10
In dem kleinen, aber hübschen Wohnzimmer der Presidentschen Stadtwohnung waren überall Blumen aufgestellt, und Mary ordnete gerade einen Strauß in einer Vase, als es klopfte.
Milton Sands trat ein, lächelte sie an und reichte ihr die Hand.
»Ich muß die Gelegenheit wahrnehmen und habe Sie deshalb hergebeten, während mein Großvater auf dem Lande ist. Mr. Stanton hat mir Ihre Adresse gegeben. Ich bin sehr beunruhigt, denn bei uns wurde eingebrochen.«
»Aber würden Sie sich in diesem Fall nicht besser an die Polizei wenden?«
»Unter gewöhnlichen Umständen wäre das sicher das beste, aber es handelt sich hier um eine außergewöhnliche Sache.«
Er nahm in einem Sessel Platz und hörte ihren Bericht an. Zuerst erzählte sie ihm davon, daß schon auf der Fahrt von Nizza nach Paris jemand versucht hätte, in ihre Kabine einzudringen.
»Vor einer Woche«, fuhr sie fort, »wachte ich mit dem Gefühl auf, daß jemand in meinem Zimmer sein müßte. Dann sah ich den Schein einer elektrischen Taschenlampe, und es war mir sofort klar, daß jemand die Schubladen meines Schreibtisches durchsuchte. Ich sprang aus dem Bett und erkannte gerade noch, wie der Mann, der ins Zimmer eingedrungen war, schnell durch die Tür entwischte. Ich konnte nur kurz seine Silhouette gegen das Fenster sehen, aber es war bestimmt der Kerl, der damals in meine Schlafwagenkabine eindringen wollte.«
»Ich verstehe«, sagte Milton langsam, und er hatte tatsächlich die Bedeutung dieses Einbruchs erkannt. Soltescu glaubte, daß sich die wertvolle Formel in Miss Presidents Besitz befand.
»Wo hält sich Ihr Großvater zur Zeit auf?«
»In Sussex. Wir haben ein kleines Haus auf dem Gelände, wo Donavan für das Derby trainiert wird. Ich bin extra zur Stadt gefahren, um mit Ihnen zu sprechen.«
»Wäre es möglich, daß Sie heute abend noch nach Sussex zurückkehrten?«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Natürlich, möglich wäre das schon. Mein Großvater würde es sogar begrüßen, wenn ich bald zurückkäme. Aber ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ein paar Tage in der Stadt zu bleiben.«
Er dachte eine Weile nach.
»Fahren Sie bitte morgen wieder ab«, sagte er dann. »Ihr Großvater bleibt doch sicher noch längere Zeit auf dem Lande?«
»Ja, bis zu den Rennen in Epsom. Er hat Donavan für das Derby gemeldet.«
»Das trifft sich gut«, erwiderte Milton vergnügt. »Und nun werden wir einen Geldschrank mieten.«
Sie schaute ihn wieder verwundert an.
»Ja, wir mieten einen Geldschrank«, wiederholte er, »und ich schicke ihn in Ihre Wohnung. Ich kenne eine gute Firma, wo man sie billig haben kann.«
»Ich brauche doch keinen Safe! Ich habe ja gar nichts hier, was ich darin einschließen könnte.«
»Aber wenn ich Ihnen einen Safe schicke, haben Sie doch nichts dagegen, daß er in Ihr Zimmer gestellt wird?«
»Nein, das gerade nicht«, entgegnete sie lächelnd. »Aber es ist doch direkt Geldverschwendung.«
»Sie vergessen, daß ich ein Detektiv bin, Miss President. Das ist eine ganz interessante, manchmal kostspielige Beschäftigung, und Sie können sich wohl denken, daß ich nicht Geldschränke miete, wenn ich nicht eine ganz besondere Veranlassung dazu habe. Wenn Sie die Sache noch nicht ganz durchschauen, müssen Sie mir eben Vertrauen schenken. Jeder Detektiv hat seine Geheimnisse.«
Sie lachte.
»Gut, dann werde ich tun, was Sie wollen.«
»Ich habe aber noch eine andere Bitte. Würden Sie so liebenswürdig sein und mir Ihren Hausschlüssel geben, damit ich während Ihrer Abwesenheit die Verwaltung des Hauses übernehmen kann?«
»Selbstverständlich.«
»Ich werde mich um alles kümmern. Und machen Sie sich wegen des Einbruchs keine bösen Gedanken mehr.«
»In letzter Zeit sind aber so viele Einbrüche vorgekommen – die ganzen Zeitungen sind voll davon«, sagte sie nervös. »Ich habe auch gelesen, daß ein Schwerverbrecher ausgebrochen ist.«
»Das ist alles nicht so gefährlich. Wir werden ja bald sehen, wie sich die Dinge weiter entwickeln. Und was den entsprungenen Sträfling angeht –« Plötzlich hielt er ein. »Da kommt mir eine famose Idee!« Er lachte, sagte ihr aber nicht, was für ein guter Gedanke ihm gekommen war, sondern änderte das Gesprächsthema und fragte nach Eric Stanton.
Sie äußerte sich nur sehr vorsichtig über den jungen Mann, und aus ihrer Zurückhaltung erriet Milton alles, was er wissen wollte.
Als er in die Stadt ging, sprach er bei der Firma vor, die Geldschränke zu vermieten hatte, und suchte den größten aus, den er finden konnte. Der Inhaber des Geschäfts billigte diese Wahl nicht.
»Das ist nur eine ganz leichte Konstruktion«, sagte er und klopfte dabei an die Wände. »Der Kasten ist weder feuer- noch diebessicher. Eigentlich nur ein Schaustück zum Ausstellen. Für den praktischen Gebrauch ist er in keiner Weise geeignet.«
»Aber es ist gerade der richtige Schrank für mich«, erklärte Milton. »Hübsch und leicht. Schicken Sie ihn noch heute an die Adresse, die ich Ihnen gegeben habe.«
Am nächsten Morgen suchte er Miss President wieder auf. Sie lachte, als er kam, aber sie gestand ihm offen, daß sie etwas enttäuscht sei.
»Der Schrank nimmt entsetzlich viel Platz ein und macht sich sehr schlecht in meinem Schlafzimmer.«
»Darf ich mir das Möbel einmal ansehen?«
Ihr Mädchen führte ihn in den Raum. Der Safe war tatsächlich viel zu groß für das kleine Zimmer. Man sah kaum etwas anderes als das große, grünlackierte Möbel mit den goldenen Verzierungen.
»Großartig«, sagte Milton und betrachtete ihn voll Bewunderung. Dann wandte er sich an das Mädchen. »Sind Sie Amerikanerin?«
Sie wurde ein wenig rot.
»Ja – aber warum fragen Sie danach? Ich kam vor drei Monaten aus den Staaten.«
»Sind Sie früher schon in Europa gewesen?«
»Nein.«
»Sie haben auch noch nicht in Frankreich gelebt?«
»Nein«, entgegnete sie leichthin.
Als er die Treppe hinunterging, schien er angestrengt über diese Antwort nachzudenken.
Unten fragte er Miss President unvermittelt nach dem Namen ihres Dienstmädchens.
»Ich habe sie erst vierzehn Tage bei mir«, erklärte Mary. »Sie wurde mir von Sir George Frodmere empfohlen.«
»Dann kennen Sie Sir George also doch gut?«
»Nur oberflächlich.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Die Sache kam auch ganz zufällig. Mein Mädchen kündigte plötzlich, und er empfahl mir diese neue Kraft so dringend, daß ich versprach, sie einzustellen. Unser eigenes Mädchen bekam eine so gute Stelle, daß ich sie nicht davon abhalten wollte.«
»Können Sie mir vielleicht sagen, wer sie engagiert hat?«
»Ja, sie gab mir die Adresse, damit ich ihre Post nachschicken kann. Sie ist nämlich verlobt. Ich will einmal sehen, ob ich sie finde…«
Sie ging aus dem Zimmer und kam bald darauf mit einem Notizbuch zurück.
»Hier habe ich es. Sie ist jetzt bei Mrs. Gordon Thompson beschäftigt.«
Milton grinste. Mrs. Gordon Thompson war die Schwester von Sir George Frodmere, eine ältere Dame, die viel in der Gesellschaft verkehrte und leidenschaftlich gern Bridge spielte. Man erzählt sich allerhand Geschichten darüber, wie ungern sie ihre Spielschulden zahlte.
Die Sache war vollkommen durchsichtig. Frodmere brauchte eine Verbündete in dem Haus und hatte deshalb seine Schwester überredet, Marys Dienstmädchen für ein höheres Gehalt wegzuengagieren. Und an ihrer Stelle hatte er diese Person eingeschoben. Milton hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Er hatte sie bei mehreren Gelegenheiten in Monte Carlo gesehen, und zwar immer in der Gesellschaft Bud Kitsons. Dort und auch an anderen Plätzen galt sie als die Frau des Amerikaners.
»Wann fahren Sie ab, Miss President?«
»Heute nachmittag.«
»Nehmen Sie Ihr Mädchen mit?«
Mary runzelte die Stirn.
»Das muß ich mir noch überlegen. Ich hatte ja zuerst nicht die Absicht, London so schnell wieder zu verlassen.«
»Darf ich Ihnen einen Rat geben? Beurlauben Sie das Mädchen mit vollem Gehalt. Sagen Sie ihr, daß sie in der nächsten Woche nicht gebraucht wird.«
»Aber das ist ihr vielleicht unangenehm?«
»Das glaube ich kaum«, entgegnete Milton trocken. »Mit welchem Zug fahren Sie?«
»Um fünfzehn Uhr fünfundzwanzig.«
»Ich werde am Bahnhof sein, um mich von Ihnen zu verabschieden. Können Sie mir den Hausschlüssel jetzt geben?«
Sie nahm ihn aus ihrem Täschchen.
»Ich hoffe, daß Sie nach Ihrer Rückkehr nie wieder gestört werden.«
»Ich möchte Sie noch etwas fragen«, sagte sie, als er im Begriff war fortzugehen. »Was soll ich denn eigentlich in den Geldschrank legen?«
»Nichts.« Er dachte eine Weile nach. »Wenn Sie wollen, können Sie ja ein paar Schriftstücke dort unterbringen, die keinen Wert für Sie haben. Aber schließen Sie die Tür sorgfältig zu. Es wird vielleicht viel interessanter, wenn Sie die Papiere in den Safe tun. Es können alte Rechnungen sein. Vielleicht haben Sie auch noch irgendeinen Kasten, in den sie gelegt werden können.«
»Ja.«
»Das ist gut. Sagen Sie dem Mädchen noch, daß sie alle Fenster und Türen gut verschließen soll, bevor sie das Haus verläßt, und daß sie der Polizei von ihrer Abwesenheit Mitteilung macht.«
»Das könnte ich eigentlich auf meinem Weg zum Bahnhof selbst tun.«
»Nein, geben Sie dem Mädchen den Auftrag. Wozu soll, man alles selbst machen, wenn man Dienstboten hat?«
*
Abends um halb zwölf stieg Bud Kitson aus einer Taxe, zahlte den Chauffeur und ging dann die Straße entlang, bis er zu dem Haus John Presidents kam. Ohne Zögern schritt er auf die Tür zu, schloß auf und betrat die Diele. Mit seiner elektrischen Taschenlampe leuchtete er in dem leeren Raum umher, dann ging er weiter zum Speisezimmer und grinste, als er ein Glas, eine Whiskyflasche und Sodawasser auf dem Tisch sah. Sicher hatte seine Frau das alles für ihn bereitgestellt. Er mischte sich ein Glas und trank es, bevor er sich seiner Aufgabe zuwandte. Im Licht der Taschenlampe wählte er die nötigen Werkzeuge aus und stieg dann ruhig die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Er kannte die Lage von Mary Presidents Zimmer genau, denn er betrat das Haus nicht zum erstenmal. Mit Bestimmtheit rechnete er damit, daß er heute Erfolg haben würde.
Die entwendeten Dokumente mußten hier zu finden sein – davon war er fest überzeugt. Die Ankunft des großen Geldschranks bewies ihm das zur Genüge. Sonst hätte er diesen Versuch vielleicht überhaupt nicht gemacht. Er war sogar sehr froh darüber, daß sich die Leute einen Safe zugelegt hatten, denn das beschränkte seine Nachforschungen. Er wußte nun genau, wo er die Papiere finden konnte. Als er oben ankam, untersuchte er den neuen Geldschrank und lächelte verächtlich. Das war ja eine ganz altmodische Konstruktion, die man beinahe mit einem Taschenmesser öffnen konnte! Er wählte einen Schlüssel und versuchte, die Tür aufzumachen, aber sie gab nicht nach. Sein geübtes Ohr vernahm allerdings einige Geräusche, die erkennen ließen, daß er bei weiteren Bemühungen Erfolg haben würde. Und gleich darauf hatte er sein Ziel auch erreicht.
Aber es blieb ihm keine Zeit, sich um den Inhalt des Geldschranks zu kümmern, denn plötzlich war das Zimmer hell erleuchtet. Schnell wandte er sich um.
»Hände hoch!« befahl Milton Sands, der seine Browningpistole auf den Einbrecher gerichtet hielt.
»Hallo!« antwortete Bud ruhig. »Wie geht es Ihnen, Mr. Sands?«‘
»Verhältnismäßig gut«, entgegnete Milton vergnügt. »Kommen Sie näher, damit ich Sie durchsuchen kann.«
Aber das war eigentlich nicht nötig, denn Bud Kitson hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Schußwaffe einzustecken.
»Setzen Sie sich dorthin«, sagte Milton und zeigte auf einen Stuhl. »Oder noch besser, Sie kommen nach unten mit, da können Sie wenigstens rauchen. Geben Sie mir einmal Ihre Lampe.«
Er nahm sie ihm aus der Hand und wies nach der Tür. Bud ging nach unten, und Milton folgte ihm auf dem Fuß. So kamen sie in das Speisezimmer.
»Drehen Sie das Licht an. Sie können es ruhig tun, denn ich wohne hier.«
»Was haben Sie denn eigentlich vor, Mr. Sands?«
Bud war sehr verärgert, daß sein Abenteuer so enden sollte.
»Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich tun werde. Jedenfalls ist es ein ganz interessantes Spiel – für Sie allerdings weniger angenehm. Wie geht es Maisie?« fragte er freundlich.
Kitson grinste.
»Ich dachte mir gleich, daß Sie hinter die ganze Geschichte kommen würden, wenn Sie Maisie sähen.«
»Ich wußte es schon vorher. Sagen Sie mir jetzt, was wollen Sie denn hier im Haus? Suchen Sie nach den Schriftstücken, die Soltescu verloren hat?«
»Aus mir bekommen Sie nichts heraus«, entgegnete Kitson abweisend.
»Das werden wir noch sehen. Ich bin sogar davon überzeugt, daß Sie mir alles sagen werden, was ich wissen will. Sollte meine Ahnung in dieser Beziehung nicht in Erfüllung gehen, dann übergebe ich Sie der Polizei, und alle Ihre Komplicen werden dann wahnsinnig über Sie fluchen, denn sie kommen dann auch vor Gericht und müssen die größten Meineide leisten, wenn man sie nach Ihnen und ihren Beziehungen zu Ihnen fragt. Eins kann ich Ihnen übrigens sagen, Bud. Wenn Sie hier nach der Formel für Soltescu suchen, vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Da müssen Sie sich schon anderswo umtun. Und wenn Sie nicht vermuten können, wer die Dokumente in jener Nacht gestohlen hat, kann ich Ihnen auch nicht helfen.«
»Meinen Sie, Sir George hat die Mappe?« fragt Kitson schnell.
»Ich will keine Namen nennen«, entgegnete Sands diplomatisch.
Bud fühlte plötzlich eine merkwürdige Müdigkeit und versuchte krampfhaft, sie zu überwinden. Er konnte sich die Ursache dafür nicht erklären, denn er war durchaus gesund und an diesem Tag erst spät aufgestanden. Was sollte das nur bedeuten? Schließlich fiel sein Blick auf die Whiskyflasche, und er begriff langsam. Er machte eine Anstrengung, sich von seinem Stuhl zu erheben.
»Bleiben Sie sitzen«, befahl Milton.
Kitson gehorchte willenlos.
»Sie haben mich vorhin gefragt, was ich vorhabe. Es tut mir leid, daß ich Ihnen das nicht sagen kann, aber glauben Sie mir, wir beide haben in der nächsten Zeit noch manches miteinander zu besprechen.«
Buds Kopf sank auf die Brust. Er wollte noch etwas sagen, wurde aber bewußtlos und fiel vom Stuhl.
Sands trug die Whiskyflasche und das Glas in die Küche, leerte beide und wusch sie sorgfältig aus. Dann ging er ins Speisezimmer zurück und füllte die Whiskyflasche von neuem.
»Ich bin nun ein wirklicher Detektiv geworden«, sagte er voll Selbstbewunderung, als er auf den besinnungslosen Kitson schaute. »Also, mein lieber Bud, Sie werden jetzt ein seltsames Abenteuer erleben.«
Vergnügt packte er das Kleiderbündel aus, das er vor einigen Stunden ins Haus gebracht hatte.