Kapitel 2

 

2

 

Sie gingen zusammen aus dem Haus und machten sich auf den Weg zum Büro. Nur einmal schaute sich Lois argwöhnisch nach ihrem unwillkommenen Kavalier um, aber er war glücklicherweise nicht in der Nähe.

 

»Ich weiß einen verhältnismäßig billigen Schönheitssalon in der South Moulton Street«, sagte Lizzy, als sie quer über die Theobald Road gingen, »wo man sich solche Narben entfernen lassen kann, wie du eine am Arm hast. Ich habe auch daran gedacht, mein rotes Gesicht einmal behandeln zu lassen. Denk dir, der Bürovorsteher hat mir das geraten; der Kerl fängt an, frech zu werden – ich muß ihn einmal etwas auf Eis stellen! Und dabei ist er achtundvierzig Jahre alt und hat bereits erwachsene Kinder!«

 

Zwei Stunden später nahm Mr. Oliver Shaddles einige Schriftstücke vom Tisch, las sie schnell durch, rieb sich nervös das unrasierte Kinn mit den grauen Bartstoppeln und schaute auf die Bedford Row hinaus.

 

Dann wandte er sich zu der kleinen elektrischen Tischglocke, zögerte einen Augenblick und drückte den Knopf.

 

»Miss Reddle!«, sagte er kurz zu der Angestellten, die eilig hereinkam. Er nahm die Urkunden wieder auf und las noch darin, als sich die Tür öffnete und Lois eintrat.

 

Sie war etwas über mittelgroß, aber ihre Schlankheit ließ sie größer erscheinen, als sie wirklich war. Sie trug das einfache schwarze Bürokleid, das die Firma Shaddles & Soan ihren weiblichen Angestellten vorschrieb. Mr. Shaddles hatte das Alter erreicht, in dem Schönheit keinen Eindruck mehr auf ihn machte. Über Lois Reddle lag eine zarte, ätherische Lieblichkeit. Aber für den Rechtsanwalt war sie nur eine Angestellte, die allwöchentlich fünfunddreißig Shilling erhielt. Davon wurden jedoch noch die Kosten der Unfallversicherung und Krankenkasse abgezogen.

 

»Sie fahren nach Telsbury.« Shaddles hatte eine rauhe, abgerissene Sprechweise. »Sie sind in anderthalb Stunden dort. Nehmen Sie die beiden eidesstattlichen Erklärungen und bringen Sie die zu Mrs. Desmond. Sie soll sie unterschreiben. Das Auto steht unten –«

 

»Ich dachte, Mr. Dorling hätte es«, begann sie.

 

»Der Wagen ist vor der Tür«, sagte er kurz. »Sie werden eine glatte Fahrt haben und müßten eigentlich dankbar sein, daß Sie so viel frische Luft auf dem Weg schnappen können. Hier, vergessen Sie das nicht«, rief er ihr nach, als sie mit den Urkunden weggehen wollte. Er hielt ihr ein kleines Papier entgegen. »Vergessen Sie den Passierschein nicht – seien Sie doch nicht so unaufmerksam! Wie sollen Sie denn sonst ins Gefängnis kommen, Mädchen? Und dann sagen Sie der Desmond – machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen!«

 

Lois verließ den Raum und schloß die Tür leise hinter sich. Die vier blassen Angestellten, die nicht mehr allzu jung waren, saßen an hohen Büropulten und schauten nicht einen Augenblick von ihrer Arbeit auf. Nur das dralle Mädel mit dem runden Gesicht, das die Schreibmaschine bearbeitete, drehte sich nach ihr um.

 

»Fährst du nach Telsbury – mit seinem sogenannten Auto?« fragte sie. »Ich dachte mir schon, daß er dich damit wegschicken würde. Der alte Teufel ist so niederträchtig geizig, daß er nicht einmal seine Fahrt zum Himmel bezahlen würde!«

 

Die Firma Shaddles & Soan besaß ein Auto, das vor dem Krieg einmal schön und modern gewesen war. Es stand in einer benachbarten Garage, für die keine Miete gezahlt zu werden brauchte, denn das Grundstück wurde von Mr. Shaddles verwaltet. Den Wagen selbst hatte er für eine verschwindend geringe Summe bei einer Zwangsversteigerung erworben. Es war ein Fordwagen, und jeder Angestellte mußte ihn fahren können.

 

Mr. Shaddles benutzte ihn, wenn er zum Gericht mußte, die Angestellten absolvierten damit ihre Botengänge, und die Fahrten wurden auf allen Kostenrechnungen nicht zu gering in Ansatz gebracht. So war das Auto für die Firma obendrein noch eine recht einträgliche Sache.

 

»Bist du nicht froh, daß du fahren darfst?« fragte Lizzy etwas neidisch. »Großer Gott, wenn ich einmal aus diesem staubigen Loch heraus könnte! Möglich, daß du deinem Schicksal begegnest!«

 

Lois runzelte die Stirn.

 

»Was meinst du?«

 

»Dein Schicksal«, erwiderte Elizabeth, nicht im mindesten eingeschüchtert. »Ich habe ihn schon heute morgen gesehen, als ich durch das Fenster schaute – na, wenn der nicht in dich verliebt ist!«

 

Lois sah sie kühl und ablehnend an.

 

»Aber da ist doch nichts dabei«, fuhr Lizzy fort. »Der junge Mann wartete neulich sogar im Regen stundenlang auf mich, nur um nach dir zu fragen. Ich glaube, der ist nicht ganz richtig im Kopf.«

 

Lois lachte leise, band sich ein grellfarbenes Halstuch um und zog ihre Handschuhe an. Plötzlich wurde sie ernst.

 

»Ich hasse dieses Telsbury, ich hasse überhaupt alle Gefängnisse – mich schaudert, wenn ich nur daran denke. Ich freue mich, daß ich bald nicht mehr hier in diesem Büro von Mr. Shaddles arbeiten muß.«

 

»Nenne ihn bloß nicht Mister – dieses Kompliment verdient er nicht!«

 

Der Tag war schön und warm, es wehte eine laue, milde Luft. Als Lois aus dem lärmenden Treiben Londons herauskam, wichen Niedergeschlagenheit und Unlust von ihr. Bevor sie abgefahren war, hatte sie sich instinktiv nach dem Mann umgesehen, von dem Lizzy vorhin so schmeichelhaft gesprochen hatte und dessen beständige und unerschütterliche Ergebenheit sie sehr in Erstaunen setzte. Aber sie konnte ihn nicht entdecken und vergaß ihn auch bald. Außerhalb Londons bog sie von der Hauptstraße auf eine der gewundenen Landstraßen ab, die parallel zur Chaussee liefen. Von hier aus konnte man die Natur und die ganze Landschaft besser genießen als auf der geraden, langweiligen Chaussee, die obendrein noch von hohen Hecken eingefaßt war.

 

Sieben Meilen vor Telsbury fuhr sie mit zu hoher Geschwindigkeit wieder auf die asphaltierte Hauptstraße zurück. Als sie eben die hohen Hecken passieren wollte, hörte sie das Hupen eines Autos und bremste. Der kleine Wagen rutschte aber trotzdem weiter auf die Hauptstraße. Zu spät gab sie die Bremsen frei, um Gas zu geben. Plötzlich sah sie das Verdeck eines schwarzen Wagens, der gerade auf sie zukam, und fühlte den Ruf des Fahrers mehr, als sie ihn hörte.

 

Krach!

 

Dem Fahrer des großen, eleganten Wagens war es im letzten Augenblick gelungen, sein Auto zum Stehen zu bringen; trotzdem war er noch leicht mit dem alten Ford zusammengestoßen. Das Mädchen hatte die Hände am Steuer ihres Wagens und schaute verzweifelt auf die zerbrochene Windschutzscheibe. Michael Dorn ließ seinen Wagen langsam rückwärtsrollen, so daß das lange Trittbrett seines Wagens aus dem Schutzblech des anderen herauskam, und er bewies dabei eine so höfliche Geduld, daß es ihr noch peinlicher war, als wenn er ihr Vorwürfe gemacht hätte.

 

»Sagen Sie doch etwas – irgend etwas Heftiges – oder meinetwegen schimpfen Sie! Es ist doch besser, daß man sich die Sache vom Herzen herunterredet, als daß man seinen Groll in sich hineinfrißt.«

 

Graue Augen, durch dunkle Wimpern gehoben, dachte er. Auch hatte sie eine feingeformte Nase, wie er sie an Frauen so gern hatte, Ihr Kinn gefiel ihm, und da sie es angriffslustig gehoben hatte, konnte er auch ihren Hals sehen, der ihm trotz des seidenen Halstuchs in den schreienden roten und gelben Tönen in der Form vollkommen erschien. Sie war sehr geschmackvoll, wenn auch einfach gekleidet.

 

»Ich habe ja gar keinen Groll und bin höchstens etwas verwirrt. Aber wenn ich schon etwas aussetzen soll, so muß ich sagen, daß mir Ihr Halstuch durchaus nicht gefällt.«

 

Sie schaute an dem Tuch herunter, das sein Schönheitsgefühl beleidigte, und runzelte die Stirn.

 

»Sie haben kein Recht, mich mit Ihrem Wagen anzurennen, weil Ihnen mein Halstuch nicht gefällt«, sagte sie kühl. »Wollen Sie bitte noch weiter zurückfahren, damit mein Auto freikommt? Hoffentlich sind Sie versichert?«

 

Er fuhr rückwärts. Sie hörte, wie Blech schrammte und Glassplitter zur Erde fielen, dann war ihr Wagen wieder frei.

 

»Sie sind mit einer Geschwindigkeit von vierzig Meilen aus der Seitenstraße herausgekommen – Ihr Wagen wäre sicher umgeschlagen, wenn ich Sie nicht angefahren hätte«, sagte er halb entschuldigend. »Ich hoffe jedoch, Sie haben sich nicht verletzt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin nicht verletzt, aber ich glaube, mein Chef wird sehr böse sein, wenn er den Schaden sieht. Immerhin, Sie haben Ihren Zweck erreicht, Mr. Dorn, Sie haben auf diese Weise meine Bekanntschaft gemacht.«

 

Er fuhr auf und wurde rot.

 

»Sie nehmen doch hoffentlich nicht an, daß ich diesen Zusammenstoß absichtlich herbeigeführt hätte, um Ihre Bekanntschaft zu machen?«

 

Als sie ernst nickte, war er wie vom Donner gerührt und starrte sie groß an.

 

»Sie folgen mir schon seit Monaten«, sagte Lois ruhig. »Sie machten sich sogar die Mühe, mit einer Stenotypistin in Shaddles‘ Büro bekannt zu werden, nur um mit mir zusammenzukommen. Ich weiß, daß Sie mich stets auf dem Heimweg verfolgen – einmal nahmen Sie denselben Autobus wie ich, und auf dem einzigen Ball, den ich in diesem Jahr besuchte, waren Sie auch.«

 

Michael Dorn machte sich am Steuer zu schaffen und war im Augenblick sprachlos. Sie war sehr ernst geworden. Ihre wundervollen Augen sahen ihn mit einem leisen Vorwurf an.

 

»Nun ja, wirklich –«, begann er zögernd. Dann fehlten ihm die Worte.

 

Sie wartete, daß er seinen angefangenen Satz beenden würde.

 

»Also wirklich –?« Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Nun, Mr. Dorn, es ist ja kein Vergehen von einem Mann, ein junges Mädchen treffen zu wollen – das sehe ich ein. Es wäre lächerlich von mir, mich dadurch beleidigt zu fühlen. Aber wie ich schon ihrer Gesandtin, Miss Lizzy Smith, sagte –«

 

Er schaute rasch auf und wollte etwas erwidern, aber sie fuhr unbeirrt fort.

 

»Ich wünsche Ihre Bekanntschaft wirklich nicht, und ich bezweifle nicht, daß Lizzy Ihnen das von mir ausrichtete. Deshalb halte ich Ihr Benehmen auch für ein wenig – wie soll ich es gleich nennen?«

 

»Aufdringlich heißt das Wort, das Sie suchen«, sagte er kühl. »Ich will zugeben, daß es fast so aussieht.«

 

Er stieg langsam aus, ging an ihren Wagen und stützte seine Arme auf die Oberkante des Schlages.

 

»Bitte, glauben Sie mir, Miss Reddle, daß mir nichts ferner liegt, als Sie zu belästigen. Wenn ich nicht so ungeschickt gewesen wäre, würden Sie niemals erfahren haben, daß ich Sie –« Es fehlte ihm wieder das richtige Wort. Sie vollendete seinen Satz. Obwohl er so ernst war, mußte er lachen.

 

»Verfolgen ist ein häßliches Wort, ich wollte es eben etwas liebenswürdiger ausdrücken«, sagte er.

 

Als sie ihn jetzt ansah, gefiel ihr der treue, fröhliche Blick seiner blauen Augen doch, und hätten sie sich in diesem Augenblick getrennt, ohne noch mehr miteinander zu sprechen, so hätte sie freundlicher von ihm gedacht. Aber er setzte die Unterhaltung fort.

 

»Wo wollen Sie an diesem schönen Herbstmorgen hin?«

 

Sie wurde wieder ablehnend und zurückhaltend.

 

»Wenn Sie mir jetzt folgen, werden Sie einen Schrecken bekommen. Ich bin nämlich auf dem Weg zum Telsbury-Gefängnis.«

 

Der Eindruck, den diese Worte auf ihn machten, war verblüffend. Er schaute sie entsetzt und verwirrt an.

 

»Wohin wollen Sie fahren?« fragte er heiser, als ob er seinen Ohren nicht traute.

 

»Zum Telsbury-Gefängnis – bitte!«

 

Sie winkte ihm, Platz zu machen, und der Wagen mit der zerbrochenen Windschutzscheibe fuhr die breite Chaussee entlang.

 

»Großer Gott!« sagte Michael Dorn und starrte hinter ihr her.

 

Kapitel 20

 

20

 

»Das wäre also erledigt«, sagte Michael traurig, als er die Polizeistation mit dem Sergeanten wieder verließ. »Ich fasse jetzt einen richtigen Dieb, Lighton, wenn meine Schlußfolgerungen richtig sind. Ich ließ mir einen Brief vom Justizministerium schicken, der heute nachmittag an meine Adresse aufgegeben wurde.«

 

»Glauben Sie, daß man Ihren Briefkasten beraubt?« fragte Lighton.

 

Der Detektiv antwortete erst, als sie in einem Auto saßen.

 

»Wir wollen nicht Briefdiebstahl, sondern Briefverzögerung sagen. Ich kam nämlich dahinter, daß alle Briefe meines Nachrichtenagenten und meines Freundes bei der Regierung stets ohne jeden Grund mit Verspätung ankamen. Ich beschäftigte mich mit der Sache und merkte, daß ich von beiden Stellen Briefe in blauen Umschlägen erhielt.«

 

»Wie geht es Braime?« fragte der Sergeant.

 

»Besser«, war die kurze Antwort. »Ich habe ihn heute abend gesprochen – das wird er sein Leben lang nicht vergessen.« Er lachte leise vor sich hin, obwohl sein Herz schmerzte, als er an das bestürzte und empörte Mädchen dachte, das zu dieser Stunde in der großen und luftigen Frauenzelle einer Polizeistation saß.

 

Der Wagen hielt vor den Hiles Mansions, und der Fahrstuhlführer brachte sie zu Dorns hübscher Wohnung. Zwei oder drei Briefe lagen in seinem Briefkasten. Er nahm sie heraus, prüfte sie, ging dann wieder auf den Treppenflur hinaus und klingelte nach dem Fahrstuhl.

 

»Haben Sie die Briefe heraufgebracht?« fragte er.

 

»Ja, Sir!«

 

»Wann kamen sie an?«

 

»Um halb zehn.«

 

»Heute nachmittag um halb vier wurde ein Brief in einem blauen Umschlag an mich abgesandt – er befindet sich nicht unter meiner Post. Wie kommt das?«

 

Der Fahrstuhlführer schaute beiseite.

 

»Ich weiß es nicht.« Er vermied Michaels Blick ängstlich. »Ich bringe die Briefe herauf, sobald sie kommen, und werfe sie dann in den Kasten.«

 

»Sie haben von neun Uhr abends bis neun Uhr morgens Dienst, das stimmt doch?«

 

»Jawohl, Sir!«

 

»Sie haben also die Morgen- und Abendpost zu besorgen. Wie kommt es, daß alle Briefe, die blaue Umschläge haben, mich stets vierundzwanzig Stunden später erreichen, als sie es eigentlich sollten?«

 

»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

 

»Dann sagen Sie es wenigstens diesem Herrn hier – er ist ein Detektiv von Scotland Yard –, und sagen Sie es ihm schnell und ohne alle Umschweife, sonst werden Sie diese Nacht nicht sehr bequem schlafen.«

 

Eine Zeitlang wehrte sich der Mann noch und widersprach, aber plötzlich wurde er klein.

 

»Ich habe eine Frau und vier Kinder«, jammerte er. »Und meine Militärpension werde ich auch verlieren –«

 

»Sie werden nichts verlieren, wenn Sie jetzt die Wahrheit sagen. Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, meine Briefe aufzuhalten?«

 

»Ein Herr – ich kenne nicht einmal seinen Namen. Und wenn ich diesen Augenblick sterben soll, kann ich Ihnen den Namen nicht sagen. Er gibt mir zwei Pfund die Woche, damit ich alle Briefe in blauen Umschlägen aufhalte, auch alle amtlichen Schreiben, die an Sie kommen. Ich habe sie niemals gestohlen, ich habe sie immer wieder in Ihren Briefkasten gelegt –«

 

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Dorn kurz. »Sie verschwenden nur Ihre Lunge, wenn Sie mir das alles erzählen. Wer hat Ihnen diesen Auftrag gegeben?«

 

»Ich schwöre Ihnen, daß ich ihn nicht kenne, Sir. Ich traf ihn eines Abends in einer Wirtschaft. Er beschwatzte mich, bis ich auf die Sache einging. Ich wünschte, ich hätte ihn nie gesehen.«

 

»Kommt er wegen der Briefe hierher?«

 

»Ja, er kam auch heute morgen, nachdem die Post hier war. Aber ich habe ihm den blauen Brief nicht gegeben, weil ich ihn noch nicht hatte. Der Postbeamte mußte ihn übersehen haben, er kam eine Viertelstunde später nochmals zurück und gab ihn mir.«

 

»Den blauen Brief? Welchen blauen Brief?« fragte Michael schnell. »Er liegt unten«, winselte der unzuverlässige Portier der Hiles Mansions.

 

»Ich werde jetzt mit Ihnen hinunterfahren und ihn holen.«

 

In den Eingangsflur war ein kleiner Raum eingebaut, der dem Portier als Büro diente. Unter einer Schreibunterlage zog er zwei blaue Briefe heraus.

 

Den ersten erkannte Michael als den Brief wieder, den er selbst geschrieben hatte, den zweiten öffnete er schnell und las. Lighton sah, wie sich seine Gesichtszüge veränderten. Er steckte den Brief rasch in seine Tasche und wandte sich zu dem erschrockenen Portier.

 

»Was ist sonst noch gekommen? Heraus damit, schnell!«

 

Ohne ein Wort langte der Mann in die Tasche eines Rockes, der an der Wand hing, und nahm ein Telegramm heraus, das allem Anschein nach geöffnet und wieder geschlossen worden war. Michael las es wuterfüllt.

 

»Zum Teufel mit diesem Kerl«, sagte er, rannte aus der Halle und sprang in die nächste leere Taxe, die er sah.

 

Zehn Minuten später war er bei seiner Garage, und gleich darauf fuhr ein großer, schwarzer Wägen mit Blitzgeschwindigkeit aus London hinaus.

 

Es schlug Mitternacht von der Dorfkirche von Telsbury, als das Auto vor dem Gefängnis hielt. Michael Dorn sprang heraus und drückte auf die Klingel.

 

»Der Direktor schläft schon, Sir.«

 

»Ich muß ihn sofort sprechen. Es geht um Leben und Tod. Geben sie ihm meine Karte.« Er steckte sie durch das Gitter und wartete ungeduldig, bis er eingelassen und zum Haus des Direktors geführt wurde, der ihn im Pyjama und Schlafrock in seinem kleinen Arbeitszimmer erwartete.

 

»Mrs. Pinder ist um zehn Uhr fortgefahren. Hatten Sie denn nicht den Wagen geschickt?«

 

»Nein, ich wußte gar nichts von ihrer Entlassung. Der Brief vom Justizministerium, der mich davon unterrichten sollte, ist aufgehalten worden. Zehn Uhr? Wer holte sie ab?«

 

»Ich weiß es nicht, ich dachte, Sie wären es. Ich sah den Wagen und kümmerte mich nicht weiter darum.«

 

»Wissen Sie, welchen Weg er nahm?« »Sie fuhren in der Richtung nach London. Es war ein kleiner Wagen – ein Buick, denke ich. Ist sie nicht angekommen?«

 

Michael schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nicht in London.«

 

Es war keine Zeit zu verlieren. Er stieg wieder in sein Auto und fuhr in höchster Eile die London Road entlang. Am Telsbury-Kreuzweg befand sich eine Tankstelle, und er wußte, daß dort jemand im Rückgebäude schlief. Es dauerte einige Zeit, bis er auf sein Klopfen eine Antwort erhielt, aber dann bekam er eine wertvolle Information.

 

»Ich sah den Wagen vorbeifahren. Er fuhr nach Süden, auf Letchford zu.«

 

»Nicht auf der London Road?«

 

»Nein, er wendete hier um. Kurz bevor ich mich schlafen legte, sah ich das Schlußlicht vor dem Hügel.«

 

Michael Dorn stieg wieder ein und legte die fünfzehn Meilen von Telsbury nach Letchford in genau fünfzehn Minuten zurück. Hier hatte er wieder Glück. Ein Polizist hatte den Wagen gesehen, der westwärts gefahren war. Aber dann kam er an einen Punkt, an dem sich vier Straßen kreuzten, und er konnte nicht herausfinden, welche Richtung der unbekannte Chauffeur eingeschlagen hatte. Auf keinen Fall waren sie nach London gefahren. Er fuhr erfolglos die eine Straße entlang, nahm dann seinen Weg über das Feld, um die zweite abzuschneiden, aber er traf niemand, der ihm die geringste Auskunft geben konnte.

 

Um vier Uhr morgens hielt er wieder vor dem Polizeirevier von Chelsea und stieg langsam die Stufen zu dem Dienstzimmer hinauf.

 

»Hallo, Mr. Dorn!« sagte der Sergeant. »Der Inspektor hat die ganze Nacht nach Ihnen gefragt wegen dieses Falles.«

 

»Was gibt es denn?« fragte Michael müde.

 

»Das geht mit dem Teufel zu! Die Gräfin gibt an, das Mädchen sei nicht in dem Zimmer gewesen, als Braime verletzt wurde. Wir haben eine vollständige schriftliche Aussage von ihr, und der Inspektor sagte, daß er Ihnen etwas sagen wird, was Sie nicht so schnell vergessen werden!«

 

Dorns Lippen zogen sich wütend zusammen.

 

»Wenn er sich untersteht, irgend etwas Nennenswertes zu sagen, werde ich den Dienst quittieren! Aber immerhin, Sie können sie jetzt freilassen. Ich möchte mich bei ihr entschuldigen.«

 

»Sie freilassen!« lachte der Sergeant. »Da kommen Sie ein bißchen spät! Sie ist schon um zwei Uhr morgens wieder entlassen worden.«

 

Der Detektiv fuhr zusammen.

 

»Um zwei Uhr morgens?« wiederholte er leise. »Ging sie allein weg?«

 

»Nein, ein Herr holte sie mit einem blauen Buickwagen ab.«

 

Michael wankte einen Schritt rückwärts, sein Gesicht war erschöpft und verstört, und er schien plötzlich gealtert zu sein.

 

»Der Mann, der das Mädchen befreite, hat wahrscheinlich Beihilfe an einem Mord geleistet!« sagte er. »Erzählen Sie das dem Inspektor, wenn Sie ihn sehen!«

 

Dann wandte er sich um und verließ den Raum.

 

Das Büro des Staatsanwalts wurde erst morgens um zehn Uhr geöffnet, und Michael Dorn wartete dort. Er war verstaubt, unrasiert, und sein Gesicht sah grimmig aus.

 

»Hallo, Dorn – was ist Ihnen denn passiert?« fragte der Beamte.

 

In wenigen Worten erklärte der Detektiv die Lage.

 

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf.

 

»Wir können nichts tun. Wir haben nicht den Beweis, den wir brauchen, und können infolgedessen keine Anklage erheben. Wir haben Ihnen in Anbetracht der seltsamen Umstände dieses Falles freie Hand gelassen, aber ich kann keinen Haftbefehl ausstellen, bevor Sie mir nicht den positiven und unumstößlichen Beweis beibringen.«

 

Dorn biß sich auf die Lippen.

 

»Wenn man in früheren Zeiten einen Mann nicht dazu bringen konnte, die Wahrheit zu sagen – was tat man da, Sir Charles?«

 

»Nun ja, man goß ein wenig kochendes Öl auf ihn! Damals war die Untersuchung von Verbrechen etwas leichter als heute!«

 

»Sie war nicht leichter.« Michael schüttelte den Kopf. »Ich werde die Wahrheit erfahren. Ich bringe heraus, wohin sie diese beiden Frauen gebracht haben! Und die Streckfolter und die Daumenschrauben sollen ein Kinderspiel sein im Vergleich zu den Mitteln, die ich gegen sie anwenden werde! Ich erfahre die Wahrheit – und wenn ich Chesney Praye Glied um Glied ausreißen müßte!«

 

Kapitel 21

 

21

 

Als die Zellentür geöffnet wurde, erwachte Lois aus einem lähmenden Schlaf; sie erhob sich unsicher und wußte kaum, was sie tat, als sie der Wärterin ins Büro folgte. Sie war müde und abgestumpft von der Anklage, die man gegen sie erhoben hatte. Der Sergeant sagte irgend etwas, und sie hörte auch den Namen der Gräfin. Dann gab ihr jemand die Hand – sie dachte, es sei der Sergeant. Ein junger Mann, den sie nur mit halbem Bewußtsein bemerkt hatte, nahm ihren Arm und führte sie langsam auf die dunkle Straße. Er öffnete den Schlag eines Wagens, und bevor sie wußte, was geschah, hatte sich das Auto schon in Bewegung gesetzt. Sie fühlte eine grenzenlose Abgespanntheit – und schlief wieder ein.

 

Sie erwachte davon, daß ihr Kopf gegen den Führersitz stieß. Die Dämmerung war schon nahe.

 

»Wo sind wir?« fragte sie.

 

Es interessierte sie nicht, wer der Chauffeur war, aber als er sich umwandte, erkannte sie das Gesicht Chesney Prayes.

 

»Es ist schon alles in Ordnung, Miss Reddle«, sagte er mit einem Grinsen, das seine Zähne zeigte. »Ich fahre Sie aufs Land.«

 

Sie zog die Stirn kraus und versuchte sich über die Ereignisse der letzten Nacht klarzuwerden. Als sie sich an ihre Verhaftung erinnerte, wurde sie plötzlich wieder ganz wach. Aber bevor sie weiterfragen konnte, gab er ihr über die Schulter hinweg schon eine Erklärung.

 

»Lady Moron dachte, es sei besser, wenn Sie diesem Bluthund einmal ein oder zwei Tage aus dem Gesicht kämen. Er hat eine Abneigung gegen Sie, und er ist ein rachsüchtiger Kerl.«

 

»Mr. Dorn?« fragte sie. »Warum ließ er mich festnehmen? Ich weiß doch gar nicht, wie Braime verletzt wurde.«

 

»Natürlich wissen Sie es nicht«, sagte er beruhigend. »Aber er hat sich nun eben auf diese Weise gerächt.«

 

An wem er sich auf diese Weise gerächt hatte, erklärte Chesney nicht, und selbst Lois schien es in ihrem abgespannten Zustand doch etwas unlogisch, daß Michael Dorn sie hatte festnehmen lassen, um sich an Praye oder an der Gräfin zu rächen.

 

Der Wagen fuhr einen Hügel hinab. Unten sah sie das glitzernde Wasser eines Flusses, der sich in vielen Windungen durch die Gegend schlängelte, den grauen Rauch, der von den kleinen Häusern im Tal aufstieg. Die Straße war schmal und uneben, kaum mehr als ein Feldweg. Sie wunderte sich, warum sie hier entlangfuhren, denn sie erblickte nicht weit entfernt eine breite Chaussee, die fast genau mit ihrer Fahrtrichtung parallel lief.

 

»Wir sind gleich da.«

 

Sie erreichten den Ausgang eines Tales. Ihr Weg führte unerwartet in eine dichtbestandene Baumpflanzung, wandte sich dann in rechtem Winkel, kreuzte einen gewöhnlichen Feldweg, und fünf Minuten später sah sie eine lange, graue Mauer, die ein breitgelagertes, mit einem niedrigen Dach gedecktes Gebäude umschloß.

 

An der anderen Seite des Hauses lief eine Straße entlang, und sie wunderte sich aufs neue, daß sie ihr Ziel nicht auf einem besseren Weg erreicht hatten. Offensichtlich erwartete man sie, denn das unansehnliche Tor wurde aufgestoßen, und sie fuhren in einen schmutzigen Bauernhof ein. Ein halbes Dutzend Hühner gackerte durcheinander, und aus einem zerfallenen Stall hörte man das Grunzen eines Schweines.

 

»Wir sind angekommen«, sagte er, brachte den Wagen zum Stehen und sprang heraus. Das Mädchen schaute sich erstaunt um und sah ein langes, heruntergekommenes Bauernhaus. Von den Fenstern, die man von hier sehen konnte, waren nur zwei gesäubert, die anderen starrten von jahrealtem Schmutz. Links erhob sich eine niedrige, höhlenartige, düstere Scheune, deren Tore halb zerbrochen in den rostigen Angeln hingen und sich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr bewegen ließen. Sie war leer, nur ein alter, verrosteter Pflug und das Gestell eines zerbrochenen Bauernwagens ohne Räder standen auf der Tenne. Überall sah man schlimmsten Verfall, und obwohl sie das Gebäude nur oberflächlich betrachtete, bemerkte sie, daß das eine Ende des Daches fast keine Ziegel mehr trug.

 

»Dies ist doch nicht etwa der Landsitz von Lady Moron?« fragte sie.

 

»Nein, es ist ein kleines Besitztum, das einem unserer Freunde ich meine einem ihrer Freunde gehört. Sie haben doch Dr. Tappatt bei ihr getroffen?«

 

»Dr. Tappatt?« Sie runzelte die Stirn. Das war der merkwürdige, unsaubere Arzt mit der großen Nase, der im Palais am Chester Square am Essen teilgenommen hatte.

 

»Ist er hier?« fragte sie, unangenehm berührt. Der letzte, mit dem sie einen Tag zusammen verbringen wollte, war dieser Mann.

 

»Ja – er ist hier. Er ist kein schlechter Mensch – ich kenne ihn von Indien her, und ich glaube, daß er Ihnen auch ganz gut gefallen wird.«

 

Offensichtlich waren sie von der Rückseite zu dem Gehöft gekommen, denn das einzig sichtbare Tor, das ins Haus führte, war verschlossen und verriegelt.

 

Er klopfte einige Male, bis eine Frau mit einer häßlichen, harten Stimme fragte, wer da sei. Kurz darauf wurden die verrosteten Riegel zurückgeschoben, und eine große, hagere Frau erschien in der Türöffnung. Sie trug ein verblichenes Kattunkleid, ihr Gesicht war bleich und abstoßend. »Kommen Sie herein, Sir«, sagte sie und trat in den dunklen Korridor.

 

In dem Haus roch es muffig und schlecht. Der alte Teppich auf dem Boden war so dünn, daß ihre Schritte hohl klangen.

 

»Der Doktor ist hier.« Die Frau wischte sich die Hände mechanisch an ihrer schwarzen Schürze ab und führte sie in einen Raum, der an den Vorplatz stieß.

 

Das Zimmer war so schmutzig wie das ganze Haus. Auf einem Sofa schlief zusammengekauert ein Mann, der in einen alten Schlafrock gehüllt war. Ein übler Geruch von Rauch und Whisky lag über dem Raum und schreckte Lois zurück.

 

Chesney ging hinter ihr her und rüttelte den Schlafenden auf.

 

»Wach auf!« sagte er barsch. »Es ist jemand gekommen, der dich sprechen will.«

 

Tappatt fuhr in die Höhe. Wenn er schon am hellen Tag am ehester Square unleidlich war, so war er jetzt unausstehlich.

 

»Was ist los?« brummte er. Er stand langsam auf und reckte sich. »Ich bin müde; ich sagte dir doch, daß ich schlafen will. Du hast mir versprochen, eher zu kommen. Sie schläft, und ich wette, daß sie diese Nacht ein besseres Bett hatte als in den letzten zwanzig Jahren.«

 

»Halt den Mund, verdammter Kerl!« sagte Chesney leise zu ihm. »Miss Reddle ist hier.«

 

Der Doktor blinzelte, dann erkannte er das Mädchen.

 

»Hallo – freue mich, Sie zu sehen, Fräulein. Schade, daß Sie mich so überraschen, aber ich war schon die ganze Nacht auf – war beschäftigt mit einem Patienten –« Er sprach das letzte Wort besonders laut aus, als ob er ihm durch die Betonung mehr Überzeugungskraft geben könnte.

 

»Nun hör mal zu, Tappatt. Es ist ein Haftbefehl gegen die Dame erlassen worden, aber es ist uns gelungen, sie aus dem Polizeirevier zu befreien. Sie soll ein paar Tage hierbleiben, bis Lady Moron die Sache in Ordnung bringen kann.«

 

Lois erschrak.

 

»Was – ein Haftbefehl gegen mich?« fragte sie entsetzt. »Sie sagten mir doch, daß Dorn kein Recht hatte, mich festzunehmen?«

 

Er lächelte und gab ihr ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten.

 

»Hat die Frau das Zimmer für Miss Reddle fertiggemacht? Sie ist sehr müde und möchte gern schlafen.«

 

»Sicher, sicher!« murmelte der Doktor. Er versuchte, aus einer Flasche einzuschenken, aber zu seiner unangenehmen Überraschung war die Flasche fast leer, es kamen nur noch ein paar Tropfen heraus. »Ich muß etwas trinken«, brummte er. »Das Fieber hat mich wieder gepackt.«

 

»Mr. Praye, mir ist die Lage nicht ganz klar. Warum bin ich hier? Wo liegt dieses Gehöft?« fragte Lois.

 

»In der Nähe von Nottingham«, antwortete Chesney. »Und um Himmels willen, verlassen Sie das Haus bloß nicht! Das könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Aber es ist ja alles in Ordnung – Sie brauchen nur ein paar Tage hier zu bleiben; ich versichere Ihnen, daß kein Grund zur Beunruhigung vorhanden ist.«

 

Er sah nach der Uhr und wurde ungeduldig.

 

»Ist das Zimmer für Miss Reddle fertig?« fragte er jetzt scharf.

 

Der Doktor ging hinaus, den Gang entlang und stieg eine schmale Treppe empor. Oben auf dem Absatz schloß er eine Tür auf.

 

»Hier ist das Zimmer.«

 

»Aber ich bin nicht müde, Mr. Praye – tatsächlich, ich war noch niemals so wach. Ich würde lieber aufbleiben. Könnte ich vielleicht etwas Tee bekommen?«

 

»Sie können alles bekommen, was Sie wünschen, mein Kind«, sagte der Doktor höflich. »Wo steckt denn bloß diese Frau? He, Sie!« Er brüllte die Treppe hinunter. »Bringen Sie dieser Dame etwas Tee – und zwar schnell, so schnell wie möglich!«

 

Lois ging in das Schlafzimmer. Es war nur ärmlich, aber sauber möbliert, und sie hatte den Eindruck, daß alle Einrichtungsgegenstände erst in letzter Minute dorthin gekommen waren.

 

»Dieses Zimmer hatten wir eigentlich für die andere fertiggemacht«, sagte Tappatt, »aber als ich hörte, daß die junge Dame kommen würde –«

 

Chesney Praye sah ihn scharf an, und er schwieg.

 

Die andere – schon zweimal hatte er eine Person erwähnt, die bereits hier sein sollte.

 

»Die andere Tür führt zu einem Badezimmer«, erklärte der Doktor. »Es ist der netteste kleine Landsitz, den Sie finden können.«

 

Er schloß die Tür hinter ihr und drehte leise den Schlüssel um. Die beiden Männer gingen zusammen die Treppe hinunter. Als sie allein in dem Zimmer des Doktors waren, fragte Chesney Praye: »Wo ist Mrs. Pinder?«

 

»Die ist gut aufgehoben«, sagte der andere nachlässig.

 

»Sie ist aber doch nicht hier in der Nähe des Mädchens?«

 

»Nein, im anderen Flügel – mit der kann man leicht umgehen. Zwanzig Jahre Gefängnisdisziplin brechen den Eigenwillen. Die wird keine großen Schwierigkeiten machen!«

 

»Was hast du ihr denn gesagt?«

 

»Die Geschichte, die du mir erzähltest, daß jemand hinter ihr her ist und sie sich hier ein oder zwei Tage aufhalten soll. Meine Haushälterin wird schon nach ihr sehen, sie hat früher eine meiner Anstalten in Indien betreut.«

 

Chesney sah wieder auf die Uhr.

 

»Es sind vier Meilen bis zum Whitcomb-Flugplatz – du kannst mich dorthin fahren.«

 

»Warum nimmst du denn nicht das Auto?«

 

»Weil ich nicht will, daß der Wagen gesehen wird, du Dummkopf! Beeile dich gefälligst!«

 

Fünf Minuten später war ein starkknochiges Pony an einen alten Dogcart angeschirrt. Das blaue Auto brachten sie in einen Schuppen und schlössen die Tür zu. Dann fuhren sie die Straße nach Whitcomb entlang, so schnell das alte Tier nur laufen konnte. Eine Viertelstunde vor dem Flugplatz stieg Chesney ab.

 

»Die beiden Frauen dürfen einander nicht begegnen –« »Das werden sie auch nicht«, unterbrach ihn der andere.

 

»Es ist besser, du bleibst im Haus und siehst nach dem Rechten.«

 

»Wie steht es denn mit Geld?« fragte der Doktor.

 

Chesney nahm ein paar Banknoten aus der Tasche und gab ihm zwei davon.

 

»Versuche, wenigstens die nächste Woche nicht zu trinken – du hast Aussicht, viel zu verdienen, Tappatt. Aber es ist auch möglich, daß du gefaßt wirst. Wenn Dorn auch nur entfernt auf unsere Spur kommt, kannst du sicher sein, daß er dich faßt, bevor du es ahnst.«

 

Tappatt grinste.

 

»Weshalb soll man etwas gegen mich haben?« fragte er. »Sie kamen doch beide freiwillig zu mir – ich behaupte ja gar nicht, daß man schon ein Gutachten über sie abgegeben hat.«

 

»Aber es könnte doch sein, daß die beiden auch freiwillig wieder gehen wollten«, sagte Praye bedeutungsvoll.

 

Dann ging er schnell durch die großen Tore des Flugplatzes und eilte quer über den Rasen zu einem zweisitzigen Sportflugzeug, bei dem drei Leute standen.

 

»Guten Morgen – ich bin Mr. Stone«, sagte er. »Ist das mein Flugzeug?«

 

»Ja, Sir. Sie haben einen selten klaren Morgen für Ihre Reise.«

 

Praye schaute zweifelnd auf die leichte, zerbrechliche Maschine.

 

»Können Sie mit dem Ding ohne Zwischenlandung nach Paris fliegen?«

 

Der Kommandant des Flugplatzes nickte.

 

»Sie sind in zwei Stunden fünfzig Minuten dort – vielleicht auch schneller, Sie haben Rückenwind.«

 

Er half dem Passagier in einen schweren Lederrock. Der Pilot hatte seinen Platz schon eingenommen. Praye legte noch warme Handschuhe an, und man gab ihm letzte Instruktionen. Der Propeller surrte, das Flugzeug rollte leicht über den Rasen, erhob sich dann in den blauen Himmel und verschwand als kleiner weißer Punkt über dem östlichen Horizont.

 

Kapitel 13

 

13

 

»Du bist wirklich ein ganz unnützer Junge«, sagte Lady Moron noch einmal, wischte das Messer mit ihrem Taschentuch ab und beschäftigte sich wieder damit, den Bleistift anzuspitzen. »Geh in dein Zimmer und spiel mit deinen elektrischen Batterien.«

 

Der junge Mann keuchte vor Furcht, drehte sich plötzlich um und rannte aus dem Zimmer. Sein Gesicht war mit Blut besudelt.

 

Ein tödliches Schweigen folgte, dann schaute die Gräfin auf.

 

»Sie denken vermutlich, daß ich eben etwas Entsetzliches getan habe, aber Selwyn macht manchmal furchtbare Schwierigkeiten und ist so eigensinnig und trotzig, daß ich ihm gegenüber meinen Willen durchsetzen muß – es ist nur zu seinem eigenen Besten. Er ist nicht mehr verletzt, als wenn er sich mit seinem Rasiermesser gründlich geschnitten hätte.«

 

Die Kaltblütigkeit, mit der sie dies alles sagte, versetzte Lois in atemlosen Schrecken. Sie konnte kaum glauben, daß dies alles nicht nur ein fürchterlicher Traum war. »Es war sehr – ungewöhnlich«, erwiderte sie nach einer Pause. Das Sprechen fiel ihr schwer.

 

Wieder trafen sie die dunklen Augen der Gräfin.

 

»Ungewöhnlich? Ja. Dr. Tappatt wünscht, daß ich ihm gegenüber so ungewöhnlich auftrete und noch härter mit ihm verfahre. – Haben Sie Ihre Freundin gesprochen?«

 

»Ja«, sagte Lois, die froh war, daß nicht mehr von der Sache gesprochen wurde.

 

»Wird sie kommen? Wie nett von ihr. Wie ich Ihnen schon heute morgen sagte, Miss Reddle, fürchte ich mich. Ich vermute, daß Sie den Grund nicht ahnen, selbst nachdem Sie Zeugin dieses belustigenden, kindischen Benehmens des jungen Grafen waren.«

 

Lois hatte wirklich keine Ahnung, was es sein mochte, und schwieg vorsichtig. Die Gräfin erwähnte die Szene auch nicht weiter, und als Lord Moron später zum Mittagessen mit einem großen Verband um sein Gesicht erschien, nahm seine Mutter keine Notiz von ihm und sagte nur am Schluß der Mahlzeit: »Komm doch bitte nicht in solchem Aufzug zum Essen, Selwyn, man könnte sich sonst einbilden, du hättest ein Erdbeben mitgemacht.«

 

»Jawohl Mutter«, antwortete er bescheiden.

 

Der Umzug war vorgenommen, und Lois bewohnte nun ein prachtvolles Zimmer, das ein Staatsraum eines königlichen Palastes hätte sein können. Auch das zweite Bett war aufgestellt. Als die Stunde von Lizzys Ankunft herankam, fühlte sich Lois sehr erleichtert, und die bösen Gedanken, die sie bedrückt hatten, verschwanden. Die Gräfin speiste wieder außerhalb, hatte aber strikte Anweisung gegeben, daß ihr Sohn beim Abendessen zugegen sein solle. Bevor sie fortfuhr, ließ sie Lois zu sich rufen.

 

»Wenn Sie Selwyn unterhalten können, so tun Sie es bitte. Er ist ein ganz guter Gesellschafter, wenn man versteht, sich seiner kindlichen Auffassung anzupassen. Möglicherweise wird es Ihrer Freundin leichter fallen als Ihnen.«

 

Lois erschrak beinahe über diese Worte.

 

Lizzy kam pünktlich um sechs und brachte eine vollgepackte schwarze Handtasche mit, die auch ihr ›Hof- und Krönungskleid‹ enthielt, wie sie es nannte. Aber Lois jagte ihr keinen geringen Schrecken ein. »Weißt du auch, daß du heute abend mit Lord Moron speisen wirst?« fragte sie.

 

Lizzy sank vollständig aufgelöst in einen Stuhl.

 

»Das kann ich nicht – das will ich nicht!« rief sie energisch. »Ich wußte schon, daß irgend etwas im Hintergrund lauerte!«

 

Lois beschwichtigte ihre Aufregung und Furcht, und obwohl sie nicht dem Beispiel der Dienstboten folgen und schlecht von dem Grafen sprechen wollte, beruhigte sie ihre Freundin doch so weit, daß sie weder in Ohnmacht fiel noch davonlief, als ihr der junge Graf vorgestellt wurde.

 

Er stand im Wohnzimmer mit dem Rücken gegen den Kamin und hatte eine Zigarette im Mund, als die beiden Mädchen in das Zimmer traten. Lois zog ihre Freundin mit sich. Selwyn gab ihr leicht die Hand.

 

»Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen. Sehr schönes Wetter heute«, sagte er. Dann wandte er sich liebenswürdig an Lois: »Ist die Gräfin fort? Dieser schreckliche Vagabund Praye hat sie vorhin angerufen.«

 

Lois erinnerte sich an die Szene, die sie gegen ihren Willen miterlebt hatte. Sie dachte auch an das Verhalten Mr. Chesney Prayes der Gräfin gegenüber, das ihr bis dahin noch unerklärlich erschienen war, das sie jetzt aber verstand. Er war der Gräfin also viel mehr als nur ein Ratgeber in finanziellen Dingen. Offensichtlich hatte er sie auch in Herzensangelegenheiten unterwiesen, obwohl Lois sich nur schwer vorstellen konnte, daß diese herrschsüchtige Frau auch zärtlich sein konnte.

 

»Ein fürchterlicher Kerl«, sagte der junge Graf energisch. Lois erkannte, daß sein Widerstand noch lange nicht gebrochen war. »Dieser ekelhafte, betrunkene Doktor ist entsetzlich, aber Chesney Praye ist noch viel schlimmer. Ich nenne ihn nur einen Raubvogel ist das nicht ein ganz guter Witz? Denken Sie, Chesney ist ein Raubvogel!«

 

Er lachte leise und kam offensichtlich unter dem Einfluß seines eigenen Humors in Stimmung.

 

Zum zweitenmal wurde dieser merkwürdige Doktor erwähnt. Lois war gespannt, ob sie ihn auch kennenlernen würde.

 

»Ich bin froh, daß sie mit ihrem Raubvogel fort ist. Wir wollen jetzt ins Speisezimmer gehen und essen.«

 

Lizzy machte ein erstauntes Gesicht, als sie diese wenig vornehme und auch ihr vertraute Sprache hörte. In diesem Augenblick begann sie, sich für den höheren Adel zu interessieren, und dieser Umstand sollte ihr Leben noch schicksalhaft beeinflussen.

 

Die Stimmung bei Tisch wurde sehr fröhlich, und Lois erinnerte sich nicht, jemals in so lustiger Gesellschaft gewesen zu sein. Auch für den jungen Grafen war es sicher ein sehr vergnügter Abend, denn er brachte seinen Witz von dem Raubvogel mindestens ein halb dutzendmal an und freute sich jedesmal mehr darüber.

 

»Zuerst habe ich den Witz gar nicht verstanden«, sagte Lizzy, die Tränen lachte.

 

»Die Sache ist doch sehr einfach«, erklärte er eifrig. »Er heißt doch Praye, und prey bedeutet doch Raub. Deswegen nenne ich ihn Raubvogel; das ist doch ein guter Witz – finden Sie nicht? Wir wollen Dame spielen – ich bin ein Meister darin.«

 

Lois ließ sich diese gute Gelegenheit nicht entgehen, ihn besser kennenzulernen, und war klug genug, sich allerhand Informationen von ihm geben zu lassen. Sie erfuhr, daß er zwei Jahre lang die berühmte Public School von Harrow besucht hatte – dann hatte ihn seine Mutter herausgenommen. Er hatte den Aufenthalt in der Schule nicht ertragen können, es war ihm dort zu roh. Und seit der Zeit war er tatsächlich nicht von seiner Mutter fortgekommen. Er war auch Mitglied irgendeines Klubs, aber er wußte nicht, welcher Klub das war, auch war er niemals dort gewesen.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte Lois kühn.

 

Die Frage verursachte ihm unheimliches Vergnügen.

 

»Ich verheiratet? Großer Gott, nein! Wer würde denn so einen alten, verrückten Kerl wie mich heiraten wollen? Nein, meine Liebe – allerdings gab es mal eine junge Dame, die mich heiraten wollte, aber meine Mutter gab unter keinen Umständen ihre Zustimmung.«

 

Er hatte niemals irgendeine verantwortliche Stellung eingenommen. Seine Mutter verwaltete seine großen Güter mit Hilfe hoher Beamter und Rechtsanwälte. Von Zeit zu Zeit wurden ihm Dokumente vorgelegt, die er unterschreiben mußte. Dann war er auch einmal im Oberhaus gewesen, um den ihm angestammten und ererbten Sitz einzunehmen.

 

»Aber nie wieder gehe ich dahin – es ist zu verrückt!« sagte er. »Man muß einen roten Samtmantel anlegen und so eine Art Krone aufsetzen!«

 

Später entdeckte Lois zu ihrem großen Erstaunen, daß er eine Liebhaberei hatte, und plötzlich wurden ihr auch die Sticheleien seiner Mutter über seine elektrischen Batterien verständlich. Er hatte eine Leidenschaft für elektrische Maschinen und Apparate. In seinem Arbeitszimmer standen Modelle von Dynamos, elektrischen Eisenbahnen, Batterien und so weiter.

 

»Ich habe eine sehr nette Arbeit für die Gräfin in der Bibliothek geleistet – fragen Sie sie nur, sie wird es Ihnen zeigen.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Aber besser, Sie fragen nicht«, sagte er dann schnell.

 

Die Beschäftigung mit elektrischen Dingen war jedoch nicht nur ein Vergnügen und eine Spielerei für ihn. Stolz erzählte er, daß er die Klingelleitung im ganzen Haus selbst angelegt habe. Lois konnte sich später überzeugen, daß seine Angaben stimmten. Lizzy, die zuerst vor seinem hohen Adelstitel in Ehrfurcht erstarb, war bald mit ihm vertraut.

 

»Ich habe mich noch nie so gut amüsiert, wie heute abend«, sagte der junge Graf. Vorher hatte er schon verschiedene Male nervös nach der Uhr gesehen. »Jetzt werde ich aber losziehen, bevor die Gräfin nach Hause kommt.«

 

Er verschwand schnell, und die beiden Mädchen gingen in die Halle. Braime stand vor der Haustür und schaute durch die Glasscheiben auf die Straße.

 

»Gute Nacht, gnädiges Fräulein«, sagte er respektvoll. Dann schaute er wieder aufmerksam nach draußen.

 

»Ich mag den Mann nicht«, sagte Lizzy, als sie in ihrem Zimmer waren.

 

»Braime? Ich konnte ihn zuerst auch nicht leiden, aber ich verdanke ihm so viel. Wenn er mir letzte Nacht nicht geholfen hätte –«

 

»Wie ist er aber dorthin gekommen – das ist die Frage«, meinte Lizzy. »Er muß schon im Zimmer gewesen sein, als der Balkon einstürzte, denn ich fühlte sofort, daß mich jemand beiseite zog.«

 

»Was hältst du eigentlich von Lord Moron?« fragte Lois, die das Gespräch gern auf einen angenehmeren Gegenstand bringen wollte.

 

»Oh, er ist sehr nett«, sagte Lizzy verträumt. »Als du mir zuerst von ihm erzähltest, dachte ich, er sei ein wenig dumm. Aber der junge Mann hat doch Verstand!«

 

Plötzlich klopfte es an die Tür.

 

Lois lag schon im Bett, und Lizzy, die zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, um sich schnell auszuziehen, war gerade so tief im Negligé, daß sie sich nicht zeigen konnte.

 

»Wer ist da?« fragte Lois.

 

»Ich bin es, meine Damen. Kann ich hereinkommen?«

 

Sie erkannten die Stimme des jungen Lord Moron.

 

Kapitel 14

 

14

 

»Das ist leider unmöglich – wünschen Sie irgend etwas?«

 

»Ja, ich habe etwas vergessen«, sagte er aufgeregt.

 

»Kann ich es Ihnen nicht herausreichen?« fragte Lois, die an die Tür gegangen war.

 

»Nein, ich fürchte, das geht nicht. Es ist – ja, es ist –« Seine Stimme erstarb in einem undeutlichen Murmeln. Dann sprach er wieder: »Also, es tut mir leid, ich vermute nicht – ich wollte nur sagen, lassen Sie sich nicht durch irgend etwas erschrecken. Ich – ich meine, sagen Sie der Gräfin nichts, wenn Ihnen etwas verwunderlich erscheinen sollte –«

 

Lois schüttelte verständnislos den Kopf.

 

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Wenn ich Ihnen irgend etwas herausreichen kann, tue ich es gern.«

 

Aber es kam keine Antwort mehr, er war anscheinend schon gegangen. Lizzy, die immer praktisch und robust war, meinte, er hätte seine falschen Zähne vergessen. »Und er ist so schüchtern und wohlerzogen, daß er das einer Dame nicht zu sagen wagt.«

 

Aber Lois war mit dieser Erklärung nicht einverstanden.

 

Lizzy ließ sich durch die Pracht und den Prunk nicht im mindesten beeinflussen und schlief sofort ein. Aber Lois blieb vollkommen wach. Sie hörte die Uhren im Haus jede Viertelstunde schlagen. Sie änderte ihre Lage und drehte sich auf die andere Seite, sie zählte von eins bis tausend und versuchte alle bekannten Mittel, um einzuschlafen, aber um halb zwei war sie noch immer munter. Ein Auto hielt draußen vor dem Tor – sicher kam Lady Moron jetzt nach Hause.

 

Lois lag in einem Himmelbett, und vielleicht war es dieser ungewöhnliche Umstand, der sie nicht einschlafen ließ. Sie starrte auf den kaum sichtbaren seidenen Thronhimmel über ihr und überlegte sich, daß sie vielleicht besser schlafen würde, wenn sie sich auf das große Sofa legte, das quer vor dem Bett stand. Das tiefe Atmen Lizzys störte sie auch. Sie richtete sich eben auf, um ihr Kissen zu nehmen, als sie plötzlich jemand sprechen hörte.

 

»Hat sie die Fotografie erkannt?«

 

Es war die Stimme Chesney Prayes, und sie kam aus der Seidendraperie des Baldachins! Es klang, als ob sich jemand oben versteckt hätte und von dort aus spräche. Die Worte waren sehr deutlich und klar.

 

»Nein«, hörte sie plötzlich die tiefe Stimme der Gräfin. »Ich legte sie in die Schublade, bevor sie kam.«

 

Es entstand eine Pause.

 

»Das war eigentlich etwas riskant.«

 

Lady Moron lachte laut.

 

»Ich habe heute abend sicher mehr riskiert, Chesney.«

 

»Aber, liebe Leonora, du kannst mir vertrauen.« Die Antwort klang gedrückt.

 

»Ja, das muß ich wohl«, kam die vorsichtige Stimme der Gräfin von oben her. »Und ich denke, du wirst verständig genug sein, keinen Unsinn zu machen. Selwyn quält mich.«

 

»Ach was, Selwyn!« sagte er verächtlich.

 

»Selwyn weiß mehr, als ich für möglich hielt. Woher mag er wohl erfahren haben, daß wir heiraten wollen? In seiner Wut sagte er es heute. Und woher weiß er, daß ich dir Geld geliehen habe?«

 

»Komm in den Speisesaal.«

 

Eine Türklinke wurde niedergedrückt, und Lois hörte Braimes Stimme in weiter Entfernung.

 

»Es ist serviert, Mylady.«

 

Dann war alles still.

 

»Was war das? Hat jemand gesprochen?« Lizzy war aufgewacht. »Hast du etwas gesagt, Lois? Ich hörte etwas vom Geldleihen.«

 

Lois war aufgestanden und hatte die kleine Taschenlampe angedreht, die neben ihrem Bett stand. Erschrocken schaute sie nach dem Thronhimmel, der wie alle solche Draperien einen schweren, vornehmen Eindruck machte. Lois kam plötzlich der Gedanke, daß die Tür aufgestanden habe. Aber es gab nur eine einzige, die auf den Korridor führte, und die war bestimmt zugeschlossen.

 

Lizzy warf schnell ihren Morgenrock über.

 

»Sag doch, Lois, was war das?«

 

»Ich weiß nicht, ich hörte jemand sprechen. Es muß hier im Raum gewesen sein.«

 

»Ich hörte, daß die Stimme von deinem Bett herkam«, sagte Lizzy. »Großer Gott, das ist ein merkwürdiges Haus. Ich liebe so was nicht, Lois. Da ist mir der alte Mackenzie mit seiner Fiedel noch lieber!«

 

Lois Reddle hob die Lampe und stieg in ihr Bett. Als sie die Falten der Draperie genauer untersuchte, stieß sie plötzlich einen Ruf des Erstaunens aus. Oben in einer Ecke sah sie ein schwarzes Stück Ebenholz, das die Form einer Glocke hatte und von zwei Drähten gehalten wurde. Zuerst glaubte sie, es sei der Schalltrichter eines Telefons, aber dahinter war ein flacher, runder Kasten mit Drähten in dem Thronhimmel befestigt.

 

»Von dort kamen die Worte – es ist ein Lautsprecher!«

 

Als sie weitersuchte, fand sie auch den Draht, der sorgfältig in den Falten verborgen und an einem der Bettpfosten heruntergeleitet war. Dann entdeckte sie an der Wand hinter dem Bett einen Schalter. Das Geheimnis war also aufgeklärt, jetzt verstand sie die Aufregung Lord Morons und sah, daß seine elektrotechnischen Kenntnisse ernst zu nehmen waren. Auf diese Weise belauschte er wahrscheinlich seine Mutter. Irgendwo im Haus, wahrscheinlich irrt Salon, hatte er versteckt ein Mikrophon angebracht, und nun war ihm zu spät eingefallen, daß der Apparat nicht abgestellt war. Lady Moron war verwundert, woher ihr Sohn ihre Geheimnisse wissen konnte. Lois hätte sie jetzt aufklären können.

 

»Was für ein schlauer Kerl!«, sagte Lizzy bewundernd. »Das hat er nun alles selbst angelegt! Ich sagte dir ja schon, der junge Mann hat Verstand. Was hast du denn gehört, Lois?«

 

Aber Lois war nicht dazu aufgelegt, ihrer Freundin ihre Erlebnisse mitzuteilen. Sie stellte den Apparat ab, ließ Lizzy wieder zu Bett gehen und folgte dann ihrem Beispiel.

 

Wessen Fotografie mochte man in ihr Zimmer gelegt haben? Was hatte Lady Moron riskiert? Sie erinnerte sich an das Bild des hübschen jungen Offiziers, der für die Gräfin ein junger Mann war, den sie früher einmal gekannt hatte.

 

Ihre Neugierde war erwacht, und sie wollte mehr hören. Sie stand auf und schaltete den Apparat wieder ein. Es war ihr bewußt, daß sie etwas Ungehöriges tat, aber es war so viel geschehen, das lebenswichtiges Interesse für sie hatte, daß sie sich über diese Anstandsregeln hinwegsetzte. Sie hörte im Augenblick nichts mehr, aber es war ja möglich, daß sie nach dem Essen noch einmal in den Raum zurückkehrten. Vielleicht würde das langweilige Warten ihr den Schlaf bringen, der sie bis jetzt geflohen hatte.

 

Es schlug drei Uhr, halb vier und schließlich halb fünf. Die erste leichte Dämmerung zeigte sich schon durch die Fenster, und Lois war beinahe eingeschlafen, als sie plötzlich einen schwachen Laut vernahm und sofort aus ihrem Kissen wieder in die Höhe fuhr.

 

Klick! Klick!

 

Es war ein Geräusch, als ob jemand das Licht im Salon andrehte. Sie wartete gespannt, ob sie wieder etwas hören würde. Zuerst kam ein unbestimmtes Flüstern, und dann tönten die klaren Worte an ihr Ohr: »Lois Reddle schwebt in großer Gefahr!«

 

Sie kannte die Stimme und konnte sich auch den Sprecher gut vorstellen. Es war Michael Dorn!

 

Kapitel 15

 

15

 

Sie hatte ihren Schreck bald überwunden und sprang aus dem Bett. Besser der Gefahr offen ins Auge sehen, als in Ungewißheit schweben. Alle Furcht war von ihr gewichen – sie wollte Dorn gegenübertreten und von ihm die Wahrheit erfahren. Schnell hatte sie sich angezogen, lief zur Tür, drehte den Schlüssel geräuschlos um und eilte die dunkle Treppe hinab.

 

Als sie auf dem Treppenabsatz stand, lag ihr die Tür des Salons gegenüber. Sie zögerte nicht und öffnete. Das Zimmer lag im Dunkeln. Sie faßte nach dem Schalter und drehte das Licht an. Aber der Raum war leer, nichts rührte sich, nur das musikalische Ticken der französischen Uhr auf dem Kamin unterbrach die Stille. Von Michael Dorn oder seinem unbekannten Begleiter konnte sie keine Spur entdecken. Sie starrte erschrocken um sich, dann hörte sie plötzlich ein Geräusch hinter sich und fuhr herum.

 

»Was gibt es hier?«

 

Es war die Stimme der Gräfin, die in demselben Stockwerk wie Lois schlief.

 

»Drehen Sie doch das Licht an der Treppe an«, sagte sie ruhig.

 

Lois tat es und erblickte die Gräfin oben an der Treppe, die in einen weiten Hermelinmantel eingehüllt war. Sie schien nicht im mindesten erstaunt zu sein.

 

»Ich glaubte, unten Stimmen zu hören und ging herunter.«

 

»Aber es ist niemand hier – Sie müssen sich geirrt haben. Ich fürchte, Sie sind nervös geworden. Ich wachte auf, als Sie Ihre Tür aufmachten. Was für ein Geräusch haben Sie denn gehört? Fenster und Fensterläden sind doch fest verschlossen, und alle Tische und Stühle stehen genauso da wie vorher.«

 

»Ich hörte jemand sprechen«, sagte Lois.

 

»Es ist besser, daß Sie jetzt zu Bett gehen, mein Kind.«

 

Sie klopfte Lois mit ihrer großen Hand beruhigend auf die Schulter, und das Mädchen folgte ihr, ging die Treppe wieder hinauf und verschwand in ihrem Zimmer.

 

+++

 

Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück herunterging, fühlte sie sich sehr elend. Lizzy war durch ihre Freundin gewarnt und erwähnte bei Tisch nichts von ihrem nächtlichen Erlebnis. Lois geleitete sie zur Haustür und kam in den Speisesaal zurück. Ein Diener räumte eben unter Braimes Aufsicht den Tisch ab.

 

»Die Gräfin sagte mir, daß Sie in der Nacht jemand sprechen hörten«, erklärte der Butler, als der Diener das Zimmer verlassen hatte.

 

»Ja – es ist aber auch möglich, daß ich geträumt habe oder mir nur einbildete, die Stimme der Gräfin im Salon gehört zu haben.«

 

»Lady Moron war vorige Nacht nicht im Salon«, antwortete er zu ihrer größten Überraschung.

 

Sie starrte ihn groß an.

 

»Die Gräfin ging zur Bibliothek, also können Sie es von Ihrem Zimmer aus nicht gehört haben.«

 

Die Bibliothek! Also war das Mikrophon dort angebracht. Während sie auf dem Treppenabsatz mit Lady Moron sprach, war Michael Dorn mit seinem Gehilfen in der Bibliothek gewesen, die im Erdgeschoß auf der Rückseite des Hauses lag. Sie war jetzt dankbar, daß sie ihn nicht getroffen hatte, während diese wachsame Frau im Hause umherging.

 

»Ich glaubte, Sie zu hören, als Sie Ihre Türe öffneten«, fuhr Braime fort. »Ich wollte gerade nach unten kommen, als ich bemerkte, daß die Gräfin aufstand. Übrigens wird sie nicht vor ein Uhr herunterkommen. Sie hat zwei Freunde zum Mittagessen eingeladen. Lady Moron wünscht, daß Sie die Briefe riefe allein beantworten, die nicht den Vermerk ›Persönlich‹ tragen.«

 

Lois war mitten in dieser Beschäftigung, als der junge Lord Moron in den Salon kam. Er war sehr nervös und aufgeregt.

 

»Guten Morgen, Miss Reddle«, sagte er und sah sie scharf an. »Nun, fühlen Sie sich wohl?«

 

»Nicht besonders«, lächelte Lois.

 

»Das ist ein merkwürdiges Haus«, murmelte er dann. »Man hört alle möglichen Geräusche – in all diesen alten Häusern spukt es ein bißchen. Sind Sie nicht gestört worden – hat niemand laut auf der Straße gesprochen?«

 

»Nein, ich bin nicht gestört worden«, sagte sie, und er atmete erleichtert auf.

 

»Da bin ich sehr froh – Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich in Ihr Zimmer gehe und alles mitnehme, was ich noch brauche? Aber bitte erwähnen Sie es der Gräfin gegenüber nicht, sonst denkt sie wieder, ich sei ein vergeßlicher Mensch, und macht mir eine große Szene deswegen!«

 

Lois versprach es, und er eilte aus dem Raum. Als sie nach oben ging, um sich für das Mittagessen umzuziehen, schaute sie zu dem Thronhimmel hinauf und sah, daß der Lautsprecher und die Drähte entfernt waren; sie hatte es auch nicht anders erwartet. Sie hätte sich sogar darüber amüsiert, wenn ihr nicht klar gewesen wäre, daß eine schreckliche Gefahr über ihr schwebte. Sie war sich bewußt, daß die Drohung irgendwie mit der Gräfin und ihrem Freund zusammenhing.

 

»Lois Reddle schwebt in großer Gefahr!« Sie zitterte, als sie sich an diese Worte erinnerte. Zweimal war sie in der letzten Woche mit knapper Not dem Tod entgangen. Die Unglücksfälle hatten sich nicht zufällig ereignet, das stand jetzt fest. Aber wer konnte ihr nur nach dem Leben trachten? Und was hatte die Fotografie des jungen Offiziers mit ihr zu tun?

 

In einem Punkt war sie schon zu einem Entschluß gekommen und hatte das auch Lizzy am Morgen mitgeteilt, während sie sich ankleideten. Sie wollte dieses Haus verlassen und lieber eine Weile ohne Stellung sein.

 

Lady Moron erschien kurz vor dem Mittagessen im Salon, sah die Briefe durch und gab ihre Unterschrift, wo es notwendig war.

 

Dann teilte ihr Lois ihre Absicht mit. Zu ihrer Überraschung war die große Frau nicht im mindesten erstaunt oder empört darüber.

 

»Als ich Sie heute morgen sah, fürchtete ich schon, daß das kommen würde. Und ich kann es Ihnen auch nicht übelnehmen, Miss Reddle. Sie haben hier Schreckliches erlebt, obgleich ich annehme, daß die Störung, die Sie letzte Nacht hatten, nur in Ihrer Einbildung bestand.«

 

Lois sagte nichts.

 

»Wann wollen Sie gehen? Ich nehme an, so bald wie möglich? Nun gut, ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich fühle, daß ich zum Teil dafür verantwortlich bin. Ich werde Ihnen ein Monatsgehalt auszahlen, und Sie können mich morgen verlassen.«

 

+++

 

Die beiden Gäste waren Chesney Praye und ein anderer Mann, den Lois noch nicht gesehen, von dem sie aber durch den jungen Grafen schon viel gehört hatte. Nach diesem Zusammentreffen fühlte sie den dringenden Wunsch, ihn nicht mehr treffen zu müssen. Er war ein Mann von fünfzig Jahren, hatte einen kahlen Kopf, ein rotes, aufgedunsenes Gesicht, eine blaurote, unförmige Nase und einen immer offenen Mund. Wenn sie ihm auf der Straße und nicht in dieser vornehmen Umgebung begegnet wäre, hätte sie ihn für einen typischen Trinker gehalten. Diese Bezeichnung war auch in jeder Weise gerechtfertigt. Sein Anzug war alt und an den Nähten aufgeschlissen, und die Fingernägel hatte er nur oberflächlich gereinigt.

 

»Ich möchte Ihnen Dr. Tappatt vorstellen!«

 

Das war also der berühmte Doktor! Er machte aber wenig Eindruck auf sie.

 

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, mein liebes Fräulein, ich freue mich wirklich sehr«, sagte er mit erheuchelter Herzlichkeit. Ein schwacher Duft von Whisky und Knoblauch strömte von ihm aus, wenn er sprach. »Sie sind doch die junge Dame, von der Mylady gesprochen hat? Sie hören Stimmen – das ist ein schlechtes Zeichen.« Er lachte. »Wirklich ein sehr schlechtes Zeichen, mein liebes Fräulein. Da haben wir’s ja schon, nicht wahr, Chesney?«

 

Lois sah, wie der Butler das Glas dieses merkwürdigen Menschen mit Wein füllte, und als sie wieder hinsah, war es leer. Offenbar war Braime, wenn er nicht bereits diese Eigenheiten des Gastes kannte, sorgsam darauf eingedrillt, denn er versorgte ihn, ohne zu fragen.

 

Der junge Lord Moron erschien auch bei Tisch, aber er war in gedrückter Stimmung und schwieg. Sein Gesicht hatte er so wenig wie möglich verbunden.

 

»Wie, Sie hatten einen Unfall? Waren Sie bei einer Eisenbahnkatastrophe dabei?« fragte der Doktor. »Eure Lordschaft sollten sich etwas mehr in acht nehmen!«

 

»Ich war bei keinem Eisenbahnunglück!« sagte Selwyn trotzig. Offenbar kannte er den Doktor gut. Lois hatte das Gefühl, daß er sich vor ihm fürchte. Sie sah ihn ein paarmal verstohlen zu dem unsauberen Mann hinüberblicken.

 

»Da ist ja noch jemand, der Stimmen hört, nicht wahr? Sind Eure Lordschaft nicht von einem Hund verfolgt worden, einem kleinen, netten, schwarzen Hund, der mit dem Schwanz wedelte?«

 

»Nein«, sagte Lord Moron entschieden. Er wurde erst rot, dann weiß. »So etwas habe ich niemals gesagt. Ich bin vollkommen sicher – ich weiß genau, was ich tue. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, Dr. Tappatt!«

 

Für Lois Reddle war es eine in jeder Beziehung sehr unangenehme Mahlzeit. Der düstere Widerwille des jungen Moron, die ruhige Gleichgültigkeit seiner Mutter, die rohen Späße Chesney Prayes und die Gegenwart des Arztes, der, wenn er nicht trank, sich mit seinen wunderbaren Kuren rühmte, die er in Indien ausgeführt hatte – dies alles erweckte in ihr den Eindruck des Gespenstischen und Unwirklichen. Dr. Tappatt sprach sie nur noch einmal an.

 

»Ich habe gehört, Sie hätten versucht, sich vom Balkon herunterzustürzen. Mein liebes Fräulein, das ist schlimm – das –.« Unsicher wandte er ihr sein tierisches Gesicht zu und sah sie mit blutunterlaufenen Augen böse an.

 

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Lady Moron. »Der Balkon stürzte unter Miss Reddle ein – es hat doch niemand gesagt, daß sie selbst den Versuch machte, sich auf die Straße zu stürzen.«

 

»Das war doch auch nur ein Witz«, lachte der Doktor. Er ließ sich durch die Gräfin nicht im mindesten einschüchtern und schob dem aufmerksamen Braime wieder sein Glas hin. »Das ist ein guter Wein, Mylady, ein feiner, voller, kräftiger Wein mit einem großen Bouquet. Vermutlich Romani-Conti?«

 

»Clos de Vougeot«, verbesserte ihn Lady Moron.

 

»Der Unterschied zwischen den Weinen von Vougeot und Vosne ist nur gering«, sagte der Weinkenner. »Für gewöhnlich ziehe ich Conti vor, aber Mylady haben mich bekehrt.«

 

Das Essen dauerte ziemlich lange, und Lois wünschte sehnlichst, daß es vorüber wäre. Endlich erhob sich die Gräfin und trat zu ihrem Sohn.

 

»Wenn du heute abend zum Essen kommst, dann sei so gut und nimm den letzten Rest dieses lächerlichen Pflasters vom Gesicht. Ich möchte, daß du wie ein Gentleman aussiehst und nicht wie ein Preisboxer.« Sie überlegte sich jedes Wort. »Sonst bin ich vielleicht gezwungen, Dr. Tappatt um Rat zu fragen.«

 

Lord Moron zuckte bei den letzten Worten zusammen und murmelte eine Entgegnung, die Lois aber nicht verstehen konnte. Sie war froh, als die Gräfin sie aufforderte, in der Bibliothek zu arbeiten. Sie hatte vorher nur einen kurzen Blick in diesen Raum werfen können und war begierig, das Zimmer näher kennenzulernen, in dem die Gräfin so viele Stunden mit ihren Legespielen zubrachte. Aber vor allem wollte sie das versteckte Mikrophon entdecken, das Lord Moron dort angebracht hatte.

 

Es war ein schöner Raum, nicht allzu hoch, aber langgestreckt. Er reichte von der Wand des Empfangszimmers vorn im Haus bis zu einem kleinen Abstellraum, der den häßlichen Hof auf der Rückseite des Gebäudes verdeckte. Alle Wände waren mit Bücherschränken verstellt, außerdem befand sich noch ungefähr ein Dutzend Aktenschränkchen hier, in denen die Gräfin alle Andenken aufhob, die sie im Laufe ihres langen Lebens gesammelt hatte: Theaterprogramme, Zeitungsausschnitte und Briefe. Die meisten Menschen hätten keinen Wert darauf gelegt, solche Papiere aufzuheben, aber Lady Moron war eine methodische Frau und scheute davor zurück, irgend etwas zu vernichten. Das erzählte sie auch Lois, als sie ihr den Raum zeigte.

 

Als Lois wieder allein war, untersuchte sie die ganze Bibliothek sorgfältig, ohne jedoch das verborgene Mikrophon oder die Drahtleitung zu entdecken. Sie fand, daß eine Abteilung eines Bücherschranks durch eine mit feinem Drahtgewebe überzogene Sicherheitstür verschlossen war. Sie konnte aber deutlich die Titel der Bücher sehen und war überrascht über diese Vorsichtsmaßregeln, die die Lektüre dieser Bücher verhindern sollten. Die Bücher waren von der unschuldigsten Art, und sie nahm an, daß es vielleicht früher anders gewesen war.

 

Als sie ihre Arbeit beendet hatte, ging sie an den Schränken entlang, betrachtete die Bücher, nahm eins nach dem anderen heraus und durchblätterte es, um sich zu unterrichten.

 

Plötzlich kam Braime herein, und sie sah sofort, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen war. Sein Gesicht zuckte. Offenbar war er furchtbar erregt, aber es gelang ihm, sich zu fassen.

 

»Würden Sie bitte in den Speisesaal gehen, Fräulein? Dort ist ein Herr, der Sie sprechen möchte.«

 

»Ein Herr? Wer ist es denn?«

 

»Ich kenne seinen Namen nicht. Aber wenn er noch nicht dort sein sollte, so warten Sie bitte auf ihn.«

 

»Aber wer ist es denn, Braime? Hat er Ihnen seinen Namen nicht genannt?«

 

»Nein, gnädiges Fräulein.« Seine Hände zitterten, und in seinen Augen lag ein ganz fremder Ausdruck.

 

»Im Speisesaal?« fragte sie noch einmal, als sie hinausging.

 

»Jawohl, Fräulein.«

 

Sie schaute sich noch einmal um und war erstaunt, daß er ihr nicht folgte. Der Speisesaal war leer, sie fand dort nur ihre Zofe. Das Mädchen staubte ab und wunderte sich, daß Lois hereinkam.

 

»Braime sagte, daß mich ein Herr sprechen wolle.«

 

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nichts von einem Herrn, Fräulein. Aber ich weiß etwas anderes«, sagte sie böse. »Braime ist kein anständiger Mensch. Ich habe ihn gerade dabei ertappt, wie er aus dem Schlafzimmer der Gräfin kam, und ich will es ihr nachher sagen. Er ist ein hinterlistiger Schnüffler –«

 

»Bitte, sehen Sie nach, wer mich sprechen möchte. Vielleicht wartet der Herr in der Halle.«

 

Die Zofe ging hinaus und kam bald wieder zurück.

 

»Es ist niemand da, Fräulein. Der Diener sagte, daß kein Besuch gekommen ist, seit Dr. Tappatt fortging. Mr. Praye ist mit der Gräfin im Salon.«

 

Was sollte das bedeuten? Lois runzelte die Stirn. Braime hatte sie nur aus dem Raum entfernen wollen! Sie eilte zur Bibliothek zurück und öffnete die geschlossene Tür.

 

»Braime –«, begann sie und hielt plötzlich entsetzt ein.

 

Der Butler lag still und bewegungslos in der Mitte des Fußbodens auf dem Rücken. Sein kreidebleiches Gesicht war verzerrt und seine Lippen verkrampft.

 

Kapitel 16

 

16

 

Zuerst wollte sie fortrennen, aber dann siegte das Mitleid in ihr. Sie kniete an Braimes Seite nieder und löste seinen Kragen. War er tot? Sie bemerkte kein Lebenszeichen an ihm, er atmete nicht. Seine Hände waren erhoben, als ob er einen unsichtbaren Feind fassen wollte, aber sie waren steif und bewegungslos.

 

Lois lief zur Tür hinaus und rief das Mädchen.

 

»Telefonieren Sie sofort nach einem Arzt! Braime ist schwer krank«, sagte sie atemlos und eilte die Treppe hinauf.

 

Lady Moron war mitten in der Unterhaltung mit ihrem Besuch begriffen, aber als sie das Mädchen sah, kam sie eilig durch das Zimmer.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie mit leiser Stimme.

 

»Braime«, sagte Lois atemlos. »Ich fürchte, er ist tot.«

 

Die Gräfin folgte ihr schnell die Treppe hinunter. Einen Augenblick stand sie in der Tür und sah den Butler ausgestreckt daliegen.

 

»Das ist kein Anblick für Sie«, sagte sie dann liebenswürdig, schob das Mädchen auf den Gang zurück und schloß die Tür.

 

Gleich darauf kam sie wieder heraus.

 

»Ich glaube auch, daß er tot ist. Erzählen Sie mir doch, was sich zutrug. Aber besser läuten Sie erst Dr. Tappatt im Limbo-Klub an.«

 

Lois sagte, daß sie schon Auftrag gegeben habe; einen Arzt zu rufen. Die Zofe hatte das Virgina-Krankenhaus angeläutet, das nur hundert Meter vom Chester Square entfernt lag, und als sie sich noch im Gang unterhielten, fuhr schon ein Krankenauto vor. Der Diener eilte hinaus und öffnete. Ein junger Arzt untersuchte kurz die ausgestreckte Gestalt und war anscheinend sehr verwundert.

 

»Hat dieser Mann schon öfter Anfälle gehabt?« fragte er.

 

»Ich habe nichts davon bemerkt. Solange er in meinen Diensten stand, war er vollständig gesund.«

 

Lois war wieder in die Bibliothek mitgekommen und schaute ängstlich auf die reglose Gestalt.

 

»Ich kann keine Wunde an ihm entdecken«, sagte der Arzt. »Ich werde die Krankenwärter rufen, daß sie ihn ins Krankenhaus bringen.«

 

Er ging zur Eingangshalle zurück und gab den Leuten ein Zeichen. Eine Tragbahre wurde aus dem Krankenwagen gehoben und in die Bibliothek gebracht. Als sie Braime gerade aufheben wollten, hörte man plötzlich eilige Schritte in der Eingangshalle. Ein Mann bahnte sich rasch einen Weg in die Bibliothek. Er war erhitzt und ohne Hut, stand schwer atmend im Türeingang und schaute von einem zum anderen, bis sein Blick auf Lois fiel.

 

»Gott sei Dank«, sagte er leise.

 

Dann war er mit zwei großen Schritten an der Seite Braimes, der noch immer steif auf dem Boden lag.

 

»Sind Sie Arzt?« begann Lady Moron.

 

»Mein Name ist Michael Dorn – vielleicht haben Mylady meinen Namen noch nicht gehört«, sagte er schroff. Seine scharfen Augen suchten den Raum ab. Er ergriff eine chinesische Porzellanvase, in der Rosen standen, riß den Blumenstrauß heraus, warf ihn auf den Boden und schüttete das Wasser in das Gesicht des Butlers. Dann kniete er an seiner Seite nieder, zog die steifen Arme des Mannes hoch und drückte sie wieder gegen den Körper. Lois beobachtete ihn bestürzt. Er wandte die Wiederbelebungsmethoden an, mit denen man Ertrunkene ins Leben zurückzurufen sucht.

 

»Sind Sie Arzt?« fragte der junge Mediziner ein wenig gereizt.

 

»Nein«, sagte Michael, ohne sich stören zu lassen.

 

»Darf ich Sie dann fragen, warum Sie so mit diesem Mann umgehen?«

 

»Ich rette ihm das Leben«, erwiderte er kurz.

 

Lady Moron drehte sich in diesem Augenblick um. Sie hatte die Stimme ihres Sohnes in der Eingangshalle gehört und eilte aus dem Raum, um ihn draußen aufzuhalten.

 

»Was willst du, Selwyn?« fragte sie kalt.

 

»Es ist etwas in der Bibliothek geschehen; sie sagten, der alte Braime hätte einen Anfall bekommen oder so etwas – ich dachte, ich könnte helfen.«

 

»Geh bitte in dein Arbeitszimmer zurück, ich wünsche nicht, daß du dich über solche Sachen aufregst.«

 

»Verdammt noch einmal«, begann der Graf. Aber ein Blick seiner Mutter brachte ihn zum Schweigen, und er entfernte sich wieder.

 

Die Gräfin wartete, bis er außer Sicht war, und ging dann zu der kleinen Gruppe zurück, die Michael Dorn und seine anscheinend nutzlosen Bemühungen beobachtete. Nach einigen Minuten sagte der Arzt: »Dieser Mann muß ins Krankenhaus gebracht werden – Mr. Dorn.«

 

Lady Morons Besuch war nun auch herbeigekommen. Chesney Praye hatte gesehen, daß der Detektiv im Haus war, aber in Gegenwart der Gräfin hatte er Mut.

 

»Sie werden den Mann wahrscheinlich töten, Dorn. Lassen Sie ihn doch ins Krankenhaus bringen, wo man sich seiner richtig annehmen kann.«

 

Michael antwortete nicht. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Er hielt einen Augenblick inne, zog eilig sein Jackett aus und nahm die Arbeit wieder auf.

 

»Ich will nur hoffen, daß Sie ein besserer Arzt als Detektiv sind«, sagte Chesney ärgerlich.

 

»Im Augenblick bin ich ein ebenso guter Arzt wie Sie ein Gauner«, sagte Dorn, ohne sich nach ihm umzudrehen. »Und auf jeden Fall bin ich ein besserer Detektiv, als Sie ein Verbrecher sind. Er kommt wieder zu sich.«

 

Zu Lois‘ größtem Erstaunen bewegten sich Braimes Augenlider. Sie sah, wie sich seine Brust hob und senkte, ohne daß Dorn half.

 

»Ich hoffe, daß er sich wieder erholt«, sagte Dorn, stand auf und wischte sich die Stirn.

 

»Sind Sie Detektiv?« fragte der junge Arzt.

 

»So etwas Ähnliches«, sagte Michael lächelnd. »Es ist gut, wenn Sie ihn jetzt so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen vorgegriffen habe, aber ich habe früher schon einmal einen solchen Fall erlebt.«

 

»Was ist es denn?« fragte der erstaunte Arzt, als der Butler auf die Bahre gehoben und aus der Bibliothek getragen wurde. »Ich dachte, er hätte einen Schlag bekommen.«

 

»Ja, es war ein Schlag, aber ein sehr böser«, entgegnete Michael grimmig.

 

Er folgte den Krankenträgern nicht, sondern zog sein Jackett an, ging in dem Raum umher und schaute sich überall um. Er betrachtete die Decke, den Fußboden und ließ seine Blicke über den Bibliothekstisch schweifen.

 

»Er fiel etwa zwei Meter vom Tisch entfernt hin«, sagte er. Dabei zeigte er auf einen Wasserflecken im Teppich. »Soll ich Ihnen einmal sagen, wo seine Füße lagen? Man hatte ihn nämlich schon von dort weggeholt, als ich kam.«

 

»Lady Moron wird es vorziehen, die Sache mit der Polizei zu besprechen, wenn die Beamten kommen«, sagte Chesney Praye gehässig. »Sie haben kein Recht, sich hier aufzuhalten – das wissen Sie doch, Dorn?«

 

»Will mir nicht jemand sagen, wo seine Füße lagen?«

 

Lois zeigte es ihm.

 

»Er lag quer im Raum.«

 

»Ja, das stimmt.« Dorn strich sich verwundert über das Kinn. »Sie waren doch nicht hier, als es passierte, Miss Reddle?«

 

»Ich verbiete Ihnen, irgendwelche Fragen zu beantworten«, sagte die Gräfin zu ihrer Sekretärin. »Ich stimme Mr. Praye vollständig bei, daß diese Angelegenheit Außenstehende nichts angeht. Meinen Sie, daß man einen Angriff auf den Mann machte?«

 

»Ich habe nichts Derartiges gesagt«, entgegnete Dorn, und seine Blicke suchten wieder Lois‘ Augen. »Sie haben ja eine Menge Unglücksfälle hier erlebt, Miss Reddle?« fragte er höflich. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich in die Charlotte Street zurückgehen, dort wohnen Sie sicherer. Als ich sah, wie der Krankenwagen vor der Tür hielt, hätte ich beinahe einen Herzschlag bekommen, denn ich dachte, Sie wären das Opfer.«

 

Die Gräfin ging zur Tür und öffnete sie etwas weiter.

 

»Wollen Sie jetzt bitte gehen, Mr. Dorn – Ihre Gegenwart ist nicht erwünscht, und Ihre Andeutung, daß eine Person in meinem Haus sich in der geringsten Gefahr befindet, beleidigt mich –« Sie schaute Mr. Praye an. »Und auch meinen Freund.«

 

»Dann wäre es besser, wenn Mylady sich einen anderen Freund aussuchten«, sagte Dorn in guter Laune. »Und damit Sie nicht denken, daß ich den feinfühligen Mr. Chesney Praye durch meine Vermutungen verletze, will ich Ihr Gemüt erleichtern. Es gibt nämlich zwei Dinge, die Chesney übelnimmt – erstens möchte er nicht gern Geld verlieren, und zweitens möchte er nicht daran gehindert werden, sich Geld anzueignen, das ihm nicht gehört. Kann ich Sie einmal allein sprechen, Miss Reddle?«

 

»Ich verbiete –«, begann die Gräfin.

 

»Kann ich Sie sprechen?«

 

Lois zögerte, nickte dann und ging vor ihm aus dem Raum. In der Halle sagte er ihr seine Ansicht.

 

»Ich erwartete nicht, daß die Unglücksfälle so dicht aufeinanderfolgen würden, seitdem Sie in dieses Haus gekommen sind«, sagte er. »Ich habe nur meine Einwilligung gegeben, daß Sie hierherkamen, weil ich dachte, daß –«

 

»Sie haben Ihre Einwilligung gegeben?« Sie machte große Augen und wurde plötzlich rot vor Ärger. »Bilden Sie sich etwa ein, Mr. Dorn, daß ich Ihre Zustimmung brauche?«

 

»Es tut mir leid«, sagte er bescheiden. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Aber meine Nerven sind etwas in Unordnung geraten. Aber nachdem Sie diese vergiftete Schokolade zugesandt erhielten, mußte ich Ihnen sagen –«

 

»Sie wurde blaß.

 

»Vergiftet?« flüsterte sie.

 

Er nickte.

 

»Ja – sie war mit Blausäure vergiftet. Ich bin nur deshalb nachts in ihr Zimmer gekommen, um sie wegzunehmen. Als ich vor ein paar Minuten hier ankam, war ich starr vor Schrecken, denn ich erwartete, Sie tot aufzufinden.«

 

»Warum interessieren Sie sich für mich?« fragte sie.

 

Er wich ihrer frage aus.

 

»Wollen Sie nicht dieses Haus sofort verlassen und in die Charlotte Street zurückkehren?«

 

»Ich kann nicht vor morgen weggehen – ich habe Lady Moron versprochen, daß ich bei ihr bleiben werde, und ich bin sicher, Mr. Dorn, daß Sie sich irren. Wer hätte mir denn vergiftete Schokolade schicken sollen?«

 

»Wer hätte versuchen sollen, Sie mit einem Auto zu überfahren?« fragte er dagegen. »Sehen Sie dies –« Er nahm einen kleinen Stoffstreifen aus seiner Westentasche. »Erkennen Sie das wieder?«

 

Sie war sehr erstaunt.

 

»Das wurde aus meinem Kleid gerissen, als das Auto –«

 

»Ja, ich fand es noch an dem Wagen hängen. Die Leute, die ihn einstellten, waren in solcher Eile, daß sie nicht einmal den Versuch machten, ihren Wagen zu betrachten oder ihn zu reinigen.«

 

»Aber wer – wer ist denn mein Feind?« fragte sie leise.

 

»Eines Tages werde ich Ihnen seinen Namen nennen – ich fürchte, ich habe Ihnen schon zuviel erzählt und habe mich selbst schon etwas verdächtig gemacht. Ich kann nur hoffen, daß Sie sich in acht nehmen, wenn Sie wissen, daß ich auf dem Posten bin. Am besten verlassen Sie dieses Haus sofort, spätestens heute abend.«

 

»Nein, das ist unmöglich.«

 

Er nickte.

 

»Nun gut.« Er schaute sich um und betrachtete Lady Moron, die in der Tür der Bibliothek stand und sich lebhaft mit Chesney Praye unterhielt. Plötzlich sah er, wie der Mann mit dem roten Gesicht ihn anschaute. »Ich wünsche Sie zu sprechen, Praye.«

 

Dorn ging aus dem Haus und wartete auf dem Gehsteig auf ihn.

 

»Sehen Sie einmal –«, begann der andere mit lauter Stimme.

 

»Wollen Sie wohl leiser sprechen – ich bin nicht taub. Es ist jetzt überhaupt nicht an Ihnen, zu reden. Haben Sie mich verstanden? Heute morgen war ich im Indian Office und habe den Staatssekretär gesprochen. Es wird keine Schwierigkeiten machen, wegen der Delhi-Affäre einen Haftbefehl gegen Sie auszufertigen, wenn ich den Antrag stelle. Also merken sie sich erstens diese Tatsache. Zweitens: Wenn Lois Reddle nur das geringste Leid geschieht und ich entdecke, daß Sie Ihre Hand im Spiel gehabt haben, dann verfolge ich Sie, und sollte es durch neun Höllen sein – und ich kriege Sie! Überlegen Sie sich das!«

 

Er nickte kurz, drehte sich um und ging fort. Chesney Praye blieb sprachlos vor Wut und Furcht stehen.

 

Kapitel 1

 

1

 

Lois Margeritta Reddle saß auf der Kante ihres Bettes und hielt in der einen Hand eine große Tasse, in der anderen einen Brief. Die dicke Brotschnitte war zu dünn gestrichen, der Tee zu schwach aufgegossen und zu stark gezuckert, aber die Lektüre nahm Lois so in Anspruch, daß ihr diese kleinen Nachlässigkeiten ihrer Freundin Lizzy Smith nicht zum Bewußtsein kamen.

 

Eine goldene Krone schmückte den Briefbogen, und das starke, griffige Papier strömte einen leichten Duft aus.

 

 

307 Chester Square, London S.W. Die Gräfin von Moron hat mit Vergnügen die Nachricht erhalten, daß Miss Reddle ihre Stellung als Privatsekretärin am Montag, dem 17., antritt. Miss Reddle kann versichert sein, daß sie einen angenehmen Posten und viel freie Zeit zur Verfügung haben wird.

 

 

Die Tür wurde aufgestoßen, und Lizzys strahlend rotes Gesicht erschien im Rahmen.

 

»Das Bad ist fertig«, sagte sie kurz. »Aber nimm vorsichtshalber deine eigene Seife mit – durch die dünne Scheibe, die noch da ist, kannst du durchgucken. Hier hast du ein frisches Handtuch, und hier ist ein halbnasses. Was steht in dem Brief?«

 

»Er ist von meiner Gräfin – ich fange am Montag bei ihr an.«

 

Lizzy zog ein schiefes Gesicht.

 

»Du schläfst natürlich auch dort? Das heißt also, daß ich mir wieder jemand suchen muß, der hier bei mir wohnt. Die letzte, mit der ich vor dir zusammenhauste, schnarchte. Aber das gute Zeugnis kann ich dir wenigstens ausstellen, Lois, du hast nicht geschnarcht.«

 

Lois‘ Augen blitzten schalkhaft auf, und um ihren ausdrucksvollen Mund spielte ein Lächeln.

 

»Du kannst dich jedenfalls nicht beklagen, daß ich dich nicht ordentlich versorgt hätte«, sagte Lizzy selbstzufrieden. »Du siehst doch ein, wie gut ich unseren Haushalt geführt habe, besser als alle anderen, mit denen du früher einmal zusammenwohntest. Ich habe dir alle Haushaltssorgen abgenommen, alles besorgt, eingekauft, gekocht und geputzt – das gibst du doch zu?«

 

Lois legte ihren Arm um die Freundin und küßte ihr einfaches, gutmütiges Gesicht.

 

Ja – wir haben uns gut vertragen, und es tut mir sehr leid, daß ich fortgehen muß. Aber ich habe immer versucht vorwärtszukommen. Von der Schulbank in Leeds kam ich an das kleine Kassenpult bei Rooper und von dort zu einer Drogerie, dann zu der großen Rechtsanwaltsfirma –«

 

»Groß?« unterbrach Lizzy sie ärgerlich. »Du willst den alten Shaddles doch nicht etwa groß nennen? Das Biest hat mir zu Weihnachten nicht einmal das Gehalt um zehn Shilling erhöht, und ich habe doch jetzt fünf Jahre lang die Schreibmaschine bei ihm geklopft! – Aber, mein Liebling, du wirst nun eine gute Partie machen, du wirst jemand aus der Gesellschaft heiraten. Die Gräfin ist sicher ein weiblicher Drache, aber sie ist reich, und du triffst vornehme Leute bei ihr. – Jetzt mußt du aber gehen und dein Bad nehmen; ich mache inzwischen die Setzeier. Werden wir Regen bekommen?«

 

Lois rieb ihre weißen, wohlgerundeten Arme und fuhr leise mit der Hand über eine kleine, schwach rot schimmernde, sternförmige Narbe kurz über ihrem Ellenbogen. Lizzy glaubte fest daran, daß es Regen gebe, wenn Lois‘ Narbe sich dunkler färbte.

 

»Das Ding mußt du dir elektrisch wegmachen lassen«, sagte das frische, derbe Mädchen, aber Lois schüttelte leicht den Kopf. »Du kannst auch lange Ärmel tragen, sie sind in dieser Saison modern.«

 

Lois hörte während des Bades ihre Freundin in der kleinen Küche herumwirtschaften. Während die Setzeier in der Pfanne brutzelten, pfiff Lizzy die Melodie des letzten Tanzschlagers.

 

Die beiden hatten zusammen das Obergeschoß eines Hauses in der Charlotte Street gemietet, seitdem Lois nach London gekommen war. Sie war eine Waise, ihr Vater starb, als sie noch klein war, und sie konnte sich auch nur dunkel auf die freundliche, mütterliche Frau besinnen, die sie während ihrer ersten Schulzeit betreut hatte. Später wurde sie von einer weitläufig verwandten Tante erzogen, die sich aber nur um ihre vielen eingebildeten Leiden kümmerte. Sie starb bald, trotz ihrer vielen Medizinflaschen oder vielleicht gerade deshalb, und Lois kam dann zu fremden Leuten.

 

»Der Gräfin wird deine vornehme Ausdrucksweise gefallen«, sagte Lizzy, als das hübsche Mädchen in die Küche kam.

 

»Ich wußte nicht, daß ich vornehm spreche«, erwiderte Lois in guter Laune.

 

Lizzy schwenkte mit einer geschickten Bewegung die Eier aus der Bratpfanne auf den Teller.

 

»Sicher hat auch ihn das sofort für dich eingenommen«, meinte sie bedeutungsvoll.

 

Lois errötete.

 

»Wenn du doch nicht immer von diesem schrecklichen Menschen sprechen wolltest, als ob er ein junger Gott wäre!« erwiderte sie kurz.

 

Lizzy Smith ließ sich aber nicht im mindesten aus der Fassung bringen. Sie wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab, stellte die Bratpfanne an ihren Platz zurück und setzte sich energisch an den Tisch.

 

»Hör mal, das ist kein gewöhnlicher Mensch! Er gehört nicht zu diesen Gecken, die einen auf der Straße ansprechen«, sagte Lizzy, in Erinnerung versunken. »Ich bitte dich, der ist doch Klasse. Als er mir dankte, hat er mich wie eine Lady behandelt, und während der ganzen Unterhaltung ist kein Wort gefallen, das nicht auf der ersten Seite einer frommen Sonntagszeitung hätte stehen können. Als ich aber kam und dich nicht mitbrachte, war er furchtbar enttäuscht, und es war wirklich kein Kompliment für mich, daß er ganz verlegen dreinschaute und sagte: ›Ach, ist sie nicht mitgekommen?‹«

 

»Die Setzeier sind angebrannt«, sagte Lois.

 

»Er ist wirklich ein feiner Kerl«, fuhr Lizzy fort, »ein Gentleman! Er fährt seinen eigenen Wagen. Er spaziert in der Bedford Row auf und ab, nur um dich einmal kurz von weitem sehen zu können. Solche Anhänglichkeit würde selbst das härteste Herz aus Stein erweichen.«

 

»Meins ist aber aus Bronze«, erwiderte Lois vergnügt. »Du machst dich lächerlich, Elizabeth!«

 

»Du bist die erste, die mich seit meiner Taufe Elizabeth genannt hat. Aber das ändert an der Sache gar nichts, soweit ich daran beteiligt bin. Mr. Dorn –« »Der Tee schmeckt nach ausgelaugtem Holz«, unterbrach sie Lois, und diesmal fühlte Lizzy sich getroffen.

 

Es entstand eine Pause.

 

»Hast du den alten Mackenzie in der vergangenen Nacht gehört?« begann Lizzy dann wieder. »Nein? Er hat dieses süße Stück aus Hoffheims Erzählungen – Hoffmanns Erzählungen wollte ich sagen – gespielt. Komisch, daß ein Schotte Violine spielt. Ich dachte, sie wären alle Dudelsackpfeifer.«

 

»Er spielt wundervoll. Manchmal höre ich seine Musik in meinen Träumen.«

 

Lizzy murrte.

 

»Mitten in der Nacht macht man keine Musik«, sagte sie böse. »Wenn er auch unser Hausherr ist, so haben wir doch das Recht auf Schlaf. Er ist eben verrückt, das ist es.«

 

»Mir gefällt er aber gerade mit seinen Eigenheiten gut, er ist ein netter alter Mann.«

 

Lizzy rümpfte die Nase.

 

»Alles zu seiner Zeit«, sagte sie, stand auf und holte eine dritte Tasse aus dem Küchenschrank. Sie stellte sie geräuschvoll auf den Tisch und goß Tee und reichlich Milch ein.

 

»Heute bist du an der Reihe, ihm den Tee hinunterzutragen. Vielleicht kannst du eine Bemerkung fallen lassen, daß ich am liebsten ›Mondnacht in Italien‹ höre.«

 

Die Mädchen hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, dem alten Mann, der die Etage unter ihnen bewohnte, jeden Morgen eine Tasse Tee zu bringen. Ganz abgesehen von seiner Eigenschaft als Hauswirt, stand der alte Herr mit beiden Mädchen auf gutem Fuß. Die Miete, die sie zahlten, war im Verhältnis zu der zentralen Lage des Hauses und der Beliebtheit dieser Gegend sehr niedrig.

 

Lois trug die Tasse die Treppe hinunter und klopfte an eine der beiden Türen auf dem unteren Treppenabsatz. Schlürfende Schritte näherten sich auf dem harten Fußboden, die Tür öffnete sich, und Mr. Mackenzie verneigte sich mit einem dankbaren Blick über seine Hornbrille hinweg. Er betrachtete wohlgefällig die hübsche Erscheinung des Mädchens.

 

»Tausend Dank, Miss Reddle«, sagte er eifrig, als er ihr die Tasse abnahm. »Wollen Sie nicht ein bißchen hereinkommen? Ich habe meine alte Violine zurückbekommen. Habe ich Sie die letzte Nacht gestört?«

 

»Nein. Leider habe ich Sie nicht gehört«, sagte Lois, als er die Tasse auf die sauber gescheuerte Platte des einfachen Tisches stellte.

 

Das Zimmer war peinlich sauber und nur mit dem Allernotwendigsten möbliert. Aber es paßte so recht zu diesem kleinen alten Herrn mit den bauschigen Hosen, den feuerroten Pantoffeln und der schwarzen Samtjacke. Runzeln und Falten durchzogen sein glattrasiertes Gesicht, aber die hellen blauen Augen, die unter buschigen Brauen saßen, waren voller Leben und Güte.

 

Er nahm die Violine, die auf der Kommode lag, behutsam, fast zärtlich in die Hand.

 

»Musik ist ein hoher Beruf«, sagte er, »wenn man ihr genügend Zeit widmen kann. Aber die Bühne ist etwas Fürchterliches! Gehen Sie niemals zum Theater, mein liebes Fräulein, bleiben Sie hübsch auf der anderen Seite der Rampenlichter. Diese Komödianten sind sonderbare, unaufrichtige Leute.« Er nickte nachdenklich. »Früher saß ich ruhig und geborgen im tiefen Orchester und beobachtete nur, wie ihre kleinen, süßen Füße über die Bühne trippelten … Sie war ein schönes Mädchen, nicht viel älter als Sie, aber sehr hochmütig, wie die Schauspielerinnen eben sind. Wie ich den Mut fand, sie anzusprechen und zu fragen, ob sie mich heiraten wolle, verstehe ich heute selbst nicht mehr.« Er seufzte schwer. »Ach ja, und doch war es für mich Narren ein Paradies, und das Leben mit ihr war schöner als die Einsamkeit, wenn ich auch betrogen und ausgenützt wurde. Zwei Jahre lang –« Er schüttelte den Kopf. »Sie war ein süßes Geschöpf, aber sie war verbrecherisch veranlagt. Manche jungen Mädchen sind leider so. Sie haben kein Gewissen und fühlen keine Reue, und wenn man kein Gewissen und keine Reue kennt, dann gibt es nichts, was man nicht tun könnte – bis zum Mord.«

 

Lois hatte ihn schon öfters über diese sonderbare Frau klagen hören, ohne daß sie aus seinen Äußerungen ein klares Bild gewinnen konnte. Aber heute hatte er zum erstenmal ihre verbrecherische Veranlagung erwähnt.

 

»Frauen sind merkwürdige Geschöpfe, Mr. Mackenzie«, sagte sie scherzend.

 

Er nickte.

 

»Ja, das sind sie«, erwiderte er schlicht. »Aber im allgemeinen sind sie den meisten Männern überlegen. Ich danke Ihnen auch schön für den Tee, Miss Reddle.«

 

Sie stieg die Treppe wieder hinauf. Lizzy zog gerade ihren Mantel an.

 

»Na, hat er dich wieder vor der Bühne gewarnt?« fragte sie, als sie zu dem kleinen Spiegel trat und sich puderte. »Ich möchte wetten, daß er wieder davon anfing. Gestern habe ich zu ihm gesagt, daß ich auch ein schönes Chormädchen werden wollte. Da hätte er beinahe einen Anfall bekommen!«

 

»Du mußt den netten alten Herrn nicht so aufziehen!«

 

»Er müßte doch etwas mehr Verstand haben«, sagte Lizzy verächtlich. »Ich – ein hübsches Chormädchen! Wo hat denn der seine Augen gelassen?«

 

Kapitel 10

 

10

 

Die Gräfin von Moron hatte, wie Lois entdeckte, eine sonderbare Lieblingsbeschäftigung. Sie liebte Zusammensetzspiele, die besonders für sie hergestellt wurden – Bilder in Grau und Blau mit merkwürdigen Schattierungen, die einen gewöhnlichen Spieler zur Verzweiflung gebracht hätten. Sie konnte Stunden vor dem großen Tisch in der Bibliothek damit zubringen. Das erzählte sie beim Essen, und Lois bemerkte zum erstenmal eine menschliche Seite an ihrer Herrin. Die Unterhaltung wurde hauptsächlich von den beiden Frauen bestritten. Lord Moron war zwar auch zugegen, aber er schien kaum dazuzugehören. Wenn er gelegentlich sprach, ignorierte ihn seine Mutter, oder sie antwortete ihm nur kurz. Anscheinend war er an diese Behandlung gewöhnt und lehnte sich nicht dagegen auf. Der einzige Bedienstete, der während des Essens erschien, war Braime, gegen den Lois sofort einen Widerwillen faßte. Er war ein schweigsamer Mann mit wenig einnehmendem Gesicht, und obwohl er sehr höflich war, flößte ihr irgend etwas an seiner großen, mächtigen Gestalt Unbehagen ein.

 

»Sie haben den Butler nicht gern, Miss Reddle?« fragte die Gräfin, als der Mann einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte.

 

Lois war erstaunt über das feine Gefühl der Gräfin.

 

»Ich weiß noch nicht«, antwortete sie lachend, »ob er mir gefällt.«

 

»Man kann sehr zufrieden mit ihm sein«, erwiderte die Gräfin in ihrer majestätischen Art. »Ich liebe große Diener, und daß sein Gesicht nicht gerade anziehend ist, scheint mir ein Vorteil zu sein. Keiner meiner Gäste wird ihn mir zu nehmen versuchen. Man findet es in unseren Kreisen häufig, daß einem die besten Diener von anderen Leuten wegengagiert werden.«

 

Und dann erzählte sie von ihrer Vorliebe für Zusammensetzspiele.

 

»Braime ist sehr hilfreich und ganz geschickt in diesen Dingen – ich habe ihn schon oft zu Hilfe rufen müssen.«

 

»Ist er schon lange bei Ihnen?«

 

»Ungefähr sechs Monate. Er wurde mir von jemand empfohlen, der sich um die Besserung von Verbrechern bemüht«, war die verwunderliche Antwort.

 

Lois sprang beinahe vom Stuhl auf.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß er früher im Gefängnis war?« fragte sie bestürzt.

 

Lady Moron nickte.

 

»Ja, ich glaube, er wurde wegen irgendeiner dummen Sache verurteilt – soweit ich mich entsinne, hatte er Silber gestohlen. Ich habe ihm eine neue Existenzmöglichkeit gegeben – und der Mann ist dankbar.«

 

Als der Butler zurückkam, betrachtete Lois ihn sorgfältiger und kritischer. Trotz seiner mächtigen Gestalt bewegte er sich mit leisen, fast katzenhaften Schritten, und seine plumpen Hände handhabten das zerbrechliche Chinaporzellan mit erstaunlicher Geschicklichkeit.

 

Lois war angenehm überrascht, daß ihr ein eigenes Mädchen zugeteilt war – ein frisches, gesundes Landkind, das aus dem Dorf der Gräfin in Berkshire stammte. Die Earls von Moron waren wohlhabende Landbesitzer, und Moron House nahe Newbury war einer der hervorragendsten Herrensitze der Grafschaft.

 

Das Mädchen besaß die ganze Beredsamkeit ihres Schlages, und Lois war noch nicht lange in ihrem Zimmer, als sie schon erfuhr, daß ihr Mißtrauen gegen den Butler von allen Dienstboten geteilt wurde.

 

»Er steckt überall seine Nase hinein und spioniert herum«, sagte das Mädchen. »Wie eine große Katze schleicht er daher. Sie können ihn nicht hören, bis er hinter Ihnen steht. Wir anderen sind ihm nicht gut genug – immer hält er sich im Vorzimmer zum Speisesaal auf, und wenn ein neues Mädchen seine Stelle angetreten hat, bewacht er es, als ob es eine Maus wäre. Ich weiß nicht, warum die Gräfin so einem häßlichen, übelgelaunten Mann die Verwaltung ihres Haushalts anvertraut.«

 

»Ist er übelgelaunt?« fragte Lois.

 

»Nun ja«, gab das Mädchen zögernd zu, »ich kann es nicht genau sagen. Aber es sieht immer so aus«, sagte sie dann eifrig. »Und man kann einen Menschen immer nach seinem Blick beurteilen. Die Gräfin hat sich aber viel Mühe mit Ihnen gegeben.«

 

»Mit mir?« fragte Lois erstaunt.

 

»Sie hat diese Stühle für Sie hereinstellen lassen und hat selbst Ihr Bett ausgewählt und – hallo, was ist das? Gehört das Ihnen?«

 

Sie hatte eine leere Schublade einer Kommode aufgezogen und hielt jetzt eine große Fotografie in der Hand. Lois nahm sie – es war das Bild eines jungen Mannes, der am Anfang der Zwanzig stehen mochte. Er sah gut aus, und irgend etwas in dem Gesicht kam ihr sonderbar bekannt vor.

 

»Ich weiß nicht, wie das hierherkommt. Ich habe gestern selbst die Schubladen ausgeräumt. Die Gräfin muß es hierhergelegt haben.«

 

Obwohl es nur ein Brustbild war, sah Lois, daß der junge Mann die Uniform eines Hochlandregiments trug, und versuchte die Nummer zu erkennen; als Kind hatte sie sich sehr für militärische Abzeichen interessiert.

 

»Er sieht fesch aus, nicht wahr, Fräulein?«

 

»Sehr vorteilhaft«, sagte Lois. »Ich bin neugierig, wer das ist.«

 

»Es gibt eine Menge Fotografien im Haus, und niemand weiß, wen sie darstellen. Die Gräfin sammelt sie«, sagte das Mädchen.

 

»Ich will sie Lady Moron bringen«, meinte Lois und ging mit dem Bild hinunter. Sie fand die Gräfin vor einem halbvollendeten Legespiel, den Kopf in die Hände gestützt.

 

»Wo war das? In Ihrem Zimmer?«

 

Lady Moron nahm die Fotografie aus ihrer Hand, betrachtete sie gleichgültig und ließ sie in die Tischschublade gleiten.

 

»Es ist ein junger Mann, den ich vor vielen Jahren kannte«, sagte sie und nahm sich nicht die Mühe, Aufklärung darüber zu verlangen, wie die Fotografie in die Kommode gekommen war.

 

Lois ging in ihr Zimmer zurück. Es war ein sonniger Nachmittag, und die Luft war sehr warm. Die großen Fenster waren geöffnet, eines führte zu einem der vielen Steinbalkone, die die Front des Hauses schmückten. Unterhalb der Fensteröffnung war jedoch ein leichtes Holzgitter, das den Zugang zu dem einladenden Platz versperrte.

 

»Es ist uns nicht erlaubt, tagsüber auf die Balkone zu gehen«, sagte das Mädchen. »Die Gräfin ist besonders streng in diesem Punkt.«

 

»Betrifft das auch mich?«

 

»O ja, Fräulein. Die Gräfin selbst geht auch nur abends hinaus. Niemand darf sie tagsüber betreten.«

 

Lois war neugierig, welchen Grund die Gräfin haben mochte, diesen angenehmen Erholungsplatz während des Tages zu verbieten.

 

Die Nachmittagspost brachte eine Anzahl Briefe, die nach der Gewohnheit Lady Morons am selben Tag beantwortet wurden. Lois war bis eine Stunde vor dem Abendessen beschäftigt. Dann machte ihr die Gräfin einen Vorschlag, für den sie sehr dankbar war.

 

»Wenn Sie eine Freundin haben, die Sie gern zum Tee einladen, können Sie das jeden Nachmittag tun, den ich fort bin. Morgen haben Sie einen freien Abend. Ich werde auswärts speisen.«

 

An diesem Abend schrieb Lois noch einen langen Brief an Lizzy Smith und brachte ihn selbst zur Post, bevor sie sich in ihr herrliches Bett legte. Die Antwort kam prompt. Das war charakteristisch für die energische Lizzy, die alles gleich erledigte. Als Lois am nächsten Morgen allein frühstückte, meldete ihr ein Bedienter, daß sie am Telefon verlangt werde. Lizzy rief an.

 

»Bist du es, Liebling? Ich werde natürlich heute abend zu dir kommen. Schickst du den Wagen, oder nehme ich die alte Nr. 14? Zieh dich nicht extra für mich um, ich bin ein einfaches Mädchen.«

 

»Sei nicht albern, Lizzy. Ich bin allein und erwarte dich.«

 

»Was ist es denn für eine Krippe?« fragte Lizzy.

 

»Es ist wirklich sehr schön«, sagte Lois, jedoch ohne Begeisterung. »Ich habe nur nicht genügend zu tun.«

 

»›Nur‹ darfst du nicht sagen, sondern ›und‹«, gab Lizzy zurück. – »Was hast du, Lois? Finde eine Stelle für mich ohne Arbeit – hier ist der alte Rattlebones!« Das letzte sagte sie ganz leise, und Lois wußte, daß Lizzy vom Büro aus telefonierte und der erste Clerk angekommen war. Dann hörte sie, wie drüben eingehängt wurde.

 

+++

 

Lady Moron und ihr Sohn speisten am Abend auswärts und gingen dann ins Theater. Lois war allein, als Lizzy kam.

 

»Es ist sehr geräumig hier«, sagte sie langsam, als sie sich in dem herrlichen Speisezimmer umsah. »Ist der lange, große Kerl dort der Butler? Ich kann nicht sagen, daß mir sein Gesicht gefällt, aber er kann nichts dafür. Wieviele Gänge gibt es denn?« fragte sie nach dem dritten. »Mein Arzt sagte mir, ich würde nicht mehr als sechs vertragen.«

 

Nach dem Essen gingen die Mädchen in Lois‘ Zimmer, und Lizzy setzte sich staunend nieder, um alles zu bewundern.

 

»Ich dachte immer, solche Stellungen gäbe es nur in schönen Romanen. Ich meine solche Bücher, wie man sie als Preise in der Sonntagsschule erhält.«

 

»Es ist zu schön, um wahr zu sein!« lachte Lois.

 

»Hast du ihn nicht gesehen?«

 

»Meinst du Mr. Dorn? Doch, den habe ich heute morgen wieder gesehen. Er ging vor dem Haus auf und ab. Er ist ein Detektiv, Lizzy.«

 

Lizzy schaute erstaunt auf.

 

»Ein richtiger Detektiv?« fragte sie ehrfurchtsvoll. »Ich dachte, er wäre einer von der anderen Sorte – einer, den die Detektive fangen. Was sagte er denn?«

 

»Ich sprach ihn nicht, ich sah ihn nur durch das Fenster, Lizzy, ich bin so verwirrt und bedrückt von allem – und er ist ein so sonderbarer Mann! Was hätte er mir alles sagen können, als ich mit seinem Wagen zusammenstieß!«

 

»Ich weiß nicht, worüber du dich aufregst«, sagte die philosophische Lizzy. »Auch solche Menschen sind verliebt. Es gibt sehr achtbare Leute unter ihnen.« Sie schaute plötzlich auf.

 

»Was hast du?« fragte Lois.

 

»Ich dachte, ich hätte draußen Schritte gehört.«

 

Lois ging zur Tür und stieß sie auf, aber der Gang war leer.

 

»Glaubtest du, es wäre jemand da?«

 

Lizzy schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher, »aber ich habe scharfe Ohren, und sicher habe ich eben auf dem Teppich Schritte gehört.«

 

Lois schloß die Tür wieder und setzte sich auf das Bett.

 

»Lizzy, ich will dir etwas sagen.«

 

Das Interesse von Miss Elizabeth Smith erwachte.

 

»Ach«, sagte sie und holte tief Atem. »Ich wußte, daß du es mir früher oder später gestehen würdest. Ich dachte es mir ja. Er ist einer der nettesten Menschen, denen ich je begegnet –«

 

»Wovon in aller Welt sprichst du denn?« fragte Lois erschrocken. »Denkst du schon wieder an diesen unglückseligen Mr. Dorn?«

 

»An wen sollte ich sonst denken?« fragte Lizzy entrüstet.

 

Lois brach trotz der ernsten Lage, in der sie sich befand, in ein fröhliches Lachen aus.

 

»Liebe Lizzy, es wird mir schwer, es dir jetzt zu sagen«, begann Lois nach einer Weile. »Du kleine Heiratsvermittlerin! Mr. Dorn ist wahrscheinlich verheiratet und hat eine große Familie. Wir wollen nicht mehr über ihn sprechen.« Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke. »Willst du nicht einmal diese große Stadt bei Nacht sehen, mit all ihren Lichtern? Ich will sie dir zeigen.« Sie ging zu den Schiebefenstern und öffnete sie. »Bei Tag ist es verboten, auf den Balkon zu gehen, aber jetzt ist es wundervoll!«

 

Sie trat auf den Balkon hinaus und ging zu dem Geländer, legte ihre Hand darauf und schaute auf die Straße hinunter, die wie ein langes Band vorbeilief. Dann fühlte sie plötzlich, wie sich der Balkon langsam unter ihr senkte.

 

Entsetzt wandte sie sich um und sprang zum Fenster zurück; aber in diesem Augenblick ertönte ein lauter Krach, und der Steinboden unter ihr fiel in die Tiefe.

 

Kapitel 11

 

11

 

Beim Fallen griff Lois wild nach einem Halt, und ihre Finger faßten einen vorspringenden Stein in der Mauer; der Ruck riß ihr beinahe die Arme aus den Schultergelenken, aber für einen Augenblick hatte sie Halt.

 

Sie hörte den Schreckensschrei Lizzys.

 

»Wo bist du? Ach, um Gottes willen, halte dich fest, Lois! Ich hole Hilfe!«

 

Lois blickte nach oben und sah, wie Lizzy ins Zimmer stürzte. Furchtbare Sekunden vergingen. Sie fühlte einen Schmerz in den Schultern, und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen.

 

Sie konnte sich nicht länger halten. Kam denn niemand, um sie zu retten? Ihre Sinne wollten schwinden, ihre Finger krampften sich um den Stein, aber er bröckelte ab. Sie verlor den Halt und stürzte ab, aber gerade in dem Augenblick, als ihre Finger losließen, packte sie eine große, feste Faust am Handgelenk – sie fühlte, wie sie hinaufgezogen wurde, eine andere Hand ergriff sie und zog sie ganz ins Zimmer. Sie sah in das abstoßende Gesicht des Butlers.

 

Er legte sie auf das Bett, ging dann zu dem Fenster, kniete nieder und schaute hinaus. Das abstürzende Mauerwerk hatte eine kleine Menschenmenge angelockt, wie sie sich bei jeder Gelegenheit tags und nachts in London sammelt. Braime sah einen Polizisten kommen, erhob sich, staubte seine Knie sorgfältig ab und schloß das Fenster. Er sagte kein Wort zu dem Mädchen und verließ schweigend das Zimmer.

 

Lois war dem Zusammenbruch nahe, ihr Gesicht war totenbleich. Aber ihre Angst war nichts gegen das Entsetzen Lizzys, die wie gelähmt von all diesen Ereignissen war, bis das Stöhnen ihrer Freundin sie wieder zu sich brachte.

 

Lois kam aus halber Bewußtlosigkeit wieder zu sich. Sie hatte das Gefühl, als ob sie ertränkt worden sei, dann sah sie wie durch einen Nebel die blasse Lizzy mit einem Glas Wasser in der Hand vor sich stehen.

 

»Du hast Glück gehabt, beinahe –«, stieß sie hervor.

 

Diese Worte erinnerten Lois an etwas – sie hatte sie schon früher gehört. Dann besann sie sich plötzlich auf das Auto, das sie beinahe überfahren hätte, und an die Worte Mike Dorns. Sie richtete sich auf und fand, daß ihre Vorstellung vom Ertrinken nicht ganz illusorisch war, denn Lizzy war sehr verschwenderisch im Verbrauch von Wasser gewesen.

 

Sie stand kaum auf ihren Füßen, als es an der Tür klopfte und der Butler mit einem Polizisten hereinkam.

 

»Der Beamte möchte den Balkon sehen«, sagte Braime und öffnete das Fenster zur Besichtigung.

 

Mit Hilfe seiner Lampe nahm der Polizist eine kurze Untersuchung vor und kam ins Zimmer zurück. Er sah Lois sonderbar an.

 

»Sie sind einer großen Gefahr entronnen, Fräulein«, sagte er. »In der Platte, auf die Sie traten, war ein alter Riß. Ich möchte auch die anderen Balkone sehen«, wandte er sich an den Butler und verschwand mit ihm.

 

Das war das zweite merkwürdige Ereignis in wenigen Tagen ein Schauder packte Lois. Unter welchen bösen Einflüssen stand sie? Zum erstenmal wünschte sie, daß sie wieder zu ihrem behaglichen kleinen Heim in der Charlotte Street zurückkehren könne, und verabschiedete sich mit aufrichtigem Bedauern von Lizzy. Bald darauf kam die Gräfin nach Hause und ging sofort in Lois‘ Zimmer, als sie von dem Unfall hörte. Das Mädchen war gerade dabei, sich auszukleiden.

 

»Ich wußte, daß der Balkon schadhaft war, und sagte dem Butler, daß stets das Schutzgitter festgemacht bleiben solle. Wo ist denn das Gitter?«

 

»Es war diesen Nachmittag noch da. Als ich zum Essen hinunterging, sah ich es nicht mehr«, antwortete Lois. »Ich dachte, es wäre fortgenommen worden, damit die Fenster geschlossen werden können.«

 

Die Gräfin sah nachdenklich aus.

 

»Da steckt mehr dahinter, als ich im Moment zu denken wage. Ich hoffe, Sie können schlafen, Miss Reddle. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid mir das tut. Wie wurden Sie denn gerettet?«

 

Lois erzählte es ihr, und Lady Moron nickte.

 

»Braime? Was hatte er denn um diese Zeit im dritten Stock zu tun?«

 

Sie blickte das Mädchen forschend an und ging dann in ihre eigenen Räume, ohne noch ein Wort zu sagen.

 

Erst um zwei Uhr morgens konnte Lois einschlafen; ihre Nervenkraft war zu Ende, und sie schreckte bei dem geringsten Geräusch auf. Etwas hielt sie wach – sie versuchte sich an etwas zu erinnern. Ein Gedanke arbeitete unaufhörlich in ihrem Unterbewußtsein, wollte an die Oberfläche dringen und ließ sie immer wacher werden. Schon zweimal hatte sie sich Wasser vom Waschtisch geholt, als sie jetzt zu ihrem Bett zurückkam, wußte sie es plötzlich.

 

»Sie müssen Ihre Tür geschlossen halten – selbst in dem Palais der Gräfin von Moron!«

 

Michael Dorns Warnung! Sie ging zu der Tür und suchte nach dem Schlüssel, aber sie fand keinen. Ebensowenig war ein Riegel vorhanden. Schnell drehte sie das Licht an, nahm einen der kleinen Stühle, trug ihn an die Tür und stellte ihn mit der Lehne gegen den Griff. Dann legte sie sich wieder nieder und schlief in wenigen Sekunden ein.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne in ihr Zimmer. Sie hörte ein leises Klopfen an der Tür, sprang aus dem Bett und zog den Stuhl fort.

 

»Guten Morgen, Fräulein«, sagte das Mädchen liebenswürdig. Sie hätte gar zu gern den Vorfall der letzten Nacht mit ihr besprochen, aber Lois war nicht dazu aufgelegt.

 

»Die Gräfin ist sehr aufgeregt und hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie fragte mich, ob ich Sie wegen des Balkons nicht gewarnt hätte. Ich sagte natürlich, daß ich das getan hätte, aber nur für tagsüber – ich wußte nicht, daß er schadhaft war. Ich bin erst vierzehn Tage hier. Die Gräfin war so lange auf dem Land.«

 

Sie zog die Vorhänge zurück. Lois ging zum Fenster und schaute hinunter. Die ausgezackte Ecke des zerbrochenen Balkons erinnerte sie wieder daran, wie nahe sie dem Tode gewesen war. Sie schauderte zusammen, als sie sich auf die entsetzlichen Augenblicke besann, in denen sie in der Luft gehangen hatte.

 

»Es war der Fehler des Butlers«, sagte das Mädchen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn er entlassen wird.«

 

»Wenn er nicht gewesen wäre, Fräulein, wären Sie überhaupt nicht in Gefahr gekommen! Die Gräfin sagte mir, daß ich Sie heute in das Zimmer des jungen Herrn auf dem unteren Flur umquartieren soll.«

 

»Aber Lord Moron muß doch nicht meinetwegen ausziehen?« fragte Lois erschrocken.

 

Anscheinend brachten die Bediensteten dem jungen Herrn dieselbe Geringschätzung entgegen, mit der ihn seine Mutter behandelte.

 

»Ach, der!« sagte das Mädchen mit einem Achselzucken. »Es ist ganz gleich, wo der schläft, der müßte auch mit der Dachstube zufrieden sein. Er will doch nur Schauspieler werden und mit den verrückten elektrischen Apparaten spielen! Ich bin gespannt, ob die Gräfin ihm erlaubt, so kindisch weiterzuleben.«

 

So war der sonderbare Wunsch des jungen Grafen allgemein bekannt. Abgesehen von der Bestürzung, daß er ihretwegen aus seinem Zimmer ausziehen mußte, war Lois nicht traurig über ihre Umquartierung. Ihre Freude war nach dem Gespräch mit der Gräfin noch größer.

 

Lady Moron hatte eine Vorliebe für leuchtende Farben. An diesem Morgen trug sie ein hellrotes Kleid. Lois dachte, daß es sie alt mache. Sie erwähnte den Zwischenfall nicht, und während der ersten Stunde nach dem Frühstück waren sie mit Briefeschreiben beschäftigt. Lady Moron hatte viel eigene Korrespondenz, außerdem kamen stets noch die üblichen Bettelbriefe hinzu, die auch erledigt werden mußten. Als Lois ihre Arbeit beendet hatte und der Gräfin den letzten Brief zur Unterschrift brachte, sah sie auf.

 

»Spüren Sie irgendwelche bösen Folgen nach diesem schrecklichen Unglücksfall?«

 

»Nein«, lächelte Lois.

 

»Ich habe dem Mädchen gesagt, daß Sie von jetzt ab das Zimmer meines Sohnes bekommen. Selwyn benützt es fast nie, er hält sich lieber in einem kleinen Studierzimmer oben auf und schläft auch fast immer dort. Sind Sie sehr erschrocken?«

 

Lois schüttelte den Kopf.

 

»Oder nervös?«

 

Das Mädchen zögerte.

 

»Letzte Nacht war ich etwas nervös.«

 

»Ich dachte es mir, und ich überlegte, wie ich Sie am besten überreden könnte, doch zu bleiben, Sie gefallen mir, und ich brauche eine Frau im Haus, mit der ich mich einmal vertrauensvoll aussprechen kann.« Sie bewegte sich in ihrem Drehstuhl und sah in Lois‘ Gesicht. »Ich bin nicht gern allein. Ich fürchte mich, allein zu sein.«

 

»Sie fürchten sich, Lady Moron?«

 

Die Gräfin nickte. Aber ihre Stimme verriet nichts von Furcht.

 

»Ich kann Ihnen nicht erklären, warum ich Angst habe, aber ich habe sie – vor gewissen Leuten. Wenn Sie bei mir bleiben wollen, will ich Ihr Gehalt erhöhen, und ich bin auch einverstanden, wenn Ihre Freundin hier im Haus schläft.«

 

»Meine Freundin?« fragte Lois überrascht. »Meinen Sie Miss Smith?«

 

Wieder nickte die Gräfin und wandte ihre dunklen Augen nicht von dem Gesicht des Mädchens.

 

Lois zögerte. »Das würde doch sehr – lästig für Sie sein –«

 

Die Gräfin machte eine rasche Handbewegung.

 

»Ich habe die Sache von allen Seiten überlegt, und wenn es Ihnen und Ihrer Freundin recht ist, werde ich noch ein Bett in Ihr Zimmer stellen lassen. Vielleicht möchten Sie Miss Smith besuchen und ihre Meinung darüber hören? Der Wagen wird in einer Viertelstunde für Sie bereitstehen.«

 

+++

 

Lizzy Smith sah über die Spitze des Drahtgitters vor dem Fenster die vornehme Limousine ankommen und vor der Tür halten. Entgegen allen Regeln der Geschäftsordnung rannte sie aus dem Büro und traf auf halber Treppe mit ihrer Freundin zusammen.

 

In wenigen Minuten erzählte ihr Lois von dem Vorschlag der Gräfin.

 

»Lieber Gott!« sagte Lizzy verblüfft. »Das ist doch nicht dein Ernst?«

 

Sie ergriff Lois am Arm und zog sie die Treppe herauf. »Komm schnell ans Telefon und sag Ihrer Königlichen Hoheit, daß ich um sechs erscheinen werde!«