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Joan dachte noch kurz über den Wechsel in Narths Aussehen und Benehmen nach. Bald aber hatte sie ihren Argwohn vergessen. Die Besorgungen, die sie vorhatte, würden jeder Frau Freude gemacht haben und waren ihr unter den gegebenen Verhältnissen besonders angenehm. Sie zählte das Geld, als sie im Auto saß: es waren dreihundertzwanzig Pfund – eine ungeheure Summe für sie, die nie mehr als zehn Pfund auf einmal in ihrem Leben besessen hatte.

 

Madame Ferronis Adresse hatte sie dem Chauffeur gegeben, und in den nächsten zehn Minuten beobachtete sie mit Interesse, mit welcher Gewandtheit er seinen Weg durch den dichtesten Verkehr nahm, wie er sich an jeder belebten Straßenkreuzung durch die Masse der Wagen hindurcharbeitete, bis er auf der Easton Road freie Bahn erreichte.

 

Fitzroy Square hat seinen besonderen Charakter. Da er in der Nähe der westlichen Handelszentren lag, war er dem traurigen Los entgangen, dem so mancher unbekannte Londoner Häuserblock verfallen war. Die schönen alten Häuser aus der Zeit der Queen Anne hatten sich fast überall in häßliche Mietswohnungen verwandelt. Die Gebäude am Fitzroy Square dagegen dienten anderen Zwecken, da lagen ein bekanntes, großes Restaurant, ein oder zwei Tanzklubs und zahlreiche Bureaus.

 

Die Türfüllung des Hauses Nr. 704 war ganz mit Messingschildern bedeckt, die die verschiedensten Gewerbe und Handelsfirmen anzeigten, die in diesem Hause betrieben wurden. Ganz oben waren die Worte aufgemalt: Madame Ferroni, Modistin, 3. Stock, Rückseite. Joan konnte sehen, daß die Farbe noch feucht war.

 

Den Chauffeur hatte sie entlassen, um Mr. Narths Wunsch zu erfüllen. Als sie die Treppe hinaufstieg, kam sie schließlich etwas außer Atem zu einer Tür, auf der ebenfalls der Name der Modistin angebracht war. Aber sie war in gehobener Stimmung, wie es die erfreuliche Art ihres Besuches mit sich brachte. Auch die Farbe der zweiten Aufschrift war noch frisch. Sie klopfte und wurde sofort eingelassen. Die Frau, die ihr die Tür öffnete, hatte ein dunkles Gesicht und ein ziemlich abstoßendes Äußere. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ihre gelbe Gesichtsfarbe nur noch mehr betonte, die von dem gewöhnlichen dunklen Teint der Europäer sehr verschieden war. Schwache blaue Schalten lagen unter ihren Augen, ihre Lippen waren dick und ihre Nase ein wenig breitgedrückt. Fraglos war sie eine Halbe. Die geschlitzten Augen, der gelbliche Ton ihrer Haut hätten sie jedem Ethnologen als Halbchinesin gekennzeichnet – aber Joan war keine Ethnologin.

 

Es hätte sie nichts beunruhigt, wenn nicht der Raum, in den sie eintrat, vollständig leer gewesen und wenn die Türe nicht sofort hinter ihr abgeschlossen worden wäre. Auch die innere dicke Portiere zog die Frau gleich zu.

 

Joan sah sich in dem Raum um, in dem außer einem großen Kleiderschrank nur noch ein Sessel und ein gedeckter Teetisch stand. Der Teekessel dampfte. Kleider waren nicht zu sehen, vielleicht hingen sie in dem großen Schrank, der an der Wand befestigt war.

 

»Erschrecken Sie bitte nicht, Miß Bray«, sagte die gelbe Frau und gab sich Mühe, liebenswürdig zu erscheinen. Das machte ihr glattes Gesicht nur noch unangenehmer. »Meine Kleider sind nicht hier. Ich empfange hier nur meine Kunden.«

 

»Warum haben Sie denn die Tür zugeschlossen?« fragte das Mädchen. Obwohl sie ihren ganzen Mut zusammennahm, fühlte sie doch, wie das Blut aus ihren Wangen wich.

 

Madame Ferroni verbeugte sich zweimal in dem ängstlichen Bemühen, das Vertrauen ihres Besuches nicht zu erschüttern.

 

»Ich liebe keine Störung, wenn ich eine wichtige Kundin hier habe, Miß Bray«, sagte sie. »Sie sehen, daß Ihr Onkel, Mr. Narth, all sein Geld in dieses Geschäft gesteckt hat, und ich möchte ihn zufriedenstellen. Es ist ja natürlich! Ich habe die Kleider in meinem Geschäft in der Savoy Street, und wir werden nachher gleich dahin gehen. Sie können sich dort alles aussuchen, was Sie wünschen. Wer erst möchte ich gern ein wenig mit Ihnen sprechen, um Ihre Wünsche zu erfahren.«

 

Es schien, als hätte sie die Sätze, die sie sprach, auswendig gelernt.

 

»Sie müssen eine Tasse Tee mit mir trinken«, fuhr sie fort. »Es ist eine Gewohnheit, die mir lieb geworden ist, seitdem ich in diesem Lande lebe.«

 

Joan kümmerte sich wenig um Gewohnheiten. Sie konnte sich nicht darüber beruhigen, daß die Tür abgeschlossen war und auch dauernd abgeschlossen blieb.

 

»Madame Ferroni, ich bedaure, jetzt nicht bleiben zu können. Ich werde später wiederkommen.«

 

Joan zog den grünen Vorhang auf, aber sie konnte nicht öffnen, denn der Schlüssel der äußeren Tür war abgezogen.

 

»Sicher, wenn Sie es so wünschen.« Madame Ferroni zuckte die Achseln. »Aber Sie müssen wissen, daß ich Gefahr laufe, meine Stelle zu verlieren, wenn ich Sie nicht bedienen kann.«

 

Mit der Geschicklichkeit einer Chinesin bereitete sie den Tee und goß dann die starke, goldgelbe Flüssigkeit in die Tasse ein, gab sehr viel Milch dazu und überreichte sie Joan. Sie brauchte eine Erfrischung, hätte aber lieber ein Glas Wasser genommen, denn ihr Mund war trocken, und das Sprechen fiel ihr schwer.

 

Joan beherrschte der Gedanke, daß sie der Frau nicht merken lassen dürfe, daß sie sich fürchtete, und daß sie argwöhnisch geworden war durch die ungewöhnliche Art, wie sie ihre Kunden empfing. Sie rührte den Tee um und trank ihn gierig, als die Frau den Schlüssel vom Tisch nahm, zur Türe ging, ihn in das Schlüsselloch steckte und umdrehte. Sie drehte ihn zweimal herum, einmal schloß sie auf und ein zweites Mal wieder zu. Aber das bemerkte Joan nicht.

 

»Jetzt werde ich meinen Hut aufsetzen, und wir gehen«, sagte Madame Ferroni. Bei diesen Worten nahm sie einen großen, schwarzen Hut von dem Haken an der Wand. »Fitzroy Square gefällt mir nicht, es ist hier so langweilig. Als ich Mr. Narth sagte, daß die Kundinnen nicht gern drei Treppen hoch steigen, um hübsche Kleider anzuprobieren …«

 

Die Tasse fiel aus Joans Hand und brach in Scherben. Mit der Behendigkeit eines Tigers sprang Madame Ferroni quer durch das Zimmer, fing das bewußtlose Mädchen auf, als es schwankte, und legte es dann sanft auf den Boden.

 

Kaum hatte sie das getan, als ein lautes Pochen an der äußeren Tür erscholl. Madame Ferronis Gesicht verfärbte sich.

 

»Ist jemand hier drinnen?«

 

Die Stimme klang befehlend, und die Frau zitterte. Ihre Hand faßte den Schlüssel.

 

Es wurde wieder geklopft.

 

»Offnen Sie die Tür, ich kann den Schlüssel innen sehen!« sagte die Stimme.

 

Madame Ferroni eilte schnell zu dem Kleiderschrank an der Wand und hob den losen Boden heraus. Zwischen dem Flur und dem Schrankboden war ein Zwischenraum von mehr als einer Spanne. Sie nahm Joan auf, legte sie in den staubigen Hohlraum, deckte das Brett über sie, machte die Schranktür zu und schloß sie ab. Dann ergriff sie schnell die Scherben der Teetasse und den Teller, öffnete das Fenster und warf sie auf den kleinen Hinterhof. Sie schaute sich noch rasch im Zimmer um, ob alles in Ordnung sei, ging dann zur Türe, drehte den Schlüssel um und öffnete.

 

Ein Mann stand auf dem Podest. Madame Ferroni kannte die Polizei aus der Praxis. Sie wußte sofort, daß dies ein Mann von Scotland Yard war. Sie war mit einem Chinesen verheiratet, der einmal von solch einem Menschen verhaftet wurde. Sie erkannte ihn halb und halb wieder, als er mit ihr sprach, aber sie konnte sich nicht aus seinen Namen besinnen.

 

»Hallo,« fragte er, »wo ist Miß Bray?«

 

»Miß –« Madame Ferroni zog die Stirne kraus, als ob sie den Namen nicht richtig gehört hätte.

 

»Miß Bray. Sie kam vor fünf Minuten hierher.«

 

Madame Ferroni lächelte und schüttelte den Kopf.

 

»Sie irren sich,« sagte sie, »außer mir ist niemand hier.«

 

Der Detektiv ging in das Zimmer und sah sich um. Er betrachtete den Tisch und die einsam dastehende Teetasse.

 

»Was ist in dem Schrank?«

 

»Nichts. Wollen Sie einen Blick hineinwerfen?« fragte Madame Ferroni und fügte noch hinzu: »Darf ich wissen, wer Sie sind?«

 

»Ich bin Detektiv Sergeant Long von Scotland Yard«, sagte der andere. »Sie wissen ganz genau, wer ich bin. Vor zwei Jahren habe ich bei Ihnen Haussuchung gehalten und den Chinesen, der mit Ihnen verheiratet ist, ein wenig in Verlegenheit gebracht, weil er mit verbotenen Rauschgiften hausierte. Öffnen Sie den Schrank!«

 

Madame Ferroni zuckte die Achseln und machte die Schranktür weit auf. Das Bodenbrett lag wieder an seiner alten Stelle. Dem Detektiv kam nicht einen Augenblick lang der Gedanke, einmal nachzusehen, was zwischen dem Schrankboden und dem Zimmerflur sein könnte.

 

»War sie hier und ist später weggegangen?« fragte er. »Wollten Sie das eben sagen?«

 

»Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.«

 

Er zog eine kleine Karte aus seiner Tasche, auf die Mr. Narth die Adresse der Madame Ferroni geschrieben hatte. Er hatte das Auto nach Fitzroy Square verfolgt, den Chauffeur angehalten und sich die Karte von ihm geben lassen.

 

»Sie nennen sich jetzt Madame Ferroni?«

 

Sie nickte. Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke.

 

»Hier wohnt noch eine andere Madame Ferroni im obersten Geschoß«, sagte sie. »Es ist sehr unangenehm, wenn zwei Leute gleichen Namens im selben Hause wohnen. Deswegen will ich auch wieder fortziehen.«

 

Der Detektiv sah sie scharf an und zögerte.

 

»Ich will das obere Stockwerk untersuchen«, sagte er. »Sie warten hier, und wenn ich oben nichts finde, dann werden Sie ein wenig mit mir gehen.«

 

Sie schloß die Türe hinter ihm. Ein kleiner Telephonapparat war in der Ecke des Raumes angebracht. Sie hob den Hörer ab, drückte auf den Knopf und begann in einem leisen, eindringlichen Ton zu sprechen.

 

In der Zwischenzeit hatte der Detektiv das obere Ende der Treppe erreicht. Er sah eine Tür, die gerade vor ihm lag. Er trat näher und klopfte.

 

Innen rief eine schrille Männerstimme: »Herein!«

 

Ohne Verdacht zu schöpfen, stieß er die Tür auf und ging in den Raum.

 

Der dicke Filzhut, den er trug, rettete ihm das Leben. Denn der schwere Knüppel, der auf seinen Kopf niedersauste, hätte ihn sonst getötet. Er taumelte unter dem Schlag. Jemand schlug ihm dann noch mit einer Flasche gegen die Schläfe, und er fiel auf den Boden wie ein Stück Holz.