Kapitel 37

 

37

 

Während sie unten berieten, stieg Fing-Su zu seiner Kabine hinauf. Auf seinen Befehl brachte man einen bedauernswerten Menschen aus einem dunklen Loch, in dem er gesessen hatte. Stephen Narth war nur noch ein Wrack in seinem etwas ruinierten Frackanzug. Er hatte keinen Kragen mehr, sein Gesicht war schmutzig und unrasiert. Auch seine nächsten Freunde würden ihn so kaum erkannt haben. Die letzte grauenvolle Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Er war wieder bei Verstand, aber der Chinese sah, daß er dicht vor dem Zusammenbruch stand.

 

»Warum haben Sie mich auf dieses Schiff gebracht?« fragte er mit hohler Stimme. »Das ist kein faires Spiel, Fing-Su! Wo ist dieses Schwein von Spedwell?«

 

Fing-Su hätte darauf viel antworten können.

 

Spedwell war entwischt, aber sein eigenes Interesse ließ ihn ja schweigen. Er hatte Spedwell mit seinem hochmütigen Lächeln immer gehaßt, der sich in seinem anmaßenden Ton immer als Herr aufspielte. Er hatte ihn viel mehr gehaßt als den Trinker Leggat. Spedwell war für ihn ein brauchbarer Lehrer, er hatte sich wichtige, grundlegende Kenntnisse durch ihn aneignen können. Fing-Su hatte eine leichte Auffassungsgabe, war von Natur reich begabt und konnte schnell lernen. Obgleich er während seiner Universitätsstudien nicht mit militärischen Dingen in Berührung gekommen war, hatte er doch von Spedwell in dem einen Jahr ihrer Bekanntschaft eine Menge profitiert.

 

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo er ist«, sagte er. »Und ich werde ihm den Tod Leggats niemals verzeihen.«

 

Narth starrte ihn an.

 

»Dann war es also sein Plan?«

 

»Vollkommen«, sagte Fing-Su mit Nachdruck. Er war ein aalglatter Lügner, der seine Behauptungen jedoch immer glaubwürdig vortragen konnte. Und Narth war in einer solchen geistigen Verfassung, daß er geneigt war, irgendeine Version der gestrigen Vorgänge zu glauben, die seine eigene Schuld verringerte.

 

Mit ein paar Sätzen tischte ihm Fing-Su eine Darstellung der gestrigen Aufnahmefeier auf, die den Mann mit dem schwachen Gewissen besänftigte. Dann erzählte ihm der Chinese die wichtigen Neuigkeiten.

 

»Hier? An Bord? Joan?« keuchte Narth. »Aber wie kam sie denn hierher, und was macht Lynne an Bord dieses Schiffes?«

 

»Das möchte ich ja gerade wissen«, sagte Fing-Su schnell. »Gehen Sie hinunter und sprechen Sie mit ihm. Zeigen Sie ihm, daß es vollständig sinnlos ist, Widerstand zu leisten. Versprechen Sie ihm mein Wort, daß ihnen nichts geschehen soll, daß sie an Bord gut verpflegt werden und alle Bequemlichkeiten haben, bis ich sie in Bordeaux an Land setze. Sie müssen sich natürlich verpflichten, mir keine weiteren Schwierigkeiten zu machen.«

 

Er erklärte ihm noch länger die einzelnen Punkte seines Auftrages, und fünf Minuten später konnte Clifford Lynne von seinem Beobachtungsposten aus eine zusammengesunkene Gestalt sehen, die zur Kabine kam. Dann erkannte er ihn. Jetzt war ihm klar, wer mit Joan an Bord gekommen war. Aber was mochte aus Leggat geworden sein?

 

Schweigend hörte er Stephens Vorschlag an. Dann schüttelte er den Kopf.

 

»Ich würde eher mit einem lebendigen Haifisch einen Vertrag machen«, sagte er. »Gehen Sie zu Fing-Su zurück und sagen Sie ihm, daß es ihm nicht gelingen wird, uns zu ertränken oder auszuhungern, und daß er an dem Tage, wo wir an Land gehen und ich frei werde, gefangengesetzt wird, um seine Verurteilung wegen Mordes zu erwarten.«

 

»Es hat doch keinen Zweck, mit ihm zu streiten!« jammerte Narth in weinerlichem Tone.

 

Seine Nerven ließen ihn im Stich. Er war ja niemals ein starker Mann gewesen, aber jetzt war er nur noch ein Schatten des Stephen Narth, den Clifford zuerst kennengelernt hatte.

 

»Ist Leggat an Bord?« fragte Clifford.

 

Narth schüttelte den gebeugten Kopf und flüsterte etwas, das nur sein scharfes Ohr vernehmen konnte.

 

»Tot?« sagte er ungläubig. »Hat Fing-Su ihn ums Leben gebracht?«

 

Aber bevor er die Frage ausgesprochen hatte, lief Stephen Narth wie ein Wahnsinniger aus der Kabine.

 

Ihre Lage war gefährlich. Die Küste entschwand den Blicken mehr und mehr, und wenn nicht ein Wunder geschah, gab es keine andere Möglichkeit als Hungertod oder Übergabe. Und was Übergabe für Joan Bray bedeutete, konnte Clifford Lynne sich vorstellen. Unmittelbar nachdem sich Narth entfernt hatte, wurde die Tür der Kabine von außen abgeschlossen und zugeriegelt. Auf Inspektor Willings Rat ließen sie die schweren eisernen Blendfenster, die die Luken bedeckten, herunter und schraubten sie fest. Nun war es allerdings nicht mehr möglich, das Vorderdeck zu überschauen, auch die frische Luft war abgesperrt. Aber es ließ sich in der Kabine aushalten, zumal die gelbe Amah sie nicht mehr störte.

 

Clifford konnte sich nicht genug über die Ruhe und Gelassenheit Joans in diesen Augenblicken höchster Gefahr wundern. Wie es schien, war sie die Zuversichtlichste von allen, und obgleich sie der Hunger schon zu quälen begann, hörte man keine Klage von ihr.

 

Die Aussicht, noch länger in diesem engen Raum ausharren zu müssen, war entsetzlich. Glücklicherweise hatten sie keinen Mangel an Trinkwasser, denn der Inhalt des Waschtisch-Reservoirs war zwar ein wenig abgestanden, aber man konnte davon trinken. Clifford versuchte die Tür des inneren kleinen Raumes aufzudrücken, aber sie gab nicht nach.

 

»Wahrscheinlich führt sie zu den Offizierskabinen«, sagte Willing.

 

Joe Bray schaute in Gedanken auf die Tür.

 

»Wir können nicht heraus, aber sie können herein«, sagte er. »Besser wäre es, wenn wir sie verbarrikadierten. Oder sie werden uns in den Rücken fallen, Cliff. Wenn ich an das arme Mädchen denke –« Er schluckte.

 

»Welches arme Mädchen?«

 

Clifford hatte Mabels Existenz im Augenblick ganz vergessen.

 

Sie überließen Joan das kleine Schlafzimmer und setzten sich um den Tisch in der großen Kabine. Sie hatten alles durchsucht, ob sich nicht irgendwo Proviant vorfinden möchte, aber sie hatten nicht einmal einen Schiffszwieback gefunden, obgleich Inspektor Willing vermutete, daß eine große, schwarze Truhe im Schlafzimmer Joans eiserne Rationen für den Notfall enthielte. Aber sie konnten den Kasten weder öffnen noch fortbewegen.

 

Schließlich entdeckte Joe in seiner Rocktasche eine Tafel Schokolade, die Hälfte davon gab er Joan.

 

»Gewöhnlich habe ich ein Dutzend Tafeln bei mir, weil ich gern Süßigkeiten esse. Was ich im Augenblick haben möchte, das wäre ein gekochtes Huhn mit Knödeln –«

 

»Um alles in der Welt, seien Sie ruhig«, knurrte Willing.

 

Sie versuchten es mit Unterhaltungsspielen, um die Zeit totzuschlagen, aber dieser Versuch, sich über die Gefahr hinwegzutäuschen, war ein böser Fehlschlag.

 

Es wurde sechs Uhr – es wurde sieben Uhr. Joan war eingeschlafen, als Clifford nach ihr sah. Er hatte die Tür zum Schlafzimmer geschlossen, damit die Unterhaltung der Männer sie nicht stören sollte. Plötzlich öffnete sich die Verbindungstür, und das Mädchen erschien mit schreckensbleichem Gesicht in der Öffnung.

 

»Was gibt es?« fragte Clifford und sprang zu ihr hin.

 

»Es klopft jemand an der Tür«, sagte sie ganz leise. Sie zeigte auf die hintere Türe in der Wand. Lynne hielt sich in der Nähe und lauschte.

 

Tap, tap, tap!

 

Wieder hörte man das leise Pochen. Dann vernahm er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Sprungbereit wartete er, die Pistole in der Hand.

 

»Seien Sie unbesorgt«, flüsterte eine Stimme. »Machen Sie keinen Lärm, sonst hört man Sie.«

 

Die Tür öffnete sich zuerst einen Zoll breit und dann langsam etwas weiter. Das Gesicht eines Schwarzen wurde sichtbar. Er trug die verschossene Mütze eines Schiffsoffiziers.

 

»Ich bin Haki, der Zahlmeister«, flüsterte er. Seine Hand reichte einen schmalen Canvassack herein. »Wenn Fing-Su davon erfährt, ist es mit mir zu Ende«, fügte er schnell hinzu. Unmittelbar darauf schloß sich die Türe wieder und der Riegel wurde vorgeschoben.

 

In diesem kurzen Augenblick sah Clifford, daß die Vermutung des Detektivs stimmte. Er hatte einen schmutzigen Korridor wahrgenommen, in dem Kabinentüren sichtbar waren. Auch hatte er einen Raum gesehen, der nach dem Gang zu offen stand. Er trug nun den Sack in die große Kabine und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Ein Dutzend Brötchen, ziemlich frisch, ein großes Stück Käse und ein Stück Salzfleisch fielen auf die Platte. Clifford schöpfte Verdacht, brach ein Brötchen durch und hielt es dicht ans Licht.

 

»Wir müssen es riskieren«, sagte er. »Ich will zuerst davon essen, und wenn mir in einer halben Stunde nichts passiert ist, dann werden wir eine Mahlzeit halten, die besser schmecken soll wie ein Diner bei Ritz!«

 

Er schnitt eine Scheibe Fleisch ab, versuchte den Käse und das Brot. Er fühlte eine brutale Genugtuung, als er die hungrigen Blicke seiner Begleiter auf sich gerichtet sah. Die halbe Stunde ging vorüber, dann holte er Joan aus ihrer Kabine, und mit ihren Taschenmessern machten sie eine Mahlzeit für sie zurecht.

 

»Das eine steht jedenfalls fest – wir haben einen Freund an Bord. Welche Nationalität hatte der Mann wohl?« fragte Willing.

 

Clifford hatte in seiner Jugend zwei Jahre an der afrikanischen Küste zugebracht.

 

»Er ist ein Kru-Neger«, sagte er. »Sie sind keine schlechten Menschen, aber notorische Diebe.«

 

Sie hoben eine Portion des Essens für den nächsten Morgen auf, und auf Cliffords ernste Vorstellungen hin legte sich Joan wieder nieder und fiel in einen unruhigen Schlaf. Sie hörte das heimliche Klopfen an der Hintertüre nicht. Aber Clifford, der sich in die Nähe ihrer halbgeschlossenen Kabinentür gesetzt hatte, hörte das Zeichen. Leise ging er zur Tür und öffnete sie, ohne Joe zu wecken.

 

»Alle an Deck sind betrunken«, sagte der schwarze Offizier in einem selbstverständlichen Ton, als ob er den Normalzustand an Bord schildere. »Der Kapitän fürchtet, daß man diese Tür entdeckt. Es ist möglich, daß sie später versuchen, einen Angriff auf Sie zu machen – Sie müssen sich jedenfalls darauf vorbereiten. Wenn sie nicht kommen sollten, dann will ich um vier Uhr hier sein, und Sie müssen sich dann fertiggemacht haben, das Schiff zu verlassen.«

 

»Warum?« fragte Clifford.

 

Der Mann sah den Gang entlang, bevor er antwortete. »Gewehrfeuer ist nicht so schlimm, aber wenn man fürchten muß, ermordet zu werden, so ist das schrecklich. Der Kapitän denkt ebenso wie ich.«

 

»Wer ist denn ermordet worden?«

 

Der Mann sprach nicht sogleich. Hastig schloß er die Tür und kam erst nach einer halben Stunde wieder.

 

»Ich hörte, wie der wachthabende Offizier herunterkam«, sagte er im selben Plauderton. »Die Chinesen tun das oft – verlassen die Brücke mitten im Kanal, das ist doch empörend! Es ist hohe Zeit, daß wir diesen Kahn verlassen. Der verrückte Mensch ist umgebracht worden. Er kam gestern abend mit der jungen Dame an Bord.«

 

»Narth?« flüsterte Clifford todeserschrocken.

 

Der Mann nickte.

 

»Sicher. Er hatte Streit mit Fing-Su und der Chinese schlug ihm mit einer Flasche den Schädel ein. Sie warfen ihn über Bord – gerade nachdem ich Ihnen das Essen gebracht hatte.«

 

Er sah sich wieder um, dann machte er Cliff eine sehr wichtige Mitteilung.

 

»Der Kapitän und zwei Mann der Besatzung werden ein Rettungsboot aussetzen – etwa um vier Uhr«, flüsterte er. »Sie müssen an einem Tau in das Boot hinunterklettern. Wird die junge Dame das auch können?«

 

»Ja, das wird sie«, sagte Clifford, und die Tür schloß sich.

 

Er konnte sich vorstellen, was vorging. Bisher hatte Fing-Su, seitdem ihn die Träume von Kaiserherrschaft verrückt gemacht hatten, immer die Unterstützung erfahrener Ratgeber. Leggat war klug auf seine Weise, und Spedwell war in Sachen, die sein besonderes Fach angingen, unübertrefflich. Beide waren vorsichtige Leute, vor deren Urteil der chinesische Millionär Respekt hakte. Aber jetzt hatte Fing-Su keinen anderen Herrn mehr als seine eigene Laune. Sein Urteil wurde nur noch von seiner verwirrten Phantasie geleitet.

 

Die Wartezeit dehnte sich ins Endlose. Sie saßen im Kreis in der kleinen Kabine und wagten nicht zu sprechen aus Furcht, das Signal zu überhören oder von dem Angriff überrascht zu werden, den der Zahlmeister vorausgesagt hatte. Die Zeiger der Uhr schienen so langsam vorwärts zu gehen, daß Cliff ein- oder zweimal dachte, seine Uhr wäre stehengeblieben.

 

Drei Uhr war vorbei, der Klang der Schiffsglocke kam schwach durch die geschlossenen Luken. Dann hörte man ein Klopfen an der Tür und sie drehte sich in ihren Angeln. Der Zahlmeister erschien wieder in der Türöffnung. Er trug schwere Wasserstiefel und hatte einen Revolvergürtel umgeschnallt. Er wartete und winkte ihnen, zu kommen. Clifford folgte und nahm Joan bei der Hand, Joe Bray und Willing bildeten die Nachhut. Joe hielt in jeder Hand eine Pistole und war wütend wie ein angeschossener Eber.

 

Sie mußten an der erleuchteten Küche vorbei, und ihr Führer legte den Finger an die Lippen. Joan konnte den breiten Rücken des chinesischen Koches sehen, der sich über einen dampfenden Kochtopf bückte. Aber sie kamen sicher vorbei zu dem hinteren Wellendeck.

 

Zwei eiserne Türen in der Schiffsseite waren geöffnet. Über den Rand des Decks spannte sich ein straffes Tau. Als Clifford hinuntersah, bemerkte er, daß das Seil an einem großen, gedeckten Boot befestigt war, in dem drei vermummte Männer saßen. Er wandte sich an Joan und flüsterte ihr ins Ohr:

 

»Laß dich an diesem Tau langsam hinunter.«

 

Der Zahlmeister legte eine dünne Leine um die Taille der jungen Dame, band sie fest und sagte mit leiser Stimme:

 

»Verlieren Sie keine Zeit … ich hatte ein Radiotelegramm in der Nacht.« Er erklärte nicht weiter, was dies mit der Flucht zu tun hatte.

 

Während die beiden oben die Sicherheitsleine hielten, glitt Joan langsam an dem rauhen Tau hinab, das ihr die Finger wundscheuerte.

 

Das Boot an der Schiffsseite schien mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zu rasen, obgleich es sich nicht schneller vorwärtsbewegte als der Dampfer. Einer der Männer reichte nach oben, faßte sie ohne viel Federlesens um die Taille und zog sie in das Boot. Joe Bray folgte und zeigte eine jugendliche Beweglichkeit, als er sich Hand über Hand in die Dunkelheit hinabließ. Der Zahlmeister war der letzte, der das Schiff verließ und mit größter Eile über den Bug des Bootes kletterte.

 

»Macht klar!« sagte eine grobe Stimme.

 

Der Zahlmeister suchte auf dem Boden des Bootes, fand eine Axt und kappte das Tau mit einem Hieb. Gleich darauf wurden sie in dem Kielwasser des Schiffes hin- und hergeworfen und von einer Seite auf die andere geworfen. Es fehlte nicht viel, daß das Boot umschlug, denn die eisernen Wände der »Umveli« streiften die Rudergabeln. Als das Boot vom Schiff abgekommen war, hörten sie einen Schrei. Ein Scheinwerfer leuchtete von der Brücke auf. Trotz des gurgelnden Wassers und des Geräusches der Schiffsschraube hörten sie deutlich einen Pfiff – die »Umveli« beschrieb einen großen Kreis.

 

»Sie haben uns bemerkt«, stieß Clifford zwischen den Zähnen hervor.

 

Der Zahlmeister grinste vor Furcht, starrte auf das wendende Schiff und brummte. Er wandte sich um, rannte zur Mitte des Bootes und half einem der schwarzen Matrosen, den Mast aufzurichten. Der Kapitän, eine groteske Gestalt in goldverbrämter Mütze und den bunten Rangabzeichen, zog verzweifelt das Segel hoch. Ein frischer Nordwestwind blies scharf. Im nächsten Augenblick legte sich das Boot auf die Seite und lag in voller Fahrt vor dem Winde. Aber wie konnten sie hoffen, einem Dampfer zu entrinnen, der fünfzehn Knoten die Stunde machte?

 

Die Sirenen des Schiffes heulten. Sie schauten zu dem Dampfer hinüber, der sie nun verfolgte. Von der Kommandobrücke leuchtete das Aufblitzen einer Signallampe, und der Kapitän erklärte laut die Bedeutung der Zeichen.

 

»Gelber Nigger!« das war alles, trotzdem der Kapitän der dunkelste Mann war, den Clifford jemals gesehen halte.

 

Das Boot lavierte. Der Kapitän hatte scheinbar sehr guten Mut, mehr als alle anderen. Clifford ließ sich an der Seite Joans nieder, die in eine wasserdichte Decke eingehüllt auf dem Boden des Bootes lag.

 

»Keine Angst haben, Liebling«, sagte er.

 

Sie sah ihn mit einem wehmütigen Lächeln an, und diese Antwort genügte ihm.

 

Der Kapitän sprach ein rauhes Küstenenglisch, das drastisch und bilderreich war.

 

»Elefant nicht fangen Fliege«, sagte er. »Große Schiff es nicht fangen kleine Boot! Wenn Chines Kutter auf Wasser bringen, Kutter es nicht fangen Segelboot!«

 

»Trotzdem ist die Gefahr groß genug, Kapitän!«

 

Der Neger mit dem breiten Gesicht mußte es zugeben.

 

»Jetzt sie bringen den Tak-tak-Gewehr«, sagte er, »aber bald sehen anderen Schiff.«

 

Mit dieser Hoffnung mußten sie sich trösten. Noch waren sie im englischen Kanal, der Hauptwasserstraße Nordeuropas. Hier ist der Schiffsverkehr außergewöhnlich stark. Aber im Augenblick konnte man keine Rauchfahne oder irgendein Segel entdecken.

 

Clifford wandte sich an den Zahlmeister.

 

»Ob wir durchkommen oder nicht, in jedem Fall sind wir Ihnen zu großem Dank verpachtet, mein Freund.« Hakis Gesicht strahlte.

 

»Wir hätten früher von Bord gehen müssen, aber der Kapitän wollte noch nicht«, sagte er. »Schließlich hat er sich aber nach dem Radiotelegramm doch entschlossen!«

 

»Radiotelegramm?«

 

Der Zahlmeister zog einen schmutzigen Streifen Papier aus seiner Tasche hervor.

 

»Das habe ich letzte Nacht erhalten«, sagte er. Clifford hatte Mühe, die gekritzelten Worte zu entziffern.

 

Verlassen Sie das Schiff vor vier Uhr. Alle mitnehmen, die leben bleiben sollen. Wenn Miß Bray an Bord, mitnehmen. Admiralität sendet Zerstörer »Sunbright«, Sie einzuholen.                          Soldat.

 

»Das ist der Major«, erklärte der Zahlmeister. »Wir nannten ihn Soldat. Aber es wäre ja möglich gewesen, daß die ›Sunbright‹ uns nicht bekommen hätte – aber wenn sie uns eingeholt hätte, dann wäre keiner am Leben geblieben, der Fing-Su hätte belasten können.«

 

Clifford war verwundert, was der Kapitän mit dem Tak-tak-Gewehr meinte, aber leider kam die Aufklärung nur zu schnell.

 

Tak-tak-tak-tak-tak-tak!

 

Sie hatten ein Maschinengewehr auf der oberen Reling in Stellung gebracht. Die Geschosse ließen das Wasser hoch aufspritzen. Die Schüsse lagen in einiger Entfernung vor dem Boot. Der Kapitän wandte mit starkem Ruck das Steuer und nahm einen anderen Kurs. Sie waren etwas weniger als fünfhundert Meter von dem Dampfer entfernt. Clifford begriff, daß es eine verhältnismäßig leichte Sache sei, das Boot mit Schüssen zu durchlöchern, wenn es erst einmal heller war. Fing-Su würde sie nicht entkommen lassen, da ja sein Leben davon abhing.

 

Tak-tak-tak-tak-tak-tak!

 

Diesmal lagen die Schüsse hoch, die Geschosse fegten durch die Canvassegel. Ein großer Holzsplitter flog vom Mast.

 

»Hinlegen!« rief der Zahlmeister mit schriller Stimme und gestikulierte wie wahnsinnig.

 

Schon das drittemal sah er nach seiner silbernen Uhr.

 

Die »Umveli« hatte wieder volle Fahrt aufgenommen. Als sie in die Höhe des Bootes kam, drehte sie auf dasselbe zu. Wieder änderte der Kapitän den Kurs und schwenkte in einem großen Bogen direkt in entgegengesetzte Richtung ein. Einzelne Schützen feuerten von Bord – die Treffer lagen unheimlich nahe. In das Klick-klack der aufschlagenden Gewehrkugeln mischte sich nun auch das Dröhnen einer schweren Waffe.

 

»Ein Siebenpfünder«, sagte Joe kurz. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als etwas gegen den Mast schlug.

 

Ein Krachen und Splittern! Der Mast mit dem Segel sank auf die Seite.

 

»Jetzt ist es zu Ende mit uns«, sagte der Zahlmeister. Er nahm mit großer Kaltblütigkeit seinen Revolver aus der Ledertasche und entsicherte.

 

Sie konnten sehen, wie von der »Umveli« Boote heruntergelassen wurden. Es waren drei, sie kamen nacheinander auf das Wasser. Die »Umveli« selbst fuhr nur noch ganz langsam, die Maschinen waren auf rückwärts gestellt. Aber der Kapitän ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen. Mit Hilfe eines seiner Matrosen kappte er Mast und Segel und warf sie über Bord. Im Nu waren die Ruder in die Gabeln gelegt.

 

»Alle Mann an die Ruder!« rief er mit lauter Stimme.

 

Clifford folgte sofort der Aufforderung.

 

Aber das Boot war groß und viel weniger handlich als die leichten Kutter, die sie verfolgten.

 

»Es muß ein Wunder geschehen, um uns zu retten!« sagte Clifford – und das Wunder geschah.

 

Zwei Boote stießen bereits von dem Dampfer ab, das dritte füllte sich gerade mit Matrosen, als von dem unteren Deck eine hell aufleuchtende Stichflamme emporschlug und ein ohrenbetäubender, krachender Knall ertönte. Gleich darauf folgte eine zweite noch heftigere Explosion.

 

Sekundenlange Stille trat ein, dann hörte man wirre Kommandorufe und die schrillen Pfeifen der Offiziere. Die beiden Boote, die bereits abgestoßen hatten, kehrten um. Dichter schwarzer Rauch strömte über die Decks. Der Schornstein und der größte Teil des Schiffes wurden im lichten Morgen unsichtbar.

 

»Was mag an Bord explodiert sein?« fragte der Zahlmeister heiser. Aber der Kapitän rief:

 

»Rudert alle Mann!«

 

In scharfem Takt hoben und senkten sich die Ruder.

 

»Das Schiff sinkt«, rief Joe entsetzt. Und er sprach die Wahrheit.

 

Ein halber Zentner Dynamit hatte nicht nur ein unheimlich großes Loch durch die Decks geschlagen, sondern auch die großen Munitionsvorräte in Brand gesteckt, die der Dampfer als Fracht führte. Major Spedwell hakte das Uhrwerk des Zeitzünders so gestellt, daß die Sprengladung sechsundzwanzig Stunden nach Abfahrt des Schiffes explodieren mußte. Die »Umveli« hing stark nach der einen Seite über. Es sah aus, als ob sie todmüde umsinken wollte. Dichte Rauchmassen qualmten aus den Luken. Flammen züngelten aus dem Schiffsrumpf. Plötzlich ein wildes Durcheinanderrennen von Menschen nach den Booten.

 

In ihrer Verwirrung hatten die Geretteten zu rudern aufgehört und stützten sich auf die Riemen. Ihre Augen starrten auf das grausige Schauspiel.

 

Da rief der Zahlmeister warnend: »Wir tun besser, soweit wie möglich von dem Schiff fortzukommen!«

 

Kurze Zeit nachher hörte man noch eine dritte Explosion. Die »Umveli« brach in sich zusammen. Ihr zackig zerrissener Rumpf versank in einem wildaufschäumenden, ungeheuren Wasserwirbel.

 

Nur vier Boote waren auf der Wasserfläche noch zu sehen. Sie nahmen den Kurs auf sie.

 

»Rudern!« schrie der Kapitän. Wieder griffen sie in die Riemen.

 

Aber ihre Anstrengungen führten zum Erfolg. Als Clifford Lynne sich umsah, erblickte er steuerbords eine schwarze Rauchfahne am Horizont und konnte im Morgengrauen ein langes, graues Schiff erkennen.

 

Sie erreichten S.M. Zerstörer »Sunbright« fünfundzwanzig Minuten, ehe die Reste der Schiffsmannschaft an dem Fallreep anlegten. Sie waren vor Furcht und Entsetzen halb wahnsinnig, warfen ihre Gewehre ins Wasser und ergaben sich auf Gnade und Ungnade.

 

Fing-Su war nicht unter ihnen, und als Clifford einen der zitternden Offiziere fragte, erfuhr er das Geschick des Kaisers in einigen wenigen kurzen Worten.

 

»Fing-Su … ich sah seinen Kopf … und seinen Körper … hier ein Stück und dort ein Stück …«

 

Kapitel 38

 

38

 

Acht Monate später brachte Mr. Joe Bray seine junge Frau zu seinem Haus auf den Hügeln oberhalb von Siangtan. Im Heiratsregister stand »Joseph Henry Bray, Junggeselle, 51 Jahre.«

 

»Und ich möchte bemerken,« sagte Clifford etwas anzüglich, »daß Leute, die falsche Angaben im Heiratsregister machen, mit Zuchthaus bestraft werden.«

 

Joe Bray erklärte Mabel den Grund für die unversöhnliche Abneigung Cliffords vor der Abreise von Europa.

 

»Mein jugendliches Aussehen läßt ihn älter erscheinen«, wußte er zu berichten, und Mabel stimmte ihm vollkommen bei, denn sie hatte gerade an demselben Morgen in der Rue de la Paix wundervolle Kleider und Schmuck kaufen können, wie sie nur ein Millionär seiner geliebten Frau zu Füßen legen kann.

 

»Der Unterschied zwischen unserer Heirat und der seinen ist nur der, Mabel«, sagte er selbstzufrieden, »wir haben aus Liebe geheiratet und er – um mich so auszudrücken – nun ja –« Während er dies sagte, brachte ihm ein Kellner einen kräftigen Trank, den er behaglich durch einen Strohhalm schlürfte.

 

»Er hätte Joan niemals geheiratet, wenn du ihn nicht dazu angestiftet hättest«, sagte Mabel nicht gerade sehr liebenswürdig. »Ich hoffe, sie wird glücklich werden. Ich habe zwar meine starken Zweifel, aber ich hoffe doch.«

 

Mabel kam nach Siangtan und wurde von der europäischen Kolonie dieser schönen Stadt mit allem Pomp empfangen, wie es nur jemand wünschen konnte, der in so nahen Beziehungen zu der Yünnan-Gesellschaft stand. Und merkwürdig; sie liebte Siangtan, denn es war besser, in einer kleinen Stadt eine große Rolle zu spielen, als in Sunningdale eine Null zu sein.

 

Eines Tages erhielten sie einen Brief von Joan, aus dem deutlich hervorging, daß sie über alle Maßen glücklich war. Mabel las den Brief und rümpfte die Nase ein wenig.

 

»›Die Linie fortführen.‹ Was kann sie damit meinen?« fragte sie. Sie ahnte etwas.

 

Joe hustete und erklärte es ihr.

 

»Das war auch meine Idee«, sagte er bescheiden.

 

 

Ende.

 

Kapitel 27

 

27

 

Fing-Su saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Diwan in seinem mit übertriebener Eleganz eingerichteten Bureau. Aufdringliche orientalische Düfte stiegen aus großen Räucherbecken auf. Die Uhren der Kirchtürme von London zeigten vier Uhr. Dächer und Türme der großen Stadt hoben sich als dunkler Schattenriß gegen die frühe Morgendämmerung ab.

 

Um diese Stunde gaben die Großen in China ihre Audienzen. Fing-Su saß da in einem mit reicher Stickerei überladenen Gewande, in seidenen Beinkleidern und Schuhen, deren Sohlen mit weichem Filz gepolstert waren. Aus seinem Kopfe trug er die Zeichen eines Ranges und Titels, die ihm nicht zustanden.

 

Zwischen den Lippen hielt er eine lange, starke Pfeife mit einem mikroskopisch kleinen Kopf. Aber er rauchte kein Opium, sondern Tabak. Ein kleines Chinesenmädchen mit dicken, schweren Augenlidern saß in einer Ecke des Raumes auf den Fersen. Sie bediente ihn, in jedem Augenblick gewärtig, seine Pfeife zu stopfen, oder seine Teetasse zu füllen, die neben ihm stand. Ein ungesund aussehender Chinese saß in kauernder Haltung zu seinen Füßen. Er trug europäische Kleider, und ein steifer Filzhut lag neben ihm auf dem Fußboden. Fing-Su hob die henkellose Tasse von dem niedrigen Tisch an seiner Seite und schlürfte geräuschvoll Tee.

 

»Von allen Leuten in diesem üblen Lande habe ich dich ausgesucht, Li Fu«, sagte er, indem er seine Tasse niedersetzte. »Ich will dich gut bezahlen, und wenn die Sache gelingt, bekommst du noch eine große Belohnung obendrein. Dein Name wurde mir genannt wegen deiner Kühnheit, und weil du diese Stadt soviel besser kennst als ich, der ich so viele Jahre auf der Universität zugebracht habe.«

 

Wenn Li Fu sich bei diesem Vorschlag nicht wohl fühlte, so war in seinem pockennarbigen Gesicht doch nichts davon zu entdecken.

 

»Es gibt ein Gesetz in diesem Lande, das sehr hart gegen Fremde ist«, sagte er. »Nach diesem Gesetz kann man mich gefangennehmen, auf ein Schiff setzen und nach China zurückbringen. Ich war schon drei Monate in einem Gefängnis, wo keiner den andern sprechen kann. Und bedenke, Fing-Su, in China bin ich ein toter Mann. Der Tuchun von Lanchow hat einen Eid geschworen, meinen Kopf in einem Korb über dem Stadttor aufzuhängen.«

 

Fing-Su rauchte mit großem Genuß und sandte dicke blaue Ringe zu der dunkelroten Decke.

 

»Lanchow ist nicht ganz China«, sagte er. »Auch wird sich in nächster Zeit vieles ändern. Und wer weiß, ob du nicht selbst eines Tages Tuchun sein wirst? Meine Freunde werden reich belohnt werden. Du wirst Geld bekommen, aber nicht Messing-Cash, Kupfermünzen oder mexikanische Dollars, sondern Gold. Ich weiß einen Ort, wo eine Statue aus purem Golde steht…«

 

Er sprach von Urga, dem mongolischen Mekka, wo Reliquienschreine und eine große goldene Buddhafigur aus purem Golde stehen, und wo in den Kellern des »Lebenden Buddha« ein Schatz aufbewahrt wird, der so groß ist, daß man ihn nicht in einer Geldsumme ausdrücken kann.

 

Li Fu hörte zu, ohne daß man merkte, daß die Worte Fing-Sus Eindruck auf ihn gemacht hätten. Der Entschluß wurde ihm schwer. Auf der einen Seite drohten die dunklen Tore des Pentonville-Gefängnisses, auf der anderen Seite lockte die reiche Belohnung, die ihm soeben angeboten worden war. Er war kein armer Mann, wie die Chinesen in London es gewöhnlich sind, aber sein Landsmann hatte ihm ein großes Vermögen in Aussicht gestellt, das er sofort erwerben konnte.

 

»Du hast den Vorteil, daß du eine weiße Frau hast«, fuhr Fing-Su in seiner dünnen Stimme fort. »Unter diesen Umständen würde es für dich doch eine einfache Sache sein. Niemand würde es herausbringe«.«

 

Li Fu blickte auf.

 

»Warum gibst du mir diesen Auftrag? Ich bin keiner von deiner Sippe. Du hast doch Hunderte von Leuten, die dir wie Sklaven gehorchen.«

 

Fing-Su klopfte die Asche seiner Pfeife ab. Durch eine Handbewegung gab er zu erkennen, daß er sie nicht wieder gefüllt haben wollte. Dann lehnte er sich in seine seidenen Kissen zurück.

 

»Der Weise hat gesagt:›Man muß dem Sklaven Befehle erteilen, und des Herrn Wille wird ausgeführt werden‹,« zitierte er. »Ich kann nicht hinter jedem meiner Leute stehen und sagen: ›Tue dies‹. Wenn ich sagen würde ›Li Fu hat mich beleidigt, laßt ihn sterben‹, dann würdest du sterben, weil es leicht ist, jemanden das Leben zu nehmen. Aber diesmal muß derjenige, der meine Befehle ausführen soll, klug und schlau sein, sonst verliere ich mein Gesicht.«

 

Li Fu überlegte sich die Sache, er drehte seine Daumen gleichmäßig umeinander. Sein flinker Geist war beschäftigt. Hier bot sich ihm ein Verdienst, der viel einträglicher war als sein Kokainschmuggel. Aus diesem Wege konnte er schneller zu Vermögen kommen als durch das Zusammenraffen von Kupfermünzen bei einem verbotenen Glücksspiel. Seine Frau, die nicht ganz weiß war, aber weiß genug, um die Rolle zu spielen, die Fing-Su ihr zudachte, hatte in der Tat schon die Räume gemietet, die ein schlimmeres Geschäft maskieren sollten als einen Putzladen.

 

Fing-Su wußte, daß Li Fu ein solches Ausstellungszimmer in Fitzroy Square einrichten wollte. Er kannte auch Li Fus Verbindungen, denn die Geheimnisse und das unterirdische Treiben der Chinesenkolonie wurden ihm durch den Klatsch zugetragen.

 

»Du wirst zuerst zahlen«, sagte Li Fu. Dann folgte wie stets ein höfliches Feilschen, denn zwei Chinesen schließen niemals ein Geschäft zu dem erstgenannten Preise ab.

 

Schließlich wurde Li Fu entlassen.

 

Der Mann, der nun aus dem kleinen Vorzimmer hereinkam, war gewöhnt, daß ihn sein Chef warten ließ. Aber die vorherige Unterredung hatte denn doch länger gedauert, als er erwartete. Major Spedwell war deshalb ermüdet und nicht in bester Stimmung.

 

»Nun wohl, haben Sie die Sache arrangiert?« fragte er kurz.

 

Fing-Su betrachtete ihn durch seine halbgeschlossenen Augenlider.

 

»Ja, es war unvermeidlich!« sagte er.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie die junge Dame ohne großes Aufsehen in Ihre Gewalt bekommen. Wirklich nicht.« Spedwell ließ sich in einen Sessel sinken und zündete sich eine Zigarre an. »Sie spielen hier mit dem Feuer, und ich bin nicht sicher, daß wir nicht in den nächsten Stunden einen großen Skandal erleben werden«, sagte er. »Lynne war in Scotland Yard –«

 

»Scotland Yard –« murmelte der andere mit einem spöttischen Lächeln.

 

»Da gibt es nichts zu grinsen«, sagte Spedwell rasch. »Diese Hunde schnappen schnell zu, wenn sie erst einmal auf die Spur gesetzt sind! Und ich bin schon die ganzen Tage beobachtet worden.«

 

Fing-Su richtete sich plötzlich aus.

 

»Sie?«

 

Spedwell nickte.

 

»Ich dachte, daß Sie Interesse an dieser Mitteilung hätten. Und ich will Ihnen noch mehr erzählen. Miß Bray wird ebenso sicher bewacht. Leggat hat viel mehr geschadet, als wir wissen – was werden Sie mit ihm anfangen?« fragte er plötzlich.

 

Fing-Su zuckte seine seidenen Schultern.

 

»Lassen Sie ihn laufen«, sagte er gleichgültig.

 

Spedwell kaute an seiner Zigarre und blickte auf die weiß gestrichenen Fensterrahmen.

 

»Scotland Yard ist alarmiert und bereits in Tätigkeit«, sagte er mit Nachdruck. »Glauben Sie nicht, wenn wir Lynne gefangensetzen, daß er nachher alles ausplaudert?–«

 

»Das ist schon möglich.« Ungeduld und Ermüdung konnte man aus Fing-Sus Stimme heraushören. »Trotzdem habe ich bestimmt, daß man so mit ihm verfahren soll, wie Sie es ja wissen. Dieses Land hemmt mich in jeder Weise!« Er erhob sich und begann in dem Räume auf und ab zu gehen. »So viele Dinge würden in China viel einfacher sein! Lynne – – wo würde er sein? Man würde eines Tages einen kopflosen Körper in einer verlassenen Gegend finden – oder in eine Soldatenuniform gesteckt, würde er in irgendeinem Festungsgraben modern. – Diese Frau interessiert mich.«

 

Er stand still und nagte an seiner dünnen Lippe.

 

»Miß Bray?«

 

»Ja … Sie ist, wie ich vermute, hübsch, ja, sehr hübsch.« Er nickte. »Ich würde sie gern einmal in der Kleidung unserer Frauen sehen. Das würde schrecklich für Lynne sein, wenn er wüßte, daß sie irgendwo in China – in einem unzugänglichen Platze sich aufhielte – meine Armeen zwischen ihm und ihr –«

 

Spedwell erhob sich langsam. Ein häßlicher Blick war in seinem Gesicht.

 

»Diesen hübschen, netten Traum, den Sie sich da ausgedacht haben, können Sie ein für allemal aus Ihrem Gedächtnis streichen«, sagte er kühl. »Der jungen Dame darf nichts geschehen – nichts Derartiges!«

 

Fing-Su lächelte.

 

»Mein lieber Spedwell, wie amüsant! Was für einen sonderbar übertriebenen Wert legt ihr Engländer euren Frauen bei, daß ihr deshalb große Vermögen aufs Spiel setzt – aber ich machte ja nur Scherz. Sie gilt mir nichts. Ich würde lieber alle Frauen der Welt im Stich lassen, als Ihre Hilfe und Freundschaft verlieren.«

 

Aber Spedwells Argwohn war nicht so leicht zerstreut. Er wußte genau, wann und warum seine Dienste überflüssig werden würden, denn der Augenblick war nahe, wo sich Fing-Su durch einen rücksichtslosen Schritt von all diesen hindernden Einflüssen, die ihn umklammerten und nicht vorwärtskommen ließen, befreien wollte. Und er wußte genau, daß alles dazu vorbereitet war.

 

»Wie entwickeln sich die Dinge in China?« fragte er, um abzulenken.

 

»Die Stunde der Entscheidung ist nahe«, sagte der Chinese mit leiser Stimme. »Die Befehlshaber der beiden Armeen haben sich verständigt. Wei-pa-fu will von Harbin abmarschieren, und Chi-sa-lo hat seine Kräfte in unmittelbarer Nähe von Peking konzentriert. Jetzt ist es nur noch eine Geldfrage. Die Geschütze sind gelandet worden, aber ich hätte sie nicht zu senden brauchen. Munition und Ausrüstung ist alles, was Wei-pa-fu notwendig hat. Wenn ich erst einmal die Verfügung über die Reservefonds der Yünnan-Gesellschaft habe, kann ich alles sehr leicht arrangieren. Aber natürlich wollen die Generäle ihre Belohnung haben – vier Millionen würden mich zum Kaiser von China machen.«

 

Spedwell drehte gedankenvoll an seinem kleinen Schnurrbart.

 

»Und wieviel würde es kosten, daß Sie Kaiser blieben?«

 

Aber Fing-Su ließ sich durch diese Frage nicht beirren.

 

»Wenn ich erst einmal zur Macht gekommen bin, würde es schwierig sein, mich beiseite zu stoßen«, sagte er. »Wenn ich den europäischen Mächten Konzessionen garantiere, läuft ihr Interesse mit dem meinigen parallel.«

 

Spedwell hörte mit Verwunderung, mit welch ruhigem Vertrauen dieser Kaufmannssohn einen Thron mit Gold bezahlen wollte, den die Mings und Mandschus nur durch ihre persönliche Tüchtigkeit erworben hatten. Und während Fing-Su immer weiter sprach, wurde draußen die Welt immer lichter, und die finsteren Umrißlinien des Towers, in dem soviel aufstrebender Ehrgeiz hatte sterben müssen, verloren ihre Schrecken in der sich ausbreitenden Helligkeit des Tages.

 

Kapitel 28

 

28

 

Mr. Stephen North war durch die Umstände gezwungen worden, die ganze Nacht in der Stadt zuzubringen, und in diesem einen Falle schwang sich seine Tochter zu einer Selbstlosigkeit auf.

 

»Es hat gar keinen Zweck, Vater zu beunruhigen«, sagte sie zu ihrer nervösen Schwester. »Außerdem hat Mr. Joseph gesagt, daß gegen mich nichts Böses beabsichtigt war – diese Kerle haben mich mit Joan verwechselt.«

 

»Joseph – ist er ein Jude?« fragte Letty. Die Neugierde überwand im Augenblick ihre Bestürzung.

 

»Er steht nicht so aus«, war die vorsichtige Antwort.

 

Clifford sah seine Braut weder an diesem ereignisreichen Abend noch am folgenden Morgen. Er wußte nur zu gut, daß Mabel mit ihrer entfernten Cousine verwechselt worden war. Eine immer größere Sorge bemächtigte sich seiner. Nach seiner Ankunft in der Stadt galt sein erster Besuch Scotland Yard. Hier erhielt er die befriedigende Nachricht, daß eine Anzahl von Beamten entsandt war, um Sunni Lodge zu bewachen.

 

»Sie brauchen nun aber auch jemand, der sich um Sie bekümmert«, sagte der Offizier lächelnd, als Clifford Lynne ihm von dem Ammoniakattentat erzählte. »Beiläufig bemerkt – diese Ammoniakspritze im Hut ist ein alter Trick!«

 

Clifford nickte.

 

»Ich bin mit mir selbst nicht sehr zufrieden, daß ich mich so übertölpeln ließ«, sagte er.

 

»Was nun Miß Bray angeht, so habe ich bereits einen Mann nach Sunningdale geschickt mit dem Auftrag, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen«, bemerkte der Inspektor. »Gerade im Augenblick hat er die telephonische Meldung durchgegeben, daß das Auto von Mr. Narth nicht in Ordnung ist, so daß es ihm nicht allzu schwer sein wird, sie stets im Auge zu behalten.«

 

»Gott sei Dank«, sagte Clifford erleichtert.

 

Dann ging er zu seiner Wohnung zurück, um alle Einzelheiten für die Streife vorzubereiten, die er in der nächsten Nacht unternehmen wollte.

 

Um fünf Uhr nachmittags telephonierte er nach Slaters Cottage. Joe antwortete.

 

»Ich hatte gerade eine Unterredung mit Joan«, sagte Joe. »Denke dir, das Mädchen hat einen hellen Verstand! Ich fragte sie, für wie alt sie mich hielte, und was glaubst du, was sie gesagt hat –«

 

»Das will ich nicht wissen!« sagte Clifford. »Es wäre mir unerträglich, zu denken, daß sie aus Höflichkeit die Unwahrheit gesagt hätte. Nun höre aber zu: du mußt um elf Uhr hier bei mir sein. Ungefähr um neun Uhr kommen zwei oder drei Herren, sie sind Detektive von Scotland Yard und haben die Aufgabe, Sunni Lodge zu beobachten. Sobald sie angekommen sind, fährst du ab – hast du mich verstanden?«

 

»Also sie sagte mir,« fuhr Joe unbeirrt fort, und man hörte deutlich, wie seine Stimme vor Rührung zitterte, »Mabel scheint Sie gerne zu haben. Das waren genau ihre Worte: sie scheint Sie gerne zu haben.«

 

»Dabei wird sie keine Rivalin finden«, sagte Clifford rauh und unhöflich. »Hast du nun gehört, was ich dir gesagt habe, du verrücktes altes Huhn?«

 

»Ich habe es wohl gehört«, sagte Joe ganz ruhig. »Nun hör‘ mal zu, Cliff, sie sagte – ich meine Joan – ›ich habe noch niemals gesehen, daß Mabel sich so für jemand interessiert hat‹ –«

 

»Also um elf Uhr«, sagte Clifford hartnäckig.

 

»Zu jeder Zeit – sagte Joan –«

 

»Und rufe Joan nicht wieder an. Einer von den Dienstboten oder Narth oder, was das Schlimmste wäre, eine der beiden Töchter könnte entdecken, wer du bist«, sagte Clifford. »Das würde dann bedeuten, daß du Mabel nicht wieder zu sehen bekommst!«

 

»Ich kann sie ja gar nicht mehr anrufen: sie ist zur Stadt gegangen. Und höre zu, Clifford, sie sagte –«

 

»Zur Stadt gegangen?« Von dieser Nachricht war er sehr betroffen, aber bevor er eine Frage an Joe stellen konnte, fuhr dieser fort:

 

»Sie ist in die Stadt gegangen, um sich Kleider zu kaufen. Dieser Narth kann doch nicht so schlecht sein, Cliff. Er sagte ihr, sie brauche sich dabei nicht einzuschränken. Er ist kein so schlechter Bursche, der alte Stephen!«

 

Clifford hing den Hörer gedankenvoll an. Freigebigkeit und Stephen Narth waren zwei so verschiedene Dinge, daß sein Argwohn in hohem Grade geweckt wurde.

 

*

 

Als Joan Bray in das Privatbureau ihres Verwandten eintrat, war sie neugierig, unter welchen Bedingungen Stephen Narth so großzügig sein würde. Natürlich hatte sie den Wunsch, eine Ausstattung in die Ehe mitzubringen. Selbst das Bettelmädchen kam ja nicht mit leeren Händen zu Cophetua, sondern hatte ihre Tage dazu benützt, um sich ein paar einfache Kleidungsstücke zu erarbeiten, die sie gegen ihre Lumpen austauschte. Und Joan fehlte es ganz besonders an Kleidern. Mr. Narth war gerade nicht freigebig, und so hatte sie in den letzten drei Jahren zwei Abendkleider bekommen.

 

Mr. Stephen Narth saß an seinem Pult und stützte den Kopf in die Hände. Er fuhr auf und starrte sie an, als sie den Raum betrat. In dieser Woche war eine außerordentliche Wandlung mit ihm vorgegangen. Er sah verstört aus, war nervös und schrak bei dem geringsten Laut zusammen. Er war selbst in seiner besten Zeit leicht gereizt, aber als jetzt das Geräusch der Türklinke ihre Ankunft anzeigte, schien es Joan, als hätte er Mühe, einen Angstschrei zu unterdrücken.

 

»Ach du bist es, Joan«, sagte er atemlos. »Nimm bitte Platz.« Er versuchte zweimal, ein Fach seines Pultes aufzuziehen – seine Hände zitterten aber so, daß er das Schlüsselloch nicht finden konnte. Endlich gelang es ihm, und er brachte einen schwarzen Geldkasten zum Vorschein.

 

»Wir müssen alles in der richtigen Weise ordnen, Joan.« Seine Stimme klang schrill. Sie sah, daß er an der Grenze seiner Kraft war. »Wenn du dich verheiratest, muß es in einer Weise geschehen, wie der alte Joe es gern haben würde. Du hast doch den Mädchen nicht gesagt, weshalb du in die Stadt gefahren bist?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Das ist recht so. Sonst wären sie mitgekommen und wollten auch Kleider kaufen. Und das kann ich jetzt im Moment nicht bezahlen.«

 

Er zog ein Paket Banknoten aus dem Kasten und legte sie vor sie hin, ohne sie zu zählen.«

 

»Kaufe dir alles, was du nötig hast, meine Liebe, aber nur das Beste. Ich möchte dich nur um eins bitten.« Er sah krampfhaft zum Fenster hinaus und konnte ihr nicht in die Augen blicken. »Du weißt, Joan, ich habe mich in verschiedene sonderbare Spekulationen eingelassen. Ich finanziere dieses und jenes und habe meine Hände in mehr Dingen, als die Leute ahnen.« Er fuhr nervös mit der Hand über sein Gesicht. Sein Blick war noch immer zum Fenster gerichtet, und sie war gespannt, was jetzt kommen würde. »Ich habe eine ziemlich große Summe in einem Modesalon angelegt – bei Madame Ferroni, 704 Fitzroy Square.« Seine Stimme wurde plötzlich heiser. »Es ist gerade kein vornehmer Platz, mehrere Räume im dritten Stock. Aber es wäre mir sehr angenehm, wenn du einige deiner Kleider von Madame Ferroni kaufen würdest.«

 

»Gerne, Mr. Narth«, sagte sie verwundert und belustigt.

 

»Am besten wäre es, wenn du zuerst dahin gingest«, sagte er, indem er noch immer an ihr vorbeischaute. »Wenn sie nicht das hat, was du haben willst, brauchst du nicht bei ihr zu kaufen. Ich habe es ihr halb versprochen, daß ich dich zu ihr schicke, und es würde auch für mich gut sein, obgleich das Geschäft flott geht.«

 

Er schrieb die Adresse auf eine Karte und reichte sie ihr über den Tisch.

 

»Denke nicht, weil der Platz einfach aussieht, daß sie nicht die Kleider hat, die du brauchst«, fuhr er fort. »Und noch eins, Joan – ich habe meine Eigenheiten in kleinen Dingen – ich möchte dir noch sagen, laß die Wagen nicht warten. Sie kosten eine Menge Geld, und in den Modesalons wirst du lange aufgehalten. Zahle den Chauffeur jedesmal, wenn du in ein Geschäft gehst, Joan. Du kannst immer leicht einen anderen Wagen bekommen. – Nein, zähle das Geld nicht, das macht nichts. Wenn du mehr brauchst, mußt du mich darum fragen. Ich will dir gerne mehr geben. Also auf Wiedersehen!«

 

Sein Gesicht war totenbleich, in seinen Augen sah sie einen Ausdruck von Furcht, so daß sie beinahe erschrak. Sie nahm seine kalte, feuchte Hand und drückte sie. Aber er lehnte den Dank schroff ab.

 

»Gehe zuerst zu Madame Ferroni. Ich versprach ihr, daß du kommst.«

 

Die Tür schloß sich hinter ihr. Er wartete, bis sie das Haus verlassen hatte, dann ging er zur Tür und schloß sie ab. Kaum war er zu seinem Sitz zurückgekehrt, da öffnete sich die zweite Tür, die in den Sitzungssaal führte, langsam, und Fing-Su trat ein. Stephen Narth drehte sich um und sah ihn haßerfüllt an.

 

»Ich habe es getan!« stieß er hervor. »Wenn aber dem Mädchen irgend etwas passiert, Fing-Su –«

 

Der Chinese lächelte und tat, als ob er etwas von seinem gutsitzenden Anzug abwischte.

 

»Es wird ihr nichts geschehen, mein Lieber«, sagte er in seiner sanften, begütigenden Art. »Es ist nur ein Schachzug in dem großen Spiel. Vom taktischen Gesichtspunkt aus mußte das geschehen, damit der ganze strategische Plan zu dem beabsichtigten Erfolg führt.«

 

North machte sich am Telephon zu tun.

 

»Ich hätte fast Lust, sie anzuhalten«, sagte er heiser. »Ich könnte Lynne anrufen, und er würde vor ihr dort sein –«

 

Fing-Su lächelte wieder, aber er ließ das Telephon und die nervösen Hände, die mit dem Hörer spielten, nicht außer acht.

 

»Das dürfte eine Katastrophe für Sie werden, Mr. Narth«, sagte er. »Sie schulden uns fünfzigtausend Pfund, die Sie uns nie zurückzahlen können –«

 

»Nie zurückzahlen können?« brummte der andere. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich der Erbe von Joe Bray bin!«

 

Der Chinese zeigte seine weißen Zähne, als er vergnügt grinste.

 

»Eine Erbschaft hat erst Wert, wenn der Erblasser gestorben ist«, sagte er.

 

»Aber Joe Bray ist tot!« keuchte Narth.

 

»Joe Bray«, sagte Fing-Su kalt, als er eine Zigarette auf einer goldenen Dose ausklopfte, die er aus seiner Westentasche gezogen hatte, »ist sehr lebendig. Gestern abend habe ich mit meinen eigenen Ohren seine Stimme gehört!«

 

Kapitel 29

 

29

 

Joan dachte noch kurz über den Wechsel in Narths Aussehen und Benehmen nach. Bald aber hatte sie ihren Argwohn vergessen. Die Besorgungen, die sie vorhatte, würden jeder Frau Freude gemacht haben und waren ihr unter den gegebenen Verhältnissen besonders angenehm. Sie zählte das Geld, als sie im Auto saß: es waren dreihundertzwanzig Pfund – eine ungeheure Summe für sie, die nie mehr als zehn Pfund auf einmal in ihrem Leben besessen hatte.

 

Madame Ferronis Adresse hatte sie dem Chauffeur gegeben, und in den nächsten zehn Minuten beobachtete sie mit Interesse, mit welcher Gewandtheit er seinen Weg durch den dichtesten Verkehr nahm, wie er sich an jeder belebten Straßenkreuzung durch die Masse der Wagen hindurcharbeitete, bis er auf der Easton Road freie Bahn erreichte.

 

Fitzroy Square hat seinen besonderen Charakter. Da er in der Nähe der westlichen Handelszentren lag, war er dem traurigen Los entgangen, dem so mancher unbekannte Londoner Häuserblock verfallen war. Die schönen alten Häuser aus der Zeit der Queen Anne hatten sich fast überall in häßliche Mietswohnungen verwandelt. Die Gebäude am Fitzroy Square dagegen dienten anderen Zwecken, da lagen ein bekanntes, großes Restaurant, ein oder zwei Tanzklubs und zahlreiche Bureaus.

 

Die Türfüllung des Hauses Nr. 704 war ganz mit Messingschildern bedeckt, die die verschiedensten Gewerbe und Handelsfirmen anzeigten, die in diesem Hause betrieben wurden. Ganz oben waren die Worte aufgemalt: Madame Ferroni, Modistin, 3. Stock, Rückseite. Joan konnte sehen, daß die Farbe noch feucht war.

 

Den Chauffeur hatte sie entlassen, um Mr. Narths Wunsch zu erfüllen. Als sie die Treppe hinaufstieg, kam sie schließlich etwas außer Atem zu einer Tür, auf der ebenfalls der Name der Modistin angebracht war. Aber sie war in gehobener Stimmung, wie es die erfreuliche Art ihres Besuches mit sich brachte. Auch die Farbe der zweiten Aufschrift war noch frisch. Sie klopfte und wurde sofort eingelassen. Die Frau, die ihr die Tür öffnete, hatte ein dunkles Gesicht und ein ziemlich abstoßendes Äußere. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ihre gelbe Gesichtsfarbe nur noch mehr betonte, die von dem gewöhnlichen dunklen Teint der Europäer sehr verschieden war. Schwache blaue Schalten lagen unter ihren Augen, ihre Lippen waren dick und ihre Nase ein wenig breitgedrückt. Fraglos war sie eine Halbe. Die geschlitzten Augen, der gelbliche Ton ihrer Haut hätten sie jedem Ethnologen als Halbchinesin gekennzeichnet – aber Joan war keine Ethnologin.

 

Es hätte sie nichts beunruhigt, wenn nicht der Raum, in den sie eintrat, vollständig leer gewesen und wenn die Türe nicht sofort hinter ihr abgeschlossen worden wäre. Auch die innere dicke Portiere zog die Frau gleich zu.

 

Joan sah sich in dem Raum um, in dem außer einem großen Kleiderschrank nur noch ein Sessel und ein gedeckter Teetisch stand. Der Teekessel dampfte. Kleider waren nicht zu sehen, vielleicht hingen sie in dem großen Schrank, der an der Wand befestigt war.

 

»Erschrecken Sie bitte nicht, Miß Bray«, sagte die gelbe Frau und gab sich Mühe, liebenswürdig zu erscheinen. Das machte ihr glattes Gesicht nur noch unangenehmer. »Meine Kleider sind nicht hier. Ich empfange hier nur meine Kunden.«

 

»Warum haben Sie denn die Tür zugeschlossen?« fragte das Mädchen. Obwohl sie ihren ganzen Mut zusammennahm, fühlte sie doch, wie das Blut aus ihren Wangen wich.

 

Madame Ferroni verbeugte sich zweimal in dem ängstlichen Bemühen, das Vertrauen ihres Besuches nicht zu erschüttern.

 

»Ich liebe keine Störung, wenn ich eine wichtige Kundin hier habe, Miß Bray«, sagte sie. »Sie sehen, daß Ihr Onkel, Mr. Narth, all sein Geld in dieses Geschäft gesteckt hat, und ich möchte ihn zufriedenstellen. Es ist ja natürlich! Ich habe die Kleider in meinem Geschäft in der Savoy Street, und wir werden nachher gleich dahin gehen. Sie können sich dort alles aussuchen, was Sie wünschen. Wer erst möchte ich gern ein wenig mit Ihnen sprechen, um Ihre Wünsche zu erfahren.«

 

Es schien, als hätte sie die Sätze, die sie sprach, auswendig gelernt.

 

»Sie müssen eine Tasse Tee mit mir trinken«, fuhr sie fort. »Es ist eine Gewohnheit, die mir lieb geworden ist, seitdem ich in diesem Lande lebe.«

 

Joan kümmerte sich wenig um Gewohnheiten. Sie konnte sich nicht darüber beruhigen, daß die Tür abgeschlossen war und auch dauernd abgeschlossen blieb.

 

»Madame Ferroni, ich bedaure, jetzt nicht bleiben zu können. Ich werde später wiederkommen.«

 

Joan zog den grünen Vorhang auf, aber sie konnte nicht öffnen, denn der Schlüssel der äußeren Tür war abgezogen.

 

»Sicher, wenn Sie es so wünschen.« Madame Ferroni zuckte die Achseln. »Aber Sie müssen wissen, daß ich Gefahr laufe, meine Stelle zu verlieren, wenn ich Sie nicht bedienen kann.«

 

Mit der Geschicklichkeit einer Chinesin bereitete sie den Tee und goß dann die starke, goldgelbe Flüssigkeit in die Tasse ein, gab sehr viel Milch dazu und überreichte sie Joan. Sie brauchte eine Erfrischung, hätte aber lieber ein Glas Wasser genommen, denn ihr Mund war trocken, und das Sprechen fiel ihr schwer.

 

Joan beherrschte der Gedanke, daß sie der Frau nicht merken lassen dürfe, daß sie sich fürchtete, und daß sie argwöhnisch geworden war durch die ungewöhnliche Art, wie sie ihre Kunden empfing. Sie rührte den Tee um und trank ihn gierig, als die Frau den Schlüssel vom Tisch nahm, zur Türe ging, ihn in das Schlüsselloch steckte und umdrehte. Sie drehte ihn zweimal herum, einmal schloß sie auf und ein zweites Mal wieder zu. Aber das bemerkte Joan nicht.

 

»Jetzt werde ich meinen Hut aufsetzen, und wir gehen«, sagte Madame Ferroni. Bei diesen Worten nahm sie einen großen, schwarzen Hut von dem Haken an der Wand. »Fitzroy Square gefällt mir nicht, es ist hier so langweilig. Als ich Mr. Narth sagte, daß die Kundinnen nicht gern drei Treppen hoch steigen, um hübsche Kleider anzuprobieren …«

 

Die Tasse fiel aus Joans Hand und brach in Scherben. Mit der Behendigkeit eines Tigers sprang Madame Ferroni quer durch das Zimmer, fing das bewußtlose Mädchen auf, als es schwankte, und legte es dann sanft auf den Boden.

 

Kaum hatte sie das getan, als ein lautes Pochen an der äußeren Tür erscholl. Madame Ferronis Gesicht verfärbte sich.

 

»Ist jemand hier drinnen?«

 

Die Stimme klang befehlend, und die Frau zitterte. Ihre Hand faßte den Schlüssel.

 

Es wurde wieder geklopft.

 

»Offnen Sie die Tür, ich kann den Schlüssel innen sehen!« sagte die Stimme.

 

Madame Ferroni eilte schnell zu dem Kleiderschrank an der Wand und hob den losen Boden heraus. Zwischen dem Flur und dem Schrankboden war ein Zwischenraum von mehr als einer Spanne. Sie nahm Joan auf, legte sie in den staubigen Hohlraum, deckte das Brett über sie, machte die Schranktür zu und schloß sie ab. Dann ergriff sie schnell die Scherben der Teetasse und den Teller, öffnete das Fenster und warf sie auf den kleinen Hinterhof. Sie schaute sich noch rasch im Zimmer um, ob alles in Ordnung sei, ging dann zur Türe, drehte den Schlüssel um und öffnete.

 

Ein Mann stand auf dem Podest. Madame Ferroni kannte die Polizei aus der Praxis. Sie wußte sofort, daß dies ein Mann von Scotland Yard war. Sie war mit einem Chinesen verheiratet, der einmal von solch einem Menschen verhaftet wurde. Sie erkannte ihn halb und halb wieder, als er mit ihr sprach, aber sie konnte sich nicht aus seinen Namen besinnen.

 

»Hallo,« fragte er, »wo ist Miß Bray?«

 

»Miß –« Madame Ferroni zog die Stirne kraus, als ob sie den Namen nicht richtig gehört hätte.

 

»Miß Bray. Sie kam vor fünf Minuten hierher.«

 

Madame Ferroni lächelte und schüttelte den Kopf.

 

»Sie irren sich,« sagte sie, »außer mir ist niemand hier.«

 

Der Detektiv ging in das Zimmer und sah sich um. Er betrachtete den Tisch und die einsam dastehende Teetasse.

 

»Was ist in dem Schrank?«

 

»Nichts. Wollen Sie einen Blick hineinwerfen?« fragte Madame Ferroni und fügte noch hinzu: »Darf ich wissen, wer Sie sind?«

 

»Ich bin Detektiv Sergeant Long von Scotland Yard«, sagte der andere. »Sie wissen ganz genau, wer ich bin. Vor zwei Jahren habe ich bei Ihnen Haussuchung gehalten und den Chinesen, der mit Ihnen verheiratet ist, ein wenig in Verlegenheit gebracht, weil er mit verbotenen Rauschgiften hausierte. Öffnen Sie den Schrank!«

 

Madame Ferroni zuckte die Achseln und machte die Schranktür weit auf. Das Bodenbrett lag wieder an seiner alten Stelle. Dem Detektiv kam nicht einen Augenblick lang der Gedanke, einmal nachzusehen, was zwischen dem Schrankboden und dem Zimmerflur sein könnte.

 

»War sie hier und ist später weggegangen?« fragte er. »Wollten Sie das eben sagen?«

 

»Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.«

 

Er zog eine kleine Karte aus seiner Tasche, auf die Mr. Narth die Adresse der Madame Ferroni geschrieben hatte. Er hatte das Auto nach Fitzroy Square verfolgt, den Chauffeur angehalten und sich die Karte von ihm geben lassen.

 

»Sie nennen sich jetzt Madame Ferroni?«

 

Sie nickte. Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke.

 

»Hier wohnt noch eine andere Madame Ferroni im obersten Geschoß«, sagte sie. »Es ist sehr unangenehm, wenn zwei Leute gleichen Namens im selben Hause wohnen. Deswegen will ich auch wieder fortziehen.«

 

Der Detektiv sah sie scharf an und zögerte.

 

»Ich will das obere Stockwerk untersuchen«, sagte er. »Sie warten hier, und wenn ich oben nichts finde, dann werden Sie ein wenig mit mir gehen.«

 

Sie schloß die Türe hinter ihm. Ein kleiner Telephonapparat war in der Ecke des Raumes angebracht. Sie hob den Hörer ab, drückte auf den Knopf und begann in einem leisen, eindringlichen Ton zu sprechen.

 

In der Zwischenzeit hatte der Detektiv das obere Ende der Treppe erreicht. Er sah eine Tür, die gerade vor ihm lag. Er trat näher und klopfte.

 

Innen rief eine schrille Männerstimme: »Herein!«

 

Ohne Verdacht zu schöpfen, stieß er die Tür auf und ging in den Raum.

 

Der dicke Filzhut, den er trug, rettete ihm das Leben. Denn der schwere Knüppel, der auf seinen Kopf niedersauste, hätte ihn sonst getötet. Er taumelte unter dem Schlag. Jemand schlug ihm dann noch mit einer Flasche gegen die Schläfe, und er fiel auf den Boden wie ein Stück Holz.

 

Kapitel 3

 

3

 

Stephen Narth verließ sein Bureau in der Old Broad Street gewöhnlich um vier Uhr. Um diese Zeit wartete seine Limousine, um ihn nach seiner schönen Villa in Sunningdale zu bringen. Aber an diesem Abend zögerte er, aufzubrechen, nicht weil noch ein besonderes Geschäft zu erledigen war oder weil er etwas Zeit brauchte, um über seine mißliche Lage nachzudenken, sondern weil die Post aus China mit der Fünfuhrbestellung kommen mußte. Er erwartete heute seinen monatlichen Scheck.

 

Joseph Bray war ein Vetter zweiten Grades von ihm. Als damals die Narths Handelsfürsten waren und die Brays ihre ärmsten Verwandten, wurden die Unternehmungen Joe Brays in der großen Familie kaum beachtet. Erst vor zehn Jahren erfuhr man davon, als Mr. Narth einen Brief von seinem Vetter erhielt, in dem dieser wieder Anschluß an seine alten Verwandten suchte. Niemand hatte gewußt, daß ein Mann namens Joe Bray existierte, und als Mr. Stephen Narth den schlecht geschriebenen Brief las, war er nahe daran, ihn zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. Er hatte gerade genug mit sich allein zu tun und konnte sich nicht um das Geschick entfernter Verwandter bekümmern. Doch kurz bevor er den Brief zu Ende gelesen hatte, entdeckte er, daß der Schreiber dieses Briefes der berühmte Bray war, dessen Name auf allen Börsen der Welt Klang und Geltung hatte – der berühmte Bray von der Yünnan-Gesellschaft. Und so wurde Joseph Bray wieder wichtig für ihn.

 

Sie hatten sich noch nie gesehen. Wohl war ihm eine Photographie des alten Mannes zu Gesicht gekommen, auf der er grimmig und hart dreinschaute. Wahrscheinlich hatte auch der Eindruck, den dieses Bild auf ihn machte, ihn davon abgehalten, seinen Verwandten um weitere Hilfe zu bitten, die er doch so dringend brauchte.

 

Perkins, sein Sekretär, kam kurz nach fünf mit einem Brief ins Bureau.

 

»Miß Joan kam heute nachmittag hierher, während Sie in der Sitzung waren.«

 

»Ach so!« entgegnete Stephen Narth gleichgültig.

 

Sie war eine Bray, eines der beiden Mitglieder des jüngeren Zweiges der Familie, die er schon kannte, bevor damals der wichtige Brief von Joe Bray kam. Sie war eine entfernte Cousine und war in seinem Hause aufgewachsen, hatte die gute, aber wenig kostspielige Erziehung genossen, wie man sie eben einer armen Verwandten angedeihen ließ. Ihre Stellung in seinem Haushalt hätte man kaum beschreiben können. Joan war wirklich sehr brauchbar: sie konnte das Haus versehen, wenn seine Töchter abwesend waren, sie konnte die Bücher führen und einen Hausverwalter ersetzen oder auch ein Dienstmädchen. Obgleich sie etwas jünger als Letty und viel jünger als Mabel war, verstand sie es ausgezeichnet, beide zu bemuttern.

 

Manchmal nahm sie an den Theaterbesuchen der beiden Mädchen teil, und gelegentlich kam sie auch zu einem Tanzvergnügen, wenn gerade eine Dame fehlte. Aber für gewöhnlich blieb Joan im Hintergrund. Manchmal empfand man es sogar unangenehm, daß sie bei Einladungen mit an der Tafel sitzen sollte. Dann mußte sie in ihrer großen Dachstube essen, und, um die Wahrheit zu sagen, sie war gar nicht böse darüber.

 

»Was wollte sie denn?« fragte Mr. Narth, als er den Umschlag des wichtigen Briefes aufschnitt.

 

»Sie wollte wissen, ob sie etwas nach Sunningdale mitnehmen sollte. Sie war in die Stadt gekommen, um mit Miß Letty einige Einkäufe zu machen«, sagte der alte Schreiber und fuhr fort: »Sie fragte mich, ob eine der beiden jungen Damen wegen der Chinesen telephoniert hätte.«

 

»Chinesen?«

 

Perkins erklärte. An dem Morgen waren in der Gegend von Sunni Lodge zwei gelbe Kerle aufgetaucht, beide ziemlich unbekleidet. Letty hatte sie im langen Grase liegen sehen, in der Nähe der großen Wiese. Zwei kräftig aussehende Leute, die aber, sobald sie das Mädchen sahen, aufsprangen und in der Richtung auf die kleine Pflanzung davonliefen, die zwischen dem Landgut von Lord Knowesley und der kleineren, weniger anspruchsvollen Besitzung des Mr. Narth lag.

 

Letty, die an nervösen Anfällen litt, war zweifellos erschreckt worden.

 

»Miß Joan glaubte, daß die Leute zu einer Zirkustruppe gehörten, die heute morgen durch Sunningdale zog«, sagte Perkins.

 

Mr. Narth fand nichts Besonderes dabei und weit davon entfernt, die Sache der Ortspolizei anzuzeigen, suchte er die Geschichte mit den Chinesen möglichst bald zu vergessen.

 

Langsam zog er den Inhalt des wichtigen Briefes aus dem Umschlag. Der Scheck lag darin und außerdem ein ungewöhnlich langer Brief. Joe Bray sandte im allgemeinen keine langen Episteln. Meist lag nur ein Bogen Papier bei mit der Aufschrift »Besten Gruß«. Er faltete die rote Tratte zusammen und steckte sie in seine Tasche.

 

Dann begann er den Brief zu lesen und war ganz erstaunt, weshalb sein Vetter plötzlich so mitteilsam geworden war. Der Brief war in der kritzligen Handschrift Joe Brays geschrieben. Fast jedes vierte Work war falsch.

 

»Lieber Mr. Narth« (Joe nannte ihn niemals anders), »ich glaube, daß Sie sich wundern werden, wenn ich Ihnen einen so langen Brief schreibe. Nun wohl, lieber Mr. Narth, ich muß Ihnen mitteilen, daß ich einen bösen Anfall hatte und mich nur ganz langsam erhole. Der Doktor sagt, er kann nicht sicher sagen, wie lange ich noch zu leben habe. Deshalb kam ich zu dem Entschluß, mein Testament zu machen, das ich durch den Rechtsanwalt Mr. Albert van Rys habe aufsetzen lassen. Lieber Narth, ich muß gestehen, daß ich für Ihre Familie große Bewunderung hege, wie Sie ja wohl wissen. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen und Ihren Angehörigen helfen könnte. Dabei bin ich zu folgendem Entschluß gekommen. Mein Geschäftsführer, Clifford Lynne, der seit seiner frühesten Kindheit in meinem Hause lebt, wurde mein Teilhaber, als ich diese Goldminen entdeckte. Er ist wirklich ein guter Junge, und ich habe beschlossen, daß er jemand aus meiner Familie heiraten soll, um die Linie fortzuführen. Wie ich weiß, haben Sie mehrere Mädchen in Ihrer Familie, zwei Töchter und eine Cousine, und ich wünsche, daß Clifford eine von diesen heiratet. Er hat seine Einwilligung dazu gegeben. Er ist nun auf der Reise und muß in einigen Tagen bei Ihnen ankommen. Mein letzter Wille ist nun der: ich vererbe Ihnen zwei Drittel meines Anteils an der Goldmine und ein Drittel an Clifford unter der Bedingung, daß eines der drei Mädchen ihn heiratet. Sollte keines der Mädchen ihn mögen, so erhält Clifford alles. Die Hochzeit muß aber vor dem 31. Dezember dieses Jahres geschlossen sein. Lieber Mr. Narth, wenn dies nicht annehmbar für Sie sein sollte, so werden Sie im Falle meines Todes nichts erhalten.

 

Ihr aufrichtiger

Joseph Bray.«

 

Stephen Narth las den Brief mit offenem Munde und seine Gedanken wirbelten durcheinander. Die Rettung kam von einer Seite, an die er am allerwenigsten gedacht hatte. Er klingelte, um seinen Sekretär herbeizurufen und gab ihm in großer Eile einige Instruktionen. Da er den Fahrstuhl nicht erwarten mochte, rannte er die Treppe hinunter und sprang in sein Auto. Den ganzen Weg bis nach Sunningdale mußte er an den Brief und den ungewöhnlichen Vorschlag denken.

 

Natürlich mußte Mabel ihn heiraten! Sie war ja die älteste. Oder Letty – das Geld war schon so gut wie in seiner Tasche …

 

Als der Wagen durch die blühenden Rhododendronbüsche vorfuhr, war er sehr vergnügt und sprang mit einem strahlenden Lächeln aus de Auto. Die wachsame Mabel sah vom Rasenplatz aus, daß irgend etwas Außergewöhnliches sich zugetragen haben mußte. Sie lief herbei. Auch Letty trat in demselben Augenblick aus der Haustür. Es waren hübsche Mädchen, nur ein wenig stärker, als er hätte wünschen können. Die ältere neigte dazu, das Leben von der traurigen, bitteren Seite zu nehmen und das führte gelegentlich zu Unannehmlichkeiten.

 

»… Hast du von den schrecklichen Chinesen gehört?« Mabel sprang ihm mit dieser Frage entgegen, als er von dein Wagen kam. »Die arme Letty hatte beinahe einen Anfall!«

 

Sonst hätte er sie zum Schweigen gebracht, denn er war ein Mann, der sich nicht durch alltägliche Dinge aus der Fassung bringen ließ. Das ungewöhnliche Erscheinen eines oder zwei Gelben auf seinem Grund und Boden interessierte ihn wenig. Aber heute brachte er es sogar fertig, nachsichtig zu lächeln und machte sogar einen Witz über die Alarmnachricht seiner Tochter.

 

»Mein Liebling – es ist doch gar nichts dabei, um darüber zu erschrecken. Perkins hak mir alles erzählt. Die beiden armen Kerle waren wahrscheinlich ebenso erschrocken wie Letty selbst! Kommt einmal mit mir ins Wohnzimmer, ich habe etwas sehr Wichtiges mit euch zu besprechen!«

 

Er nahm die beiden mit sich in den schöngelegenen Raum, schloß die Tür und berichtete dann seine aufsehenerregenden Neuigkeiten, die aber zu seiner nicht geringen Verwunderung schweigend aufgenommen wurden. Mabel steckte ihre unvermeidliche Zigarette in Brand, klopfte die Asche auf den Teppich und begann, nachdem sie einen Blick mit ihrer Schwester gewechselt hatte:

 

»Für dich, Vater, ist das alles ja sehr gut, aber was haben wir denn von der ganzen Geschichte?«

 

»Was ihr davon habt?« fragte der Vater erstaunt. »Das ist doch ganz klar, welchen Vorteil ihr davon habt. Dieser Mann bekommt doch den dritten Teil des großen Vermögens –«

 

»Aber wieviel von diesem Drittel bekommen denn wir?« fragte Letty, die Jüngere. »Und ganz abgesehen davon – wer ist denn dieser Geschäftsführer? Mit all dem Geld, Vater, können wir eine ganz andere Partie machen, als ausgerechnet den Geschäftsführer einer Mine heiraten.«

 

Das tödliche Schweigen wurde von Mabel unterbrochen.

 

»Immerhin müssen wir die Sache mit dir auf die eine oder andere Weise beraten und in Ordnung bringen«, sagte sie. »Dieser alte Herr scheint sich einzubilden, daß es für ein Mädchen nur darauf ankommt, daß ihr Mann reich ist. Aber mir genügt das noch lange nicht.«

 

Stephen Narth lief es kalt den Rücken herunter. Ihm war es im Traum nicht eingefallen, auf dieser Seite so heftigen Widerstand zu finden.

 

»Aber versteht ihr denn nicht, daß wir gar nichts bekommen, wenn keine von euch diesen Mann heiratet? Natürlich würde ich mir an eurer Stelle die Sache auch überlegen, aber ich würde eine so glänzende Partie nicht ausschlagen.«

 

»Wieviel hinterläßt er denn eigentlich?« fragte die praktische Mabel. »Das ist doch der Angelpunkt der ganzen Frage. Ich sage ganz offen, ich habe nicht die Absicht, eine Katze im Sack zu kaufen, und dann – was werden wir für eine gesellschaftliche Stellung haben? Wahrscheinlich müßten wir doch nach China gehen und in irgendeiner erbärmlichen Hütte wohnen.«

 

Sie saß auf der Ecke des großen Tisches im Wohnzimmer, hatte ein Knie über das andere gelegt und wippte mit den Fußspitzen. Stephen Narth erinnerte sie in dieser Stellung an eine Bardame, die er in seiner frühen Jugend einmal gekannt hatte. Irgend etwas stimmte in Mabels Erscheinung nicht und das wurde auch nicht ausgeglichen durch ihre kurzen Röckchen und ihren wirklich hübschen Bubikopf.

 

»Ich habe gerade genug Sparen und Einschränken mitgemacht«, fuhr sie fort. »Ich kann nur sagen, daß bei dieser Heirat mit einem unbekannten Mann ich von vornherein ausscheide.«

 

»Und ich auch«, sagte Letty bestimmt. »Es ist ganz richtig, was Mabel sagt. Als Frau dieses Menschen würden wir eine erbärmliche Rolle spielen.«

 

»Ich kann nur sagen, daß er euch gut behandeln würde«, sagte Narth schwach. Er wurde ganz von seinen beiden Töchtern beherrscht.

 

Plötzlich sprang Mabel vom Tisch auf den Fußboden. Ihre Augen glänzten.

 

»Ich weiß einen Ausweg! – Das Aschenbrödel!«

 

»Das Aschenbrödel?« fragte er mit gerunzelter Stirn.

 

»Natürlich – Joan, du großes Kind, lies doch den Brief genau!«

 

Alle drei durchflogen atemlos das Schreiben und als sie es fast zu Ende gelesen hatten, quietschte Letty vor Vergnügen.

 

»Natürlich, Joan!« rief sie. »Warum sollte den Ivan nicht heiraten? Das ist doch eine große Sache für sie – ihre Aussichten auf Heirat sind doch gleich Null, und sie würde doch hier überflüssig sein, wenn du sehr reich wärest. Weiß der Himmel, was wir mit ihr anfangen sollten.«

 

»Joan!« rief er und dabei streichelte er sein Kinn in Gedanken. An Joan hatte er nicht gedacht. Zum viertenmal las er den Brief Wort für Wort. Die Mädchen hatten recht, Joan erfüllte alle Ansprüche Joe Brays. Sie war doch ein Mitglied der Familie. Ihre Mutter war eine geborene Narth. Bevor er den Brief wieder auf den Tisch legen konnte, hatte Letty schon geklingelt, und der Diener kam herein.

 

»Sagen Sie doch Miß Bray, daß sie herkommen möchte, Palmer.«

 

Drei Minuten später trat das Mädchen in das Wohnzimmer, das Opfer, mit dem die Familie Narth die Schicksalsgötter besänftigen wollte.

 

Kapitel 30

 

30

 

Als Joan Bray wieder zu sich kam, fühlte sie ein schmerzhaftes Hämmern in ihrem Kopf. Bei jedem Schlag zuckte sie zusammen. Es dauerte lange, bevor es ihr klar wurde, daß sie allein war.

 

In der einen Ecke des Raumes befand sich ein irdener Abguß. An den Wänden gab es keine Fenster, nur in der Decke war eine verglaste Öffnung, durch die das trübe Licht eines unfreundlichen Regentages hereinfiel. Ihre Blicke schweiften umher und fielen auf den Abguß. Lange schaute sie auf den schmutzigen Messinghahn, von dem beständig das Wasser herabtropfte.

 

Sie stand auf, schwankte, und da sie sich nur schwer im Gleichgewicht halten konnte, stützte sie sich gegen die Wand. Mit größter Anstrengung ging sie vorwärts, bei jedem Schritt schmerzte ihr Kopf. Endlich erreichte sie den Wasserhahn, drehte ihn auf, fing das Wasser mit ihren Händen auf und löschte ihren brennenden Durst. Dann tat sie etwas, wozu die meisten Frauen sich wahrscheinlich schwer entschlossen hätten: sie hielt ihren Kopf unter den kalten Wasserstrahl und war froh, daß sie der Mode gefolgt war und die Haare kurz trug. Sie richtete sich auf, nachdem sie das Wasser aus ihrem Haar gepreßt hatte. Ihre Kopfschmerzen hatten sich gebessert. Joan sah sich nach einem Handtuch um und fand ein ganz neues, sauberes, das über einer Rollvorrichtung befestigt war. Sie hatte die dunkle Vorstellung, daß es besonders zu ihrem Gebrauch hingehängt war. Als sie sich oberflächlich abgetrocknet hatte, wurde sie in ihren Gedanken allmählich klarer. Jetzt war sie davon überzeugt, daß dieser Raum für sie hergerichtet worden war. Neben dem alten Feldbett, auf dem sie vorhin gelegen hatte, stand ein Stuhl, und auf diesen hatte man ein gedecktes Tablett mit Kaffee und Brötchen gesetzt.

 

Wieviel Uhr mochte es sein? Sie sah nach ihrer Armbanduhr: es war halb fünf. Als sie den verhängnisvollen Gang zu Madame Ferroni machte, war es drei gewesen. Eine und eine halbe Stunde waren also seitdem vergangen – und wohin hatte man sie in dieser Zeit gebracht?

 

Sie setzte sich auf die Bettkante und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und einen Überblick über ihre Lage zu gewinnen. Unter dem Bett schaute ein Stück schmutzige, grüne Sackleinwand hervor. Sie konnte drei Buchstaben lesen: »Maj«. Entschlossen zog sie den Sack hervor und las die verblaßte Inschrift: »Major Spedwell, S. & M. Puna.« Wer war Major Spedwell? Sie überlegte. Sie hatte ihn irgendwo getroffen… natürlich, er war der dritte Mann bei jenem Essen im Bureau von Mr. Narth, das Clifford Lynne so plötzlich unterbrochen hatte. War sie noch in Fitzroy Square? Und wenn sie nicht mehr da war, wo befand sie sich jetzt, und wie war sie hierhergekommen?… Das Deckenfenster war aus mattem Glas, aber sie konnte sehen, wie der Regen in kleinen Bächen daran niederfloß und konnte das Rauschen des Windes hören.

 

Sie machte sich keine Illusionen darüber, in wessen Gewalt sie gefallen war. Unwillkürlich brachte sie das dunkle Gesicht der Madame Ferroni mit den geschlitzten Augen und dem entsetzten Gesichtsausdruck des gelben Mannes in Verbindung, den sie in dem grellen Licht der aufblitzenden Magnesiumflamme gesehen hatte. Sie wurde von Fing-Su bewacht! Ein stechender Schmerz durchzuckte sie bei diesem Gedanken. Und Stephen Narth hatte sie zu diesem schrecklichen Ort geschickt … Diese Erkenntnis tat ihr weh, denn obgleich sie ihn nicht liebte, hatte sie ihn doch niemals einer solchen Gemeinheit für fähig gehalten.

 

Sie stand schnell auf, als die Tür sich öffnete. Sie erkannte sofort den Mann wieder, hinter dem sich die Tür schloß.

 

»Sie sind Major Spedwell?« sagte sie und erschrak selbst über ihre heisere Stimme.

 

Er war einen Augenblick verblüfft.

 

»Jawohl, ich bin Major Spedwell – Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis.«

 

»Wo bin ich?« fragte sie.

 

»An einem sicheren Ort. Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. Es wird Ihnen nichts geschehen. Ich habe zwar viel auf dem Gewissen« – er zögerte einen Augenblick – »vom Betrug bis zum Totschlag – aber ich bin doch noch nicht so heruntergekommen, daß ich es zulassen würde, daß Fing-Su Ihnen etwas zuleide täte. Sie sind hier nur als Gast.«

 

»Warum?« fragte sie.

 

»Das ist eben Sache des Schicksals.« Sein Lächeln war gerade nicht humorvoll. »Sie wissen doch alles – Fing-Su braucht eine bestimmte Aktie von Clifford Lynne – ich vermute, daß er bereits mit Ihnen darüber gesprochen hat. Sie wissen auch, daß dieses Papier eine äußerst wichtige Sache für uns ist.«

 

»Und glauben Sie denn, daß Mr. Lynne es geben wird als Lösegeld für mich?«

 

»Das ist doch der Sinn der ganzen Sache«, sagte Spedwell mit einem verwunderten Blick auf ihr nasses Haar. »Wir machen es ein wenig wie die Banditen: wir halten Sie hier fest, um ein Lösegeld herauszuschlagen.«

 

Ihre Lippen kräuselten sich.

 

»Ihr Freund hat scheinbar eine hohe Meinung von der Ritterlichkeit Lynnes.«

 

»Oder von seiner Liebe!« antwortete Spedwell mit großer Ruhe. »Fing-Su ist der Meinung, daß Clifford Lynne Sie über alles liebt und die Aktie herausgeben wird, ohne viel Schwierigkeiten zu machen.«

 

»Dann kann ich mich nur mit dem Gedanken trösten, daß Fing-Su eine schwere Enttäuschung erleben wird«, sagte sie. »Mr. Lynne und ich lieben einander nicht, und was nun gar die Heirat angeht, so ist sie nicht mehr nötig, denn –«

 

Aber bevor sie die Rückkehr Joe Brays verriet, hielt sie erschreckt inne.

 

»Die Hochzeit ist nicht mehr nötig, weil dieser alte Joe lebt, was? Ich kenne die Zusammenhänge ganz genau«, antwortete er und lächelte dabei sarkastisch. Sein Gesichtsausdruck wechselte manchmal mit unglaublicher Schnelligkeit. »Wir sind über alles genau informiert und gerade deshalb sage ich, daß Clifford Lynne stark in Sie verliebt ist. Da gebe ich Fing-Su vollkommen recht!«

 

Es war nutzlos, dieses Thema noch weiter zu verfolgen. Sie stellte noch einmal die Frage, wo sie jetzt sei.

 

»In Peckham. Ich wüßte nicht, warum Sie es nicht wissen sollten. Wenn es Ihnen gelingen wird, von hier fortzukommen, wird Ihnen das jeder Polizist ohne weiteres sagen. Dies hier ist einer der Umkleideräume von den Mädchen, die im Kriege die Granaten füllten. Er ist gerade nicht sehr behaglich eingerichtet, aber wir konnten im Augenblick nichts Besseres für Sie finden. Glauben Sie mir, Miß Bray, Sie haben nichts zu fürchten. Ich allem habe den Schlüssel zu diesem Gebäude, und Sie sind genau so sicher, als ob Sie in Ihrem Zimmer in Sunni Lodge wären.«

 

»Sie werden mich doch nicht hier lassen, Major?« Sie nannte ihn absichtlich bei seinem Titel, und er war nicht unangenehm berührt durch die Erinnerung an seine ehrenvolle Vergangenheit. Trotzdem erriet er ihre Absicht.

 

»Ich hoffe, Sie sind vernünftig«, sagte er. »Wenn Sie an meine Ritterlichkeit und all dergleichen appellieren und mich daran erinnern, daß ich in den Diensten des Königs stand, so können Sie sich diese Mühe sparen. Ich habe ein sehr dickes Fell. Früher wurde ich wegen Betrugs aus der Armee gestoßen, und ich bin jetzt so weit gekommen, daß ich mich nicht einmal mehr vor mir selber schäme.«

 

»Das ist ein langer Weg, Major!« sagte sie ruhig.

 

»Ja, ein langer Weg –« gab er zu. »Das einzige, was ich Ihnen versprechen kann, ist, daß Ihnen kein Leid zugefügt wird – solange ich lebe«, fügte er hinzu, und trotz allem glaubte sie ihm.

 

Er schloß die Türe zu und verließ das Gebäude auf der Rückseite, wo sein Wagen wartete.

 

Fing-Su war in seinem Bureau in Tower Hill, als Spedwell ankam. Unruhig ging er auf und ab, die Ungewißheit quälte ihn. Er hatte noch keine Nachricht bekommen, daß es geglückt war, Miß Bray ohne Zwischenfall nach Peckham zu bringen. Es war doch ein etwas waghalsiges Unternehmen am hellichten Tage.

 

»Jawohl,« sagte Spedwell verdrießlich, »sie ist dort gut untergebracht.« Er nahm eine Zigarre aus der offenen Kiste auf dem Tisch, biß das Ende ab und steckte sie in Brand.

 

»Wie lange wollen Sie sie gefangen halten?«

 

Fing-Su spreizte seine lange, dünne Hand aus.

 

»Wie lange wird Clifford Lynne mich warten lassen?« fragte er. »Und dann« – fügte er hinzu, »was macht der Detektiv?«

 

»Nahezu tot«, war die lakonische Antwort. »Aber es ist möglich, daß er sich wieder erholt. Allein wegen dieser Sache hing es an einem seidenen Faden, daß man uns beide hängte, Fing-Su.«

 

Das Gesicht des Chinesen wurde aschgrau.

 

»Tot?« sagte er heiser. »Ich habe ihnen doch gesagt, daß –«

 

»Sie haben ihnen den Auftrag gegeben, daß sie ihn niederschlagen sollten. Und das haben sie so gründlich besorgt, daß er um ein Haar gestorben wäre«, sagte der andere in seiner kurzen, direkten Art. »Ein Detektiv-Sergeant ist gerade keine besondere Persönlichkeit, aber wenn man ihn totschlägt, so ist das ein kleines Versehen, das ganz Scotland Yard auf die Beine bringt. Sobald gemeldet wird, daß man ihn vermißt, geht die Hölle los. Dann werden sie sowohl mich wie Sie um Aufklärung bitten.

 

»Welche Aufgabe hatte denn der Detektiv?« fragte der andere.

 

»Er wollte Miß Bray bewachen – ich habe Sie ja schon vorher gewarnt. Das einzige, was uns jetzt noch übrigbleibt; ist, daß wir ihn auf das Schiff bringen. Unglücklicherweise können wir ihn jetzt nicht transportieren, vielleicht ist es aber später möglich. Sie könnten ihn dann zu einem Ihrer sicheren Plätze bringen, bis die ganze Angelegenheit vorüber ist.«

 

Spedwell nahm einen Briefbeschwerer vom Tisch, und seine Aufmerksamkeit schien ganz durch das vielfältig geschliffene Kristall gefesselt zu sein.

 

»Werden Sie noch andere Passagiere haben?«

 

»Vielleicht fahre ich selbst mit«, sagte Fung-Su. »Und in diesem Fall machen Sie natürlich die Reise auch mit.«

 

»Müssen Sie denn nicht auf Clifford Lynnes Aktie warten?«

 

Der Chinese zuckte die Achseln.

 

»Die wird morgen schon in den Händen meines Agenten sein«, sagte er zuversichtlich. »Natürlich darf ich bei der Sache nicht in Erscheinung treten. Wenn ich erst auf hoher See bin, kann man mich nicht mehr damit in Zusammenhang bringen.«

 

Major Spedwell lachte rauh.

 

»Wird Sie Miß Bray oder Stephen Narth nicht belasten?«

 

Fing-Su schüttelte den Kopf.

 

»Nicht mehr nach heute abend«, sagte er mit leiser Stimme. Spedwell biß sich auf die Lippe, er hatte seine eigenen Gedanken.

 

»Nach heute abend nicht mehr?« Wie würde denn seine eigene Lage ›nach heute abend‹ sein? Er kannte den Mann, der ihm gegenübersaß, genau. Fing-Su zahlte gut, das war aber auch alles. In der letzten Zeit hatte er an gewissen Anzeichen bemerkt, daß er nicht mehr in Gunst bei seinem Chef stand – so gewisse Untertöne in der Stimme, ein zufälliger Blick zwischen Fing-Su und seinen gelben Assistenten, den er aufgefangen hatte – Major Spedwell war ein schlauer, scharfsichtiger Mann, der ein feines Gefühl für unausgesprochene Dinge hatte.

 

»Und was wird aus Leggat?« fragte er.

 

»Leggat mag zum Teufel gehen – ich bin mit ihm fertig. Ich habe immer gewußt, daß er unzuverlässig war. Nachher hatten wir ja noch viel Mühe, den Beweis dafür beizubringen.«

 

»Haben Sie ihn aufgefordert, heute abend zur Loge zu kommen?« fragte Spedwell.

 

»Nein«, antwortete Fing-Su kurz.

 

Dann aber, als ob er eingesehen hätte, daß seine brüske Antwort den Verdacht des anderen wachrufen könnte, fügte er freundlich hinzu:

 

»Wir können Leggat nicht länger brauchen – er ist ein Trinker und deshalb sehr gefährlich. Sie aber, lieber Major, sind mir unentbehrlich. Ich wüßte nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte. Haben Sie die Konstruktion der Landmine schon beendet?«

 

Er hatte versucht, äußerst liebenswürdig zu sein, aber der Major ließ sich nicht täuschen.

 

»Was für eine geniale Erfindung!« sagte Fing-Su. Dabei sah er ihn mit seinen dunklen Augen bewundernd an. »Sie sind ein Genie! Ich kann Ihre Dienste unmöglich entbehren!«

 

Spedwell wußte nur zu genau, daß nichts Geniales an seiner Landmine war – es war eine einfache Zeitbombe in großem Maßstabe. Sie kam zur Explosion, wenn sich eine Säure zur Bleikammer durchfraß und sich dort mit einer anderen vermischte. Es war ein Kriegsmittel, wie es jeder Militäringenieur genau kannte. Aber Fing-Sus Schmeichelei ließ ihn nachdenklich werden.

 

Major Spedwell hatte ein kleines Anwesen in Bloomsbury. Seiner Erziehung und seinem Studium nach war er Ingenieur, später wurde er Artillerist. Aber seine größten Erfolge verdankte er seiner Klugheit und seiner instinktiv klaren Beurteilung jedweder Lage. Unstreitig war er ein großer Stratege. Jetzt fühlte er, daß Gefahr im Anzuge war. Er wußte, daß ein gewaltiger Umschwung in seinem Leben bevorstand, und er hatte sich damit abgefunden, daß es nicht zum Besseren sein würde.

 

In den paar Stunden, die ihm noch blieben, bevor er sich umkleiden mußte, um Stephen Narth zu treffen, nahm er Bleistift und Papier und schrieb systematisch alle Möglichkeiten auf, die sich aus dieser Lage entwickeln konnten. Dann suchte er eine Lösung. Allmählich sah er klarer und fand einen Ausweg, der zwar nicht alles wieder gutmachen konnte, aber doch die Möglichkeit bot, eine Person aus dieser Katastrophe zu retten, vielleicht auch zwei – dabei war er natürlich eingeschlossen.

 

Er verbrannte sofort das Papier an dem Kamin und ging in den keinen anstoßenden Raum, der ihm als Werkstatt diente. Dort arbeitete er eine Stunde lang fieberhaft. Um halb sieben trug er eine rechteckige Kiste auf die Straße und einen schweren Rucksack, setzte beides sehr vorsichtig in seinen Wagen und fuhr nach Ratcliff Highway. Indem er sich durch die engen Gassen wand, die zum Fluß führten, kam er zum Ufer. Glücklicherweise fand er sofort einen Bootsmann, der ihn gegen Entschädigung zu einem der schwarzen Dampfer ruderte, die im Pool vor Anker lagen. Ein Chinese mit undurchdringlichem Gesicht grüßte ihn vom Fallreep. Er bot sich an, die Pakete für ihn an Bord zu tragen, aber der Major lehnte ab.

 

Auf dem Schiff war ein schwarzer Kapitän und ein schwarzer Zahlmeister. Der letztere war ein gutmütiger Mann, dem Spedwell früher einmal das Leben gerettet hatte. Damals hinderte er Fing-Su daran, seinen Zorn an dem schwarzen Offizier auszulassen, und dadurch wurde viel Blutvergießen vermieden. Denn die Kru-Neger halten untereinander stark zusammen. Als Spedwell nun an Bord kam, ließ er den Zahlmeister rufen.

 

»Sie brauchen Fing-Su nicht zu sagen, daß ich an Deck gewesen bin«, sagte er. »Ich habe hier etwas, das ich zur Küste mitnehmen will.«

 

»Fahren Sie auch mit, Herr Major?« fragte der Zahlmeister.

 

»Es ist leicht möglich, daß ich auch mitkomme«, antwortete er. »Ich weiß es noch nicht genau. Die Hauptsache ist aber, daß niemand erfährt, daß ich diese Sachen an Bord gebracht habe.«

 

Der Zahlmeister nahm ihn mit sich zu einer großen Kabine auf dem vorderen Wellendeck.

 

»Wie lange ist denn dieser Raum schon für Passagiere benutzt worden?« fragte der Major mit einem Stirnrunzeln.

 

»Er ist noch nie benutzt worden«, antwortete der schwarze Offizier, »aber Fing-Su hat Auftrag gegeben, daß er für einen Passagier hergerichtet werden soll.«

 

»Nicht für ihn selbst – denn er hat die Kapitänskabine. Wer soll denn diese Fahrt mitmachen?«

 

Aber das wußte der Zahlmeister auch nicht. Er gab Spedwell einen Platz an, wo er die Gepäckstücke, die er mitgebracht hatte, unterbringen konnte. In der Kabine war eine verhältnismäßig kleine schwarze Truhe mit zwei Krampen für Vorhängeschlösser an der Wand befestigt. Spedwell setzte sein Gepäck vorsichtig auf dem Boden der Kabine nieder.

 

»Ich will die Vorhängeschlösser für Sie holen«, sagte der Offizier und verschwand.

 

Seine Abwesenheit war Spedwell sehr erwünscht, denn er mußte noch gewisse heikle Justierungen vornehmen, bei denen der Zahlmeister nicht zusehen sollte. Als das erledigt war, füllte er die Truhe mit quadratischen braunen Kuchen, die er aus seinem Rucksack nahm. Sie waren in dem zur Verfügung stehenden Raum kaum alle unterzubringen. Aber er hatte seine Arbeit gerade vollendet und die Truhe eben geschlossen, als der schwarze Offizier zurückkehrte.

 

Spedwell richtete sich auf und klopfte den Staub von seinen Knien.

 

»Nun hören Sie gut zu, Haki. Wer bedient Ihre drahtlose Station?«

 

»Entweder ich oder einer meiner Chinesenboys. Die Anlage befindet sich in meiner Kabine. Warum fragen Sie?«

 

Spedwell gab ihm den Schlüssel für die Truhe zurück.

 

»Stecken Sie ihn ein, und lassen Sie ihn niemals herumliegen. Wenn Sie ein Radiotelegramm von mir bekommen, das lautet: ›Alles in Ordnung‹, dann nehmen Sie den ganzen Inhalt aus der Kiste heraus und werfen ihn über Bord. Wahrscheinlich werden Sie meine Botschaft erhalten, bevor Sie den Kanal verlassen. Haben Sie alles richtig verstanden?«

 

Haki nickte und machte vor Verwunderung große Augen.

 

»Ich verstehe den Zusammenhang zwar nicht, aber ich werde das tun, was Sie mir gesagt haben, Herr Major. Wollen Sie etwas herausschmuggeln?«

 

Aber Spedwell gab keine weitere Auskunft. Er sagte Haki nicht, daß er unter gewissen Umständen ein anderes Radiotelegramm erhalten würde. Dazu war noch Zeit genug, wenn die Krisis wirklich kommen sollte.

 

»Aber angenommen, Sie reisen mit uns?« fragte der Neger hartnäckig.

 

»In dem Fall«, sagte Spedwell mit einem schlauen Lächeln, »würde ich Ihnen die Botschaft ins Ohr sagen können, wenn ich mitreise – und am Leben bin.«

 

Kapitel 31

 

31

 

Joe Bray kam kurz nach zehn in Clarges Street an. Die Regenwolken hatten es zeitig dunkel werden lassen, und so war es ihm möglich, früher von Sunningdale fortzukommen. Er war aufs äußerste gespannt und erregt, denn die Nacht versprach ein Abenteuer. Und Abenteuer liebte Joe über alles.

 

»Es war eine gute Idee von dir, Cliff, mich von der Rückseite in deine Wohnung kommen zu lassen. Niemand hat mich gesehen«, sagte er.

 

»Ich hätte dir diese Mühe sparen können«, meinte Clifford. »Fing-Su weiß, daß du lebst.«

 

Joe Brays Gesicht wurde lang. Diese Nachricht raubte ihm die halbe Freude an dem Abenteuer.

 

»Ich habe einen Mann in Narths Office für mich gewonnen«, erzählte Clifford. »Er heißt Perkins, es hat mich mehr Zeit als Geld gekostet, um ihn auf meine Seite zu bringen, denn er gehört noch zu den guten, ehrlichen Leuten. Sind die Detektive auf ihren Posten?«

 

Joe nickte.

 

»Ich war etwas enttäuscht, Cliff, als ich sie sah«, sagte er fast vorwurfsvoll. »Sie sehen genau so aus wie gewöhnliche Leute, wie du und ich. Keiner würde sie für Detektive halten.«

 

»Das scheint mir doch ein großer Vorteil zu sein«, lachte Clifford. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, fragte er: »Hattest du noch einmal mit Joan Verbindung?«

 

»Nein. Du hast es mir doch verboten!« sagte er selbstzufrieden.

 

»Weißt du wenigstens, ob sie zurückgekommen ist?« Clifford seufzte. »Ihretwegen habe ich keine große Sorge, denn Scotland Yard hat einen Mann speziell damit beauftragt, sie zu bewachen. Er wird wahrscheinlich später seinen Bericht durchgeben.«

 

»Wie hast du es eigentlich fertiggebracht, Cliff, daß Scotland Yard mittut?« fragte Joe neugierig. »Und wenn sie uns helfen, warum wird denn Fing-Su nicht festgenommen?«

 

»Weil sie nicht genügend Beweismaterial in Händen haben, überhaupt jemand in dieser Angelegenheit festzusetzen«, entgegnete Cliff kurz.

 

Die ganze Schwierigkeit der Lage kam ihm zum Bewußtsein, und er fühlte, wie heftig der Kampf mit Fing-Sus unsichtbaren Streitkräften entbrannt war.

 

»Deine Neugierde wegen Scotland Yard kann bald gestillt werden. Im übrigen ist der Platz ganz und gar nicht romantisch. Inspektor Willing kommt heute abend zu mir und wird mit uns den Strom hinunterfahren. Kannst du auch schwimmen, Joe?«

 

»Natürlich! Ich kann alles, was von einem tüchtigen Mann verlangt wird«, sagte er pathetisch. »Du mußt dir ein für allemal den Gedanken aus dem Kopf schlagen, Cliff, daß ich zu nichts zu gebrauchen sei. Ein Mann im Alter von fünfzig Jahren steht auf der Höhe seines Lebens, wie ich dir ja schon immer gesagt habe.«

 

Gleich darauf kam Inspektor Willing – ein dünner, ausgemergelter Mann mit beißendem Humor und einer sehr geringen Meinung von den Menschen. In mancher Beziehung glich er mehr der Vorstellung, die sich Joe von einem Detektiv gemacht hatte, als die drei Leute, die er heute abend in Sunningdale kennengelernt hatte. Es imponierte ihm sehr, daß der Inspektor äußerst wenig sprach. Er machte auf ihn den Eindruck, daß er unfehlbar sei und sich in nichts irren könne.

 

»Sie wissen, daß wir die ›Umgeni‹ heute morgen durchsucht haben? Sie wird diese Nacht abfahren.«

 

Clifford nickte.

 

»Wir haben nichts gefunden, was nach Konterbande ausgesehen hätte. Vermutlich werden sie es später mit der ›Umveli‹ senden – das ist das Schwesterschiff. Sie liegen Seite an Seite im Pool verankert. Aber die ›Umveli‹ wird erst in einem Monat abfahren und läuft vorher Newcastle an. Haben Sie etwas von Long gehört? Das ist der Mann, den ich auf die Spur von Miß Bray geschickt habe.« Und als Clifford den Kopf schüttele, fuhr er fort: »Ich dachte, daß er direkt an Sie berichtet hätte. Wahrscheinlich ist er mit ihr nach Sunningdale zurückgekehrt. – Nun, Mr. Lynne, was ist Ihrer Meinung nach das Endziel der Pläne dieses Chinesen?«

 

»Sie meinen Fing-Su? Soviel ich vermute, hat er die Absicht, eine neue Dynastie in China zu gründen. Bevor er das aber zustande bringen kann, müßte er nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge erst die Söldnergeneräle niederkämpfen, die das ganze Land unter sich aufgeteilt haben. Aber ich glaube, er hat einen leichteren Weg gefunden. Jeder General in China hat seinen Preis – man muß sich immer vergegenwärtigen, daß die Chinesen nicht patriotisch sind. Sie kennen das Gefühl nicht, das wir Vaterlandsliebe nennen. Sie betreiben ihre Politik von einem egoistischen Standpunkt aus. Es fehlt ihnen der weite Horizont. Viele von ihnen merken überhaupt nicht, daß die Mongolei inzwischen eine russische Provinz geworden ist. Die Generäle sind Räuber in ganz großem Maßstab. Die Entscheidung der Schlachten hängt davon ab, wieviel Soldaten auf jeder Seite desertieren. Unter Strategie versteht man in China, den höchsten Preis für den eigenen Verrat herauszuschlagen und die eigenen Absichten bis zum letzten Augenblick zu verschleiern.«

 

»Und Narth – er ist mir ein Rätsel«, sagte Willing. »Ich kann nicht sehen, welchen Wert er für Fing-Su und seine Leute haben könnte. Der Mann ist nie ein Genie gewesen, und er ist auch kein Haudegen.«

 

»Narth ist für die Leute sehr brauchbar, irren Sie sich darin nicht. Obgleich er geschäftlich vor dem Bankerott steht, hat er doch die besten Beziehungen zur City – damit will ich sagen, daß es keinen besseren Mann in London gibt als Stephen Narth, wenn es sich darum handelt, Menschenleben gegen Dollars einzuhandeln. Er steht in persönlicher Fühlung mit den Chefs der großen Bankgruppen und hat gerade die Kenntnis, die Fing-Su bei der Durchführung größerer finanzieller Transaktionen fehlen. Sollte Fing-Su Erfolg haben, dann werden verschiedene wertvolle Konzessionen zu haben sein, und Narth wird Fing-Sus Agent sein! Augenblicklich ist er eine zweifelhafte Existenz, und Fing-Su weiß das auch sehr genau. Durch das Geld, das er ihm lieh, hat er ihn aber nicht so völlig in die Hand bekommen, wie er es sich einbildet. Trotzdem wird Stephen Narth bald an die Gesellschaft der ›Freudigen Hände‹ mit eisernen Ketten gebunden sein. Möglicherweise könnte das Brimborium der Aufnahmezeremonie ihn abstoßen – aber auch das bezweifle ich.«

 

Er sah nach seiner Uhr.

 

»Es wird Zeit, daß wir aufbrechen«, sagte er. »Ich habe ein elektrisches Motorboot bestellt, das uns in Wapping erwartet. Haben Sie eine Schußwaffe bei sich?«

 

»Die brauche ich nicht!« sagte der Inspektor heiter. »Ich habe einen Spazierstock, der hat es buchstäblich in sich – und er macht auch keinen Lärm. Aber soviel ich sehe, wird es ein verlorener Abend. Wir haben die ›Umgeni‹ doch durchsucht –«

 

»Ich fahre nicht aus, um die ›Umgeni‹ zu sehen«, sagte Cliff. »Ihr Schwesterschiff liegt Bord an Bord mit ihr –«

 

»Aber die fährt doch erst in einem Monat ab.«

 

»Im Gegenteil – sie fährt heute abend«, sagte Cliff.

 

Der Inspektor lachte.

 

»Sie scheinen sehr wenig mit Schiffen vertraut zu sein«, sagte er. »Sie wird an der Mündung des Flusses aufgehalten, und man wird ihre Papiere genau prüfen. Wenn sie nicht in Ordnung sind, kommt sie aus der Themse nicht heraus.«

 

»Und ich sage Ihnen, die Papiere werden in Ordnung sein«, bemerkte Clifford geheimnisvoll.

 

Kapitel 32

 

32

 

Für ein Künstlerauge hat der Pool von London seine ganz besonderen Schönheiten. Hier liegen die großen Ozeanriesen vor Anker, und der Handel der halben Welt geht über diesen Wasserweg. Man kann dort seine Farbenstimmungen beobachten, besonders an einem schönen Abend – ein Nocturno von grauen, blauen und rostroten Tönen. Es ist wirklich ein romantisches Wasserbecken, selbst an trüben Wintertagen, wenn die schmutzigen Schiffe mit ihren verrußten Schornsteinen langsam von der sonnigen See herkommen, um auf diesen lehmigen Wassern auszuruhen.

 

Der Sommerabend war düster und regnerisch. Ein ungleichmäßiger, scharfer Nordwind, der bis auf die Knochen durchging, fegte über das Wasser. So war es erklärlich, daß die Leute, die heute abend auf den Strom hinaus wollten, wenig Interesse für die Schönheit des Pools bekundeten. Clifford fand das große elektrische Motorboot, das am Fuße einer Steintreppe wartete. Schnell waren sie eingestiegen, das Boot stieß ab und schlüpfte unter dem weit überhängenden Hinterschiff eines norwegischen Holzdampfers auf die Mitte des Stromes. Ein Polizeiwachtboot löste sich aus der Finsternis, rief sie an, war mit der Antwort zufrieden und folgte ihrer Spur.

 

Es war günstig, daß die Flut vom Meer hereinkam, so konnten sie mit halber Kraft fahren.

 

Clifford hatte den Plan, an Bord des Schiffes ein Versteck zu suchen, und wenn sie dort unentdeckt blieben, mit dem Dampfer bis nach Gravesend herunterzufahren, wo der Lotse an Bord ging und die Papiere des Schiffes geprüft wurden, bevor es die Erlaubnis erhielt, seine Fahrt fortzusetzen. Wenn sie entdeckt würden, hatte Willing die notwendige Autorität, um ihre Gegenwart zu rechtfertigen und in der elften Stunde noch einmal eine Durchsuchung nach verbotenen Exportgütern durchzusetzen.

 

Rechts und links von ihnen lagen Schiffe, manche in Schweigen und Dunkel gehüllt, nur ihre Signallichter brannten; andere dagegen waren hellerleuchtet, betäubender Lärm, das Rattern der Winden und Krane tönte zu ihnen herüber. Große helle Lampen hingen an den Seiten der Schiffe und erleuchteten die schwarze Wasserfläche. Ein verspäteter Vergnügungsdampfer kam an ihnen vorbei, Tanzmelodien klangen herüber, er sah aus wie ein schwimmender Palast.

 

Die vier Männer, die an Bord des Motorbootes waren, trugen Ölkleider und Südwester. Diese Vorsichtsmaßregel war berechtigt, denn bevor sie die Mitte des Stromes erreicht hatten, verdichtete sich der Nebel zu Regen.

 

»Ich habe Sehnsucht nach China, wo das ganze Jahr die Sonne lacht!« murmelte Joe Bray, der zusammengekauert auf dem Boden des Bootes saß. Aber niemand antwortete ihm.

 

Nach einer Viertelstunde sagte Inspektor Willing mit gedämpfter Stimme:

 

»Rechts vor uns liegen die Schiffe an der Surrey-Side.«

 

Die »Umgeni« und die »Umveli« waren, wie er gesagt hatte, Schwesterschiffe. Man hätte sie eher Zwillinge, als Schwestern nennen können. Ihre schwarzen Schiffsrümpfe und Schornsteine kannte jeder, der in dieser Gegend zu tun hatte. Beide hakten dieselbe merkwürdige, überhängende Kommandobrücke, denselben langen Oberbau, der weit nach vorne lief. Auf beiden erhob sich nur je ein Mast, und beide hakten unnötigerweise vorne am Bug eine vergoldete Neptunsfigur. Man brauchte nicht lange zu fragen, welches von beiden Schiffen die »Umgeni« war, denn ihre Decks waren hell erleuchtet. Als sie in Sehweite kamen, zog ein kleiner Schleppdampfer drei leere Leichter von ihrer Seite fort. Etwas mehr wie eine Schiffslänge von ihr entfernt, lag die »Umveli« an Stahltrossen vertäut, eine dunkle leblose Masse.

 

»Haben Sie die ›Umveli‹ nicht durchsucht?«

 

»Nein, das schien kaum notwendig. Sie liegt erst seit acht bis neun Tagen im Strom und ist die ganze Zeit am Entladen.«

 

»Bei Nachtzeit«, bemerkte Clifford mit Nachdruck. »Das Schiff, das während der Nacht die Ladung zu löschen scheint, kann ebensogut bei Nacht Ladung nehmen.«

 

Die hellen Lichter der »Umgeni« beleuchteten auch die Steuerbordseite des Schwesterschiffs, und Lynne richtete den Kiel des Motorboots nach dem Ufer zu. Er nahm einen Kurs, der ihn in den Schatten des Dampfers brachte.

 

»Für ein leeres Schiff liegt sie doch viel zu tief im Wasser?« fragte er, und der Inspektor gab ihm recht.

 

»Sie geht mit Ballast nach Newcastle und wird dort repariert«, sagte er. »So bin ich wenigstens informiert.«

 

Man konnte die beiden Schiffe nicht gut verwechseln. Das Work »Umgeni« stand in großen, meterbreiten Buchstaben am Rumpf. Als sie auf die dunkle Seite der »Umveli« kamen, schaute Lynne in die Höhe. Sie fuhren unter dem Hinterschiff durch, und er entdeckte etwas, das ihn außerordentlich interessierte.

 

»Sehen Sie einmal dorthin«, sagte er leise, während er mit seinem Finger in eine bestimmte Richtung wies.

 

»Die Buchstaben ›vel‹ sind vom Hinterschiff entfernt worden.«

 

»Zu welchem Zwecke?«

 

»Sie tauschen ihre Namen aus – das ist alles!« sagte Clifford lakonisch. »In zwei Stunden fährt die ›Umveli‹ mit den Schiffspapieren der ›Umgeni‹ die Themse hinunter, und morgen fährt ostentativ die umgetaufte ›Umgeni‹ hinaus nach Newcastle.«

 

Sie fuhren in tiefem Schweigen, und das dunkel gestrichene Motorboot war für ein unbewaffnetes Auge sucht sichtbar. Trotzdem wurden sie von einer kreischenden Stimme angerufen, als sie in der Höhe einer heruntergelassenen Strickleiter vorbeifuhren.

 

»Was ist das für ein Boot?«

 

»Wir fahren vorbei«, rief Lynne barsch.

 

Er stellte sein Nachtfernglas ein und inspizierte damit das Schiff. Plötzlich sah er noch einen zweiten Wachtposten auf dem Vorderdeck stehen. Und was noch wichtiger war – auf der Kommandobrücke bemerkte er drei schattenhafte Gestalten. Aus dem großen Schornstein stieg Rauch auf.

 

»Für ein leeres Schiff etwas viel Bewachung«, sagte er. Er erwartete, daß ihn der Posten auf dem Vorderdeck anrufen würde. Aber scheinbar war dieser Mann nicht so wachsam wie sein Kamerad. Clifford sah, wie er sich wegwandte und langsam nach der Treppe ging, die zu dem Wellendeck führte. Er ließ das Motorboot so beidrehen, daß es unter das Bugspriet zu liegen kam.

 

Als es erreicht war, faßte er mit einem gummiüberzogenen Bootshaken die Ankerkette und brachte das Fahrzeug zum Stehen. Im nächsten Augenblick hatte er sich aus dem Boot geschwungen und klomm Hand über Hand in die Höhe, bis er den Arm um das Bugspriet legen konnte. Als er vorsichtig das Vorderdeck entlang spähte, hörte er eine entfernte Stimme einen Namen rufen. Der Wächter auf dem Vorderdeck ging fort und kam außer Sehweite. Sofort gab Clifford die Botschaft nach unten weiter. Zuerst kam Willing herauf, dann Joe Bray, der eine ganz besondere Behendigkeit an den Tag legte. Beide folgten ihm durch das verlassene Schiff. Als der Führer des Motorboots gesehen hatte, daß alle drei sicher an Bord waren, stieß das Fahrzeug wieder vom Schiff ab, wie es vorher verabredet worden war, und verschwand in der Dunkelheit.

 

»Wir wollen zum Wellendeck hinuntergehen«, flüsterte Lynne. Er eilte voraus und stieg die Leiter hinunter, jeden Augenblick gewärtig, daß man ihn anrufen würde.

 

Aber auch das Wellendeck lag ganz verlassen da. Aus einem offenen Gang hörte er den Ton einer Mundharmonika, während von oben das Klopfen eines Hammers gegen einen Eisenkeil ertönte. Man schloß noch verspätet eine Ladenluke. Ein enger Verbindungsgang führte von hier unter das Hauptdeck. Wenn die drei dieses erreichten, ohne die Aufmerksamkeit der Männer auf der Kommandobrücke zu erregen, dann war es nicht schwer, auf dem großen Dampfer ein Versteck zu finden.

 

Sie hielten sich im Schatten der Reling. Clifford kroch auf allen Vieren. Joe und Willing folgten ihm, und so kamen sie ohne Zwischenfall zu dem Verbindungsgang. Hier entdeckten sie einen Platz, wo sie sich verstecken konnten. Unmittelbar unter der Brücke und genau zwei Decks tiefer lag eine große Kabine. Nach den Schrammen und der Verfärbung der Wände zu schließen, hakte man früher Ladung darin verstaut. Zwei dunkel brennende Wandlichter ließen erkennen, daß dieser Raum als Passagierkabine eingerichtet war. Ein Tisch und zwei oder drei Stühle standen darin, ein großes Paket mit der Aufschrift einer bekannten Londoner Buchhandlung lag auf dem Tisch. Ein nagelneuer Teppich bedeckte den Fußboden. Er mußte erst vor kurzer Zeit dorthin gelegt worden sein, denn er zeigte noch die charakteristischen Knicke, die sich im rechten Winkel kreuzten.

 

Obwohl der Raum die ganze Breite des Schiffes einnahm, war er doch nicht mehr als drei Meter tief. In der Hinteren Eisenwand befanden sich zwei enge Türen. Die eine war mit einem Vorhängeschloß versehen und mit Bolzen befestigt, die andere war nur angelehnt. Clifford stieß sie auf und ging in den Raum, den er mit seiner Taschenlampe absuchte.

 

Es war nur eine kleine Kabine ohne Fenster. Frische Luft wurde, wie er sah, durch einen Deckenventilator zugeführt. Die Atmosphäre war rein, und es herrschte eine angenehme Zirkulation im Raum. In einer Ecke gewahrte er eine kleine Messingbettstelle, die durch Stangen an der Decke befestigt war. In der anderen Ecke weiter hinten war ein Platz zum Baden mit vertieftem Fußboden eingerichtet. An der Decke sah er eine erst kürzlich angebrachte Dusche. Darunter stand eine Badewanne aus feuerfestem Ton. Ein mit Schnitzereien überladener Kleiderschrank, der viel zu groß für einen so kleinen Raum war, vervollständigte die Einrichtung.

 

Als er Fußtritte draußen auf dem Deck hörte, winkte Clifford seine beiden Begleiter in den engen Raum hinein. Durch einen Spalt in der Tür sah er, wie ein chinesischer Matrose eintrat und Umschau hielt. Sogleich ging er zur Türe zurück und rief etwas. Ein anderer Matrose kam zu ihm, und sie sprachen miteinander in einer Mundart, die weder Joe Bray noch Clifford verstand. Anscheinend waren es Südchinesen. Der Inhalt ihres Gesprächs schien sie sehr zu belustigen, denn sie unterbrachen ihre Unterhaltung oft durch rauhes Gelächter.

 

Plötzlich streckte einer der Leute seine Hand aus, faßte die Tür der inneren Kabine und schlug sie zu Cliffords größtem Schrecken fest zu, bevor sie eigentlich recht wußten, was sich zutrug. Clifford hörte das Geräusch, wie der Riegel einschnappte, und dann vernahm er, wie auch die Tür des äußeren Raumes zugeworfen wurde. Sie waren gefangen!

 

Kapitel 25

 

25

 

Miß Mabel gehörte nicht zu den Mädchen, die sich vor Gewitter fürchten. Während ihre empfindlichere Schwester sich im Kohlenkeller versteckt hatte, strickte sie eifrig im Wohnzimmer, wobei sie Joan ihr merkwürdiges Abenteuer von heute morgen erzählte.

 

»Mancher würde sagen, er sei alt – aber ich behaupte, daß er eine männlich markante Erscheinung ist. Auch ist er ungeheuer reich, liebe Joan.«

 

Mabel war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Sie hatte eine gedrungene Gestalt und war gerade nicht sehr beliebt bei den hübschen jungen Leuten, die mit ihr tanzten, Tennis spielten und manchmal mit ihr zu Abend speisten. Alle vermieden ängstlich die eine für sie so wichtige Frage zu stellen. Zweimal hatte sie allerdings Heiratsanträge gehabt. Einmal war es ein unmöglicher junger Mann, dem sie auf einem Ball vorgestellt worden war, und von dem sich später herausstellte, daß er ein Schauspieler war, der ganz kleine Nebenrollen in einem Operettentheater im Westen spielte. Der andere war ein Geschäftsfreund ihres Vaters, der gerade noch tiefe Trauer um seine zweite Frau trug, als er schon schüchtern bei ihr anfragte, ob sie seine dritte werden wollte.

 

»Ich liebe die Männer, die sich ausgetobt und sich ihre Hörner abgestoßen haben, Joan«, sagte Mabel überzeugt. Sie schloß schnell die Augen, als ein greller Blitz sie blendete. »Willst du die Güte haben, die Vorhänge zuzuziehen?«

 

Joan hatte noch nie erfahren, daß sie so liebenswürdig sein konnte und war neugierig, wer der Fremde sein mochte, der einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte.

 

»Jungen Männern kann man niemals trauen, sie sind zu oberflächlich, aber reife Männer … und außerdem ist er doch so unheimlich reich. Er erzählte mir, daß er versucht, das große Besitztum von Lord Knowesley zu kaufen. Auch steht er in Unterhandlung wegen eines Hauses in der Parc Lane. Er hat drei Rolls Roice-Wagen, meine Liebe – denke dir, gleich drei!«

 

»Aber wer ist es denn, Mabel?«

 

Darauf konnte sie nicht antworten, denn in ihrer mädchenhaften Bescheidenheit hatte sie nicht gewagt, so weit in seine Privatverhältnisse einzudringen und ihn nach seinem Namen zu fragen.

 

»Er muß hier irgendwo in der Nachbarschaft wohnen. Ich denke, daß er ein Haus in Sunningdale gemietet hat.«

 

»Wie alt ist er denn?«

 

Mabel dachte nach. »Ungefähr fünfzig«, sagte sie dann und strafte damit die Behauptung Mr. Brays Lügen. »Das ist aber ein böser Sturm. Gehe bitte in den Kohlenkeller, Joan, und sieh mal nach, wie es dem dummen Kind unten geht.«

 

Joan fand das »dumme Kind« in einem Korbstuhl sitzen. Letty hatte sich eine Zeitung über den Kopf gelegt. Sie lehnte es ab, vernünftig zu werden und nach oben zu kommen.

 

Als Joan in das Wohnzimmer zurückkehrte, empfing sie Mabel mit einer merkwürdigen Frage.

 

»Hat dein entsetzlicher junger Freund Besuch bekommen?«

 

Im ersten Augenblick verstand Joan nicht, was Mabel wollte. In ihren Gedanken hatte sie Clifford Lynne nie so genannt.

 

»Junger Freund? Du meinst Mr. Lynne?«

 

Dann begriff sie auf einmal. Mabel hatte von Joe Bray gesprochen! Sie war zu verwirrt, um zu lachen, und konnte nur ganz erstaunt die dicke Mabel betrachten. Zum Glück beachtete die älteste Tochter von Stephen Narth bei ihrer eifrigen Strickarbeit nicht, welche Sensation sie hervorgerufen hatte.

 

»Ich wunderte mich, daß er in der Richtung nach Slaters Cottage fortging. Nachher kam mir der Gedanke, daß er möglicherweise bei Mr. Lynne wohnte, der doch so reich ist. Ich vermute, daß er auch eine Menge reicher Freunde hat.«

 

Joan fand noch keine Antwort. Sie durfte dem Mädchen nicht sagen, wer es eigentlich war, der ihr Interesse erweckt hatte, ohne das Clifford gegebene Versprechen zu brechen. Aber sie war gespannt darauf, was Mabel für ein Gesicht machen würde, wenn sie es erführe.

 

Es war schon zehn Uhr, und Mr. Narth war noch nicht von der Stadt zurückgekommen, als die beiden einen leisen Schritt vor der Türe hörten. Der Sturm hatte nachgelassen, obgleich der Donner noch grollte. Joan ging hinaus und fand einen naßgeregneten Umschlag in dem Kasten für Telegramme. Die Aufschrift lautete: An Miß Mabel. Sie brachte ihren Fund zum Wohnzimmer. Mabel nahm den Brief in Empfang und riß das Kuvert auf. Sie zog ein großes Schreiben daraus hervor, in dem viel herumgestrichen war. Sie las es und ihre Augen glänzten.

 

»Es ist ein Gedicht, Joan!« sagte sie atemlos.

 

Es war keine Unterschrift unter den Zeilen. Aber Mabel strahlte vor Begeisterung.

 

»Wie schön er das gesagt hat, wie schrecklich romantisch!« rief sie aus. »Er muß es persönlich in den Kasten geworfen haben!«

 

Plötzlich sprang sie von ihrem Stuhl auf, lief zur Halle und öffnete die Tür. Es war ganz dunkel auf der Fahrstraße. Der Regen hatte aufgehört. Sie überlegte einen Augenblick. Sollte sie ihm nachlaufen? Durfte eine junge Dame so etwas tun? Würde das nicht buchstäblich nach Männerjagd aussehen? Aber sie hatte schon eine Entschuldigung für einen kleinen Ausflug bei der Hand. Joan ging nämlich gewöhnlich um diese Zeit mit Briefen, die sie geschrieben hatte, zum Kasten, der draußen unweit vom Tore angebracht war. Ohne Zögern ging sie so schnell wie möglich den Weg entlang. Ihr Herz schlug vor Freude. Als sie zur Biegung des Weges kam, machte sie halt. Sie konnte niemand sehen und mußte sich doch wohl geirrt haben.

 

Ein unheimliches Gefühl von Furcht überkam sie und ließ sie zu Eis erstarren. Sie drehte sich um und lief zurück. Aber kaum hatte sie einige Schritte getan, als ihr plötzlich ein muffiges Bettuch über den Kopf geworfen wurde, eine große, dicke Hand legte sich schwer auf ihren Mund und erstickte ihre Schreie. Sie wurde ohnmächtig…

 

Joan wartete im Wohnzimmer. Als sie aber das Schließen der Tür hörte, ging sie in die Halle. Der Wind hatte das Haustor zugeschlagen. Sie öffnete es weit und sah in das Wetter hinaus. Zwei rasch aufeinanderfolgende Blitze zeigten ihr, daß niemand auf der Fahrstraße war.

 

»Mabel!«

 

Sie rief den Namen des Mädchens, so laut sie konnte. Aber es kam keine Antwort zurück.

 

Joan erschrak.

 

Sie ging ins Wohnzimmer zurück und klingelte nach dem Diener. Er war ein langsamer Mensch, und während sie ungeduldig auf ihn wartete, erinnerte sie sich an die schwarze Kugel, die Clifford ihr gegeben hatte. Da hatte sie wenigstens eine Waffe. Sie eilte die Treppe hinauf und war schon wieder zurück, als der Diener erschien.

 

»Miß Mabel ist ausgegangen? Sie wird bald wieder zurückkommen!«

 

Er blickte verstört durch die offene Tür in das Wetter. Es blitzte unaufhörlich.

 

»Ich bin so nervös, ich kann Blitze nicht vertragen.«

 

»Kommen Sie mit«, befahl Joan und lief aus dem Hause. Aber sie mußte allein gehen. Der Diener machte an der Türe wieder kehrt. Er glaubte, daß es nicht zu den Pflichten eines Dieners gehöre, in einem solchen Unwetter auszugehen.