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»Was soll das bedeuten?« fragte sie.

 

»Ich komme wegen Miss Reddle«, erwiderte Dorn kurz.

 

»Sie ist nicht hier, sie ist außerhalb des Bereichs Ihrer Rachsucht.«

 

»Wo ist sie?«

 

»Darüber gebe ich Ihnen keine Auskunft, nachdem Sie sich letzte Nacht so nichtswürdig betragen haben und das arme unschuldige Kind festnehmen ließen.«

 

»Sie können sich Ihre Worte schenken, Lady Moron«, sagte Michael wild. »Niemand weiß besser als Sie, warum sie festgenommen wurde. Wo ist sie?«

 

»Ich habe sie zu einem Freund geschickt.«

 

»Die Adresse?«

 

»Sie sind ein sehr draufgängerischer junger Mann«, sagte die Gräfin beinahe vergnügt. »Wollen Sie in die Bibliothek kommen? Ich kann in dieser zugigen Halle nicht mit Ihnen sprechen. Sie haben Miss Smith mitgebracht? Sie soll auch hereinkommen.«

 

»Sie ist draußen in größerer Sicherheit«, sagte er kühl und ging durch die Halle.

 

Während dieser ganzen Zeit hatte Selwyn nichts gesagt, aber jetzt wandte er sich an seine Mutter.

 

»Wo ist Miss Reddle? Vielleicht sagst du es mir?«

 

»Ich werde dir nichts sagen«, antwortete sie eisig. »Du gehst jetzt in dein Zimmer zurück.«

 

»Ich will mich schlagen lassen, wenn ich jetzt in mein Zimmer zurückgehe«, protestierte Lord Moron. »Hier geht irgend etwas Verdächtiges vor, und ich wünsche zu wissen, was hier gespielt wird.«

 

Es war eine heldenhafte Rede für Selwyn, und Michael fühlte eine leise Bewunderung für ihn, denn er wußte, wieviel Mut dazu gehörte, dieser Frau zu trotzen. Sogar die Gräfin war bestürzt.

 

»Selwyn«, sagte sie milder, »in diesem Ton verkehrt man nicht mit seiner Mutter.«

 

»Das kümmert mich sehr wenig«, gab er trotzig zurück. »Es ist irgend etwas verdächtig hier – ich habe immer gesagt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Was ist mit Miss Reddle?«

 

»Sie ist bei Freunden auf dem Lande«, sagte Lady Moron.

 

Die Antwort schien seinen Widerstand zu brechen.

 

»Nun gut«, meinte er freundlicher. Er schaute durch die offene Tür auf Lizzy, lächelte und winkte ihr mit der Hand, sah dann zurück auf seine Mutter, nahm all seinen Mut zusammen und ging in seinem Pyjama und seinem Schlafrock die Treppe hinab, um mit dem Mädchen zu sprechen.

 

»Sind Sie zufrieden, Mr. Dorn?«

 

»Ich bin weit davon entfernt, zufrieden zu sein, Lady Moron«, erwiderte Michael, während er ihr in die Bibliothek folgte.

 

Er bemerkte den Flecken auf dem Teppich, wo das Wasser auf Braime geschüttet worden war, und sah, daß auch ihre Augen an dieser Stelle hafteten.

 

»Es gibt keinen Grund, warum wir uns streiten sollten, Mr. Dorn«, sagte sie fast liebenswürdig. »Was haben Sie mit Miss Reddle vor? Das arme Mädchen war ganz außer sich in der letzten Nacht. Ich habe sie aus Mitleid aufs Land geschickt.«

 

»Wer hat sie fortgebracht?«

 

»Mein Chauffeur.« Sein scharfer Blick ruhte auf ihr, aber sie hielt ihm stand.

 

»War es nicht Mr. Chesney Praye?«

 

»Mr. Praye ist seit einigen Tagen in Paris. Sie glaubten etwas Außerordentliches entdeckt zu haben, aber hinter den Unglücksfällen, die sich hier ereignet haben, steckt wirklich kein Geheimnis. Ich habe Miss Reddle doch nur engagiert, weil ich den Wunsch hatte, ein nettes, liebes Mädchen um mich zu haben.« Dann fuhr sie fort: »Geht es Braime besser?«

 

»Sergeant Braime hat sich gut erholt«, erwiderte Michael und sah, daß er sie mit dieser Bemerkung schwer getroffen hatte. Sie zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen, und ihre Stimme verlor alle Selbstsicherheit.

 

»Sergeant Braime?« stotterte sie. »Ich sprach von meinem Butler.«

 

»Und ich spreche von Sergeant Braime von der Kriminalpolizei, der sechs Monate lang in Ihren Diensten stand.«

 

»Aber – er wurde mir doch empfohlen von –«

 

»Von einer Gesellschaft zur Unterstützung früherer Gefangener. Damit wollte man Sie sicher machen. Er hatte größere Aussicht, von Mylady angestellt zu werden, wenn er schon ein Verbrechen begangen hatte.«

 

Im nächsten Augenblick war sie wieder gefaßt.

 

»Warum bringt man einen Detektiv in mein Haus? Das ist eine Beleidigung, ich werde die Sache sofort der Polizei anzeigen.«

 

Er schaute sich in dem Raum um, und seine Blicke streiften den Bücherschrank, der durch die Sicherheitstür verschlossen war.

 

»Sie haben dort ein Buch, das ich gern sehen möchte. Ich beabsichtigte schon gestern abend zu kommen, aber ich wurde leider abgehalten.«

 

»Ein Buch?«

 

»Ein Buch, das den Titel trägt: ›Das Leben Washingtons‹. Das ist doch ein ganz unschuldiger Titel, nicht?«

 

Sie ging zu dem Bücherschrank, nahm einen Schlüssel aus der Schublade ihres Pults und öffnete die mit einem starken Drahtnetz gesicherte Tür.

 

»Bitte – lesen Sie es zu Ihrer Beruhigung.«

 

Sie ging zur Tür, wandte sich um und beobachtete ihn. Aber er tat etwas Außergewöhnliches. Er nahm einen dicken, roten Handschuh aus seiner Tasche, zog ihn über die rechte Hand und riß dann das Buch aus dem Schrank heraus. Es knackte verdächtig, und ein hell leuchtender, blendender Funke sprang heraus. Weiter ereignete sich nichts. Er legte das Buch auf den Tisch.

 

»Eine gute Imitation«, sagte er ruhig. »Es ist ein Stahlkasten, und jeder, der ihn herauszunehmen versucht, kommt automatisch mit einem starken elektrischen Strom in Verbindung. Wo ist der Schalter?«

 

Sie gab keine Antwort. Ihr Gesicht sah plötzlich eingesunken und alt aus. Michael ging zur Tür, suchte einen Augenblick, beugte sich nieder und drehte an einem großen Schalter.

 

»Haben Sie den Schlüssel zu dem Stahlkasten?«

 

»Er ist nicht verschlossen«, sagte sie. Sie trat zu ihm und drückte auf eine Feder. Der Deckel sprang auf.

 

Das ›Buch‹ war, wie er vermutete, innen vollständig leer.

 

»Gibt es etwa ein Gesetz, das verbietet, sich eine Sparbüchse in Gestalt eines Buches anfertigen zu lassen?« fragte sie sanft. »Kann man in Ungelegenheiten kommen, weil man sein Eigentum vor diebischen Butlern und – Spürhunden von Detektiven schützt?«

 

»Es gibt ein Gesetz gegen Mord«, erwiderte Dorn kurz. »Wenn ich das Buch ohne Gummihandschuhe angefaßt hätte, wäre ich jetzt tot. Braime ist mit knapper Not davongekommen, weil er eine Konstitution wie ein Riese hat.«

 

»Ich habe Sie ja gar nicht darum gebeten, das Buch herauszuziehen.«

 

»Aber Sie haben mich auch nicht gewarnt«, sagte Michael mit grimmigem Lächeln. »Leer ist es auch – natürlich! Sie hatten einen Verdacht auf Braime und ließen ein kleines Notizbuch in Ihrem Schlafzimmer herumliegen, in dem Sie verschiedene Bemerkungen über das ›Leben Washingtons‹ machten. Braime las sie und ging in die Falle. Er wäre ein toter Mann, wenn ich nicht die Erste Hilfe geleistet hätte.«

 

Es entstand eine lange Pause.

 

»Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« fragte Lady Moron.

 

»Nein, nicht alles – ich will wissen, wo Miss Reddle ist.«

 

»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen. Als sie heute früh entlassen wurde, wollte sie weder hierher noch in ihre Wohnung zurückkehren. Sie erklärte, daß sie einige Tage aufs Land gehen wollte, um sich zu erholen –«

 

»Drückte auch Mrs. Pinder den Wunsch aus, aufs Land zu gehen?« fragte er und fixierte sie mit eisigem Blick.

 

»Mrs. Pinder? Ich weiß nicht, wer das ist.«

 

»Wünschte Mrs. Pinder auch aufs Land zu gehen?« fragte er drohend. »Lady Moron, Sie stürzen sich und die Leute, die Ihnen verbündet sind, in fürchterliche Gefahr.«

 

Sie zuckte die breiten Schultern.

 

»Wenn diese Gefahr in nichts anderem als in dem Besuch eines theatralischen Detektivs am frühen Morgen besteht, dann sehe ich allem, was kommt, mit Gleichmut entgegen«, sagte sie und ging in die Halle hinaus. Michael Dorn folgte ihr.

 

Als sie zur Seite trat, um ihn zur Haustür zu lassen, sah sie Selwyn, der an der Seite des Autos stand und sich über die Tür lehnte. Er schien sich eifrig zu unterhalten – sie schaute ihn mit einem verächtlichen Lächeln an.

 

»Mein Sohn hat jemanden gefunden, dessen Intelligenz der seinen gleicht«, sagte sie, dann rief sie ihn beim Namen.

 

Zu Michaels Verwunderung drehte sich der junge Mann nur kurz um und sprach dann mit dem jungen Mädchen weiter.

 

»Selwyn!« Er nahm sich immer noch Zeit.

 

»Also leben Sie wohl, liebes Fräulein, und vergessen Sie nicht« – das flüsterte er ihr zu – »Schweinswürstchen, kein Rindfleisch – das mag ich nicht.« Dann winkte er ihr zum Abschied und ging zu seiner Mutter zurück. Ihr Gesicht war von Wut und Zorn entstellt.

 

»Es klang ja beinahe so, als ob Sie mit dem jungen Mann ein Stelldichein verabredet hätten«, sagte Michael, als sie abfuhren.

 

»Er kommt zum Abendessen«, erwiderte Lizzy. »Ist Lois dort?«

 

»Nein, das vermutete ich ja auch nicht.«

 

Aber selbst die Aussicht auf ein gemeinsames Essen mit einem Mitglied des hohen Adels war kein Ausgleich für die beunruhigende Nachricht.

 

»Wo mag sie bloß sein, Mr. Dorn?«

 

»Irgendwo auf dem Land. Ich nehme an, daß ihr in den nächsten beiden Tagen kein Unglück zustößt.«

 

Lizzy schaute ihn ruhig an.

 

»Glauben Sie das wirklich?«

 

»Ja.«

 

Sie betrachtete ihn immer noch.

 

»Sie sehen aber totenbleich aus«, sagte sie dann. »Sie haben Lois furchtbar gern, nicht wahr?«

 

Er war über diese Frage sehr betroffen.

 

»Lois gern haben? Warum fragen Sie mich? Ja, ich liebe sie.«

 

Er brachte Lizzy Smith zur Charlotte Street, lehnte aber ihre Einladung ab, mit hinaufzukommen. Dann fuhr er heim, ließ seinen Wagen im Hof der Hiles Mansions stehen und schleppte sich todmüde in seine Wohnung.

 

Er lag angezogen auf seinem Bett und schlief, als Wills schweigend mit einem Telegramm hereinkam. Dorn fuhr aufgeregt in die Höhe, nahm es, riß es auf und las. Es war um acht Uhr in Paris aufgegeben und lautete:

 

›Würden Sie mir bitte angeben, wer Distriktskommissar von Karrili war, als Sie im Pandschab weilten? Chesney Praye, Grand Hotel.‹

 

»Das tat er nur des Alibis wegen«, sagte Michael und gab Wills das Telegramm zurück. »Er will beweisen, daß er in diesem Augenblick in Paris weilt. Telefonieren sie an alle Flugstationen im Umkreis von hundert Meilen, die Flugzeuge an Privatleute vermieten. Suchen Sie herauszubringen, ob heute in den frühen Morgenstunden jemand nach Paris geflogen ist.«

 

Wills nickte und verließ das Zimmer.

 

»Solch einen dummen Bluff zu versuchen!« sagte Michael böse, als sich die Tür hinter dem Mann schloß.