Kapitel 12

 

12

 

Mr. Bird besprach in oberflächlicher Weise den Mord in Süd-London, der Scotland Yard verhältnismäßig wenig erregt hatte.

 

»Ich habe die Photo von dem anderen Galgenvogel heute morgen in der Zeitung gesehen«, begann er. »Sieht beinahe aus wie der Star in ›Aus Seenot gerettet‹ – das ist ein ganz hervorragender Film, Sir. Sie müßten sich den mal ansehen. Mir kamen beinahe die Tränen in die Augen, und ich heule wirklich nicht leicht.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Vielleicht hatte der Film auch überhaupt nichts damit zu tun. – Haben Sie den Mörder gefaßt?«

 

Oberinspektor Kelley schüttelte den Kopf.

 

»Nein, und werden ihn wohl auch kaum fassen. Wenn wir Lewing von den Toten erwecken könnten, würde er einen Schwur ablegen, daß er den Mann, der ihn angriff, nicht erkannt hatte. Und mit dem anderen Kerl wird es genau so sein.«

 

Der Spatz spitzte die Lippen.

 

»Ich möchte eigentlich mal nach dem Hospital gehen und mir den Menschen ansehen – wird er sterben?«

 

Kelley machte eine Bewegung mit seinen Händen, die seine völlige Gleichgültigkeit ausdrückte.

 

»Keine Ahnung! Aber ich würde Ihnen nicht raten, in Gennets ›Gebiet‹ einzubrechen – er ist in dem Punkt außerordentlich empfindlich, und der Fall wird von ihm bearbeitet.«

 

Professionelle Etikette hielt daher Mr. Bird von der Unfallstation des St.-Thomas-Hospitals fern. Er fand jedoch eine Abschrift der Aussage, die der sterbende Mann gemacht hatte; sie war kurz und nichtssagend:

 

»Ich weiß nicht, wer Lewing gemordet hat. Ich war mit ihm zusammen, als er angefallen wurde, kannte ihn aber nur oberflächlich. Ich würde keinen der Angreifer wiedererkennen; sie waren mir völlig unbekannt, und ich konnte ihre Gesichtszüge nicht sehen.«

 

Darunter stand in Anführungsstrichen:

 

»Dieser Mann weigert sich, seinen Namen zu nennen.«

 

Der Spatz las diese kurzen Zeilen halb belustigt durch. Er konnte den Inspektor, der diesen Fall behandelte, nicht leiden.

 

»Gennet wird ja noch viel Glück damit haben – ich wünsche ihm alles Gute!«

 

Später, am Nachmittag, hatte er sich mit Miß Mary Bolford zum Tee verabredet. Der Spatz war schon in einem Alter, wo er sich unbesorgt mit dem hübschesten und jüngsten Mädchen treffen konnte, ohne sich anderen Nachreden auszusetzen als denen, die er selbst über sich gebrauchte.

 

»Wir passen wirklich großartig zueinander, Miß Bolford. Haben Sie etwas erreicht?«

 

»Bei Mrs. Maddison?« Mary schüttelte seufzend den Kopf. »Wissen Sie … ich fühlte mich höchst unbehaglich. Sie haben sich am Hochzeitstage gezankt. Warum – weiß ich selbstverständlich nicht.«

 

»Vielleicht des Bruders wegen«, sagte der Inspektor. »Sie wissen ja, wenn es sich um Angehörige handelt –«

 

»Aber er ist doch tot.«

 

Der Spatz nickte gedankenvoll.

 

Sie saßen in einem der belebtesten Teerestaurants in der Nähe von Charing Croß, und unaufhörlich kamen und gingen Gäste. Mr. Bird hatte einen kleinen Tisch in einer Nische gefunden, von wo aus er den Eingang des Restaurants überblicken konnte. Es lag kein besonderer Grund hierfür vor, denn er erwartete weder Freund noch Feind. Aber er hatte ein tiefes Interesse an seinen Mitmenschen und vor allen Dingen den stillen Wunsch, daß eines Tages ein Mann, den die Polizei aller Welten suchte, vergeblich suchte, in seinem Gesichtskreis auftauchen würde. Er war ein wenig Optimist.

 

»Gezankt, sagen Sie? Das wird hoffentlich eine Warnung für Sie sein, mein liebes Kind. – Heiraten Sie niemals. Erst heute habe ich gesagt –«

 

Sie sah, wie Mund und Augen ihres Begleiters sich vor Erstaunen öffneten. Er starrte nach der Tür. Sie blickte sich um und sah einen Mann das Café betreten, seinen weichen Hut auf dem Hinterkopf, die Hände in den Taschen. Er sah ernst und finster aus, und doch hatte sein Gesicht eine eigenartige Anziehungskraft.

 

»Da hört doch alles auf!« murmelte Mr. Bird.

 

»Wer ist es denn?« flüsterte sie.

 

»Ein dunkler Charakter«, erwiderte der Spatz bedeutungsvoll. »Wollen Sie ihn kennenlernen?«

 

Sie nickte, und im gleichen Augenblick begegneten sich die Augen des Fremden mit denen des Detektivs. Ein halbes Lächeln huschte über sein finsteres Gesicht, er folgte der Einladung von Mr. Birds winkendem Finger und kam langsam auf ihn zu. Als er das junge Mädchen erblickte, nahm er den Hut ab und setzte sich nach einem Augenblick kurzen Zögerns an den Tisch.

 

»Nun, Gunner«, sagte der Spatz mit leichtem Vorwurf. »Freigekommen?«

 

»Selbstverständlich«, lächelte Gunner Haynes und bestellte sich Kaffee.

 

»Eine Bekannte von mir – an der Zeitung«, stellte der Spatz vor. »Da sie selbst ein Mitglied dieser gesetzlosen Klasse ist, kann sie, ohne zu erröten, den hervorragendsten Juwelendieb Englands kennenlernen.«

 

Sie sah in Gunners Augen ein belustigtes Lächeln aufblitzen und lächelte zurück.

 

»Nun wissen Sie ja, wer ich bin«, sagte Haynes ironisch.

 

»Man hat also die Anklage niedergeschlagen?« Und als der Gunner nickte, stieß Mr. Bird einen langen, murrenden Seufzer aus. »Ich habe mein Vertrauen zu der Gerechtigkeit verloren«, sagte er verzweifelt. »Ich weiß ganz genau, warum Sie in dem Hotel waren, wessen glitzernde Steinchen Sie suchten – nein, Gunner, es gibt wirklich keine Gerechtigkeit mehr in der Welt.«

 

Der Gunner rührte in dem Kaffee, den die Kellnerin vor ihn hingestellt hatte, und lachte. Ein sanftes, musikalisches Lachen, das gar nicht zu dem Mann paßte, der da vor ihr saß.

 

»Ihre Sache stand schlecht, Mr. Bird, und Sie werden der erste sein, der mir das zugibt. Ich würde gern mal den Mann wiedersehen; der versucht hat, mich zu – mir zu helfen.«

 

»Sie wollten sagen, ›mich zu warnen‹.« Der Spatz blickte ihn durchdringend an. »Leider können Sie ihn nicht sehen. Er ist nämlich auf der Hochzeitsreise.«

 

»Maddison? – Hieß er nicht so. Ich erinnere mich jetzt an den Namen. Handelt es sich um den Bankier? Sie können mir ruhig antworten, Mr. Bird. Ich will nichts von ihm haben. Er ist in meinem Buch mit einem Stern angemerkt.«

 

»Das wird ihn sicher mal in den Himmel bringen«, spöttelte Bird und wurde dann wieder der kühle Polizeibeamte.

 

»Was führen Sie nun im Schilde, Gunner? Sind Sie jetzt reif für die Besserungsanstalt? Wenn das der Fall ist, können Sie von mir eine Empfehlung für das Heim für ehemalige Gefangene erhalten.«

 

Aber Gunner Haynes hörte gar nicht zu.

 

»Wen hat er geheiratet? – das hübsche, junge Mädchen, das an jenem Abend am oberen Ende der Tafel saß? Bei Gott! Sie war wunderhübsch! Erinnerte mich an –«

 

Er hielt plötzlich inne, und Mary Bolford sah, wie es in seinem Gesicht zuckte.

 

»– an jemand, den ich früher mal kannte. Ich wünsche ihnen alles Glück!«

 

»Dann müssen Sie jedem einzeln Glück wünschen«, sagte Mary Bolford; »an ihrem Hochzeitstage haben sie sich getrennt.«

 

Er blickte schnell zu ihr hinüber.

 

»Was hat sie ihm angetan?« fragte er, und Mary Bolford mußte, wenn auch widerwillig, lachen.

 

»Sie nehmen vieles für sicher an! Der Gedanke, daß er vielleicht der schuldige Teil sein konnte, scheint Ihnen wohl unmöglich?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Diese Art Mann kann nichts Schlechtes begehen, das kann ich Ihnen sagen, Miß! Ich kenne die Männer; ich verstehe das Gute in ihnen und das Schlechte. – Mein ganzes Leben lang habe ich von Männern gelebt: meine Kenntnis ihrer Schwächen und ihrer Stärke war mein einziger Trumpf. Frauen verstehe ich nicht. Und auch Sie haben unrecht, Mr. Bird – ich sage Ihnen dies hier offen und ehrlich – ich war nicht hinter den Juwelen von der Frau her, obgleich ich zugeben muß, ich hätte sie gern mal gesehen. Nein, hinter einem Diamantarmband, so groß wie eine Fußschelle! Im Hotel war ein alter Narr, der hatte es für eine Schauspielerin gekauft – sie nannte sich wenigstens Schauspielerin, aber ich habe sie gesehen! – Er muß mindestens hundert Jahre alt gewesen sein – vielleicht sogar hundertzwanzig. Ekelhaft! … nein, ich habe genügend Geld, um leben zu können.«

 

Er blinzelte dem Spatz zu. »Geld genug, um mir ein Maschinengewehr zu kaufen, damit ich wenigstens meinen Titel mit Recht trage. Wo steckt denn eigentlich Maddison?«

 

Er wandte sich an Mary Bolford.

 

»Fragen Sie mich!« fuhr der Spatz dazwischen, seine kalten Augen in denen des Hochstaplers. »Ich bin hier das zuständige Auskunftsbüro! Wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen wollen, wird Miß Bolford, glaube ich, einen ganz interessanten Artikel schreiben können, aber ich habe Sie nicht hierhergerufen, um angenehme Konversation zu machen, verstanden, Gunner!«

 

Haynes glaubte, in den Augen des jungen Mädchens einen feinen Schmerz zu sehen und lachte.

 

»Er hat recht – er hat selbstverständlich recht –« sagte er. »Lassen Sie mich Ihnen einen guten Rat geben, Miß Bolford.« Seine Stimme war eigenartig sanft, und selbst der Spatz blickte ihn erstaunt an. »Befürchten Sie niemals, daß Sie die Gefühle eines Hochstaplers verletzen könnten – das ist nämlich unmöglich. Ein Mann, der nach seiner Verhaftung eine Unterredung von nur zehn Minuten mit der Polizei gehabt hat – wenn sie nicht genau weiß, wo die Beute versteckt ist –, ist von Fachleuten … beleidigt worden.«

 

Der Spatz nickte ernsthaft.

 

»Bevor Sie beginnen, Sympathie für einen Exsträfling zu empfinden«, fuhr der Gunner fort, »rate ich Ihnen, ausfindig zu machen, warum er gesessen hat – und, was noch viel wichtiger ist, wie oft. Es kommt gar nicht darauf an, welches Verbrechen er begangen hat; ist er zweimal im Gefängnis gewesen, so brauchen Sie keinerlei Mitleid mehr an ihn zu verschwenden … Ich habe dreimal gesessen.«

 

Seine Augen lächelten, aber die scharfen Falten um seinen Mund hatten sich vertieft. Die ganze Zeit hindurch blickte er das junge Mädchen unverwandt an, trank ihre unberührte, frische Schönheit in sich hinein. Mit einem plötzlichen Ruck drehte er sich um, winkte der Kellnerin und bezahlte. Dann stand er auf und reichte Mr. Bird die Hand.

 

»Bird und ich kämpfen einen gleichen Kampf.« Seine Worte richteten sich wieder an das junge Mädchen. »Nur stehen wir beide auf verschiedenen Seiten. Meine Seite verliert immer, hat aber den meisten Spaß dabei.«

 

Er drehte sich um, ging langsam auf die Tür zu und verschwand.

 

Kapitel 13

 

13

 

Man hatte Luke Maddison in ein Einzelzimmer gelegt, und eines Morgens las er auf der Fieberkarte über seinem Bett, daß sein Name Smith war.

 

»Wie lange heiße ich schon Smith?« Seine Stimme klang außerordentlich kräftig, wenn man daran dachte, daß er nur wenige Tage vorher kaum imstande war, zu flüstern.

 

Die gutmütige Krankenpflegerin lächelte ermutigend.

 

»Wenn wir den Namen der Leute nicht kennen, nennen wir sie Smith – mit Vorliebe, Bill«, sagte sie. »Aber Sie werden nett und vernünftig sein und uns Ihren richtigen Namen nennen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich glaube nicht. Smith ist doch ein sehr schöner Name, der von so viel netten Leuten getragen wird. Wenn mein Name in Wirklichkeit Smith wäre, würde ich vielleicht ein besserer Mensch sein«, fügte er halb spöttisch hinzu.

 

Seit sie ihn in das Einzelzimmer gelegt hatten, war der große, dicke Schutzmann, der so oft in seinen Fieberträumen eine Rolle gespielt hatte, verschwunden. An dem Tage, an dem man glaubte, er würde sterben, war ein Beamter geholt worden, um seine Aussagen aufzunehmen; aber er hatte nichts erzählt, was auch nur den geringsten Wert gehabt hätte. Außerdem hatte er einen der Detektive sagen hören, daß er als Zeuge von gar keiner Bedeutung für die Staatsanwaltschaft wäre. So konnte er sich gönnen, still zu liegen, die Stunden vorbeistreichen zu lassen, zu sehen, wie das blasse Sonnenlicht an der grünen Wand entlangstrich, wie die Nacht kam und dann wieder der Tag. Von seinem Zimmer aus konnte er das entfernte Geräusch der Straßenbahnen hören; lernte ihre Klingelzeichen, ihr Kommen und Gehen unterscheiden. Seine Gedanken beschäftigten sich nur wenige Augenblicke mit Margaret, und mit aller Kraft versuchte er, diese Gedanken zu vertreiben. Einmal hatte er die Absicht, Steele holen zu lassen, aber das Erscheinen des Prokuristen an seinem Bett würde seine Identität verraten haben, und er war doch bemüht, den Namen der Bank um jeden Preis reinzuhalten – oder war es Margarets Name? Wieder und wieder sagte er sich, daß er nicht einen Finger aufheben würde, um Margaret zu retten – aber er wußte, er log. Um Margarets willen war er zufrieden, Bill Smith zu bleiben.

 

Man gab ihm Zeitungen, aber er weigerte sich, sie zu lesen. Es gab noch einen Grund, warum »Bill Smith« ein so angenehmer Ausweg war. Hatte Maddisons Bank wirklich die Zahlungen eingestellt, dann war dies ein weiterer Grund, warum er nie wieder Luke Maddison sein durfte. Er war eigenartig apathisch, es war ihm gleichgültig, was mit der Bank vorgegangen war. Hatte an nichts und niemand Interesse. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er glaubte und hoffte, er würde sterben und so die vollständige Vergessenheit finden, nach der sein Herz schrie. Aber sein Herz schmerzte ihn beinah nicht mehr. Bald würde die Zeit kommen, wo er das Hospital verlassen konnte, und dann? Er war gleichgültig, auch der Zukunft gegenüber. Was kam es auch darauf an? Vielleicht würde er Blumen verkaufen wie das hübsche, junge Mädchen, das er eines Nachmittags in St. James Street im Schneetreiben gesehen hatte. Vielleicht könnte er Soldat werden; er war ja noch nicht zu alt. Vielleicht in ferne Gegenden gehen; er lächelte schwach. »Und Löwen schießen?« fragte in seinem Innern eine sarkastische Stimme.

 

Er machte sich keinerlei Gedanken über das, was kommen würde. Es war am sechzehnten oder siebzehnten Tage seines Krankenlagers – er wußte die Zahl selbst nicht einmal genau –, als die Schwester das Zimmer betrat.

 

»Ein Freund von Ihnen möchte Sie sprechen. Er sagt, er kennt Sie.«

 

»Ein Freund?« wiederholte Luke stirnrunzelnd. »Er muß mich sicherlich mit einem anderen verwechseln.«

 

»Nein, er fragte direkt nach Ihnen. Er wollte den Mann sprechen, der bei der Messerstecherei verletzt worden war; ich habe ihm natürlich nicht gesagt, daß Sie Smith heißen, denn das stimmt ja nicht.«

 

»O doch, Schwester, das stimmt schon – ich bin aber neugierig, wer das wohl sein könnte. Lassen Sie ihn, bitte, hereinkommen.«

 

Wer konnte das sein? Im ersten Augenblick – es war ja Wahnwitz – hatte er an Margaret, Margaret um Verzeihung flehend, gedacht. Er würde selbst über diesen törichten Gedanken gelacht haben, wenn Lachen ihm nicht so unsägliche Schmerzen in der Brust bereitete.

 

Er hatte den Mann, der hereinkam, niemals gesehen. Sein schäbiges Äußeres wurde durch einen Kragen von so blendender Weiße hervorgehoben, daß Luke – und nicht mit Unrecht – annahm, man hatte ihn ebenso wie die schreiende Krawatte erst zu diesem Zweck gekauft. Ein Mann mit einem sehr schmalen, scharfgezeichneten Gesicht; seine Augen durchsuchten unter den schweren Augenlidern hervor das ganze Zimmer, bevor er leise an das Bett heranschlich.

 

»Danke bestens, Schwester.« Seine Stimme klang heiser und erinnerte Luke an Lewing. Er fragte sich, ob dieser Mann vielleicht ein Verwandter von jenem wäre.

 

»Ist das Ihr Freund?« fragte die Krankenschwester.

 

»Das ist er, es stimmt schon, Miß«, sagte der Mann kopfnickend.

 

Die Schwester verschwand, und der Besucher beugte sich über Luke. Seine Kleider rochen muffig, als ob sie an einem feuchten Platze aufbewahrt worden wärm.

 

»Joe läßt sagen, daß er dir weiterhelfen will, weil du ihn nicht verpfiffen hast.«

 

»Was habe ich nicht?« fragte Luke.

 

»Verpfiffen. Frag doch nicht so dämlich! Wenn du ‚rauskommst, geh mal zu ihm.« Er steckte ein schmutziges Stück Papier unter das Kopfkissen, und Luke erkannte ein ihm gut vertrautes Knistern. »Fünf Pfund für dich. Joe läßt sagen, er wird für dich sorgen.«

 

»Gott segne ihn!« sagte Luke nachdrücklich, »wenn es jemals einen Mann gab, für den gesorgt werden müßte, so bin ich es.«

 

Kapitel 14

 

14

 

Am Tage seiner Entlassung aus dem Hospital wurde Luke Maddison gefragt, ob er einen Friseur haben wollte. Er fuhr sich über sein stachliges Gesicht, und sein Lächeln war beinahe voller Humor.

 

»Nein, ich finde mich gerade so nett«, sagte er. »Darf ich aber eitel genug sein und um einen Spiegel bitten?« Die Schwester gab ihm einen kleinen Handspiegel, und aus dem klaren Glase blickte ihm ein fremder, ungepflegt aussehender Mann mit langem Haar und Stoppelbart entgegen. Das Gesicht war blaß, die Nase spitz geworden, aber die Augen blickten so klar wie immer.

 

»Großer Gott!« murmelte er und pfiff vor sich hin.

 

»Sie sehen nicht besonders hübsch aus«, sagte die gutmütige Schwester.

 

»Bin ich niemals gewesen«, war Lukes beinahe vergnügte Antwort. Dann kam ihm ein Gedanke, und er runzelte die Stirn. »Kommt dieser verwünschte Schutzmann noch mal zurück?«

 

»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd, »er hat eingesehen, daß nichts mit Ihnen anzufangen ist. Das Urteil der Leichenschaukommission ist in der vergangenen Woche gefällt worden. Hatten Sie das nicht in der Zeitung gelesen?«

 

»Ich kann nicht lesen«, war Lukes Antwort. Aber die Schwester lachte nur.

 

Die Leichenschau war also vorüber, und höchstwahrscheinlich hatte sich der Vorsitzende mit seiner Aussage zufrieden gegeben, daß er Lewing zufällig getroffen hatte und bei ihm war, als sie angefallen wurden. Lange Zeit darnach las er einen Zeitungsbericht und fand sich selbst beschrieben als »William Smith ohne festes Domizil«.

 

»Der Mann (so sagte die Zeitung) befindet sich immer noch in einem sehr kritischen Zustand, und der Zeuge (der Arzt des Hospitals) erklärte, daß der Verwundete seiner Meinung nach kaum vor Ablauf eines Monats eine Aussage machen könnte, die den Mord aufklären würde.«

 

Luke verbrachte den Nachmittag in einem Armstuhl am Fenster und blickte auf den Fluß hinaus. Gegenüber lag das Parlamentsgebäude. Es erschien ihm merkwürdig, daß er wenigstens fünfzig der Männer persönlich kannte, deren Anwesenheit in diesem Gebäude durch die Flagge auf dem Glockenturm bekanntgegeben war – fünfzig Männer, von denen ein jeder bereitwilligst über die Westminsterbrücke eilen würde, um ihm zu helfen. Aber er wollte keine Hilfe. Er überdachte seine Lage mit einer solchen Ruhe, als ob es sich um einen anderen Menschen handelte. All das, was bisher Wert in seinem Leben gehabt hatte, war zertrümmert. Er war heimatlos im wahrsten Sinne des Wortes, denn es gab keinen Fleck auf der Erde oder kein Wesen, die für ihn Behaglichkeit und Glück bedeuteten. Er war der Mittelpunkt eines unendlichen Horizonts, in dem kein tröstendes Licht ihm zuwinkte. Die grausame Erfahrung, die er durchgemacht hatte, hatte allen Ehrgeiz in ihm getötet; der Wille zum Leben war geschwunden. Freudig und dankbar würde er gestorben sein.

 

Merkwürdig war es, daß er selten über Lewings Tod oder über den Messerstich nachdachte, der ihn tödlich verletzt in das Operationszimmer des Hospitals gebracht hatte. Er hatte keinen Haß gegen den Mann, der ihn so schwer verletzt hatte, war beinahe belustigt, daß er so völlig unbewußt das Opfer einer Vendetta geworden war, mit der er gar nichts zu tun hatte. Er las noch einmal die Worte auf dem Stück Papier, das der geheimnisvolle Freund ihm gebracht hatte:

 

»Geh nach der Ginnett-Street 339 in Lambeth zu Mrs. Fraser. Sie wird für dich sorgen.«

 

Er kicherte leise vor sich hin. Es gab also wirklich jemand in der Welt, der für ihn sorgen wollte; das kam ihm eigentlich komisch vor. Als er diese kurze Mitteilung zum erstenmal gelesen hatte, hätte er sie beinahe zerrissen und weggeworfen; bis zu seinem letzten Tage im Hospital hatte er nicht die geringste Absicht, die betreffende »Dame« aufzusuchen – erst als er alle möglichen Pläne gemacht und wieder verworfen hatte, dachte er an diese Aufforderung. Nach dem Büro zurückzugehen, war unmöglich, irgendwo auf dem Lande besaß er eine kleine Villa, aber er erinnerte sich undeutlich, daß auch diese Margaret verschrieben worden war.

 

Er könnte England verlassen, natürlich, aber das würde Geld kosten. Die Absicht, irgendeinen der Fäden zu berühren, die ihn in sein altes Leben zurückführen könnten, lag ihm gänzlich fern. Diese Episode seines Lebens war beendet. Es gab noch Abenteuer und andere Interessen in der Welt – wer weiß, ob er diese nicht in dem schäbigen Viertel von Ginnett-Street finden würde?

 

An einem sonnigen Nachmittag verließ er das Hospital und konnte ohne jede Hilfe seines Weges gehen. Er war durch keinerlei Gepäck beschwert. Die täglichen Übungen auf der Terrasse des Hospitals hatten ihm seine Kräfte wieder zurückgegeben … er konnte allein laufen. Aber er hatte an Gewicht verloren, und seine Kleider schlotterten ihm am Körper.

 

Ginnett Street war nicht ohne Schwierigkeit zu finden, aber schließlich gelangte er doch an sein Ziel: eine schmutzige, enge Straße in Borough. Nummer 339 war ein Gemüseladen an der Ecke einer noch schmaleren Straße, in der sich ein Holzzaun befand, durch den eine schmale Tür zu einem kleinen Hofe an der Rückseite des Hauses führte. Das Geschäft sah nicht besonders einladend aus; verblaßte Plakate an den Fensterscheiben teilten mit, daß man die beste Hauskohle und Feuerholz hier kaufen könnte. Das Innere war eng und schmutzig. Hinter dem Ladentisch ein Regal, in dessen Fächern schwindsüchtige Kartoffeln und einige welke Blumenkohlköpfe lagen. In der einen Ecke des Ladens ein Haufen Kohlen, daneben eine Waage. Die Bewohner der Ginnett-Street kauften augenscheinlich ihre Kohlen pfundweise ein.

 

Er stieß die Tür auf: eine gesprungene Glocke ertönte, und nach einigen Augenblicken tauchte aus dem Hintergrunde eine Frau mit raubvogelähnlichem Gesicht und unordentlichem Haar auf, die ihn mit jener Unfreundlichkeit begrüßte, die das normale Verhalten – er entdeckte dies später – des kleinen Geschäftsmannes in diesem Viertel war.

 

»Nun«, fragte sie schroff.

 

»Ich sollte zu Ihnen kommen und –« begann er, aber sie unterbrach ihn schnell.

 

»Sind Sie der Mann aus dem Hospital? – Smith?«

 

Luke nickte lächelnd. Sie hob einen Teil der Ladentafel auf und ließ ihn durchgehen.

 

»Wollen Sie, bitte, ‚reinkommen?« Ihr Ton war respektvoll, beinah unterwürfig. »Ich dachte, Sie kämen erst morgen ‚raus.«

 

Sie ging ihm voran in ein kleines, frostiges Wohnzimmer und machte die Tür nach dem Laden sorgfältig hinter ihm zu.

 

»Ich bin froh, daß ich das Zimmer für Sie schon heute in Ordnung gebracht habe«, sagte sie, »darin bin ich groß, bei mir ist alles rechtzeitig fertig. Wollen Sie mit nach oben kommen, Mr. Wie-heißen-Sie-doch-gleich?«

 

Neugierde veranlaßte ihn, ihr zu folgen. Beim ersten Anblick dieses schmutzigen Ladens war er versucht gewesen, seiner Wege zu gehen, um einen anderen Platz zu finden, wo er sein neues Leben beginnen könnte; aber jetzt ging er beinahe vergnügt hinter der Frau her. Eine der größten Schwächen Luke Maddisons war eine unausrottbare Neugier: eine Neugier, die ihn ständig fragen ließ: Was geschieht nun?

 

Man mußte vor nicht zu langer Zeit einen kleinen Anbau an das Haus gemacht haben; der Fußboden war fester, die Türen schienen solider zu sein. Sie öffnete eine und führte ihn in ein Zimmer, dessen Behaglichkeit ihn direkt überraschte. Erwartete er doch, etwas ganz besonders Abstoßendes zu finden. Möglicherweise hätte er in einem solchen Falle das Haus verlassen und wäre seiner Wege gegangen. Aber das Bett war gut, die Laken fleckenlos, die Ausstattung einfach aber bequem, und in dem Kamin brannte ein kleines Feuer.

 

»Um die feuchte Luft zu vertreiben«, erklärte sie beinahe entschuldigend und machte ihm auf diese Weise begreiflich, daß dieser Luxus nur Ausnahme wäre.

 

Auf dem Tisch lagen einige Bogen Briefpapier, daneben Tinte und Federhalter. Sie merkte, daß er sich darüber zu wundern schien, und erklärte:

 

»Ein gewisser Jemand dachte, Sie möchten vielleicht an Ihre Freunde schreiben, vor allen Dingen deswegen, weil Sie ja keinen Brief aus dem Hospital weggeschickt haben.«

 

»Woher, zum Teufel, weiß er denn das?« fragte er verwundert.

 

Mrs. Fraser lächelte geheimnisvoll.

 

»Er weiß alles«, war ihre Antwort.

 

Augenscheinlich war er eine Person von großer Bedeutung.

 

»Sie wollen doch sicher nichts mehr mit der Bande von Lewing zu tun haben?« sagte sie, und die ganze Zeit hindurch lagen ihre blassen Augen suchend auf seinem Gesicht. »Die Polizei hat die Bande in der letzten Woche zerstreut, und das war gut. Dieser Lewing würde seine eigene Mutter um ihre letzten Ersparnisse betrogen haben!«

 

»Ein ganz gemeiner Kerl also?«

 

»Wenn Sie mit ihm etwas zusammen unternommen hätten, würde er Sie totsicher ‚reingelegt haben – besonders, da Sie ja eigentlich ein feiner Herr sind.«

 

»Eines möchte ich erst mal richtigstellen, Mrs. Fraser«, sagte Luke. »Ich bin kein Mitglied von Mr. Lewings oder irgendeiner anderen Bande gewesen und –«

 

»Weiß schon … Er wußte das auch. Aber Lewing tat sich immer groß mit den Leuten, die ihm unter die Finger kamen, und er hat Wunderdinge von Ihnen erzählt, und wie großartig Sie fahren können. Sie sind Autofahrer?«

 

»Autofahrer? O ja, ich glaube sogar ein ganz guter«, lächelte Luke.

 

»Auch Rennen gewonnen, nicht wahr?« fragte sie in ihrer monotonen Weise.

 

Und es war wirklich der Fall, daß Luke in einem Herrenfahrerrennen in Brookland gewonnen hatte, obgleich er sich keineswegs als Rennfahrer ausgeben konnte.

 

»Das dachte ich mir«, nickte sie. »Renommieren! das hat Lewing den Hals gebrochen…«

 

Luke erinnerte sich an eine Unterhaltung, die er mit dem Toten gehabt hatte.

 

»War er nicht ein Freund von Gunner Haynes?«

 

Als sie diesen Namen hörte, änderte sich der Gesichtsausdruck der Frau in ganz unvermuteter Weise. Sie verzog das Gesicht und blinzelte, als ob sie plötzlich geblendet würde.

 

»Ich weiß nichts, gar nichts von Mr. Haynes«, sagte sie zurückhaltend. »Je weniger man sagt, desto besser. Wir haben niemals Ärger mit Mr. Haynes gehabt und wollen auch keinen haben.«

 

In ihrem Tone lag etwas, das ihm ohne jeden Zweifel mitteilte, daß Furcht die Grundlage ihres Respekts für den Gunner war. Er war »Mr.« Haynes für sie, und sie war außerordentlich besorgt, nichts zu sagen, das man respektlos nennen könnte.

 

Sie machte sich geschäftig daran, ihm eine Tasse Tee zu bereiten, und er setzte sich an den Tisch. Das Briefpapier war eine große Versuchung für ihn; aber an wen hätte er schreiben sollen? An Margaret? – daran dachte er nicht einmal.

 

Wenn eine Maus in einen Bienenkorb eindringt und von den empörten Bewohnern getötet wird, dann finden diese, daß der Eindringling zu schwer ist, um herausgebracht werden zu können. Sie überziehen ihn mit Wachs, und so wird er ein Teil ihres Hauses: ein Klumpen, der einstmals lebte, aber nun keine Bedeutung mehr hat. In gleicher Weise hatte er Margaret einbalsamiert und verdeckt. Sie war für ihn eine Art Hindernis geworden, an dessen Vorhandensein er sich gewöhnen mußte.

 

Aber Steele? Was dachte wohl Steele? Und jetzt kam ihm zum erstenmal ein entsetzlicher Gedanke. Wenn Steele nun annahm, er hätte Selbstmord begangen? Wenn nun alle Zeitungen Artikel brächten über einen »Millionär« – alle Menschen in seiner Lage waren für die Zeitungen nur Millionäre – wenn nun die Flüsse durchsucht würden und eine Beschreibung von ihm veröffentlicht war? Bei dem Gedanken überlief es ihn kalt.

 

Mrs. Fraser brachte ihm ein Tasse Tee, der sich als trinkbar erwies. Er machte eine verzweifelte Anstrengung, um Auskünfte von ihr zu erhalten, die er leichter bekommen haben würde, wenn er die Zeitungen der letzten Woche durchgelesen hätte. Sie hörte geduldig seine Fragen an und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, nichts Besonderes. Ein Mord in Finsbury, und dann hat man den Kerl gehenkt, der die alte Frau erschlagen hat.«

 

»Ich glaube mich zu erinnern, wie die Schwestern im Hospital von einem reichen Mann sprachen, der verschwunden war – seine Bank ging pleite oder so was Ähnliches… man sprach auch von Selbstmord …«

 

Sie verzog die Lippen und sagte kopfschüttelnd:

 

»Davon habe ich nichts gelesen, und das wäre mir sicher aufgefallen, denn meine Mutter hat schon all ihr Geld verloren, als die Webbick-Bank pleite ging …«

 

Als sie gegangen war, atmete er befreit auf. Möglicherweise hatte Steele der Polizei noch keinerlei Mitteilungen gemacht…

 

Er nahm einen Briefbogen und tauchte den Federhalter in die Tinte.