Kapitel 26

 

26

 

Clifford Lynne saß im Gange seines Hauses, ein Gewehr quer über den Knien. Er sah, wie Joe zurückkam. Die Strahlen seiner Lampe kündigten ihn schon an, bevor man ihn selbst sehen konnte.

 

»Wo zum Teufel bist du gewesen?« fragte Clifford erstaunt. »Ich dachte, du schläfst.«

 

»Ich bin eben nur einmal kurz fort gewesen«, sagte Joe sorglos. »Ich ging zur Hinteren Türe hinaus … weit und breit ist kein Mensch zu sehen.«

 

»Gut, du kannst zur Haupttür hereinkommen«, sagte Clifford streng. »Wie ich vermute, wimmelt der ganze Wald von chinesischen Halsabschneidern.«

 

»Lächerlich!« murmelte Joe, als er vorbeiging.

 

»Es mag lächerlich sein«, sagte Clifford über die Schulter. »Aber ich kann mir nichts Lächerlicheres vorstellen, als wenn du alter Kerl mit abgeschnittenem Hals im Wald von Sunningdale liegst!«

 

»Ich bin erst einundfünfzig!« rief Joe heftig vom Gang zurück. »Jeder weiß das!«

 

Clifford Lynne sah ein, daß es keinen Zweck hakte, die Frage nach dem Alter Mr. Brays zu diskutieren. Im Laufe des Abends war er mehrmals in den Wald gegangen und hatte nichts Verdächtiges gesehen. Man konnte das Haus von Süden her auf einer neuangelegten Straße erreichen, die durch das Besitztum der Terraingesellschaft führte. Um von dieser Seite her keine Überraschungen zu erleben, hatte er einen geschwärzten Faden quer über den Weg gespannt und daran eine Anzahl kleiner Glöckchen aufgehängt, die er diesen Nachmittag in London gekauft hatte. Aber das endlose Krachen und Rollen des Donners ließ es ihm sehr zweifelhaft erscheinen, ob er ihre Warnung auch hören würde. Die Blitze rasten immer noch über den Himmel, als er angespannt und erwartungsvoll auf den Treppenstufen saß. Einmal begann Joe zu singen, aber ärgerlich gebot er ihm zu schweigen.

 

Es schlug elf Uhr, als er feste Schritte auf dem Kies vernahm, die von der Straße her kamen. Er stand auf. Es lag nichts Heimliches in dem Näherkommen des Fremden. Er ging beherzt in der Mitte der Straße, und Clifford hörte das Tippen eines Stockes. Wer auch immer der Ankömmling sein mochte, er machte kein Licht an, um ihm den Weg zu zeigen. Nach einer Weile konnte er seine Gestalt genau sehen. Er bog von der Straße ab und kam geradenwegs auf das Haus zu. Jetzt rief ihn Lynne an.

 

»Haben Sie keine Angst. Ich bin allein!«

 

Es war Fing-Su.

 

»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!« sagte Clifford scharf. »Seit wann habe ich denn Angst vor chinesischen Hausierern?«

 

Der Ankömmling stand still, und Clifford hörte ihn lachen. Ein durchdringender, scharfer, aber nicht unangenehmer Duft stieg ihm in die Nase.

 

»Entschuldigen Sie«, sagte Fing-Su höflich. »Es tut mir leid, daß ich so ungeschickt war. Ich wollte nur ausdrücken, daß ich um eine freundliche Unterredung bitte. Ich weiß, daß einige meiner hitzigen jungen Leute, ganz ohne mein Wissen, Ihnen letzte Nacht ihre Aufmerksamkeit schenkten. Ich habe sie bestraft. Niemand weiß besser als Sie, Mr. Lynne, daß sie die reinen Kinder sind. Sie glaubten, ich sei beleidigt worden –«

 

»Wer ist das?« Es war Joes Stimme, die aus dem Wohnzimmer kam.

 

Clifford drehte sich wild um und gebot ihm Schweigen. Hatte Fing-Su ihn gehört? Und wenn er ihn gehört hatte, erkannte er die Stimme? Scheinbar nicht.

 

»Sie haben einen Freund bei sich? Das ist sehr klug«, sagte er in demselben höflichen Ton. »Wie ich bemerkte –«

 

»Hören Sie! Ich habe keine Lust, mir die Zeit mit Ihren Possen zu vertreiben. Sie sind am Ende Ihrer Kraft, Fing-Su!«

 

»Noch lange nicht!« sagte der Chinese. »Sie sind ein Narr, Lynne, daß Sie Ihr Geld nicht mit meinem zusammenwerfen. In fünf Jahren bin ich der mächtigste Mann Chinas.«

 

»Sie wollen China erobern, nicht wahr?« fragte Clifford sarkastisch. »Und Europa vielleicht auch noch dazu?«

 

»Vielleicht!« sagte Fing-Su. »Sie haben kein richtiges Urteil über die Zukunft, mein lieber Freund. Sehen Sie denn nicht, daß unsere Rasse durch ihre überwiegende Heeresstärke alle künftigen Kriege entscheiden wird? Eine ständige gelbe Armee wird das Schicksal Europas bestimmen. Eine große Söldnerarmee – denken Sie daran, Lynne – die an den Meistbietenden verkauft wird. Ein Heer, das dauernd an der Schwelle Europas steht!«

 

»Was wünschen Sie eigentlich?« fragte Clifford schroff.

 

Fing-Su gab sich den Anschein, als hätte ihn der angeschlagene Ton gekränkt, und er erwiderte verletzt:

 

»Ist es notwendig, daß wir Feinde sind, Mr. Lynne? Ich habe keine Antipathie gegen Sie, ich will nur zu angemessenem Preis eine Gründeraktie der Gesellschaft von Ihnen kaufen –«

 

Clifford Lynne verstummte einen Augenblick über die Kaltblütigkeit, mit der Fing-Su sein Anliegen vorbrachte. Ein Argwohn erwachte in ihm. Fing-Su würde es nicht wagen, eine so widerrechtliche Bitte zu stellen, wenn er nicht die Gegenmittel in der Hand hätte.

 

»Und was wollen Sie mir dafür geben?« fragte er langsam.

 

Er hörte, wie der andere schneller atmete.

 

»Etwas sehr Wertvolles für Sie, Mr. Lynne –« Er sprach mit Überlegung. »Sie haben einen Freund bei sich, der wahrscheinlich mithören kann. Ich bin nicht darauf Vorbereitet, in Gegenwart eines Zeugen zu verhandeln. Wollen Sie nicht ein wenig mit mir auf die Straße kommen?«

 

»Gehen Sie voraus«, sagte Clifford kurz. Fing-Su wandte sich und ging vor ihm her.

 

»Es gibt eine Frau –« sagte er –

 

Lynnes Hand faßte ihn am Hals. Etwas Hartes preßte sich an den Rock des Chinesen.

 

»Sie haben Joan Bray gefangen!« stieß Cliff durch die Zähne hervor. »Sie haben sie gefangen! Ist es das, was Sie sagen wollten?«

 

»Es ist nicht notwendig, Umstände zu machen –« begann Fing-Su.

 

»Sagen Sie mir, wo sie ist.«

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen den Anblick nicht gönnen kann«, sagte Fing-Su mit bedauernder Stimme. »Und wenn Sie mich bedrohen sollten, habe ich keine Ursache zu folgen, außer –«

 

Er nahm seinen Hut ab, als wollte er seine heiße Stirn kühlen und blickte hinein.

 

Plötzlich spritzte eine dicke Flüssigkeit mit heftigem Zischen in Cliffords Gesicht. Es war reine, scharfe Ammoniaklösung.

 

Gelähmt vor Schmerz ließ Clifford die Pistole klirrend auf den Boden fallen.

 

Fing-Su streckte ihn mit einem wohlgezielten Faustschlag zu Boden. Dann kniete er an seiner Seite nieder und griff in seine Rocktasche. Er fühlte ein Rascheln – ein Papier war hier eingenäht.

 

Aber er wurde unterbrochen. Von der Straße her hörte er Schritte und sah mit seinen scharfen Augen, die das schwärzeste Dunkel der Nacht durchdringen konnten, eine Frau näherkommen. Ein Instinkt rettete Joan Bray. Als sie in die Straße einbog, blieb sie plötzlich stehen und sah auf die merkwürdige Gruppe am Boden.

 

»Wer ist das?« fragte sie.

 

Bei dem Klang ihrer Stimme sprang Fing-Su in die Höhe und schrie vor Wut.

 

»Miß Bray!«

 

Sie erkannte ihn und war einen Augenblick starr vor Schrecken. Als er aber Miene machte, auf sie zuzuspringen, erhob sie mit der Kraft ihrer Verzweiflung die Hand und schleuderte die schwarze Kugel, die sie mitgenommen hatte. Der Ball fiel vor Fing-Sus Füßen nieder.

 

Es gab eine fürchterliche Explosion, und im Augenblick waren die Straße, der Wald, ganz Slaters Cottage, von dem Licht der Magnesiumbombe grell beleuchtet. In panischem Schrecken wandte sich der Chinese um, sprang in den Wald und war einen Augenblick später außer Sehweite. Obgleich er vom Magnesiumlicht vollständig geblendet war, gelang es ihm doch, bis zu der niedrigen Hecke zu kommen, die ihn von der Straße trennte. In der Nähe sprang irgendwo der Motor eines Autos an, das mit abgeblendeten Lichtern auf einer Seite der Straße hielt. Ein ohnmächtiges, junges Mädchen wurde aus dem Wagen gehoben und in den Straßengraben gerollt. Dann raste der Wagen mit höchster Geschwindigkeit in der Richtung auf Egham davon.

 

Eine Viertelstunde später suchte eine Streife die Umgebung nach Mabel Narth ab. Joe Bray hatte das Glück sie zu finden und zu trösten.

 

Kapitel 23

 

23

 

Clifford kam in seiner Wohnung in Mayfair gerade zu rechter Zeit an, um schnell zu Mittag zu essen. Er kam allein. Joe Bray hakte er streng auf die Seele gebunden, sich verborgen zu halten. Das war wirklich eine notwendige Vorsichtsmaßregel, da Joe gern in der frischen Luft war und sich ärgerte, wenn er sich nicht frei bewegen konnte. Lynne rief gleich nach seiner Ankunft eine Nummer in Mayfair an.

 

»Mr. Leggat ist nicht zugegen«, war die Antwort. Clifford war aufgebracht über diesen feilen Verräter. Er hatte ihm doch versprochen, von ein Uhr an zu seiner Verfügung zu stehen.

 

Er sollte noch mehr Grund zur Unzufriedenheit haben, als Mr. Leggat um zwei Uhr ohne jede Vorsichtsmaßregel ganz offen zu seinem Haus kam. Leggat lebte gern gut, aber gewöhnlich versparte er sich seine Schwelgereien für die Stunden nach dem Abendessen auf. Cliff sah ihn sich einen Augenblick an, als er in das Eßzimmer hereinkam. Er deutete sein rotes Gesicht und sein fatales Lächeln ganz richtig.

 

»Sie sind verrückt, Leggat!« sagte er ruhig, als er zur Tür ging und sie schloß. »Warum kommen Sie denn bei hellem Tage hierher?«

 

Leggat war so erheitert, daß er sich nicht mehr um diese gemeine Welt kümmerte.

 

»Weil ich eben das Tageslicht vorziehe«, sagte er mit belegter Stimme. »Warum sollte ein Mann von meiner Stellung im Dunkeln herumkriechen? Das paßt für Fing-Su und seine Helfershelfer!« Er schnappte verächtlich mit dem Finger und brach in ein schallendes Gelächter aus. Aber Clifford teilte seine Heiterkeit nicht.

 

»Sie sind ein Dummkopf«, sagte er wieder. »Ich bat Sie, in Ihrem Bureau zu bleiben, damit ich Sie antelephonieren könnte. Unterschätzen Sie Fing-Su ja nicht, mein Lieber!«

 

»Bah!« sagte Leggat und ging unaufgefordert zum Büfett, wo er einige gute Bissen nahm, um seinen Hunger zu stillen. »Ich habe mich noch nie von einem leichtfertigen Orientalen ins Bockshorn jagen lassen. Sie vergessen, Lynne, daß ich in China gelebt habe. Und was seine Geheimgesellschaft angeht –« er warf den Kopf zurück und lachte wieder.

 

»Mein lieber alter Freund,« sagte er, als er unsicher mit einem großen Glas bernsteinfarbenen Likörs in der Hand zum Tisch zurückging, »wenn hier jemand verrückt ist, dann sind Sie es! Ich habe Ihnen doch genug Informationen gegeben, um Fing-Su an den Galgen zu bringen. Sie sind doch ein reicher Mann, Sie können die ganze Sache der Polizei übergeben und ruhig zu Hause sitzen und abwarten, wie alles sich weiter entwickelt.«

 

Clifford erwähnte nichts davon, daß er sich schon mit dem Kolonial- und mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung gesetzt hatte. Er war dort höflichem Zweifel begegnet, der ihn aufbrachte und schweigen ließ. Das Auswärtige Amt wußte, daß die Peckham-Fabrik Feldgeschütze lagerte. Sie waren im offenen Markt gekauft worden, erzählte man ihm freundlich. Man glaubte an keine geheimen Pläne; die damit in Verbindung stehen könnten. Ohne Erlaubnis durfte nichts exportiert werden, und es gab keinen Grund, warum eine chinesische Handelsgesellschaft nicht dieselben Rechte haben sollte wie eine europäische. All das hatte er mit wachsender Ungeduld angehört.

 

»Ich bin fertig mit Fing-Su«, sagte Leggat. »Er ist nicht nur ein Chinese, er ist ein ganz gemeiner Chinese! Und nach all dem, was ich für ihn getan habe! Haben Sie veranlaßt, daß die ›Umgeni‹ durchsucht wurde, wie ich Ihnen riet?«

 

Clifford nickte. Er hatte erreicht, daß das Hafenamt von London sich in dieser Richtung bemühte, und der Dampfer »Umgeni« war einer eingehenden Besichtigung unterzogen worden. Die ganze Ladung war ausgeladen und genau geprüft worden, aber man hatte außer den üblichen Handelsartikeln, wie Kisten voll Spaten, Sensen, Kochtöpfen und anderen gebräuchlichen Dingen, nichts gefunden.

 

»Na nu!« Leggat war überrascht. »Ich weiß, daß sie wochenlang mit anderen verbotenen Dingen geladen war –«

 

»Sie fährt heute nacht ab,« sagte Clifford, »und nicht einmal Fing-Su kann ihre Ladung löschen und durch andere ersetzen.«

 

Sein Gast schlürfte begierig den Inhalt seines Glases hinunter und tat einen tiefen Atemzug.

 

»Ich bin fertig mit ihm«, wiederholte er. »Ich dachte, er wäre die Wunderente, die goldene Eier ad infinitum legen würde.«

 

»Mit anderen Worten, Sie haben ihn so weit wie möglich ausgebeutet?« fragte Clifford mit einem leisen Lächeln. »Und nun wollen Sie den Rest verkaufen? Welche Rolle spielt denn eigentlich Spedwell?«

 

Leggat zuckte seine breiten Schultern.

 

»Ich habe Spedwell nie leiden mögen«, sagte er. »Diese Militärs fallen mir immer auf die Nerven. Er ist Fing-Sus Generalstabschef – verbringt all seine Zeit über Mappen und Plänen und Instruktionsbüchern. Er und Fing-Su haben gerade ein militärisches Instruktionsbuch in chinesischer Sprache verfaßt.«

 

»Eine Schießvorschrift für die Infanterie?« fragte Clifford schnell.

 

»So etwas Ähnliches ist es wohl«, sagte der andere mit einem Achselzucken.

 

Clifford hob warnend seine Hand, als es leise an der Tür klopfte und sein Diener eintrat.

 

»Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen,« berichtete er, »daß die Beamten vom Postamt diesen Morgen hier waren, um Ihren neuen Telephonapparat anzubringen.«

 

»Einen neuen Apparat anbringen – was meinen Sie damit?« fragte Lynne und zog seine Stirn bedenklich in Falten.

 

»Sie sagten, der Apparat hätte zu Klagen Veranlassung gegeben – die Zentrale konnte Sie nicht mehr deutlich verstehen.«

 

Lynne schwieg ein paar Sekunden in Gedanken.

 

»Waren Sie dabei, als die Reparatur ausgeführt wurde?« fragte er.

 

»Jawohl«, antwortete der Mann lächelnd. »Sie hatten einen Ausweis vom Postamt, aber ich bin schon zu lange im Dienst, um mich auf dergleichen Dinge einzulassen. Ich habe die ganze Zeit aufgepaßt, als sie den Lautverstärker anbrachten.«

 

»Oh!« sagte Clifford bestürzt. Dann fragte er: »Wo haben sie denn den Lautverstärker angebracht?«

 

Eine Wand des Speisezimmers war durch einen großen Bücherschrank teilweise verdeckt, und hinter diesen führte das Telephonkabel. Der Diener bückte sich und zeigte auf den flachen Raum unter dem letzten Fach. Dort sahen sie einen schwarzen, hölzernen Kasten, etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang und zehn Zentimeter hoch. Auf der Oberfläche hakte er zwei runde Öffnungen. Ein dünner Draht lief von hier bis zum Ende der Wand und führte dann durch ein neugebohrtes Loch in dem Fensterrahmen ins Freie.

 

»Was ist das?« fragte Leggat, plötzlich nüchtern geworden.

 

»Ein Mikrophon«, antwortete Clifford kurz. »Jemand hat unsere ganze Unterhaltung belauscht!«

 

Kapitel 24

 

24

 

Clifford Lynne öffnete das Fenster und schaute hinaus. Der Draht war oberflächlich an der Wand entlang geführt, die sein Anwesen von dem Nachbargrundstück trennte, und verschwand über dem Dach der Garage nach der Hintergasse zu.

 

»Es ist gut, Simmons«, sagte er. Ohne ein Wort zu verlieren, ging er aus dem Zimmer über den Hof auf die Garage. Zuerst konnte er den dünnen Draht nicht sehen, aber nachdem er einige Zeit danach gesucht hatte, entdeckte er ihn, wie er entlang der Hinterwand lief, und konnte seine Spur bis zum Ende der Hintergasse verfolgen, wo er in einem offenen Fenster verschwand, das offensichtlich zu einer Chauffeurwohnung gehörte.

 

Ein Blick auf das Äußere des Hauses sagte ihm, daß die Räume nicht bewohnt waren. Die Fensterscheiben waren nicht geputzt, eine war zerbrochen, und er erinnerte sich, daß weiter unten in der Straße, in der er wohnte, ein leeres Haus stand. Diese Garage gehörte anscheinend dazu.

 

Ein großes Tor führte zu dem Wagenraum und eine schmale Tür zu der oberen Wohnung. Sie war nur angelehnt, und ohne Zögern öffnete er sie und stieg die enge Treppe hinauf. Oben befanden sich zwei leere Räume. Nur die Überbleibsel, die der letzte Bewohner zurückgelassen hatte, lagen umher. Der hintere Raum hatte als Schlafkammer gedient. Eine alte eiserne Bettstelle ohne Bettzeug war darin zurückgeblieben. Er ging in das vordere Zimmer, und hier fand er, was er erwartet hatte: einen zweiten kleinen schwarzen Kasten, genau wie der unter seinem Bücherschrank, und außerdem noch ein Telephon, das in guter Ordnung war, denn das Amt meldete sich auf seinen Anruf.

 

Niemand war in dem Raum, das hatte auch seinen guten Grund, denn der Horcher, der die ganze Unterhaltung durch das Mikrophon abgehört und sie an Fing-Su weitergegeben hatte, war ja durch seine Unterhaltung mit dem Diener genügend gewarnt. Er hatte natürlich die Hintergasse in demselben Augenblick verlassen, als Clifford sie betreten hakte.

 

Ein Chauffeur, der ihn gesehen hatte, beschrieb ihn als einen dunklen, militärisch aussehenden Mann mit einem bösen Gesichtsausdruck, und diese Beschreibung identifizierte ihn mit Major Spedwell.

 

Clifford Lynne ging zu seinem Eßzimmer zurück und fand Leggat in gedrückter Stimmung. Er goß sich gerade ein Glas Whisky mit unsicherer Hand ein.

 

»Was ist los? Was hat das alles zu bedeuten?« fragte der starke Mann voll Furcht.

 

Obgleich es Zeitvergeudung war, diesem betrunkenen Prahlhans die Gefahr klarzumachen, in der er schwebte, erzählte ihm Lynne doch, was er entdeckt hatte.

 

»Sie müssen sehr vorsichtig sein, Leggat«, sagte er. »Wenn Fing-Su weiß, daß Sie ihn betrogen haben, dann würde ich kein Kügelchen eines chinesischen Rosenkranzes für Ihr Leben geben. Für Sie wäre es nur gut, wenn der Lauscher Ihre Stimme nicht erkannt hätte.«

 

Aber gleich darauf erfuhr Leggat doch, wer der Horcher war, und dann war es ja klar, daß die Möglichkeit, daß Major Spedwell Leggats Stimme nicht erkannt hätte, kaum in Betracht kam.

 

»Fing-Su – bah!«

 

Trotzdem war ein unbehaglicher Unterton in Leggats schallendem Gelächter. Er hatte schon öfter recht unerfreuliche Situationen durchgemacht und war schon früher von wütenden Aktionären bedroht worden, die ihr sauer erspartes Geld von ihm zurückverlangten. Aber – der Chinese war doch anders einzuschätzen.

 

»Mein lieber guter Freund«, sagte er pathetisch. »Lassen Sie doch Fing-Su etwas gegen mich unternehmen! Das ist aber auch alles!«

 

»Wann werden Sie ihn wiedersehen?« fragte Lynne.

 

»Morgen abend. Dann ist wieder Logensitzung. Ein verdammter Blödsinn! So nenne ich so etwas! Aber man muß den Unfug mitmachen, wenn es auch nur dazu dient, den verrückten Teufel zu belustigen!«

 

Lynne sah ihn mit ungewöhnlichem Ernst an. Er allem von allen begriff die Mentalität dieses Chinesen und überschaute alle verbrecherischen Möglichkeiten, zu denen ihm ein ungeheurer Reichtum die Macht gab.

 

»Wenn Sie meinen Rat annehmen, Leggat, werden Sie morgen in der Loge fehlen«, sagte er. »Verlassen Sie England so lange, bis ich mit dieser Bande abgerechnet habe. Fahren Sie nach Kanada, morgen geht ein Dampfer dorthin ab. Wenn Sie sich beeilen, können Sie Ihren Fahrschein und Ihren Paß noch in Ordnung bringen.«

 

Leggat setzte sein Glas geräuschvoll auf den Tisch.

 

»Hier bin ich, und hier bleibe ich«, sagte er kühn. »Kein Chinesenkuli kann mich aus England vertreiben. Vergessen Sie nicht, Lynne, ich kann mit dem Vogel umgehen …!«

 

Clifford Lynne hörte ihm nicht zu. Sein Geist beschäftigte sich zu sehr mit all den möglichen Folgen, welche die Entdeckung der Geheimleitung haben konnte, als daß er auf das Geschwätz des anderen geachtet hätte. Er warnte Leggat noch einmal, bevor dieser fortging, und ließ ihn in seinem eigenen Wagen durch die hintere Garage nach Hause bringen. Dann ging er nochmals in die Hintergasse und stellte noch einige Nachforschungen an. Als er wußte, daß der Horcher niemand anders als Major Spedwell gewesen sein konnte, gab er sich viel Mühe, mit Leggat telephonisch in Verbindung zu kommen. Aber der meldete sich nicht.

 

Der Mann schwebte wirklich in großer Gefahr. Wie weit würde Fing-Su gehen? Sicherlich konnte man auf alles gefaßt sein, nach dem zu urteilen, was bereits geschehen war. Er jedenfalls zog ganz andere Schlußfolgerungen aus der Tätigkeit der »Freudigen Hände« als Leggat. Diese Logenversammlungen mochten vom europäischen Standpunkt aus lächerlich erscheinen, aber sie konnten auch Verbrechen und Tod bedeuten.

 

An diesem Nachmittag hatte Clifford eine Unterredung mit einem hohen Beamten in Scotland Yard. Mit einem Empfehlungsbrief vom Auswärtigen Amt ging er zu dem strengsten aller öffentlichen Ämter. Die Unterredung hatte aber bedeutend länger gedauert als er vermutete. Das Ergebnis war, daß er einer seiner schwersten Sorgen enthoben wurde. Von Scotland Yard fuhr er direkt nach Sunningdale. Wenn er sich jetzt noch beunruhigt fühlte, so war es die Sorge um das Ergehen Ferdinand Leggats.

 

Die Tür zu seinem Hans war verschlossen, und er fand Joe zusammengekauert auf dem Sofa schlafen. Mr. Bray erwachte in aufsässiger Stimmung. Er war böse, daß er wie ein Gefangener eingeschlossen war. Cliffords Scharfsinn entging es nicht, daß das wahrscheinlich im voraus eine Rechtfertigung dafür sein sollte, daß er sich nicht an seine Vorschriften gehalten hatte.

 

»Das schadet meiner Gesundheit und schlägt mir aufs Gemüt.« Aber er schaute dabei doch schuldbewußt seinen Partner an, vor dem er großen Respekt hatte.

 

»Du bist draußen gewesen!« sagte ihm Clifford auf den Kopf zu.

 

Es wäre auch wirklich nicht viel dabei gewesen, wenn er es getan hätte. Niemand in Sunningdale kenne Joe, und mit Ausnahme von Fing-Su war es noch zweifelhaft, ob jemand in England ihn erkannt hätte.

 

»Ich bin nur ausgegangen, um ein paar Blumen zu pflücken«, erklärte Joe. »Weißt du, Blumen haben so etwas Sonderbares, Cliff, das mich ganz weich macht. Du kannst spionieren gehen. Du bist natürlich hart gesotten! Aber wenn man so auf der Wiese alle diese Glockenblumen sieht –«

 

»Es ist zu spät für Glockenblumen, die blühen jetzt nicht mehr, wahrscheinlich meinst du Löwenzahn«, sagte Cliff kühl, »oder vielleicht Steckrüben?!«

 

»Nein, ganz bestimmt Glockenblumen!« sagte Bray mit einem heftigen Kopfnicken, »sie hatten sich gleichsam unter den Bäumen eingenistet – und Cliff« – er hustete – »ich habe das schönste Mädchen getroffen, das du jemals gesehen hast!«

 

Clifford sah ihn entgeistert an, und Mr. Bray errötete. War das der kühne Abenteurer mit dem eisernen Willen? Der Mann, der von Armut zu Reichtum gekommen war durch beispiellose Verachtung aller Gesetze, die in China Land und Gebräuche beherrschten? Er war vor Verwunderung sprachlos.

 

»Warum hätte ich sie auch nicht treffen sollen?« sagte Joe keck. »Ich bin noch kein alter Mann – nicht weit über fünfzig.« Er warf Clifford diese Herausforderung an den Kopf, aber der kümmerte sich nicht darum. »Es gibt viele Leute, die nicht glauben, daß ich schon fünfzig Jahre alt bin!«

 

»Du bist ein hundertjähriger alter Sünder, und wenn man deinen Verstand ansieht, ein zehnjähriges Kind!« sagte Clifford lächelnd und in guter Laune. »Wer ist sie denn, Joe?«

 

»Das weiß ich nicht. Ein schönes Mädchen mit wundervoller Figur. Ein wenig rothaarig, aber das zeigt, daß sie Geist hat. Was für ein Mädchen!« Er warf den Kopf ekstatisch hin und her.

 

»Wundervolle Figur – meinst du vielleicht dick?« fragte Clifford brutal.

 

»Nein, wohlproportioniert!« wich Joe aus. »Und jung. Sie kann höchstens fünfundzwanzig sein. Und ein wundervoller Teint, Cliff – es blühen Rosen auf ihren Wangen!«

 

»Du meinst sie ist rot?« fragte sein wenig romantischer Freund und lachte. »Hast du sie denn nach ihrem Namen gefragt?«

 

»Nein, das tat ich nicht!« Joe ereiferte sich. »Das verrät doch keine gute Erziehung, wenn man Leute direkt nach ihrem Namen fragt –«

 

»Wenn du sie gefragt hättest, würde sie dir gesagt haben, daß sie Mabel Narth heißt!«

 

Das Gesicht des alten Mannes wurde bedenklich lang.

 

»Mabel Narth?« fragte er mit hohler Stimme. »Was, meine eigene Nichte!«

 

»Sie ist ebensowenig deine Nichte wie ich dein Onkel bin«, sagte Clifford. »Der Stammbaum stimmt nicht ganz. Sie ist deine Cousine Nummer dreiundzwanzig im neunzehnten Grad. Die Verwandtschaft ist so weit entfernt, daß man große Mühe hat, sie durch ein gewöhnliches Fernrohr festzustellen. Aber Joe, bei deinem Alter!«

 

»Fünfzig«, murmelte Joe. »Männer meines Alters sind beständiger als junge.«

 

»Ich darf wohl annehmen, daß du nicht gesagt hast, wer du bist?«

 

»Nein, ich habe ihr nur angedeutet, daß mein Einkommen zum Lebensunterhalt reicht.«

 

»Du hast ihr also gesagt, daß du reich bist? Haben ihre Augen nicht aufgeleuchtet?«

 

»Was willst du damit sagen?« fragte Joe mit einem Ton, als ob er sich verteidigen müßte. »Du bist ein verrückter Kerl«, sagte Clifford. »Was macht der Kuli?«

 

»Dem geht es gut. Er hat die ganze Zeit gebeten, ihn fortzulassen, aber ich habe es nicht getan, bevor du kamst.«

 

»Er kann heute abend weggehen – wenn ich an ihn denke, bekomme ich direkt Heimweh nach einem ordentlichen Bambusstock und nach dem Fußboden des Yamen! Ich vermute, daß du weißt, daß er uns ersticken wollte? Diesen Morgen fand ich den Beutel mit Schwefel, den er in den Schornstein zu werfen versuchte.«

 

Clifford ging hinaus zu dem verschlossenen Abwaschraum, um seinen Gefangenen aufzusuchen. Er sah nicht mehr sehr kampfesmutig aus, als er dort saß, ein altes Betttuch um die Schultern geschlungen. Lynne untersuchte seine Wunde. Zu seiner Überraschung hatte sich sein Zustand bedeutend gebessert.

 

»Lassen Sie mich vor Sonnenuntergang frei,« bat er, »denn ich bin in diesem Land fremd, und für einen Mann wie mich ist es schwer, den Weg nach der großen Stadt zu finden.«

 

Irgend etwas in dem Betragen des Mannes erregte Cliffords Argwohn, und er erinnerte sich an Joes Mitteilung.

 

»Du sorgst dich sehr darum, mein Haus zu verlassen«, sagte er. »Gib mir den Grund dafür an!«

 

Der Kuli senkte mürrisch den Blick.

 

»Du hast Angst!«

 

Die Augen des Chinesen blieben auf den Boden geheftet.

 

»Du hast Angst, daß du diese Nacht sterben sollst!«

 

Diesmal saß der Hieb. Der Chinese fuhr zusammen und hob den Kopf, indem er Lynne furchtsam ansah.

 

»Man sagt von dir, daß du ein Teufel bist und in den Herzen der Menschen lesen kannst. Was du jetzt sagst« – man konnte die Verzweiflung aus seinen Worten hören – »ist wirklich wahr. Ich fürchte zu sterben, wenn ich diese Nacht in deinem Hause zubringen muß.«

 

Clifford pfiff leise vor sich hin.

 

»Um welche Stunde würdest du sterben?«

 

»Zwei Stunden nach Mondaufgang«, antwortete der Kuli, ohne zu zögern. Clifford nickte.

 

»Du kannst jetzt gehen«, sagte er und zeigte ihm den Weg nach London.

 

Als er zu Joe kam, wiederholte er ihm den Hauptinhalt der Unterredung.

 

»Der große Angriff kommt heute abend. Was sollen wir nun tun? Wir könnten nach Aldershot telephonieren, daß man uns ein halbes Bataillon zu Hilfe schickt, wir könnten uns blamieren und die Ortspolizei benachrichtigen, dann wären wir für den Tod dieser ehrbaren, nicht mehr ganz jungen Leute verantwortlich – oder wir können dem Angriff selbst standhalten und einen netten, ruhigen Kampf ausfechten.«

 

Er gewann der Sache die humorvolle Seite ab. Er setzte sich nieder und lachte leise in sich hinein. Sein Gesicht rötete sich, und Tränen traten ihm in die Augen. Und wenn Clifford Lynne so lachte, konnte sich irgendein anderer in acht nehmen.

 

Slaters Cottage und Sunni Lodge waren eine Meile von Sunningdale entfernt. Sehr isoliert, obgleich sie nur einige hundert Meter von der Straße nach Portsmouth ab lagen, wo immer Verkehr herrschte. Der nächste Nachbar von Mr. Narth war der Earl von Knowesley. Er war aber immer nur etwa einen Monat anwesend, denn er stammte aus dem Norden, liebte Lancashire und fühlte sich nur unter seinen Landsleuten wohl.

 

Auf der anderen Seite, hinter Slaters Cottage, dehnte sich das unerschlossene Gelände einer Terraingesellschaft aus. »Ich bin der Meinung, daß sie darauf aus sind, ein Dokument aus meiner Brieftasche zu stehlen, Joe. Es wird ein Feuergefecht mit Schalldämpfern werden, wenn Spedwell die Sache leitet. Ich habe nämlich erfahren, daß er der Chef des Militärstabes ist.«

 

Gegen Abend bedeckte sich der Himmel, und es herrschte eine drückende Schwüle. Die Sonne war hinter großen Wolkenburgen verschwunden. Clifford Lynne nützte die letzten hellen Stunden aus, um Sunni Lodge einen Besuch abzustatten. Aber er ging nicht ins Haus, da er sich wohl denken konnte, daß Stephen Narth keinen großen Wert darauf legte, ihn zu sehen. Statt dessen machte er ohne Erlaubnis einen Rundgang durch den Park und sah in der Ferne Joan über den Tennisplatz gehen.

 

Er erzählte ihr kurz von allen Vorsichtsmaßregeln, die er für ihren Schutz getroffen hatte.

 

»Ich denke, die Gefahr wird in einer Woche vorüber sein. Ich habe das Auswärtige Amt bis zu einem gewissen Grade interessieren können, auch ist es mir gelungen, Scotland Yard zu alarmieren.«

 

»Ich kann nicht begreifen, was der Grund für all diese Unruhe und Aufregung ist«, sagte sie. »Soviel ich verstehe, handelt es sich um die Gründeraktie, die Fing-Su haben möchte?«

 

Er nickte.

 

»Warum ist das denn so wichtig? Mr. Narth versuchte, es mir zu erklären, aber ich bin genau so klug wie vorher.«

 

Sie gingen durch ein dünnes Föhrengehölz, das die westliche Grenze des Narthschen Landbesitzes umsäumte. Vom Hause aus konnte man sie nicht beobachten.

 

»Ich rechnete schon immer mit der Möglichkeit, daß Joe irgend etwas außergewöhnlich Überspanntes mit seinem Geld anfangen würde. Die Gründeraktien, wie wir sie nennen – in Wirklichkeit würden sie besser Verwaltungsteile heißen – wurden ausgegeben, um die Kontrolle über die Gesellschaft fest in der Hand zu behalten, was sich auch ereignen möge. Ursprünglich sollte ich fünfundzwanzig und Joe vierundzwanzig Stück erhalten. In Ergänzung dazu wurde eine gegenseitige Vereinbarung getroffen, daß für den Fall des Todes der überlebende Teil die Anteile des anderen erben sollte. Als ich nun auf einer Geschäftsreise nach Peking war, erhielt ich ein Telegramm von Joe, in dem er anfragte, ob ich etwas dagegen hätte, daß der Vater Fing-Sus auch einige Aktien erhielte. Unglücklicherweise hatte ich Joe, bevor ich Siangtan verließ, gerichtliche Generalvollmacht gegeben. Als ich zurückkam, mußte ich entdecken, daß der verrückte alte Kerl diesem Chinesen nicht nur neun Anteile ausgeliefert, sondern die übrigen vierzig zwischen mir und sich gleichmäßig geteilt hatte.«

 

Jetzt verstand sie alles.

 

»Aber Mr. Clifford, darüber kann es doch keine Aufregung mehr geben! Sie haben die Majorität in der Hand, und Sie brauchen doch keinen der Anteile wegzugeben oder zu verkaufen.«

 

Clifford lächelte bitter.

 

»Joe bestand mit dem größten Starrsinn auf der Bestimmung, daß im Fall des Todes der Überlebende die Anteile des andern erben sollte«, sagte er mit Nachdruck. »Fing-Su hat nun eine doppelte Möglichkeit, zu seinem Ziel zu kommen. Entweder will er mich durch irgendwelche Intrigen, die ich schon vorausahne, dazu bestimmen, ihm die eine Gründeraktie zu übergeben, oder –« Er vollendete den Satz nicht.

 

»Oder er will Sie töten«, sagte sie einfach. Er nickte.

 

»Er ist jetzt an dem Punkt angekommen,« fuhr er fort, »wo ihm der Erfolg auf alle Fälle versagt ist. Denn wenn ich in dieser Nacht getötet werden sollte, würde Fing-Su ganz automatisch verhaftet werden. Aber so schlau wie er ist, er bleibt ein Chinese und denkt wie ein Chinese. Das wird ihn auch zu Fall bringen. Er wälzt große Pläne in seinem Kopf und hält sich für unfehlbar. Er kann sich nicht denken, daß er einen Mißerfolg haben könnte.«

 

Schweigend gingen sie eine Minute lang nebeneinander.

 

Dann fragte sie:

 

»Wenn er mich in seine Gewalt brächte – das klingt übertrieben pathetisch? – was würde das nun an den Tatsachen ändern?«

 

»Dann müßte ich zahlen«, sagte er ruhig. »Und er weiß, daß ich zahlen würde.«

 

Sie fühlte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß, und versuchte, gleichgültig zu erscheinen.

 

»Sie sind mir gegenüber durchaus nicht verpflichtet, Mr. Lynne«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich wollte es Ihnen schon immer sagen… jetzt, da Mr. Bray am Leben ist … daß ich Sie nicht heiraten möchte. Ich versprach es Mr. Narth, weil – nun gut, es war notwendig für ihn, daß ich heiratete.«

 

Sie hatte ihre ganze Energie aufbieten müssen, um ihm dies zu sagen. Es war doch viel schwieriger, als sie sich jemals hatte träumen lassen. Diese Entdeckung versetzte sie in nicht geringe Bestürzung. In der Ruhe ihres Zimmers war es sehr einfach gewesen, dies herzusagen, aber als sie es nun in Wirklichkeit aussprach, war es ihr, als ob mit jedem Wort ein Teil ihres neuen Lebensglücks dahinschwand. Sie sah zu ihm auf, und auch er suchte ihren Blick.

 

»Und aus anderen Gründen wollten Sie ja nicht heiraten«, sagte sie. Dabei schüttelte sie den Kopf, als wollte sie seine Antwort vorausnehmen.

 

»Um die Linie der berühmten Familie fortzusetzen – nein«, sagte er. Ihr Mut sank. »Um die kuriosen Ideen Joe Brays zu erfüllen – nein. Es bleibt keiner von all den Gründen bestehen, die mich zu der verrückten Reise nach England brachten und mich veranlaßten, mich aus einem anständigen Mitglied der Gesellschaft in einen langbärtigen Strolch zu verwandeln. Da haben Sie vollkommen recht. Aber immerhin ist doch noch ein sehr triftiger Grund vorhanden, weswegen ich Sie heiraten möchte –«

 

Er legte seinen Arm liebreich um sie und zog sie an sich. Aber er küßte sie nicht. Seine ernsten Augen suchten die ihren, und sie konnte die Worte und Gedanken lesen, die er nicht aussprach. Sie zitterte am ganzen Körper. Ein tiefes Donnerrollen kam von ferne und zerriß die Stimmung. Erschreckt fuhren sie auf. Mit einem Seufzer trat er zurück und legte seine Hände auf ihre Schultern.

 

»Nächsten Freitag wird eine Hochzeit in dieser Familie gefeiert werden«, sagte er kurz. Dann neigte er sich zu ihr und küßte sie.

 

Die ersten Blitze leuchteten gespenstisch auf und ließen die Spitzen der Föhren in fahlem Licht aufflammen, als er pfeifend den Fahrweg nach Slaters Cottage zurückging.

 

»Es wird eine stürmische Nacht geben, Joe«, sagte er fröhlich, als er in das Wohnzimmer trat.

 

Joe verbarg hastig ein Schriftstück, an dem er eben gearbeitet hatte.

 

»Setzest du ein neues Testament auf?«

 

Mr. Bray hustete, und ein böser Verdacht stieg in Clifford auf, ja, dieser Verdacht wurde für ihn zur Wirklichkeit.

 

Vor vielen Jahren hatte Joe einst unter vielen Stockungen und Hemmungen eine kleine Schwäche eingestanden und ihm zur Begutachtung ein Schreibheft mit seinen poetischen Ergüssen überreicht.

 

»Du dichtest doch nicht etwa, Joe?« fragte Clifford mit leiser Stimme.

 

»Nein, das tue ich nicht«, sagte Joe laut. »Was du auch alles denkst!«

 

Ein Donnerschlag in unmittelbarer Nähe ließ das kleine Haus erzittern, und als Joe nun sprach, zeichnete das bläuliche Licht der Blitze die Bäume in grellem Licht.

 

»Der ganze Himmel steht in Flammen«, sagte Joe poetisch.

 

»Heute bist du an der Reihe, die Würste zu braten«, erwiderte sein mehr nüchtern veranlagter Freund. Sie gingen zusammen in die kleine Küche, um ihr Abendessen zu bereiten.

 

Der Sturm dauerte eine Stunde lang, aber er war nur das Vorspiel zu dem schweren Unwetter, das sich später entlud. Um neun Uhr wurde es so dunkel wie in einer Winternacht. Am ganzen Horizont sah man ununterbrochenes Wetterleuchten. Clifford hatte die eisernen Fensterläden geschlossen, und vier Gewehre lagen schußfertig auf dem Sofa.

 

»Das erinnert mich an einen der Stürme, die du oben auf dem großen See durchgemacht hast,« sagte Joe, »und an das schlimmste Unwetter, das ich je in Harbin erlebt habe – noch lange bevor einer von euch Grünschnäbeln ans den reservierten Gebieten herausgekommen war.«

 

Er sah nach dem Schreibtisch hinüber, wo er sich eben literarisch betätigt hatte und seufzte tief.

 

»Soweit ich es feststellen kann, ist sie eine Cousine dritten Grades von mir«, sagte Joe. »Die Schwester ihres Vaters hat den Sohn meiner Tante geheiratet.«

 

»Zum Teufel, wovon schwätzest du denn jetzt?« fragte Clifford erstaunt.

 

»Von ihr!« sagte Bray kurz.

 

Augenscheinlich hatte Mabel einen sehr tiefen Eindruck auf dieses empfängliche Herz gemacht.

 

»Ich hoffe, daß der Sturm sie nicht zu sehr erschrecken wird, denn Mädchen ängstigen sich immer bei Gewitter…« »Ich für meinen Teil würde die Entscheidung lieber heute nacht als morgen früh sehen«, sagte Clifford, als er zur Küche ging. »Wenn wir ersäuft werden sollen, so wäre es mir lieber bei Mondlicht.«

 

Joe trat dicht hinter ihm in die Küche.

 

»Was ist das wieder für ein Gerede von Ersäuftwerden?« fragte er nervös. »Wohin geraten wir denn?«

 

»Aufs Meer hinaus in einem Schiff«, sagte Clifford, als er eine Wurst aus der Speisekammer holte.

 

Kapitel 19

 

19

 

Stephen Narth und die Mädchen würden nicht vor drei Uhr morgens zurückkommen können. Joan hatte zuerst die Absicht, auf ihre Rückkehr zu warten, bevor sie sich zum Schlafen niederlegte. Aber dann machte sie sich klar, daß sie für die glatte Abwicklung des Narthschen Haushaltes verantwortlich war, was für romantische Dinge sich auch im Schoße dieser Nacht zutragen mochten oder welche seltsamen Abenteuer sie zwischen Sunni Lodge und Slaters Cottage erleben würde. Obgleich sie nicht damit rechnete, einzuschlafen, ging sie doch nach oben in ihr Schlafzimmer.

 

Drei von den Dienstboten schliefen in den hinteren Gelassen des Hauses. Der Diener bewohnte einen Teil der Räume über der Garage, die eigentlich zur Chauffeurwohnung gehörten. Dadurch war er praktisch von dem Haupthause abgeschnitten. Obgleich er schon etwas älter und etwas faul war, beruhigte es sie doch, daß er zur Hand war. Denn wenn sie es auch Clifford Lynne gegenüber abgestritten hatte, war sie doch furchtsam.

 

Sie ließ das Licht in der Eingangshalle brennen und löschte auch die Lampen auf den beiden Treppenpodesten nicht. Die Gardinen im Schlafzimmer waren zugezogen, und ihr Bett war fertiggemacht. Sie war schrecklich müde, aber sie saß noch eine Zeitlang auf dem Rand ihres Bettes, ohne sich auszukleiden. Dann aber stand sie auf, unzufrieden mit sich selbst, legte langsam ihre Kleider ab und drehte das Licht aus. Eine halbe Stunde lag sie und bemühte sich vergeblich, Herr ihrer wildstürmenden Gedanken zu werden, um einschlafen zu können. Das ganze Haus war voll von eigenartigen Geräuschen. In ihrer Einbildung glaubte sie, ein aufgeregtes Flüstern auf dem oberen Treppenabsatz zu hören. Plötzlich krachte eine Diele, und sie fuhr erschrocken in die Höhe.

 

Sie erinnerte sich an die schwarze Kugel, die ihr Clifford gegeben hatte, stand wieder auf, drehte das Licht an, nahm sie aus ihrer Handtasche und legte sie vorsichtig auf ihren Nachttisch. Die Überzeugung, daß dieser starke, ruhige Mann irgendwie über sie wachte, brachte Ruhe in ihr aufgeregtes Gemüt, und sie fiel in einen dumpfen Schlaf …

 

Irgend jemand mußte im anliegenden Raum sein. Wie sie zu sich kam, saß sie aufrecht im Bett. Angstschweiß trat auf ihre Stirn. Da war es wieder – dieses leise Anstreifen eines menschlichen Körpers an die dünne Wand und ein leises Scharren, als ob der Eindringling einen Tisch fortgeschoben hätte. Sie kannte ihn, er stand in der Nähe des Bettes. Das etwas beschädigte Möbel mit der Bambusplatte bildete neben einem ärmlichen Bettgestell die ganze Einrichtung des Mädchenzimmers.

 

Sie schlich aus dem Bett, machte Licht, ging auf Fußspitzen zur Tür und lauschte. Man hörte nichts – ihre überreizte Phantasie mußte sie getäuscht haben.

 

In dieser Lage konnte sie nur eins tun. Sie mußte sich selbst überzeugen, daß niemand im anstoßenden Raum war. Vorsichtig drehte sie den Schlüssel um. Als sie aber die Tür öffnete, fuhr sie mit einem gellenden Schrei zurück.

 

Mitten in der Türöffnung stand eine große, ungeschlachte Gestalt mit langen herabhängenden Armen, nackt bis zum Gürtel. Einen Augenblick starrte sie in dunkle, geschlitzte Augen, dann wich sie schreiend zurück. Bevor sie wußte, was vorging, sprang der Chinese auf sie zu, ein brauner Arm umfaßte sie, der andere schloß ihr den Mund. Als sie sich rasend wehrte, sah sie über seiner Schulter einen anderen, hinter ihm tauchte noch ein dritter auf. Plötzlich erinnerte sie sich – zu spät – an die Bombe. Unmöglich konnte sie sich aus diesem eisernen Griff befreien. Einer der Leute zog ein Laken aus dem Bett und legte es auf dem Boden aus. Der Mann, der sie festhielt, murmelte etwas, und der dritte Chinese band ihr mit einem dicken seidenen Taschentuch den Mund zu. Dann lösten sich plötzlich die Arme, die sie umklammert hielten.

 

Sie schaute in die Teufelsfratze und sah, wie sich der Mund zu einer fürchterlichen Grimasse verzog. Große Hände bewegten sich, als ob sie eine schreckliche Vision abwehren wollten. Sie drehte ihren Kopf nach der Richtung, in die der Chinese entsetzt starrte.

 

Clifford Lynne stand in der Türöffnung, in jeder Hand hielt er eine todbringende Waffe.

 

Kapitel 2

 

2

 

Genau sechs Monate nach der Abreise Fing-Sus nach Europa saßen die drei Teilhaber der Firma Narth Brothers hinter verschlossenen Türen in ihrem Sitzungszimmer in London. Sie befanden sich in einer ungemütlichen Situation. Stephen Narth saß in einem Armstuhl oben am Tisch. Sein dickes, schweres Gesicht war bleich, und sein verzweifeltes Stirnrunzeln zeugte davon, daß ihn schwere Sorgen bedrückten.

 

Major Gregory Spedwell saß zu seiner Rechten. Er hatte häßliche gelbe Gesichtsfarbe, schwarzes, krauses Haar. Er spielte nervös mit seinen vom Zigarettenrauch gebräunten Fingern. Seine Vergangenheit war nicht rein militärisch.

 

Ihm gegenüber saß Ferdinand Leggat, der mit seinem gesund aussehenden Gesicht und seinem Backenbart ganz einer John-Bull-Figur glich, obwohl sein gesundes Aussehen in Wirklichkeit nicht seinem Charakter entsprach. Leggat hatte viele Wechselfälle durchgemacht, die ihm selbst kaum glaubwürdig erschienen – bevor er Zuflucht bei der Firma Narth Brothers Ltd. gefunden hatte.

 

Es gab einmal eine Zeit, wo der Name der Firma Narth in der City von London so über allen Zweifel erhaben war, daß man bei ihm schwören konnte. Thomas Ammot Narth, der Vater des jetzigen Chefs der Firma, hatte nur ganz einwandfreie, dadurch allerdings beschränkte Geschäfte an der Börse gemacht. Die Firma galt für seine Klienten als eins der vornehmsten Häuser in England.

 

Sein Sohn hatte seinen kaufmännischen Sinn geerbt, aber ohne die verständnisvolle Einsicht. Die Folge davon war, daß er die Geschäfte der Firma dem Umfang nach vergrößerte und auch nicht ganz erstklassige Kunden annahm. Die älteren Geschäftsfreunde der Firma hatten das nicht gern gesehen, und als er hierdurch mehrfach vor Gericht stand, wobei die nicht ganz einwandfreien Geschäfte seiner Kunden an die Öffentlichkeit kamen, zogen sie sich zurück. Schließlich beschäftigte er nur noch einen Schreiber und einen Börsenagenten. So hatte er Gelegenheit, ab und zu einträgliche Gewinne hereinzubringen. Aber die soliden, gesunden Geschäfte, die doch die sicherste Unterlage des Erfolges sind, fehlten ihm.

 

Bei den schlechten Zeiten hatte er sich damit durchgeholfen, daß er zahlreiche Gesellschaften gründete. Einige hatten einen gewissen Erfolg, aber die Mehrzahl nahm unvermeidlich eine schlechte Entwicklung, so daß sie nach einiger Zeit in Liquidation gerieten.

 

Infolge dieser Abenteuer kam Stephen Narth mit Mr. Leggat, einem galizischen Ölspekulanten, zusammen, der außerdem noch eine Theateragentur und eine Geldleihe betrieb und vielfach bei Schwindelgründungen beteiligt war.

 

Die Angelegenheit aber, welche die drei Teilhaber der Firma schon um neun Uhr morgens in ihrem kalten, ungemütlichen Bureau in Manchester House zusammenführte, hatte absolut nichts mit den sonstigen Geschäften der Firma zu tun. Mr. Leggat war gerade am Sprechen, aber seine Ausdrucksweise war gerade nicht sehr klar.

 

»Wir wollen doch die Sache beim richtigen Namen nennen. Unser Geschäft ist eben bankerott. Bei der Abwicklung des Konkurses werden Dinge zur Sprache kommen und Enthüllungen gemacht werden, die weder Spedwell noch mich irgend etwas angehen. Ich habe mit dem Geld der Firma nicht spekuliert, ebensowenig Spedwell.«

 

»Sie wußten doch –« begann Narth aufgeregt.

 

»Nichts wußte ich.« Mr. Leggat brachte ihn zum Schweigen. »Die Bücherrevisoren stellen fest, daß die Summe von fünfzigtausend Pfund durch Belege nicht gedeckt ist. Jemand hat eben an der Börse gespielt – aber das war weder ich noch Spedwell.«

 

»Aber Sie haben mir das doch angeraten –«

 

Mr. Leggat hob schon wieder seine Hand zur Abwehr.

 

»Jetzt ist nicht der Augenblick, um Gegenbeschuldigungen zu machen. Kurz und gut, es fehlen fünfzigtausend Pfund. Wo und wie können wir diese Summe auftreiben?«

 

Er sah den mürrischen Spedwell einen Augenblick an, der seinen Blick mit einem sarkastischen Zwinkern beantwortete.

 

»Sie haben leicht reden«, grollte Narth. Er wischte sich mit einem seidenen Taschentuch die Stirne. »Sie waren doch beide bei der Petroleumspekulation beteiligt – alle beide!«

 

Mr. Leggat lächelte und zuckte seine breiten Schulkern. Aber er gab keine Erklärung.

 

»Fünfzigtausend Pfund sind eine große Summe.« Es waren die ersten Worte, die Spedwell bei dieser Unterredung sprach.

 

»Schrecklich viel Geld«, stimmte sein Freund bei und wartete darauf, daß Mr. Narth etwas sagen sollte.

 

»Wir sind heute nicht zusammengekommen, um längst bekannte Tatsachen zu erörtern,« sagte Narth ungeduldig, »sondern um einen Ausweg zu suchen. Wie können wir die Sache zum Guten wenden, das ist hier die Frage.«

 

»Das ist sehr einfach beantwortet«, sagte Mr. Leggat in einem jovialen Ton. »Ich für meine Person fühle kein Bedürfnis, ins Gefängnis zu kommen. Und wir müssen, das heißt, Narth, Sie müssen das Geld aufbringen. Es bleibt nur eine Möglichkeit übrig«, fuhr Leggat langsam fort, indem er Stephen Narth scharf ansah. »Sie sind der Neffe oder Vetter von Joseph Bray, und wie alle Welt weiß, hat Joseph Bray ungeheure Reichtümer, weit mehr, als irgendein Mensch sich vorstellen kann. Wie man allgemein annimmt, ist er der reichste Mann Chinas. Soviel ich weiß – bitte verbessern Sie mich, wenn ich es falsch sage – bekommen Sie und Ihre Familie eine jährliche Pension von diesem Herrn –«

 

»Zweitausend im Jahr«, fiel ihm Narth ins Wort. »Aber das hat gar nichts mit dieser Sache zu tun!«

 

Mr. Leggat wechselte einen Blick mit dem Major und grinste.

 

»Der Mann, der Ihnen jährlich zweitausend Pfund gibt, muß doch in der einen oder anderen Weise zugänglich sein. Für Joseph Bray bedeuten fünfzigtausend Pfund das!« Dabei schnappte er mit den Fingern. »Mein werter Narth, die Lage ist doch so: in vier Monaten, vielleicht schon eher, wird man Ihnen in Old Baley den Prozeß machen, wenn Sie das Geld nicht beschaffen können, um die Bluthunde fernzuhalten, die bald auf Ihrer Spur sein werden.«

 

»Auf der Spur von uns allen dreien«, sagte Narth boshaft. »Ich werde nicht allein verurteilt – bedenken Sie das! Schlagen Sie sich ein für allemal den Gedanken aus dem Kopf, daß ich Joe Bray dazu bringen könnte, mir einen Cent mehr zu schicken, als er jetzt tut. Er ist so hart wie Eisen und sein Geschäftsführer so hart wie Stahl. Sie glauben wohl, ich hätte vorher noch nicht versucht, etwas mehr aus ihm herauszubekommen? Das ist ganz unmöglich!«

 

Mr. Leggat sah wieder Major Spedwell an. Beide seufzten und standen wie auf ein gegebenes Zeichen auf.

 

»Übermorgen werden wir wieder zusammenkommen«, sagte Leggat. »Und Sie werden gut tun, in der Zwischenzeit nach China zu kabeln. Die einzige Möglichkeit, die dann noch übrigbleibt, möchte Mr. Joseph Bray noch unangenehmer sein, als seinen Verwandten im Zuchthaus zu wissen.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Narth mit einem wütenden Blick.

 

»Ich meine nur,« sagte Mr. Leggat, während er sich eine Zigarre anzündete, »die Hilfe eines gewissen Herrn mit Namen Grahame St. Clay.«

 

»Und wer zum Teufel ist dieser Grahame St. Clay?« fragte Narth erstaunt.

 

Mr. Leggat lächelte geheimnisvoll.

 

Kapitel 20

 

20

 

Joan Bray schien es, als ob sie in großer Not und Furcht aus dieser Welt geflohen sei und nun langsam zurückkehre. Aber ein böses Schreckbild stand noch drohend vor ihr. Allmählich wurde sie sich darüber klar, daß sie in ihrem Bett lag … Dann war ja alles nur ein häßlicher Traum gewesen. Aber das Licht brannte doch noch, und ein Mann stand am Fußende ihres Lagers, der sie ernst betrachtete. Sie hob sich ein wenig auf und stützte sich auf ihre Ellenbogen. Ihre Gedanken konnte sie noch nicht sammeln, und stirnrunzelnd sah sie ihn an.

 

»Guten Morgen!« sagte Clifford Lynne heiter. »Ihre tanzfreudigen Cousinen kommen aber sehr spät zurück.«

 

Als sie sich zum Fenster wandte, sah sie, daß schon das blasse Morgengrauen den Himmel erhellte. Ihr Gesicht war feucht, ein halbgefülltes Wasserglas stand auf ihrem Nachttisch.

 

»Mr. Lynne!« Sie versuchte zu denken. »Wo – wo –« Sie sah sich im Zimmer um.

 

»Ich fürchte, ich habe Sie aufgeweckt?« sagte er, indem er ihre Frage ignorierte. »Ich bin ein etwas unbeholfener Einbrecher, obwohl es das leichteste Ding in der Welt war, in den Raum zu kommen, der neben der Tür liegt. Haben Sie mich gehört?«

 

Sie nickte langsam.

 

»Ach, das waren Sie?« fragte sie sprunghaft.

 

Er biß sich in Gedanken auf die Unterlippe und sah sie noch immer an.

 

»Ich bin furchtbar kompromittiert. Ich glaube, daß Sie das auch begreifen«, sagte er. »Ich bin in der dunklen Nacht in Ihr Haus geklettert, habe Sie zu Bett gebracht, und hier sind wir nun beide – Sie und ich – zusammen im fahlen Morgengrauen! Ich schaudere bei dem Gedanken, was Stephen Narth sagen wird, oder was sich die alberne Mabel einbildet. Was Letty betrifft« – er zuckte die Achseln – »kann ich wirklich nicht hoffen, daß sie ihr bekanntes Mitleid auch auf mich ausdehnt.«

 

Mühsam setzte sie sich aufrecht. Ihre Schläfen hämmerten.

 

»Machen Sie über alles einen Witz?« fragte sie und schauderte, als die Erinnerung an diese Nacht in ihr auftauchte. »Wo sind jene schrecklichen Kerle geblieben?«

 

»Sie sind lange nicht so schrecklich, wie sie aussehen. Immerhin sind sie fort. Sie entwischten durch das Fenster, und keiner von ihnen ist besonders schwer verletzt, ich bin froh, daß ich Ihnen das berichten kann. Ich habe schon einen angeschossenen blöden Kuli bei mir, und ich habe nicht den Wunsch, aus Slaters Cottage ein Krankenhaus für verbrecherische Chinesen zu machen.«

 

Er beugte den Kopf nach vorn und horchte. Seine scharfen Ohren hatten in weiter Entfernung das Geräusch eines Autos gehört.

 

»Es klingt so, als ob Stephen mit seinen beiden Grazien nach Hause käme«, sagte er.

 

Sie sah ihn an.

 

»Was werden Sie tun?« fragte sie bestürzt. »Sie können nicht hier bleiben.«

 

Er kicherte leise.

 

»Wie weiblich gedacht, sich in einer solchen Krise um Anstand zu kümmern!«

 

Dann ging er ganz unerwartet zu ihr, legte seine Hand auf ihren schmerzenden Kopf und streichelte ihr Haar.

 

»Verlassen Sie sich auf mich«, sagte er, und einen Augenblick später war er gegangen.

 

Man konnte hören, wie das Auto näherkam. Sie stand auf, ging zum Fenster und bemerkte, daß die Gardine beiseite geschoben war. Zwei große Scheinwerfer wurden sichtbar und bogen in die Fahrstraße ein. Sie hörte, wie die Gartentür geschlossen wurde und sah Clifford Lynne quer über den Weg auf ein Rhododendrongebüsch zueilen. Noch bevor er verschwunden war, hielt der Wagen vor der Tür, und Stephen Narth drehte das elektrische Licht an.

 

Von ihrem Standpunkt aus konnte sie die kleine Gruppe gut unterscheiden. Stephen sah in seinem weißen Frackhemd sehr bleich aus. Neben ihm standen die beiden Mädchen in ihren überreichen Abendkleidern. Sie konnte Stephens Gesicht nicht sehen, aber seine ganze Haltung berührte sie seltsam, in seinen Bewegungen lag etwas nervös Zögerndes. Er hatte es nicht eilig, ins Haus zu kommen. Zweimal ging er um das Auto herum, dann sprach er zu dem Chauffeur und erst, als sie schon die Schritte der Mädchen auf der Treppe hörte, trat er zögernd in die Halle.

 

Letty und Mabel hatten ihre Schlafzimmer im Erdgeschoß. Sie hörte Lettys hohe Stimme und die tiefere ihrer älteren Schwester. Dann mischte sich auch Mr. Narth in das Gespräch.

 

Es ist doch gar keine Frage, daß es ihr gut geht!« sagte Letty ärgerlich. »Benimm dich doch nicht so lächerlich, Vater.«

 

Joan ging quer durch das Zimmer und öffnete die Tür.

 

»Warum sollte ihr denn etwas fehlen?« fragte Mabel. »Das ist doch vollendeter Blödsinn, Papa. Du wirst sie nur aufwecken. Das ist doch wirklich lächerlich!«

 

Sie vernahm Stephens schwere Tritte auf der Treppe und schloß verwundert die Tür. Gleich darauf klopfte es, und sie öffnete.

 

»Hallo!« sagte Narth heiser. »Geht’s gut?«

 

Sein Gesicht war unheimlich bleich, seine Unterlippe bebte. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt, damit sie nicht sehen sollte, wie sie zitterten.

 

»Ist alles in Ordnung?« krächzte er wieder.

 

»Ja, Mr. Narth.«

 

»Ist nichts passiert?« Er schob seinen Kopf nach vorn und schaute sie an. Wie er so dastand, glich er einem Vogel.

 

»Ist wirklich alles in Ordnung, Joan?«

 

Seine Stimme war so belegt und sein Benehmen so sonderbar, daß sie es sich nur dadurch erklären konnte, daß er betrunken war.

 

»Hat dich niemand gestört? Na, das ist gut … Die Mädchen haben dich wohl aufgeweckt. Gute Nacht, Joan.«

 

Er stolperte unsicheren Schrittes die Treppe hinunter, und sie schloß verwundert die Tür.

 

Sie sollte sich noch mehr wundern, als sie später am Morgen zum Frühstück herunterkam und zum erstenmal hörte, daß der Diener gestern abend ausgegangen war. Mr. Narth hatte antelephoniert und ihn gebeten, ihm ein Buch in die Stadt zu bringen. Zu welchem Zweck brauchte denn Mr. Narth ein Buch? Der Abend war doch vollständig damit ausgefüllt, daß er sich seinen Töchtern widmen mußte. Nur Narth hätte es erklären können, und wenn er es getan hätte, wäre wohl niemand mit seiner Erklärung zufrieden gewesen.

 

Erst um elf Uhr kam er zum Frühstück herunter. Sein Gesicht war gelb, er sah nervös und gereizt aus, als ob er keinen Schlaf hätte finden können.

 

»Sind die Mädchen noch nicht aufgestanden?« Bei solchen Gelegenheiten sprach er hastig, abgerissen und gewöhnlich war die Folge einer durchwachten Nacht, daß er sich am nächsten Morgen recht unleidlich aufführte. Aber obgleich sie einen Ausbruch seiner bösen Laune fürchtete, war er ausnehmend friedlich.

 

»Wir müssen nun an deine Hochzeit denken, Joan«, sagte er, als er mit einem ärgerlichen Gesicht Platz nahm. Er hatte wenig Appetit.

 

»Dieser Clifford ist scheinbar ein guter Mensch. Es ist allerdings peinlich, daß er der Seniorpartner ist, und ich bin froh, daß ich ihm nicht alles gesagt habe, was ich ihm eigentlich damals sagen wollte, als wir –«

 

»Ich werde am nächsten Freitag heiraten«, sagte Joan ruhig.

 

Er sah sie mit einem beunruhigten Ausdruck an.

 

»Am Freitag? Unmöglich, das ist unmöglich – das ist – das ist unfein! Warum denn so bald? Du kennst doch den Mann noch gar nicht!«

 

Er sprang in ohnmächtiger Wut von seinem Stuhl auf.

 

»Ich dulde das nicht! Die Sache muß so gemacht werden, wie ich es wünsche. Weiß Mabel davon?«

 

Es ist merkwürdig, dachte Joan, daß Mabel ihm nichts davon erzählt hat. Später allerdings erfuhr sie, daß die älteste Tochter von Mr. Narth diese Sensation für einen privaten Familienrat aufgehoben hakte.

 

»Wo bleibt denn da der Anstand?« sagte Narth theatralisch. Sein Benehmen war so ungewöhnlich, daß Joan ihn unwillkürlich ansehen mußte. »Da muß doch erst noch eine Menge Dinge vorher erledigt sein, bevor du heiratest. Du bist mir doch verpflichtet, Joan. Hast du denn deinen Bruder ganz vergessen?« –

 

»Sie haben mir das Vergessen unmöglich gemacht, Mr. Narth«, sagte sie mit steigendem Unwillen. »Für alles das, was Sie für meinen Bruder getan haben, gab ich ja als Entgelt meine Einwilligung, Mr. Lynne zu heiraten. Clifford Lynne wünscht, daß die Hochzeit am Freitag stattfindet, und ich habe meine Zustimmung dazu gegeben.«

 

»Habe ich denn gar nichts mit der Angelegenheit zu tun?« brach er stürmisch los. »Man muß mich doch dabei zu Rate ziehen!«

 

»Das beste ist, Sie ziehen Clifford Lynne zu Rate«, sagte Joan kühl.

 

»Warte doch einen Augenblick«, rief er hinter ihr her, als sie den Raum verlassen wollte. »Wir wollen uns doch nicht aufregen, Joan. Ich habe einen ganz besonderen Grund, weswegen ich dich bitten möchte, diese Heirat auf ein späteres Datum zu verschieben – was ist los?« fragte er nervös den eben zurückgekehrten Diener, der noch im Straßenanzug im Vorraum erschien.

 

»Wollen Sie Mr. Lynne empfangen?« fragte er.

 

»Will er denn mich sprechen? Sind Sie sicher, daß er nicht Miß Joan meint?«

 

»Er fragte ausdrücklich nach Ihnen.«

 

Narths Hand zitterte, als er seine Tasse hinsetzte.

 

»Führen Sie ihn in die Bibliothek«, sagte er unwirsch. Er mußte sich für diese Unterredung wappnen, denn sein Instinkt sagte ihm, daß sie recht unangenehm werden würde, und sein Instinkt hakte ihn auch nicht belogen, denn Clifford Lynne war gekommen, um einige recht peinliche Fragen an ihn zu stellen.

 

Kapitel 21

 

21

 

Clifford Lynne ging in der Bibliothek auf und ab, als Mr. Narth eintrat (als ob es seine eigene gewesen wäre, beklagte sich Stephen später seiner Tochter gegenüber), und wandte sich unvermittelt um, damit er dem Seniorchef von Narth Brothers ins Gesicht sehen konnte.

 

»Schließen Sie die Türe! Wollen Sie nicht?« Es war mehr ein Befehl als eine Bitte. Und es war erstaunlich, wie schnell Stephen gehorchte.

 

»Sie kamen heute morgen um vier Uhr nach Hause«, begann Clifford. »Sie haben bei Cyro zu Abend gespeist. Das Lokal schließt um ein Uhr. Was haben Sie und Ihre Töchter zwischen ein und vier Uhr getan?«

 

Narth wollte seinen Ohren nicht krauen.

 

»Darf ich fragen –« begann er.

 

»Fragen Sie nichts! Wenn Sie mich fragen wollen, wer mir das Recht dazu gibt, diese Frage an Sie zu stellen, können Sie sich diese Mühe sparen«, sagte Clifford kurz. »Ich will wissen, was Sie zwischen eins und vier gemacht haben.«

 

»Und ich lehne es strikt ab, Ihre Neugierde zu befriedigen«, sagte der andere ärgerlich. »Die Angelegenheit hat sich ja schon weit entwickelt, wenn –«

 

»Heute morgen um drei Uhr«, unterbrach ihn Clifford schroff, »wurde der Versuch gemacht, Joan Bray aus diesem Hause zu entführen. Das ist Ihnen doch neu?«

 

North nickte stumm.

 

»Sie denken wahrscheinlich, der Versuch sei nicht gemacht worden, aber Sie haben ihn erwartet. Ich stand hinter den Sträuchern, als Sie zu dem Chauffeur sprachen. Sie forderten ihn auf, in das Haus zu kommen, nachdem er den Wagen in die Garage gebracht hatte. Sie sagten ihm, daß Sie nervös seien und daß neulich in der Nachbarschaft eingebrochen wurde. Sie waren erstaunt, als Sie Joan Bray unversehrt in ihrem Zimmer fanden.«

 

Blaß bis in die Lippen war Stephen Narth unfähig zu antworten.

 

»Sie sind mir Rechenschaft schuldig – wie haben Sie die Stunden zwischen eins und vier verbracht?« Diese durchbohrenden Blicke drangen in Narths Seele. »Sie wollten nicht zu Fing-Su gehen und das mit Recht, denn Sie wünschten nicht ihre Töchter mit diesem Manne in Berührung zu bringen. Soll ich Ihnen sagen, was Sie getan haben?«

 

Narth antwortete nicht.

 

»Während des Tanzes sind Sie herausgegangen und haben den Führerstand Ihres Autos abgeschlossen. Das benützten Sie als Vorwand, um mit den Mädchen zu einem dieser sonderbaren Klubs in Fitzroy Square zu gehen, die die ganze Nacht offen sind. Und dann haben Sie vorsorglich im rechten Moment den Schlüssel in Ihrer Tasche wiedergefunden.«

 

Jetzt gewann Mr. Narth seine Stimme wieder.

 

»Sie sind fast ein Detektiv, Lynne«, antwortete er. »Und, sonderbar genug, Sie haben recht, mit Ausnahme des Umstandes, daß nicht ich den Stand abschloß, sondern mein Chauffeur es tat und den Schlüssel verlor. Glücklicherweise entdeckte ich einen zweiten in meiner Tasche.«

 

»Sie wollten nicht eher zurückkehren, als bis die schmutzige Arbeit getan war?« Cliffords Augen glühten wie lebendiges Feuer. »Sie Schwein! Ich will Ihnen einmal etwas sagen, Narth. Wenn Joan Bray irgend etwas zuleide getan wird, während sie in Ihrem Hause wohnt und sich unter Ihrer Obhut befindet, dann werden Sie nicht länger unter der Sonne leben, um sich an der Erbschaft zu erfreuen, die Ihnen Joe Bray hinterlassen hat, wie Sie denken! Ich werde Ihren Freund töten – er ist doch davon überzeugt, nicht wahr? Wenn er es noch nicht sein sollte, gehen Sie jetzt hin und sagen Sie es ihm. Ein altes Sprichwort sagt, daß man gehangen werden kann, gleichgültig, ob man ein Schaf oder eine Ziege ist. Ich weiß nicht, als welches von beiden man Sie ansprechen soll. Hören Sie genau zu, Narth – Todesdrohungen kommen leicht in den Mund solcher Menschen, die nicht einmal sehen können, wie man einem Hahn das Genick umdreht, ohne ohnmächtig zu werden. Aber ich habe Männer umgebracht, gelbe und weiße, und ich werde mit keiner Wimper zucken, wenn ich Sie zur Hölle schicken muß. Nehmen Sie sich das zu Herzen, und denken Sie darüber nach! Joan wird nicht mehr lange bei Ihnen bleiben, aber während der Zeit haben Sie sie zu schützen!«

 

Jetzt war Stephen Narth die Zunge gelöst.

 

»Das ist eine Lüge, eine ganz infame Lüge!« schrie er. »Warum hat mir denn Joan nichts gesagt? Ich weiß nichts davon! Glauben Sie denn wirklich, ich würde Fing-Su erlauben, sie wegzuschleppen –«

 

»Ich sagte ja gar nicht, daß es Fing-Su war«, unterbrach ihn Clifford schnell. »Woher wissen Sie denn das plötzlich?«

 

»Nun wohl, Chinesen –«

 

»Ich habe nicht einmal Chinesen gesagt. Sie haben sich selbst überführt, Mr. Narth. Ich habe Sie vorhin gewarnt, und ich warne Sie jetzt noch einmal. Fing-Su hat Sie um fünfzigtausend Pfund gekauft, aber Sie hätten sich wieder herausdrehen können, da Sie ja von Natur aus ein Rechtsverdreher sind. Aber er wird Sie mit noch viel festeren Ketten an sich binden als mit Geldverpflichtungen. Beinahe hätte er es schon letzte Nacht getan. Er wird es noch vor Ende dieser Woche tun, wie oder wann oder wo – das weiß ich nicht.« Er machte eine Pause. »Das ist alles, was ich Ihnen mitzuteilen habe«, sagte er und schritt an dem erstarrten Narth vorbei in die Halle.

 

Als er den Fahrweg entlang ging, hörte er Stephen Narths Stimme, der ihm nachrief. Er drehte sich um und sah ihn mit blutleerem Gesicht wild gestikulieren. Er tobte vor Wut und stieß wilde, unzusammenhängende Schmähungen aus.

 

»… Sie werden Joan niemals heiraten … hören Sie das? Meinetwegen soll die ganze Erbschaft von Joe Bray Ihnen gehören! Eher soll sie sterben …«

 

Clifford ließ ihn ruhig wüten. Als Narth erschöpft von dem Gebrüll einen Augenblick anhielt, rief er ihm zu:

 

»Also haben Sie letzte Nacht Fing-Su doch gesehen? Was hat er Ihnen angeboten?«

 

Stephen starrte ihn entsetzt an. Dann rannte er ins Haus zurück wie ein Besessener, der fürchten mußte, daß seine geheimsten Gedanken von diesen unheimlich durchbohrenden Augen enträtselt werden könnten.

 

*

 

»Es wird noch viele Sorgen geben, Joe, und da du die ganze Geschichte eingerührt hast, hoffe ich, daß du auch deinen Teil davon abbekommst.«

 

Joe träumte halb schlafend vor einem unnötigen Feuer, denn der Tag war warm. Seine gefalteten Hände ruhten auf dem Magen. Bei den heftigen Worten Cliffords wachte er auf.

 

»Na … Ich wollte, du würdest nicht immer heraus- und hereinschlüpfen wie ein – ein – wie nennst du das doch, Cliff? Was hast du eigentlich gesagt?«

 

»Sorgen – habe ich gesagt!« erwiderte er kurz. »Dein aufgepäppelter Chinesenliebling und dein schandbarer Verwandter haben zusammen einen Plan ausgeheckt.«

 

Joe brummte, nahm eine Zigarre aus seiner Tasche, die auf dem Tisch lag, und biß das Ende gemächlich ab.

 

»Ich wünschte, ich wäre nie in dieses blumige Land gekommen«, sagte er vorwurfsvoll, »und wäre niemals aus Siangtan herausgegangen. Du bist ein lieber Kerl, Cliff, aber viel zu heftig, viel zu heftig. Ich wollte, Fing-Su wäre ein vernünftiger Junge mit guter Erziehung und sonst noch allem gewesen – Cliff, ist das nicht ein Elend?« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Das Leben ist doch komisch«, sagte er unklar.

 

Clifford wechselte seine Schuhe und grollte:

 

»Wenn du der einzige Mann wärest, den ich je auf dieser Welt getroffen hätte, dann würde ich sagen, das Leben war komisch. Aber so wie es ist, ist es verflucht ernst. Hast du die Zeitungen gelesen?«

 

Joe nickte und langte lässig nach einem Stoß Zeitungen, die auf dem Tisch lagen.

 

»Ja, ich habe von der Ermordung der Missionare in Honan gelesen, aber da gibt es immer Scherereien. Zu viele hungernde Soldaten vagabundieren herum. Wenn keine Soldaten da wären, würde es auch keine Räuber geben.«

 

»Das ist der neunte Missionar, der in diesem Monat ermordet wurde,« sagte Clifford kurz, »und diese Soldaten sind die bestdisziplinierten in China. Ich gebe zwar zu, daß das nicht viel bedeutet. Aber die Soldaten waren daran beteiligt und hatten Fahnen mit der Inschrift: ›Wir grüßen den Sohn des Himmels‹ Das heißt, daß in China ein neuer Prätendent für den Kaiserthron aufgetreten ist.«

 

Joe schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe es niemals mit Chinesen gehalten, die mit Gewehren schießen konnten«, sagte er. »Das demoralisiert sie, Cliff. Glaubst du, daß wir Unruhen in Siangtan haben werden?« fragte er ängstlich. »Wenn es so wäre, müßte ich zurückreisen.«

 

»Du wirst hier bleiben«, sagte Clifford anzüglich. »Ich glaube nicht, daß wir in diesem Teil Chinas Unruhen bekommen. Wir zahlen dem Gouverneur zu viel, es würde ein schlechtes Geschäft für ihn sein. Aber an siebzehn verschiedenen Stellen in China herrscht offene Revolution.« Er öffnete eine Schublade, suchte eine Karte heraus und entfaltete sie auf dem Tisch. Joe sah, daß an manchen Stellen rote Kreuze eingezeichnet waren. »In den Zeitungen nennen sie es ›Unruhen‹«, sagte Clifford ruhig. »Als Gründe geben sie den schlechten Ausfall der Reisernte und ein Erdbeben an, das allerdings Hunderte von Meilen vom Herd der Unruhen entfernt war.«

 

Der alte Joe erhob sich mühsam.

 

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er, indem er Lynne mit zusammengekniffenen Augen ansah. »Zum erstenmal sehe ich, daß du Interesse an chinesischen Dingen hast.

 

Worum handelt es sich denn dabei? Uns können sie doch nichts anhaben?«

 

Lynne faltete die Karte zusammen.

 

»Eine durchgreifende Änderung in der Regierung würde natürlich alle Verhältnisse berühren«, sagte er. »Honan kümmert mich wenig, es ist von jeher eine Räuberprovinz gewesen. Aber in Yünnan waren Unruhen, und wenn Yünnan anfängt, dann muß alles schon sehr weit fortgeschritten sein. Von irgendeiner Seite aus wird stark für eine neue Dynastie gearbeitet – und die Flaggen der Aufrührer tragen alle das Symbol der ›Freudigen Hände‹!«

 

Der alte Joe saß mit offenem Munde da.

 

»Aber das ist doch bloß eine kleine verrückte Gesellschaft«

 

»Acht Provinzen stehen geschlossen hinter dem Bund der ›Freudigen Hände‹«, unterbrach ihn Clifford. »Und Fing-Su hat ein Hauptquartier in jeder Provinz. Er hat uns schamlos hinters Licht geführt. Das Geld, das er aus unserer Gesellschaft zog, hat er dazu benutzt, eine Handelsfirma zu finanzieren, die offene Konkurrenz für uns bedeutet.«

 

»Das hat er nie getan!« sagte Joe verwirrt mit dumpfer Stimme.

 

»Geh doch nur zum Tower, und sieh dir Peking House an – das ist das Londoner Bureau dieser Handelsgesellschaft – und das Hauptquartier des Kaisers Fing-Su!«

 

Der alte Joe Bray konnte nur den Kopf schütteln.

 

»Kaiser – hm! Dasselbe wie Napoleon – bei Gott!«

 

»In drei Monaten wird er Geld brauchen – viel Geld. Augenblicklich finanziert er mehrere Generäle, aber unmöglich kann das auf lange Zeit so weitergehen. Sein Plan ist, eine große Nationalarmee unter Spedwell zu bilden, der ja China zur Genüge kennt. Wenn er so weit ist, will er sich selbst auf den Thron setzen. Mit den drei Generälen, die jetzt in seinem Dienst stehen, kann er leicht verhandeln. Wie er aber zu diesen Kaiserplänen gekommen ist, mag der Himmel wissen!«

 

Mr. Bray stand peinlich berührt auf. Irgend etwas in seiner Haltung zog die Aufmerksamkeit seines Teilhabers auf sich.

 

»Jetzt weiß ich es – du warst es, du alter, böser Kerl!« schnaubte Clifford los.

 

»Allerdings habe ich ihm Pläne entwickelt«, gab Joe zu, der sich durchaus nicht wohl fühlte. »Ich habe gewissermaßen Geschichten erfunden, um seinen Ehrgeiz anzuspornen. Ich besitze eine wunderbare Phantasie, Cliff. Sicherlich hätte ich schon Novellen geschrieben, wenn ich orthographisch richtig schreiben könnte!«

 

»Und ich vermute,« sagte Clifford, »du hast ihm ein Bild entworfen, was China sein könnte, wenn es einen Führer hätte?«

 

»Ja, so etwas Ähnliches.« Joe Bray traute sich aber nicht, seinem Teilhaber in die Augen zu sehen. »Aber es war doch nur, um seinen Ehrgeiz anzuregen – wenn du doch nur verstehen wolltest, Cliff. Gerade um ihn anzuspornen.«

 

Clifford lachte ruhig, und er lachte selten.

 

»Meiner Meinung nach brauchte er keinen Ansporn mehr«, sagte er. »Fing-Su ist ein Charakter, wie er unter Millionen Menschen einmal vorkommt, und wie er in gewissen Zeitabschnitten in der Geschichte der Menschheit auftaucht. Napoleon war so einer, Rhodes war einer, auch Lincoln – aber es gibt nicht viele.«

 

»Und was ist mit George Washington?« fragte Mr. Bray, der ängstlich bemüht war, die Unterhaltung in historische Bahnen abzulenken.

 

»Wer auch dafür verantwortlich sein mag, das Unglück ist nun einmal geschehen.« Clifford sah auf seine Uhr. »Hast du jemals Nester ausgehoben, Joe?«

 

»Als Junge ja«, sagte Joe selbstzufrieden. »Es waren mir damals wenige darin über.«

 

»Nun gut, wir werden heute nacht ein schwimmendes Nest des zahmen Gelbvogels ausheben«, sagte Clifford.

 

Kapitel 22

 

22

 

Mr. Narth fuhr mit der Eisenbahn zur Stadt, da sein Wagen augenblicklich in Reparatur war. Auf dem Bahnsteig kaufte er eine Zeitung, obwohl ihn die Überschrift nicht fesselte. »Der Bund der ›Freudigen Hände‹ als Ursache der chinesischen Wirren.« Was unter »Freudigen Händen« zu verstehen war, darüber dachte Mr. Narth nicht erst lange nach. Der Name schien ihm wenig passend zu sein.

 

Alles, was China anging, war ihm nicht sehr geläufig. Er wußte nur, daß fabelhafte Summen in diesem Lande von jemand zusammengebracht waren, der so liebenswürdig war zu sterben und sein großes Vermögen Mr. Narth zu hinterlassen.

 

Er rühmte sich stolz, daß er ein Geschäftsmann war. Man hätte auch sagen können, daß er auf seine Unkenntnis stolz war. Denn er wußte tatsächlich nichts, was nicht direkt mit seinem Geschäft zusammenhing. Andere Interessen hatte er kaum, er spielte mittelmäßig Golf – aus diesem Grunde war er auch nach Sunningdale gezogen – er war ein gleichgültiger Bridgespieler, und in der romantischen Zeit seines Lebens hatte er heimlich außer seiner Villa eine möblierte Wohnung in Bloomsbury unterhalten.

 

Gerade heraus gesagt, er war nicht ganz ehrlich. Darüber war er sich auch selbst im klaren. Er verdiente gern auf leichte Weise Geld. Als er damals das Geschäft seines Vaters erbte, schien es, daß er auf anständige Art seine Lebensideale hätte verwirklichen können. Darauf entdeckte er, daß Geld nur dann hereinkam, selbst bei den ältesten und besten Geschäftsverbindungen, wenn man die Kanäle und Schleusen von Schmutz frei hielt. Man mußte entweder durch dauernde Reklame nachhelfen, oder das Geschäft durch eisernen Fleiß in die Höhe bringen. Wenn man sich aber damit begnügte, in einem bequemen Armstuhl zu sitzen und auf Geld zu warten, dann strömte das Kapital nicht mehr in die eigenen Geldschränke, sondern in diejenigen der Konkurrenz. Er hatte sich mit den Vorgängen des Geschäftslebens so weit vertraut gemacht, daß er selbst schon verschiedene Wege gefunden hatte, schnell zu Geld zu kommen. Die Entdeckung aber, daß die meisten dieser verführerischen Nebenwege in den Sumpf führten, kam leider zu spät. Trotzdem sich seine Firma häufig in Schwierigkeiten befand, stand er doch mit den Chefs der großen Finanzhäuser auf gutem Fuße, da seine Beurteilung der Geschäftslage, natürlich abgesehen von seinen eigenen Transaktionen, fast immer richtig war.

 

Von Waterloo fuhr er zu dem Hotel, wo er gewöhnlich abstieg, wenn er in der Stadt war. Der Hoteldiener nahm ihm den Anzug ab, den er zu der Zeremonie am Abend tragen wollte. Er hatte sich über Fing-Su lustig gemacht, als er auf dieser Kleidung bestand.

 

»Frack und weiße Binde, großer Anzug«, sagte er. »Die Aufnahmefeierlichkeit wird Sie interessieren – es ist eine Kombination moderner Zeremonien und uralter Gebräuche.«

 

Er bestellte Tee auf sein Zimmer, und kaum hatte der Diener ihn serviert, als Major Spedwell eintrat. Sein neuer Bundesgenosse begrüßte ihn mit der Frage:

 

»Was hat sich letzte Nacht ereignet?«

 

Stephen Narth schüttelte mit einer gewissen Nervosität den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht. Das war ein ungeheuerlicher Plan von Fing-Su. Ich – ich hätte ihm beinahe die ganze Sache vor die Füße geworfen.«

 

»Was, das wollten Sie?« Der Major ließ sich in den einzigen großen Lehnsessel fallen, der in dem Raum stand. »Nun wohl, ich würde das nicht so ernst nehmen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Dem Mädchen sollte doch nichts passieren. Fing-Su hatte alles aufs beste vorbereitet. Er wollte sie an einen Ort bringen lassen, wo sie von weißen Frauen bedient und betreut worden wäre, und wo ihr nichts fehlen sollte, was sie sich wünschen könnte.«

 

»Aber warum denn in aller Welt –« begann Narth.

 

Spedwell machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Er hat seinen Grund. Er will einen Hebel bei Mr. Clifford Lynne ansetzen.«

 

Er stand auf, ging zu dem Kamin und streifte die Asche seiner Zigarre ab.

 

»Bei der Sache können Sie Geld verdienen, Narth«, sagte er. »Und dabei wird von Ihnen nur eins verlangt – daß Sie treu ergeben bleiben. Fing-Su hält Sie für einen Mann, der ihm noch viel nützen kann.« Er sah den anderen sonderbar an. »Es ist möglich, daß Sie sogar Leggats Stelle einnehmen können«, sagte er.

 

Stephen Narth schaute plötzlich auf.

 

»Leggat? Ich dachte, das wäre ein großer Freund von Ihnen.«

 

»Er ist es, und er ist es auch nicht«, sagte Spedwell vorsichtig. »Fing-Su denkt – nun, es müssen in der letzten Zeit einige Vertrauensbrüche vorgekommen sein. Es sind Dinge herausgekommen und leider gleich an die falsche Adresse gelangt.« Dann sagte er plötzlich: »Lynne ist doch in der Stadt. Ich vermute, daß Sie das wissen?«

 

»Ich kümmere mich nicht darum, wo er sich aufhält«, sagte Mr. Narth mit einer gewissen Schärfe.

 

»Ich dachte, Sie würden sich darum kümmern«, sagte der andere leichthin.

 

Er hätte auch noch hinzufügen können, daß er sich selbst viel mehr für die Pläne Clifford Lynnes interessierte, als dieser aufgeregte Mann vermuten konnte. Und er interessierte sich deshalb so stark dafür, weil Fing-Su einen neuen Plan ausgeheckt hatte, der so geschickt angelegt war, daß nur einer Joan Bray retten konnte – und das war der Schnellschütze von Siangtan.

 

Kapitel 14

 

14

 

Mr. Stephen Narth war in der Regel kein gemütlicher Gast am Frühstückstisch. Gewöhnlich fürchtete sich Joan eher vor ihm, weil der Schinken immer zu salzig und der Kaffee zu stark war, und Mr. Narth über die außergewöhnlichen Unkosten seines Haushalts räsonnierte.

 

Seit jenem Zwischenfall bei der Einladung zum Essen hatte sich sein Verhalten bedeutend geändert. Niemals war er liebenswürdiger zu Joan als am siebenten Morgen nach der Ankunft des sonderbaren Mannes aus China.

 

»Man hat mir erzählt, daß das Haus deines Freundes fertig und möbliert ist«, sagte er beinahe heiter. »Ich denke, wir werden jetzt das Aufgebot für dich bestellen, Joan? Wo willst du getraut werden?«

 

Sie sah ihn bestürzt an.

 

Sie hatte die Renovation von Slaters Cottage nicht mit ihrer eigenen Verheiratung in Verbindung gebracht. Auch sie hatte Clifford Lynne seit jenem Nachmittag nicht wieder gesehen, an dem er sie von London nach Hause brachte. Sie hatte ein unbehagliches und ungewisses Gefühl und litt unter dem veränderten Verhalten ihres Verlobten. Die Ruhe, die auf sein plötzliches Eingreifen in ihr Leben folgte, wirkte deprimierend auf sie. Sie erinnerte sich an den Empfang eines großen Staatsmannes, der zu ihrer Vaterstadt gekommen war. Mit großen Aufzügen, Fahnen und Musik wurde er bewillkommnet. Aber gerade als er im Begriff war, seine Dankrede für den Empfang zu beginnen, brach Feuer in einer naheliegenden Straße aus. Seine Zuhörerschaft schmolz hinweg, allein und verlassen stand er da. Seine Ankunft war unwichtig geworden durch den Brand, der plötzlich das größere Interesse seiner Bewunderer gepackt hatte. Jetzt konnte sie seine Gefühle nachempfinden.

 

»Ich habe Mr. Lynne nicht gesehen«, sagte sie. »Und wegen unserer Verheiratung bin ich nicht mehr so sicher, daß er es ernst meint.«

 

Mr. Narths Benehmen änderte sich.

 

»Nicht ernst? Unsinn!« brach er los. »Bestimmt nimmt er es ernst! Alles ist abgemacht. Ich müßte mit ihm sprechen und einen Tag festsetzen. Du wirst in der Kirche von Sunningdale getraut, und Letty und Mabel sollen deine Brautjungfern sein. Ich denke, es wäre nun an der Zeit, daß ihr zur Stadt fahrt und euch nach eurer Garderobe umseht. Es ist besser, wir veranstalten eine ruhige Hochzeitsfeier mit so wenig Gästen als möglich. Man weiß nicht, was er noch alles anstellen wird. Er ist ein solcher Herumtreiber, daß er womöglich noch mit einem Gefolge von Niggern zur Trauung kommt! Du hast dich doch mit ihm unterhalten, als du zurückkamst vom – hm – Bureau?« Es war das erstemal, daß er die Einladung zum Essen erwähnte.

 

»Hat er dir nicht gesagt, wie hoch sein Monatsgehalt ist?«

 

»Nein«, sagte Joan.

 

»Hängt nicht eigentlich die Höhe des Gehaltes von dir ab, Vater?« fragte Mabel, indem sie sich Butter auf das Brot strich. »Natürlich müssen wir ihn in seiner Stellung lassen, es würde zu hinterhältig sein, ihn erst Joan heiraten zu lassen und ihm dann zu kündigen. Aber ich glaube, es ist notwendig, daß man einmal mit ihm spricht. Sein Auftreten dir gegenüber ist recht ungebührlich.«

 

»Und seine Sprache ist schauderhaft«, sagte Letty. »Erinnerst du dich, Vater, was für Ausdrücke er gebrauchte?«

 

»›Verdammte Höllenbande!‹« sagte Mr. Narth schmunzelnd. »Solche Ausdrücke sind mir in der Unterhaltung neu. Ich sollte annehmen, daß er einen Anstellungsvertrag mit dem alten Joe Bray hatte. Deshalb wird wahrscheinlich die Frage nach der Höhe seines Gehaltes nicht aufgeworfen werden. Joe war ein sehr großzügiger Mann, und sicherlich hat er diesem Menschen genügend Gehalt ausgesetzt, daß er davon leben kann. Über diesen Punkt brauchst du dir also keine Sorge zu machen.«

 

»Die mache ich mir auch gar nicht«, sagte Joan.

 

»Ich weiß nicht, warum er Slaters Cottage mit so großem Aufwand wieder aufbaute«, fuhr Stephen fort. »Er bildet sich doch sicherlich nicht ein, daß ich ihm erlauben werde, hier zu wohnen. Ein Manager hat an dem Platz zu sein, wo er seine Geschäfte wahrnehmen muß. Natürlich macht es mir nichts aus, ihm einige Monate Urlaub zu geben. Das ist so Brauch, denke ich. Aber es wird ihm große Schwierigkeiten machen, das Landhaus für eine Summe zu verkaufen, die ungefähr der Höhe seiner jetzigen Auslagen gleichkommt.«

 

Er sah nach seiner Uhr, wischte seinen Mund heftig mit der Serviette ab und stand vom Tisch auf. Nach seinem Aufbruch zur Stadt sah es so aus, als ob sich die Ereignisse in Sunni Lodge wie gewöhnlich entwickeln würden. Aber er war kaum zwei Stunden fort, da kam sein Wagen wieder die Anfahrt herauf, und der Chauffeur brachte eine Nachricht für Joan, die tief in ihren Haushaltsrechnungen steckte. Erstaunt öffnete sie den Brief.

 

»Liebe Joan, kannst du gleich kommen, ich muß mit dir sprechen. Ich erwarte dich in Peking House.«

 

»Wo liegt Peking House, Jones?« fragte das Mädchen.

 

Der Mann sah sie sonderbar an.

 

»Es liegt in der Nähe des Towers, keine fünf Minuten von Mr. Narths Haus entfernt«, sagte er.

 

Letty und ihre Schwester waren in den Ort gegangen. Schnell entschlossen setzte sie ihren Hut auf und stieg in den Wagen. In Eastcheap, gegenüber dem alten trutzigen Turm, den Wilhelm der Eroberer auf sächsischen Grundmauern erbaut hatte, erhob sich ein neues, schmuckes Steingebäude, das sechs Stockwerke höher war als alle übrigen Häuser der Nachbarschaft. Eine breite Flucht von Marmorstufen führte zu dem schönen Säulenvorbau und der mit Marmor verkleideten Halle. Aber am meisten unterschied sich dieses Geschäftshaus von den anderen durch die Nationalität seiner Bewohner. Ein kräftiger chinesischer Portier in gutsitzender Uniform führte sie zum Fahrstuhl, der ebenfalls von einem Chinesen bedient wurde. Als sie hinauffuhr, sah sie Leute von kleiner Gestalt und gelber Gesichtsfarbe in den marmornen Korridoren von Zimmer zu Zimmer eilen. Sie trat aus dem Fahrstuhl heraus und konnte durch eine Glastür in einen großen Bureauraum sehen. Hinter dicht gestellten Pulten hantierten lange Reihen von jungen Chinesen eifrig mit Tinte, Pinsel und Papier. Alle trugen merkwürdige, große, schwarze Brillen.

 

»Ist das nicht sonderbar?« Der junge Londoner Clerk, der mit ihr zusammen im Fahrstuhl gefahren war, grinste, als sie ausstiegen. »Es ist der einzige Platz in der City, wo nur Chinesen herumlaufen. Peking-Handelsgesellschaft – haben Sie das schon einmal gehört?«

 

»Noch nie«, gestand Joan lächelnd.

 

»Es gibt keinen weißen Schreiber in diesem Gebäude«, sagte der junge Mann ärgerlich, »und die Stenotypistinnen – mein Gott! Sie sollten mal ein paar von den Gesichtern sehen!«

 

Der Liftführer wartete ungeduldig.

 

»Kommen Sie, meine Dame«, sagte er. Sein Ton erschien ihr sehr bestimmt. Sie folgte ihm bis zum Ende des Korridors, wo er eine Tür öffnete, über der das Wort ›Privatbureau‹ stand. Eine chinesische Stenotypistin erhob sich von ihrem Stuhl.

 

»Sind Sie Miß Bray?« fragte sie mit einem merkwürdig fremden Akzent in der Aussprache.

 

Als Joan nickte, öffnete sie eine zweite Tür.

 

»Treten Sie ein«, sagte sie in demselben anmaßenden Ton, den Joan auch schon bei dem Liftführer bemerkt hatte.

 

Als sie eintrat, dachte sie, daß sie aus Versehen in ein Operettentheater geraten sei. Der Luxus von Marmor und Atlasseide, von geschliffenem Glas und weichen Teppichen, von reichvergoldeten Möbeln und seidenen Tapeten verblüffte sie. Die hohe Decke wurde von brennendroten Balken getragen, die mit goldenen, chinesischen Buchstaben in Relief verziert waren. Die Fülle der Farben blendete sie fast. Das einzige Geschmackvolle in dem Raum war ein großes farbiges Glasfenster ihr gegenüber. Darunter saß an einem Tisch, der ganz aus Ebenholz geschnitzt zu sein schien, Fing-Su. Er erhob sich, als sie eintrat und kam mit gezierten Schritten quer durch das Zimmer, um sie zu begrüßen.

 

»Ihr Onkel wird in wenigen Minuten hier sein, liebe Miß Bray«, sagte er. »Bitte nehmen Sie Platz.«

 

Er schob ihr einen reichgeschnitzten chinesischen Sessel von ungewöhnlich großen Formen hin.

 

»Ich fühle mich wie die Königin von Saba, die bei Salomo zu Besuch ist«, sagte sie. Die Freude an dieser Pracht betäubte im Augenblick ihre Unruhe.

 

Er verneigte sich tief. Scheinbar faßte er ihre Worte als Kompliment auf.

 

»Sie sind noch viel schöner als die Königin von Saba und wahrhaftig würdig, Salomo, dem Sohne Davids, zu begegnen. Besäße ich die Reichtümer Sanheribs, des Königs von Askalon, so würde ich Ihnen die Schätze von Azur und Bethdacon zu Füßen legen.«

 

Sie war bestürzt durch seine überspannte Anrede.

 

»Wann kommt Mr. North?« fragte sie.

 

»Nein, er kommt nicht«, sagte er. »Tatsächlich hielt Ihr Onkel es für ratsam, Miß Bray, daß ich Sie wegen unseres Freundes Lynne spräche. Als wir uns das letztemal begegneten, gab es eine peinliche Szene, wie Sie sich erinnern, obgleich ich keinen Anlaß dazu gegeben habe. Mr. Lynne hegt unfreundliche Gefühle gegen mich, was hauptsächlich meiner Nationalität zuzuschreiben ist. Ich halte die Chinesen nicht für tieferstehend als die Europäer. Wir sind ebensogut Menschen, jahrtausendelang standen wir auf einer höheren intellektuellen Stufe. Mr. Lynne hat keinen Grund, uns zu verachten. Mein hochverehrter Vater« – er beugte fast unmerklich die Knie – »tat viel für die Yünnan-Gesellschaft; ohne seine Hilfe wären die Konzessionen bestimmt niemals erteilt worden, und man hätte sie niemals ausnützen können.«

 

Sie war nicht aufgelegt, die Geschichte der Yünnan-Gesellschaft und ihrer Entstehung zu hören. Sie begann ängstlich zu werden und erhob sich von ihrem Thron.

 

»Ich kenne Mr. Lynne nicht gut genug, um über ihn zu sprechen«, begann sie.

 

»Und doch wollen Sie ihn heiraten?«

 

Sie errötete mehr aus Ärger als aus Verwirrung.

 

»Das ist eine Sache, die nur mich angeht, Mr. Fing«, sagte sie.

 

Er lächelte. »Fing-Su? Gut, diesen Namen ziehe ich vor. St. Clay ist schwerfällig und klingt schlecht.«

 

Er betrachtete sie, seine Gedanken waren nicht bei der Sache.

 

»Sie sind eine geschickte junge Dame – Sie haben ein intelligentes Gesicht und sind sehr anpassungsfähig. Sie haben wirklich alle Eigenschaften, die ich bei einem Assistenten wünsche – und ich habe viele Assistenten – sowohl Europäer als auch Chinesen.«

 

»Ich verstehe Sie nicht ganz«, sagte sie.

 

»Ich will es Ihnen erklären. Ich habe Grund, die Freundschaft – zum mindesten die Neutralität – Clifford Lynnes zu wünschen. Sie können mir dabei ganz erheblich helfen. Wissen Sie etwas von der Börse, Miß Bray?«

 

»Von der Börse?« fragte sie erstaunt. »Nein, davon verstehe ich wenig.«

 

»Aber es ist Ihnen doch sicherlich bekannt, daß es ein großes Handelsunternehmen gibt, das den Namen ›Yünnan-Gesellschaft‹ führt?« fragte er.

 

Sie nickte.

 

»Ja, Mr. Narth erzählte mir gestern morgen, daß die Aktien mit 2,75 notiert werden.«

 

»Die gewöhnlichen Aktien«, verbesserte er sie höflich. »Die Gründeraktien sind niemals an der Börse gehandelt worden.«

 

Sie lächelte.

 

»Ich glaube nicht, daß ich sie unterscheiden könnte, wenn ich sie sähe«, sagte sie offen. »Die ganze Börse ist mir ein Rätsel.«

 

»Es gibt im ganzen neunundvierzig Gründeraktien.« Er sprach mit großer Überlegung und betonte jedes Wort. »Und eine davon möchte ich kaufen.«

 

Sie sah ihn ganz erstaunt an.

 

»Eine?« wiederholte sie fragend.

 

Er nickte.

 

»Nur eine. Sie werden nicht notiert. Ursprünglich waren sie ein Pfund wert. Heute bin ich bereit, für eine solche Aktie eine Million Pfund zu zahlen.«

 

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen helfen kann, es sei denn –« Es kam ihr ein guter Gedanke. »Sie würden eine von Mr. Narth kaufen.«

 

Er lächelte belustigt.

 

»Liebe Miß Bray, Ihr Verwandter hat Mr. Narth keine Gründeraktien hinterlassen. In seinem Besitz waren zum Schluß nur noch gewöhnliche Anteile. Der einzige, von dem man Gründeraktien kaufen könnte, ist Ihr Verlobter, Mr. Clifford Lynne. Verschaffen Sie mir dieses eine Papier, und ich will Ihnen eine Million Pfund dafür geben! Sie würden dann keinen Grund mehr haben, einen Mann zu heiraten, der Ihnen von Ihrem wenig intelligenten Onkel aufgezwungen wurde. Eine Million Pfund! Denken Sie einmal, Miß Bray, das ist eine ungeheure Summe, die Sie so frei macht wie einen Vogel in der Luft. Auch würden Sie dadurch unabhängig von Narth und Lynne werden! Überlegen Sie sich die Sache! Ich möchte nicht, daß Sie Ihre Entscheidung in diesem Augenblick treffen. Denken Sie bitte daran, daß Sie im Sinne meines besten Freundes Joe Bray handeln würden, der zu mir wie ein Vater war. Nun leben Sie wohl.«

 

Er ging zur Türe und öffnete sie mit eleganter Bewegung. Offenbar war die Unterredung zu Ende.

 

»Also bitte überlegen Sie sich die Sache, und haben Sie die Liebenswürdigkeit, alles, was ich in diesem Zimmer gesagt habe, als vertraulich anzusehen. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen an dem Tage, an dem Sie mir die gewünschte Aktie übergeben, einen Scheck auf die Bank von England über eine Million Pfund aushändige. Ich möchte keine weiteren Fragen stellen – «.

 

Joan sah ihn mit ruhigen Augen an.

 

»Es ist auch unnötig, daß Sie sich weiter bemühen«, sagte sie gelassen. »Denn ich werde Ihnen diese Aktie niemals bringen. Wenn sie Ihnen eine Million wert ist, dann ist sie Clifford Lynne sicher nicht weniger wert.«

 

Ein undurchsichtiges Lächeln umspielte seine Lippen.

 

»Der Scheck liegt für Sie bereit – das bedeutet sehr viel für Sie, Miß Bray«, sagte er.

 

Joan eilte, so schnell sie konnte, zu dem Bureau ihres Onkels, und mit jeder Umdrehung der Räder des Autos wuchs ihr Ärger.

 

Kapitel 15

 

15

 

Mr. Stephen Narth war augenscheinlich in keiner guten Stimmung.

 

»Ich hoffe, daß es dich nicht unangenehm berührt hat, Joan«, sagte er, als er ihr unwilliges Gesicht sah. »Ich bin diesem Menschen sehr verpflichtet, und er bestand darauf, dich wegen dieses Geschäfts persönlich zu sprechen. Ich konnte nicht anders handeln. Der Himmel mag wissen, weshalb er so versessen darauf ist, eine der Gründeraktien zu kaufen, die doch absolut keinen Geldwert haben.«

 

Sie war über diese Mitteilung verblüfft und wunderte sich, daß er so wenig im Bilde war.

 

»Sie sind nichts wert?«

 

»Nicht einen Penny«, sagte Narth. »Nun, vielleicht ist das eine Übertreibung. Nominell sind sie zu einer Dividende von zweieinhalb Prozent berechtigt. Das heißt, daß der Kaufwert der Aktie etwa acht Schilling beträgt. Sie sind niemals im offenen Markt gehandelt worden und werden auch niemals gehandelt werden. Ich glaube nicht, daß der alte Joe welche besaß. Aber ich will mich informieren.«

 

Er klingelte, und als Perkins erschien, sagte er ihm:

 

»Bringen Sie mir die Statuten der Yünnan-Gesellschaft.«

 

Nach einigen Minuten kam der Sekretär mit einem dicken, blau eingebundenen Bande zurück, den er auf den Tisch legte.

 

Mr. Narth öffnete den staubigen Deckel. Während er auf der ersten Seite las, hielt er plötzlich inne.

 

»Das ist doch seltsam!« rief er aus. »Ich wußte nicht, daß Lynne ein Direktor ist.« Er runzelte die Stirn. »Aber ich vermute, nur dem Titel nach«, sagte er, als er Seite für Seite umblätterte.

 

Fünf Minuten lang herrschte tiefes Stillschweigen, das nur durch das Rascheln der Blätter unterbrochen wurde.

 

»Donnerwetter!« keuchte Narth. »Höre nur: Die Leitung der Gesellschaft und die Verfügung über die Reservefonds liegt in den Händen des Aufsichtsrates, der in geheimer Abstimmung gewählt wird. Zur Teilnahme an dieser sind nur die Inhaber von Gründeraktien berechtigt. Ungeachtet irgendwelcher anderslautenden Bestimmungen in den nachfolgenden Paragraphen soll der Aufsichtsrat der Bevollmächtigte der Majorität sein.«

 

Bestürzt sah er auf.

 

»Das bedeutet, daß die gewöhnlichen Aktionäre bei der Leitung der Gesellschaft überhaupt nichts zu sagen haben, und daß von den neunundvierzig Gründeraktien, die ausgegeben wurden, Fing-Su vierundzwanzig in seinem Besitz hat!«

 

Er sah in das erstaunte Gesicht Joans.

 

»Ich habe heute gehört, daß der Reservefonds der Yünnan-Gesellschaft sich auf acht Millionen beläuft«, sagte er. »Diese Summe kam zusammen durch den Ertrag von Bergwerken, Goldminen, auch gehört dazu das Geld, das nach der russischen Revolution bei der Gesellschaft deponiert wurde…«

 

Er sprach etwas unzusammenhängend.

 

»Und die Majorität befindet sich in den Händen Clifford Lynnes«, sagte er langsam. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, welch unbarmherzig grausamer Kampf um diesen ungeheuer großen Fonds im Gange war.

 

Er hob seine Hand an die zitternden Lippen.

 

»Bei Gott, ich wünschte, ich hätte mit der Geschichte nichts zu tun!« sagte er heiser, und etwas von seiner Furcht teilte sich dem jungen Mädchen mit.

 

Sie fuhr in dem Wagen von Mr. Narth nach Sunningdale zurück. Unterwegs überholte sie eine gewöhnlich aussehende Droschke. Zufälligerweise sah sie in den anderen Wagen hinein und erkannte Clifford Lynne. Auf seinen Wink ließ sie ihren Wagen halten.

 

Er stieg aus seiner Droschke aus und kam zu ihrem Wagen. Ohne zu fragen, öffnete er die Tür und stieg ein.

 

»Ich will mit Ihnen bis zum Ende meines Weges fahren«, sagte er. »Meine Droschke ist mit allerhand Proviant vollgeladen, so daß es sich unbequem darin fährt. Ich will nämlich meine neue Wohnung beziehen.«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Sie waren in der Stadt. Da wir noch nicht verheiratet sind, habe ich ja noch nicht das Recht Sie zu fragen, warum Sie in solch einem eleganten Wagen fahren. Ich vermute, Sie haben unseren Freund Narth besucht?« Und plötzlich fragte er sie unvermittelt: »Haben Sie Fing-Su gesehen?«

 

Sie nickte.

 

»Ja, ich hatte heute morgen eine Unterredung mit ihm«, sagte sie.

 

»Zum Teufel, was haben Sie gemacht!«

 

Wenn er wütend war, verbarg er seine Aufregung nicht.

 

»Und was hat dieses naive und edle Naturkind Ihnen gesagt?« fragte er ironisch. »Ich will verdammt sein, wenn es nicht irgend etwas unverschämt Anmaßendes war. Alle Chinesen, die die Politur europäischer Zivilisation angenommen haben, bilden sich ein, große Diplomaten zu sein!«

 

Sollte sie ihm etwas erzählen? Sie hatte kein Versprechen gegeben, und nur Fing-Su hatte sie gebeten, den Inhalt ihrer Unterhaltung als vertraulich zu betrachten.

 

Er sah, daß sie zögerte. Mit unheimlichem Scharfsinn durchschaute er, was sich ereignet hatte.

 

»Wollte er nicht eine Gründeraktie von der Yünnan-Gesellschaft kaufen?«

 

Als sie rot wurde, schlug er sich auf das Knie und lachte lang und ausgelassen.

 

»Armer kleiner Macchiavelli!« sagte er schließlich und wischte sich die Augen. »Ich ließ mir ja niemals träumen, daß er mit seinem Zehntel zufrieden wäre!«

 

»Seinem Zehntel?«

 

Er nickte.

 

»Ja, Fing-Su besitzt ein Zehntel der Anteile. Ist Ihnen das neu? Joe Bray verfügte über ein weiteres Zehntel.«

 

»Aber in wessen Besitz sind denn die übrigen Anteile?« fragte sie erstaunt.

 

»Im Besitz Ihres zukünftigen Gatten – Herrn darf ich ja wohl nicht sagen«, bemerkte er. »Unser chinesischer Freund ist mehr als ein Millionär, aber er ist damit nicht zufrieden. In einer Anwandlung von Verrücktheit gab Joe Fing-Sus Vater einige Gründeraktien und obendrein übereignete er später die meisten der ihm persönlich verbleibenden Fing-Su selbst! Joe Bray in allen Ehren – aber ich glaube nicht, daß er jemals bei Verstand war. Aber das Verrückteste, was er jemals angestellt hat –« Hier unterbrach er sich selbst. »Mag sein, daß er es nicht getan hat, aber ich habe meinen Argwohn … heute abend werde ich es sicher erfahren.«

 

Sie fragte ihn nicht, was er für einen Argwohn habe, und er fuhr fort:

 

»Es gab früher keine organisierte Yünnan-Gesellschaft, bis ich mein Vermögen mit Joe zusammenwarf. Er hatte gerade ein wenig Kohle aus dem Land gegraben, für das Fing-Sus verstorbener Vater eine Konzession erworben hatte. Aber dieser törichte alte Herr hatte einen Vertrag geschlossen, wonach der Chinese ein Zehntel des Reingewinns erhalten sollte. Mir war das alles unbekannt, bis ich einen Landstrich mit ergiebigen Kohlenlagern zu dem Unternehmen hinzubrachte. Infolgedessen entstanden so viele juristische Schwierigkeiten, um Fing-Sus Vater auszuschließen, daß die ganze Sache während der Prozesse nichts wert war. Nachher habe ich die Gesellschaft mit größerem Kapital neu gegründet. Verstehen Sie das?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es ist mir nur ganz undeutlich klar geworden«, sagte sie. »Aber ich möchte es gern verstehen.«

 

Wieder sah er sie prüfend von der Seite an.

 

»Damals setzte ich die Bestimmung betreffend der Gründeraktien durch, um den guten alten Joe daran zu hindern, noch weiterhin gegen sein eigenes Interesse zu handeln. Ihr verehrter Verwandter war nicht gerade sehr intelligent, aber er hatte das beste Herz, das jemals schlug. Gründeraktien waren ihm nichts wert, als er entdeckte, daß sie keine Zinsen brachten. Von den neunundvierzig ausgegebenen Aktien erhielt Fing-Sus Vater neun. Joe war sogar noch stolz darauf, und Joe und ich erhielten jeder zwanzig.«

 

»Was bedeutet denn eigentlich der Reservefonds?« fragte sie.

 

Einen Augenblick sah er sie argwöhnisch an. Schließlich sagte er: »Wir haben große Reserven, doch gehört ein erheblicher Teil davon nicht uns. Sehen Sie, wir hatten ein umfangreiches Geschäft in der Mandschurei, unter anderem betrieben wir dort auch Bankgeschäfte. Als die Revolution kam, wurden große Vermögen bei uns deponiert, und wir brachten sie nach Schanghai in Sicherheit. Viele von unseren armen Kunden kamen ums Leben und zwar gerade die Besitzer der größten Depots. Bei dem jetzigen Chaos ist es unmöglich, ihre Verwandten und Erben ausfindig zu machen. Ihr Geld bezeichnen wir als den Reservefonds B. Und diese ungeheuren Summen möchte sich Fing-Su gerne aneignen!«

 

Als er ihr Erstaunen sah, fuhr er fort:

 

»Vor einigen Monaten erfuhr ich, daß Joe mehr als die Hälfte seiner Gründeraktien diesem aalglatten Chinesenschuft gegeben hatte. Er hätte ihm auch alle ausgeliefert, nur fünf Aktien hatte er verlegt. Gott sei Dank entdeckte ich sie und brachte sie in meinen Besitz. Weil ich die Majorität habe, kann Fing-Su nicht an den Reservefonds heran. Wenn er aber einmal im Besitz einer weiteren Gründeraktie ist, dann können alle Gerichtshöfe in China ihn nicht davon abhalten, anderer Leute Geld zum Teufel zu jagen. O Joe, du hast eine schwere Verantwortung für alle diese Dummheiten!«

 

Aber jetzt tadelte sie ihn.

 

»Mr. Lynne – Clifford, ich muß Ihnen etwas sagen – wie können Sie von Ihrem verstorbenen Freund so schlechte Dinge sagen?«

 

Er antwortete hierauf nicht direkt. Als er wieder sprach, tat er so, als ob er ihre Frage nicht gehört hätte.

 

»Diese Welt ist wunderschön, es ist ein Genuß, in ihr zu leben«, sagte er. »Ich hasse auch nur den Gedanken, von hier zu scheiden. Aber an einem der nächsten Tage werde ich Fing-Su das Genick umdrehen!«