Kapitel 34

 

34

 

Alma Javot weinte, als sie den Brief von Sir James Tynewood gelesen hatte. Sie fühlte nun doch Reue, aber diese Reue äußerte sich in einer für sie ganz charakteristischen Art.

 

»Ich muß wirklich sagen, daß er sehr anständig ist«, sagte sie zu Javot. »Aber ich bleibe nicht hier. Ich siedle wieder nach London über und gehe zur Bühne zurück. Stelle dir vor, welchen Eindruck es macht, wenn auf den Theaterzetteln steht: Alma, Lady Tynewood!«

 

»Nun sei doch zufrieden, daß du mit heiler Haut davongekommen bist. Du nennst dich Alma Trebizond, sonst hast du es mit mir zu tun.«

 

Er sprach im Ernst, und sie wußte, daß mit Mr. Javot nicht zu spaßen war.

 

»Auf keinen Fall bleibe ich hier«, erklärte sie. »Wenn ich nicht Lady Tynewood auf Schloß Tynewood sein kann, so will ich auch nicht Mrs. Javot von Tynewood sein.«

 

»Du kannst dich meinethalben Mrs. Javot von Kensington nennen, wenn dir das Spaß macht, und solange du dich ruhig und vernünftig verhältst, hast du ja auch nichts zu fürchten. Ich bleibe jedenfalls hier. Zum Wochenende kannst du ja dann von London herüberkommen.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Du wirst ja auf deine alten Tage liebenswürdig, Javot?«

 

*

 

Mrs. Stedman hatte wieder Grund, sich zu beschweren. Als sie entdeckte, daß ihr Schwiegersohn ein wirklicher englischer Baron war, beanspruchte sie eine Wohnung von mehreren Zimmern im Ostflügel des Schlosses für sich.

 

»Aber es gibt doch gar keinen Ostflügel, liebe Mutter«, sagte Marjorie. »Das Haus erstreckt sich von Norden nach Süden, und außerdem werde ich nicht dort wohnen.«

 

»Was, du bleibst nicht in Tynewood?« fragte Mrs. Stedman.

 

»Mein Mann geht nach Südafrika zurück.«

 

»Und will dich allein zurücklassen? Das geht nicht.«

 

»Warum nicht? Ich regle meine häuslichen Angelegenheiten allein und ohne deine Hilfe.«

 

Die alte Frau begann zu weinen.

 

»Ja, ich sehe es schon«, sagte sie bitter. »Meine eigene Tochter wendet sich gegen mich – sie ergreift die Partei ihres Mannes!«

 

»Mach dich doch nicht lächerlich, Mutter. Er geht nach Südafrika zurück, und infolgedessen kann ich doch nicht im Schloß wohnen. Das stimmt doch, James?«

 

»Jim klingt viel besser«, meinte James Tynewood, der gerade hereingekommen war. »Nein, wir werden die nächsten Wochen und Monate nicht im Schloß wohnen. Übrigens habe ich meine Abreise nach Südafrika auf unbestimmte Zeit verschoben. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich noch eine Weile bei Ihnen bin, Mrs. Stedman?« Er sah sie nachdenklich an.

 

»Nein, im Gegenteil, ich freue mich.«

 

»Hast du an der Tür gelauscht?« fragte Marjorie, als ihre Mutter gegangen war.

 

»Natürlich!«

 

»Und du willst nicht nach Südafrika gehen?«

 

»Nein, ich bleibe hier – direkt hier im Hause.«

 

Beide schwiegen eine Weile.

 

»Wie lange dauert es, bis das Schloß eingerichtet ist?« fragte Marjorie schließlich.

 

»Oh, das dauert noch viele Wochen«, entgegnete er vergnügt. »Deine Mutter hat doch nichts dagegen, wenn ich hier wohne?«

 

»Nein. Sie fühlt sich höchstens sehr geehrt, daß ein Baron unter ihrem Dach wohnt. Aber ist es denn nicht sehr ungemütlich?«

 

»Ich fühle mich sehr wohl dort. Habe ich mich etwa schon einmal beklagt?«

 

»Hältst du es denn nicht für hübscher, wenn man einen elektrischen Kocher im Zimmer hat und sich Tee machen kann?« fragte sie verzweifelt.

 

Er lachte und zog sie am Ohr. »Ach ja, du hast so ein Gerät in deinem Zimmer. Also gut – wir wollen zusammen Tee kochen.«

 

 

Ende

 

Kapitel 29

 

29

 

Mrs. Stedman hatte gesagt, daß sie eine lange Spazierfahrt machen würde, und Marjorie war erstaunt, daß ihre Mutter schon nach kurzer Zeit in schlechter Stimmung zurückkam. Sie selbst saß mit Pretoria-Smith auf dem Rasen und trank Tee.

 

»Ich dachte nicht, daß du schon so bald wieder hier sein würdest«, sagte sie, während sie sich erhob und der alten Dame einen Stuhl holte.

 

»Das war auch gar nicht meine Absicht«, erwiderte Mrs. Stedman in weinerlichem Ton. »Ich wünschte nur, daß du mich nicht immer kontrolliertest, als ob ich eine Fabrikarbeiterin wäre. Ich kann es nicht leiden, wenn man mir nachspioniert.«

 

»Aber warum bist du denn so ärgerlich? Was ist denn geschehen?« fragte Marjorie lächelnd.

 

»Ich bin absolut nicht ärgerlich«, entgegnete ihre Mutter feindselig. »Wenn ich ein wenig aufgeregt bin, dann hoffe ich doch immer noch so viel Haltung zu besitzen, daß ich es andere Leute nicht merken lasse. Aber Alma ist sehr unvernünftig.«

 

»Warst du wieder bei den Tynewoods?«

 

»Ja, ich war bei ihnen«, erklärte Mrs. Stedman trotzig. »Ich gehe dahin, wohin ich will, Marjorie, und ich kann es nicht dulden, daß du mir ständig Vorhaltungen machst, obendrein noch in Gegenwart von Fremden.«

 

»Ich bin doch eigentlich kein Fremder mehr, Mrs. Stedman«, meinte Pretoria-Smith. »Ich gehöre jetzt auch zur Familie.«

 

»Ach, verzeihen Sie bitte, Mr. Smith«, erwiderte sie sehr höflich. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Sie nehmen ja viel mehr Rücksicht auf mich als Marjorie. Also, ich fuhr zu den Tynewoods, um Alma in einer Privatangelegenheit zu sprechen. Die Sache ist rein geschäftlich und hat gar nichts mit den Dingen zu tun, die Marjorie nicht liebt. Aber Alma war so aufgeregt, wie ich sie noch nie gesehen habe. Sie sagte mir, daß sie heute nachmittag nicht spielen wollte, daß sie eine große Entdeckung gemacht habe, und daß sie und Mr. Javot keine Zeit für mich hätten. Ich muß wirklich sagen, daß sich Alma zum erstenmal unhöflich gegen mich benommen hat.«

 

Marjorie sagte nichts. Sie wünschte nur, Alma Tynewood möchte sich so häßlich und abstoßend gegen Mrs. Stedman benehmen, daß diese nie wieder zu ihr ginge. Marjorie seufzte.

 

»Und was hat sie denn entdeckt?« fragte Pretoria-Smith. »Hat sie eine neue Methode gefunden, Farben aus dem Gesicht zu entfernen? Es ist nicht gut möglich, daß es sich um einen neuen Kartenschwindel handelt – zum Beispiel um den Trick, alle Asse zusammenzumischen –, denn Javot hat ihr diese Kunststücke schon vor vielen Jahren beigebracht.«

 

Mrs. Stedman sah ihn erstaunt an. »Alle Asse zusammenzumischen?« fragte sie ungläubig. »Das wäre doch Betrug!«

 

»Gewiß. Sogar ein sehr grober Betrug, den man leicht durchschauen könnte.«

 

»Das kann ich aber nicht von Alma glauben.« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Nein, Sie sind gegen Lady Tynewood voreingenommen, Mr. Smith.«

 

»Es steht bei Ihnen, es zu glauben oder nicht«, erwiderte er. »Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einmal zeigen, wie man das macht. Geben Sie mir Spielkarten, dann werde ich sie so verteilen, daß ich alle Asse und Könige bekomme.«

 

»Sie können das vielleicht, Mr. Smith«, erwiderte sie gereizt, »aber Alma hat wahrscheinlich nicht solche Übung wie Sie.«

 

»Mutter!« rief Marjorie vorwurfsvoll.

 

Pretoria-Smith lachte und sah die alte Frau sonderbar an.

 

»Warum ziehst du sie eigentlich immer auf?« fragte die junge Frau, nachdem Mrs. Stedman in ihr Zimmer gegangen war.

 

»Habe ich sie aufgezogen? Das tut mir leid«, sagte er bescheiden, aber er lachte dabei. »Du darfst mir aber glauben, Alma Trebizond ist eine gefährliche Betrügerin.«

 

»Ich verstehe wohl, warum du das sagst. Aber so schlimm, wie du sie machst, kann sie doch wohl nicht sein.«

 

»Verlaß dich darauf, daß sie beim Kartenspielen betrügt, wenn du es auch selbst nicht erlebt hast.« .

 

Sie schwieg.

 

Mrs. Stedman kam nach einiger Zeit etwas freundlicher zurück, aber ihre Gedanken beschäftigten sich immer noch mit Lady Tynewood. »Ich glaube, sie macht viel Lärm um nichts. Es muß allerdings ein großer Schock für sie gewesen sein – nach all diesen Jahren.«

 

»Was meinen Sie damit?« fragte Pretoria-Smith schnell.

 

»Sie hat ein Bild ihres Mannes bekommen. Die alte Haushälterin von Doktor Fordham hat es ihr gegeben. Es ist die einzige Fotografie, die Alma überhaupt jemals von ihm gesehen hat.«

 

Marjorie sah, wie ihr Mann entsetzt war.

 

»Was will sie denn damit machen?« fragte er heiser.

 

»Sie will sie in den Zeitungen veröffentlichen«, erklärte Mrs. Stedman. »Sie will eine Annonce einrücken und eine Belohnung für alle Nachrichten aussetzen, die sie über den jetzigen Aufenthalt von Sir James erhalten kann.«

 

»Das beabsichtigt sie?« fragte er und ging zum Hause, ohne sich zu entschuldigen.

 

Marjorie und ihre Mutter sahen einander erstaunt an.

 

*

 

Der Tag war allerdings sehr aufregend für Lady Tynewood. Mr. Javot, ihr angeblicher Sekretär, war den Anforderungen nicht gewachsen, die sie an ihn stellte. Er sollte die Texte der Annoncen aufsetzen, und als er darin versagte, übernahm sie diese Arbeit selbst. Sie wollte den Aufruf in allen größeren Zeitungen Londons und in Südafrika veröffentlichen.

 

Um zehn Uhr erhob sich Mr. Javot und gähnte.

 

»Ich kann heute nicht mehr arbeiten. Du wirst schon allein fertig werden; Alma.«

 

Sie nickte, ohne aufzusehen, und schrieb eifrig weiter.

 

»Das Foto kann ich in mein Zimmer mitnehmen«, meinte er. »Ich stehe morgen früher auf als du und bin dann auch leistungsfähiger.«

 

Sie zögerte einen Augenblick. »Gut«, erwiderte sie und reichte ihm das Bild über die Schulter.

 

Er betrachtete es und lachte. »Das Bild eines Idioten. Aber man soll ja nicht schlecht von den Toten sprechen.«

 

»Glaubst du denn, daß er tot ist?« fragte Alma.

 

»Ganz bestimmt. Er war kein Charakter, der schweigend leiden konnte und in der Verbannung blieb. Er war ein Schwächling, der sicher nach wenigen Monaten zurückgekommen wäre, um sich bei dir auszuweinen. Außerdem ist er doch das Oberhaupt einer Familie. Nimm, einmal an, er hätte sich von seinem Bruder einen Rat geben lassen und wäre unter dessen Einfluß ins Ausland gegangen. Soweit ich Sir James kenne, würde das nicht lange vorgehalten haben.«

 

Sie runzelte die Stirn. »Da hast du recht, Javot. Manchmal verrätst du tatsächlich etwas Intelligenz.«

 

»Danke für das Kompliment«, entgegnete er ironisch, »ich werde das Foto unter mein Kissen legen und darauf schlafen.«

 

Es war halb zwölf, als Lady Tynewood ihre Papiere zusammenlegte und anschließend in ihr Zimmer ging.

 

Sie war derselben Überzeugung wie Javot, aber dieser Verdacht mußte erst bewiesen werden, bevor sie das Erbe der Tynewoods antreten konnte.

 

Sie öffnete ihre Schmuckkassette, die auf ihrem Frisiertisch stand, erinnerte sich dann aber daran, daß sie Javot das Bild gegeben hatte. Kurze Zeit später war sie fest eingeschlafen.

 

Um drei Uhr wachte sie plötzlich auf, lauschte, legte sich dann auf die andere Seite und war eben wieder am Einschlafen, als sie aufs neue durch ein Geräusch aufgestört wurde. Sie setzte sich rasch im Bett auf und knipste den Lichtschalter an.

 

Der Mann, der neben ihrem Frisiertisch stand, wandte sich schnell um und hielt ihr einen Revolver entgegen.

 

»Schreien Sie nicht«, sagte er leise.

 

Sie warf einen Blick auf den Frisiertisch. Ihr Schmuckkasten war geöffnet – sie konnte das rote Futter des Deckels sehen. Der Einbrecher hielt eine kleine Taschenlampe in der Hand.

 

»Was wollen Sie hier?« fragte sie heiser. »Ich habe kein Geld im Hause, und meine Schmucksachen sind auf der Bank.«

 

Das Gesicht des Mannes konnte sie nicht sehen, denn die untere Hälfte war von einem rotseidenen Taschentuch bedeckt. Außerdem trug er einen Filzhut und einen langen Regenmantel.

 

Auf dem Gang kam jemand mit bloßen Füßen näher. Die Tür öffnete sich, und Javot steckte den Kopf herein.

 

»Sprichst du im Schlaf?« fragte er und schrak dann zusammen, als er den Fremden entdeckte.

 

»Hände hoch!«

 

Javot gehorchte sofort.

 

»Stellen Sie sich an die Wand, damit ich Sie sehen kann.«

 

Der Eindringling trug die Schmuckkassette zum Bett und suchte in den Papieren, die darin lagen.

 

»Drehen Sie beide das Gesicht fort. Sie brauchen nicht zu sehen, was ich hier mache.«

 

Alma hörte, wie ihre Schmuckstücke durcheinandergewühlt wurden und wie die Papiere raschelten. Als kurz darauf eine Tür knarrte, sah sie sich um. Der Mann war verschwunden.

 

»Laufe ihm sofort nach, Javot«, schrie sie.

 

»Das kannst du selbst tun, wenn du so begierig danach bist.«

 

»Du bist ein Feigling!«

 

»Es ist besser, ein lebendiger Feigling zu sein als ein toter Held.«

 

Sie legte die Schmuckstücke, die auf der Bettdecke verstreut waren, wieder in die Kassette zurück.

 

»Er hat nichts mitgenommen – meine Ringe sind alle da –«

 

Unten wurde leise die Haustür geschlossen.

 

»So, jetzt ist es Zeit. Jetzt kann ich die Verfolgung aufnehmen«, erklärte Mr. Javot.

 

Wenige Sekunden später hörte Alma ihn eifrig am Telefon sprechen.

 

Kapitel 3

 

3

 

»Du hast irgend etwas Aufregendes erlebt, mein Kind. Mit dir ist unbedingt etwas los. Noch niemals warst du derartig kurz angebunden zu mir«, beklagte sich Mrs. Stedman.

 

Die alte Dame hatte allerdings gewöhnlich an Personen und Dingen etwas auszusetzen, und Marjorie war an diese Schrullen schon gewöhnt. Sie saß ihrer Mutter beim Frühstück in ihrer kleinen Wohnung in Brixton gegenüber. Mrs. Stedman hatte zwar bei allen möglichen Gelegenheiten schon behauptet, daß sie früh sterben würde, aber sie hatte gerade wieder mit größtem Appetit ein reichliches Frühstück verzehrt. Jetzt lehnte sie sich in ihren Sessel zurück, beobachtete ihre Tochter über die Brille hinweg, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

 

»Du irrst dich, Mutter, ich habe gar nichts«, entgegnete Marjorie ruhig. »Ich gebe allerdings zu, daß ich gestern einen aufregenden Tag im Büro hatte und daß etwas Außergewöhnliches passiert ist.«

 

»Und doch willst du deiner eigenen Mutter nicht einmal erzählen, um was es sich handelt?« fragte Mrs. Stedman schon zum drittenmal. Sie konnte es nicht vertragen, wenn ihre Neugierde nicht befriedigt wurde.

 

»Verstehst du denn nicht, Mutter, daß diese Dinge strengste Geschäftsgeheimnisse sind?« erwiderte Marjorie nachsichtig. »Ich darf doch nicht darüber sprechen.«

 

»Aber bei deiner Mutter könntest du doch wohl eine Ausnahme machen«, erklärte die alte Dame gekränkt und schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe dich doch stets ins Vertrauen gezogen, Marjorie. Und ich habe dich auch immer gebeten, mit all deinen Sorgen und Nöten zu mir zu kommen. Eine Mutter ist immer die beste Freundin ihres Kindes.«

 

»Es handelt sich hier doch gar nicht um meine Sorgen«, entgegnete ihre Tochter lächelnd. Es sind die Sorgen anderer Leute, die mich im Grunde genommen ebensowenig etwas angehen wie dich.«

 

Mrs. Stedman seufzte tief und hörbar.

 

»Ich werde erst wieder richtig froh werden, wenn du nicht mehr in dieses schreckliche Büro gehst. Es ist nicht gut für ein junges Mädchen, wenn sie immer mit Verbrechen, Ehescheidungen und all diesen entsetzlichen Dingen zu tun hat, von denen man in der Zeitung liest.«

 

Marjorie legte die Hand auf die Schulter ihrer Mutter, als sie an ihrem Stuhl vorüberging.

 

»Wie oft habe ich dir schon erzählt, daß Mr. Vance nichts mit Verbrechen und Verbrechern zu tun hat. Es ist noch niemals ein Verbrecher in unserem Büro gewesen.«

 

»Sprich doch nicht immer von ›unserem Büro‹, Liebling«, ereiferte sich die alte Dame. »Das klingt so gewöhnlich, und ich möchte dich auch noch um eins bitten. Erwähne doch niemals, daß du einmal für Geld gearbeitet hast, wenn wir jetzt aufs Land ziehen und mit Leuten unseres Standes verkehren. Sollten die Leute erfahren, daß du einmal in Stellung warst –«

 

»Ach, Mutter, das ist doch Unsinn!« Marjorie verlor schließlich die Geduld. »Du glaubst doch nicht etwa, daß wir etwas Besseres geworden sind, nur weil Onkel Alfred uns jetzt so viel Geld schickt, damit wir ohne Sorgen auf dem Lande leben können? Meinst du vielleicht, heutzutage stößt man sich noch daran, daß ein junges Mädchen als Stenotypistin bei einem Rechtsanwalt tätig ist?«

 

»Du bist keine Stenotypistin, du bist eine Privatsekretärin«, verwahrte sich Mrs. Stedman energisch. »Ich bestehe darauf, daß du deine Stellung nicht schlechter machst, als sie in Wirklichkeit ist. Es ist ganz ausgeschlossen, daß du dich eine Stenotypistin nennen kannst, Liebling. Ich habe all meinen Freunden erzählt, daß du die Absicht hast, Jura zu studieren und vorläufig informatorisch bei einem Rechtsanwalt als Volontärin arbeitest.«

 

Marjorie seufzte resigniert.

 

»Um Himmels willen!« sagte sie dann entsetzt.

 

»Du darfst unsere jetzige Lebensweise nicht mit unserer Haushaltung im nächsten Monat vergleichen«, fuhr Mrs. Stedman selbstbewußt und befriedigt fort. »In einem Jahr, wenn dein Onkel noch reicher geworden ist, kaufen wir das schöne Haus zurück, in dem ich geboren bin. Ich habe dir ja schon so viel von unserem Familiensitz erzählt.«

 

Marjorie wußte nur zu gut, daß der Familiensitz aus dreieinhalb Morgen Ackerland und einem Garten bestand. Früher hatte sie eine Reise nach Tynewood gemacht –

 

Tynewood! Das mußte doch derselbe Ort sein, wo das Schloß von Sir James lag! Sie war gespannt, ob ihre Vermutung stimmte, und nahm sich vor, Mr. Vance bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen.

 

Als sie zur Stadt fuhr, dachte sie wieder an die Erlebnisse des vergangenen Abends. Welche Gewalt mochte Pretoria-Smith über Sir James Tynewood haben? Niemals würde sie vergessen, wie totenbleich der Baron wurde, als er den Mann in dem abgetragenen grauen Anzug sah. Wie entgeistert hatte er den anderen betrachtet, und welche Verachtung lag in den Blicken von Pretoria-Smith! Wußte er von einem Vergehen des jungen Mannes, das ihm Macht über diesen gab? Wollte er ihn vielleicht erpressen?

 

Aber das konnte sie sich kaum vorstellen. Der Gesichtsausdruck dieses Fremden war zu offen und aufrichtig. Niemals würde er eine solche Schurkerei begehen. Sie hatte die Gabe, den Charakter der Menschen von ihren Gesichtszügen abzulesen, und wenn sie jemals Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit in den Augen eines Mannes gesehen hatte, so hatte sie diese Eigenschaften bei Pretoria-Smith entdeckt.

 

Sie kam eine halbe Stunde früher ins Büro als sonst, denn sie wollte unbedingt zugegen sein, wenn Mr. Vance von außerhalb anrufen würde. Aber sein Anruf kam erst gegen elf.

 

Sie erzählte ihm von dem seltsamen Besuch, den sie am Abend vorher erhalten hatte.

 

»Was, Mr. Smith von Pretoria war da?« fragte er aufgeregt. »Ich hatte ihn erst in einer Woche erwartet. Ich komme sofort in die Stadt.«

 

»Er hat aber keine Adresse hinterlassen.«

 

»Das macht nichts. Ich weiß, wo ich ihn erreichen kann. Hat er etwas gesagt?«

 

»Nein.«

 

Sie berichtete ihm dann noch von dem merkwürdigen Zusammentreffen des Fremden mit Sir James.

 

»Die beiden haben sich in unserem Büro getroffen? Was ist denn passiert?« fragte er ängstlich.

 

»Nichts weiter. Nur sah Sir James sehr niedergeschlagen und verstört aus und ging gleich darauf.«

 

Eine lange Pause folgte, und Marjorie glaubte schon, daß Mr. Vance aufgehängt hatte. Aber plötzlich hörte sie seine Stimme wieder.

 

»Ich komme mit dem Zug elf Uhr fünfundvierzig und bin kurz vor eins im Büro. Sehen Sie zu, daß Sie bald zu Tisch gehen, Miss Stedman. Haben Sie übrigens die Morgenzeitungen schon gelesen?«

 

»Nein«, erwiderte sie etwas überrascht. »Gibt es eine besondere Neuigkeit?«

 

»Sir James Tynewood hat sich mit der bekannten Schauspielerin Alma Trebizond verheiratet«, entgegnete er grimmig. »Das wird noch böse Schwierigkeiten in der Familie geben!«

 

Marjorie war erstaunt, aber sie sollte an diesem Tag noch mehr merkwürdige Dinge erleben.

 

Im Lauf des Morgens kam ein etwas behäbiger und gutmütig aussehender Herr von offenbar mosaischer Konfession ins Büro. Mr. Vance ließ neue Klienten gewöhnlich von seinem Bürovorsteher empfangen. Da sich Mr. Herman aber auch auf einem Erholungsurlaub befand, fiel Marjorie diese Aufgabe zu.

 

»Sind Sie die Privatsekretärin von Mr. Vance?« fragte der Fremde vertraulich. »Können Sie es nicht möglich machen, daß ich Ihren Chef heute noch spreche?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Mr. Vance kommt allerdings in einer sehr dringenden Angelegenheit in die Stadt, aber ich glaube nicht, daß er die Absicht hat, sich außerdem noch mit geschäftlichen Dingen zu befassen. Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?«

 

Er legte seinen Hut sorgfältig auf den Tisch, nahm eine große Brieftasche heraus und zog ein Schriftstück daraus hervor.

 

»Es ist kein Geheimnis. Ich muß Mr. Vance noch irgendwann vor Montag sehen, und wenn das nicht möglich sein sollte, möchte ich Sie bitten, ihm auszurichten, daß Mr. Hawkes von der Finanzfirma Hawkes and Ferguson wegen der Schulden von Sir James Tynewood vorgesprochen hat.«

 

»Kommen Sie, weil der Baron Schulden gemacht hat?« fragte sie erstaunt.

 

Er nickte.

 

»Der junge Herr schuldet mir fünfundzwanzigtausend Pfund. Die hat er sich auf Schuldscheine so allmählich zusammengeborgt. Ich bin jetzt aber ein wenig ängstlich geworden. Wenn Wechsel fällig sind, gibt er mir neue und borgt immer noch mehr dazu. Und ich möchte doch erst einmal mit Mr. Vance sprechen, bevor ich ihm überhaupt noch weitere Gelder vorstrecke.«

 

»Aber Sir James ist sehr reich!«

 

»Gewiß – und ich bin sehr arm«, erklärte Mr. Hawkes mit einem breiten Grinsen. »Vor allem möchte ich etwas von meinem Geld wiedersehen.«

 

»Haben Sie schon mal mit Mr. Vance darüber gesprochen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Sir James hat mich gebeten, nicht zu seinem Rechtsanwalt zu gehen. Aber ich muß sagen, daß die Affäre jetzt doch etwas zu weit gediehen ist. Ich bin ein Geschäftsmann und habe keinen Respekt vor Titeln. Ganz offen gesagt, ich bin ein Demokrat. Bis jetzt bin ich seinem Wunsch auch nachgekommen, aber nun geht es nicht mehr anders. Ich muß wenigstens einmal eine Abschlagszahlung bekommen. Als Geldverleiher kenne ich natürlich auch meine Kollegen, und von denen habe ich erfahren, daß Sir James nicht nur von mir Geld geliehen hat, sondern auch von Crewe and Jacobsen, von Bedsons Limited und von einem halben Dutzend anderer Firmen. Ich weiß ganz genau, daß er in den Lokalen im Westen dauernd flott und verschwenderisch auftritt, obwohl er bis über die Ohren in Schulden steckt. Der Autofirma in Bond Street schuldet er noch dreitausend Pfund für den Wagen, den er Miss Alma Trebizond geschenkt hat. Als ich heute morgen seine Vermählungsanzeige in der Zeitung las, sagte ich zu mir: ›Jetzt ist es Zeit, dich einmal nach deinem Geld umzusehen.‹ Wenn einer Geld zum Heiraten hat, dann hat er auch Geld, um seine Schulden zu bezahlen.«

 

Er lachte über diesen faden Witz und neigte sich vertraulich zu Marjorie.

 

»Sehen Sie, ich bin ein Kaufmann. Sie stehen ja wohl mit beiden Beinen auf der Erde und werden mich verstehen. Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich wegen meines Geldes etwas ängstlich geworden bin. Und wenn Sie es bei Mr. Vance durchdrücken können, daß meine Forderung zuerst berücksichtigt wird, zahle ich Ihnen eine anständige Provision.«

 

»Da täuschen Sie sich in mir. Ich habe nicht die Gewohnheit, auf solche Weise Geld zu verdienen«, entgegnete sie kühl. »Und ich möchte auch nicht mit Ihnen über derartige persönliche Angelegenheiten sprechen. Ich bin zwar die Privatsekretärin von Mr. Vance, aber ich glaube, er würde sehr ärgerlich werden, wenn er erführe, daß Sie mich so weit in Ihr Vertrauen gezogen haben.«

 

Damit endete die Unterredung zwischen Marjorie und dem Inhaber der Firma Hawkes and Ferguson.

 

Als der Rechtsanwalt ins Büro kam, berichtete sie ihm davon, und er wurde sehr ernst.

 

»Ich habe schon lange vermutet, daß der junge Mann in die Hände von Halsabschneidern gefallen ist. Schicken Sie Mr. Herman ein Telegramm, daß er ins Büro kommen soll. Ich möchte Sie nicht weiter mit der Sache belästigen, aber Mr. Herman muß sofort bei all den Geldverleihern, die Sie mir genannt haben, herumfahren und feststellen, wieviel Schulden dieser leichtsinnige Windhund überall gemacht hat.«

 

»Aber ist Sir James denn nicht sehr reich?«

 

»Ja, sehr«, entgegnete er kurz.

 

Es war Sonnabend nachmittag, aber im Büro von Mr. Vance herrschte Hochbetrieb. Leute kamen und gingen, und Mr. Herman fuhr in einem Taxi bei den Finanzleuten herum, denen Sir James möglicherweise etwas schulden konnte. Er traf am Wochenende allerdings nicht alle in ihren Wohnungen an.

 

Kapitel 25

 

25

 

»Mein Mann hat sich nun wieder vollständig von dem Anfall erholt. Er hat schwer an Malaria gelitten, seitdem er nach Europa kam, und leider war wohl hauptsächlich mein Verhalten dran schuld, daß man seinen Zustand ganz anders beurteilte und ihn für einen Trinker ansah. Ich habe selbstverständlich an Lord Wadham und auch an den Prinzen geschrieben, um sie über den wahren Grund jenes Vorfalls aufzuklären. Mein Mann möchte im Gasthaus von Tynewood logieren, aber das ist natürlich unmöglich …« Hier unterbrach sich Mrs. Stedman mit der Entschuldigung, daß sich der weitere Inhalt des Briefes nicht zum Vorlesen eigne.

 

Alma Tynewood konnte jedoch sehr gut sehen und entdeckte weiter unten ihren eigenen Namen.

 

»Ja, das ist alles, meine Liebe«, sagte Mrs. Stedman, faltete das Blatt hastig zusammen und legte es in ihre Schreibmappe.

 

»Dann kommt das glückliche junge Paar also nach Hause zurück, und er ist kein Trinker? Wenigstens sagt seine liebe Frau so«, erwiderte Alma nachdenklich. »Es ist wirklich rührend.«

 

»Ich hoffe, mein Kind wird glücklich«, seufzte Mrs. Stedman.

 

»Glücklich?« fragte Lady Tynewood belustigt und lachte ironisch. »Diese Art Leute kann doch eine Frau nicht glücklich machen! Und ich bin noch gar nicht davon überzeugt, daß Marjorie –« Sie vollendete den Satz nicht. »Nun, das werden wir ja noch alles sehen. Ich möchte gern freundschaftlich mit Ihrer Tochter verkehren, wenn sie mir nur halbwegs entgegenkommt.«

 

Alma legte jetzt tatsächlich Wert darauf, mit Marjorie gut zu stehen, denn der Reichtum dieser jungen Frau war ein unerschöpfliches Reservoir für sie, wenn Mrs. Stedmans Spielleidenschaft nicht nachließ.

 

»Marjorie ist ein gutes Mädchen«, sagte die alte Frau.

 

Lady Tynewood schaute interessiert in ihre Teetasse.

 

»Ist sie nicht früher einmal in Stellung gewesen?« fragte sie.

 

Mrs. Stedman erschrak. »O ja«, erwiderte sie zögernd. »Es ging uns nicht immer so gut wie jetzt. Bevor mein Schwager das Geld zurückzahlte, das er früher einmal von meinem Mann geborgt hatte, mußten wir uns sehr einschränken.«

 

Sie erzählte anderen Leuten mit Vorliebe, daß Mr. Alfred Stedman ihr das Geld nicht schenkte, sondern eine alte Schuld beglich, und daß ihr Mann in vergangenen Zeiten seinem Bruder viel Geld geliehen hatte.

 

»Ja, Lady Tynewood, wir haben schlechte Zeiten durchgemacht, weil Mr. Stedman das Geld nicht zurückzahlte. Marjorie war eine Zeitlang bei Rechtsanwalt Vance beschäftigt – eine sehr alte, angesehene Firma. Mr. Vance war früher auch der Anwalt meines Mannes, und er kümmerte sich sehr um Marjorie. Natürlich hatte sie eine Sonderstellung und war von der gewöhnlichen Tätigkeit einer Stenotypistin befreit.«

 

»Zum Beispiel mußte sie keine Botengänge machen«, warf Lady Tynewood dazwischen.

 

»Um Himmels willen, nein!« sagte Mrs. Stedman entrüstet. »Mr. Vance war sehr traurig, als sie ihm kündigte, aber ich freute mich, daß sie gehen konnte. Denken Sie, zwei Nächte hintereinander kam sie einmal sehr spät nach Hause, war bleich und zitterte am ganzen Körper. Ich glaubte schon, daß ich den Arzt holen müßte. Ganz zuletzt noch wurde sie in einer wichtigen Angelegenheit von Mr. Vance auf das Land geschickt, und als sie heimkam, brach sie vollständig zusammen. Ich kann mich noch gut auf den Abend besinnen. Am selben Tag erhielt ich einen großen Scheck von meinem Schwager.«

 

»Ach, hat er damals die große Goldmine entdeckt?«

 

»O nein, meine Liebe, die hat er erst viele Monate später gefunden«, erklärte Mrs. Stedman. »Er hatte erst eine kleine Ader entdeckt, die aber schließlich zu der großen Mine führte.«

 

Die alte Frau hatte keine Ahnung von Goldminen, aber sie wußte doch so viel, daß sie Lady Tynewood wenigstens das auseinandersetzen konnte.

 

»Hat Ihnen Ihre Tochter später einmal erzählt, was sie an jenem Abend gesehen hat oder was sie an den beiden Tagen überhaupt erfuhr?« fragte Alma gleichgültig.

 

»Marjorie sagt mir niemals, was sie erlebt. Sie ist in der Beziehung furchtbar schweigsam.«

 

Alma dachte schnell nach.

 

»War Mr. Vance sehr gut mit ihr befreundet?«

 

»Das kann ich wohl sagen. Sie müssen bedenken, daß sie doch die Tochter eines alten Klienten war.«

 

»Hat er noch Briefe mit ihr gewechselt, nachdem sie nicht mehr bei ihm tätig war?«

 

Die alte Frau schaute erstaunt auf.

 

»Das ist aber eine sonderbare Frage. Warum interessieren Sie sich denn so sehr für diese Einzelheiten?«

 

Lady Tynewood lachte.

 

»Ich möchte eben gern wissen, welche Beziehungen zwischen einem Chef und seiner früheren Privatsekretärin bestanden, nachdem sie nicht mehr zusammenarbeiteten.«

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie gerade diese Frage stellen«, sagte Mrs. Stedman langsam. »Ich hatte nämlich immer den Eindruck, daß Mr. Vance und Marjorie ein Geheimnis miteinander haben. Natürlich kam es überhaupt nicht in Frage«, sagte sie mit ehrbarer Miene, »daß sich Mr. Vance in Marjorie verliebt hätte, denn er hat eine Frau und sechs Kinder. Nein, diese Möglichkeit war vollkommen ausgeschlossen.«

 

Alma hatte eine größere Lebenserfahrung und hielt, das durchaus nicht für vollkommen ausgeschlossen. Sie war aber bereit, Mrs. Stedman in diesem besonderen Fall zu glauben.

 

»Ich weiß, daß Marjorie manchmal sehr bekümmert und aufgeregt war«, erzählte die alte Frau weiter. »Als ich einmal eine ganz harmlose Bemerkung machte, wurde sie plötzlich kreidebleich.«

 

»Was für eine harmlose Bemerkung war denn das?«

 

»Lassen Sie mich einmal nachdenken.« Mrs. Stedman runzelte die Stirn. »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich erwähnte nur, daß die frühere Wirtschafterin von Doktor Fordham am anderen Ende des Dorfes ein Haus gemietet hat.«

 

»Wer ist Doktor Fordham?«

 

»Ich kenne ihn überhaupt nicht, aber er muß vor einiger Zeit hier im Ort gewohnt haben. Nach seinem Tod ist seine Haushälterin hier geblieben. Ich glaube, Sir James hat ihr das Haus überlassen. Aber Sie müßten doch eigentlich etwas von der Sache wissen.«

 

»Ich weiß nicht das geringste davon. Aber wo liegt denn dieses Haus? Wohnt die Frau jetzt auch noch dort?«

 

Mrs. Stedman nickte.

 

»Ich fragte Marjorie, warum sie sich so sehr für Doktor Fordham interessierte, aber sie ging überhaupt nicht darauf ein, sondern sprach sofort von anderen Dingen.«

 

»Wie heißt die Haushälterin von Doktor Fordham?«

 

»Es ist eine gewisse Mrs. Smith«, sagte die alte Frau ungeduldig. »Aber heute sind Sie furchtbar neugierig. Diese Wirtschafterin kann Sie doch unmöglich interessieren. Ach so«, entschuldigte sie sich dann plötzlich, »das Haus gehört ja Sir James. Jetzt verstehe ich –«

 

Lady Tynewood erhob sich und verabschiedete sich bald darauf.

 

Sie fand Mr. Javot bei einem Spaziergang im Garten und erzählte ihm kurz, was sie von Mrs. Stedman erfahren hatte.

 

»Kümmere dich lieber nicht darum«, warnte er.

 

»Bist du verrückt?« fragte sie ärgerlich. »Siehst du denn nicht ein, was es für mich und für dich bedeutet, wenn James tot ist?«

 

Er kratzte sich das Kinn.

 

»Ich sehe eine Menge unangenehmer Folgen, die deine alberne Neugierde haben kann. Du scheinst überhaupt nicht mehr klar denken zu können.«

 

Sie hatte sich auf eine Gartenbank gesetzt. »Wenn James tot ist«, sagte sie langsam, »gehört alles mir, das Schloß und die vielen Güter. Und wenn er so starb, wie ich annehme, soll dieser gemeine Pretoria-Smith seiner Strafe nicht entgehen.«

 

»Kümmere dich bloß nicht um diese Dinge«, wiederholte der friedliebende Javot. »Du hast hier einen schönen Wohnsitz und ein bequemes Leben. Du brauchst doch nur Ruhe zu halten und dich deines Daseins zu freuen.«

 

»Nennst du das hier vielleicht ein Leben?« fuhr sie ihn wütend an. »Ich bin hier für die ganze Welt begraben und sitze in einem kleinen Nest auf dem Lande, wo ich Schweine und Enten großziehen kann! Ich habe den Aufenthalt hier gründlich satt, Javot. Ich will nach London zurück, aber dazu brauche ich viel Geld. Ich muß ein Haus in der Stadt haben und mehrere Autos. Außerdem möchte ich große Gesellschaften geben wie früher.«

 

»Du kannst doch jetzt schon wieder hingehen und dir dort eine kleine Wohnung mieten –«

 

»Was, eine kleine Wohnung?« brauste sie auf. »Meinst du, ich würde mich vor meinen Freundinnen blamieren, vor Mollie Sinclair und Millie Vane? Ich möchte ihre Gesichter sehen, wenn ich nach London zurückkäme und nicht standesgemäß auftreten könnte! Glaubst du, ich bleibe in diesem elenden Dorf, weil mir das Landleben Spaß macht? Nein, ich halte es nur aus, weil ich in London nicht repräsentieren kann, wie ich es als Lady Tynewood tun müßte. Weil ich nicht das Geld habe, das mir zusteht! Vor ein paar Tagen habe ich noch einen Brief von Mollie erhalten. Sie fragt mich, warum ich sie nicht einmal nach Schloß Tynewood einlade. Natürlich ahnt sie nicht, wie die Verhältnisse in Wirklichkeit liegen. Nein, ohne Geld gehe ich auf keinen Fall nach London zurück. Ich bin doch keine Idiotin!«

 

»Wenn du dich nicht ruhig verhältst, wirst du dich auch noch in Tynewood unmöglich machen.«

 

Sie sprang empört auf und ging fort.

 

Er lächelte und nahm ein welkes Blatt von einer Rose ab.

 

»Ja, so ist das Leben«, sagte er und gähnte.

 

Kapitel 26

 

26

 

Die Rückreise von der See war viel angenehmer und interessanter für Marjorie als die Hinfahrt. Pretoria-Smith war jetzt gut gekleidet und sah gepflegt aus.

 

Marjorie Smith war nicht gerade sehr glücklich, aber sie hatte ihre Ruhe wiedererlangt. Sie vertraute ihrem Mann, und sie glaubte ihm, und Glauben und Vertrauen sind der beste Ersatz für Liebe zwischen Eheleuten.

 

»Ich bin so froh, daß du nun bei uns im Hause wohnen willst«, sagte sie plötzlich nach einem längeren Schweigen. »Mit der Mutter kann man ja manchmal schwer fertig werden. Aber im Grunde ihres Herzens ist sie eine wirklich gute Frau, wenn sie auch ab und zu eine taktlose Bemerkung macht.«

 

»Ja, ich weiß es.«

 

»Und dann verkehrt bei uns diese Lady Tynewood. Sie besucht die Mutter fast jeden Tag. Hoffentlich stört sie dich nicht.« Es war Marjorie peinlich, daß sie das erwähnen mußte.

 

Er lächelte leicht.

 

»Es tut mir leid, daß ich mich an dem Vormittag damals nicht beherrschte und so heftig gegen sie wurde. Aber gerade an dem Morgen hatte ich entsetzliche Kopfschmerzen. Ich habe mich übrigens bei Lady Tynewood schriftlich entschuldigt.«

 

»Du hast ihr geschrieben?« fragte sie erstaunt und legte die Hand auf die seine. »Das war sehr lieb von dir. Ich kann diese Frau ebensowenig leiden wie du, aber meine Mutter betrachtet sie als Freundin, weil sie sonst nur wenig Bekannte hat.«

 

»Ich verspreche dir, daß ich Lady Tynewood gegenüber sehr höflich sein werde«, erklärte er mit Nachdruck.

 

Schließlich hielt der Wagen vor dem Haus von Mrs. Stedman. Marjories Mutter empfing das junge Paar mit Wohlwollen.

 

»Ich habe eure Zimmer richten lassen. Es wäre doch zu schrecklich gewesen, wenn Mr. Smith in dem kleinen Fremdenzimmer auf der anderen Seite des Hauses hätte wohnen sollen.« Sie klopfte ihrer Tochter freundlich auf die Wange. »Ich habe Mr. Smith deshalb mein Zimmer gegeben. Es hat außerdem den Vorteil, daß es direkt neben dem deinen liegt.«

 

»Aber Mutter, du bist doch nicht etwa unsertwegen ausgezogen?« rief Marjorie bestürzt.

 

»Kein Opfer ist mir zu groß für meine Tochter«, entgegnete Mrs. Stedman lächelnd.

 

»Du gehst sofort in dein Zimmer zurück«, erklärte die junge Frau entschieden. »Ich kann nicht gestatten, daß du dir Unannehmlichkeiten machst. Mein Mann ist auch mit dem Fremdenzimmer zufrieden.«

 

»Ich würde am liebsten in dem Raum über dem Stall schlafen, Mrs. Stedman.«

 

Marjorie sah ihn bittend und schließlich ärgerlich an.

 

»Mir genügt ein Strohsack oder ein Feldbett in. einer Scheune, wo die großen Spinnen und Käfer herumkrabbeln.«

 

Die alte Frau sah ihn erstaunt an. Pretoria-Smith war doch früher ein so ruhiger, schweigsamer Mann gewesen!

 

»Ich gehe nicht wieder in mein Zimmer zurück«, sagte sie bestimmt. »Das Fremdenzimmer ist ein wenig feucht – und dein Mann darf nicht darin schlafen.«

 

»Aber Mutter –«, begann Marjorie.

 

»Dein Zimmer ist ja allerdings sehr groß, und als ich jung verheiratet war, schliefen Eheleute überhaupt nicht in zwei verschiedenen Zimmern. Ein großes, gemeinsames Schlafzimmer und ein Ankleideraum. Aber heutzutage –«

 

Smith kam Marjorie zu Hilfe.

 

»Mrs. Stedman«, sagte er düster, »entweder nehmen Sie Ihr Zimmer wieder und lassen mich im Fremdenzimmer schlafen, oder ich gehe ins Gasthaus. Bedenken Sie aber, was die Leute sagen werden, wenn wir uns nach so kurzer Ehe schon wieder trennen wollen.«

 

Dieser Grund war ausschlaggebend. Mrs. Stedman war zwar noch nicht ganz zufrieden, aber sie fügte sich doch.

 

»Du hast mich heute nicht gerade sehr unterstützt«, meinte Marjorie, als sie ihn später allein im Wohnzimmer traf.

 

»Was, ich hätte dich nicht unterstützt?« fragte er entrüstet. »Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wären die Gewohnheiten früherer Zeiten wieder aufgelebt, allerdings ohne Ankleidezimmer.«

 

»Du bist doch ein merkwürdiger Mann. Aber wir werden ja nicht lange hier sein. Sagtest du nicht etwas davon, daß wir nach London gehen würden?«

 

»Ja, ich gehe nach London. Ich muß noch viele Einkäufe machen, bevor ich zurückfahre.«

 

»Zurück – nach Südafrika? Wann willst du denn reisen?«

 

»Nächsten Sonnabend in einer Woche.«

 

Beide schwiegen eine Weile.

 

»Du hast mir aber gar nicht gesagt, daß du schon so bald fahren willst.«

 

»Diese gute Nachricht habe ich als eine Überraschung für dich aufbewahrt.«

 

Wieder trat eine längere Pause ein.

 

»Also, nächsten Sonnabend in einer Woche«, sagte Marjorie halb zu sich selbst. »Wie lange wirst du denn fortbleiben?«

 

»Es können vier Jahre werden – vielleicht bleibe ich auch für immer dort.«

 

»Dann muß ich –«, sie vollendete den Satz nicht.

 

»Du wirst eine liebe, vernünftige Frau sein«, sagte er ruhig, »bis ich deinen Onkel davon überzeugen kann, daß diese ganze Heirat lächerlich und überflüssig war.«

 

»Und was soll dann werden?«

 

»Nun, dann kannst du dich von mir scheiden lassen. Es ist mir zwar nicht ganz recht, und es ist auch peinlich, daß du diese Unannehmlichkeit auf dich nehmen mußt, aber wenn ich keinen Einspruch erhebe, bekommst du ein günstiges Urteil, und die Öffentlichkeit erfährt wenig davon.«

 

»Willst du mir denn Grund zur Ehescheidung geben?«

 

Er nickte.

 

»Das ist ja entsetzlich! Aber ich will mich doch gar nicht scheiden lassen, ich wüßte niemanden, den ich heiraten sollte. Aber vielleicht willst du eine andere Frau heiraten?« fragte sie.

 

»Das ist wohl kaum anzunehmen.«

 

Sie ging zu der Tür, öffnete sie und trat in den Garten hinaus.

 

Sie hatte das merkwürdige Gefühl, daß sie etwas verloren hatte, und versuchte, sich darüber klarzuwerden., Eine Weile sträubte sie sich gegen die Erkenntnis, aber dann gestand sie sich den Grund ein. Sie hatte Pretoria-Smith gern, und er wollte sie verlassen. Er war so freundlich und so liebenswürdig zu ihr gewesen.

 

Nach einiger Zeit folgte er ihr und ging neben ihr her.

 

»Vom nächsten Donnerstag ab werde ich dich also nicht wiedersehen, bis du zurückkömmst, um mir Lebewohl zu sagen?«

 

»Ist das denn notwendig?« erwiderte er und steckte sich eine Zigarette an.

 

»Wenn du nicht gern kommen möchtest, brauchst du es natürlich nicht zu tun. Notwendig ist es nicht, und ich glaube auch, daß du sehr viel zu tun haben wirst.«

 

»Ich komme, wenn es dir lieb ist.«

 

Sie erwiderte nichts darauf.

 

Das Leben hatte plötzlich an Reiz und Farbe für sie verloren.

 

»Bevor du gehst, muß ich dir aber noch etwas erzählen«, sagte sie.

 

Er sah sie scharf an. »Hast du einen anderen Mann lieb?«

 

»Gibt es denn jemanden, den ich lieb habe?« fragte sie ihn.

 

Er wurde verlegen.

 

»Das meinte ich auch«, entgegnete, er etwas steif. »Wir haben uns niemals Illusionen darüber gemacht, daß wir höchstens gute Freunde sein können. Wir haben uns eben nur geheiratet, um die Laune des alten Stedman zu erfüllen.«

 

»Setz dich bitte hierher.«

 

Sie ließen sich auf einer Bank nieder, und Marjorie sprach von Dingen, die sie noch niemandem erzählt hatte.

 

»Es handelt sich um Sir James Tynewood. Ich weiß, daß er tot ist, und ich weiß auch, daß du bei ihm warst, als er starb.«

 

Kapitel 27

 

27

 

Pretoria-Smith schwieg eine Weile und steckte sich eine neue Zigarette an. »Sir James Tynewood ist tot«, sagte er dann langsam, »und es stimmt, daß ich davon weiß. Ich kenne auch die Frau, die ihn ums Leben gebracht hat.«

 

Sie wußte nicht, wie sie nun fortfahren sollte. Er bemerkte es und wandte sich freundlich, ja liebevoll zu ihr.

 

»Aber ich wollte dich nicht stören. Erzähle mir nur deine Geschichte.«

 

»Bevor Onkel Stedman uns half, ging es uns schlecht, und ich hatte eine Stellung als Privatsekretärin bei Mr. George Vance. Er war ein Freund meines Vaters und tat viel für mich. Ich hatte alle vertraulichen Angelegenheiten der Firma zu erledigen, und ich empfing auch dich, als du damals von Südafrika zurückkehrtest. Kannst du dich noch auf mich besinnen?«

 

»O ja, sehr gut.«

 

»An dem Tag, an dem du zurückkamst, rief er mich zu sich und übergab mir einen Brief, den er selbst geschrieben haben mußte. Er war an Sir James Tynewood adressiert.

 

›Miss Stedman‹, sagte er, ›ich tue es zwar ungern, aber in diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig. Besorgen Sie diesen Brief persönlich. Sie sind die einzige, auf die ich mich in dieser Angelegenheit verlassen kann.‹ Er erklärte mir auch, daß die Wohnung der Schauspielerin Alma Trebizond gehöre, einer sehr lebenslustigen jungen Dame. ›Sie treffen Sir James dort. Übergeben Sie ihm das Schreiben und bringen Sie mir eine Antwort. Was Sie dort sehen und hören, müssen Sie aber als striktes Geschäftsgeheimnis betrachten.‹

 

Ich hatte früher noch nie einen solchen Auftrag erhalten und war sehr gespannt, was ich erleben würde. Als ich bei der Wohnung ankam, war es schon dunkel geworden. Schon bevor ich klingelte, konnte ich die lärmende Gesellschaft hören, und es dauerte einige Zeit, bis mir jemand aufmachte. Endlich wurde ich hineingeführt, und Sir James trat auf mich zu.

 

Ich sagte ihm, daß ich von Rechtsanwalt Vance käme. Er fluchte, als ich ihm den Brief übergab, riß ihn auf und las ihn.

 

Er hatte zuviel getrunken und brüllte mir schließlich zu, ich könnte Mr. Vance bestellen, daß er sich zum Teufel scheren sollte. Damals sah ich auch Alma Trebizond zum erstenmal.

 

Als ich zu Mr. Vance zurückkam, berichtete ich ihm alles.«

 

»Was sagte er denn dazu?«

 

»Er war sehr aufgeregt und bat mich noch einmal dringend, über alles zu schweigen.«

 

»Und am selben Abend kam ich noch zum Büro. Was geschah denn am Tage darauf?«

 

»Am Nachmittag schickte mich Mr. Vance wieder mit einem Brief zu Doktor Fordham. Er war ein Freund von Sir James.«

 

Sie erzählte ihm nun alle weiteren Einzelheiten ihrer Fahrt bis zu dem dramatischen Ende.

 

»Es war schon sehr spät, als ich wieder in London ankam«, schloß sie, »aber Mr. Vance erwartete mich noch auf dem Bahnsteig. Als ich ihm alles mitgeteilt hatte, erklärte er entschieden, daß Sir James nicht tot sei. Und dann ersuchte er mich noch einmal, nie mit einem Menschen über die Tragödie zu sprechen. Und ich habe bis heute mein Wort gehalten.«

 

Pretoria-Smith stand langsam auf, warf die Zigarette fort.

 

»Du glaubst also, daß ich Sir James umgebracht habe?«

 

»Nein, jetzt nicht mehr«, erwiderte sie bestimmt. »Als ich natürlich in den Zeitungen las, daß Sir James ins Ausland gegangen und sein jüngerer Bruder an Typhus gestorben sei, wußte ich, daß Doktor Fordham einen falschen Totenschein ausgestellt hatte. Sir James hatte keinen Bruder.«

 

»Halbbruder. Aber wie hast du dir denn die Vorgänge erklärt?« fragte er. »Welche Lösung hast du gefunden?«

 

»Keine befriedigende. Vielleicht hat sich Sir James selbst erschossen, und sein Bruder ist ins Ausland gegangen, um den Skandal für die Familie abzuwenden. Man hat dann Sir James unter dem Namen seines Bruders begraben.«

 

Er überlegte einen Augenblick. »Hast du auch daran gedacht, daß der Bruder jeden Tag auftauchen und das Familienerbe für sich in Anspruch nehmen könnte?«

 

»Das könnte er doch wohl nicht. Er war nur ein Halbbruder. Ich dachte, die ganze Angelegenheit sollte in Vergessenheit geraten und das Familienerbe mit der Zeit –« Marjorie sprach nicht weiter.

 

»An Lady Tynewood fallen?« ergänzte er. »Das ist nicht wahrscheinlich. Aber wer ist dieser Halbbruder?«

 

Sie sah schnell zu ihm auf. »Wenn überhaupt ein Halbbruder lebt, dann bist du es«, sagte sie.

 

Er nickte. »Du kannst tatsächlich logisch und scharf denken.«.

 

Kapitel 28

 

28

 

Lady Tynewood gehörte zu den ruhelosen, unermüdlichen Naturen, die sich nie mit ihrer Lage zufriedengeben.

 

Am dem Tag, an dem Pretoria-Smith und seine junge Frau zurückkehrten, fuhr sie ins Dorf und besuchte Mrs. Smith, die frühere Haushälterin Dr. Fordhams.

 

Die alte Frau lebte in einem hübschen Häuschen, das etwas abseits von der Straße lag. Sie saß am Fenster in der Sonne, als Lady Tynewood an die Tür klopfte.

 

Sie öffnete und machte eine höfliche Verbeugung. Alma beobachtete sie, ob sie Widerwillen oder Feindseligkeiten zeigte, aber die Frau machte einen freundlichen und offenen Eindruck. Dr. Fordham hatte sie also nicht ins Vertrauen gezogen, und sie wußte nichts, was sie gegen diese Frau einnehmen konnte.

 

Alma ging mit ihr in den gutgehaltenen Garten, der an der Rückseite des Hauses lag, und setzte sich in einen Sessel.

 

»Ich habe nur selten Besuch, Mylady.«

 

»Ich wußte gar nicht, daß Sie hier wohnen, Mrs. Smith, sonst hätte ich Sie natürlich längst besucht.«

 

Alma konnte sehr glatt und gewandt lügen, und Mrs. Smith fand nichts Außergewöhnliches darin, daß die Dame mit Dr. Fordham befreundet war. Sie wußte von seinem Leben ja überhaupt sehr wenig. Vorsichtig lenkte Lady Tynewood die Unterhaltung auf Dr. Fordham, und die alte Frau erzählte gern.

 

»Das war ein merkwürdiger Mann, sehr still und ruhig. Ich habe kaum mit ihm gesprochen. Er war ja auch meistens auf weiten Reisen.«

 

»Hatte er Verwandte?«

 

»Nein, keinen einzigen.«

 

»Wer hat denn sein Vermögen geerbt?«

 

»Er hat nicht viel hinterlassen, Mylady, und das wenige vermachte er mir auf dem Totenbett. Es waren etwa dreihundert Pfund in bar und ein paar Möbel. Das Haus; in dem er wohnte, gehörte ihm nicht. Aber Sir James war so liebenswürdig und schenkte es mir nachher.«

 

»Doktor Fordham muß ein sehr interessanter Mensch gewesen sein. Hat er auch Bücher geschrieben?«

 

»Nein. Er hat nur wenige Papiere hinterlassen; sie liegen oben auf dem Boden. Es sind Tagebücher von Reisen und andere Aufzeichnungen, dann noch einige Schriftstücke, wie zum Beispiel seine ärztlichen Diplome und so weiter.«

 

Alma war enttäuscht. Sie hatte gehofft, die alte Haushälterin würde mehr von ihm wissen und ihr Dinge erzählen können, die das geheimnisvolle Verschwinden von Sir James Tynewood aufklärten.

 

»Ich habe schon oft gedacht«, fuhr Mrs. Smith fort, »daß ich die Sachen eigentlich dem Rechtsanwalt Vance hätte schicken müssen. Ich nehme mir auch immer wieder vor, sie einzupacken und zur Post zu tragen. Es ist noch nicht so lange her, daß ich sie in einer alten Kiste gefunden habe.«

 

Alma zögerte und wollte schon fortgehen.

 

»Die Tagebücher handeln doch vermutlich nur von seinen Reisen im Ausland?«

 

»Ja, Mylady. Wollen Sie einmal einen Blick hineinwerfen?«

 

Sie entfernte sich und kam nach einiger Zeit mit einem, plüschbezogenen Kasten wieder, den sie auf den Schoß setzte und öffnete. »Sehen Sie, hier ist eins.«

 

Sie reichte Alma ein umfangreiches Notizbuch.

 

Lady Tynewood blätterte es durch und sah fremde Namen und Orte, die ihr keinen weiteren Aufschluß geben konnten.

 

»Dann sind noch die beiden medizinischen Diplome oben«, erklärte dann Mrs. Smith. »Die sind in lateinischer Sprache verfaßt.«

 

Alma schüttelte den Kopf. »Sonst ist nichts vorhanden?«

 

»Nur noch eine Fotografie. Sie ist interessant, weil der Doktor auf die Rückseite geschrieben hat, ›das einzig existierende Bild›. Ich weiß aber nicht, wen es darstellt.«

 

Die alte Frau suchte danach und fand sie schließlich.

 

Alma las zuerst die Schrift auf der Rückseite, wandte sie dann um und fuhr erschrocken zurück, als sie die Gesichtszüge erkannte. »Endlich!« sagte sie laut.

 

Es war ein Bild von Sir James Tynewood!

 

Kapitel 21

 

21

 

Es ist alles so verworren und seltsam – einfach entsetzlich, dachte Marjorie, als sie in der kleinen, alten Normannenkapelle des Schlosses Tynewood saß. Sie wartete auf die Ankunft ihres zukünftigen Mannes. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit Alma, mit Sir James Tynewood und hauptsächlich mit Pretoria-Smith.

 

Der Geistliche war schon gekommen und saß mit Lord Wadham in der kleinen Sakristei.

 

Pretoria-Smith erschien Marjorie nach ihren gestrigen Erlebnissen nicht mehr so abstoßend wie früher. Nach dem Zwischenfall mit Lance Kelman hatte er sie zu ihrer Wohnung begleitet, und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

 

Und heute war nun also ihr Hochzeitstag. Sie konnte es selbst kaum glauben. Es erschien ihr alles unwirklich und grotesk. Sie hätte eigentlich lachen können, wenn es nicht so furchtbar gewesen wäre. Ihre Mutter hatte sie begleiten wollen, aber die Gegenwart dieser Frau hätte sie um den letzten Rest ihrer Fassung gebracht. Glücklicherweise war es ihr gelungen, Mrs. Stedman zu Hause zu halten.

 

Der Pförtner führte sie in der Kapelle umher. Die Wände waren mit Grabsteinen bedeckt, und in den sechs Nischen unter den schönen Fenstern lagen die Tynewoods begraben. Die kleine Kirche machte großen Eindruck auf Marjorie, obwohl es ihr sonderbar genug vorkam, daß sie an ihrem Hochzeitstag Grabsteine betrachten sollte.

 

Plötzlich blieb sie stehen und wäre beinahe umgesunken, als sie einen Namen las.

 

Norman Garrick

 

stand auf der schlichten Platte. Kein Datum, keine weiteren Einzelheiten.

 

Norman Garrick! Mr. Vance hatte ihr gesagt, daß das der eigentliche Name von Pretoria-Smith sein sollte. Schon damals ahnte sie, daß der Rechtsanwalt sie belog, aber jetzt erst hatte sie den vollen Beweis dafür. Warum hatte Mr. Vance sie getäuscht? Er war doch sonst so freundlich und aufrichtig zu ihr gewesen.

 

Ihr Führer schien ihre Aufregung nicht zu bemerken, und sie machte wieder ein interessiertes Gesicht, als ob sie seinen Worten lauschte. Er zeigte ihr das Familienwappen, das in einen Pfeiler eingraviert war. Ein Tynewood hatte es in den Tagen König Karls eingekratzt, als er in dieser Kapelle gefangensaß.

 

Lord Wadham kam aus der Sakristei, und der Geistliche folgte ihm in seiner Amtstracht. Marjorie war froh, als sie den Lord sah, denn er gehörte der Wirklichkeit an.

 

»Jetzt müßte er doch eigentlich kommen«, sagte er und sah auf seine Uhr. »Sie haben einen unpünktlichen Bräutigam, mein liebes Kind. Es ist schon zehn Minuten nach elf.«

 

Fünfzehn – zwanzig – dreißig Minuten vergingen, und noch immer erschien Pretoria-Smith nicht. Lord Wadham war schon reichlich ungeduldig geworden, als sie schließlich unsichere Schritte in der Vorhalle hörten. Pretoria-Smith wankte herein, blieb einen Augenblick stehen und hielt sich an einem Pfeiler fest. Er war nicht rasiert, und die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Seine Augen brannten, und Marjorie sah, daß er sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte. Langsam kam er das Hauptschiff entlang und trat neben sie. Vor Entsetzen wagte sie kaum zu atmen.

 

»Der ist schon wieder betrunken«, sagte Lord Wadham und warf dem Geistlichen einen Blick zu. Aber der Pfarrer sah und hörte nur sehr wenig. Er hatte sein Buch aufgeschlagen, und die Trauung begann.

 

Smith wankte dauernd von einer Seite zur anderen, und Marjorie erschien diese kirchliche Feier wie ein böser Traum. Endlich war die Zeremonie vorüber, und Marjorie wußte, daß sie nun Mrs. Pretoria-Smith war, die Frau eines Mannes, der sich den Namen eines Toten zugelegt hatte. Mit Grauen dachte sie daran, daß die Gebeine Norman Garricks unter ihren Füßen moderten.

 

Nachdem der Pfarrer den Segen gesprochen hatte, berührte. Wadham Pretoria-Smith an der Schulter.

 

»Stehen Sie auf«, sagte er.

 

Aber Pretoria-Smith war auf die Seite gefallen, und als sich der Lord über ihn neigte, war er eingeschlafen.

 

Ein langes, peinliches Schweigen folgte. Schließlich fand Wadham seine Fassung wieder.

 

»Ich werde das Auto holen«, sagte er so leise wie möglich zu Marjorie.

 

Sie sah, wie traurig er war, und drückte ihm die Hand.

 

»Es wartet schon draußen. Vielleicht hilft die Fahrt an der frischen Luft –« Sie unterdrückte ein Schluchzen.

 

»Wohin fahren Sie?«

 

»Nach Brightsea, zu einem Landhaus, das ziemlich weit von der Stadt entfernt liegt. Ich bin froh, daß uns dort niemand beobachten kann. Glauben Sie, daß wir ihn in den Wagen schaffen können?«

 

Mit Hilfe des Chauffeurs und des Pförtners gelang es dem Lord, Pretoria-Smith in die Limousine zu schaffen.

 

Marjorie sah elend und unglücklich aus, als sie Wadham zum Abschied die Hand reichte.

 

»Leben Sie wohl, und viel Glück! Es tut mir leid, daß Sie so abfahren müssen – aber ich kann Sie ja nicht aufhalten.«

 

Sie sagte nichts, als sie in den Wagen stieg, und der Chauffeur schlug die Tür zu.

 

So fuhr Marjorie Smith in ihre Flitterwochen.

 

Kapitel 22

 

22

 

Lord Wadham sah dem Auto betrübt nach. Dann gab er dem Pförtner ein reichliches Trinkgeld und ging langsam den Fahrweg hinunter, bis er zu den großen Toren kam. Der Pförtner war ihm gefolgt, und da Wadham das Bedürfnis hatte, mit einem Menschen zu reden, drehte er sich noch einmal um.

 

»Haben Sie eigentlich etwas Neues von Ihrem Herrn gehört, Hill?«

 

»Nein, Mylord. Aber eines Tages wird er zurückkommen.«

 

»Es ist alles so traurig, Hill«, sagte der Lord laut.

 

»Ja, Mylord, es war eine schreckliche Sache. Und nur die Leute, die die Wahrheit wirklich wissen, können beurteilen, wie traurig es ist.«

 

»Sind Sie denn eingeweiht, Hill?«

 

»Nein, Mylord«, erwiderte der Mann und starrte ins Leere.

 

»Ich glaube, Sie sind ein verdammter Lügner«, entgegnete der Lord gutmütig. »Aber wenn Sie die Geheimnisse Ihres Herrn hüten, wird es Ihnen gut gehen. Ich wünschte nur, ich hätte solche Leute wie Sie. Was ist eigentlich aus dem Bruder von Sir James geworden?«

 

»Sie meinen den Halbbruder, Mylord?«

 

»Ja, ja, natürlich, den meine ich. Er war doch auch ein hübscher Junge.«

 

»Er ist vor einigen Jahren an Typhus gestorben.«

 

»Wie lange ist das denn her?«

 

»Ich weiß es nicht genau. Es muß aber um die Zeit gewesen sein, als sich Sir James in London verheiratete. Ob es vorher oder nachher war, weiß ich wirklich nicht mehr genau. Doktor Fordham hat ihn gepflegt. Das war ein guter Freund von Sir James, der ihn gewöhnlich auf seinen Auslandsreisen begleitete.«

 

»Fordham?« Der Lord runzelte die Stirne. »Ich kann mich gar nicht auf ihn besinnen.«

 

»Er stammt nicht aus der Gegend hier. Ich glaube, er war aus Irland. Und soviel ich gehört habe, ist er auch schon tot.«

 

Lord Wadham schaute vor sich hin.

 

»Kommt Lady Tynewood oft hierher?«

 

Hill unterdrückte ein Lachen.

 

»Ja, Mylady kommt manchmal hierher, aber ich lasse sie nicht in den Park.«

 

»Den Auftrag haben Sie also immer noch?«

 

»Sehen Sie, Mylady ist dort drüben.« Der Pförtner deutete mit dem Kopf nach der anderen Seite der Straße. »Sie wartet schon, seitdem die Hochzeit in Gang ist.«

 

Aus einer Seitenstraße schaute tatsächlich ein Teil ihre eleganten, schwarzen Autos hervor.

 

Alma war eine kluge Frau, die manche Dinge intuitiv vorausahnte. Lord Wadham glaubte, daß sie nur als neugierige Zuschauerin erschienen sei, aber er täuschte sich. Er selbst stand im Mittelpunkt ihres Interesses, da sie seine ungewöhnlich laute und weittragende Stimme kannte. Ebenso wußte sie, daß er sich gern mit dem alten Pförtner unterhielt. Sollte er also mit dem Mann sprechen, so konnte sie von ihrem Wagen aus die Unterhaltung belauschen. Und sie machte an diesem Tag eine sehr wichtige Entdeckung, wichtiger, als sich Lord Wadham jemals träumen ließ. Zum erstenmal hörte sie davon, daß Sir James einen Bruder gehabt hatte, der gestorben war. Der Name Dr. Fordham gab ihr einen anderen Anhaltspunkt. Er war ein Freund von Sir James, also wahrscheinlich auch der ganzen Familie.

 

Lord Wadham mußte noch ein Stück gehen, bis er zu seinem eigenen Auto kam, das etwas weiter unten auf der Straße hielt. Er war ängstlich bemüht, eine Begegnung mit Lady Tynewood zu vermeiden, aber sie war anderer Ansicht und stellte sich ihm direkt in den Weg.

 

»Guten Morgen, Lord Wadham«, sagte sie liebenswürdig, als er den Hut abnahm.

 

»Guten Morgen. Waren Sie auch bei der Trauung?« fragte er nicht ohne Schadenfreude.

 

Sie lächelte.

 

»Leider läßt man mich nicht in mein eigenes Haus ein. Aber ich habe die Hochzeitsgesellschaft gesehen. Mr. Pretoria-Smith schien nicht – ganz wohl gewesen zu sein. Hatten Sie nicht auch den Eindruck?«

 

»Ja, er ist wirklich sehr krank. Aber sonst ist mir nichts Besonderes an ihm aufgefallen.«

 

Ihr zynisches Lächeln ärgerte ihn, und er wandte sich zum Gehen. Aber sie hielt ihn zurück.

 

»Sind Sie ein Freund von Miss Stedman?«

 

»Gewiß, ich bin ein Freund von Mrs. Smith«, erwiderte er mit Nachdruck.

 

»Nennen Sie sie, wie Sie wollen. Ich kann mich noch ganz gut auf sie besinnen, wie sie noch ein Botenmädchen bei einem Rechtsanwalt in London war. Aber da Sie ihr Freund sind, werden Sie ja froh sein, wenn sie sich möglichst bald wieder von diesem schrecklichen Menschen scheiden läßt. Wenn sich der Dienstbotenklatsch bewahrheiten sollte –«

 

Er schaute sie an und lächelte sonderbar.

 

»Ehen lassen sich nicht so leicht scheiden, wie Sie vielleicht auch schon erfahren haben, Lady Tynewood.«

 

Sie sah ihm verblüfft nach und ging schließlich zu ihrem Wagen zurück. Mr. Javot saß gelangweilt am Steuer.

 

»Ich möchte nur wissen, was er damit sagen wollte.«

 

»Zerbrich dir doch nicht den Kopf darüber. Das ist doch alles so gleichgültig«, entgegnete Javot ärgerlich. »Willst du mich vielleicht den ganzen Tag hier auf der Straße warten lassen?«

 

»Ehen lassen sich nicht so leicht scheiden«, wiederholte sie nachdenklich.

 

»Bist du etwa anderer Meinung?« fragte Javot und lachte laut.

 

Kapitel 23

 

23

 

Marjorie sank in eine Ecke des Wagens und wagte nicht, den Mann anzusehen, den sie unter so merkwürdigen Umständen geheiratet hatte. Erst als sie die Parktore passiert hatten und ins freie Land kamen, sah sie sich um. Pretoria-Smith schlief und atmete schwer. Seine Hände, die in seinem Schoß lagen, zuckten nervös.

 

»Womöglich erstickt er noch«, dachte sie und löste den weichen Kragen seines Oberhemdes, den er nicht wie gewöhnlich offen, sondern geschlossen trug. Dabei streifte sein Atem ihre Wange, und sie schaute Smith erstaunt an. Auf jener fürchterlichen Gesellschaft bei Lady Tynewood war sie von einem betrunkenen Mann geküßt worden, und der entsetzliche Alkoholgeruch war ihr noch verhaßt. Aber sie konnte ihn hier nicht feststellen. Sie überlegte, was sie tun konnte. Vielleicht hatte er irgendein Mittel bei sich, das ihn wieder nüchtern machte. Sie hatte schon von solchen Dingen gehört. Zuerst zögerte sie, aber dann faßte sie Mut und durchsuchte seine Westentaschen. Sie fand eine Taschenuhr, die anscheinend in der vergangenen Nacht stehengeblieben war, und ein flaches, schwarzes Kästchen. Sie nahm es heraus und öffnete den Deckel. Aber sie erschrak heftig, als sie eine Spritze darin liegen sah, wie sie Morphiumsüchtige gebrauchen. Das war also die Ursache! Sie betrachtete das Instrument genauer. Es war vollständig neu, und zu ihrem größten Erstaunen entdeckte Marjorie den Namen des Apothekers aus Tynewood darauf.

 

Eine Anzahl Tabletten in einer kleinen Glasröhre waren beigefügt.

 

»Chinin«, las sie und schüttelte den Kopf. Man verwendete doch Chinin weder als Beruhigungs- noch als Betäubungsmittel.

 

Sie steckte die Schachtel in ihre Handtasche und betrachtete ihn einige Zeit. Schließlich war es ja gleichgültig, ob sie mit einem Trinker oder mit einem Morphiumsüchtigen verheiratet war. Verzweifelt dachte sie an die Zukunft.

 

Der Wagen fuhr mit großer Geschwindigkeit. Die Fahrt ging über Hügel und durch Täler, an Waldungen vorbei und durch landwirtschaftliche Gegenden, aber Marjorie hatte keinen Sinn für die Schönheit der Natur. Der Sonnenschein lockte sie nicht, und sie schaute nicht zum blauen Himmel empor. Nur der Wind streifte ihre heißen Wangen durch die offenen Fenster.

 

Endlich hielt der Chauffeur am Rand einer großen Wiese und stieg aus.

 

»Haben Sie etwas zu essen mitgenommen, Madam?« fragte er. »Oder soll ich bei einem Gasthaus halten? Wir kommen gleich durch eine Stadt.« Bei diesen Worten warf er einen vielsagenden Blick auf den schlafenden Mann.

 

»Danke, wir wollen nicht bei einem Gasthaus halten. Aber vielleicht nehmen Sie den Proviantkoffer herunter. Er ist hinten festgeschnallt.«

 

»Entschuldigen Sie noch eine Frage. Hat der Herr nicht seine Kleider vergessen? Ich habe keinen Koffer von ihm bekommen.« Sie sah sich bestürzt um. Pretoria-Smith hatte tatsächlich kein Gepäck bei sich.

 

»Die Koffer kommen mit dem Zug nach«, erwiderte sie schnell. Sie hatte sich jetzt schon daran gewöhnt, für ihn zu lügen und zu schwindeln. »Ach, öffnen Sie doch die Tasche und reichen Sie mir ein paar belegte Brötchen – auch die Thermosflasche mit Kaffee.« Sie schaute wieder zweifelnd zu ihrem Mann hinüber. »Glauben Sie, daß ich ihn aufwecken könnte?«

 

»Ich werde es versuchen, wenn es Ihnen recht ist«, sagte er und rüttelte Pretoria-Smith wach.

 

Smith sah zuerst auf den Chauffeur, dann auf Marjorie und faßte mechanisch nach seiner Westentasche.

 

»Hallo, was ist denn geschehen?« fragte er.

 

Er betrachtete Marjorie lange Zeit, und plötzlich schien er sich seiner Lage bewußt zu werden.

 

»Ach so, wir haben uns trauen lassen! Es fällt mit wieder ein. Wo sind wir denn jetzt?«

 

»Möchtest du Kaffee haben?« fragte sie. »Ich glaube, du fühlst dich – nicht ganz wohl.«

 

»Kaffee? Das ist ausgezeichnet. Ich fürchte, du hast mich heute morgen wieder für einen unausstehlichen Menschen gehalten, aber –«, er tastete wieder mit der Hand nach seiner Tasche – »ich konnte mein Mittel nicht nehmen, und da ist mir schwach geworden.«

 

Er trank den Kaffee begierig und schien sich zu erholen. Dann fuhr er mit der Hand über sein unrasiertes Gesicht.

 

»Ich möchte ein wenig auf und ab gehen, ich bin ganz steif geworden durch das lange Sitzen im Wagen.«

 

Er ging die Straße entlang, und als er zurückkam, machte er einen fast normalen Eindruck.

 

»Ich weiß kaum, was ich sagen soll, damit du mir verzeihst«, begann er. »Aber gestern abend –«

 

»Bitte sprich nicht darüber«, unterbrach sie ihn. »Es ist wirklich nicht nötig, daß ich es erfahre.«

 

Er sah sie merkwürdig an und lachte.

 

»Nun gut, dann wollen wir die Sache vorläufig auf sich beruhen lassen.«

 

Er gefiel ihr eigentlich, wenn er lachte. Seine Züge veränderten sich dann und wurden ihr sympathisch. Sie reichte ihm einige Brote, aber er dankte.

 

»Ich kann nicht essen«, sagte er und schauderte zusammen. »Vielleicht später. Wann kommen wir in Brightsea an? Wir sind doch auf dem Weg dorthin?«

 

»Wir haben noch etwas über eine Stunde Fahrt«, sagte der Chauffeur.

 

Smith sah auf die Uhr.

 

»Sie ist stehengeblieben«, meinte er, als er sie ans Ohr hielt. »Wie spät ist es jetzt?«

 

»Zwei«, erwiderte der Mann, und Pretoria-Smith schien zufrieden zu sein.

 

Bald darauf setzte sich der Wagen wieder in Bewegung, und nun unterhielt sich Smith mit Marjorie, obwohl er immer wieder wegen seines ungepflegten Aussehens in Verlegenheit kam.

 

»Wenn wir in das Haus kommen, sind wahrscheinlich auch meine Anzüge da. Ich habe der Schneiderfirma in London geschrieben, daß meine Sachen direkt nach Brightsea geschickt werden sollen. Du hast doch nichts dagegen?«

 

»Durchaus nicht. Wir sind doch jetzt verheiratet, und du hast ein Recht, deine Kleider in mein Haus zu schicken«, versuchte sie zu scherzen.

 

»Wir sind also richtig verheiratet?«

 

»Aber selbstverständlich.«

 

Er hörte den bitteren Unterton in ihrer Stimme. Eine Viertelstunde lang schaute er schweigend in die Landschaft hinaus.

 

»Mir; gefällt die Gegend hier sehr gut«, sagte er dann. »Manchmal fällt es mir schwer, daran zu denken, daß ich wieder nach Südafrika gehe.«

 

»Fährst du dahin zurück?« fragte sie ein wenig enttäuscht. »Ich meine – fahren wir dorthin?«

 

»Ich gehe nach einer angemessenen Zeit zurück«, sagte er freundlich und doch nachdenklich, als ob er überlegte, wie lange eine angemessene Zeit wohl dauern könnte.

 

»Liebst du eigentlich Südafrika?«

 

»In gewisser Weise – ja.«

 

»Wann – wann kommst du denn von dieser Reise wieder zurück?«

 

Er lächelte. »Ach, das kann Jahre dauern.«

 

»Ist das dein Ernst?«

 

»Natürlich. Südafrika gefällt mir, und ich habe deinen Onkel gern. Er bildet sich natürlich ein, daß er nur noch kurze Zeit zu leben hat, aber das ist Unsinn. Er sieht so gesund und frisch aus wie nur irgend jemand. Übrigens«, sagte er plötzlich, »läßt er dich nicht warten, bis er stirbt. Du hast sofort Anspruch auf Geld, wenn du geheiratet hast.«

 

»Wie soll ich das verstehen?« fragte sie überrascht.

 

»Seine Rechtsanwälte in London haben den Auftrag, zweihunderttausend Pfund auf dein Konto einzuzahlen, und zwar an deinem Hochzeitstag. Und ich habe heute morgen in aller Frühe jemanden beauftragt, deinem Onkel ein Telegramm zu schicken, sobald die Trauung vorüber ist.«

 

»Zweihunderttausend Pfund hat er für mich bestimmt?« fragte sie atemlos.

 

Er nickte.

 

»Du hast doch ein Konto bei der Bankfiliale in Tynewood? Dort wird das Geld eingezahlt.«

 

Marjorie atmete erleichtert auf. Nun konnte ihre Mutter wenigstens die Schulden an Lady Tynewood bezahlen. Sie erzählte ihm jetzt von der Torheit ihrer Mutter.

 

»Du bist ja nun mit mir verheiratet und mußt schließlich auch diese Dinge wissen. Meine Mutter hat leider viele Schulden, aber erst in der letzten Zeit hat sie gespielt. Es tut mir so leid, denn sie hat wirklich noch nicht viel von ihrem Leben gehabt.«

 

»Mit wem spielt sie denn? Doch nicht etwa mit Lady Tynewood?«

 

Sie nickte.

 

»So?« Er lächelte grimmig.

 

»Du scheinst Lady Tynewood zu hassen? Du kannst es mir ruhig sagen, denn mir ist sie auch unausstehlich.«

 

»Was hat sie dir denn getan? In meinem Leben hat sie schon viel Unheil angerichtet, ja sie hat sogar –« Er brach ab, sprach aber nach einer kurzen Pause weiter. »Wenn du mir vertraust, muß ich auch dir vertrauen. Sie hat einen guten Freund von mir ruiniert.«

 

Sie sah schnell zu ihm auf.

 

»War sie mit ihm verheiratet?«

 

»Ja, er war ihr Mann. Kennst du die Geschichte von Sir James Tynewood?«

 

»Sie ist doch sehr traurig?«

 

»Ich weiß nicht, ob man sie traurig oder wahnsinnig nennen soll. Ich kenne alle Einzelheiten, und an einem der nächsten Tage will ich sie dir erzählen. Lady Tynewood wird ihre Handlungsweise noch einmal sehr bereuen.«

 

Sein Ton klang so drohend, daß Marjorie ihn befremdet betrachtete.