. Aber gerade diese Besonderheit der Lage, diese wenn auch nur geringe Bildung und ihr ganzes Vorleben hätten sie doch, meinte er, gleich beim ersten Schritte auf diesem abscheulichen Wege zum Selbstmorde führen müssen. Was hielt sie denn im Leben zurück? Doch wahrlich nicht die Unzucht? Mit dieser ganzen Gemeinheit hatte sie offenbar nur physisch zu schaffen gehabt; in ihr Herz hatte noch kein Atom der wirklichen Unzucht Eingang gefunden. Das sah er; sie stand ja vor ihm wie aus Glas …

›Drei Wege hat sie vor sich‹, dachte er, ›sich in den Kanal zu stürzen, ins Irrenhaus zu kommen oder … oder der wirklichen Unzucht zu verfallen, die den Verstand betäubt und das Herz gefühllos macht.‹

Die letzte von diesen drei Möglichkeiten war ihm am widerwärtigsten; aber er war bereits Skeptiker, er war jung, ein abstrakter Denker und somit Pessimist, und daher konnte er nicht umhin zu glauben, daß dieser letzte Ausgang, das heißt die Unzucht, am meisten Wahrscheinlichkeit habe.

›Aber soll denn wirklich‹, rief er in Gedanken aus, ›soll denn wirklich dieses Wesen, das sich die Reinheit der Seele noch bewahrt hat, sich mit sehenden Augen schließlich in diesen greulichen, stinkenden Pfuhl hineinziehen lassen? Hat dieser Prozeß vielleicht schon begonnen, und hat sie wirklich ihren Zustand nur deswegen bisher ertragen können, weil ihr das Laster nicht mehr so widerwärtig erscheint? Nein, nein, das kann nicht sein!‹ rief er ähnlich wie vorhin Sonja. ›Nein, was sie von dem Sprunge in den Kanal bisher zurückhielt, das war der Gedanke an die Sündhaftigkeit des Selbstmordes und der Gedanke an jene andern. Und wenn sie bisher noch nicht den Verstand verloren hat … Aber wer sagt denn das, daß sie den Verstand bisher noch nicht verloren hat? Hat sie denn noch ihren gesunden Verstand? Kann man etwa bei gesundem Verstande so urteilen, wie sie es tut? Wie kann sie denn so am Rande des Verderbens, dicht am Rande dieses stinkenden Pfuhles sitzen, in den eine geheime Gewalt sie schon hineinzieht, und abwinken und sich die Ohren zustopfen, wenn sie jemand auf die Gefahr aufmerksam macht? Was will sie denn? Erwartet sie ein Wunder? Das scheint sie wirklich zu tun. Sind das nicht lauter Anzeichen geistiger Störung?‹

Hartnäckig verblieb er bei diesem Gedanken. Dieser Ausgang gefiel ihm sogar besser als jeder andre. Er betrachtete sie schärfer.

»Du betest wohl viel zu Gott, Sonja?« fragte er sie.

Sonja schwieg; er stand neben ihr und wartete auf ihre Antwort.

»Was wäre ich ohne Gott?« flüsterte sie schnell mit sicherer Stimme, blickte ihn einen Augenblick mit aufleuchtenden Augen an und drückte ihm fest die Hand,

›So ist es also!‹ dachte er.

»Und was empfängst du denn von Gott dafür?« examinierte er sie weiter.

Sonja schwieg lange, als wäre sie nicht imstande zu antworten. Ihre schwächliche Brust hob und senkte sich stark vor Aufregung.

»Seien Sie still! Fragen Sie nicht so! Sie sind ein Unwürdiger …«, rief sie endlich und blickte ihn streng und zornig an.

›So ist es also! So ist es also!‹ wiederholte er hartnäckig in Gedanken.

»Alles gibt er mir!« flüsterte sie hastig und schlug wieder die Augen nieder.

›Das ist der Weg, den sie einschlägt; das ist die Lösung der Frage‹, sagte er sich mit voller Bestimmtheit im stillen und musterte sie mit brennendem Interesse.

Mit einem neuen, eigentümlichen, beinahe physisch schmerzhaften Gefühle schaute er auf dieses blasse, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, auf diese sanften blauen Augen, in denen ein solches Feuer, ein so starker, energischer Affekt aufleuchten konnte, auf diesen schmächtigen Körper, der noch vor Entrüstung und Zorn bebte, und dies alles kam ihm immer seltsamer vor, beinahe unmöglich. ›Eine Gottesnärrin!‹ sagte er sich überzeugt und bestimmt.

Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal bei seinem Hin- und Hergehen hatte er es bemerkt; jetzt nahm er es in die Hand und besah es. Es war das Neue Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war in Leder gebunden, aber schon alt und abgenutzt.

»Wo hast du das her?« rief er ihr von der entfernten Ecke des Zimmers aus zu.

Sie stand noch immer an derselben Stelle, drei Schritte vom Tische entfernt.

»Es hat es mir jemand gebracht«, antwortete sie, anscheinend nur ungern und ohne ihn anzusehen.

»Wer hat es dir gebracht?«

»Lisaweta. Ich hatte sie darum gebeten.«

›Lisaweta! Seltsam!‹ dachte er.

Hier bei Sonja kam ihm alles mit jedem Augenblicke seltsamer und wunderbarer vor. Er trug das Buch zu der Kerze hin und fing an, darin zu blättern.

»Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er.

Sonja blickte hartnäckig auf den Fußboden und antwortete nicht. Sie stand von dem Tische halb abgewendet.

»Die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus, wo ist die? Suche sie mir, Sonja.«

Sie sah mit schrägem Blicke nach ihm hin.

»Sie suchen an der falschen Stelle … Im Evangelium des Johannes …«, flüsterte sie in strengem Tone, ohne zu ihm zu treten.

»Such es und lies es mir vor«, sagte er und setzte sich hin; einen Ellbogen auf den Tisch aufsetzend, den Kopf in die Hand stützend und finster zur Seite starrend, machte er sich fertig, zuzuhören.

›In drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich werde wohl auch da sein, wenn mir nicht noch Schlimmeres widerfährt‹, murmelte er vor sich hin.

Sonja nahm Raskolnikows sonderbares Verlangen mißtrauisch auf und trat zögernd zum Tische. Indes faßte sie nach dem Buche.

»Haben Sie es denn nicht auch schon gelesen?« fragte sie und blickte ihn über den Tisch herüber mit gesenktem Kopfe von unten her an. Der Ton, in dem sie sprach, wurde immer strenger.

»Das ist schon lange her … Als ich in die Schule ging. Lies doch!«

»Haben Sie es denn aber nicht in der Kirche gehört?«

»Nein, da bin ich nie hingegangen. Aber du gehst wohl oft hin?«

»N–nein«, flüsterte Sonja.

Raskolnikow lächelte.

»Ich verstehe … Da gehst du auch wohl morgen zu dem Totenamt für deinen Vater nicht mit hinein?«

»Doch; ich werde hineingehen. Ich bin auch vorige Woche in der Kirche gewesen, … ich habe eine Totenmesse lesen lassen.«

»Für wen denn?«

»Für Lisaweta. Die ist mit einem Beile erschlagen worden.«

Der gereizte Zustand seiner Nerven wurde immer schlimmer; der Kopf begann ihm zu schwindeln.

»Warst du mit Lisaweta befreundet?«

»Ja, … sie war fromm und rechtschaffen, … sie kam manchmal zu mir, … aber nur selten, … sie konnte nicht oft … Wir lasen zusammen und … sprachen darüber miteinander. Sie wird Gott schauen.«

Einen seltsamen Klang hatten für sein Ohr diese biblischen Worte, und schon wieder hatte er etwas Neues gehört: Sonja und Lisaweta hatten religiöse Zusammenkünfte gehabt, und beide waren Gottesnärrinnen.

›Hier kann man noch selbst so ein verrückter Heiliger werden! So etwas ist ansteckend!‹ dachte er.

»Lies!« rief er plötzlich eigensinnig und gereizt.

Sonja zögerte immer noch. Das Herz klopfte ihr heftig. Sie fand nicht den Mut dazu, ihm vorzulesen. Der Anblick der »unglücklichen Geisteskranken« schnitt ihm ins Herz.

»Was haben Sie denn davon? Sie glauben ja doch nicht daran?« flüsterte sie leise; sie konnte kaum atmen.

»Lies! Ich will es so!« wiederholte er hartnäckig. »Du hast doch deiner Freundin Lisaweta auch vorgelesen.«

Sonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Die Hände zitterten ihr; es versagte ihr die Stimme. Zweimal fing sie an und konnte das erste Wort nicht aus der Kehle bekommen.

»Es lag aber einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethanien«, brachte sie endlich mit Anstrengung hervor; aber hier brach ihre Stimme plötzlich mit einem unartikulierten Laute ab wie eine zu stark gespannte, zerreißende Saite. Sie bekam keine Luft, die Brust war ihr wie zusammengeschnürt.

Raskolnikow hatte bis zu einem gewissen Grade Verständnis dafür, warum es Sonja widerstrebte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so schärfer und gereizter bestand er auf seinem Verlangen. Er verstand recht wohl, wie schwer es ihr jetzt werden mußte, ihr ganzes seelisches Empfinden ans Licht zu bringen und zu enthüllen. Er verstand, daß diese Gefühle in der Tat bei ihr ein wirkliches und vielleicht schon seit langer Zeit gehütetes Geheimnis bildeten, vielleicht schon im Kindesalter, schon in der Zeit, da sie noch in der Familie lebte, neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer irrsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen Kindern, bei sinnlosem Geschrei und ewigen Vorwürfen. Aber gleichzeitig erkannte er jetzt, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz der Beklemmung und der Beängstigung, die jetzt beim Beginn des Lesens an ihr sichtbar waren, doch gleichzeitig selbst von dem heißen Wunsche, vorzulesen, erfüllt war, und zwar gerade ihm vorzulesen, damit er, er es höre, und gerade jetzt – mochte nachher kommen, was da wollte! … Er hatte das in ihren Augen gelesen und aus ihrer schwärmerischen Erregung geschlossen! … Sie bezwang sich, unterdrückte den Krampf in der Kehle, der ihr beim ersten Verse die Stimme geraubt hatte, und las das elfte Kapitel aus dem Evangelium des Johannes weiter vor. So gelangte sie bis zum neunzehnten Verse:

»Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: ›Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber ich weiß auch noch, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.‹«

Hier hielt sie wieder inne; sie merkte, daß ihr die Stimme wieder zittern und versagen werde, und schämte sich dessen …

»Jesus spricht zu ihr: ›Dein Bruder soll auferstehen.‹ Martha spricht zu ihm: ›Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage.‹ Jesus spricht zu ihr: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubest du das?‹ Sie spricht zu ihm:« (und anscheinend nur unter Schmerzen Atem holend, las Sonja mit deutlicher, kräftiger Stimme, als ob sie selbst vor aller Ohren ein Bekenntnis ihres Glaubens ablegte) »›Herr, ja; ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.‹«

Sie hielt einen Augenblick inne, hob schnell die Augen zu Raskolnikow, beherrschte sich aber sofort wieder und las weiter. Raskolnikow saß da und hörte, ohne sich zu regen, zu. Er wendete sich nicht zu der Vorleserin hin, sondern hatte den Ellbogen auf den Tisch gestützt und sah zur Seite. Nun waren sie bis zum zweiunddreißigsten Verse gelangt:

»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sähe ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: ›Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!‹ Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst und sprach: ›Wo habt ihr ihn hingelegt?‹ Sie sprachen zu ihm: ›Herr, komm und siehe es.‹ Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: ›Siehe, wie hat er ihn so liebgehabt!‹ Etliche aber unter ihnen sprachen: ›Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?‹«

Raskolnikow wandte sich zu ihr um und blickte sie aufgeregt an. Ja, richtig! Sie zitterte am ganzen Leibe in wirklichem, wahrem Fieber. Er hatte das erwartet. Sie näherte sich jetzt der Stelle, die von dem größten, unerhörten Wunder handelt, und das Gefühl eines gewaltigen Triumphes ergriff sie. Ihre Stimme wurde klangvoll wie Metall; Triumph und Freude klangen aus ihr heraus und verliehen ihr Kraft. Die Zeilen verwirrten sich vor ihrem Blicke, weil es ihr dunkel vor den Augen wurde; aber sie konnte das, was sie las, auswendig. Bei dem letzten Verse: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat«, hatte sie, die Stimme senkend, in heißer Erregung den Zweifel, den Vorwurf und den Tadel der ungläubigen, blinden Juden zum Ausdruck gebracht, die nun gleich, einen Augenblick darauf, wie vom Donner gerührt niederfallen, schluchzen und glauben würden … ›Auch er, auch er, der auch ein Verblendeter und Ungläubiger ist, auch er wird es jetzt gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja! Jetzt gleich, jetzt gleich!‹ Dieser Gedanke zuckte ihr durch den Kopf, und sie zitterte vor freudiger Erwartung.

»Jesus aber ergrimmte abermal in sich selbst und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: ›Hebt den Stein ab.‹ Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: ›Herr, er stinkt schon; denn er ist vier Tage gelegen.‹«

Sie legte einen starken Ton auf das Wort »vier«.

»Jesus spricht zu ihr: ›Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?‹ Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: ›Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; aber um des Volks willen, das umherstehet, sage ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt.‹ Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: ›Lazare, komm heraus!‹ Und der Verstorbene kam heraus« (sie las dies mit lauter, verzückter Stimme, bebend und fröstelnd, als sähe sie alles mit eigenen Augen vor sich), »gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Gesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: ›Löset ihn auf und lasset ihn gehen.‹ Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.«

Weiter las sie nicht, und sie war auch nicht imstande dazu; sie machte das Buch zu und stand schnell vom Stuhle auf.

»Da ist die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus zu Ende«, sagte sie stockend und mit finsterem Gesichte und stand nun regungslos da, zur Seite abgewandt; sie wagte vor Scham nicht die Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Zittern dauerte noch fort. Das Licht in dem verbogenen Leuchter war schon ganz tief herabgebrannt und beleuchtete trübe in diesem ärmlichen Zimmer den Mörder und die Dirne, die sich so sonderbar zum Lesen des ewigen Buches zusammengefunden hatten. Es vergingen fünf Minuten oder noch mehr.

»Ich bin hergekommen, um mit dir über eine ernste Angelegenheit zu reden«, sagte Raskolnikow endlich laut mit düsterer Miene, erhob sich und trat zu ihr hin. Sie schaute auf und sah ihn schweigend an. Sein Blick war überaus finster; eine wilde Entschlossenheit sprach aus ihm.

»Ich habe mich heute von meinen Angehörigen getrennt«, sagte er, »von meiner Mutter und von meiner Schwester. Ich gehe nun nicht wieder zu ihnen; alle Bande, die mich mit ihnen verknüpften, habe ich zerrissen.«

»Warum?« fragte Sonja; sie war wie betäubt.

Ihre heutige Begegnung mit seiner Mutter und seiner Schwester hatte auf sie einen außerordentlichen Eindruck gemacht, der allerdings ihr selbst nicht recht klar war. Die Mitteilung, daß er mit ihnen völlig gebrochen habe, erfüllte sie mit Schrecken.

»Ich habe jetzt niemand auf der Welt als dich«, fügte er hinzu. »Laß uns unsern Weg zusammen gehen … Darum bin ich zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht; so laß uns denn auch zusammen gehen.«

Seine Augen funkelten. ›Wie halb irrsinnig!‹ dachte nun Sonja ihrerseits.

»Wohin sollen wir denn gehen?« fragte sie angstvoll und wich unwillkürlich vor ihm zurück.

»Wie kann ich das wissen? Ich weiß nur, daß derselbe Weg vor uns liegt; das weiß ich sicher – weiter nichts. Wir haben das gleiche Ziel.«

Verständnislos sah sie ihn an. Sie verstand nur das eine, daß er tief unglücklich, grenzenlos unglücklich war.

»Wenn du zu andern Menschen so sprichst, wie du zu mir gesprochen hast, so wird dich niemand verstehen«, fuhr er fort, »aber ich habe dich verstanden. Du bist mir unentbehrlich; darum bin ich zu dir gekommen.«

»Ich verstehe Sie nicht«, flüsterte Sonja.

»Du wirst mich später verstehen. Hast du denn nicht das gleiche getan wie ich? Auch du bist über eine Grenze hinübergeschritten, … hast die Kraft besessen, hinüberzuschreiten. Du hast Hand an dich gelegt; du hast ein Leben vernichtet, … dein eigenes Leben; aber das macht keinen Unterschied. Du wärest befähigt, ein verständiges, sittlich gutes Leben zu führen, und wirst auf dem Heumarkt enden … Aber du kannst diesen Zustand nicht ertragen, und wenn du allein bleibst, so wirst du den Verstand verlieren, gerade wie ich. Du bist schon jetzt wie irrsinnig; also müssen wir beide zusammen gehen, denselben Weg! So laß es uns denn tun!«

»Aber warum, warum sagen Sie denn das alles?« rief Sonja, durch seine Worte in eine seltsame, stürmische Aufregung versetzt.

»Warum ich das sage? Weil es so nicht bleiben kann; darum! Wir müssen unsre Lage doch endlich ernsthaft und ohne Selbsttäuschung erwägen und nicht wie kleine Kinder weinen und schreien: ›Gott wird es nicht zulassen!‹ Nun also, was soll dann werden, wenn du wirklich morgen ins Krankenhaus gebracht wirst? Deine Stiefmutter ist irrsinnig und schwindsüchtig; die stirbt bald; und was wird dann aus den Kindern? Hältst du für möglich, daß Polenjka vor dem sittlichen Untergange bewahrt bleibt? Hast du denn nicht schon hier an den Straßenecken Kinder gesehen, die von ihren Müttern auf den Bettel ausgeschickt werden? Ich habe festgestellt, wo und in welcher Umgebung diese Mütter wohnen. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Da ist ein Knabe von sieben Jahren schon unsittlich und ein Dieb. Und doch sind die Kinder ein Ebenbild Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben; sie sind die Menschheit der Zukunft …«

»Was soll ich denn tun? Was soll ich tun?« rief Sonja schluchzend und händeringend.

»Was du tun sollst? Niederreißen, was niedergerissen werden muß, ein für allemal, und das Leid auf dich nehmen! Du verstehst mich nicht? Später wirst du mich verstehen … Freiheit und Macht müssen wir erlangen, besonders Macht! Macht über die ganze zitternde Kreatur und über dieses ganze Ameisenvolk! … Das ist das Ziel! Vergiß das nicht! Das ist die Mahnung, die ich dir auf den Weg mitgebe. Vielleicht spreche ich mit dir jetzt zum letztenmal. Wenn ich morgen nicht zu dir kommen sollte, so wirst du anderweitig alles erfahren, und dann erinnere dich an meine jetzigen Worte. Und irgendeinmal, später, nach Jahren, im Laufe der Zeit, wirst du vielleicht auch verstehen, was sie bedeuteten. Sollte ich aber morgen zu dir kommen, so will ich dir sagen, wer Lisaweta getötet hat. Leb wohl!«

Sonja fuhr in jähem Schreck zusammen.

»Wissen Sie denn, wer sie getötet hat?« fragte sie ihn; sie war ganz starr vor Entsetzen und sah ihn verstört an.

»Ja, ich weiß es und werde es dir sagen … Dir, nur dir. Ich habe dich dazu erwählt. Ich werde nicht kommen, um dich um Verzeihung zu bitten, sondern ich werde es dir einfach sagen. Ich habe dich schon lange dazu erwählt, dir dies zu sagen; schon damals, als dein Vater mir von dir erzählte und als Lisaweta noch lebte, nahm ich es mir vor. Lebe wohl! Gib mir nicht die Hand! Auf morgen!«

Er ging hinaus. Sonja starrte den Hinausgehenden an wie einen Irrsinnigen; aber auch sie selbst war wie wahnsinnig und war sich dessen bewußt. Der Kopf schwindelte ihr. ›O Gott! Wie kann er wissen, wer Lisaweta getötet hat? Was haben diese Worte zu bedeuten? Es ist entsetzlich!‹

Aber auf den wahren Sinn kam sie nicht, mit keinem Gedanken. Oh, er mußte furchtbar unglücklich sein! … Von seiner Mutter und von seiner Schwester hatte er sich losgesagt. Warum? Was war vorgefallen? Und was hatte er nur vor? Was hatte er ihr doch noch gesagt? Er hatte ihr den Fuß geküßt und gesagt … gesagt … ja, ganz deutlich hatte er gesagt, er könne ohne sie nicht mehr leben … O Gott!

In Fieber und wirren Gedanken brachte Sonja die ganze Nacht zu. Von Zeit zu Zeit sprang sie auf, weinte und rang die Hände; dann versank sie wieder in fieberhaften Schlaf; sie träumte von Polenjka, von Katerina Iwanowna, von Lisaweta, vom Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm, … von ihm mit dem bleichen Gesicht, mit den glühenden Augen, … und wie er ihr die Füße küßt und weint … O Gott!

Auf der andern Seite der Tür in der Wand rechts, eben der Tür, welche Sonjas Zimmer von der Wohnung der Frau Gertruda Karlowna Rößlich trennte, befand sich ein schon geraume Zeit leerstehendes Zimmer, das zu Frau Rößlichs Wohnung gehörte und zu vermieten war, wie das ein Papptäfelchen am Haustor und ein Zettel an einer Scheibe des nach dem Kanal hinausgehenden Fensters besagte. Sonja hatte sich schon seit langer Zeit daran gewöhnt, dieses Zimmer für unbewohnt zu halten. Indessen hatte während dieses ganzen Gespräches Herr Swidrigailow in dem leeren Zimmer an der Tür gestanden und heimlich zugehört. Als Raskolnikow sich entfernt hatte, blieb Herr Swidrigailow noch einen Augenblick überlegend stehen, dann ging er auf den Zehen in sein Zimmer, das neben dem leeren lag, holte von dort einen Stuhl und stellte ihn leise dicht an die Tür, die zu Sonjas Zimmer führte. Das Gespräch war ihm merkwürdig und interessant erschienen und hatte ihm ganz außerordentlich gefallen, so sehr, daß er sich sogar einen Stuhl hinstellte, um künftig, möglicherweise schon morgen, nicht wieder die Unbequemlichkeit zu haben, eine ganze Stunde lang stehen zu müssen; er wollte sich die Sache bequemer einrichten, um das Vergnügen ungestört auskosten zu können.

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Kapitel 25

V

Als Raskolnikow am andern Morgen pünktlich um elf Uhr in dem Polizeigebäude des …schen Bezirks in die Räume des Untersuchungskommissars eingetreten war und sich bei Porfirij Petrowitsch hatte melden lassen, wunderte er sich, wie lange er warten mußte: es dauerte mindestens zehn Minuten, bis er gerufen wurde. Und er hatte geglaubt, man würde, sowie er nur käme, unverzüglich über ihn herfallen. Aber er stand im Wartezimmer, und es kamen und gingen Leute an ihm vorüber, denen er allem Anschein nach völlig gleichgültig war. Im folgenden Zimmer, das den Eindruck einer Kanzlei machte, saßen einige Schreiber bei ihrer Arbeit, und es war augenscheinlich, daß keiner von ihnen auch nur eine Ahnung hatte, wer und was Raskolnikow sei. Mit unruhigem, argwöhnischem Blicke schaute er sich um, um sich zu vergewissern, ob nicht ein Polizist in seiner Nähe sei, ein geheimer Wächter, der den Auftrag habe, auf ihn aufzupassen, damit er nicht davonginge. Aber er konnte nichts dergleichen entdecken: er sah nur die Kanzlisten mit ihrem kleinlichen Tun und Treiben und sonst noch einige Leute; aber niemand kümmerte sich um ihn; er hätte ohne weiteres auf und davon gehen können. Immer mehr festigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser rätselhafte Mensch von gestern, dieses aus der Erde aufgetauchte Gespenst, wirklich alles gesehen und gewußt hätte, man ihn, Raskolnikow, hier gewiß nicht so ruhig stehen und warten lassen würde. Und sicherlich hätte man heute nicht so lange gewartet, bis es ihm selbst belieben würde herzukommen. Es ergab sich also als Resultat: entweder hatte dieser Mensch noch keine Anzeige erstattet, oder … oder … auch er wußte einfach nichts und hatte nichts mit eigenen Augen gesehen (und wie war es denn auch möglich, daß er etwas gesehen hätte?), und folglich war dieses ganze Erlebnis, das er, Raskolnikow, gestern gehabt hatte, in der Hauptsache wieder nur ein Wahngebilde, welches seine überreizte, kranke Phantasie erzeugt hatte. Der Gedanke, daß die Sache so zu erklären sei, hatte sogar schon gestern während der ärgsten Beunruhigung und Verzweiflung angefangen, sich in ihm festzusetzen. Während er alles dies jetzt nochmals durchdachte und sich zu einem neuen Kampf erlistete, fühlte er auf einmal, daß er zitterte – und eine heiße Empörung wallte in ihm auf bei dem Gedanken, daß er wohl gar aus Furcht vor dem verhaßten Porfirij Petrowitsch zittere. Das Schrecklichste, was ihm begegnen konnte, war für ihn, nochmals mit diesem Menschen zusammenzukommen; er haßte ihn maßlos, grenzenlos und fürchtete sogar, sein Haß könnte schuld daran werden, daß er sich eine Blöße gäbe. Und so heftig war seine Empörung, daß sie dem Zittern sofort ein Ende machte; er machte sich bereit, mit kalter, dreister Miene einzutreten, und nahm sich fest vor, nach Möglichkeit zu schweigen, zu beobachten und zuzuhören und wenigstens diesmal um jeden Preis seine krankhafte Reizbarkeit zu überwinden. In diesem Augenblicke wurde er zu Porfirij Petrowitsch hereingerufen.

Er fand Porfirij Petrowitsch in seinem Arbeitszimmer allein. Das Zimmer war von mittlerer Größe; es standen darin: ein großer Schreibtisch, ein mit Wachstuch bezogenes Sofa mit einem Tisch davor, ein Eckschrank und einige Stühle, lauter fiskalische Möbel aus gelbem, poliertem Holze. In der Hinterwand, die nur von einem Bretterverschlag gebildet wurde, befand sich nach der einen Ecke zu eine geschlossene Tür; also mußten noch andre Zimmer dahinter liegen. Nach Raskolnikows Eintritt schloß Porfirij Petrowitsch sofort die Tür, durch die dieser hereingekommen war, so daß sie allein waren. Er bewillkommnete den Besucher anscheinend in heiterster Stimmung und mit freundlichster Miene, und erst einige Minuten darauf glaubte Raskolnikow an gewissen Anzeichen eine Art von Verlegenheit bei ihm zu bemerken, als sei ihm etwas in die Quere gekommen oder als sei er bei irgendwelcher Heimlichkeit ertappt worden.

»Ah, Verehrtester, da sind Sie ja auch … in unserm Reiche …«, begann Porfirij und streckte ihm beide Hände entgegen. »Nun, setzen Sie sich, Väterchen! Oder vielleicht mögen Sie es nicht gern, daß man Sie … so tout court … Verehrtester und Väterchen nennt? Halten Sie es bitte nicht für Zudringlichkeit! Bitte hierher, auf das Sofa!«

Raskolnikow setzte sich, ohne die Augen von ihm abzuwenden.

»In unserm Reiche«, die Entschuldigung wegen der familiären Anrede, die französische Phrase tout court und andres mehr, das waren alles charakteristische Anzeichen. ›Er hat mir zwar beide Hände entgegengestreckt, mir aber keine Hand gereicht, sondern sie noch rechtzeitig zurückgezogen‹, fuhr es ihm argwöhnisch durch den Kopf. Beide beobachteten sich wechselseitig; aber sobald sich ihre Blicke begegneten, wandten sie sie beide blitzschnell voneinander ab.

»Ich bringe Ihnen hier die Eingabe wegen der Uhr, … hier, bitte. Ist es richtig, wie ich sie aufgesetzt habe, oder soll ich sie noch einmal umschreiben?«

»Was? Ach, die Eingabe! Nein, es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung, seien Sie unbesorgt, alles ganz wunderschön!« erwiderte Porfirij Petrowitsch hastig, als müßte er schnell weg, und nahm erst nach diesen Worten das Schriftstück in die Hand und sah es durch. »Ja, es ist wunderschön; weiter ist nichts erforderlich«, bestätigte er nochmals mit der gleichen Zungenfertigkeit und legte das Schreiben auf den Sofatisch.

Eine Minute später, als er bereits von etwas anderem sprach, nahm er es wieder vom Sofatische weg und trug es nach dem Schreibtische hinüber.

»Sie sagten ja wohl gestern, daß Sie mich in aller Form zu vernehmen wünschten … über meine Bekanntschaft mit dieser ermordeten Frau?« begann Raskolnikow.

›Warum habe ich nur dieses »ja wohl« eingeschaltet?‹ durchzuckte es ihn. ›Na, warum beunruhige ich mich so darüber, daß ich dieses »ja wohl« eingeschaltet habe?‹ folgte ein zweiter Gedanke blitzschnell nach.

Und plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß seine Zweifelsucht infolge des bloßen Zusammenseins mit Porfirij, infolge einiger weniger Worte, einiger weniger Blicke bereits in einem Augenblicke zu ungeheuerlichen Dimensionen herangewachsen sei … und daß es enorm gefährlich sei, wenn in solcher Art die Reizbarkeit der Nerven zunehme und die Aufregung steige. ›Schlimm! Schlimm! … Die Zunge wird mir wieder durchgehen!‹

»Ja, ja, ja! Seien Sie unbesorgt! Die Sache hat ja Zeit, viel Zeit«, murmelte Porfirij Petrowitsch; er ging, anscheinend zwecklos, neben dem Sofatische hin und her; dann wieder lief er zum Fenster, dann zum Schreibtisch, dann wieder zum Sofatisch; bald wich er Raskolnikows argwöhnischem Blicke aus, bald blieb er auf einem Fleck stehen und starrte ihm gerade ins Gesicht.

Ganz wunderlich nahm sich dabei seine kleine, dicke, runde Figur aus, wie ein großer Gummiball, der bald nach dieser, bald nach jener Seite hinrollt und immer gleich wieder von allen Wänden und Ecken zurückprallt.

»Das hat ja noch Zeit, das hat ja noch Zeit! … Rauchen Sie? Haben Sie bei sich? Bitte, da ist eine Zigarette!« fuhr er fort, indem er seinem Gaste eine Zigarette reichte. »Wissen Sie, ich empfange Sie hier; meine Wohnung liegt da auf der andern Seite der dünnen Wand, … eine Dienstwohnung; aber ich benutze jetzt einstweilen eine Privatwohnung. Es waren hier ein paar Reparaturen nötig. Jetzt ist alles fast in Ordnung. Eine Dienstwohnung, wissen Sie, das ist doch eine prächtige Sache, nicht wahr? Meinen Sie nicht auch?«

»Ja, das ist eine prächtige Sache«, erwiderte Raskolnikow und blickte ihn beinahe spöttisch an.

»Eine prächtige Sache, eine prächtige Sache«, sagte Porfirij Petrowitsch mehrmals hintereinander, als ob er auf einmal an etwas ganz anderes dächte. »Ja, eine prächtige Sache!« rief er zuletzt sehr laut, richtete plötzlich seine Blicke auf Raskolnikow und blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen.

Diese mehrmalige törichte Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine prächtige Sache sei, bildete in ihrer Plattheit einen schroffen Widerspruch zu dem ernsten, nachdenklichen, rätselhaften Blicke, den er jetzt auf dem Besucher ruhen ließ.

Dadurch wurde Raskolnikows Wut noch mehr ins Kochen gebracht, und er konnte eine spöttische und recht unvorsichtige Herausforderung nicht mehr zurückhalten:

»Wissen Sie was?« fragte er, indem er ihn dreist anblickte und einen wahren Genuß von seiner Dreistigkeit hatte. »Es gibt ja doch wohl bei der Justiz für alle möglichen Untersuchungsbeamten eine Regel, einen Kniff: zuerst weit auszuholen, mit Kleinigkeiten anzufangen oder auch mit etwas Ernsthaftem, aber völlig Fremdartigem, um den, der verhört werden soll, sozusagen zu ermutigen oder, richtiger ausgedrückt, zu zerstreuen und seine Vorsicht einzuschläfern, und ihn dann auf einmal, wenn er es am wenigsten erwartet, durch eine verhängnisvolle, gefährliche Frage, wie durch einen Knüttelschlag gerade auf den Scheitel, zu betäuben; nicht wahr? Das wird ja wohl in allen Leitfäden und Anweisungen bis auf den heutigen Tag als eine besondere Weisheit eingeschärft?«

»Ganz richtig, ganz richtig … Also Sie meinen, ich hätte Sie durch das von der Dienstwohnung … hm … ja?« Nach diesen Worten kniff Porfirij Petrowitsch die Augen zusammen und zwinkerte ihm zu; ein vergnügter, schlauer Ausdruck huschte über sein Gesicht; die Falten auf seiner Stirn glätteten sich; die Äuglein wurden ganz klein; das ganze Gesicht zog sich in die Breite; und plötzlich brach er in ein nervöses, lange anhaltendes Lachen aus, wobei er den ganzen Körper hin und her wiegte und schwankte, seinem Besucher aber gerade in die Augen blickte. Dieser begann, sich etwas Zwang antuend, selbst zu lachen. Aber als nun bei diesem Anblick Porfirij Petrowitsch in einen solchen Lachkrampf hineingeriet, daß er ganz blaurot wurde, da gewann bei Raskolnikow der Widerwille die Oberhand über die Vorsicht; er hörte auf zu lachen, machte ein finsteres Gesicht und richtete einen langen, haßerfüllten Blick auf Porfirij, so daß er während der ganzen Dauer dieses ununterbrochenen Lachens, das, wie mit Absicht, gar nicht enden zu wollen schien, die Augen nicht von ihm abwandte. Ein Mangel an Vorsicht war übrigens auf beiden Seiten deutlich; denn Porfirij Petrowitsch lachte ja ganz unverhohlen seinem Gaste ins Gesicht, obgleich dieser das Lachen mit haßerfüllter Miene aufnahm, und wurde darüber in keiner Weise verlegen. Dieser letztere Umstand war für Raskolnikow von Wichtigkeit zur Beurteilung der Sachlage: er sagte sich nun, daß Porfirij Petrowitsch sicherlich auch vorhin durchaus nicht verlegen gewesen sei, sondern im Gegenteil er selbst, Raskolnikow, wohl in eine Falle hineingeraten sei, daß hier offenbar etwas vorhanden sei, wovon er nichts wisse, irgendeine besondere Absicht, daß vielleicht alles schon vorbereitet sei und sich im nächsten Augenblick enthüllen und entladen werde.

Er wollte der Gefahr sofort entgegentreten; darum stand er auf und griff nach seiner Mütze.

»Porfirij Petrowitsch«, begann er in entschlossenem Tone, der aber sehr gereizt klang, »Sie sprachen gestern den Wunsch aus, ich möchte zum Zwecke eines Verhörs zu Ihnen kommen.« (Er legte besonderen Nachdruck auf das Wort Verhör.) »Ich bin gekommen, und wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich; andernfalls gestatten Sie mir, mich zu entfernen. Ich habe keine Zeit; ich bin in Anspruch genommen … Ich muß der Beerdigung jenes überfahrenen Beamten beiwohnen, von dem Sie … ja auch bereits wissen …«, fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort über diesen Zusatz und wurde nun noch gereizter. »Mir ist diese ganze Geschichte zum Ekel geworden, hören Sie, und zwar schon längst, … auch meine Krankheit rührte zum Teil davon her … Kurz«, fuhr er beinahe schreiend fort, da er sich bewußt wurde, daß die Bemerkung über die Krankheit noch weniger am Platze gewesen war, »kurz, seien Sie so gut, mich entweder zu befragen oder zu entlassen, aber sofort, … und wenn Sie mich befragen wollen, dann nur in aller Form! Auf eine andre Art der Befragung werde ich nicht eingehen; und darum sage ich Ihnen einstweilen Lebewohl, da wir beide augenblicklich miteinander nichts zu schaffen haben.«

»Um des Himmels willen, was haben Sie denn nur! Worüber soll ich Sie denn vernehmen?« begann Porfirij Petrowitsch plötzlich einen eifrigen Redeschwall, änderte sofort Ton und Miene und hörte im Nu auf zu lachen. »Bitte, regen Sie sich doch nicht auf!« Er entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit, indem er bald wieder hin und her rannte, bald Raskolnikow einlud, doch wieder Platz zu nehmen. »Die Sache hat ja Zeit, die Sache hat ja Zeit, und es sind ja doch nur Kleinigkeiten! Ich bin vielmehr so froh, daß Sie endlich einmal zu mir gekommen sind … Ich betrachte Ihr Hiersein als einen freundlichen Besuch. Und wegen dieses verdammten Lachens bitte ich Sie um Entschuldigung, Väterchen Rodion Romanowitsch! Rodion Romanowitsch, so ist doch wohl Ihr Name? Ich bin ein nervöser Mensch; Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung arg zum Lachen gereizt; manchmal muß ich so lachen, daß mir der Leib schüttert, als ob er aus Gummielastikum wäre, wahrhaftig, eine halbe Stunde lang. Ich bin nun einmal so lachlustig. Bei meiner Konstitution kann ich dabei sogar eines Schlaganfalls gewärtig sein. Aber so setzen Sie sich doch, was haben Sie denn! … Bitte, Väterchen, sonst muß ich ja denken, daß Sie es mir übelgenommen haben …«

Raskolnikow schwieg, hörte und beobachtete, immer noch mit zornigem, finsterem Gesichte. Doch er setzte sich wieder hin, legte aber die Mütze nicht aus der Hand.

»Ich mochte Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, etwas über mich selbst mitteilen, sozusagen, um Ihnen mein Wesen verständlich zu machen, fuhr Porfirij Petrowitsch fort; er hastete wieder durch das Zimmer und vermied es, wie vorher, dem Blicke des Besuchers zu begegnen. »Sehen Sie, ich bin Junggeselle, ohne weltmännischen Schliff; ich lebe so still für mich; meine Entwicklung ist bereits zum Stillstand gelangt, ich bin starr geworden, sozusagen in Samen geschossen, und … und … und ist es Ihnen vielleicht auch schon aufgefallen, Rodion Romanowitsch, daß bei uns, ich meine bei uns in Rußland und ganz besonders in unsern Petersburger Kreisen, wenn zwei verständige Menschen zusammenkommen, die miteinander noch nicht näher bekannt sind, aber sich doch sozusagen wechselseitig achten, so wie wir beide jetzt – daß es dann eine gute halbe Stunde dauert, bis sie ein Gesprächsthema finden; sie sitzen sich steif gegenüber und genieren sich einer vor dem andern. Alle andern Leute haben immer einen Gesprächsstoff parat; die Damen zum Beispiel, … die Lebemänner zum Beispiel, die feinen Leute, alle haben sie immer etwas zum Reden, c’est de rigueur; aber Leute aus der Mittelschicht, so wie wir, sind immer verlegen und wortkarg, … ich meine: denkende Menschen. Woher mag das kommen, Väterchen? Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir so ehrlich, daß wir einander nichts vormachen mögen? Ich weiß es nicht. Nun, wie denken Sie darüber? Aber legen Sie doch Ihre Mütze beiseite; das sieht ja so aus, als wären Sie auf dem Sprunge fortzugehen; das macht sich ja so ungemütlich … Und ich freue mich doch so sehr …«

Raskolnikow legte die Mütze hin, fuhr aber fort, zu schweigen und mit ernstem, finsterem Gesichte Porfirijs leeres, wirres Geschwätz anzuhören. ›Ob er wirklich durch sein dummes Geschwätz meine Aufmerksamkeit ablenken will?‹ dachte er.

»Ich biete Ihnen keinen Kaffee an; es ist hier nicht der Ort dazu«, plauderte Porfirij ohne Unterbrechung weiter. »Aber warum sollte man nicht mal fünf Minuten mit einem Freunde zusammensitzen und sich ein bißchen zerstreuen? Reden von der Dienstwohnung … he-he! Was sind Sie für ein Spötter! Na, ich tu’s nicht wieder! Ach ja, dabei fällt mir ein, ein Wort gibt ja das andre, und ein Gedanke knüpft sich an den andern, Sie haben da vorhin auch von der gesetzlichen Form gesprochen, wissen Sie, in bezug auf Verhöre. Na, wozu denn immer in aller gesetzlichen Form! Wissen Sie, die gesetzliche Form ist dabei oft der reine Unsinn. Manchmal, wenn man nur so ganz freundschaftlich mit einem redet, ist das doch viel vorteilhafter. Die gesetzliche Form läuft einem ja nicht davon; gestatten Sie, daß ich Sie darüber beruhige; ja, und was hat denn auch eigentlich die gesetzliche Form für eine Bedeutung, möchte ich Sie fragen? Durch die gesetzliche Form darf man sich, wenn man eine Untersuchung führt, nicht auf Schritt und Tritt hemmen lassen. Die Tätigkeit eines Untersuchungskommissars ist doch, um mich so auszudrücken, eine freie Kunst in ihrer Art – oder so etwas Ähnliches … he-he-he!«

Porfirij Petrowitsch hielt für einen Augenblick inne, um wieder Atem zu schöpfen. Er redete immer in einem Zuge, ohne müde zu werden; bald waren es sinnlose, leere Redensarten; dann streute er auf einmal dunkle Andeutungen dazwischen und geriet sofort wieder in das sinnlose Gerede hinein. Sein Hin- und Herwandern im Zimmer glich schon beinahe einem Lauf; immer schneller und schneller bewegten sich seine dicken Beinchen; dabei blickte er immer auf den Fußboden; die rechte Hand hielt er auf dem Rücken; die linke schwenkte er fortwährend in der Luft umher und vollführte mit ihr allerlei Gestikulationen, die aber jedesmal auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow bemerkte plötzlich, daß er bei seinem Umherlaufen im Zimmer ein paarmal an der Eingangstür stehenblieb, nur einen Augenblick, und auf etwas zu horchen schien …

›Wartet er vielleicht auf etwas?‹ dachte er.

»Und darin haben Sie wirklich vollkommen recht«, fuhr Porfirij wieder fort und blickte dabei Raskolnikow heiter und mit ganz besonderer Gutmütigkeit an (dieser bekam ordentlich einen Schreck darüber und setzte sich schleunigst wieder in Bereitschaft), »wirklich vollkommen recht, daß Sie sich über das Formenwesen bei der Justiz in so geistreicher Weise lustig machten, he-he! Diese unsre Kniffe, von denen manche mit solchem psychologischen Tiefsinn ausgeklügelt sind, sind höchst lächerlich, ja vielleicht sogar ganz wertlos, wenn man sich dabei zu sehr an die Form bindet. Ja, … ich komme wieder auf die gesetzliche Form zu reden: also wenn ich in einer Sache, die mir übertragen ist, den einen oder den andern für den Täter halte oder, besser gesagt, im Verdacht habe … Sie studieren ja doch Jura, Rodion Romanowitsch?«

»Das habe ich allerdings getan.«

»Nun also, da möchte ich Ihnen, um mich so auszudrücken, ein kleines Beispiel für Ihre zukünftige Praxis anführen – das heißt, glauben Sie nicht etwa, daß ich mir herausnehme, Sie belehren zu wollen: Sie lassen ja selbst so schöne Aufsätze über Verbrechen drucken! Nein, ich möchte Ihnen nur ganz ohne solche Absicht, als einen faktischen Fall, ein kleines Beispiel anführen. Also wenn ich zum Beispiel den einen oder den andern für den Täter halte, warum soll ich, frage ich Sie, ihn vor dem richtigen Zeitpunkt beunruhigen, auch wenn ich Indizien gegen ihn in der Hand habe? Manchen muß ich ja allerdings so schnell wie möglich festnehmen; aber ein andrer hat wieder einen ganz andern Charakter, im Ernst; also warum soll ich ihm da nicht gestatten, noch ein bißchen in der Stadt spazierenzugehen, he-he-he! Nein, wie ich sehe, verstehen Sie noch nicht ganz, wie ich es meine; darum will ich es Ihnen noch deutlicher auseinandersetzen: wenn ich ihn nämlich zu früh festnehme, so gebe ich ihm dadurch womöglich noch sozusagen eine moralische Stütze, he-he! Ja, Sie lachen?« (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Lippen da und wandte seinen glühenden Blick nicht einen Moment von Porfirijs Augen ab.)

Etwa ins Ausland? Ein Pole würde ins Ausland flüchten, aber er nicht, um so weniger, da ich ihn beobachte und meine Maßregeln getroffen habe. Oder soll er im Inlande nach einem Dorfe oder sonst einem kleinen Neste fliehen? Aber da wohnen Bauern, die richtigen, armen und einfältigen russischen Bauern, und ein Mensch mit moderner Bildung wird, wenn er die Wahl hat, lieber ins Gefängnis gehen als mit unsern Bauern zusammenwohnen, mit denen für ihn gar keine Verständigung möglich ist, he-he-he! Und all das ist noch das wenigste, das sind nur äußere Gründe. Was heißt das: ›er wird fliehen‹? Dabei denkt man an die äußere Handlung; aber das ist gar nicht die Hauptsache. Nicht bloß deswegen wird er mir nicht davongehen, weil er keinen Ort hat, wohin er flüchten könnte; er wird mir psychologisch nicht davongehen, he-he-he! Ein feiner Ausdruck, was? Einem Naturgesetze zufolge wird er mir nicht davongehen, selbst wenn er einen Ort hätte, wohin er fliehen könnte. Haben Sie schon einmal einen Schmetterling in der Nähe einer brennenden Kerze gesehen? Na, ganz so wird auch er immerzu, immerzu um mich wie um eine Kerze herumkreisen; die Freiheit wird ihm zuwider werden; er wird melancholisch und konfus werden, sich selbst wie in einem Netze verwickeln und sich zu Tode ängstigen! … Und noch mehr: er selbst wird mir gleichsam einen evidenten mathematischen Beweis zurechtmachen, wenn ich ihm nur die erforderliche Zeit lasse. … Und unaufhörlich, unaufhörlich wird er um mich Kreise beschreiben, mit immer kleinerem Radius; und bauz! fliegt er mir gerade in den Mund, und ich verschlucke ihn. Und das ist doch sehr angenehm, he-he-he! Sie glauben mir nicht?«

Raskolnikow antwortete nicht; er saß blaß und regungslos da und blickte die ganze Zeit über mit demselben gespannten Ausdruck dem andern ins Gesicht.

›Eine gute Lektion!‹ dachte er fröstelnd. ›Das ist ja ganz anders als gestern, wo er Katze und Maus mit mir spielte. Und daß er mir seine Macht zeigt und mir die Antworten in den Mund legt, das tut er sicher nicht, ohne sich einen Nutzen davon zu versprechen; dazu ist er zu klug … Da steckt eine bestimmte Absicht dahinter, aber welche? Ach, Unsinn, Brüderchen, das ist nur so eine List von dir, du willst mich ins Bockshorn jagen. Du hast keine Beweise in Händen, und der Mensch von gestern existiert in Wirklichkeit gar nicht! Du willst mich bloß aus der Fassung bringen, mich zu einer Übereilung reizen und mich in diesem Zustande überrumpeln; aber du verrechnest dich, es wird dir nicht gelingen! es wird dir nicht gelingen! Aber warum legt er mir eigentlich in dieser Weise die Antworten in den Mund? Ja, warum? … Er rechnet wohl auf meine kranken Nerven! … Nein, Brüderchen, du irrst dich, es wird dir nicht gelingen, obgleich du noch irgend etwas im Schilde führst. Nun, wir wollen einmal sehen, was das eigentlich ist.‹

Er nahm all seine Kraft zusammen, um sich auf eine furchtbare, unbekannte Katastrophe vorzubereiten. Zeitweilig hatte er die größte Lust, sich auf Porfirij zu stürzen und ihn auf dem Fleck zu erwürgen; schon als er eintrat, hatte er befürchtet, daß ihn diese Wut überkommen würde. Er fühlte, daß seine Lippen glühten, sein Herz heftig klopfte, die Feuchtigkeit auf den Lippen vertrocknet war. Dennoch entschied er sich dafür zu schweigen und vor der Zeit kein Wort zu sagen. Er sah ein, daß das in seiner Lage die beste Taktik war, weil er dann nicht nur seinerseits übereilte Äußerungen vermeiden, sondern auch noch durch sein Schweigen den Feind reizen würde; vielleicht würde dann sogar dieser ihm gegenüber sich unbedachte Worte entschlüpfen lassen. Wenigstens hoffte Raskolnikow darauf.

»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht; Sie denken immer, daß ich Ihnen harmlose Späßchen vormache«, fuhr Porfirij fort; er wurde immer vergnügter, kicherte unaufhörlich vor Lustigkeit und fing wieder an, im Zimmer herumzulaufen. und wieder hat er einen Anhaltspunkt gegeben! Wenn er auch den andern zunächst hinters Licht führt, aber über Nacht überlegt sich der die Sache, wenn er einigermaßen gewitzt ist. Und so geht es auf Schritt und Tritt! Noch mehr: er fängt an, sich seinen Widersachern geradezu aufzudrängen, sich einzumischen, wo man ihn gar nicht gefragt hat, fortwährend über Dinge zu reden, über die er besser schwiege; er erzählt allerlei mit Andeutungen gespickte Geschichten, he-he-he! er kommt selbst und erkundigt sich: ›Warum dauert es denn so lange, bis ich festgenommen werde?‹ He-he-he! Und so kann es sogar dem scharfsinnigsten Menschen gehen, einem ausgezeichneten Psychologen und Schriftsteller! Die Natur ist ein Spiegel, der klarste Spiegel! In den muß man hineinschauen, mit Lust und Eifer hineinschauen; darauf kommt es an! Aber warum sind Sie denn so blaß geworden, Rodion Romanowitsch? Ist es Ihnen hier zu stickig? Soll ich ein Fenster aufmachen?«

»O bitte, bemühen Sie sich nicht!« rief Raskolnikow und lachte plötzlich auf. »Bitte, bemühen Sie sich nicht!«

Porfirij blieb vor ihm stehen, wartete ein Weilchen und lachte dann, seinem Beispiele folgend, auf einmal selbst los. Raskolnikow stand vom Sofa auf und brach jäh sein Lachen ab, das durchaus den Charakter eines krankhaften Anfalls getragen hatte.

»Porfirij Petrowitsch«, sagte er laut und deutlich, obgleich ihn die zitternden Beine kaum noch trugen, »ich sehe endlich klar, daß Sie mich tatsächlich im Verdachte haben, diese alte Frau und ihre Schwester Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß diese ganze Sache mir schon längst zum Ekel geworden ist. Wenn Sie der Ansicht sind, daß Sie ein Recht haben, gesetzlich gegen mich vorzugehen, so gehen Sie gegen mich vor; glauben Sie, mich festnehmen zu sollen, so tun Sie es doch. Aber daß Sie mir ins Gesicht lachen und mich martern, das dulde ich nicht …«

Seine Lippen bebten, seine Augen glühten vor Wut, und seine Stimme, die bis dahin nicht überlaut gewesen war, schwoll an.

»Das dulde ich nicht!« schrie er und schlug aus voller Kraft mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie wohl, Porfirij Petrowitsch? Das dulde ich nicht!«

»Aber, mein Gott, was haben Sie denn wieder!« rief Porfirij Petrowitsch, anscheinend höchst erschrocken. »Väterchen, Rodion Romanowitsch! Mein Teuerster! Was haben Sie denn nur?«

»Ich dulde es nicht!« rief Raskolnikow noch einmal.

»Nicht so laut, Väterchen! Die Leute nebenan hören es ja und kommen herein! Und was sollen wir ihnen dann sagen, bedenken Sie doch!« flüsterte Porfirij Petrowitsch bestürzt, indem er sein Gesicht dem Raskolnikows näherte.

»Ich dulde es nicht, ich dulde es nicht!« wiederholte Raskolnikow mechanisch, aber auf einmal gleichfalls im Flüstertone.

Porfirij drehte sich schnell um und lief hin, um ein Fenster zu öffnen.

»Wir wollen ein bißchen frische Luft hereinlassen! Und auch einen Schluck Wasser müssen Sie trinken, mein Bester! Das ist ja ein richtiger Anfall!«

Er stürzte schon zur Tür, um Wasser bringen zu lassen, fand aber dort in einer Ecke selbst noch eine Karaffe mit Wasser.

»Da, Väterchen, trinken Sie!« flüsterte er, indem er mit der Karaffe zu ihm hinlief. »Vielleicht hilft das …«

Porfirijs Schreck und sogar seine Teilnahme wirkten so natürlich, daß Raskolnikow schwieg und ihn befremdet und prüfend anblickte. Das Wasser nahm er jedoch nicht.

»Rodion Romanowitsch! Lieber! Auf diese Art werden Sie sich noch um den Verstand bringen, dessen kann ich Sie versichern! So trinken Sie doch! Trinken Sie wenigstens ein klein bißchen!«

Er zwang ihn, das Glas mit Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikow führte es schon mechanisch an die Lippen, kam dann aber zur Besinnung und stellte es voll Abscheu auf den Tisch.

»Ja, ja, Sie haben so einen kleinen Anfall gehabt! Auf diese Weise, bester Freund, werden Sie sich Ihre frühere Krankheit von neuem zuziehen«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort mit freundschaftlicher Teilnahme auf ihn einzureden; seine Miene hatte immer noch den Ausdruck der Fassungslosigkeit beibehalten. »Mein Gott, wie kann man sich nur so wenig in acht nehmen! Da ist auch gestern Dmitrij Prokofjitsch bei mir gewesen – ich gebe ja zu, ich gebe ja zu, ich habe einen spöttischen, garstigen Charakter; aber was haben diese Menschen daraus für wunderliche Schlüsse gezogen! … Mein Gott! Er kam gestern, bald nachdem Sie fortgegangen waren, wir aßen gerade zu Mittag, er redete und redete, ich konnte nur die Hände überm Kopfe zusammenschlagen! Na, dachte ich, … ach, du mein Gott! Hatten Sie ihn dazu veranlaßt, zu mir zu kommen? Aber so setzen Sie sich doch, Väterchen, setzen Sie sich, ich bitte Sie dringend!«

»Nein, ich hatte ihn nicht dazu veranlaßt! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen ging und warum er zu Ihnen ging«, antwortete Raskolnikow schroff.

»Sie wußten es?«

»Ja. Was folgt daraus?«

»Ach, Väterchen Rodion Romanowitsch, ich weiß ja noch ganz andre Sachen, die Sie gemacht haben; ich bin von allem unterrichtet! Ich weiß ja, daß Sie eine Wohnung mieten gingen, kurz vor Einbruch der Nacht, als es schon dunkel wurde, und daß Sie an der Türklingel zogen und nach dem Blute fragten und die Gesellen und die Hausknechte stutzig machten. Ich habe ja auch Verständnis für Ihre damalige Gemütsstimmung, … aber ich muß doch sagen, Sie werden sich auf diese Weise einfach um den Verstand bringen, weiß Gott! Es wird Ihnen wirbelig im Kopfe werden! Eine edle Entrüstung wallt heftig in Ihnen wegen der Kränkungen auf, die Sie erlitten haben, zuerst vom Schicksal, dann von den Polizeibeamten; und deswegen stürmen Sie nun hierhin und dahin, um sozusagen möglichst schnell alle zum Reden zu bringen und so der ganzen Geschichte mit einem Male ein Ende zu machen, weil diese Dummheiten und all diese Verdächtigungen Ihnen zum Ekel geworden sind. Ist es nicht so? Habe ich Ihre Stimmung erraten? … Nur werden Sie auf diese Weise nicht bloß sich selbst, sondern auch meinem lieben Rasumichin den Kopf verdrehen; und es wäre doch schade um ihn, ein so braver Mensch, wie er ist; das wissen Sie selbst. Ihre Krankheit kann auf seine Bravheit ansteckend wirken … Ich will Ihnen, wenn Sie sich beruhigt haben, Väterchen, eine Geschichte erzählen … Aber so setzen Sie sich doch, Väterchen, ich bitte Sie um alles in der Welt; bitte, erholen Sie sich; Sie sehen ja ganz entstellt aus. Aber nehmen Sie doch Platz!«

Raskolnikow setzte sich; das Zittern war vorübergegangen, und eine Gluthitze durchströmte jetzt seinen ganzen Körper. Mit größtem Erstaunen und gespanntester Aufmerksamkeit hörte er dem aufgeregten Porfirij zu, der sich freundschaftlich um ihn bemühte. Aber er glaubte ihm kein einziges Wort, obwohl er eine seltsame Neigung dazu verspürte. Porfirijs unerwartete Bemerkung über das Wohnungssuchen hatte ihn in große Bestürzung versetzt. ›Er weiß also die Geschichte mit der Wohnung‹, dachte er, ›und erzählt es mir von selbst?‹

»Ja, wir haben in unsrer Gerichtspraxis einmal fast genau denselben Fall gehabt, bei dem auch krankhafte Seelenstimmungen eine große Rolle spielten«, fuhr Porfirij in seiner Redseligkeit fort. »Da beschuldigte sich auch einer selbst eines Mordes: eine ganze Halluzination trug er vor, führte Tatsachen an, erzählte Begleitumstände, machte uns alle ganz schwindlig und konfus, und was war schließlich an der Sache dran? Er selbst hatte völlig unabsichtlich zu einem gewissen Teil den Mord ermöglicht, aber nur zu einem gewissen Teil, und als er nun erfuhr, daß er den Mördern die Gelegenheit verschafft habe, da wurde er tiefsinnig, sein Denken geriet in Verwirrung, er hatte Visionen, wurde ganz verrückt und glaubte steif und fest, er wäre der Mörder! Aber die oberste Instanz klärte dann doch schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und in Pflege gegeben. Ein dankenswertes Verdienst der obersten Instanz! Ja, so etwas ist eine schlimme Sache, Väterchen, o weh, o weh! Auf die Art kann man sich leicht ein hitziges Fieber zuziehen, wenn sich schon ein solcher Hang zeigt, die Nerven zu reizen, nachts wegzugehen und an Türklingeln zu ziehen und sich nach Blut zu erkundigen! Dieses ganze Gebiet der Psychologie habe ich in meiner Praxis genau studiert. Manchmal verspürt ein solcher Kranker einen unwiderstehlichen Trieb, aus dem Fenster oder von einem Turm hinabzuspringen, und es ist das eine sehr verführerische Empfindung. Geradeso wie mit dem Ziehen an der Türklingel … Das ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, eine Krankheit! Aber Sie vernachlässigen Ihre Krankheit gar zu sehr. Sie sollten einen erfahrenen Arzt befragen; was kann Ihnen der Dicke, den Sie da haben, helfen! … Sie haben ein hitziges Fieber! Alles, was Sie tun, tun Sie lediglich im Fieberwahn!«

Einen Augenblick lang hatte Raskolnikow die Empfindung, als ob sich alles um ihn im Kreise drehte.

›Ob er wirklich auch jetzt heuchelt?‹ fuhr es ihm durch den Kopf. ›Unmöglich, unmöglich!‹ Er wies diesen Gedanken von sich, da er im voraus fühlte, daß dieser Gedanke ihn in grenzenlose Wut und Raserei versetzen und die Wut ihn des Verstandes berauben könne.

»Das war nicht im Fieberwahn, das war bei klarem Bewußtsein!« rief er und strengte alle Kräfte seines Verstandes an, um Porfirijs Spiel zu durchschauen. »Bei klarem Bewußtsein, bei klarem Bewußtsein! Hören Sie wohl?«

»Ja, ich höre, ich verstehe! Sie sagten auch gestern schon, daß es nicht im Fieberwahn war, und betonten es sogar ganz besonders, es sei nicht im Fieberwahn gewesen. Ich verstehe alles, was Sie sagen können. Ja, ja! … Hören Sie, mein teuerster Rodion Romanowitsch, wir brauchen ja nur diesen einen Umstand zu bedenken: wenn Sie wirklich, tatsächlich ein Verbrecher oder überhaupt irgendwie an dieser verdammten Geschichte beteiligt wären, na, würden Sie dann, ich bitte Sie, selbst betonen, daß Sie das alles nicht im Fieberwahn getan hätten, sondern im Gegenteil bei vollem Bewußtsein? Und noch dazu es ganz besonders betonen, es mit so ganz besondrer Hartnäckigkeit betonen? Na, wäre das möglich? Ich bitte Sie, wäre das möglich? Meines Erachtens würden Sie ganz entgegengesetzt verfahren. Wären Sie sich irgendwelcher Schuld bewußt, so müßten Sie gerade betonen, daß Sie sich unbedingt im Fieberwahn befunden hätten. Nicht wahr? Habe ich nicht recht?«

Es klang eine gewisse Hinterlist aus dieser Frage heraus. Raskolnikow wich vor Porfirij, der sich zu ihm hinbeugte, bis ganz an die Lehne des Sofas zurück, und starrte ihm schweigend und erstaunt ins Gesicht.

»Und dann, was Herrn Rasumichin betrifft, ich meine die Frage, ob er gestern aus eigenem Antriebe zu mir kam, um mit mir über die Sache zu sprechen, oder auf Ihre Veranlassung. Wenn Sie sich schuldig fühlten, so müßten Sie gerade sagen, daß er von selbst gekommen wäre, und verheimlichen, daß er es auf Ihre Veranlassung getan hätte. Sie aber verheimlichen das nicht. Sie betonen gerade, daß er auf Ihre Veranlassung gekommen sei!«

Raskolnikow hatte das niemals betont. Ein Kältegefühl lief ihm über den Rücken.

»Sie lügen fortwährend«, sagte er langsam und matt; seine Lippen verzogen sich zu einem krankhaften Lächeln. »Sie wollen mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im voraus wissen.« Er merkte selbst, daß er seine Worte nicht mehr so abwog, wie es nötig war. »Sie wollen mich einschüchtern, … oder Sie machen sich einfach über mich lustig.«

Er sah ihn, während er das sagte, immer noch starr an, und auf einmal flammte wieder eine maßlose Wut in seinen Augen auf.

»Sie lügen fortwährend!« rief er. »Sie wissen selbst sehr gut, daß es für einen Verbrecher das klügste ist, nach Möglichkeit die Wahrheit zu sagen, … nichts zu verheimlichen, was nicht verheimlicht zu werden braucht! Ich glaube Ihnen nicht!«

»Nun sehen Sie mal, wie Sie sich hin und her zu wenden verstehen!« kicherte Porfirij. »Mit Ihnen, Väterchen, kann man doch gar nicht fertig werden! Es hat sich so eine Art von fixer Idee bei Ihnen festgesetzt. Also Sie glauben mir nicht? Ich aber sage Ihnen, daß Sie mir allerdings schon glauben, mir schon einen großen Teil von dem, was ich sage, glauben, und ich werde Sie dahin bringen, daß Sie mir alles glauben; denn ich habe Sie von Herzen gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.«

Raskolnikows Lippen fingen an zu zittern.

»Ja, ich wünsche Ihnen alles Gute, und ich rate Ihnen ganz entschieden«, fuhr er fort und faßte mit leiser Berührung Raskolnikow freundschaftlich am Arm, ein wenig oberhalb des Ellbogens, »ich rate Ihnen ganz entschieden: achten Sie recht auf Ihre Krankheit. Es kommt noch hinzu, daß jetzt Ihre nächsten Angehörigen hier bei Ihnen eingetroffen sind; auch an die sollten Sie denken. Es wäre Ihre Pflicht, ihnen ein ruhiges Leben zu bereiten und sie mit zärtlicher Sorge zu umgeben; aber Sie versetzen die Ihrigen nur in Angst …«

»Was geht Sie das an? Woher wissen Sie das? Warum interessieren Sie sich so für mich? Sie lassen mich also beobachten und wollen mir das zeigen?«

»Aber, Väterchen! Ich habe das alles doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie merken gar nicht, daß Sie in Ihrer Erregung mir und andern alles selbst zuerst erzählen. Auch von Herrn Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern viele interessante Einzelheiten erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, und ich muß Ihnen sagen, daß Sie infolge Ihrer Neigung zu Argwohn trotz all Ihres Scharfsinns sogar den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Sehen Sie zum Beispiel, was das Ziehen an der Türklingel anlangt, wenn ich noch einmal auf dieses Thema zurückkommen darf: ein so wertvolles Beweismoment, ein solches Faktum (denn es ist ja ein ganz feststehendes Faktum) habe ich, der Untersuchungskommissar, Ihnen so mir nichts, dir nichts preisgegeben! Und in dieser Handlungsweise finden Sie gar nichts? Wenn ich auch nur den geringsten Verdacht gegen Sie hegte, hätte ich dann so verfahren dürfen? Ich müßte vielmehr zunächst Ihren Argwohn einschläfern und gar nicht merken lassen, daß mir dieses Faktum bereits bekannt ist; ich müßte in dieser Weise Ihre Aufmerksamkeit nach der entgegengesetzten Seite ablenken und Sie dann plötzlich, wie mit einem Knüttelschlage auf den Scheitel (nach Ihrem eigenen Ausdrucke), mit diesen Fragen betäuben: ›Was hatten Sie, mein Herr, in der Wohnung der Ermordeten um zehn Uhr abends oder noch später zu suchen? Warum haben Sie an der Türklingel gezogen? Warum erkundigten Sie sich nach dem Blute? Warum verblüfften Sie die Hausknechte und forderten sie auf, nach dem Polizeibureau, zum Revierleutnant, mitzukommen?‹ So müßte ich verfahren, wenn ich auch nur eine Spur von Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte in aller Form ein Verhör mit Ihnen anstellen, eine Haussuchung vornehmen, vielleicht auch Sie festnehmen lassen … Folglich hege ich gegen Sie keinen Verdacht, da ich ja anders gehandelt habe! Aber um es noch einmal zu wiederholen: Sie haben den gesunden Blick verloren und sehen nichts!«

Raskolnikow zuckte mit dem ganzen Körper zusammen, so daß Porfirij Petrowitsch es ganz deutlich bemerkte.

»Sie lügen fortwährend!« rief er. »Ich kenne Ihre Absichten nicht, aber Sie lügen fortwährend! … Vorhin haben Sie in ganz anderem Sinne gesprochen; darin kann ich mich nicht irren … Sie lügen!«

»Ich lüge?« erwiderte Porfirij, der sich anscheinend ereiferte, aber seine heitere, spöttische Miene beibehielt und sich nicht im geringsten darüber aufzuregen schien, was Herr Raskolnikow über ihn für eine Meinung hätte. »Ich lüge? … Na, und wie habe ich mich vorhin gegen Sie benommen, ich, der Untersuchungskommissar? Ich selbst habe Ihnen alle möglichen Verteidigungsmittel mitgeteilt und an die Hand gegeben; ich selbst habe Ihnen dieses ganze Kapitel der Psychologie auseinandergesetzt: ›Krankheit‹, sagt man zu seiner Verteidigung. ›Fieberwahn, ich fühlte mich gekränkt, Schwermut‹, und ›die Polizeibeamten‹ und noch vieles andre. Nicht wahr? He-he-he! Wiewohl, beiläufig bemerkt, all diese der Psychologie entlehnten Verteidigungsmittel, Ausreden und Finten äußerst unzuverlässig sind und gar sehr ihre zwei Seiten haben: ›Krankheit‹, sagt man, ›Fieberwahn, Träume, es ist mir so vorgekommen, ich erinnere mich nicht‹; alles ganz schön; aber, Väterchen, warum stellen sich denn in der Krankheit und im Fieberwahn immer gerade nur solche Träume ein und keine andern? Es könnte einem doch auch etwas andres träumen? Nicht wahr? He-he-he-he!«

Raskolnikow maß ihn mit einem stolzen, verächtlichen Blicke.

»Um es kurz zu machen«, sagte er laut und energisch, indem er aufstand und dabei Porfirij ein wenig beiseite schob, »um es kurz zu machen, ich will wissen: erklären Sie mich endgültig für frei von allem Verdacht oder nicht? Sagen Sie mir das, Porfirij Petrowitsch, sagen Sie mir das bestimmt und endgültig, und recht schnell, sofort!«

»Ach, ist das eine Not! Nein, was man mit Ihnen für Not hat!« rief Porfirij mit durchaus heiterer, schlauer Miene und ohne jedes Zeichen von Erregung. »Wozu brauchen Sie denn das zu wissen, wozu brauchen Sie denn all so etwas zu wissen, da es doch noch keinem Menschen eingefallen ist, Sie irgendwie zu belästigen? Sie sind ja ganz wie ein Kind, das durchaus verlangt, man solle ihm das Feuer in die Hand geben! Und warum beunruhigen Sie sich so? Warum drängen Sie sich uns denn selbst in dieser Weise auf? Was haben Sie dazu für Gründe? He-he-he!«

»Ich wiederhole Ihnen«, schrie Raskolnikow wütend, »daß ich das nicht länger ertragen kann! …«

»Was können Sie nicht ertragen? Die Ungewißheit?« unterbrach ihn Porfirij.

»Verhöhnen Sie mich nicht! Ich will das nicht länger ertragen! … Ich sage Ihnen, daß ich das nicht länger ertragen will! … Ich kann und will es nicht! … Hören Sie! Hören Sie!« schrie er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.

»Aber leiser, leiser! Das hören ja andre Leute! Ich warne Sie in allem Ernst: schonen Sie Ihre Gesundheit! Ich scherze nicht!« erwiderte Porfirij flüsternd; aber diesmal war auf seinem Gesichte von dem weibisch-gutmütigen, ängstlichen Ausdruck nichts mehr zu bemerken; im Gegenteil, jetzt befahl er geradezu, in strengem Tone, mit zusammengezogenen Brauen; es war, als würfe er mit einem Male alles Versteckspiel und alle Zweideutigkeit beiseite.

Indes dauerte das nur einen Augenblick. Raskolnikow war aufs höchste überrascht und geriet in vollständige Raserei; aber sonderbarerweise fügte er sich wieder dem Befehle, leiser zu sprechen, obwohl er sich in einem wahren Paroxysmus von Wut befand.

»Ich lasse mich nicht so quälen!« flüsterte er gerade wie vorhin; voll Schmerz und Ingrimm wurde er sich in demselben Augenblicke bewußt, daß er nicht die Kraft besaß, dem Befehle zu widerstreben, und dieser Gedanke machte ihn nur noch wütender. »Verhaften Sie mich, halten Sie bei mir Haussuchung; aber verfahren Sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Form und spielen Sie nicht mit mir! Unterstehen Sie sich nicht, das zu tun!«

»Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen der gesetzlichen Form!« unterbrach ihn Porfirij, nun wieder mit seinem schlauen Lächeln, und betrachtete Raskolnikow, wie es schien, sogar mit einer besonderen Art von Genuß. »Ich hatte Sie jetzt doch nur als guten Bekannten zu einem Besuche aufgefordert, Väterchen, nur so ganz freundschaftlich!«

»Ich will Ihre Freundschaft nicht, ich pfeife darauf! Hören Sie? Sehen Sie her: ich nehme meine Mütze und gehe weg. Nun, was werden Sie jetzt dazu sagen, wenn Sie wirklich die Absicht haben, mich zu verhaften?«

Er ergriff seine Mütze und ging zur Tür.

»Ich habe eine kleine Überraschung für Sie; wollen Sie die nicht noch sehen?« kicherte Porfirij, faßte ihn wieder etwas oberhalb des Ellbogens an und hielt ihn an der Tür zurück.

Er wurde augenscheinlich immer heiterer und lustiger, worüber Raskolnikow ganz außer sich kam.

»Was für eine kleine Überraschung? Was wollen Sie damit sagen?« fragte er, blieb plötzlich stehen und blickte Porfirij erschreckt an.

»Die Überraschung ist hier zur Stelle; ich habe sie da hinter der Tür sitzen, he-he-he!« Er wies mit dem Finger auf die geschlossene Tür in dem Bretterverschlag, die nach seiner Dienstwohnung führte. »Ich habe sie sogar eingeschlossen, damit sie nicht davonläuft.«

»Was ist es denn? Wo? Was?«

Raskolnikow trat zu der Tür hin und wollte sie öffnen; aber sie war verschlossen.

»Sie ist zugeschlossen; da ist der Schlüssel!«

Er zog wirklich einen Schlüssel aus der Tasche und zeigte ihn ihm.

»Du lügst fortwährend!« schrie Raskolnikow, der sich nicht mehr beherrschen konnte. »Du lügst, du verdammter Hanswurst!« und er stürzte auf Porfirij los, der sich nach der Eingangstür zurückzog, ohne jedoch irgendwie Furcht zu zeigen.

»Ich durchschaue alles, alles durchschaue ich!« rief Raskolnikow, indem er auf ihn zusprang. »Du lügst und hänselst mich, damit ich mich verraten soll.«

»Ein deutlicherer Selbstverrat ist ja gar nicht denkbar, Väterchen Rodion Romanowitsch. Sie sind ja ganz rasend geworden. Schreien Sie nur nicht so; sonst muß ich Leute herbeirufen.«

»Du lügst, es kann mir nichts geschehen! Rufe deine Leute her! Du hast gewußt, daß ich krank bin, und hast mich so lange reizen wollen, bis ich wütend würde, damit ich mich verriete; das war deine Absicht! Aber bringe Tatsachen vor! Ich habe alles durchschaut! Tatsachen hast du keine; du hast nur klägliche, wertlose Mutmaßungen à la Sametow! … Du kanntest meinen Charakter und wolltest mich in Raserei versetzen, um mich dann plötzlich mit Popen und Zeugen zu überrumpeln … Wartest du auf die? Ja? Worauf wartest du? Wo sind sie? Laß sie herkommen!«

»Aber, Väterchen, was sollen hier Popen und Zeugen! Was manche Leute für Vorstellungen haben! So, wie Sie sagen, zu verfahren, das würde ja der gesetzlichen Form gar nicht entsprechen; Sie verstehen den Geschäftsgang gar nicht, mein Bester … Die gesetzliche Form läuft uns nicht davon; das werden Sie schon noch selbst sehen!« murmelte Porfirij und horchte nach der Eingangstür hin.

Wirklich war in diesem Augenblicke dicht an dieser Tür im Nebenzimmer ein Geräusch zu vernehmen.

»Aha, sie kommen!« rief Raskolnikow. »Du hast sie holen lassen! … Du hast auf sie gewartet! Darauf hast du gerechnet! Nun, laß sie alle herkommen, deine Zeugen und wen du sonst noch willst! Her damit! Ich bin bereit! Ich bin bereit!«

Aber in diesem Augenblicke begab sich etwas Seltsames, etwas, was so außerhalb des gewöhnlichen Ganges der Dinge lag, daß weder Raskolnikow noch Porfirij Petrowitsch mit einer derartigen Entwicklung hatten rechnen können.

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Kapitel 26

VI

Wenn in späteren Zeiten Raskolnikow sich dieser Szene erinnerte, so stellte sie sich ihm folgendermaßen dar:

Das Geräusch, das hinter der Tür vernehmbar geworden war, wurde schnell stärker, und die Tür wurde ein wenig geöffnet.

»Was gibt es?« rief Porfirij Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch befohlen …«

Es erfolgte zunächst keine Antwort; aber es war deutlich, daß sich hinter der Tür mehrere Menschen befanden und bemüht waren, jemand von der Tür wegzustoßen.

»Was gibt es denn da?« fragte Porfirij Petrowitsch noch einmal in erregtem Tone.

»Sie haben den Arrestanten Nikolai hergebracht«, antwortete eine Stimme.

»Den brauche ich nicht! Weg mit ihm! Wartet noch! Was hat er jetzt hier zu suchen! Was ist das für eine Unordnung!« rief Porfirij und stürzte zur Tür.

»Ja, er …«, setzte dieselbe Stimme wieder an, brach aber plötzlich ab.

Ein richtiges Ringen entstand, das nicht länger als zwei Sekunden dauerte; dann schien jemand einen andern mit aller Kraft beiseitezustoßen, und unmittelbar darauf trat ein sehr blaß aussehender Mensch in Porfirijs Arbeitszimmer.

Die äußere Erscheinung dieses Menschen war auf den ersten Blick sehr überraschend. Er schaute gerade vor sich hin, schien aber niemanden zu sehen. In seinen Augen blitzte eine wilde Entschlossenheit; aber dabei bedeckte Totenblässe sein Gesicht, als ob er zum Richtplatz geführt würde. Seine ganz blassen Lippen zuckten leise.

Er war noch sehr jung, gekleidet wie ein Mensch aus dem einfachen Volke, von mittlerem Wuchse und mager; sein Haar war rund geschnitten; die feinen Gesichtszüge hatten etwas Trockenes, Ausdrucksloses. Der Mann, der von ihm unerwarteterweise beiseitegestoßen worden war, ein Polizist, stürzte hinter ihm her ins Zimmer und ergriff ihn an der Schulter; aber Nikolai machte einen heftigen Ruck mit dem Arm und riß sich noch einmal von ihm los.

In der Tür drängten sich mehrere Neugierige, und einige von ihnen hatten die größte Lust hereinzukommen. Dieser ganze Vorgang hatte sich fast in einem Augenblicke abgespielt.

»Fort mit dir! Es ist noch zu früh! Warte, bis du gerufen wirst! … Warum die ihn nur so früh hergebracht haben?« murmelte Porfirij Petrowitsch höchst ärgerlich, als wenn ihm jemand sein Konzept verdorben hätte.

Plötzlich warf sich Nikolai auf die Knie nieder.

»Was willst du?« rief Porfirij verwundert.

»Ich habe es getan! Ich habe das Verbrechen begangen! Ich bin der Mörder!« sagte Nikolai; er atmete nur mühsam, sprach aber mit ziemlich lauter Stimme.

Etwa zehn Sekunden lang schwiegen alle wie versteinert; sogar der Polizist war zurückgewichen und rührte Nikolai nicht mehr an; er zog sich mechanisch zur Tür zurück und blieb dort stehen, ohne sich zu regen.

»Was soll das heißen?« rief Porfirij Petrowitsch, sobald er sich von der momentanen Erstarrung wieder freigemacht hatte.

»Ich … bin der Mörder«, sagte Nikolai noch einmal nach einer kurzen Pause.

»Wie? … Du? … Wie? … Wen hast du ermordet?«

Porfirij Petrowitsch war augenscheinlich fassungslos. Nikolai schwieg wieder ein kleines Weilchen.

»Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich … mit einem Beile … ermordet. Eine Verblendung war über mich gekommen …«, fügte er hinzu und verstummte wieder. Er lag noch immer auf den Knien.

Porfirij Petrowitsch stand einige Augenblicke in Gedanken versunken da; aber dann raffte er sich zusammen und gab mit der Hand den ungebetenen Zeugen einen Wink, daß sie sich entfernen möchten. Diese verschwanden sofort und machten die Tür wieder zu. Dann richtete er seinen Blick auf Raskolnikow, der in einer Ecke stand und verstört Nikolai ansah, ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb aber auf einmal wieder stehen, ließ seinen Blick zu Nikolai, dann wieder zu Raskolnikow, dann wieder zu Nikolai herüberwandern; endlich stürzte er, wie von einer Eingebung erfüllt, auf Nikolai los.

»Warum kommst du mir denn gleich von vornherein mit deiner Verblendung?« schrie er ihn grimmig an. »Ich habe dich ja noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über dich gekommen ist oder nicht … Antworte: hast du den Mord begangen?«

»Ich bin der Mörder … Ich gestehe es«, erwiderte Nikolai.

»Ach was! Womit hast du den Mord begangen?«

»Mit einem Beile. Das hatte ich mir vorher beschafft.«

»Ach was! Nur nicht so eilig! Allein?«

Nikolai verstand die Frage nicht.

»Hast du den Mord allein begangen?«

»Ja, ganz allein. Mitjka ist unschuldig; er war gar nicht daran beteiligt.«

»Rede nicht vorschnell von Mitjka! … Na so was! … Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergekommen? Die Hausknechte haben euch doch beide zusammen gesehen?«

»Ich bin damals absichtlich mit Mitjka zusammen hinuntergelaufen, … um den Verdacht von mir abzulenken« erwiderte Nikolai prompt, als hätte er sich vorher auf die Antwort vorbereitet.

»Na ja, es ist so!« rief Porfirij wütend. »Er sagt eine Lektion auf!« murmelte er wie für sich und sah auf einmal wieder Raskolnikow an.

Seine Gedanken waren offenbar so stark von Nikolai in Anspruch genommen gewesen, daß er für einen Augenblick an Raskolnikow gar nicht mehr gedacht hatte. Jetzt kam ihm das auf einmal zum Bewußtsein, und er wurde ordentlich verlegen.

»Entschuldigen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch«, wandte er sich zu ihm, »das geht wohl nicht so in Gegenwart eines Dritten; haben Sie die Güte … Sie haben ja hier nichts mehr zu tun … Ich bin selbst … Sie sehen, was man für Überraschungen erlebt! … Darf ich Sie bitten! …«

Er faßte ihn an der Hand und zeigte nach der Tür.

»Das scheinen Sie nicht erwartet zu haben«, sagte Raskolnikow, der die Sache natürlich noch nicht klar begriff, aber doch bereits erheblich an Mut gewonnen hatte.

»Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Ei, wie Ihre Hand zittert! He-he!«

»Auch Sie zittern, Porfirij Petrowitsch.«

»Jawohl, jawohl; das hatte ich nicht erwartet.«

Sie standen schon in der Tür. Porfirij wartete ungeduldig darauf, daß Raskolnikow hinausginge.

»Und die Überraschung, von der Sie sprachen, die wollen Sie mir nun nicht zeigen?« fragte Raskolnikow spöttisch.

»So reden Sie nun, und dabei schlagen Ihnen doch noch die Zähne im Munde aufeinander, he-he! Was sind Sie für ein spottlustiger Mensch! Na, auf Wiedersehen!«

»Meiner Ansicht nach können wir einander einfach Adieu sagen!«

»Wie es Gott lenken wird, wie es Gott lenken wird!« murmelte Porfirij und verzog den Mund zu einem eigentümlichen Lächeln.

Beim Durchschreiten der Kanzlei bemerkte Raskolnikow, daß viele ihn aufmerksam betrachteten. Im Vorzimmer erkannte er unter der Menge die beiden Hausknechte aus »jenem« Hause, die er damals in der Nacht aufgefordert hatte, mit zum Polizeibureau zu kommen. Sie standen da und warteten auf etwas. Kaum war er jedoch auf die Treppe gelangt, als er hinter sich Porfirijs Stimme hörte. Er drehte sich um und sah, daß ihm dieser ganz außer Atem nachgelaufen kam.

»Nur noch ein Wort, Rodion Romanowitsch! Wie sich diese ganze Geschichte lösen wird, das wollen wir Gott anheimgeben; aber ich werde Sie über einige Punkte doch noch in der gesetzlichen Form befragen müssen … Also sehen wir uns noch, nicht wahr?«

Porfirij blieb lächelnd vor ihm stehen.

»Nicht wahr?« fügte er noch einmal hinzu.

Es machte den Eindruck, als wollte er noch weiterreden; aber es kam nichts mehr.

»Ich möchte Sie noch um Entschuldigung bitten, Porfirij Petrowitsch, wegen meines Verhaltens von vorhin, … ich bin etwas zu hitzig geworden«, begann Raskolnikow; er war schon wieder ganz dreist geworden und verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, ein bißchen zu schauspielern.

»Oh, das tut ja nichts, tut ja gar nichts!« fiel Porfirij in freudigem Tone ein. »Ich bin ja auch meinerseits … Ich habe nun einmal so einen bissigen Charakter; ich gestehe es, ich gestehe es! Nun aber, wir sehen uns ja noch. So Gott will, sehen wir uns noch recht oft wieder! …«

»Und dann werden wir einander recht genau kennenlernen?« erwiderte Raskolnikow.

»Jawohl, recht genau werden wir einander dann kennenlernen«, stimmte ihm Porfirij Petrowitsch bei und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen sehr ernst an. »Sie gehen jetzt zur Feier eines Namenstages?«

»Nein, zu einer Beerdigung.«

»Ja, richtig, zu einer Beerdigung! Achten Sie nur auf Ihre Gesundheit; auf die müssen Sie recht sehr achten …«

»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich Ihnen nun meinerseits wünschen soll!« antwortete Raskolnikow, der schon anfing, die Treppe hinabzusteigen, sich aber wieder zu Porfirij umwandte. »Ich möchte Ihnen guten Erfolg in Ihrer amtlichen Tätigkeit wünschen; aber Sie sehen ja selbst, wie komisch Ihr Amt ist.«

»Wieso komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich gleichfalls bereits umgedreht hatte, um fortzugehen, nun aber sofort die Ohren spitzte.

»Aber gewiß! Da ist dieser arme Nikolai; den haben Sie wahrscheinlich in Ihrer psychologischen Manier gequält und gemartert, solange er noch nicht gestand! Tag und Nacht haben Sie ihm wahrscheinlich bewiesen: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! …‹ Na, und nun, wo er es bereits gestanden hat, fangen Sie von neuem an, ihn durchzukneten: ›Du lügst‹, heißt es jetzt, ›du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du sagst eine Lektion auf!‹ Nun, ist da Ihr Amt nicht komisch?«

»He-he-he! Das haben Sie also gehört, daß ich vorhin eben zu Nikolai sagte, er sage eine Lektion auf?«

»Natürlich habe ich es gehört!«

»He-he! Ein scharfsinniger Mann sind Sie, ein scharfsinniger Mann. Alles bemerken Sie! Ein überaus reger Verstand! Und Sie gewinnen einer Sache immer die komischste Seite ab … he-he! … Von den Schriftstellern besaß ja wohl Gogol diese Fähigkeit im höchsten Grade?«

»Gewiß.«

»Ja, ja, Gogol … Auf angenehmes Wiedersehen!«

»Auf angenehmes Wiedersehen!«

Raskolnikow ging geradeswegs nach Hause. Er war so wirr und benommen, daß er, als er nach Hause gekommen war, sich auf das Sofa warf und eine Viertelstunde still dasaß, lediglich damit beschäftigt, sich zu erholen und seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Über die Geschichte mit Nikolai ins klare zu kommen, das versuchte er gar nicht; er fühlte sich tief erschüttert; er fühlte, daß in Nikolais Geständnis etwas Unerklärliches, Wunderbares enthalten war, was er jetzt schlechterdings nicht begreifen könne. Aber Nikolais Geständnis war eine Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache standen ihm sofort klar vor Augen: die Unwahrheit dieser Selbstbezichtigung konnte nicht verborgen bleiben, und dann hielt man sich wieder an ihn. Aber bis dahin wenigstens war er frei und mußte unbedingt etwas für sich tun; denn die Gefahr drohte ihm mit Sicherheit.

Aber wie groß war diese Gefahr? Die Lage begann sich zu klären. Während er sich in großen, allgemeinen Umrissen die ganze Szene ins Gedächtnis zurückrief, die er soeben mit Porfirij gehabt hatte, fuhr er unwillkürlich noch einmal vor Schreck zusammen. Allerdings, er kannte noch nicht alle Absichten Porfirijs, konnte noch nicht alle seine Berechnungen durchschauen. Aber ein Teil des Spieles war bereits aufgedeckt, und natürlich konnte niemand besser als er verstehen, wie schrecklich für ihn diese von Porfirij ausgespielte Karte war. Nur wenig hatte gefehlt, und er wäre imstande gewesen, sich vollständig und unzweideutig zu verraten. Porfirij, der die Krankhaftigkeit seines Charakters wahrgenommen und gleich beim ersten Blick richtig erfaßt und durchschaut hatte, hatte daraufhin ein zwar etwas zu keckes, aber doch fast sicheres Spiel gespielt. Es war nicht zu bestreiten, daß er, Raskolnikow, sich vorhin schon arg kompromittiert hatte; aber bis zu Tatsachen war es doch noch nicht gekommen; alles, was vorlag, war immer noch verschiedener Deutungen fähig. Aber faßte er auch alles Vorgefallene richtig auf? Irrte er sich auch nicht? Zu welchem Resultate hatte Porfirij heute eigentlich gelangen wollen? Hatte er wirklich heute etwas, was zu seiner Überführung dienen konnte, vorbereitet gehabt und im Hintergrunde gehalten? Und was konnte das gewesen sein? Hatte er wirklich auf etwas gewartet oder nicht? Wie hätte sich wohl heute ihr Auseinandergehen gestaltet, wenn die unerwartete Katastrophe mit Nikolai nicht eingetreten wäre?

Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; das war ja von ihm sehr riskant; aber er hatte es trotzdem getan, und Raskolnikow hatte die bestimmte Vorstellung: hätte Porfirij wirklich noch mehr Beweismaterial gehabt, so hätte er auch das noch enthüllt. Was hatte es nun mit dieser »Überraschung« für eine Bewandtnis? Hatte er ihn damit nur hinters Licht führen wollen? War etwas Ernsthaftes daran oder nicht? Konnte etwas, was einer Tatsache, einem positiven, belastenden Momente ähnlich sah, dahinterstecken? Der Mann von gestern vielleicht? Wo war der geblieben? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt positives Beweismaterial hatte, so stand das sicherlich in Beziehung zu dem Manne von gestern.

Er saß auf dem Sofa mit tief herabgesunkenem Kopfe, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht mit den Händen verdeckt. Ein nervöses Zittern lief ihm immer noch durch den ganzen Körper. Schließlich stand er auf, ergriff seine Mütze, stand einen Augenblick in Gedanken und ging zur Tür.

Er hatte die Vorstellung, daß er wenigstens für den heutigen Tag sich mit einiger Sicherheit für ungefährdet halten könne. Auf einmal empfand er in seinem Herzen beinahe ein Gefühl der Freude: er wollte so schnell wie möglich zu Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er natürlich zu spät; aber an dem Gedächtnismahle konnte er noch teilnehmen, und dabei würde er in wenigen Minuten Sonja sehen.

Er blieb stehen und überlegte ein Weilchen; ein schmerzliches Lächeln spielte um seine Lippen.

›Heute noch, heute noch!‹ sagte er vor sich hin. ›Ja, heute noch; es muß sein!‹

In dem Augenblicke, wo er die Tür öffnen wollte, ging sie plötzlich von selbst auf. Zitternd sprang er zurück. Die Tür öffnete sich langsam und leise, und vor ihm stand die Gestalt des Mannes, der ihm gestern »wie aus der Erde gewachsen« erschienen war.

Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und machte einen Schritt in das Zimmer hinein. Seine äußere Erscheinung war die gleiche wie gestern, dieselbe Gestalt, dieselbe Kleidung; aber in seinem Gesicht und in seinem Blick war eine starke Veränderung vorgegangen: er sah jetzt ganz niedergeschlagen aus, und nachdem er einen Augenblick so dagestanden hatte, seufzte er tief. Es fehlte nur, daß er dabei die Hand an die Backe gelegt und den Kopf zur Seite gebeugt hätte; dann hätte er vollständig wie ein altes Weib ausgesehen.

»Was wünschen Sie?« fragte Raskolnikow, der leichenblaß geworden war.

Der Mann schwieg noch eine kleine Weile und verneigte sich dann auf einmal tief vor ihm, fast bis zur Erde; wenigstens berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.

»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow.

»Verzeihen Sie mir!« erwiderte der Mann leise.

»Was soll ich Ihnen verzeihen?«

»Meine bösen Gedanken.«

Beide blickten einander an.

»Ich hatte mich geärgert. Als Sie damals kamen, vielleicht wirklich in betrunkenem Zustande, und die Hausknechte aufforderten, mit nach dem Polizeibureau zu kommen, und nach dem Blute gefragt hatten, da ärgerte ich mich, daß man Sie so einfach für betrunken hielt und unbehelligt gehen ließ. Und ich ärgerte mich so, daß ich in der Nacht nicht schlafen konnte. Und da ich Ihre Adresse im Kopfe behalten hatte, so kam ich gestern hierher und erkundigte mich nach Ihnen … Ich habe Sie beleidigt.«

»Sie sind also aus jenem Hause?«

»Ja, ich wohne da. Ich stand damals mit den Hausknechten im Torweg; erinnern Sie sich vielleicht? Ich habe da auch meine Werkstatt, seit vielen Jahren. Ich bin Kürschner, Kleinbürger; ich arbeite im Hause. Und ich ärgerte mich so …«

Nun erinnerte sich Raskolnikow auf einmal deutlich an die ganze Szene von vorgestern im Torweg; er hatte noch im Gedächtnis, daß damals außer den Hausknechten dort noch ein paar Leute gestanden hatten, auch eine Frau. Er entsann sich einer Stimme, die den Vorschlag gemacht hatte, ihn ohne weiteres auf die Polizei zu bringen. Auf das Gesicht dessen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte ihn auch jetzt in seinem Besucher nicht wieder; aber es war ihm erinnerlich, daß er ihm damals eine Antwort gegeben und sich auch nach ihm umgewandt hatte.

Also das war nun die Erklärung des ganzen schrecklichen Erlebnisses von gestern. Am furchtbarsten war es ihm, sich sagen zu müssen, daß er infolge eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrunde gegangen wäre, sich beinahe zugrunde gerichtet hätte. Also hatte dieser Mensch von nichts erzählen können als von dem Wohnungmieten und dem Gespräche über das Blut. Folglich hatte auch Porfirij kein Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen, nur »psychologische Beweise«, die »ihre zwei Seiten … hier fehlt eine ganze Zeile im Buch … Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen ans Licht kamen (und solche durften nicht mehr ans Licht kommen, unter keinen Umständen!) – was konnte man ihm dann anhaben? Wodurch konnte man ihn dann überführen, selbst wenn man ihn festnahm? Und folglich hatte Porfirij erst jetzt, erst eben jetzt von dem Besuch in der Wohnung erfahren und vorher nichts davon gewußt.

»Da haben Sie also heute wohl Porfirij davon erzählt, … daß ich nach Ihrem Hause gekommen war?« rief er, von einem Gedanken, der ihm plötzlich gekommen war, überrascht.

»Was für einem Porfirij?«

»Dem Untersuchungskommissar.«

»Ja, dem habe ich es gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, und da bin ich hingegangen.«

»Heute?«

»Ich war unmittelbar vor Ihnen da. Und ich habe alles gehört, wie er Sie gefoltert hat.«

»Wo? Was? Wann?«

»Nun dort, bei ihm hinter der Bretterwand; da habe ich die ganze Zeit über gesessen.«

»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Aber ich bitte Sie, wie ist denn das zugegangen?«

»Als ich sah«, erwiderte der Kleinbürger, »daß die Hausknechte trotz meines Zuredens nicht hingehen wollten (sie sagten, nun wäre es schon zu spät, und er würde womöglich noch böse werden, weil sie nicht sogleich mit Ihnen hingekommen wären), da ärgerte ich mich und konnte nicht schlafen und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Und nachdem ich mich gestern nach Ihnen erkundigt hatte, ging ich heute zu dem Untersuchungskommissar hin. Als ich zum ersten Male hinkam, war er nicht da; als ich eine Stunde später wieder hinkam, empfing er mich nicht; als ich zum dritten Male kam, wurde ich vorgelassen. Ich berichtete ihm alles, wie es sich zugetragen hatte, und da fing er an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust gegen die Brust zu schlagen. ›Ihr nichtswürdige Bande‹, sagte er, ›warum habt ihr mir das nicht gleich gemeldet? Hätte ich das gewußt, so hätte ich ihn mir durch die Polizei herholen lassen!‹ Dann lief er hinaus, rief jemanden herein und redete mit ihm in einer Ecke; dann wendete er sich wieder zu mir, fragte mich allerlei und schimpfte. Er machte mir viele Vorwürfe, und ich hatte ihm doch alles berichtet und ihm auch gesagt, daß Sie gestern nicht gewagt hätten, mir auf meine Worte etwas zu antworten, und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Da fing er wieder an herumzulaufen und schlug sich immer gegen die Brust und war ärgerlich und lief umher; und als Sie angemeldet wurden, da sagte er zu mir: ›Na, geh mal hinter die Zwischenwand, sitze da einstweilen und rühre dich nicht, was du auch hören magst!‹ und er brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich ein. ›Vielleicht werde ich dich noch befragen‹, sagte er. Als aber Nikolai hereingekommen war, da ließ er mich, nachdem Sie weg waren, hinaus. ›Ich werde dich noch einmal vorladen und noch weiter befragen‹, sagte er.«

»Hat er Nikolai in Ihrer Gegenwart verhört?«

»Nachdem er Sie hinausbegleitet hatte, entließ er mich auch gleich und fing an, Nikolai zu verhören.«

Der Kleinbürger hielt inne, verbeugte sich nochmals und berührte dabei wieder mit dem Finger den Boden.

»Verzeihen Sie mir, daß ich Sie verleumdet und so schlecht von Ihnen gedacht habe.«

»Gott wird es Ihnen verzeihen«, antwortete Raskolnikow.

Sowie er dies gesagt hatte, verbeugte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber nun nicht bis zur Erde, sondern nur bis zur Höhe des Gürtels, drehte sich langsam um und ging aus dem Zimmer.

›Jetzt hat alles seine zwei Seiten!‹ sagte sich Raskolnikow und verließ mutiger als je das Zimmer.

›Jetzt wollen wir noch unsere Kräfte miteinander messen‹, dachte er mit einem ingrimmigen Lächeln, während er die Treppe hinabstieg. Der Ingrimm richtete sich gegen ihn selbst; nur mit Geringschätzung und Beschämung erinnerte er sich jetzt seines »Kleinmutes«, wie er sich in Gedanken ausdrückte.

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Kapitel 27

I

Der Morgen, welcher auf die für Pjotr Petrowitsch so verhängnisvolle Aussprache mit Dunja und Pulcheria Alexandrowna folgte, übte auch auf Pjotr Petrowitsch seine ernüchternde Wirkung aus. Das Ereignis, das ihm noch gestern als etwas Phantastisches und, obgleich es sich zugetragen hatte, dennoch sozusagen als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen war, dieses Ereignis mußte er zu seinem größten Mißvergnügen allmählich als eine vollendete und nicht mehr rückgängig zu machende Tatsache anerkennen. Die schwarze Schlange der verletzten Eigenliebe hatte die ganze Nacht über an seinem Herzen genagt. Sobald er sich vom Bette erhoben hatte, besah er sich sogleich im Spiegel. Er fürchtete, es könnte ihm die Galle ins Blut getreten sein. In dieser Hinsicht jedoch war vorläufig alles noch in guter Ordnung, und als er sein vornehmes, weißes und in letzter Zeit etwas voller gewordenes Gesicht betrachtete, fühlte er sich sogar für einen Augenblick getröstet, in der festen Überzeugung, daß er wohl auch noch anderwärts eine Braut für sich finden werde, vielleicht sogar eine noch bessere; aber sofort trat auch wieder der Gedanke an die ihm widerfahrene Kränkung in den Vordergrund, und er spuckte energisch seitwärts aus, wodurch er ein stillschweigendes, aber spöttisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow hervorrief. Pjotr Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und notierte es sich in Gedanken, um es seinem jungen Freunde bei Gelegenheit heimzuzahlen. So hatte er ihm in der letzten Zeit schon gar manches zu diesem Zwecke aufs Kerbholz gesetzt. Sein Ärger wuchs noch mehr, als er auf einmal zu der Einsicht kam, daß es gestern töricht von ihm gewesen war, von dem Ausgange seines Gesprächs mit der Familie Raskolnikow diesem Andrej Semjonowitsch Mitteilung zu machen. Das war der zweite Fehler, der ihm gestern passiert war; er hatte ihn in der Erregung, in einem überflüssigen Drange, sich auszusprechen, und infolge seiner gereizten Stimmung begangen … Weiter folgte nun an diesem Vormittag, gerade als ob das Schicksal es darauf angelegt hätte, eine Unannehmlichkeit auf die andre. Sogar beim Senat hatte er einen Mißerfolg in der Angelegenheit, die er betrieb. In besondere Entrüstung aber geriet er über den Hauswirt, von dem er im Hinblick auf seine baldige Verheiratung eine Wohnung gemietet hatte, die er bereits auf eigene Kosten hatte instand setzen lassen. Dieser Wirt, ein reich gewordener deutscher Handwerker, ließ sich absolut nicht darauf ein, den eben erst abgeschlossenen Kontrakt einfach wieder aufzuheben, sondern forderte die volle im Kontrakt vorgesehene Abstandssumme, obwohl ihm doch Pjotr Petrowitsch die Wohnung in fast vollständig renoviertem Zustande zurückgab. Ebenso wollten die Leute in der Möbelhandlung auch nicht einen Rubel von der Anzahlung für die dort gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben.

›Ich kann mich doch nicht extra um der Möbel willen verheiraten!‹ dachte Pjotr Petrowitsch zähneknirschend, und gleichzeitig zuckte in seinem Gehirn noch einmal ein Hoffnungsschimmer auf: ›Ist denn dort wirklich alles unwiederbringlich verloren und zu Ende? Ob ich es nicht doch noch einmal versuchen kann?‹ Der Gedanke an Dunja zog ihm noch einmal verlockend durch den Sinn. Es waren qualvolle Augenblicke, die er jetzt durchlebte, und hätte Pjotr Petrowitsch jetzt auf dem Fleck durch den bloßen Wunsch Raskolnikow ermorden können, so hätte er, ohne zu zögern, diesen Wunsch ausgesprochen.

›Ein Fehler war es auch von mir, daß ich ihnen gar kein Geld gegeben habe‹, dachte er, als er trüben Mutes in Lebesjatnikows Stube zurückkehrte. ›Hol´s der Kuckuck, warum bin ich eigentlich so ein Geizkragen geworden? Das war eine ganz falsche Sparsamkeit! Ich beabsichtigte, sie recht kurz zu halten und sie dahin zu bringen, daß sie mich als ihren Schutzgott ansähen, und nun kommen sie mir so! … Scheußlich! … Ja, wenn ich diese ganze Zeit her so anderthalbtausend Rubel auf sie verwandt hätte, zur Beschaffung der Aussteuer und in Form von Geschenken, von allerlei Schächtelchen, Necessaires, Bijouterien, Kleiderstoffen und anderm Firlefanz, dann wäre die Sache besser gewesen, … und ich hätte mehr Sicherheit gehabt! Dann hätten sie mir jetzt nicht so leicht aufgekündigt! Solche Leute halten es unbedingt für ihre Pflicht, bei der Lösung einer Verlobung die Geschenke und das Geld zurückzugeben; und die Rückerstattung hätte ihnen doch Schwierigkeiten gemacht, hätte ihnen auch bei den Geschenken wohl leid getan! Auch das Gewissen würde sie beunruhigt haben: »wir können doch nicht«, hätten sie sich gesagt, »einem Menschen so ohne weiteres den Laufpaß geben, nachdem er sich bisher so freigebig und zartfühlend gezeigt hat.« … Hm! Da habe ich einen Bock geschossen!‹

Wieder knirschte Pjotr Petrowitsch mit den Zähnen und nannte sich einen Dummkopf, natürlich nur ganz im stillen.

So befand er sich nicht gerade in rosigster Stimmung. Die Vorbereitungen zu dem Gedächtnismahle in Katerina Iwanownas Zimmer nahmen dann ein wenig sein Interesse in Anspruch. Er hatte schon gestern etwas von diesem Gedächtnismahle gehört; er hatte sogar eine undeutliche Erinnerung, als ob auch er dazu eingeladen worden wäre; aber bei seinen eigenen Sorgen und Geschäften hatte er für nichts andres Aufmerksamkeit übrig gehabt. Schnell erkundigte er sich jetzt bei Frau Lippewechsel, die in Katerina Iwanownas Abwesenheit (denn diese war auf dem Kirchhofe) damit beschäftigt war, den Tisch zurechtzumachen, und erfuhr von ihr, das Gedächtnismahl würde sehr großartig sein; fast alle Mitmieter, darunter auch solche, die mit dem Verstorbenen gar nicht bekannt gewesen wären, seien eingeladen; sogar Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow sei eingeladen, trotz des Streites, den er unlängst mit Katerina Iwanowna gehabt hätte; endlich sei auch er selbst, Pjotr Petrowitsch, nicht nur eingeladen, sondern er würde sogar als der vornehmste Gast unter allen Mietern mit besonderer Sehnsucht erwartet. Amalia Iwanowna selbst hatte gleichfalls eine höchst respektvolle Einladung erhalten, trotz aller vorhergegangenen unangenehmen Zwistigkeiten, und arrangierte daher jetzt mit großer Geschäftigkeit und nicht ohne Genuß alles für die Mahlzeit Erforderliche. Sie war bereits höchst geputzt, obwohl es natürlich ein Trauerkleid war; aber es war ganz neu und aus Seide, und sie war sehr stolz darauf. Alle diese Tatsachen und Mitteilungen brachten Pjotr Petrowitsch auf einen ganz besonderen Gedanken, und in seine Überlegungen vertieft, begab er sich in sein, das heißt in Herrn Lebesjatnikows Zimmer. Die Hauptsache war: er hatte unter anderm erfahren, daß zu den Eingeladenen auch Raskolnikow gehörte.

Andrej Semjonowitsch war aus irgendeinem Grunde an diesem Tage den ganzen Vormittag über zu Hause. Zwischen ihm und Pjotr Petrowitsch bestand ein eigentümliches Verhältnis, das jedoch zum Teil sehr erklärlich war. Pjotr Petrowitsch verachtete und haßte ihn über alle Maßen, fast gleich von dem Tage an, wo er sich bei ihm einlogiert hatte; gleichzeitig aber empfand er vor ihm eine gewisse Furcht. Er hatte nach seiner Ankunft in Petersburg nicht lediglich aus schäbiger Sparsamkeit bei ihm Quartier genommen, wiewohl dies allerdings der Hauptgrund war, sondern er hatte dazu noch einen andern Grund gehabt. Schon als er noch in der Provinz wohnte, hatte er über Andrej Semjonowitsch, seinen früheren Mündel, gehört, er sei einer der hervorragendsten jungen Reformer und spiele sogar in manchen interessanten, geheimnisvollen Klubs eine bedeutende Rolle. Das hatte ihm imponiert. Diese mächtigen, allwissenden Klubs, die niemanden fürchteten und jeden geheimen Übeltäter entlarvten, hatten ihm schon längst eine gewaltige, jedoch ganz vage Furcht eingeflößt. Er selbst hatte sich natürlich, noch dazu in der Provinz, von derartigen Vereinen keinen auch nur annähernd genauen Begriff machen können. Er hatte, wie alle Leute, gehört, es gebe namentlich in Petersburg sogenannte Reformer, Nihilisten, Entlarver usw.; aber gleich vielen andern Leuten hatte er mit diesen Bezeichnungen ganz übertriebene und ins Absurde entstellte Vorstellungen verbunden. Am allermeisten fürchtete er, und zwar schon seit einigen Jahren, die »Entlarvungen«, und dies war die hauptsächlichste Ursache seiner fortwährenden übermäßigen Unruhe gewesen, besonders wenn er an die Verlegung seiner Tätigkeit nach Petersburg gedacht hatte. In dieser Hinsicht war er, wie man sich auszudrücken pflegt, verängstigt, wie einem manchmal verängstigte kleine Kinder vorkommen. Einige Jahre vorher hatte er in der Provinz (er stand damals noch am Beginn seiner Laufbahn) zwei solche Fälle von grausamer Entlarvung mit angesehen; die beiden Betroffenen waren recht hochgestellte Beamte in der Verwaltung des Gouvernements, und er hatte sich in ihre Gefolgschaft begeben und sich ihrer Gönnerschaft erfreut. Der eine Fall endete für die entlarvte Persönlichkeit mit einem großen Skandal, und der zweite hätte beinahe ein ganz, ganz übles Ende genommen. Aus diesem Grunde hatte sich Pjotr Petrowitsch vorgenommen, sich gleich nach seiner Ankunft in Petersburg zu erkundigen, was es mit diesen Klubs für eine Bewandtnis habe, und, wenn es erforderlich schiene, der Gefahr vorzubeugen und sich bei »unsrer jungen Generation« einzuschmeicheln. Für diesen Fall hoffte er auf Lebesjatnikows Unterstützung, und er hatte, wie er das bei dem Besuche bei Raskolnikow bewies, bereits gelernt, ein paar entlehnte Phrasen klangvoll vorzubringen.

Allerdings hatte er Andrej Semjonowitsch recht bald als einen sehr gewöhnlichen, einfältigen Menschen durchschaut. Dadurch war aber sein Glaube an die Macht der Klubs in keiner Weise erschüttert und sein Mut nicht gehoben worden. Selbst wenn er sich überzeugt hätte, daß alle Reformer ebensolche Dummköpfe seien, auch dann hätte sich seine Unruhe nicht gelegt. Im Grunde interessierten all diese Lehren, Ideen und Systeme, mit denen Andrej Semjonowitsch ihn aufs freigebigste regalierte, ihn nicht im geringsten. Er hatte sein eigenes Ziel. Er wollte nur so schnell wie irgend möglich in Erfahrung bringen, was in diesen Klubs vorginge und wie dabei verfahren würde. Besaßen diese Leute Macht oder nicht? Hatte er für seine eigene Person etwas von ihnen zu befürchten oder nicht? Würden sie ihn »entlarven«, wenn er dies oder das unternähme, oder nicht? Und wenn sie sich mit Entlarvungen abgaben, auf welche Handlungsweisen hatten sie es dabei besonders abgesehen? Welche Handlungsweisen machten sie gerade jetzt zum Objekte ihrer entlarvenden Tätigkeit? Und dann: konnte man sich nicht auf irgendeine Weise mit ihnen freundlich stellen und sie dabei düpieren, wenn sie wirklich Macht besitzen sollten? War das erforderlich oder nicht? Konnte er nicht vielleicht gerade durch ihre Vermittlung in seiner Karriere etwas erreichen? Kurz, es drängten sich ihm Hunderte von Fragen auf.

Dieser Andrej Semjonowitsch war ein Mann von ungesunder Konstitution, skrofulös, von kleiner Statur; er bekleidete irgendeine Beamtenstelle; sein Haar war von auffallend hellblonder Farbe; er trug einen Backenbart in Kotelettform, auf den er sehr stolz war. Fast beständig litt er an den Augen. Er hatte ein sehr weiches Herz; aber sein Redeton klang sehr selbstbewußt und manchmal geradezu hochmütig, was sich bei seiner kleinen Figur meist recht lächerlich ausnahm. Amalia Iwanowna betrachtete ihn als einen hochanständigen Mieter; denn er trank nicht und bezahlte pünktlich seine Miete. Aber trotz mancher guten Eigenschaften war Andrej Semjonowitsch tatsächlich ein bißchen dumm. Er hatte sich mit leidenschaftlichem Eifer den Reformern und »unsrer jüngeren Generation« angeschlossen. Er gehörte zu der zahllosen, buntscheckigen Menge mittelmäßiger Menschen, kläglicher Frühgeburten und dünkelhafter Halbwisser, die sich eiligst zu Anhängern der modernsten, landläufigsten Idee machen und sie sofort verhunzen und alle Bestrebungen, denen sie (manchmal mit der besten Absicht) dienen, in eine Karikatur verwandeln.

Übrigens war Herrn Lebesjatnikow trotz all seiner Gutmütigkeit sein Stubengenosse und ehemaliger Vormund Pjotr Petrowitsch gleichfalls recht zuwider geworden. Das hatte sich von beiden Seiten ganz von selbst so ergeben. Wie einfältig er auch war, durchschaute Andrej Semjonowitsch doch allmählich, daß Pjotr Petrowitsch gegen ihn nicht aufrichtig war und ihn im stillen verachtete und daß überhaupt nichts Rechtes an ihm dran war. Er versuchte, ihm Fouriers System und die Darwinsche Theorie auseinanderzusetzen; aber Pjotr Petrowitsch hörte, namentlich in der letzten Zeit, mit gar zu spöttischer Miene zu und fing in der allerletzten Zeit sogar an, ihn auszuschelten. Pjotr Petrowitsch hatte nämlich instinktmäßig herausgefühlt, daß Lebesjatnikow nicht nur ein recht gewöhnlicher, ziemlich dummer Mensch, sondern wohl noch dazu ein arger Aufschneider war und überhaupt keine einflußreichen Beziehungen, nicht einmal in seinem Klub, besaß, sondern nur von weitem etwas läuten hören, ja, daß er nicht einmal sein eigentliches Geschäft, die Propaganda, ordentlich verstand, weil er gar zu wirr und unverständlich redete; wie konnte der ein »Entlarver« sein! Nebenbei sei noch bemerkt, daß Pjotr Petrowitsch in diesen anderthalb Wochen (namentlich am Anfange dieser Zeit) von Andrej Semjonowitsch ganz sonderbare Lobsprüche für Bestrebungen, die dieser bei ihm voraussetzte, entgegengenommen hatte; er hatte nämlich nicht widersprochen, sondern stillgeschwiegen, wenn Andrej Semjonowitsch ihm zum Beispiel die Absicht zugeschrieben hatte, die künftige, baldige Errichtung einer neuen »Kommune« nicht weit vom Kanal in der Meschtschanskaja-Straße zu fördern oder auch seiner Gattin Awdotja Romanowna nicht hinderlich zu sein, wenn diese gleich im ersten Monat der Ehe auf den Gedanken käme, sich einen Liebhaber anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder nicht taufen zu lassen usw. Pjotr Petrowitsch widersprach grundsätzlich nicht, wenn ihm solche Absichten zugeschrieben wurden, und ließ es sich gefallen, dafür gelobt zu werden; so willkommen war ihm jedes Lob.

Pjotr Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige Staatsschuldscheine verkauft hatte, saß am Tische und zählte die Banknotenpäckchen durch. Andrej Semjonowitsch, der fast nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und tat, als ob ihn der Anblick des vielen Geldes völlig kalt ließe und sogar mit Verachtung erfülle. Pjotr Petrowitsch glaubte ganz und gar nicht, daß der Anblick einer solchen Geldsumme Andrej Semjonowitsch wirklich kalt ließe; und Andrej Semjonowitsch seinerseits dachte bei sich voll Erbitterung, daß Pjotr Petrowitsch vielleicht tatsächlich eine niedrige, materielle Gesinnung bei ihm voraussetze und sich nun ein Vergnügen daraus mache, ihn, seinen jungen Freund, durch die nebeneinanderliegenden Banknotenpäckchen zu reizen und zu verhöhnen, indem er dadurch seine Unbedeutendheit und den großen zwischen ihnen vorhandenen Abstand demonstrieren wolle.

Er fand Pjotr Petrowitsch augenblicklich außerordentlich reizbar und unaufmerksam, obwohl er, Andrej Semjonowitsch, angesetzt hatte, ihm sein Lieblingsthema, die Gründung einer neuen, eigenartigen Kommune, zu erläutern. Die kurzen Entgegnungen und Bemerkungen, welche Pjotr Petrowitsch dazwischenwarf, wenn er einen Augenblick aufhörte, die Kügelchen am Rechenbrett klappern zu lassen, waren von einem ganz unverhohlenen und geflissentlich unhöflichen Spott durchtränkt. Aber Andrej Semjonowitsch, der einer humanen Auffassung zuneigte, führte diese Gemütsstimmung seines Stubengenossen auf das gestrige Zerwürfnis mit Dunja zurück und brannte vor Verlangen, schnell zu eingehenderer Behandlung seines Themas zu gelangen; er habe da, so bemerkte er, in Sachen der Reform und Propaganda seinem verehrten Freunde etwas mitzuteilen, was diesen interessieren und »zweifellos« in seiner weiteren Entwicklung fördern werde.

»Was ist denn das für ein Gedächtnismahl, zu dem da bei dieser … bei dieser Witwe Anstalten getroffen werden?« fragte Pjotr Petrowitsch auf einmal und unterbrach so seinen Freund bei der interessantesten Stelle der Auseinandersetzung.

»Das müssen Sie ja doch wissen! Ich habe doch erst gestern mit Ihnen darüber gesprochen und Ihnen meine Anschauungen über all solche religiösen Gebräuche entwickelt … Und die Frau hat Sie ja auch eingeladen; ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Sie haben ja selbst mit ihr gestern gesprochen …«

»Ich hätte nicht gedacht, daß diese bettelarme Närrin das ganze Geld, das sie von diesem andern Narren, diesem Raskolnikow, bekommen hat, für ein Gedächtnismahl vergeuden würde. Ich war ja ganz erstaunt, als ich vorhin durch das Zimmer hindurchging: großartige Vorbereitungen; mehrere Weine auf dem Tische! … Eine ganze Menge Menschen sind eingeladen; weiß der Kuckuck, was das heißen soll!« fuhr Pjotr Petrowitsch fort, der mit bestimmter Absicht bei diesem Gegenstande zu verweilen schien. »Wie? Sie sagen, ich wäre auch eingeladen?« fügte er hinzu und hob den Kopf. »Wann sollte denn das gewesen sein? Ich kann mich gar nicht erinnern. Übrigens werde ich nicht hingehen. Was soll ich da? Ich habe gestern nur so im Vorbeigehen mit ihr darüber gesprochen, daß sie als bedürftige Beamtenwitwe vielleicht eine einmalige Unterstützung in Höhe des Jahresgehaltes ihres Mannes bekommen könne. Sollte sie mich etwa deshalb gleich einladen? He-he-he!«

»Ich habe auch nicht vor, hinzugehen«, sagte Lebesjatnikow.

»Das wäre ja auch noch schöner! Wo Sie sie doch eigenhändig durchgeprügelt haben! Sehr begreiflich, daß es Ihnen peinlich ist, hinzugehen, he-he!«

»Wer hat wen durchgeprügelt?« fuhr Lebesjatnikow auf; er hatte einen ganz roten Kopf bekommen.

»Na, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat durchgeprügelt! Es wurde mir erzählt, noch gestern … Ja, ja, so ist’s mit den theoretischen Grundsätzen! Die Frauenfrage scheint also auch noch sehr im argen zu liegen. He-he-he!«

Anscheinend höchstlich amüsiert, begann Pjotr Petrowitsch wieder an dem Rechenbrett zu klappern.

»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« brauste Lebesjatnikow auf, dem jede Erwähnung dieses Vorfalls stets sehr unangenehm war. »So ist das gar nicht gewesen! Die Sache war ganz anders … Sie sind falsch unterrichtet; das ist lauter Klatscherei! Ich habe mich damals lediglich verteidigt. Sie ging zuerst mit den Nägeln auf mich los … Den ganzen Backenbart riß sie mir aus. Das ist denn doch jedem Menschen erlaubt, hoffe ich, seine Person zu verteidigen. Außerdem lasse ich mir von niemand Gewalttätigkeit gefallen … Grundsätzlich nicht. Denn das wäre ja eine Art Despotismus. Was hätte ich denn tun sollen? Etwa ruhig vor ihr stehenbleiben? Ich habe sie nur zurückgestoßen.«

»He-he-he!« lachte Lushin von neuem boshaft.

»Daß Sie gegen mich so sticheln, das tun Sie nur deshalb, weil Sie selbst Ärger gehabt haben und nun wütend sind … Aber die Geschichte mit Katerina Iwanowna ist doch eine törichte Lappalie und hat mit der Frauenfrage nicht das geringste zu tun. Sie fassen die Sache eben ganz falsch auf. Ich habe früher sogar folgendermaßen gedacht: wenn man die These akzeptiert, daß die Frau dem Manne in allen Stücken gleichsteht, sogar hinsichtlich der Körperkraft (was manche bereits behaupten), so muß auch, wo es sich um Schlägerei zwischen Männern und Frauen handelt, mit gleichem Maße gemessen werden. Natürlich aber habe ich mir nachher überlegt, daß eine solche Frage gar keine Existenzberechtigung hat, weil Schlägereien überhaupt keine Existenzberechtigung haben und das Vorkommen von Schlägereien in der künftigen Gesellschaft undenkbar ist … und weil es doch sonderbar wäre, auf eine Gleichberechtigung bei Schlägereien hinzustreben. So dumm bin ich nicht, … obwohl Schlägereien doch vorkommen, … das heißt, später werden keine mehr vorkommen, aber jetzt kommen noch welche vor, … Donnerwetter, wenn man mit Ihnen redet, wird man ja ganz konfus. Dieser frühere unangenehme Vorfall bildet also nicht den Grund für mein Fernbleiben von dem Gedächtnismahle. Sondern ich gehe einfach aus Prinzip nicht hin, um nicht an einem so törichten, auf sinnlosen Voraussetzungen beruhenden Brauche, wie es diese Gedächtnismahle sind, teilzunehmen; das ist der Grund! Übrigens könnte man ja auch bloß so aus Unsinn hingehen, um sich darüber lustig zu machen … Schade, daß keine Popen dabei sein werden. Sonst würde ich jedenfalls hingehen.«

»Also Sie möchten die gastliche Bewirtung annehmen und dann über diese Bewirtung und über die Leute, von denen Sie eingeladen sind, Ihren Hohn ausschütten. So meinen Sie es ja wohl?«

»Von Hohn ist nicht die Rede, sondern von einem Proteste gegen diesen Brauch. Ich habe dabei ein nützliches Ziel im Auge. Ich kann dadurch indirekt die Entwicklung der Menschheit und die Propaganda fördern. Jeder Mensch hat die Pflicht, die geistige Entwicklung seiner Mitmenschen zu fördern und Propaganda zu treiben, und je energischer er es tut, um so besser ist es. Ich kann eine Idee wie ein Samenkorn hinstreuen … Aus dieser gesäten Idee erwächst dann etwas Tatsächliches. Inwiefern kränke ich da die Leute? Und wenn sie sich auch zunächst gekränkt fühlen, so werden sie nachher doch einsehen, daß ich ihnen Nutzen gebracht habe. So wollten manche seinerzeit der Terebjewa (sie ist jetzt Mitglied einer Kommune) einen Vorwurf machen; als diese nämlich von ihrer Familie fortging und … sich einem Manne hingab, da schrieb sie ihrer Mutter und ihrem Vater, sie wolle nicht mehr in veralteten, sinnlosen Anschauungen weiterleben und gehe eine freie, zivile Ehe ein. Da meinten nun die Tadler, das sei doch gar zu grob den Eltern gegenüber, und sie hätte mit ihnen etwas rücksichtsvoller verfahren und in milderem Tone schreiben können. Meiner Ansicht nach ist das alles Unsinn; Milde ist dabei gar nicht angebracht, sondern vielmehr energischer Protest. Da sehen Sie einmal, wie es Frau Warenz machte! Sieben Jahre lang hatte sie mit ihrem Manne zusammen gelebt; da verließ sie ihn und ihre zwei Kinder und schrieb ihrem Manne in einem Briefe eine energische Absage: ›Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß ich mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde es Ihnen nie verzeihen, daß Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlicht haben, daß es dank den Kommunen noch eine andre Gesellschaftsordnung gibt. Ich habe das alles vor kurzem von einem hochgesinnten Manne erfahren, dem ich mich auch zu eigen gegeben habe, und mit ihm zusammen will ich eine Kommune gründen. Ich rede ganz offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu betrügen. Meinerseits haben Sie völlige Freiheit, zu tun, was Sie mögen; aber hoffen Sie nicht, mich zur Rückkehr zu bewegen; damit ist es für Sie zu spät. Leben Sie glücklich!‹ In diesem Stil müssen derartige Briefe geschrieben werden.«

»Diese Terebjewa ist doch dieselbe, von der Sie neulich erzählten, daß sie schon in der dritten freien Ehe lebe?«

»Streng genommen erst in der zweiten! Aber wenn sie selbst in der vierten oder in der fünfzehnten Ehe lebte! Das ist ja alles Nebensache! Und wenn ich es jemals bedauert habe, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so bedauere ich es jedenfalls jetzt ganz besonders. Ich habe mir das schon manchmal so im stillen ausgemalt, wie ich sie, wenn sie noch am Leben wären, mit meinem Proteste verblüffen wollte! Ich hätte absichtlich einen Anlaß gesucht. Ich würde ihnen die Sache schon klargemacht haben! Ich hätte sie in Erstaunen versetzt! Es ist wirklich jammerschade, daß ich niemand mehr habe!«

»Um ihn in Erstaunen zu versetzen? He-he! Na, darüber wollen wir nicht streiten«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch. »Sagen Sie mir lieber: Sie kennen ja die Tochter des Verstorbenen, so ein kümmerliches, dürftiges Ding; ist das alles richtig, was über sie erzählt wird, ja?«

»Nun, was ist denn dabei? Nach meiner Ansicht, das heißt nach meiner persönlichen Überzeugung, ist das für eine Frau der eigentlich normale Zustand. Warum auch nicht? Das heißt: distinguons! In der jetzigen Gesellschaftsordnung ist dieser Zustand selbstverständlich nicht normal, weil er durch eine Notlage herbeigeführt wird; aber in der künftigen Gesellschaftsordnung wird er völlig normal sein, weil er da ein freiwilliger ist. Und auch unter jetzigen Verhältnissen hatte dieses Mädchen ein Recht, so zu handeln, wie sie gehandelt hat: sie litt Not, und ihr Körper war ihr Fonds, sozusagen ihr Anlagekapital, über das sie vollständig berechtigt war zu verfügen. Natürlich, in der künftigen Gesellschaftsordnung werden keine Fonds nötig sein; sondern die Stellung der Frau wird anderweitig festgesetzt und in harmonischer, vernunftgemäßer Weise geregelt sein. Was Sofja Semjonowna persönlich anlangt, so betrachte ich unter den gegenwärtigen Umständen ihre Handlungsweise als einen energischen, zur Tat gewordenen Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung und empfinde vor ihr große Hochachtung deswegen; ich freue mich sogar jedesmal, wenn ich sie sehe!«

»Mir ist aber doch erzählt worden, gerade Sie hätten sie gezwungen, aus dieser Wohnung fortzuziehen!«

Lebesjatnikow wurde ganz wütend.

»Das ist wieder nur so eine Klatscherei!« schrie er. »Die Sache war ganz anders, ganz anders! Das hat alles Katerina Iwanowna damals nur so hingeschwatzt, weil sie für meine Bestrebungen kein Verständnis hatte! Ich bin ganz und gar nicht zudringlich gegen Sofja Semjonowna geworden; ich habe lediglich ihre geistige Entwicklung zu fördern gesucht, in ganz uneigennütziger Weise, und habe mich bemüht, in ihr den Protest zu erwecken. Ich zielte nur auf den Protest ab; übrigens konnte Sofja Semjonowna sowieso in dieser Wohnung nicht länger bleiben!«

»Haben Sie sie zum Eintritt in die Kommune aufgefordert?«

»Sie spotten fortwährend; gestatten Sie mir aber die Bemerkung, daß Ihr Spott bei mir durchaus seine Wirkung verfehlt. Sie verstehen eben nichts davon! Derartige Berufe für Frauen gibt es in der Kommune nicht. Eben deshalb werden die Kommunen gegründet, damit es solche Berufe nicht mehr gibt. In der Kommune wird dieser Beruf seinen gesamten jetzigen Charakter verändern, und was hier dumm ist, wird dort vernünftig sein; was hier unter den jetzigen Verhältnissen unnatürlich ist, das wird dort durchaus natürlich sein. Es hängt alles davon ab, in welcher Umgebung und in welchem Milieu ein Mensch lebt. Alles hängt von dem Milieu ab; an sich ist der Mensch nichts, weder gut noch schlecht. Mit Sofja Semjonowna stehe ich mich auch jetzt noch ganz freundschaftlich, was Ihnen als Beweis dafür dienen kann, daß sie mich nicht als ihren Feind und Beleidiger betrachtet hat. Ich suche sie jetzt für eine Kommune zu gewinnen, die aber nach ganz, ganz anderen Prinzipien eingerichtet werden soll! Was ist Ihnen denn daran lächerlich? Wir wollen eine eigene, besondere Kommune gründen, aber auf breiteren Grundlagen als die früheren. Wir sind in unsern Anschauungen weiter vorgeschritten. Wir negieren mehr! Wenn Dobroljubow aus dem Grabe auferstände, würde ich gern einmal mit ihm disputieren. Und nun gar Belinskij, na, den würde ich mir schön vornehmen! Vorläufig aber fahre ich fort, an Sofja Semjonownas geistiger Entwicklung zu arbeiten. Sie ist ein herrliches, herrliches Wesen!«

»Na, und Sie machen sich dieses herrliche Wesen auch zunutze, wie? He-he!«

»Nein, nein! O nein! Im Gegenteil!«

»Na, na, also sogar im Gegenteil! He-he-he! Sehr schön gesagt!«

»Sie können es mir glauben! Weshalb sollte ich denn vor Ihnen heimlichtun, sagen Sie selbst! Wirklich im Gegenteil; es kommt mir sogar selbst sonderbar vor: mir gegenüber ist sie von einer unnatürlichen, ängstlichen Schamhaftigkeit und Keuschheit!«

»Und Sie fördern selbstverständlich ihre geistige Entwicklung, he-he, und beweisen ihr, daß diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist?«

»Durchaus nicht, durchaus nicht! Oh, in wie plumper, törichter Weise – verzeihen Sie den Ausdruck! – Sie das Wort Entwicklung auffassen! Sie haben aber auch gar kein, rein gar kein Verständnis! O Gott, wie sind Sie noch unreif! Wir erstreben für das Weib die Freiheit, und Sie denken immer nur an das eine … Ich will mich auf die Streitfrage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit nicht weiter einlassen (diese Dinge haben an und für sich keinen Wert und beruhen auf vorgefaßten Meinungen); aber ich habe gegen Sofja Semjonownas Keuschheit mir gegenüber absolut nichts einzuwenden; das ist Sache ihres freien Willens, sie ist da vollständig in ihrem Rechte. Natürlich, wenn sie selbst zu mir sagte: ›Ich will dich haben‹, so würde ich meinen, daß mir ein großes Glück zuteil geworden sei, weil das Mädchen mir wirklich sehr gefällt; aber sicherlich hat niemals jemand sie höflicher und korrekter und mit mehr Achtung vor ihrer weiblichen Würde behandelt, als ich es jetzt tue … Ich warte und hoffe nur; weiter gehe ich nicht!«

»Sie sollten ihr lieber etwas schenken. Ich möchte wetten, daß Sie daran noch nicht gedacht haben.«

»Sie haben aber auch gar kein Verständnis; das kann ich Ihnen nur wiederholen. Gewiß, ihre Lage ist ja derart, daß sie Geschenke gebrauchen könnte; aber hier handelt es sich um etwas andres, um etwas ganz andres. Sie verachten das Mädchen einfach. Weil Sie eine Tatsache sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtenswert halten, versagen Sie ohne weiteres einem menschlichen Wesen eine humane Würdigung. Sie wissen noch gar nicht, was für einen trefflichen Charakter sie hat! Sehr leid tut mir nur, daß sie in der letzten Zeit so gut wie ganz aufgehört hat zu lesen und sich von mir keine Bücher mehr geben läßt, was sie doch früher tat. Schade ist auch, daß sie bei all ihrer Energie und bei ihrer bereits einmal bewiesenen Entschlossenheit, gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zu protestieren, doch immer noch nicht genug Selbständigkeit, sozusagen nicht genug Unabhängigkeit, nicht genug Drang zum Negieren besitzt, um sich von gewissen vorgefaßten Anschauungen und Dummheiten völlig loszureißen. Wiewohl sie für manche Fragen ein vorzügliches Verständnis bekundet. Ganz vorzüglich hat sie zum Beispiel die Frage des Handkusses begriffen, das heißt, daß der Mann eine Frau, wenn er ihr die Hand küßt, beleidigt, weil er sie dadurch als ihm nicht gleichstehend bezeichnet. Über diese Frage wurde bei uns debattiert, und ich habe ihr sofort davon Mitteilung gemacht. Auch als ich ihr etwas über die Arbeiterassoziationen in Frankreich vortrug, hörte sie aufmerksam zu. Jetzt behandle ich mit ihr die Frage des freien Eintritts in die Zimmer unter der künftigen Gesellschaftsordnung.«

»Was soll das heißen?«

»Es wurde in letzter Zeit über die Frage debattiert: ist ein Kommunemitglied berechtigt, jederzeit in das Zimmer eines andern – männlichen oder weiblichen – Kommunemitgliedes einzutreten? Und wir kamen zu der Entscheidung, daß jedes Mitglied dazu berechtigt sei.«

»Na, aber wenn nun da betreffende männliche oder weibliche Mitglied gerade in dem Augenblicke mit der Erledigung eines notwendigen Bedürfnisses beschäftigt ist? He-he!«

Andrej Semjonowitsch wurde ganz ärgerlich.

»Ja, das bringen Sie jedesmal vor! Immer kommen Sie mir mit ein und demselben, mit diesen verdammten ›Bedürfnissen‹!« rief er ingrimmig. »Ich ärgere mich und bereue es, daß ich damals, als ich Ihnen das System auseinandersetzte, verfrüht diese verdammten Bedürfnisse erwähnte! Das ist immer für Leute von Ihrem Schlage der Stein des Anstoßes, und das schlimmste ist: sie machen ihre Witze darüber, ehe sie den Kern der Sache begriffen haben! Und dann tun sie noch, als wenn sie recht hätten und stolz sein könnten! Ich habe schon wiederholt die Ansicht vertreten, daß man Neulingen diese Frage erst ganz zuletzt auseinandersetzen kann, wenn sie bereits von der Richtigkeit des Systems überzeugt sind und eine gewisse geistige Entwicklung erreicht haben und sich auf dem rechten Wege befinden. Ja, sagen Sie mir doch, bitte, was finden Sie denn zum Beispiel an einer Müllgrube Ekelhaftes oder Gemeines? Ich erkläre mich als erster bereit, alle Müllgruben, so viele Sie nur wollen, auszuräumen! Da ist auch nicht einmal irgendwelche Selbstaufopferung dabei! Das ist einfach eine Arbeit, eine anständige, der Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder andern an Wert gleichkommt und zum Beispiel weit höher steht als die Tätigkeit eines Raffael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.«

»Auch anständiger, auch anständiger, he-he-he!«

»Was heißt ›anständiger‹? Ich verstehe solche Ausdrücke nicht, wenn es sich, um die Definition menschlicher Tätigkeiten handelt. ›Anständiger‹, ›edler‹, das ist lauter Unsinn. Abgeschmacktheit, veraltete, törichte Wörter, die ich negiere! Alles, was der Menschheit nützlich ist, ist auch anständig. Ich lasse nur das eine Wort ›nützlich‹ gelten! Kichern Sie, so viel Sie wollen; es ist doch so!«

Pjotr Petrowitsch lachte laut. Er war mit seinen Berechnungen bereits fertig und hatte das Geld verwahrt; jedoch hatte er einen Teil noch auf dem Tische liegenlassen. Die Frage der Müllgruben hatte trotz ihrer Absurdität schon mehrmals Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten und Streit zwischen Pjotr Petrowitsch und seinem jungen Freunde gegeben. Sehr dumm war es von Andrej Semjonowitsch, daß er sich tatsächlich ärgerte. Daran hatte nun Lushin seine wahre Freude, und gerade jetzt legte er es besonders darauf an, Lebesjatnikow wütend zu machen.

»Die Sache ist die: Sie sind wegen Ihres gestrigen Malheurs erbost und suchen nun Händel«, brach Lebesjatnikow endlich los, der im allgemeinen trotz all seiner »Unabhängigkeit« und all seiner »Proteste« es nicht recht wagte, Pjotr Petrowitsch Opposition zu machen, und noch immer von früheren Jahren her ihm gegenüber einen gewohnheitsmäßigen Respekt beobachtete.

»Sagen Sie mir lieber«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch hochmütig und ärgerlich, »können Sie … oder, besser ausgedrückt, sind Sie wirklich mit der vorhin erwähnten jungen Person so gut bekannt, daß Sie sie bitten können, jetzt gleich auf einen Augenblick in dieses Zimmer zu kommen? Ich glaube, sie sind schon alle vom Kirchhofe zurück … Ich höre so viele gehen … Ich möchte gern einmal mit ihr sprechen, mit dieser Person.«

»Was wollen Sie denn von ihr?« fragte Lebesjatnikow verwundert.

»Weiter nichts Besonderes. Heute oder morgen ziehe ich von hier weg, und da möchte ich ihr noch etwas mitteilen. Übrigens können Sie ruhig während dieses Gesprächs hier im Zimmer bleiben. Es ist sogar besser. Sonst denken Sie sich womöglich noch Gott weiß was.«

»Ich denke mir einfach gar nichts. Es war von mir nur eine ganz harmlose Frage. Wenn Sie ihr etwas zu sagen haben, so ist nichts leichter, als sie herzurufen. Ich will sofort zu ihr gehen. Ich selbst werde Sie bei dem Gespräche nicht stören; davon wollen Sie überzeugt sein.«

Wirklich kehrte Lebesjatnikow nach fünf Minuten mit Sonja zurück. Diese trat äußerst erstaunt und, wie das in ihrer Gewohnheit lag, sehr schüchtern ein. Sie war bei solchen Gelegenheiten stets schüchtern und fürchtete sich in hohem Grade vor neuen Gesichtern und neuen Bekanntschaften; diese Furcht war ihr schon früher, schon in ihrer Kindheit, eigen gewesen, hatte aber jetzt noch zugenommen … Pjotr Petrowitsch empfing sie »freundlich und höflich« und mit einem Anfluge von jovialer Vertraulichkeit, die nach seiner Ansicht einem so achtungswerten, gesetzten Manne, wie er, wohl anstand gegenüber einem so jungen und in gewisser Hinsicht »interessanten« Wesen, wie sie. Vor allen Dingen bemühte er sich, sie zu »ermutigen«, und lud sie ein, an dem Tische ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sonja setzte sich, ließ ihre Blicke nach allen Seiten schweifen, zu Lebesjatnikow, zu dem Gelde, das auf dem Tische lag, dann wieder zu Pjotr Petrowitsch und wandte nun die Augen nicht mehr von ihm ab, als ob sie an ihn gefesselt wäre. Lebesjatnikow ging zur Tür; aber Pjotr Petrowitsch stand auf, bedeutete Sonja durch eine Geste, sitzenzubleiben, und hielt Lebesjatnikow zurück.

»Ist dieser Raskolnikow dort? Ist er gekommen?« fragte er ihn flüsternd.

»Raskolnikow? Ja, der ist da. Wieso? Ja, er ist da. Er ist eben erst gekommen; ich habe ihn gesehen. Wieso?«

»Nun, dann möchte ich Sie dringend bitten, hierzubleiben, hier bei uns, und mich nicht mit dieser … jungen Dame allein zu lassen. Was ich mit ihr zu reden habe, ist nur eine harmlose Kleinigkeit; aber sonst machen die Leute womöglich Gott weiß was daraus. Ich möchte nicht, daß Raskolnikow seinen Angehörigen etwas erzählen könnte … Verstehen Sie, was ich meine?«

»Gewiß, gewiß!« erwiderte Lebesjatnikow verständnisvoll. »Ja, Sie haben ganz recht. Allerdings gehen Sie, nach meiner persönlichen Überzeugung, in Ihren Befürchtungen zu weit; aber … Sie haben trotzdem recht. Also, wenn Sie es wünschen, so bleibe ich. Ich stelle mich dort ans Fenster und werde Sie nicht stören … Meiner Ansicht nach haben Sie recht …«

Pjotr Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Sonja gegenüber, richtete einen forschenden Blick auf sie und nahm auf einmal eine ganz besonders ehrbare, sogar etwas strenge Miene an, die ungefähr bedeutete: ›Machen Sie sich nur nicht etwa ganz falsche Gedanken, mein Fräulein!‹ Sonja wurde höchst verlegen.

»Zunächst möchte ich Sie bitten, Sofja Semjonowna, mich bei Ihrer hochverehrten Frau Mutter zu entschuldigen … Ich bin doch wohl recht unterrichtet? Katerina Iwanowna vertritt bei Ihnen Mutterstelle?« begann Pjotr Petrowitsch in sehr würdigem, aber dabei doch ganz freundlichem Tone.

Augenscheinlich hegte er die freundschaftlichsten Absichten.

»Ja gewiß, gewiß; sie vertritt bei mir Mutterstelle«, antwortete Sonja hastig und furchtsam.

»Nun also, dann entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch zwingende Umstände verhindert bin, an dem Gedächtnismahle teilzunehmen, zu welchem Ihre Frau Mutter mich so liebenswürdig eingeladen hat.«

»Jawohl, … ich werde es ausrichten, … ich werde es gleich ausrichten.« Sonja sprang eilig auf.

»Ich bin noch nicht am Ende«, hielt Pjotr Petrowitsch sie zurück und lächelte über ihre Naivität und über ihre Unkenntnis der Umgangsformen. »Sie kennen mich schlecht, liebste Sofja Semjonowna, wenn Sie glauben, daß ich aus diesem unbedeutenden, nur mich betreffenden Grunde jemand wie Sie persönlich bemüht und hergebeten hätte. Mein Zweck war ein anderer.«

Sonja nahm rasch wieder Platz. Wieder fiel ihr Blick einen Augenblick auf die grauen und regenbogenfarbigen Banknoten, die noch auf dem Tische lagen; aber schnell wandte sie das Gesicht von ihnen weg und sah wieder Pjotr Petrowitsch an; es kam ihr auf einmal der Gedanke, daß es sich, namentlich für ein Mädchen wie sie, ganz und gar nicht schicke, fremdes Geld anzublicken. Sie richtete ihren Blick zunächst auf die goldne Lorgnette, die Pjotr Petrowitsch in der linken Hand hielt, und zugleich auf den großen, massiv goldenen, sehr schönen Ring mit gelbem Stein, den er am Mittelfinger dieser Hand trug; aber hastig wendete sie ihre Augen auch davon ab, und da sie nicht wußte, wo sie mit ihren Blicken bleiben sollte, schaute sie schließlich ihrem Gegenüber wieder gerade ins Gesicht. Nach einer kurzen Pause fuhr Pjotr Petrowitsch in noch würdevollerem Tone als vorher fort:

»Es traf sich gestern zufällig, daß ich im Vorbeigehen mit der unglücklichen Katerina Iwanowna ein paar Worte wechselte. Diese wenigen Worte genügten, um mich erkennen zu lassen, daß sie sich in einem, wenn man sich so ausdrücken kann, unnatürlichen Geisteszustande befindet …«

»Jawohl, in einem unnatürlichen Geisteszustande«, stimmte ihm Sonja eilig zu.

»Oder, um es einfacher und verständlicher auszudrücken, in einem krankhaften Geisteszustande.«

»Jawohl, einfacher und verständ… Jawohl, sie ist krank.«

»Ganz richtig. Nun also, aus Menschenfreundlichkeit und … und … und sozusagen aus Teilnahme möchte ich mich gern meinerseits irgendwie behilflich zeigen, im Hinblick auf das traurige Schicksal, das ihr unvermeidlich bevorsteht. Ich möchte glauben, daß diese ganze arme Familie sich jetzt einzig und allein auf Ihre Unterstützung angewiesen sieht.«

»Gestatten Sie die Frage«, sagte Sonja und stand dabei plötzlich auf, »was haben Sie ihr gestern über die Möglichkeit, eine Pension zu bekommen, gesagt? Sie hat gestern zu mir gesagt, Sie hätten es auf sich genommen, ihr eine Pension zu erwirken. Ist das richtig?«

»Durchaus nicht; das ist sogar in gewisser Hinsicht sinnlos«, erwiderte Pjotr Petrowitsch und bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. »Ich habe nur darauf hingedeutet, daß die Witwe eines im Dienst gestorbenen Beamten eine zeitweilige Unterstützung erhalten könne, wenn sie irgendwelche Protektion habe; es scheint jedoch, daß ihr verstorbener Vater nicht das erforderliche Dienstalter hatte, ja sogar in der letzten Zeit sich überhaupt nicht im Dienste befand. Kurz, es mag wohl einige Aussicht da sein, aber jedenfalls ist sie äußerst problematisch; denn ein Recht auf Unterstützung ist im vorliegenden Falle ganz und gar nicht vorhanden; im Gegenteil … Und da hat sie gleich auf eine Pension spekuliert? He-he-he! Die Dame muß ja eine rege Phantasie haben!«

»Ja, sie hat sich Hoffnung auf eine Pension gemacht. Sie ist nämlich leichtgläubig und gutherzig, und aus Gutherzigkeit glaubt sie alles, und … und … und ihr Verstand ist so … Ja, dann entschuldigen Sie«, sagte Sonja und stand wieder auf, um fortzugehen.

»Erlauben Sie, Sie haben noch nicht alles gehört, was ich sagen wollte.«

»Ja, ich habe noch nicht alles gehört«, murmelte Sonja.

»Also nehmen Sie doch Platz!«

Sonja wurde entsetzlich verlegen und setzte sich von neuem hin.

»Da ich sehe, in welcher Lage sie sich mit den unglücklichen kleinen Kindern befindet, so möchte ich, wie bereits gesagt, mich nach dem Maße meiner Kräfte irgendwie behilflich zeigen, das heißt, eben nur, was man so nennt, nach dem Maße meiner Kräfte, nicht in weiterem Umfange. Man könnte zum Beispiel zu ihren Gunsten eine Kollekte veranstalten oder sozusagen eine Lotterie … oder so etwas Ähnliches, wie dergleichen immer in solchen Fällen von Nahestehenden oder auch von Fernerstehenden, überhaupt von Hilfsbereiten unternommen wird. Das ist es, worüber ich gern mit Ihnen reden wollte. So etwas wäre möglich.«

»Ach ja, das wäre schön … Gott wird Sie dafür …«, stammelte Sonja und blickte Pjotr Petrowitsch unverwandt an.

»Das wäre möglich; aber … darüber können wir später einmal … das heißt, wir könnten auch gleich heute schon anfangen. Wir wollen heute abend noch einmal zusammenkommen, uns besprechen und sozusagen den Grund legen. Kommen Sie also so gegen sieben Uhr wieder zu mir hierher. Ich hoffe, Andrej Semjonowitsch wird gleichfalls an unsrer Beratung teilnehmen … Aber … da ist ein Punkt, der schon vorher genau erwogen werden muß; und eben deshalb habe ich Sie auch hierher bemüht, Sofja Semjonowna. Nämlich meine Ansicht ist die: der unglücklichen Katerina Iwanowna selbst kann man kein Geld in die Hände geben; das ist sogar geradezu gefährlich; als Beweis dafür dient gleich das heutige Gedächtnismahl. Es ist für morgen sozusagen keine trockene Brotrinde da, kein Schuhzeug, nichts; aber trotzdem kauft sie heute Jamaikarum ein und Madeira und … und … und Kaffee. Ich habe es gesehen, als ich durch das Zimmer ging. Morgen aber fällt wieder die ganze Last des Unterhaltes der Familie auf Ihre Schultern, und ohne Sie hätten sie keinen Bissen Brot. Ein solches Verfahren ist ja geradezu sinnlos. Daher muß auch eine etwaige Kollekte nach meiner persönlichen Ansicht in der Weise veranstaltet werden, daß von dem Gelde die unglückliche Witwe gar nichts erfährt, sondern etwa nur Sie. Habe ich nicht recht?«

»Ich weiß nicht. Es ist ja nur heute, daß sie so ist, … nur einmal im Leben; … es lag ihr so viel daran, ein Gedächtnismahl zu veranstalten, dem Toten eine Ehre zu erweisen, sein Andenken zu feiern; … sie ist sonst sehr vernünftig. Aber machen Sie es ganz, wie es Ihnen gut scheint, und ich werde Ihnen sehr, sehr, … sie alle werden Ihnen … und Gott wird Sie… und die vaterlosen Kinderchen …«

Sonja konnte nicht zu Ende sprechen; sie brach in Tränen aus.

»Nun ja. Also dann überlegen Sie sich das; jetzt aber wollen Sie für Ihre Mutter zunächst von mir persönlich eine meinen Kräften entsprechende Summe entgegennehmen. Ich spreche die dringende Bitte aus, daß mein Name dabei nicht erwähnt werden möge. Hier, bitte … Da ich sozusagen selbst meine Sorgen habe, bin ich nicht imstande, eine größere Summe …«

Und Pjotr Petrowitsch reichte Sonja einen Zehnrubelschein hin, den er sorgsam auseinandergefaltet hatte. Sonja nahm ihn, wurde rot, murmelte etwas und verabschiedete sich hastig. Pjotr Petrowitsch begleitete sie würdevoll bis an die Tür. Endlich schlüpfte sie ganz aufgeregt und erschöpft aus dem Zimmer und kehrte in größter Verwirrung zu Katerina Iwanowna zurück.

Während dieses ganzen Vorganges hatte Andrej Semjonowitsch bald am Fenster gestanden, bald war er im Zimmer auf und ab gegangen, ohne sich in das Gespräch einzumischen; als Sonja hinausgegangen war, trat er auf Pjotr Petrowitsch zu und reichte ihm feierlich die Hand.

»Ich habe alles gehört und alles gesehen«, sagte er, wobei er auf das letzte Wort einen besonderen Nachdruck legte. »Das war edel und vornehm von Ihnen gehandelt, das heißt, ich wollte sagen, human! Sie wollten die Danksagungen vermeiden; ich habe es wohl gesehen! Und wiewohl ich, offen gestanden, grundsätzlich kein Freund der privaten Wohltätigkeit bin, weil sie, statt das Übel auszurotten, es sogar noch steigert, so muß ich trotzdem bekennen, daß ich Ihre Handlungsweise mit Vergnügen mit angesehen habe; ja, wirklich, das hat mir sehr gefallen.«

»Ach, dummes Zeug!« murmelte Pjotr Petrowitsch etwas aufgeregt und blickte den andern forschend an.

»Nein, das ist kein dummes Zeug! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen Vorfall gekränkt und aufgebracht ist und doch gleichzeitig imstande ist, an das Unglück andrer zu denken, ein solcher Mann – mag er auch durch sein Tun in sozialer Hinsicht einen Fehler begehen – verdient dennoch Hochachtung! Ich hatte das von Ihnen, Pjotr Petrowitsch, gar nicht erwartet, um so weniger, da nach Ihren Anschauungen … Ach, wie sehr hindern diese Ihre Anschauungen Sie noch an richtiger Lebensgestaltung! Wie arg regen Sie sich zum Beispiel über dieses gestrige Malheur auf«, rief der gutmütige Andrej Semjonowitsch, der wieder eine verstärkte Zuneigung zu Pjotr Petrowitsch empfand. »Aber wozu haben Sie eigentlich diese Ehe, diese gesetzliche Ehe, so unbedingt nötig, liebster, bester Pjotr Petrowitsch? Wozu haben Sie so unbedingt diese Gesetzlichkeit der Ehe nötig? Na, wenn Sie Lust haben, können Sie mich ja dafür prügeln; aber ich muß doch sagen: ich freue mich, freue mich geradezu, daß aus dieser Ehe nichts geworden ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Sache der Menschheit verloren sind; ich freue mich … Sehen Sie, nun habe ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet!«

»Wozu ich die gesetzliche Ehe nötig habe? Weil ich keine Lust habe, mir in Ihrer freien Ehe Hörner aufsetzen zu lassen und fremde Kinder aufzuziehen. Darum brauche ich die gesetzliche Ehe«, erwiderte Lushin, um überhaupt eine Antwort zu geben; es ging ihm offenbar etwas anderes sehr im Kopfe herum und beschäftigte seine Gedanken.

»Kinder? Sie sprachen von Kindern?« fuhr Andrej Semjonowitsch auf, wie ein Schlachtroß, das die Kriegstrompete hört. »Die Kinder, ja, das ist eine soziale Frage von höchster Wichtigkeit; ganz meine Ansicht; aber die Kinderfrage wird sich in andrer Weise erledigen. Manche gehen so weit, die Kinder vollständig zu negieren, wie überhaupt alles, was irgendwie mit Familie zu tun hat. Wir können ja über die Kinder später einmal reden; beschäftigen wir uns jetzt lieber zunächst mit den Hörnern! Ich muß gestehen, einen anzuschaffen. ›Liebe Frau‹, würde ich sagen, ›ich liebe dich; aber ich wünsche auch, daß du mich hochachtest; hier … nimm ihn!‹ Habe ich nicht recht? Habe ich nicht recht?«

Pjotr Petrowitsch kicherte über diese Darlegungen, aber ohne lebhaftere Teilnahme. Er hatte kaum zugehört. In Wirklichkeit hatte er ganz andre Gedanken im Kopfe, was selbst Lebesjatnikow schließlich bemerkte. Pjotr Petrowitsch war in Aufregung, rieb sich die Hände und überlegte. Erst später erinnerte sich Andrej Semjonowitsch an alles dies und verstand den Zusammenhang.

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