Kapitel 16

 

16

 

Joan Bray bewohnte ein großes Oberzimmer, das nach und nach der gemütlichste Raum im ganzen Haus geworden war. Als man es ihr überließ, war es ganz einfach möbliert. Aber die Angestellten in Sunni Lodge verehrten Joan, und auf geheimnisvolle Weise waren seltene und hübsche Möbelstücke in den geräumigen Dachraum mit seinen großen Fenstern gekommen, von denen man einen guten Fernblick hatte. Dieses Zimmer war ihr jetzt besonders wertvoll, da sie von hier aus den viereckigen Schornstein von Slaters Cottage sehen konnte. Dies gab ihr ein undefinierbares Gefühl von Zusammengehörigkeit mit dem seltsamen Mann, der ihren Weg gekreuzt hatte.

 

Die beiden Mädchen waren nicht zu Hause, als sie ankam. Sie ging die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, verschloß die Tür und setzte sich auf ein altertümliches Sofa nieder. Dann stützte sie ihren Kopf in die Hand und versuchte ihrer Aufregung Herr zu werden. Von Anfang an hatte sie vermutet, daß Clifford Lynne kein Angestellter ihres Verwandten war. Jetzt wußte sie, daß er ein riesiges Vermögen besaß und viel reicher war als Joe selbst. Was für einen Eindruck würde das auf Stephen Narths Verhalten machen, wenn er es wüßte? Wenn Clifford Lynne nun nicht als wilder Mann mit großem Bart und schlechtsitzenden Kleidern nach Sunni Lodge gekommen wäre, sondern als vornehmer, gutaussehender Gentleman und außerdem nicht in der Rolle eines Geschäftsführers, sondern als Teilhaber Joe Brays, zweifelte sie keinen Augenblick daran, was sich dann ereignet hätte. Trotzdem bedrückte sie die Tatsache, daß Clifford so reich war. Sie konnte nicht sagen, warum. Damals hatte sie ihre Gefühle bezwungen und in diese schreckliche Heirat mit einem unbekannten Mann gewilligt, und was damals ein großes Opfer schien, hatte sich jetzt als ein großes Glück entpuppt. Sie schüttelte den Kopf. Selbst betrügen wollte sie sich nicht. Von Anfang an war es für sie eigentlich kein Opfer, der Fremde hatte sie vom ersten Augenblick an gefesselt. Er war eine Persönlichkeit, die so außerhalb alles gewöhnlichen Erlebens stand, daß schon dadurch gleich alle ihre Zweifel beseitigt waren.

 

Joan begann das Leben von einem ganz anderen Gesichtswinkel aus zu betrachten. Sie war sich klar, welchen großen Umschwung diese Heirat hervorrufen würde, und Letty (oder war es Mabel?) hatte ganz recht: was wußte ein Mädchen über ihren Liebsten, in dessen Hände sie ihre Zukunft legte? Aber sie hatte schon vieles erfahren und wußte mehr von dem Wesen Clifford Lynnes, als viele andere Bräute in ihrer Bekanntschaft von dem Charakter der Männer wußten, die sie später heiraten sollten.

 

Sie ging zum Fenster und war in dem Anblick von Slaters Cottage versunken, das heißt, man konnte davon nicht viel mehr als den viereckigen Schornstein sehen, der jetzt rauchte. Sie erinnerte sich daran, daß Clifford eine Menge Lebensmittel in seinem Wagen hatte, und sie war gespannt, ob er als Koch sich ebenso auszeichnen würde wie sonst im Leben.

 

Holzfäller waren bei der Arbeit, die Bäume um das Haus niederzulegen. Gerade sah sie, wie eine hohe Fichte sich langsam neigte, sie hörte das Brechen der Äste, als sie auf den Boden aufschlug. Morgen würde das Haus ganz zu sehen sein, dachte sie. Sie drehte sich um, da sie Schritte vor der Türe hörte.

 

»Hier ist Letty«, sagte eine schrille Stimme. Als sie schnell aufgeschlossen hatte, fragte Letty:

 

»Warum schließt du dich denn ein, Joan?«

 

Letty war lange Zeit nicht mehr hier oben gewesen und sah sich nun ganz erstaunt um.

 

»Du bist hier oben sehr gut eingerichtet«, sagte sie. Wäre Joan lieblos genug gewesen, so hätte sie in dieser überraschten Äußerung einen Unterton von Mißbilligung hören können. »Vater war eben am Telephon. Er wird heute abend nicht nach Hause kommen. Er möchte, daß wir mit ihm in der Stadt zu Abend essen. Macht es dir etwas aus, allein zu bleiben?«

 

Die Frage war deplaciert. Wie oft hatte sie die Abende allein zugebracht und war froh, daß man sie nicht störte.

 

»Es ist möglich, daß wir sehr spät nach Hause kommen, weil wir nach dem Theater noch ins Savoy-Hotel zum Tanz gehen.«

 

Letty stand schon wieder in der Tür, als ihr noch etwas einfiel.

 

»Ich habe diesen Mr. Lynne gesehen, Joan. Er sieht sehr gut aus. Warum kam er denn zuerst in solch einem lächerlichen Aufzug hierher?«

 

Jetzt kam die unvermeidliche Auseinandersetzung, die Joan ja vorausgesehen hatte. Gedankengänge entwickelten sich scheinbar parallel in Sunni Lodge.

 

»Nicht daß das irgendwelchen Unterschied in meiner Haltung gegen ihn machte!« sagte Letty, indem sie ihren Kopf nach hinten warf. »Ein Mädchen kann eben nicht auf gut Glück heiraten.«

 

Joan konnte auch ein Kobold sein und Schabernack spielen, obendrein war sie auch neugierig; was Letty sagen würde, wenn sie ihr auch noch das andere mitteilte.

 

»Clifford Lynne ist keineswegs ein armer Mann – er ist unendlich reich«, sagte sie. »Mr. Bray hat nur ein Zehntel der gesamten Aktien der Gesellschaft, Clifford Lynne dagegen acht Zehntel.«

 

Letty sperrte Mund und Nase auf.

 

»Wer hat dir das gesagt?« fragte sie scharf.

 

»Clifford Lynne – und ich weiß, daß er mich nicht belogen hat.«

 

Letty wollte etwas sagen, änderte aber ihre Absicht und schlug die Türe hinter sich zu. Sie stürmte die Treppe hinunter. Fünf Minuten später hörte Joan Stimmen vor der Tür, und, ohne anzuklopfen, eilte Mabel herein, gefolgt von ihrer Schwester.

 

»Stimmt das, was Letty mir über Lynne gesagt hat?« fragte sie mürrisch. »Es ist doch seltsam, daß wir vorher nichts davon gehört haben.«

 

Joan amüsierte sich. Sie hätte laut auflachen mögen, aber sie beherrschte sich.

 

»Du meinst Mr. Lynnes großes Vermögen? Er ist ein sehr reicher Mann, das ist alles, was ich weiß.«

 

»Weiß Vater darum«, fragte Mabel, indem sie sich bemühte, ihren unberechtigten Ärger zu verbergen.

 

Joan schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht, daß er es weiß.«

 

Die beiden Schwestern sahen einander an.

 

»Diese Tatsache ändert die ganze Situation«, sagte Mabel mit Nachdruck. »Erstens will doch niemand eine Vogelscheuche heiraten, und zweitens wäre es doch lächerlich gewesen, wenn man von einer von uns gefordert hätte, daß wir uns lebenslänglich an einen armen Angestellten unseres Onkels binden sollten.«

 

»Ganz abgeschmackt«, stimmte Letty bei.

 

»Offensichtlich war es Mr. Brays Absicht, daß Lynne eine von uns heiraten sollte«, sagte Mabel. »Ich glaube nicht, daß er jemals etwas von deiner Existenz gehört hatte, Joan.«

 

»Ich bin sicher, daß das nicht der Fall war«, antwortete Joan. Und Mabel lächelte, als sie sich in den bequemsten Sessel des Zimmers warf.

 

»Dann müssen wir möglichst vernünftig in dieser Angelegenheit handeln«, sagte sie so liebenswürdig wie möglich. »Wenn das, was du sagst, wahr ist, und in der Tat zweifle ich keinen Augenblick daran, dann muß der Wunsch von Onkel Joe –«

 

»Erfüllt werden!« fügte Letty hinzu, als Mabel nach einem Wort suchte.

 

»Ja, das ist es, erfüllt. Das mag für dich ein wenig peinlich sein, aber du kennst den Mann ja gar nicht, und ich bin sicher, daß dich der Gedanke an diese Heirat sehr bedrückt hat. Ich habe damals auch gleich zu Letty gesagt, wenn ein Opfer gebracht werden muß, dann ist es an uns. Wir wollen dich nicht, um bildlich zu sprechen, als unser Werkzeug gebrauchen. Aber zugleich fühle ich, daß wir dir gegenüber nicht ganz korrekt waren, Joan. Noch heute morgen habe ich Vater gesagt, daß ich meine großen Zweifel über diese Hochzeit habe, und daß wir die Sache doch noch sehr überlegen müssen, bevor wir zugeben können, daß du einer womöglich schrecklichen Zukunft entgegengehst mit einem Mann, den du gar nicht kennst.«

 

»Und du kennst ihn doch ebensowenig«, fühlte sich Joan verpflichtet zu sagen.

 

»Aber wir haben größere Erfahrungen mit Männern«, sagte Mabel vorwurfsvoll. »Und denke nur nicht, Joan, daß sein Reichtum den geringsten Eindruck auf uns macht. Vater ist reich genug, mich gut zu versorgen, ob ich nun Clifford Lynne heirate oder nicht.«

 

»Ob eine von uns beiden Clifford Lynne heiratet oder nicht«, verbesserte Letty mit einer gewissen Schroffheit.

 

»Und –«

 

Es klopfte an der Türe. Letty, die am nächsten stand, öffnete. Der Diener kam herein.

 

»Drunten wartet ein Herr, der Miß Joan sprechen möchte«, begann er.

 

Letty nahm ihm die Karte aus der Hand.

 

»Clifford Lynne«, sagte sie atemlos.

 

Joan lachte.

 

»Das ist eine günstige Gelegenheit, die Sache in Ordnung zu bringen«, sagte Joan ironisch. »Unter allen Umständen muß er nach seiner Meinung gefragt werden!«

 

Letty verfärbte sich.

 

»Untersteh dich ja nicht«, rief sie atemlos, »ich würde es dir niemals verzeihen, Joan, wenn du ihm auch nur ein Wort davon sagtest!«

 

Aber Joan war schon halbwegs den ersten Treppenlauf heruntergeeilt.

 

Sie trat allein in das Wohnzimmer und bekümmerte sich nicht um die Ermahnungen, die man ihr noch mit auf den Weg geben wollte. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht. Denn plötzlich kam ihr eine hübsche Parallele in den Sinn: wenn sie Aschenbrödel war, dann konnte man Letty und die dicke Mabel mit den beiden häßlichen Schwestern identifizieren.

 

Als sie ins Zimmer trat, fand sie Clifford am Fenster stehen. Er schaute über den Rasenplatz. Schnell drehte er sich um, als er das Öffnen der Tür hörte. In seiner etwas abrupten Art, und ohne irgendwelche Einleitung fragte er:

 

»Kann ich Sie heute abend sehen?«

 

»Ja«, sagte sie erstaunt. Dann fügte sie hinzu: »Ich werde allein sein, die Mädchen gehen zur Stadt.«

 

Er faßte an sein Kinn, als sie dies sagte.

 

»So, sie gehen zur Stadt?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Aber das macht nichts aus. Ich möchte Sie in Slaters Cottage sehen. Würden Sie dahin kommen, wenn ich Sie rufe?«

 

Die Anstandsregeln machten Joan keine große Sorge. Sie war ihrer selbst so sicher und so überzeugt von der Richtigkeit ihrer Handlungsweise, daß sie sich wenig um die Meinung anderer Leute kümmerte. Aber sein Wunsch stimmte nicht mit ihren Anschauungen von Anstand überein.

 

»Muß das sein?« fragte sie. »Ich will kommen, wenn Sie es wünschen, denn ich weiß, Sie würden mich nicht einladen, wenn es nicht ganz besonders wichtig wäre.«

 

»Ich habe einen sehr triftigen Grund dazu«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie jemand bei mir treffen, ich hoffe wenigstens so.«

 

Er fuhr sich nervös durch das Haar.

 

»Meinen Freund – ich möchte sagen, unseren Freund.«

 

Sie war erstaunt über seine Erregung und war neugierig, die Ursache zu erfahren.

 

»Ich werde Sie um zehn Uhr aufsuchen«, sagte er. »Und Joan – ich habe alles überdacht, und ich bin sehr beunruhigt.«

 

Sie wußte gefühlsmäßig, daß sie selbst der Grund seiner Unruhe war.

 

»Haben Sie es sich anders überlegt?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie meinen, daß wir uns heiraten wollen? Nein. Ich durfte mir selbst niemals klarmachen, welches Ende dieses närrische Abenteuer nehmen würde. Wenn ich nicht immer durch übertriebenes Pflichtgefühl geleitet würde – aber das hat ja nichts mit dieser Sache zu tun. Wir müssen die ganze Lage heute abend von einem neuen Gesichtspunkt aus betrachten. Ich bin nun so weit gereist und habe so viel unternommen und so viel gelitten –«

 

»Gelitten?«

 

Er nickte heftig.

 

»Durch eine weise Vorsehung«, sagte er düster. »Ihnen ist es erspart geblieben, sich einen langen, kostbaren Bart wachsen zu lassen. Als ich noch viele Meilen entfernt in meinem kleinen Haus in Siangtan lebte, war das nicht so schlimm. Auch noch nicht auf der Heimreise. Erst als ich in nähere Berührung mit der Zivilisation kam – können Sie sich vorstellen, was das heißt, sich zum Diner anzuziehen und dabei zu fühlen, wie weh es tut, wenn man seinen Kragen schließt und einen großen Büschel Barthaare mit einklemmt?… Nun wohl, das ist alles vorüber, und jetzt« – er machte eine Verlegenheitspause – »bin ich nicht traurig.«

 

»Darüber, daß Sie sich den Bart haben wachsen lassen?« fragte sie unschuldig.

 

Er sah ihr gerade in die Augen.

 

»Sie wissen doch ganz genau, daß ich nicht über meinen Bart sprechen wollte, sondern nur von Ihnen. Ich wünschte, ich hätte Zeit genug, um Sie zu studieren. Möglicherweise haben Sie einen bösen Charakter – –«

 

»Einen ganz schlechten«, log sie ihn an.

 

»Und vielleicht sind Sie eitel und hohl«, fuhr er ruhig fort. »Alle hübschen Mädchen sind eitel und hohl. Das habe ich von meiner unverheirateten Tante gelernt, die mich aufzog. Aber trotz dieser Schattenseiten habe ich Sie ziemlich gern. Ist das nicht sonderbar?«

 

»Es würde sonderbar sein, wenn es nicht so wäre«, sagte sie und ging auf seinen Ton ein.

 

Er mußte lachen.

 

»Haben Sie Ihren Mord begangen?« fragte sie.

 

Er stutzte.

 

»Mord? Ach so, Sie meinen Fing-Su? Nein, ich fürchte, heute abend werde ich zuviel andere Dinge zu tun haben. Sicherlich werde ich ihn umbringen«, sagte er. Obwohl seine Worte nach derbem Witz klangen, zitterte sie, da sie überzeugt war, daß er im Ernst gesprochen hatte. »Ich muß ihn töten, aber gerade heute abend?« Er schüttelte den Kopf. »Da muß vorher noch viel anderes erledigt sein. – Wann können Sie mich heiraten?«

 

Seine Frage war ernst gemeint, und sie fühlte, wie sie rot wurde.

 

»Ist das notwendig?« fragte sie ein wenig verzweifelt. Jetzt, da sie sich der logischen Konsequenz ihres Abenteuers nicht mehr entziehen konnte, war sie einen Augenblick von panischem Schrecken gelähmt. In seiner Frage lag eine solche Bestimmtheit, daß sie ein banges Glücksgefühl überkam. Aber sie klang auch wieder so sachlich und kühl, und sie vermißte die zärtliche Atmosphäre, in der man gewöhnlich eine solche Werbung anbringt. Sie ärgerte sich über ihn. Das brachte die ganze Lage wieder zu ihrer ursprünglichen Geschäftsmäßigkeit zurück und tötete den feinen Schimmer von Romantik, der in den letzten Tagen über ihrem Leben gelegen hatte.

 

»Ich vermute, daß Sie damit Ihre eigene Bequemlichkeit befriedigen«, sagte sie kalt. »Sie wissen natürlich, Mr. Lynne, daß ich Sie nicht mehr liebe als Sie mich?«

 

»Darüber brauchen wir nicht zu sprechen«, sagte er schroff. »Aber ich will Ihnen etwas sagen: ich war niemals verliebt, ich hatte meine Träume und Ideale, wie sie jeder Mann und jede Frau hat, und Sie kommen der geheimnisvollen Frau meiner Träume, der ich jemals zu begegnen hoffte, am nächsten. Wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie gern mag, so meine ich das so. Ich bin nicht in so verzückter Gemütsverfassung, daß ich bereit wäre, den Boden zu küssen, auf dem Sie gehen – aber vielleicht kommt diese Form des Deliriums später.«

 

Während er sprach, lag ein gütiges und freundliches Lächeln in seinen Augen, das es ihr unmöglich machte, ihren Unwillen auf die Spitze zu treiben. Sie war erzürnt über ihn und mußte doch seine Aufrichtigkeit bewundern. Sie spürte keinerlei Neigung, ihm klar zu entgegnen, daß schließlich ihr Herz ebenso frei sei wie das seine.

 

»Heute ist Montag«, sagte er. »Mit besonderer Genehmigung werden wir am Freitag heiraten. Freitag wird ein unglücklicher Tag sein – für irgend jemand.«

 

»Sie meinen wirklich Freitag?« fragte sie in angstvoller Bestürzung.

 

»Es ist etwas plötzlich, ich weiß – aber die Dinge entwickeln sich rascher, als ich dachte«, sagte er.

 

Er nahm seinen Hut vom Tisch.

 

»Ich werde Sie um zehn Uhr rufen. Haben Sie Bedenken?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Und Sie fürchten sich auch nicht?« neckte er sie, aber schnell fügte er hinzu: »Es ist wirklich kein Grund zur Furcht vorhanden – jetzt noch nicht.«

 

»Sagen Sie mir bitte, wann ich anfangen muß mich zu fürchten«, sagte sie, als sie mit ihm zur Türe ging.

 

»Mich brauchen Sie niemals zu fürchten«, sagte er ruhig. »Ich dachte an jemand anders.«

 

»Fing-Su?«

 

Er sah sie schnell an.

 

»Sie sind auch Gedankenleserin?« Er legte seine Hand auf ihren Arm und drückte ihn leise. Er tat das so freundlich und brüderlich, daß sie nahe daran war, zu weinen.

 

Die beiden Mädchen, die sofort auftauchten, als sich die Tür hinter Clifford geschlossen hatte, folgten ihr zu der Bibliothek.

 

»Du hast ihm doch nichts gesagt?« fragte Mabel rasch. »So gemein und niederträchtig kannst du nicht sein, Joan!«

 

Joan sah sie überrascht an.

 

»Worüber sprachen wir denn?« fragte sie. Ihre Bestürzung war aufrichtig, denn sie hatte die Unterhaltung in ihrem Zimmer vergessen.

 

»Letty hatte das fürchterliche Gefühl, du würdest ihm erzählen, was wir besprachen, aber ich sagte: ›Letty, Joan tut das nicht, Joan handelt nicht so jämmerlich.‹«

 

»Über eure Heirat mit ihm?« fragte Joan und verstand plötzlich. »Ach nein – das hatte ich vergessen – wir waren so sehr damit beschäftigt, das Datum festzusetzen: Mr. Lynne und ich heiraten am Freitag.«

 

»Guter Gott!« rief Mabel.

 

Diese voreilige Äußerung mußte man verzeihen, denn in einem Augenblick großer Selbstaufopferung hatte Mabel beschlossen, Mrs. Clifford Lynne zu werden.

 

Kapitel 17

 

17

 

Die Schwestern gingen um sechs Uhr in die Stadt, und Joan war herzlich froh, als sie von ihrem Fenster aus die Limousine die Egham Road hinunterfahren sah. Sie aß allein zu Abend und wartete geduldig auf die Ankunft Clifford Lynnes. Sie war ein wenig enttäuscht über sein Verhalten. Die Heirat sah immer noch wie eine geschäftliche Vereinbarung aus; mit Ausnahme der kleinen Liebkosung hatte er weder Zärtlichkeit noch jene gefühlvolle Aufmerksamkeit für ihre Reize gezeigt, die man selbst von sehr beherrschten Männern erwartet. Und doch war kaum etwas Unfreundliches und Kaltes in seinem Wesen, dessen war sie sicher. Es war eine Schranke zwischen ihnen, die niedergerissen werden mußte, ein Abgrund, den nur gegenseitige Liebe überbrücken konnte. Für einen kurzen Augenblick erschrak sie vor der Aussicht auf diese kaltblütig eingegangene Heirat.

 

Sie stand vor der halbgeöffneten Tür des Hauses, als sie seinen schnellen Schritt auf dem Sand hörte. Nachdem sie sich vergewissert Halle, daß die Schlüssel in ihrer Handtasche waren, schloß sie leise die Tür hinter sich und ging ihm entgegen.

 

Plötzlich stand sie in einem hellen Lichtkegel.

 

»Schade!« hörte sie Clifford sagen. »Ich war ganz sicher, daß Sie es waren, aber ich mußte mich erst überzeugen.«

 

»Wer sollte es denn sein?« fragte sie, als sie mit ihm fortging.

 

»Ich weiß nicht«, war die unbefriedigende Antwort.

 

Sie legte wie selbstverständlich ihren Arm in den seinen.

 

»Von Natur aus bin ich vorsichtig, ja sogar argwöhnisch. Das Leben hier auf dem Lande in England ist für mich noch etwas gefährlicher als für einen Reisenden, der in dem verrufenen Honan eine Kamelladung mexikanischer Dollars mit sich führt! Drüben kennt man seine Lage ganz genau – entweder lebt man im Frieden oder im Krieg mit seinen Nachbarn. Aber in England kann man die ganze Zeit mit jemand im Krieg leben und weiß es selbst nicht einmal. Stört es Sie, wenn wir in der Mitte der Straße gehen?« fragte er schnell. Sie mußte lachen.

 

»Ich habe unerschütterliches Zutrauen zur Polizei«, sagte sie.

 

Sie hörte ihn kichern.

 

»Zur Polizei? Ja, die ist überall auf dem Posten, besonders, wenn es sich um bekannte Verbrecher und feststehende Verbrechen handelt. Aber Fing-Su ist als Verbrecher nicht bekannt – im Gegenteil, er gilt als eine höchst achtbare Persönlichkeit. Wir müssen jetzt rechts einbiegen.«

 

Das hätte er nicht zu sagen brauchen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie sah die große schwarze Öffnung, die den Eingang zu dem Fahrweg nach Slaters Cottage bildete. Der früher holperige Fahrweg war jetzt ein mit Kies bestreuter, feingewalzter Weg. Ein paar Meter den Fahrweg hinunter erhob sich ein großer Kandelaber für eine Laterne.

 

»Ja, wir sind modern eingerichtet«, sagte er, als sie seine Aufmerksamkeit auf diese Neuerung lenkte. »Nur der Böse liebt die Finsternis. Ich gebrauche diese Tausendkerzenbogenlampe als Beweis für meine Redlichkeit!«

 

Plötzlich stand er still, und sie mußte notgedrungen auch Halt machen.

 

»Ich sagte Ihnen neulich, daß Narth eine Auseinandersetzung mit Ihnen hatte, und Sie gaben es zu«, sagte er. »Vor einigen Tagen habe ich gefunden, warum er eine Differenz mit Ihnen hatte. Ihr Bruder wurde bei einem Unfall getötet, als er das Land mit einer Summe Geldes verlassen wollte, das er aus dem Bureau von Narth gestohlen hatte?«

 

»Das stimmt«, sagte sie mit leiser Stimme.

 

»Das war es also?«

 

Er seufzte erleichtert auf. Was anders konnte er denn vermutet haben, fragte sie sich verwundert.

 

»Jetzt wird mir der Zusammenhang klar«, begann er, als sie weitergingen. »Sicher sagte er zu Ihnen: ›nach allem, was ich für dich getan habe?‹ nicht wahr? Sonst wäre ich glatt von Ihnen abgewiesen worden. Ich bin froh darüber.«

 

Er sagte dies so schlicht und treuherzig, daß sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß.

 

»Ist Ihr Freund schon angekommen?« fragte sie.

 

»Ja«, sagte er kurz. »Vor einer Stunde kam dieser –« er murmelte einen Fluch.

 

»Man könnte denken –« begann sie, als er plötzlich ihren Arm umklammerte.

 

»Nicht sprechen!« flüsterte er.

 

Joan sah, wie er den Weg zurückspähte, den sie gekommen waren. Angestrengt lauschend beugte er den Kopf vor, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Dann führte er sie ohne ein Wort auf die Seite der Straße in den Schutz einer großen Fichte und schob sie hinter den Baumstamm.

 

»Bleiben Sie hier stehen«, sagte er in demselben leisen Ton.

 

Gleich darauf war er verschwunden. Geräuschlos schlich er über den Nadelteppich von Baum zu Baum. Sie blickte starr hinter ihm her, sie konnte nur den blassen Abendhimmel erkennen, der hinter einer Reihe schlanker Fichten hervorlugte. Der Reflex des Firmamentes in einer Wasserlache auf der Seite des Fahrweges sah aus wie ein matter Spiegel. Für gewöhnlich war sie nicht nervös, aber jetzt fühlte sie doch ihre Knie zittern, und ihr Atem ging schnell. Nach kurzer Zeit sah sie ihn ganz nahe wieder aus der Dunkelheit auftauchen.

 

»Es war nichts«, sagte er, aber er sprach immer noch ganz leise. »Ich dachte jemand zu hören, der uns folgt. Morgen werde ich diese Bäume abhauen lassen, sie geben zu gute Deckung –

 

Es schwirrte etwas an ihnen vorbei wie eine geworfene Waffe. Man hörte einen dumpfen Aufschlag, dann herrschte tiefe Stille. Er sagte etwas in einer fremden Sprache, dann ging er zurück und zog etwas aus dem Stamm einer Fichte.

 

»Ein Wurfmesser«, flüsterte er. »Ich sage Ihnen, diese Yünnanmörder sind wunderbare Schützen, und die Teufel können im Dunkeln sehen! Wo ist der nächste Polizeiposten?«

 

Trotz ihres Mutes zitterte sie.

 

»Die Patrouille wird erst nach einer Stunde wieder hier vorbeikommen«, stammelte sie. »Hat jemand mit einem Messer geworfen?«

 

»Erst nach einer Stunde?« sagte er fast fröhlich. »Das Geschick ist auf meiner Seite!«

 

Er nahm einen Gegenstand aus seiner Tasche – in dem Dämmerlicht sah es aus wie ein dicker silberner Zylinder; sie sah, wie er ihn auf den Lauf einer langen, schwarzen Pistole schob.

 

»Die Nachbarn sollen nicht beunruhigt werden«, sagte er. Wieder entfernte er sich von ihrer Seite und verschwand im Dunkel.

 

Sie wartete, ihr Herz schlug bis zum Halse herauf.

 

»Plob!«

 

Der Schall kam aus überraschender Nähe. Sie hörte auf dem Kieswege sich entfernende Schritte, die schwächer und schwächer wurden. Als man kein Geräusch mehr vernahm, kam Clifford wieder zu ihr und nahm die Silberröhre von der Pistole wieder ab.

 

»Ich habe ihn getroffen, aber nicht schwer«, sagte er. »Ich bin froh, daß ich ihn nicht getötet habe. Ich hätte ihn sonst im Wald begraben müssen und einen Skandal riskiert, oder ich hätte ihn zur Wache bringen müssen und damit den Zeitungen eine Sensation gegeben.«

 

»Haben Sie ihn verwundet?« fragte sie.

 

»Ja«, sagte er sorglos. »Ich glaube, er hatte keine Begleiter.«

 

Wieder nahm er sie am Arm und führte sie den Fahrweg entlang. Sie gingen nun schnell nach Slaters Cottage. In dem Haus zeigte sich kein Leben: hinter den mit Läden geschlossenen Fenstern war kein Licht zu sehen, und selbst der Schall der gedämpften Explosion schien den Gast Clifford Lynnes weder interessiert noch neugierig gemacht zu haben.

 

Er stand fast eine Minute lauschend auf der Treppe.

 

»Ich denke, es war nur einer,« sagte er dann mit einem Seufzer der Erleichterung, »wahrscheinlich war es ein Spion, der die Dämmerstunde zu einem kleinen Scheibenschießen benützen wollte. Sie fürchten sich doch nicht?«

 

»Doch«, sagte sie. »Ich bin sehr erschrocken.«

 

»So bin ich!« sagte er. »Ich bin mir selbst böse, daß ich diesen Gang mit Ihnen gewagt habe, aber ich wußte nicht, daß jetzt schon Gefahr drohte.«

 

Er schloß die Türe auf, und sie traten in einen engen Gang. Als er das Licht einschaltete, sah sie, daß zwei Türen von hier ausgingen, eine zur Rechten und eine zur Linken.

 

»Hier sind wir.« Er ging voran, drückte die Klinke der linken Tür nieder und öffnete.

 

Das Zimmer war vollständig neu und gut möbliert. Zwei in die Decke eingelassene große Lampen warfen zerstreutes Licht durch opalfarbene Gläser in den Raum.

 

Vor dem Holzfeuer, das im Kamin brannte, saß ein großer Mann. Sie schätzte sein Alter auf etwa sechzig Jahre. Er war merkwürdig gekleidet. Über einem Paar schön gebügelter Beinkleider trug er einen weiten, roten Schlafrock, unter dem ein weißes, steifes Oberhemd vorschaute. Er hatte weder Kragen noch Schlips an. Ein tadelloser Gehrock hing über der Sessellehne. Als sich die Tür öffnete, drehte er sich um, nahm seine kurze Tonpfeife aus dem Mund und schaute ernst auf den Besuch.

 

»Begrüße Miß Joan Bray«, sagte Lynne kurz.

 

Der große fremde Mann erhob sich schwerfällig. Er wandte sein dickes Gesicht mit dem Doppelkinn Joan zu und sah sie an wie ein Schuljunge, der bei irgendeinem dummen Streich erwischt wurde.

 

»Nun, Joan«, sagte Lynne finster, »sollen Sie einen Ihrer Verwandten kennenlernen. Darf ich Ihnen den verstorbenen Joe Bray vorstellen, der in China tot war und in England wieder lebendig wurde!«

 

Kapitel 18

 

18

 

Joan konnte nur sprachlos auf ihn starren. Joe Bray! Wenn sie einen Geist gesehen hätte, wäre sie nicht entsetzter gewesen.

 

Joe sah Clifford hilflos an.

 

»Hab‘ doch ein Herz, Cliff!« bat er schwach.

 

»Das habe ich – aber außerdem habe ich auch noch einen Verstand, und deshalb habe ich den Vorteil, du alter Verschwörer!«

 

Joe blinzelte von Clifford zu Joan.

 

»Ich muß dir erklären –« begann er laut.

 

»Nimm Platz«, sagte Clifford und wies auf einen Stuhl. »Ich habe deine Geschichte nun schon sechsmal anhören müssen, und ich glaube nicht, daß ich es noch einmal aushalten kann. Joan,« sagte er dann, »das ist der leibhaftige Joe Bray von der Yünnan-Gesellschaft. Sollten Sie an irgendwelche Trauerfeierlichkeiten gedacht haben, so können Sie diese getrost wieder absagen.«

 

»Ich muß dir erklären –« begann Joe wieder.

 

»Du mußt gar nichts erklären«, unterbrach ihn Lynne. Dabei blitzten seine Augen auf, wie Joan es schon einmal gesehen hatte.

 

»Dieser Joe Bray ist romantisch.« Er zeigte anklagend auf den zusammengesunkenen Mann. »Er hat gerade Verstand genug, um zu träumen. Eine seiner verrückten Ideen war, daß ich jemand aus seiner Familie heiraten sollte. Und um mich zu diesem verzweifelten Schritt zu bringen, erfand er eine schwindelhafte Geschichte von seinem baldigen Tode. Um die Sache glaubwürdig zu machen, verschaffte er sich – wie er mir eben gestanden hat – den Beistand eines dem Trunk ergebenen Arztes in Kanton, der jemand für verrückt erklärt, wenn man ihm zwei Gläser Whisky spendiert!«

 

»Ich muß dir erklären –« versuchte Joe noch lauter zu sprechen.

 

»In dem Augenblick, wo er mich auf dem Weg wußte,« fuhr der andere fort, ohne sich im mindesten beirren zu lassen, »schlich er sich mit seinem Spießgesellen, dem Doktor, nach Kanton und folgte mir mit dem nächsten Schiff nach England. Er hatte aber Anweisung gegeben, daß das Telegramm mit der Nachricht seines Todes abgesandt werden sollte, sobald er England erreicht hätte.«

 

Hier verteidigte sich Joe leidenschaftlich.

 

»Du hättest niemals geheiratet, wenn ich es nicht so gemacht hätte!« brüllte er dazwischen. »Du hast ein Herz von Stein, Cliff! Die Wünsche eines Sterbenden bedeuten dir nicht mehr als ein Bierfleck auf dem Stiefel eines Polizisten. Ich mußte sterben! Und dann dachte ich mir – ich würde zur Hochzeit kommen und euch alle überraschen!«

 

»So etwas tut man nicht, Joe!« sagte Clifford ernst. »Du bist ein Mann, der sich nicht benehmen kann!«

 

Als er sich zu Joan wandte, mußte er sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen.

 

»Ich schöpfte schon Verdacht, als ich keine Todesnachricht in den englischen Zeitungen las«, sagte er. »Abgesehen davon, daß Joe in der Welt große Bedeutung hat, ist sein Name in China einer der klangvollsten. Das Wenigste, was ich erwartet hakte, war ein Nachruf für ihn von unserem Spezialkorrespondenten in Kanton. Und als ich dann im Nord China Herald eine Anmerkung fand, daß Mr. Joe Bray eine Reihe von Kabinen auf der Kara Maru belegt hatte –«

 

»Auf den Namen Müller«, murmelte Joe.

 

»Das ist mir gleich, unter welchem Namen du fuhrst, aber einer der Zeitungsreporter sah, wie dein Gepäck an Bord gebracht wurde, und erkannte dich auf der Straße. Deine Verkleidung war nicht so gut, wie du dachtest.«

 

Joe seufzte. Von Zeit zu Zeit sah er das Mädchen verstohlen von der Seite an und schämte sich, aber plötzlich faßte er den Entschluß, ihr geradewegs in die Augen zu sehen.

 

»Ich muß sagen« – er zitterte vor Begeisterung – »ich muß sagen, Cliff, daß du dir das Beste vom Besten ausgesucht hast. Sie gleicht meiner Schwester Elisabeth, die jetzt seit achtundzwanzig Jahren tot ist. Außerdem hat sie die Nase meines Bruders Georg –«

 

»Du kannst mich durch deine Personalbeschreibungen nicht ablenken«, sagte Clifford. »Du bist ein böser alter Bursche!«

 

»Schlau,« murmelte Joe, »nicht böse. Ich muß dir erklären –«

 

Er wartete scheinbar auf eine Unterbrechung, als diese aber nicht kam, hatte er den Faden verloren.

 

»Ich habe eine Menge Enttäuschungen erlebt, mein Fräulein«, begann er zu orakeln. »Nehmen Sie zum Beispiel Fing-Su! Was habe ich nicht alles für diesen Jungen getan, niemand weiß das außer mir und ihm. Und als Cliff mir erzählte, was für ein Schlingel er ist, hätten Sie mich mit einer Feder umwerfen können! Ich bin gütig und großzügig zu ihm gewesen, ich gebe es zu …«

 

Als er abschweifte, arbeiteten Joans Gedanken unaufhörlich. Wenn Joe Bray am Leben war, so bedeutete dies das Ende aller Pläne, die Stephen Narth geschmiedet hakte. Sie überlegte sich, welche Konsequenzen das für sie haben würde. Die Gründe für ihre Verheiratung zerflossen dadurch in nichts. Diese Erkenntnis schmerzte sie, und sie fühlte sich unglücklich. Sie sah zu Clifford hinüber und senkte den Blick wieder. Trotzdem hatte er ihre Gedanken erraten.

 

»… Als ich ihm nun erklärte, was ich getan hatte, sagte ich zu ihm: ›Cliff, ich bin traurig.‹ Habe ich das getan, Cliff, oder habe ich es nicht getan?« fragte er. »Ich sagte: ›hätte ich gewußt, was ich jetzt weiß, hätte ich niemals Gründeraktien mit ihm geteilt!‹ Habe ich das getan, Cliff, oder nicht? Zu denken, daß dieser Hund – ich würde ihn noch ganz anders nennen, wenn Sie nicht hier wären, liebes Fräulein – so verrückte und wahnsinnige Ideen in seinem Kopfe hat!«

 

Joan begann nun zu verstehen.

 

»Einen romantischen Phantasten« hatte Clifford den alten Mann genannt, und sie sah nun die ungeschickte Diplomatie, die die gegenwärtige verwickelte Lage geschaffen hatte. Joe hatte seinen eigenen Tod simuliert, um einen Mann, den er liebte, zu einer Heirat mit einer seiner Verwandten zu bringen.

 

»Weiß Mr. North, daß Sie« – sie zögerte zu sagen »am Leben sind« und fuhr deshalb fort – »wieder nach England zurückgekehrt sind?«

 

Joe schüttele den Kopf, und Clifford antwortete für ihn.

 

»Nein, Narth darf es nicht wissen. Ich halte Joe einen oder zwei Tage hier bei mir, bis die Dinge sich entwickelt haben. Und vor allem, Joan – Fing-Su darf es nicht erfahren. Dieser leichtgläubige Chinese hat sicher die Nachricht von Joes Tod erhalten. Im Augenblick konzentriert er sich mit aller Kraft darauf, die eine Gründeraktie in die Hand zu bekommen, die ihm die Kontrolle über die Gesellschaft gibt.«

 

»Würde er tatsächlich dadurch die Gesellschaft in die Hand bekommen?« fragte sie.

 

Er nickte.

 

»Es klingt absurd, aber es ist so«, sagte er ernst. »Wenn Fing-Su diese eine Aktie bekäme, könnte er mich als Direktor ausschalten. Er würde die Leitung der ganzen Gesellschaft an sich reißen – und obwohl er dem Gesetz nach natürlich verpflichtet wäre, den Gewinn ehrlich mit den gewöhnlichen Aktionären zu teilen, könnte er in Wirklichkeit eine Summe von zehn Millionen Pfund für seine eigenen Zwecke verwenden.«

 

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Aber es ist ihm doch sicher unmöglich, Clifford, diese eine Aktie zu kaufen?«

 

Er nickte.

 

»Es gibt nur einen Weg für Fing-Su, die Kontrolle zu bekommen,« sagte er langsam, »und ich hoffe zuversichtlich, daß er damit keinen Erfolg hat.«

 

Er gab keine weiteren Erklärungen. Gleich darauf verschwand er in der Küche, um Kaffee zu kochen, und das Mädchen blieb allein mit Joe zurück, woraus leicht hätte Verwirrung entstehen können, denn der große Mann schloß sofort die Tür sorgfältig hinter seinem Teilhaber.

 

»Wie gefällt er Ihnen?« fragte er in aufgeregtem Flüsterton, als er ihr gegenüber wieder Platz genommen hakte.

 

Es war eine unangenehme Frage für sie.

 

»Er ist sehr nett«, sagte sie möglichst harmlos.

 

»Ja, das ist er.« Joe Bray kratzte sich am Kinn. »Cliff ist ein guter Kerl. Ein wenig hart zu anderen Leuten, aber wirklich ein guter Junge.« Er sah sie strahlend an. »Dann gehören Sie ja jetzt zu uns – das ist fein! Sie sind so, wie ich es mir für Cliff gewünscht habe. Wie sind denn die anderen?«

 

Sie wurde der peinlichen Antwort enthoben, da er sogleich weitersprach.

 

»Ja, Cliff ist zu hart! Ein kleiner Tropfen Gin hat noch keinem geschadet, nehmen Sie ruhig diesen Rat von mir an. Es ist gut für die Nieren, um bloß eins zu erwähnen. Aber Cliff ist enthaltsam, na ja, nicht ganz enthaltsam, aber Sie verstehen, er liebt nicht, wenn Flaschen auf dem Tisch herumstehen.«

 

Sie folgerte daraus mit Recht, daß Joe Bray nichts gegen volle Flaschen einzuwenden hatte.

 

»Ja, ich bin sehr froh, daß er Sie gewählt hat –«

 

»Aber um die Wahrheit zu sagen, Mr. Bray, ich habe ihn gewählt«, sagte sie lachend. Joe sperrte seine wässerigen Augen weit auf.

 

»Das haben Sie getan? Haben Sie das wirklich getan? Nun ja, er ist kein schlechter Kerl. Viel zu schnell mit seinem Schießeisen, aber das muß man seiner Jugend zugute halten. Immer muß er etwas totschießen. – Sie werden viele Kinder haben, daran zweifle ich nicht im mindesten.«

 

In diesem Augenblick kam glücklicherweise Clifford Lynne zurück. Er trug ein funkelnagelneues Silbertablett mit einer silbernen Kaffeekanne und silbernen Tassen. Er hatte eben alles auf den Tisch niedergestellt, als man ein schwaches Knacken hörte. Der Laut folgte so dicht auf das Geräusch, das Clifford durch das Aufsetzen des Tabletts verursacht hatte, daß Joan es nicht bemerkte. Sie sah nur, wie er nach den Fenstern blickte, die durch die Läden fest geschlossen waren. Er hob seinen Finger zum Zeichen, daß sie schweigen sollten.

 

»Was ist los, Cliff?« Der alte Mann blickte plötzlich verstört auf.

 

Clifford zog den Vorhang zurück, und zum erstenmal sah Joan die mit eisernen Läden dicht verschlossenen Fenster. Jedes Fenster hatte in der Mitte einen langen, ovalen Buckel als Verzierung.

 

»Sprecht nicht!« flüsterte er. Er streckte seine Hand aus und drehte das Licht aus.

 

Der Raum war jetzt vollständig finster, aber plötzlich bemerkte sie eine kleine Öffnung an der Stelle, wo die Eisenornamente an dem Fenster waren, als Clifford die Klappe von den Schießscharten hochschob.

 

Der Mond war aufgegangen, und durch den Schlitz konnte er den leeren Platz vor dem Hause überschauen. Es war niemand zu sehen. Er beobachtete scharf durch das Schießloch. Gleich darauf wurde seine Ausdauer belohnt. Eine dunkle Gestalt bewegte sich im Schatten der Bäume und kam in einem Bogen auf das Haus zu. Dann sah er eine andere – noch eine dritte – und plötzlich tauchte in Reichweite ein Kopf vor ihm auf. Offensichtlich war der Mann an das Fenster herangekrochen. Im Mondlicht konnte er den runden, glattrasierten Kopf eines chinesischen Kulis bemerken. In der einen Hand trug er ein kleines Paket, das mit einem Bindfaden an seinem Handgelenk befestigt war, in der anderen hielt er einen sichelförmigen Haken.

 

Mit diesem langte er in die Höhe, faßte damit die eiserne Dachrinne und zog sich mit außerordentlicher Kraftanstrengung, die bei anderer Gelegenheit Lynnes größte Bewunderung hervorgerufen hätte, auf das Dach. Clifford wartete, bis die hin und her pendelnden Füße nach oben verschwunden waren, ging dann geräuschlos nach der Hinterseite des Hauses und trat von dort ins Freie. Im Mondlicht, das sich breit über den Kranz der Fichten ergoß, sah er blitzenden Stahl. An dieser Seite waren die Holzfäller die ganzen Tage tätig gewesen. Man konnte in dem weißen Schein die Baumstümpfe deutlich erkennen. Aber in einer Entfernung von fünfzig Metern standen die Bäume noch sehr dicht.

 

Das Hans war umzingelt, trotzdem ging er weiter und erreichte, gedeckt durch den Schatten des Nebenhauses, einen Punkt, von dem aus er den First des Daches in seiner ganzen Länge sehen konnte. Kaum hatte er seinen Posten erreicht, als sich ein Kopf über dem Giebel erhob. Gleich darauf sah er deutlich, wie ein Chinese schnell nach dem viereckigen Schornstein kroch.

 

Er hatte wieder seinen Schalldämpfer auf der Pistole befestigt.

 

Plob!

 

Der Mann auf dem Dache hielt an, taumelte ein wenig und rollte und schlitterte dann über das dichte Schieferdach herunter. Mit einem Stöhnen fiel er dicht vor Cliffords Füßen auf den Boden. Lynne hörte die aufgeregten, unterdrückten Rufe der unsichtbaren Spione im Schatten der Bäume. Er sah, wie einer aus der Deckung hervorkam und feuerte schnell auf ihn. Sofort lief der Chinese davon, um sich in Sicherheit zu bringen. Clifford Lynnes Kaltblütigkeit und Treffsicherheit war diesen Kulis nur zu gut bekannt.

 

Er wartete. Wahrscheinlich würden sie jetzt zum Angriff vorgehen. Da hörte er von dem anderen Ende der Zufahrtsstraße das Anspringen eines Motors, das Knirschen eines Hebels und das Geräusch eines fortfahrenden Autos. Dann noch den Ruf eines Menschen, der auf den fahrenden Wagen sprang. Clifford war froh, daß die Angreifer sich entfernten. So konnte er seine Aufmerksamkeit der bewegungslosen Gestalt zuwenden, die vor ihm auf dem Boden lag.

 

Er ging ins Haus, rief Joe herbei, und die beiden Männer trugen den Verwundeten in die Küche.

 

»Fing-Su hat sie in einem Lastauto hierhergebracht«, sagte er. (Später konnte er sich davon überzeugen, daß dieses Fahrzeug ein Autobus war, der in der Fabrik von Peckham benützt wurde, um Arbeiter an ihre Arbeitsstellen aufs Land zu bringen.)

 

Ist er tot?« fragte Joe.

 

Clifford verneinte.

 

»Nein, die Kugel ist gerade über dem Knie eingedrungen. Das ist seine einzige Verletzung«, sagte er, als er die Wunde mit einem Handtuch verband. »Der Fall vom Dach hat ihm das Bewußtsein genommen.« Der Kuli öffnete bald die Augen und starrte von einem zum andern.

 

»Ich bin tödlich getroffen!« keuchte er. Sein Gesicht verzog sich angstvoll, als er Lynne erkannte.

 

»Wer hat dich hierhergebracht?«

 

»Niemand – ich kam aus eigenem Antriebe«, sagte der Chinese.

 

Clifford grinste unheimlich.

 

»Schnell!« sagte er. »Ich nehme dich sonst sofort mit ins Gebüsch und wärme dir das Gesicht ein wenig mit Feuer an, dann wirst du schon das Sprechen lernen, mein Freund. Zunächst bleibst du hier bei Shi-suling.«

 

Das war der Name, den die Chinesen dem alten Joe Bray gaben, und die Übersetzung war gerade nicht schmeichelhaft für den Träger des Namens.

 

Als Clifford zu Joan zurückkam, erwartete er, sie in Aufregung zu finden, und war angenehm von ihr enttäuscht. Aber sie hatte doch begriffen, daß etwas nicht in Ordnung war und vermutete richtig, daß es in Zusammenhang mit dem heimtückischen Messerwurf stand.

 

»Ja, es war ein Chinese,« bejahte Cliff ihre Frage, »der mit mir abrechnen wollte. Ich glaube, es ist besser, wir trinken keinen Kaffee, und ich bringe Sie nach Hause. Die Kerle haben sich jetzt zurückgezogen«, fügte er unvorsichtig hinzu.

 

»Die Kerle? Wieviel waren es denn?« fragte sie.

 

Er sah, daß er nichts gewonnen hatte, wenn er ihr die Sache verheimlichte. Es war viel besser, ihr den vollen Umfang der Gefahr zu sagen.

 

»Wahrscheinlich war etwas mehr wie ein Dutzend an dem Angriff beteiligt, aber ich weiß nicht, was sie erreichen wollten.«

 

»Sie!« sagte sie mit Nachdruck. Er nickte.

 

»Ich nehme an, daß sie mich holen wollten,« sagte er. »Die Hauptsache ist aber, daß sie sich nun davon gemacht haben und jetzt nichts mehr zu fürchten ist.«

 

Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht, und sie hatte das Gefühl, daß er ihre Charakterstärke prüfen wollte, bevor er weitersprach.

 

»Zunächst muß ich Ihnen noch etwas sagen, das Sie beunruhigen wird«, fuhr er fort. »Wenn ich auch die Bäume in der Umgebung abschlagen lasse, so komme ich damit nicht viel weiter. Soweit ich Fing-Su kenne, wird er sich durch nichts abschrecken lassen. Wenn sich einmal der Gedanke in seinem Dickkopf festgesetzt hat, daß ich Sie liebe – wie ich es ja auch tatsächlich tue – so ist es wahrscheinlich, daß er seine Aufmerksamkeit auch Ihnen zuwenden wird. Fürchten Sie sich deshalb?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wahrscheinlich habe ich nicht genug Phantasie, mir auszumalen, was geschehen könnte«, sagte sie. »Aber ich habe keine Furcht.«

 

Er öffnete einen Stahlschrank in einer Ecke des Wohnzimmers und nahm einen runden, schwarzen Gegenstand heraus, der die Gestalt einer großen Pflaume hatte.

 

»Ich bitte Sie, zu Hause zu bleiben und nicht auszugehen, wenn es dunkel geworden ist«, sagte er. »Nehmen Sie bitte auch diese Kugel mit, und verwahren Sie sie so in Ihrem Schlafzimmer, daß Sie sie leicht erreichen können. Wenn Gefahr irgendwelcher Art droht, werfen Sie sie aus dem Fenster – sie ist nicht zu schwer.«

 

Sie lächelte.

 

»Ist es eine Bombe?«

 

»Nein, nicht im gewöhnlichen Sinn. Sie würde Ihnen zwar einigen Schaden zufügen, wenn sie dicht bei Ihnen explodierte. Ich rate Ihnen auch nicht, sie unter Ihr Kissen zu legen. Tagsüber schließen Sie das Ding am besten in einer Schublade ein. Aber nachts legen Sie es so, daß Sie sofort mit der Hand danach greifen können. Sie sind doch erschrocken«, sagte er vorwurfsvoll.

 

»Nein, das bin ich nicht«, protestierte sie unwillig. »Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie alles tun, um mir Furcht einzujagen!«

 

Er klopfte ihr auf die Schulter.

 

»Wird in der Nacht noch etwas passieren?« fragte sie, als sie den schwarzen Ball in die Hand nahm und ihn äußerst sorgfältig in ihre Handtasche legte.

 

Er zögerte.

 

»Ich glaube nicht. Fing-Su macht weder schnelle noch gründliche Arbeit.«

 

Sie sah sich nach Joe Bray um, als er sie zur Türe brachte.

 

»Ich möchte noch Gute Nacht sagen –«

 

»Joe ist beschäftigt«, sagte er. »Sie werden noch genug von dem alten Esel zu sehen bekommen, noch viel zu viel. Vergessen Sie das nicht. Trotzdem: Joe kennt keine Furcht. Er ist moralisch ein Feigling, und er ist verrückt, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er fünfhundert fanatisch heulende Kulis mit einem zerbrochenen Gewehr und einem Dolchmesser in Schach hielt.«

 

Sie gingen schnell den Fahrweg hinunter. Clifford leuchtete den Kies mit seiner Taschenlampe ab und sah sofort die tiefen Radspuren des Lastautos, die zur Hauptstraße führten und in der Richtung nach London abbogen. Als sie Sunni Lodge sahen, blieb er stehen.

 

»Bitte zeigen Sie mir den Raum, wo Sie schlafen. Kann man ihn von hier aus sehen?«

 

Sie deutete mit der Hand.

 

»Also im Obergeschoß?« sagte er erleichtert. »Was für ein Raum ist das anstoßende Zimmer – das mit den beiden weißen Gardinen am Fenster?«

 

»Das ist das Zimmer des Küchenmädchens«, erklärte sie. »Das heißt, es ist der Raum, wo das Küchenmädchen schläft, wenn wir eins haben. Augenblicklich haben wir zwei Dienstboten zu wenig.«

 

Er orientierte sich kurz über die Lage des Hauses und war wenig damit zufrieden. Es war leicht, das Obergeschoß zu erreichen, denn Sunni Lodge war eine der sonderbaren Villen, wie sie nach künstlerischem Effekt haschende Architekten zu bauen pflegen. Hier ragte ein schmaler Steinbalken aus der Fassade hervor, dort erhob sich ein Turm, und hier führte eine lange eiserne Regenröhre nahe an ihrem Fenster vom Dach bis auf die Erde. Dadurch erhöhte sich die Gefahr bedeutend.

 

Er wartete, bis sie das Tor geschlossen hatte, und ging eilig nach seinem Hause zurück. Joe saß in der Küche, rauchte seine Pfeife und schimpfte in Chinesisch mit dem verwundeten Kuli.

 

»Auch du wirst diesen Vogel nicht zum Singen bringen«, sagte er verärgert zu Clifford. »Aber ich weiß wenigstens, wer es ist. Er heißt Ku-t’chan. Früher war er im Fu-Weng-Store angestellt. Ich habe ihn sofort erkannt. Es ist doch sonderbar mit mir, Cliff,« sagte er selbstzufrieden, »daß ich niemals ein Gesicht vergesse. In der Beziehung habe ich ein Gedächtnis wie eine Geschäftskartothek. In dem Augenblick, als ich ihn sah, sagte ich zu ihm: ›Ich kenne dich, mein Bursche, du bist Ku-t’chan‹, und er leugnete es nicht. Man kann ihn nicht ausfragen, Cliff, er bleibt stumm wie ein Fisch.«

 

»Joe, du kannst zu deiner Lektüre zurückkehren«, sagte Cliff kurz und schloß die Tür hinter seinem Freund. Dann setzte er sich nieder.

 

»Nun, Ku-t’chan, oder wie du sonst heißen magst, berichte! Und zwar schnell! Denn in vier Stunden ist es heller Tag, und es wird nicht gut sein, wenn mich jemand dabei sieht, wie ich einen Chinesen im Walde begrabe. Und begraben wirst du ganz sicher.«

 

»Master,« sagte der erschrockene Kuli, »warum willst du mich töten?«

 

»Ich will dir sagen, warum«, antwortete Clifford, indem er jedes Wort betonte. »Wenn ich dich Chinesenhund leben ließe, und du nachher der Polizei erzähltest, daß ich dir das Gesicht ein wenig mit Feuer angesengt habe, würde das eine Schande für mich sein.«

 

In einer Viertelstunde hatte Cliff alles aus Ku-t’chan herausgeholt, was dieser wußte. Es war zwar nicht viel, doch genügte es vollkommen, um selbst Clifford Lynne zu beunruhigen.

 

Er gab dem Kuli einen Sack, auf dem er schlafen konnte, vergewisserte sich, daß er nicht entwischen konnte und ging zu Joe ins Vorderzimmer. Als er eintrat, schaute der große Mann ihn an.

 

»Willst du ausgehen?« fragte er betrübt. »Was hast du vor, Cliff? Ich müßte noch soviel mit dir besprechen!«

 

»Bewache du nur den Kuli hinten in der Küche. Ich glaube nicht, daß du irgendwelche Unannehmlichkeiten mit ihm hast«, sagte Clifford schnell. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme, aber wahrscheinlich vor Tagesanbruch. Du weißt, wie du diesen Armsessel in ein Bett verwandeln kannst, wenn du dich schlafen legen willst?«

 

»Aber die Hauptsache ist –« begann der aufgeregte Joe.

 

Aber bevor er erklären konnte, was er für die Hauptsache hielt, war Clifford Lynne längst gegangen.

 

Kapitel 1

 

1

 

Kein Haus in ganz Siangtan glich dem Wohnsitz Joe Brays. Aber Joe war selbst für China ein Original, und das wollte viel heißen für ein Land, in das seit Marco Polos Tagen so viele ungewöhnliche Menschen verschlagen wurden.

 

Pinto Huello, ein dem Trunk ergebener portugiesischer Architekt, hatte die Pläne für dieses Steinhaus erdacht. Portugal hatte er unter Verhältnissen verlassen müssen, die wenig ehrenvoll für ihn waren; über Kanton und Wuchau war er in diese große, wenig saubere Stadt gekommen.

 

Allgemein nahm man an, daß Pinto seine Pläne nach einer durchzechten Nacht, im Hochgefühl eines Rausches und in dicke Tabakswolken gehüllt, genial aufs Papier warf. Später hatte er sie dann in einem Anfall von Zerknirschung und Reue wieder umgestoßen und verbessert. Zu dieser Änderung entschloß er sich aber erst, als das Gebäude schon halb fertig war. Daher kam es, daß der eine Teil des Hauses eine große Ähnlichkeit mit der berühmten Porzellanpagode hatte und als Denkmal für die exzentrisch phantastischen Launen Pintos der Nachwelt erhalten blieb. Der andere Teil des Gebäudes aber glich mehr einem Güterschuppen, wie man sie an den Ufern des Kanals zu Dutzenden sehen konnte, und spiegelte in seiner grauen Melancholie getreulich die Katerstimmung des ziellosen Portugiesen wider.

 

Joe hatte eine Gestalt wie ein Koloß, groß und stark, mit vielfältigem Kinn. Er liebte China und Genever, seine Lieblingsbeschäftigung aber war, lange in den Tag hineinzuträumen. Wunderbare Pläne kamen ihm dann, doch die meisten waren unausführbar. In solcher Stimmung fühlte er mit Entzücken und Freude, daß er von diesem entlegenen Weltwinkel aus Hebel ansetzen und Weichen stellen könnte, die weittragende Änderungen im Geschick der Menschheit hervorrufen würden.

 

Er glich in solcher Stimmung einem verträumten Harun al Raschid; er würde verkleidet unter die Armen gegangen sein, um Gold über die regnen zu lassen, die es verdienten. Schade nur, daß er seine Wohltäterlaune niemals befriedigen konnte, da die rechten Armen ihm bisher noch nicht begegnet waren.

 

China ist ein Land, in dem man leicht träumen kann. Von seinem Sitz aus sah er in der Ferne die vom Verkehr wimmelnden Wasserfluten des Siang-kiang. Der Schein der untergehenden Sonne glitzerte in tausend Reflexen auf den kleinen Wellen. Im Vordergrund erhob sich die schwarze unregelmäßige Silhouette der Stadt Siangtan. Viele viereckige Segel glitten den großen Strom entlang, dem großen See entgegen, und färbten sich bronzen und goldfarben in den letzten verglühenden Strahlen. Das geschäftige Treiben dieser Stadt glich dem Summen eines Bienenstocks. Aber aus dieser Entfernung konnte man es weder deutlich erkennen noch hören, und – was für China das Wesentlichste war – auch der Geruch dieser Stadt drang nicht bis hierher.

 

Aber der alte Joe Bray war an diese Dünste gewöhnt und ließ sich nicht dadurch abschrecken. Er kannte dieses weite Land von der Mandschurei bis nach Kwang-si, von Schantung bis zum Kiao-Kio-Tal, wo das wunderliche Mongolenvolk ein bis zur Unkenntlichkeit entartetes Französisch schwätzte. China bedeutete für ihn den größten und bedeutendsten Teil der Welt. Seine Greueltaten und sein Gestank waren für ihn normale Lebensäußerungen. Sein Denken war chinesisch geworden, und er hätte auch vollständig als Chinese gelebt, wenn eben nicht sein unerbittlicher Teilhaber gewesen wäre. Er hatte die ganzen Provinzen des Reiches der Mitte zu Fuß durchwandert und hatte sich zu mehr Städten und Plätzen durchgeschlagen, zu denen den Weißen der Zutritt damals noch verboten war, als irgendeiner seiner Zeit. Einmal hatte man ihm die Kleider weggerissen, um ihn in dem Namen jenes schrecklichen Fu-chi-ling hinzurichten, der eine Zeitlang Gouverneur von Sukiang war, und dann hatte man ihn mit den höchsten Ehren in der Sänfte eines Mandarinen zu dem Palasthof der Tochter des Himmels getragen.

 

Aber Joe Bray war das alles gleich. Von Geburt war er Engländer. Später, als Amerika in China mehr in Gunst kam, wechselte er gewissenlos seine Nationalität und wurde Amerikaner. Er konnte sich das gestatten, denn er war Millionär und mehr als das. Sein Haus, das sich an der Flußbiegung erhob, war so schön und prachtvoll wie ein Palast. Große Summen hatte er an Kohlenbergwerken, an Kupferminen und anderen Unternehmungen verdient, die sich bis zu den Goldfeldern im Amurgebiet erstreckten. In den letzten zehn Jahren hatten sich die ungeheuren Verdienste mit staunenerregender Schnelligkeit zu fabelhaftem Vermögen angehäuft.

 

Joe lag bequem zurückgelegt in einem tiefen Deckstuhl. So konnte er sitzen und träumen. Neben ihm saß Fing-Su. Für einen Chinesen war er groß von Gestalt und hatte auch selbst für europäische Begriffe ein gutes Aussehen. Außer den schräggeschlitzten, dunklen Augen war eigentlich nichts Chinesisches an ihm. Er hatte den kecken Mund und die gerade, scharfgeschnittene Nase seiner französischen Mutter, das pechschwarze Haar und die charakteristische blasse Gesichtsfarbe des alten Schan Hu, jenes verschlagenen Kaufmanns und Abenteurers, der sein Vater war. Er trug einen dickgepolsterten Seidenrock und formlose Beinkleider, die bis zu den Schuhen hinabreichten. Seine Hände verbarg er respektvoll in seinen weiten Rockärmeln, und wenn eine zum Vorschein kam, um die Asche seiner Zigarette abzustreifen, verschwand sie mechanisch und instinktiv wieder in ihrem Versteck.

 

Joe Bray seufzte und nippte an seinem Glas.

 

»Es ist alles so gekommen, wie ihr es verdient, Fing-Su. Ein Land, das keinen Kopf hat, hat auch keine Füße und kann sich nicht bewegen – überall elender Stillstand, alles geht schief! Das ist China! Früher waren einmal ein paar tüchtige Kerle hier am Ruder, die Ming und der alte Hart und Li Hung.«

 

Er seufzte wieder; seine Kenntnis des alten China und der alten Dynastien war gerade nicht weit her.

 

»Geld hat nichts zu bedeuten, wenn ihr es nicht richtig gebrauchen könnt. Sieh mich an, Fing-Su! Hab‘ weder Kind noch Kegel und bin doch Millionär, viele, viele Millionen wert! Wie man sagt, ist meine Linie beinahe ausgestorben.«

 

Erregt rieb er seine Nase.

 

»Beinahe«, sagte er vorsichtig. »Wenn gewisse Leute täten, was ich wollte, würde das nicht so sein – aber werden sie es tun? Das ist die Frage.«

 

Fing-Su sah ihn mit seinen unergründlichen Augen prüfend an.

 

»Man sollte meinen, daß Sie nur einen Wunsch auszusprechen brauchten, damit er in Erfüllung ginge.«

 

Der junge Chinese sprach mit dem übertriebenen Nasallaut, der so typisch für die Oxforder Studenten ist. Nichts freute Joe Bray mehr, als wenn er die Stimme seines Schützlings hören konnte; ihre Kultur, die fehlerlose Konstruktion jedes Satzes und die unbewußte Überlegenheit in Ton und Sprechweise waren Musik in seinen Ohren.

 

Fing-Su hatte tatsächlich sein Examen auf der Universität in Oxford bestanden und war Bachelor of Arts. Joe hatte dieses Wunder bewirkt.

 

»Sie sind ein gebildeter Mann, Fing-Su, und ich bin ein alter, ungehobelter Kerl ohne Kenntnis von Geschichte, Geographie und sonst etwas. Bücher interessieren mich den Teufel. Habe mich auch nie um den Krempel gekümmert. Die Bibel – besonders die Offenbarung – ist auch so eine verworrene Sache.«

 

Er trank den Rest des farblosen Reisschnapses aus und holte tief Atem.

 

»Wir müssen noch eine Sache besprechen, mein Junge – die Aktien, die ich Ihnen gab –«

 

Eine lange Verlegenheitspause entstand. Der Stuhl krachte, als sich der große Mann mißmutig herumdrehte.

 

»Da ist noch etwas dabei. Er hat nämlich gesagt, daß ich das nicht hätte tun sollen. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will? Sie haben gar keinen Wert. Das war so eine von ›seinen‹ Ideen, daß sie nicht an der Börse gehandelt werden sollten. Keinen Cent sind die Dinger wert.«

 

»Weiß er denn, daß ich sie habe?« fragte Fing-Su.

 

Wie Joe nannte er Clifford Lynne nie beim Namen, sondern nannte ihn immer nur »er«.

 

»Nein, er weiß es nicht!« sagte Joe mit Nachdruck. »Das ist es ja gerade. Aber er sprach neulich abends davon. Er sagte, daß ich niemand Aktien abgeben soll, nicht eine einzige!«

 

»Mein verehrter und ehrenwerter Vater hatte neun,« sagte Fing-Su mit seidenweicher Stimme, »und ich habe jetzt vierundzwanzig.«

 

Joe rieb sein unrasiertes Kinn. Er war ärgerlich, fast argwöhnisch.

 

»Ich gebe sie Ihnen – Sie waren ein guter Junge, Fing-Su … Latein haben Sie gelernt und Philosophie und alles andere. Meine Bildung ist dürftig, und da wollte ich natürlich etwas für Sie tun. Eine große Sache das, die Bildung.« Zögernd unterbrach er sich und nagte an seiner Unterlippe. »Ich gehöre nicht zu den Leuten, die etwas geben und es nachher zurücknehmen. Aber Sie kennen ihn ja, Fing-Su.«

 

»Er haßt mich«, sagte der andere gelassen. »Gestern nannte er mich sogar eine ›gelbe Schlange‹.«

 

»Hat er das getan?« fragte Joe traurig.

 

Aus dem Ton seiner Stimme war deutlich zu hören, daß er diese Differenz gern aus der Welt gebracht hätte, aber er konnte sich nicht helfen.

 

»Früher oder später werde ich ihn schon wieder herumkriegen«, sagte er, indem er sich vergeblich bemühte, seine Unsicherheit zu verbergen. »Ich bin ein heller Kopf, Fing-Su – ich habe Ihnen Ideen beigebracht, von denen niemand eine Ahnung hat. Ich habe jetzt einen Plan …«

 

Er kicherte bei dem Gedanken an sein Geheimnis, aber gleich darauf wurde er wieder ernst.

 

»… was nun diese Aktien angeht, ich will Ihnen einige tausend Pfund Sterling dafür geben. Ich sagte schon, daß sie keinen Cent wert sind. Trotzdem will ich aber ein paar tausend dafür geben.«

 

Der Chinese bewegte sich geräuschlos in seinem Stuhl und sah plötzlich seinen väterlichen Freund mit dunklen Augen an.

 

»Mr. Bray, was kann mir Geld nützen?« fragte er beinahe unterwürfig. »Mein verehrter und ehrenwerter Vater hat mir ein großes Vermögen hinterlassen. Ich bin nur ein Chinese mit wenigen Bedürfnissen.«

 

Fing-Su warf den Rest seiner Zigarette fort und rollte sich mit außerordentlicher Geschicklichkeit eine andere. Kaum hatte er Papier und Tabak in seiner Hand, so war auch schon die länglich-runde, weiße Zigarette gedreht.

 

»In Schanghai und Kanton erzählt man sich, daß die Yünnan-Gesellschaft über mehr Geld verfügt, als die jetzige Regierung jemals gesehen hat«, sagte er langsam. »Die Lolo-Leute sollen im Liao-Lio-Tal Gold gefunden haben –«

 

»Wir haben das gefunden«, sagte Joe selbstzufrieden. »Diese Lolo konnten doch gar nichts finden, höchstens haben sie Ausreden erfunden, um die chinesischen Tempel zu brandschatzen.«

 

»Aber Sie lassen das Geld nicht arbeiten«, sagte Fing-Su hartnäckig. »Totes Kapital –«

 

»Durchaus kein totes Kapital! – bringt viereinhalb Prozent«, brummte Joe vor sich hin.

 

Fing-Su lächelte.

 

»Viereinhalb Prozent! Hundert Prozent könnte man damit machen! Oben in Schan-Si sind Kohlenlager, die eine Billion Dollars wert – was sage ich, eine Million mal eine Billion! Sie können das nicht machen – aber ich sage Ihnen, wir haben keinen starken Mann in der ›Verbotenen Stadt‹ sitzen, der befehlen könnte: ›Tue dies!‹ und es wird getan. Und wenn er tatsächlich gefunden würde, dann fehlte ihm eine Armee. Dazu wären Ihre Reservefonds nutzbringend anzulegen. Ja, ein starker Mann –«

 

»Mag sein.«

 

Joe Bray sah sich ängstlich um. Er haßte chinesische Politik, und »er« haßte sie noch viel mehr.

 

»Fing-Su,« sagte er verlegen, »der amerikanische Konsul mit dem langen, schmalen Gesicht war gestern zum Mittagessen hier. Er war sehr aufgebracht über euren Klub der ›Freudigen Hände‹. Er sagte, überall im Lande werde soviel davon gesprochen. Die Zentralregierung hat schon Erkundigungen darüber eingezogen. Ho Sing war letzte Woche hier und hat gefragt, wann man wohl damit rechnen könnte, daß Sie wieder nach London zurückkehrten.«

 

Die dünnen Lippen des Chinesen kräuselten sich lächelnd. »Man macht viel zu viel Lärm über meinen kleinen Klub«, sagte er. »Er verfolgt doch nur soziale Zwecke – mit Politik haben wir nicht das mindeste zu tun. Mr. Bray, glauben Sie nicht, daß es eine gute Idee ist, die Reservefonds der Yünnan-Gesellschaft dazu zu brauchen, daß –«

 

»Das denke ich durchaus nicht!« Joe schüttelte heftig den Kopf. »Die kann ich in keiner Weise angreifen. Was nun aber die Aktien betrifft, Fing –«

 

»Sie liegen bei meinem Bankier in Schanghai – sie sollen zurückgegeben werden«, sagte Fing-Su. »Ich habe nur den Wunsch, daß unser Freund mich gerne hat. Ich habe nur Bewunderung und Hochachtung für ihn. ›Gelbe Schlange!‹ hat er gesagt. Das war doch wirklich unfreundlich.«

 

Die Sänfte des Chinesen wartete, um ihn nach Hause zu tragen. Joe Bray sah den laufenden Kulis lange nach, bis eine Biegung des Weges in dem hügeligen Gelände sie seinen Blicken entzog.

 

Vor dem kleinen Hause Fing-Sus warteten drei Leute. Sie hockten vor der Türe. Er entließ seine Träger und winkte die Leute in den dunklen, mit Matten bedeckten Raum, der ihm als Arbeitszimmer diente.

 

»Zwei Stunden nach Sonnenuntergang wird Clifford Lynne« – er nannte ihn jetzt mit seinem richtigen Namen – »durch das Tor des ›Wohltätigen Reises‹ kommen. Tötet ihn und bringt mir alle Papiere, die er bei sich trägt.«

 

Clifford war pünktlich auf die Minute, doch er kam durch das Mandarinentor, und die Meuchelmörder verfehlten ihn. Sie berichteten ihrem Herrn alles, aber der wußte bereits, daß Clifford zurückgekehrt war und auf welchem Wege.

 

»Es gibt viele Möglichkeiten, daß du um die Ecke gehst«, sagte Fing-Su vor sich hin. »Vielleicht ist es gut, daß das Ding nicht passierte, während ich in der Stadt war. Morgen werde ich nach England gehen und dann mit großer Macht zurückkehren!«

 

Kapitel 10

 

10

 

Fing-Sus Bestürzung dauerte nur einen Augenblick. Die zusammengelegten Arme sanken wieder herunter, die geneigte Gestalt richtete sich plötzlich gerade auf und Grahame St. Clay wurde wieder zum Europäer. In seinen Augen leuchtete tödlicher Haß, der ihn plötzlich schrecklich erscheinen ließ. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde regte sich in ihm das Tier, das Feuer erlosch, und er war wieder der Alte.

 

»Diese Zudringlichkeit ist unerhört«, sagte er in einem sonderbar abgerissenen Ton, der bei jeder anderen Gelegenheit lächerlich erschienen wäre.

 

Clifford Lynnes Augen wanderten auf den weißgedeckten Tisch mit den Silberbestecken, Glasgarnituren und Blumen. Dann sah er langsam das Mädchen an und lächelte. Und dieser Mann lächelte so wundervoll, wie sie es noch nie gesehen hatte.

 

»Wenn Sie meine Gegenwart eine Mahlzeit lang ertragen können, würde ich mich sehr freuen, Sie einzuladen«, sagte er.

 

Joan nickte.

 

Sie war von dem Vorfall erschreckt und sah in ihrer Verwirrung noch schöner aus. Sie wäre kein junges Mädchen gewesen, wenn es anders gewesen wäre. Ihr Interesse war geweckt. Diese beiden Männer waren unerbittliche Feinde. Das erkannte sie in diesem Augenblick so klar, als ob man ihr die Geschichte erzählt hätte, welche Bewandtnis es mit der Schlange hatte, die sich in Sunningdale aus dem Kasten herauswand. St. Clay hatte sie geschickt. Dieser aalglatte Chinese, den Clifford Lynne soeben Fing-Su nannte! Diese Erkenntnis ließ sie erbleichen. Unwillkürlich näherte sie sich Clifford.

 

»Mr. Narth!«

 

Fing-Su konnte kaum sprechen. Das Selbstbewußtsein, das ihm sein Universitätsstudium gab, ließ ihn vor Wut kochen. Seine Stimme zitterte, fast von Tränen erstickt.

 

»Sie haben mich und diese junge Dame zu Tisch gebeten. Sie können unter keinen Umständen erlauben –« Er konnte nicht weiter sprechen.

 

Stephen Narth fühlte, daß er in diesem Moment seine Persönlichkeit geltend machen mußte.

 

»Joan, du bleibst hier!« kommandierte er.

 

Das war sehr leicht gesagt. Aber in welchem Ton sollte er nun zu dem Mann an der Türe sprechen? Das war sehr schwer. Wenn die übelaussehende Gestalt in Sunningdale schon schwer zu behandeln war, wieviel schwerer war es erst, mit diesem kühlen und höflichen Weltmann fertig zu werden!

 

»Hm – Mr. Lynne –« begann er freundlich. »Ich bin in großer Verlegenheit. Ich habe Joan gebeten, mit unserem Freunde zu speisen –«

 

»Ihr Freund«, unterbrach ihn Lynne rasch, »ist nicht der meine, Mr. Narth! Ich wünsche um Erlaubnis gefragt zu werden, bevor Sie es wagen, meine zukünftige Frau mit einem Menschen zusammen zu Tisch zu laden, der gemeinen Mord als ein erlaubtes Mittel betrachtet, Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen!«

 

Er winkte Joan durch eine kleine Kopfbewegung zu sich. Freundlich folgte sie seinem Wink. Mr. Narth brachte nicht den Mut auf, ärgerlich zu sein.

 

Lynne trat einen Augenblick zur Seite, um das Mädchen in den äußeren Raum zu lassen.

 

Ohne Narth eines Blickes zu würdigen, zeigte er auf den Chinesen.

 

»Fing-Su, ich warne Sie zum drittenmal! Der Bund der ›Freudigen Hände‹ braucht einen anderen Führer, und die schöne Fabrik in Peckham wird in Flammen aufgehen und Sie mit ihr!«

 

Er wandte sich kurz um, verließ den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Joan wartete draußen im Gang. Sie war bestürzt und aufgeregt, und doch glaubte sie in dem Gewirr ihrer Gefühle an den fremden Mann, der so unerwartet und heftig in ihr Leben getreten war. Sie wandte sich ihm zu und lächelte ihn an, als er die Türe schloß.

 

»Wir wollen zu Ritz gehen«, sagte er kurz. »Ich bin sehr hungrig, schon seit heute morgen um vier Uhr bin ich auf den Beinen.«

 

Während sie im Fahrstuhl nach unten fuhren, war er schweigsam. Erst als sie im Auto saßen und ihren Weg durch den riesigen Verkehr nach dem Mansion House nahmen, sprach sie.

 

»Wer ist eigentlich Fing-Su?«

 

Er fuhr in die Höhe, als ob er aus einem Traum aufwachte.

 

»Fing-Su,« sagte er gleichgültig, »ach, das ist nur ein Chinesenbengel, der Sohn eines alten Unternehmers, der an sich kein schlechter Kerl war. Nur hatte der Alte seine Erziehung in der Missionsschule erhalten, und das hatte seinen Charakter verdorben. Denken Sie nicht, daß ich die Missionare schlecht machen will, aber die können eben auch keine Wunder tun. Es dauert mindestens neun Generationen, um Schwarze so weit zu erziehen, daß sie wie Weiße denken lernen. Aber zehntausend Jahre genügen nicht, um die Mentalität eines Chinesen zu ändern.«

 

»Er hat aber die Sprache eines feingebildeten Mannes«, sagte sie.

 

Er nickte.

 

»Er hat sein Examen in Oxford gemacht – der alte Joe Bray sandte ihn dorthin.« Über ihr Erstaunen mußte er lächeln. »Ja, Joe hat mit seinem guten Herzen so manche merkwürdigen und verrückten Dinge angestellt«, sagte er. »Daß er Fing-Su nach Oxford sandte, war einer seiner tollen Streiche.«

 

Später konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, was sich bei dem Essen alles zugetragen hatte. Sie besaß nur eine vage Erinnerung, daß er die meiste Zeit zu ihr gesprochen hatte. Gegen das Ende ihres Zusammenseins drückte sie ihre Befürchtungen über das Verhalten von Mr. Narth aus.

 

»Machen Sie sich keine Sorgen über ihn – er hat mit seinen Schwierigkeiten genug zu tun, die sind sehr böse und nehmen ihn ganz in Anspruch«, sagte er finster.

 

Aber es drängte sie, mit ihm über einen Punkt zu sprechen. Er hatte einen Wagen bestellt, der vor dem Hotel wartete, und bestand darauf, daß er sie nach Sunningdale heimbegleitete.

 

»Mr. Lynne,« sagte sie zögernd, »dieses merkwürdige Heiratsproblem –«

 

»Ist nicht merkwürdiger als andere Eheschließungen,« sagte er kalt, »wirklich gar nicht so seltsam, wie es schiene, wenn mein Bart noch in voller Blüte stände. Wollen Sie nicht mehr mittun?«

 

Es war nur erklärlich, daß Joan sich über die Freude ärgerte, die aus seiner Frage klang.

 

»Davon kann keine Rede sein, ich bleibe dabei, ich habe es doch versprochen«, sagte sie.

 

»Warum?« fragte er.

 

Sie errötete.

 

»Was wollen Sie damit sagen?«

 

»Warum haben Sie so schnell Ihre Einwilligung gegeben? Das war mir damals schon ein Rätsel«, sagte er. »Sie gehören doch nicht zu den Mädchen, die sich auf den ersten besten Mann stürzen, der ihnen in den Weg kommt. Es ist ein großer Unterschied zwischen Ihnen und der hochmütigen, sentimentalen Mabel und der überspannten Letty. Welchen Vorteil hat denn Narth davon?«

 

Auf diese Frage gab sie keine Antwort.

 

»Sicherlich hat er doch einen Vorteil. Er hat zu Ihnen gesagt: ›Du mußt diesen sonderbaren Vogel heiraten oder ich werde‹ – nun was?«

 

Sie schüttelte abweisend den Kopf. Aber er drang weiter in sie, und seine kühnen grauen Augen suchten die ihren.

 

»Ich hatte mich damit abgefunden, irgendwen zu heiraten, als ich hierherkam, aber ich erwartete nicht – Sie!«

 

»Warum hatten Sie sich denn damit abgefunden, irgendwen zu heiraten?« griff sie ihn an. Ein listiges Lächeln zeigte sich in seinen Augen.

 

»Ihre Frage ist berechtigt«, gab er zu. »Nun wohl, ich will es Ihnen erzählen. Ich hatte den alten Joe wirklich gern, zweimal rettete er mir das Leben. Er war der beste Mensch, aber ein alter romantischer Phantast. Er war darauf versessen, daß ich jemand aus seiner Familie heiraten sollte. Ich habe nichts davon gewußt, bis er im Sterben lag – ich glaubte es nicht, aber dieser verrückte Doktor aus Kanton bestätigte mir, daß er sterben müsse. Joe sagte mir, daß er glücklich sterben würde, wenn ich seine Linie weiterführte, wie er es nannte, obgleich, Gott weiß, niemand in der Familie ist, mit dem es wert wäre, die Linie fortzusetzen – mit Ausnahme von Ihnen natürlich!« fügte er schnell hinzu.

 

»Und Sie gaben Ihr Versprechen?«

 

Er nickte.

 

»Und ich war bei vollem Verstand, als ich es versprach. Ich habe das entsetzliche Gefühl, daß ich es aus Sentimentalität getan habe. Er starb in Kanton – von daher kam das Telegramm. Wie ähnlich sieht es Joe, ausgerechnet in Kanton zu sterben!« sagte er bitter. »Konnte er denn nicht normalerweise am Siang-kiang sein Leben beschließen!«

 

Sie erschrak über seine Gefühllosigkeit.

 

»Sagen Sie mir bitte offen, was Sie von mir erwarten, nachdem Sie mir gestanden haben, daß Sie nur heiraten, um ein Versprechen einzulösen?« fragte sie.

 

»Sie können Ihren Vorteil wahrnehmen und sich zurückziehen«, sagte er schroff. »Erst bei meiner Ankunft in England sah ich das Testament des alten Joe, als es zu spät war, dasselbe zu ändern. Wenn Sie mich vor Ende dieses Jahres heiraten, bringt das Narth eine Million Pfund ein.«

 

»Eine so große Summe?« fragte sie verwirrt.

 

Er staunte.

 

»Ich dachte, Sie würden sagen: ›Ist das alles?‹ In Wirklichkeit ist es mehr als eine Million – oder wird es in einiger Zeit sein. Die Firma ist ungeheuer reich.«

 

Es folgte eine Pause, in der beide zu sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt waren, um zu sprechen. Dann unterbrach sie das Schweigen.

 

»Sie haben die Geschäfte für ihn geführt, Mr. Lynne, nicht wahr?«

 

»Meine besten Freunde nennen mich Cliff«, sagte er. »Aber wenn Sie das zu intim finden, nennen Sie mich ruhig Clifford. Ja, ich führte die Geschäfte.«

 

Er gab keine weitere Auskunft, und das Schweigen wurde so drückend für sie, daß sie froh war, als der Wagen vor der Tür ihrer Wohnung in Sunningdale hielt. Letty, die auf dem Rasen Croquet spielte, kam mit ihrem Hammer in der Hand herbei und zog die Augenbrauen hoch.

 

»Ich dachte, du würdest in der Stadt speisen, Joan«, sagte sie tadelnd. »Wirklich, es ist sehr peinlich, heute nachmittag kommen die Herren Vasey, und ich weiß, daß du sie nicht leiden kannst.«

 

Jetzt erst sah sie den feinen fremden Herrn, senkte den Blick und wurde äußerst verlegen. Denn Lettys Bescheidenheit und Verwirrung in Gegenwart von Männern war bekannt und ließ sie in solchen Augenblicken sehr charmant erscheinen.

 

Joan machte gar keine Anstalten, ihren Begleiter vorzustellen. Sie sagte nur »Auf Wiedersehen« und sah dem Wagen nach, wie er die Straße herunterfuhr.

 

»Aber Joan,« sagte Letty ärgerlich, »du hast abscheuliche Manieren! Warum in aller Welt hast du mir den netten Herrn denn nicht vorgestellt?«

 

»Ich dachte, du wolltest ihm nicht vorgestellt werden, da du das letztemal so sehr aufgebracht warst, als er bei uns war«, sagte Joan ein wenig schadenfroh.

 

»Aber er ist doch noch nie bei uns gewesen«, widersprach Letty. »Und es ist noch unglaublicher, daß du behauptest, ich hätte irgend etwas Schlechtes über jemand gesagt. Wer ist es denn?«

 

»Clifford Lynne«, sagte Joan und fügte hinzu: »Mein Bräutigam!«

 

Sie ließ Letty mit offenem Munde und wie vom Blitz getroffen zurück und ging auf ihr Zimmer. Aber am Nachmittag war sie doch sehr besorgt, was Mr. Narth bei seiner Rückkehr sagen würde. Als er dann aber kurz vor dem Abendessen zurückkam, war er sehr liebenswürdig, ja väterlich zu ihr. Sein Wesen zeigte jedoch eine Nervosität, die sie vorher niemals bei ihm bemerkt hatte, und sie zerbrach sich den Kopf, ob die Ursache hierfür Clifford Lynne oder der böse Chinese sei, von dem sie in der folgenden Nacht noch so entsetzlich träumen sollte.

 

Kapitel 11

 

11

 

Mr. Clifford Lynne hatte ein kleines, möbliertes Haus in Mayfair gemietet. Er schätzte sein Quartier, weil es einen Eingang von der Rückseite hatte. Hinter dem Hause befand sich eine kleine Garage, die einen Ausgang nach einer langen, sehr engen Gasse hatte, an der andere Garagen lagen. Über den Wagenräumen befanden sich die Wohnungen der Chauffeure.

 

Clifford Lynne war über eine Nachricht sehr verblüfft, aber sie betraf weder Fing-Su, noch Mr. Narth noch Joan. Ein Zweifel hatte sich zu starkem Verdacht verdichtet, und er war nicht weit davon entfernt, ihn als Tatsache zu nehmen.

 

Den ganzen Nachmittag hatte er in Zeitungen aus China gelesen, die mit der letzten Post aus China gekommen waren. Kurz vor sieben fand er einen Abschnitt im North China Herald, der ihn plötzlich mit einem Fluch in die Höhe fahren ließ. Leider war es zu spät, um sofort Nachforschungen anzustellen, da im selben Moment Besuch angekündigt wurde. Mr. Ferdinand Leggat, dieser liebenswürdige, freundliche Mann, war durch die Garage in einem geschlossenen Wagen auf den Hof gekommen, und der Chauffeur Mr. Lynnes hatte ihn durch die Hintertüre hereingelassen. Es gab aber auch gute Gründe für diese Vorsicht.

 

Als er das kleine Speisezimmer betrat, drehte er sich hastig um und wollte die Tür hinter sich fest schließen. Aber der Diener, der ihm auf dem Fuß folgte, machte dies überflüssig. Sein Gesicht zeigte einen merkwürdigen Ausdruck, der nicht gerade Furcht bedeutete, aber man sah doch, daß ihm nicht ganz wohl zumute war.

 

»Ich wünschte, Sie hätten die Zusammenkunft etwas später arrangieren können, Mr. Lynne«, sagte er, als dieser ihm einen Platz anbot.

 

»Was bei Tage vor sich geht, sieht immer unschuldig aus«, bemerkte Clifford ruhig. »Außerdem verdächtigt niemand eine Droschke. Ich vermute, daß Sie sie auf der Straße anriefen? Und nach den paar halblauten Instruktionen brachte der Kutscher Sie hierher. Ja, wenn Sie in einer langen, grauen Limousine gekommen wären, die Sie in einer dunklen Straße aufgenommen hätte, würden Sie vielleicht die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.«

 

»Diese Kutscher schwatzen«, sagte der andere und spielte mit Messer und Gabel.

 

»Nicht dieser Mann, denn seit acht Jahren steht er in meinen Diensten. Alles, was Sie zu Essen und Trinken brauchen, steht auf dem Büfett – bitte bedienen Sie sich selbst.«

 

»Kommt Ihr Diener auch nicht herein?« fragte der andere nervös.

 

»Wenn das der Fall wäre, würde ich Sie nicht bitten, sich selbst zu bedienen«, entgegnete Clifford. »Ich möchte mit Ihnen ein wenig sprechen, bevor Sie gehen. Deswegen bat ich Sie, so früh zu kommen. Sagen Sie mir bitte, was hat sich heute ereignet?«

 

Lynne wandte sich zum Büfett, legte sich ein Stück Huhn und Salat auf den Teller und kam damit zu dem Tisch.

 

»Was ist passiert?« fragte er noch einmal.

 

Mr. Leggat schien keinen Appetit zu haben, denn er nahm nur eine Whiskyflasche und einen Siphon mit Sodawasser.

 

»St. Clay rast vor Wut«, sagte er. »Sie müssen sich sehr vor diesem Menschen in acht nehmen, Lynne. Er ist wirklich ein gefährlicher Kerl.«

 

Clifford Lynne lächelte.

 

»Habe ich Sie den ganzen weiten Weg von Ihrem Heim in South Kensington hierherkommen lassen, um das zu erfahren?« fragte er ironisch. »Natürlich ist er ein gefährlicher Kerl. Aber sagen Sie mir lieber, was hat sich zugetragen?«

 

»Ich weiß es nicht genau. Ich sah Spedwell vor einigen Minuten, und er sagte mir, daß St. Clay –«

 

»Nennen Sie ihn doch lieber Fing-Su – dieses Gerede mit St. Clay fällt mir wirklich auf die Nerven!«

 

»Er sagte, daß Fing-Su zuerst Himmel und Hölle in Bewegung setzte und dann darauf bestand, daß Narth die Sache als einen Scherz ansehen sollte. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich das Mädel sorgsam bewachen lassen.«

 

Clifford sah den andern scharf an.

 

»Sie meinen Miß Bray – ich glaube, es ist besser, daß Sie die Dame Miß Bray nennen. ›Das Mädel‹ klingt ein wenig respektlos«, sagte er kühl. »Meinen Sie nicht auch?«

 

Leggat zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Ich wußte nicht, daß Sie so verflucht korrekt sind«, brummte er.

 

»Ja, das bin ich in der Tat«, sagte Clifford. »Also – Fing-Su ist bestimmt gefährlich, das habe ich nie bezweifelt. Aber wissen Sie auch, wie tödlich gefährlich er ist?«

 

»Ich?« fragte Leggat verwundert. »Warum?«

 

Der andere sah ihn sonderbar an.

 

»Ich vermute, daß Sie in seine kostbare Gesellschaft der ›Freudigen Hände‹ eingetreten sind, und daß Sie da so eine Art Hokuspokuseid geschworen haben?«

 

Leggat rutschte unbehaglich in seinem Stuhl hin und her.

 

»Ach so! Nun ja, ich kümmere mich sehr wenig um diese Dinge«, sagte er verlegen. »Geheimgesellschaften sind alle ganz gut in ihrer Weise, aber sie sind doch schließlich nur eine Spielerei mit allerhand mystischen Dingen. Aber abgesehen davon – Fing-Su besitzt eine große Fabrik in London. Es würde ihm schaden, wenn er sich auf unreelle Tricks einließe. Er sagte mir zum Beispiel, daß er in etwa einem Jahr den ganzen Handel Südchinas in seiner Hand haben wird, und man erzählt sich, daß er Handelsniederlassungen bis weit an die tibetanische Grenze hat! Der Mann muß jährlich Tausende verdienen! Diese Geheimgesellschaft ist nur ein Handelskniff. Von Spedwell weiß ich, daß Logen dieses Systems fast in jeder größeren Stadt Chinas bestehen. Natürlich kommt das dem Geschäft zugute. Er hat es dadurch erreicht, daß er von seinen Landsleuten fast wie ein Gott verehrt wird. Sehen Sie sich doch einmal die Bureaus an, die er am Tower Hill baut, und die Fabrik draußen in Peckham!«

 

»Ich will die Fabrik in Peckham diesen Abend noch besuchen«, sagte Lynne. Erstaunen malte sich auf Leggats Gesicht.

 

»Was wollen Sie denn damit erreichen?« fragte er. »Der Platz wimmelt von Chinesen. Er beschäftigt dort über zweihundertfünfzig Mann. Die Peckham-Leute würden bei Ihrem Erscheinen einen Aufstand machen, auch wenn es nur fünfzig wären. Deshalb läßt er die Leute auch innerhalb der Fabrik wohnen. Sie können in die Werke nicht hineinkommen, selbst nicht für Geld und gute Worte.«

 

Clifford Lynne lächelte.

 

»Trotzdem werde ich es versuchen«, sagte er. »Alles, was ich von Ihnen dazu brauche, ist der Hauptschlüssel zu den äußeren Toren.«

 

Der große Mann wurde totenbleich, und die Hand, die das Whiskyglas hielt, zitterte.

 

»Das ist doch nicht Ihr Ernst?« fragte er mit heiserer Stimme. »Großer Gott, Mann, Sie werden doch nicht dorthin gehen – ich kann Sie unmöglich dorthin bringen – gibt es denn gar keinen anderen Weg? Können Sie Ihr Ziel nicht mit Hilfe der Polizei oder des Auswärtigen Amtes erreichen?«

 

»Die Polizei und das Auswärtige Amt würden mich auslachen«, sagte Lynne. »Ich will selbst mit eigenen Augen sehen, was sich innerhalb der Umfassungsmauer dieses drei Morgen großen Grundstücks abspielt. Ich will genau feststellen, was Mr. Grahame St. Clay mit seinen Warenhäusern, seinen Schiffen und seinen Motorbooten macht. Aber besonders begierig bin ich, die Halle der ›Weißen Ziege‹ kennenzulernen.«

 

Leggat zitterte wie Espenlaub. Er öffnete seinen Mund, um zu sprechen, aber er konnte kein Wort hervorbringen.

 

»Dort lauert der Tod!« stieß er endlich hervor.

 

Ein stahlharter Blick des andern ließ ihn erschauern.

 

»Vielleicht auf Sie – aber nicht auf mich!« sagte Clifford Lynne.

 

Kapitel 12

 

12

 

Die rührige Tätigkeit der Chinesischen Handelsgesellschaft hätte weiter keine große Beachtung erfahren, wenn man sie nicht für die Arbeiterunruhen verantwortlich gemacht hätte, die wegen der Verwendung gelber Menschen ausgebrochen waren. Man wußte, daß die Gesellschaft mit dem Kapital reicher Chinesen gegründet war. Deshalb war es nicht verwunderlich, daß die Gründer es vorzogen, Landsleute anzustellen. Als die Beschwerden der Arbeiterschaft beigelegt und die Leute der Chinesischen Handelsgesellschaft als Gewerkschaft anerkannt waren, verstummten die Anfeindungen. Aber die Proteste erneuerten sich, als die Bewohner der umliegenden Gegend durch ein Verbrechen in Schrecken versetzt wurden, das in der Nähe der Fabrik begangen wurde. Es blieb aber glücklicherweise bei dem einen Fall, da die Gesellschaft durchgreifende Maßnahmen ergriff und den chinesischen Arbeitern Wohnungen in dem Fabrikgebäude selbst zuwies. Es war Platz genug dazu vorhanden, denn es standen viele Betonhäuser hier. Es war eine der vielen Fabrikanlagen, wie sie während des Krieges aus dem Boden wuchsen und mit dem Waffenstillstand entbehrlich wurden. Die Firma hatte diese große Niederlassung für einen Bruchteil des Wertes erworben.

 

Die Fabrik erhob sich an den Ufern des träge dahinfließenden Surrey-Kanals. Sie hatte eine eigene kleine Dockanlage und einen Uferkai, wo unzählig viele Lastboote Woche um Woche entladen und wieder beladen wurden. Nur die Lastboote waren mit weißen Arbeitern bemannt; auf den Schiffen, welche die Waren der Gesellschaft an die afrikanische Küste brachten, waren sowohl die Offiziere wie die Mannschaften Chinesen.

 

Die sogenannte »Gelbe Flotte« bestand aus vier Schiffen, die man günstig erworben hatte, als die Schiffahrt ganz daniederlag. Offensichtlich handelte die Firma mit gutem Erfolg in Reis, Seide und den tausendundein Produkten des fernen Ostens. Diese Waren wurden gewöhnlich an den Ufern des Pool unterhalb London entladen und kamen auf dem gewöhnlichen Handelsweg in den Markt. Die Ladung der Schiffe wurde durch Leichter herangebracht, die vom Surrey-Kanal kamen. Man lud nur solche Güter, welche die Gesellschaft in China schnell umsetzen konnte.

 

Es regnete, als Clifford Lynne in einer Droschke aus der Old Kent Road fuhr, um möglichst schnell nach Peckham zu kommen. Kurz vor der verlassenen Kanalbrücke hielt der Wagen, und Lynne stieg aus. Er gab dem Kutscher kurze, leise Instruktionen. Dann ging er zu dem Kanalufer hinunter. Außer dem Sirenengeheul eines entfernten Dampfers, der auf dem Wege zum Meere war, wurde die Stille durch kein Geräusch unterbrochen. Rasch ging er die enge Uferstraße auf der Wasserseite entlang. Einmal kam er an einem Boot vorbei, das am Ufer festgemacht war, und hörte die leisen Stimmen des Bootsmannes und seiner Frau, die sich miteinander unterhielten.

 

Nachdem er zehn Minuten gegangen war, verlangsamte er seine Schritte. Gerade vor ihm, auf der linken Seite, lagen die dunklen Gebäude der chinesischen Fabrik. Er ging durch das Haupttor. Die kleine Türe für Fußgänger stand offen. Davor hockte ein ungeheuer großer Kuli, den er im Schein der Zigarre sah, die der Mann rauchte. Der Wächter entbot ihm mit gurgelnder Stimme »Guten Abend«, und er erwiderte den Gruß.

 

Der Kanal machte hier, etwas oberhalb des Tores, eine Biegung, und in einigen Sekunden konnte ihn der Kuli nicht mehr sehen. Jetzt bog die Mauer im rechten Winkel ab, und er kam in einen engen, dunklen Durchgang, der an der Mauer entlang lief. Es hatte sich eingeregnet, und die Tropfen fielen melancholisch auf seinen Mantel. Er hatte eine elektrische Lampe aus seiner Tasche gezogen. Mit ihrer Hilfe konnte er den tiefen Löchern in dem scheinbar selten benutzten, schlechten Fußweg ausweichen.

 

Jetzt fand er, wonach er gesucht hatte – eine schmale Tür, die tief in der Mauer zurücklag. Er stand still und lauschte ein paar Minuten, dann steckte er den Schlüssel in das Loch und drehte ihn um. Er öffnete leise und schlüpfte hinein.

 

Soweit er sehen konnte, hob sich zu seiner Linken die gerade Umrißlinie des Hauptgebäudes gegen den Himmel ab. Zu seiner Rechten stand ein Betonschuppen, der so niedrig war, daß die Traufkante des Daches sich nicht über Augenhöhe erhob. Während des Krieges hatte man diesen Platz benutzt, um die Bomben mit Sprengstoff zu füllen, und augenscheinlich hatte dieser Schuppen zur Unterbringung der Sprengstoffe gedient.

 

Er tastete sich vorsichtig weiter und vermied es, seine Taschenlampe zu gebrauchen. Von irgendwoher kamen aus dem dunklen Gelände die tiefen Töne eines Chorgesangs. Da sind die Quartiere der Leute, dachte er, als er bemerkte, aus welcher Richtung das Geräusch kam.

 

Eine schöne breite Steintreppe, die unterhalb der Erdgleiche lag, führte ihn zu dem Tor des Schuppens. Wieder stand er still und lauschte, steckte den Schlüssel ein und drehte ihn leise um. Nachdem er seine Lampe einen Augenblick eingeschaltet hatte, sah er eine zweite Flucht von Stufen, die tief in die Erde hinabführten. Hier waren zwei Tore, aber sie glichen keinem von denen, durch die er bisher gegangen war. Sie waren reich mit fein geschnitzten Figuren verziert und mit leuchtenden, lebhaften Farben bemalt. Selbst wenn er in solchen Dingen nicht kundig gewesen wäre, hätte er chinesische Kunstformen in ihnen erkannt.

 

Es dauerte einige Zeit, bevor er das Schlüsselloch fand. Aber schließlich hatte er eines der beiden Tore geöffnet. Als es sich auftat, kam ihm schwerer Weihrauchduft und ein beißender Geruch entgegen, den er nur allzu gut kannte. Trotz seines Mutes fühlte er sein Herz schneller schlagen.

 

Nachdem er die Tür sorgsam hinter sich geschlossen hatte, leuchtete er mit seiner Blendlaterne die Wand entlang, und nach einer oder zwei Sekunden hatte er den elektrischen Schalter gefunden. Ohne Zögern drehte er das Licht an. Sofort leuchteten zwei glitzernde, elektrische Lampen auf, die von massiv bronzenen Pfosten getragen wurden.

 

Der Raum war lang und schmal und hatte eine niedrige Decke. Die Betonwände, die ehemals die Sprengstoffe eingeschlossen hatten, waren mit roter Seide bespannt, in die chinesische Sprüche eingestickt waren. Diese Wandbespannungen wechselten mit Pilastern ab, die aus gehämmertem Golde zu sein schienen. Der Steinboden war mit leuchtenden, farbigen Majolikafliesen gedeckt, und an drei Seiten des Raumes zog sich der breite Streifen eines dunkelblauen Teppichs hin. Aber das beachtete er im Augenblick alles nicht, seine Aufmerksamkeit wurde auf einen länglichen Marmoraltar gelenkt, der am anderen Ende des Raumes stand. Hinter diesem, auf einem steinernen Unterbau, befand sich das besondere Symbol der Geheimgesellschaft: zwei goldene Hände, die in Freundschaft ineinandergeschlungen waren. Sie waren an einem rotlackierten Pfosten befestigt, der mit Inschriften von Goldbuchstaben bedeckt war.

 

Eine Weile las er diese Inschriften. Sie waren von wunderbarem Inhalt und ermahnten besonders zur Tugend und zur Kindesliebe. Unter den Händen stand unter einem kleinen, purpurroten Baldachin ein Thron. Als er näher kam, sah er glitzerndes Licht, das von der Spitze des Altars kam, und zu seinem Erstaunen bemerkte er, daß der Rand mit Diamanten besetzt war!

 

»Mag kommen, was will!« sagte er verwundert und streckte die Hand aus, um die glänzenden Edelsteine zu berühren.

 

In diesem Augenblick gingen plötzlich alle Lichter im Raume aus. Er fuhr herum und zog blitzschnell seinen Revolver aus der hinteren Tasche.

 

Mit schwirrendem Tone sauste etwas an seiner Backe vorbei. Er hörte den Aufschlag eines Messers, das gegen die Wand fuhr und dann auf den Boden niederfiel. Ein zweites Messer schwirrte hinterher. Da feuerte er zweimal in der Richtung nach der Tür. Er hörte ein Stöhnen, das plötzlich verstummte, als ob kräftige Hände den Mund des Getroffenen geschlossen hätten.

 

Tiefes Schweigen herrschte. Nur das Gleiten bloßer Füße auf dem glatten Boden zeugte von der Gegenwart seiner Angreifer.

 

Clifford stürzte nach vorn und setzte sich nieder. Im Nu hatte er seine Schuhe ausgezogen, knotete die Schnürriemen zusammen und hing sie um den Hals, wie er es früher als Schüler gemacht hatte, wenn er durch einen verbotenen Teich watete. Dann erhob er sich geräuschlos und tastete sich an dem Teppich entlang. Seine Ohren waren darauf eingestellt, den leisesten Ton zu erhaschen.

 

»Klick!«

 

Da stieß Stahl gegen den plattenbelegten Fußboden. Sie suchten ihn mit ihren bloßen Schwertern – wie viele mochten es sein?

 

Weniger als ein Dutzend, schloß er daraus, daß sie das Licht ausgedreht hatten. Eine größere Schar hätte es gewagt, seinem Revolver entgegenzutreten. Nach einer Weile wandte sich die Reihe der Sessel nach links. Er bewegte sich jetzt auf die Tür zu und mußte die größte Vorsicht gebrauchen.

 

Er stand still und lauschte. Jemand atmete tief, ganz dicht bei ihm. Das mußte der Torwächter sein. Da kam ihm ein Gedanke. Die Chinesen haben eine ganz besondere Art zu flüstern – ein tiefes Zischen, nicht lauter als das Seufzen des Nachtwindes.

 

»Geht alle zu den Händen!« flüsterte er. Er sprach in dem Dialekt von Yünnan und hatte damit Erfolg. Das Geräusch des Atmens verschwand aus seiner Nähe, und er bewegte sich verstohlen auf die Türe zu. Bei jedem Schritt stand er still und lauschte.

 

Der Teppich endete plötzlich, seine Finger berührten die seidene Bespannung und dann die bloße Wand. Nach einem weiteren Augenblick war er durch die offene Tür gegangen und stieg die Stufen herauf. Über ihm erhob sich am äußeren Eingang die Gestalt eines stehenden Mannes in vornübergeneigter, lauschender Haltung. Die Figur stand schwarz gegen den hellen Nachthimmel.

 

Clifford blieb stehen, um Atem zu holen. Dann sprang er mit zwei großen Schritten die Treppe hinauf.

 

»Wenn du dich rührst, bist du des Todes!« flüsterte er und drückte die Mündung seiner Pistole in den wattierten Rock.

 

Der Mann schreckte zurück, faßte sich aber sofort wieder. Clifford hörte ein Lachen, das er kannte.

 

»Schießen Sie nicht, Mr. Lynne! Sic itur ad astra! Aber ich ziehe einen anderen Weg zur Unsterblichkeit vor!«

 

In dem Lichte seiner Taschenlampe erkannte Clifford den Mann. Er trug einen langen Rock, der bis zu den Knöcheln herabreichte, auf seinem Kopf saß eine runde Chinesenmütze.

 

Es war Grahame St. Clay, B. A.!

 

Kapitel 13

 

13

 

Clifford hörte die Tritte nackter Füße auf den Treppenstufen. Sofort wandte er sich mit erhobener Pistole um.

 

»Rufen Sie Ihre Hunde zurück, Fing-Su!« rief er.

 

Der andere zögerte einen Augenblick, aber dann zischte er etwas mit einem scharfen Unterton. Das Rascheln hörte auf. Aber als Clifford in die Türöffnung nach unten sah, blitzte eine bloße Klinge auf. Er lächelte.

 

»Nun zum Ausgang, mein Freund«, rief er. Dabei faßte er den Arm Fing-Sus mit eisernem Griff und führte ihn nach der Mauer, in der sich das Tor befand.

 

»Mein lieber Mr. Lynne« – sagte der Chinese vorwurfsvoll – »warum in aller Welt haben Sie mir denn nicht einen kurzen Brief geschrieben, wenn Sie unseren Logenraum sehen wollten? Es wäre mir ein großes Vergnügen gewesen, Ihnen das ganze Anwesen zu zeigen. So haben sich diese armen Leute natürlich eingebildet, daß ein Dieb eingebrochen sei – denn wie Sie sich selbst überzeugt haben, befindet sich eine Menge wertvoller Dinge in der Halle der ›Freudigen Hände‹. Ich hätte es mir in der Tat niemals verziehen, wenn Ihnen irgend etwas zugestoßen wäre.«

 

Der Europäer antwortete nicht, alle seine Sinne waren aufs äußerste angespannt. Seine Blicke tasteten bald zur linken, bald zur rechten Seite ab. Er wußte genau, daß die ganzen Höfe voll von bewaffneten Leuten steckten. Er brauchte Fing-Su nur einen Augenblick von seiner Seite zu lassen, und es war um sein Leben geschehen.

 

Offenbar dachte Fing-Su dasselbe.

 

»Ich habe nie gewußt, daß Sie nervös wären, Lynne«, sagte er.

 

»Mr. Lynne«, verbesserte ihn der andere mit Nachdruck. Sein Gefangener schluckte.

 

Als sie nahe an das Tor der Mauer gekommen waren, zog Clifford seine Taschenlampe. Das Gelände fiel leicht nach dem Ausgang zu ab. Jetzt drückte er zum erstenmal auf den Lichtknopf. Er hatte dabei keinen Hintergedanken, er wollte nur den Weg beleuchten. Das Licht beschien für eine Sekunde das Tor, und dann wanderten die Strahlen nach rechts. Ein langes Dach, das an der Wand entlang lief, dehnte sich in einer Höhe von sechs Fuß über der Erde, so weit die Mauer reichte. In diesem Augenblick entdeckte Clifford, was er vermutet hatte. Eine lange Reihe von Fahrgestellen stand dicht gedrängt in dem mit Schiefer gedeckten Schuppen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde konnte er die dunklen, grauen Räder sehen, dann wurde ihm die Lampe aus der Hand geschlagen.

 

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Fing-Su. »Es ist wirklich nur aus Versehen geschehen.« Der Chinese bückte sich, hob die Lampe auf und gab sie ihm zurück. »Es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten kein Licht gemacht. Denn es ist mir sehr unangenehm, daß meine Leute beobachten konnten, daß ein Fremder die ›Halle des Geheimnisses‹ gesehen hat. Mr. Lynne, Sie wissen ganz genau, daß dieses Volk sehr erregbar ist und die Fremden haßt. Um es gerade heraus zu sagen, ich bin in großer Sorge, daß ich Sie hier wieder heil herausbringe, ohne daß Ihnen etwas zustößt. Wenn Sie das Licht anmachen, geben Sie den Leuten doch direkt ein Ziel.«

 

Clifford Lynne antwortete nicht darauf. Sie hatten das Tor erreicht. Fing-Su ging voraus, schloß auf und öffnete die Türe weit. Lynne entfernte sich rückwärts gehend, mit erhobener Pistole.

 

»Ich möchte Sie warnen«, sagte er zuletzt. »Meine Worte können Ihnen sehr nützlich sein. Sie haben mehr Geld als irgendein anderer Chinese. Gehen Sie doch in Ihre Heimat zurück, brauchen Sie Ihre Reichtümer, um Ihr Vaterland zu heben, und denken Sie nicht mehr an diese phantastischen Träume von Kaiserherrschaft!«

 

Er vernahm ein ruhiges, selbstbewußtes Lachen und wußte, daß seine Worte vergeblich waren. Das Tor wurde leise hinter ihm zugedrückt, und er hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Schnell wandte er sich dem Kanalufer zu, indem er mit der Taschenlampe leuchtete. Still und verlassen lag der Platz da. Er eilte den Weg am Ufer entlang, den er gekommen war. Er zweifelte nicht daran, daß er noch schwer zu kämpfen haben würde, um sicher zu entkommen, wenn es Mr. Grahame St. Clay so gefallen sollte. Noch lief er auf Strümpfen. Ungefähr zwölf Meter vom Haupttor der Fabrik machte er Halt. Das Geräusch der Türangeln zog seinen Blick nach der Richtung. Das Tor tat sich auf.

 

Sofort ließ er sich auf die Uferbefestigung nieder. Eine Reihe unheimlicher Gestalten strömte heraus. Ohne zu zögern, steckte er seine Pistole in die Tasche und glitt geräuschlos in das Wasser hinab. Vorsichtig schwamm er zum jenseitigen Ufer, in der Richtung auf einen Leichter, der dort festgemacht war. Das Wasser war schmierig und roch ölig, aber er achtete nicht darauf. Es war jedenfalls lange nicht so unangenehm, als wenn er in die Hände der Chinesen gefallen wäre.

 

Jetzt hatte er das Boot erreicht und hielt sich an einer Kette fest. Schweigend schwang er sich auf das Deck eines Kohlenbootes. Mit ein paar Schritten war er auf der Werft. Irgendwo im Dunkeln heulte ein Hund, vom jenseitigen Ufer hörte er die erregten Stimmen seiner Verfolger. Sie hatten ihn verfehlt und vermuteten jetzt, auf welche Weise er entkommen war.

 

Er nahm seinen Weg quer durch die Werft, auf der Kisten und Waren umherstanden. Schließlich kam er an ein hohes, hölzernes Tor. Als er darüber klettern wollte, bemerkte er, daß es oben mit einem Rande scharfer, rostiger Spitzen geschützt war, so daß er es nicht übersteigen konnte. Er suchte nach der Türe für Fußgänger. Entschlossen drückte er die Klinke herunter, und mit einem Seufzer der Erleichterung sah er, daß das Tor nachgab.

 

Aber die Gefahr war noch nicht vorüber, wie er erst jetzt gewahr wurde. Als er durch dieses Labyrinth von engen Gassen lief, erreichte er eine schmutzige Straße, die nur schwach durch trübe Laternen erleuchtet war. Er war ein paar Schritte gegangen, als an dem anderen entfernten Ende das düstere Licht eines Autos auftauchte. Sofort versteckte er sich hinter einem großen Holzstapel. Der Wagen fuhr langsam vorwärts, und er konnte sehen, wie ein Mann, der an der Seite des Fahrers saß, die Straße rechts und links mit einer starken Handlampe absuchte. Der Wagen kam näher. Einige Schritte vor seinem Versteck hielt der Fahrer an. Er hörte das zischende Gewisper, das er so gut kannte. Er stand ganz still, die triefende Pistole in der Hand – aber der Wagen fuhr vorbei, und er lief den Weg zurück, den er gekommen war, erreichte die Kanalbrücke ohne Unfall und sah zu seiner großen Befriedigung zwei Polizisten, die hier auf und ab gingen. Einer richtete seine Lampe auf ihn, als er vorüberging.

 

»Hallo, Freund, im Wasser gewesen?«

 

»Ja, ich bin hineingefallen«, sagte Clifford. Ohne weitere Erklärung ging er weiter.

 

Am Ende der Glengall Road wartete sein Wagen, und eine halbe Stunde später gönnte er sich den Luxus eines heißen Bades.

 

In dieser Nacht mußte er über vieles nachdenken, besonders aber über die lange Reihe der Wagengestelle, die er unter dem Dach des Schuppens gesehen hatte; er hatte sie als Batterien von Schnellfeuergeschützen erkannt und wunderte sich darüber, wozu Mr. Fing-Su sie verwenden wollte.