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Am Sonnabendmorgen saß Marshalt in seinem Studierzimmer am Schreibtisch, als Tonger ihm ein Paket Briefe brachte. Der Millionär sah sie rasch durch.

 

»Wieder nichts dabei von unserem Freund aus Matjesfontein«, sagte er dann unmutig. »Seit vier Wochen hat der Kerl nichts von sich hören lassen!«

 

»Vielleicht ist er tot«, meinte Tonger.

 

»Es könnte ja auch sein, daß Torrington etwas zugestoßen wäre.«

 

»Sie sind ein Optimist, Lacy!« spottete Tonger, wurde dann aber nachdenklich. »Vielleicht kann er doch nicht schwimmen«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.

 

Lacy blickte rasch auf.

 

»Was soll denn das heißen?«

 

»Die Kinder eines königlichen Kommissars sollten eigentlich auch schwimmen können«, fuhr Tonger fort. »Oder wenn sie es nicht können –«

 

Lacy schwang sich auf seinem Stuhl herum.

 

»Jetzt hab‘ ich aber dein Gefasel satt!« rief er ungeduldig. »Sage jetzt gefälligst, was du meinst.«

 

»Na, vor ungefähr anderthalb Jahren nahmen die Kinder von Lord Gilbury ein Segelboot und fuhren in die Tafelbai hinaus. Hinter dem Wellenbrecher kenterte das Boot, und sie wären ertrunken, wenn nicht einer der Sträflinge, die dort arbeiteten, ins Wasser gesprungen und hingeschwommen wäre. Der hat sie gerettet.«

 

Lacys Mund stand weit offen.

 

»War das Torrington?« fragte er leise.

 

Tonger zuckte die Schultern.

 

»Ein Name wurde nicht genannt. In den Zeitungen stand nur, daß der Sträfling lahm war, und daß man von einer Begnadigung spräche.«

 

Wütend sprang Lacy auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.

 

»Natürlich! So muß es sein!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Er ist frei, und seine Rechtsanwälte halten es geheim. Und du hast es die ganze Zeit gewußt, du Hund!«

 

»Gewußt habe ich nichts«, erwiderte Tonger gekränkt. »Vermutet habe ich es allerdings. Aber glauben Sie, Dan Torrington würde Sie in Frieden lassen, wenn er ein freier Mann wäre? Und warum sollte ich Ihnen mit solchen Gerüchten Angst machen? Ich weiß, daß ich Ihnen viel Dank schuldig bin, Lacy, und ich kenne Ihre guten und Ihre schlechten Seiten. Und ich hab‘ wahrhaftig keinen Grund, Torrington zu lieben. Wollte er nicht gerade an dem Tag, an dem Sie ihn faßten, mit meiner kleinen Elsie auf und davongehen?« Er griff in die Tasche und holte einen zerlesenen Brief hervor. »Die ganzen Jahre hab‘ ich ihn mit mir herumgetragen. Es ist der erste Brief, den sie mir aus New York schrieb. Hören Sie zu:

 

 

›Liebes Väterchen, ich möchte Dir doch sagen, daß ich ganz zufrieden bin. Ich weiß, daß Torrington verhaftet ist, und in mancher Hinsicht bin ich froh darüber, daß ich auf seinen Wunsch hin hierher vorausreiste. Väterchen, willst Du mir verzeihen und mir glauben, daß ich zufrieden bin? Ich habe hier in der Riesenstadt neue Freunde gefunden, und mit dem Geld, das mir Torrington gab, habe ich ein ganz einträgliches, kleines Geschäft gegründet. Nach Jahren, wenn alles vergessen ist, werde ich zu dir zurückkehren.‹«

 

 

Vorsichtig legte er das dünne Blatt wieder zusammen und schob es in die Tasche.

 

»Nein, ich habe keinen Grund, Torrington zu lieben«, sagte er, »aber viel Grund, ihn zu hassen.«

 

»Haß ist Furcht«, murmelte Lacy. »Du fürchtest ihn auch.«

 

Unruhig ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Mrs. Elton sagt, sie hätte einen hinkenden Mann gesehen –«

 

»Ach was! Solche Damen sind immer nervös und sehen alles mögliche –« Er unterbrach sich plötzlich, denn es klopfte dreimal gedämpft, aber deutlich an die Wand.

 

Lacy blieb stehen und wurde totenbleich.

 

»Was – was ist das?« flüsterte er mit zitternden Lippen.

 

»Ach, irgendein Gehämmer. Vielleicht hängt der alte Mann Bilder auf.«

 

Lacy feuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge an und riß sich zusammen.

 

»Du kannst gehen. Heute nachmittag mußt du aber nach Paris fahren.«

 

»Nach Paris? Was soll ich in Paris – ich kann doch kein Wort Französisch, und Seefahrten bekommen mir nicht. Schicken Sie doch jemand anders!«

 

»Es muß ein Mann sein, auf den ich mich verlassen kann. Ich werde Croydon anrufen, damit sie ein Flugzeug bereithalten. Dann kannst du noch vor Einbruch der Nacht zurück sein.«

 

»Flugzeuge sind auch nicht mein Geschmack! Wann komme ich denn zurück – wenn der Fall überhaupt eintritt?«

 

»Um zwölf fliegst du ab, um zwei bist du in Paris, gibst den Brief ab, und um drei bist du schon wieder auf der Rückreise.«

 

»Na, wenn es sein muß –« knurrte Tonger. »Wo haben Sie den Brief?«

 

»In einer Stunde kannst du ihn dir holen.«

 

Als Lacy allein war, meldete er erst ein Gespräch nach Paris an, ließ sich dann mit Stormers Detektivagentur verbinden und ersuchte, Mr. Willitt sofort zu ihm zu schicken. Darauf setzte er sich an den Schreibtisch und hatte seinen Brief gerade geschrieben und zugesiegelt, als Mr. Willitt auch schon gemeldet wurde.

 

»Wenn ich nicht irre, sind Sie der Chef der Agentur?« begann Lacy sofort und deutete auf einen Stuhl.

 

Willitt schüttelte den Kopf.

 

»Nur Stellvertreter. Mr. Stormer verbringt seine Zeit meistens bei unserer New Yorker Zweigagentur. In Amerika nehmen wir eine viel bedeutendere Stellung ein und werden oft mit Regierungsaufträgen betraut. Hier in England –«

 

»Ich habe einen Auftrag für Sie«, fiel ihm Lacy ins Wort. »Haben Sie schon einmal von einem gewissen Malpas gehört?«

 

»Von dem alten Mann, der nebenan wohnt? O ja! Wir wurden bereits ersucht, seine Persönlichkeit festzustellen – unsere Auftraggeber möchten eine Photographie von ihm haben.«

 

»Wer sind die Leute?«

 

»Das kann ich Ihnen leider nicht mitteilen.«

 

Lacy holte ein Bündel Banknoten heraus, wählte zwei aus und schob sie dem Detektiv hin.

 

»Hm.« Der Mann lächelte verlegen. »Vielleicht kann ich dieses eine Mal eine Ausnahme machen. Es handelt sich um einen gewissen Laker, der vor einiger Zeit verschwand.«

 

»Laker? Den kenne ich nicht. Sind Sie denn an den alten Mann herangekommen?«

 

»Nein, der lebt wie eine Auster.«

 

Lacy überlegte eine Weile.

 

»Ich wünsche, daß Sie ihn unausgesetzt bewachen. Beobachten Sie das Haus Tag und Nacht von allen Seiten. Stellen Sie auch einen Mann oben auf dem Dach meines Hauses auf.«

 

»Dazu würde ich sechs Leute brauchen«, meinte Willitt und zog sein Notizbuch hervor. »Und was sollen sie tun?«

 

»Ihm folgen und feststellen, wer er ist. Und wenn möglich, mir eine Photographie von ihm verschaffen.«

 

»Von wann ab?«

 

»Sofort. Ich werde veranlassen, daß der Mann, den Sie aufs Dach beordern, eingelassen wird. Mein Diener Tonger wird dafür sorgen, daß es ihm an nichts fehlt.«

 

Der Detektiv empfahl sich, als sich das Pariser Telephonamt meldete, und Lacy Marshalt gab in geläufigem Französisch eine Reihe von Anordnungen.