Kapitel 11

 

11

 

»Was ist nur mit Marjorie los?« fragte Lance Kelman nachlässig und zündete sich eine Zigarette an.

 

Mrs. Stedman saß mit ihrem Neffen im Empfangszimmer. Sie zuckte die Schultern, was andeuten sollte, daß sie darüber nichts wüßte.

 

»Ich kann das Mädchen überhaupt nicht verstehen. Je älter sie wird, desto mehr lebt sie für sich«, klagte sie. »Sie nimmt nicht mehr die geringste Rücksicht auf mich und weiß auch nicht, was sie mir schuldig ist.«

 

»Ach, sie ist noch sehr jung«, meinte Lance wohlwollend. »Wenn sie erst einmal etwas mehr reist und die Welt kennenlernt, bekommt sie auch einen weiteren Gesichtskreis und bessere Urteilsfähigkeit.«

 

Er tröstete seine Tante stets, und sie bewunderte dafür immer aufs neue seine elegante Erscheinung.

 

»Ich wünschte nur, Marjorie käme endlich einmal zur Vernunft. Das beste wäre doch wirklich, wenn sie sich verheiraten würde. Ich hoffte eigentlich damals, als du diese gefährliche Reise nach Südafrika machtest, daß mein Schwager dir irgendeine Lebensstellung verschaffte, damit du heiraten könntest.«

 

»Du meinst, damit ich Marjorie heiraten könnte?« fragte Lance ruhig, denn dieser Gedanke erschien ihm vollkommen selbstverständlich. »Ich dachte auch schon daran. Sie ist ein ganz nettes Mädel, nur leider etwas engherzig und einseitig, Tante.«

 

»Genau meine Meinung«, entgegnete sie und schaute nervös nach der Uhr. »Ich möchte nur wissen, wie lange sie wieder fortbleibt.«

 

»Gehst du heute nachmittag aus?«

 

»Ja«, erwiderte sie leise. »Aber bitte sage nichts davon zu Marjorie. Sie hat ein so unvernünftiges Vorurteil gegen Lady Tynewood.«

 

»Ach, willst du Lady Alma besuchen? Nun, da tust du ganz recht. Sie ist eine sehr liebenswürdige Dame. Ich habe ihr neulich einmal von meiner Reise nach Südafrika erzählt, und da fragte sie mich, ob ich nicht zufällig ihren Mann, Sir James, dort getroffen hätte. Du weißt doch, daß er sie verlassen hat. Ich bin aber nie ganz hinter die Geschichte gekommen.«

 

»Ja, die Leute haben viel darüber gesprochen«, begann Mrs, Stedman gerade, als sie durch das plötzliche Erscheinen Marjories gestört wurde. Das junge Mädchen trug Reitkleidung und sah in dem hellgrauen Anzug vorzüglich aus. Lance betrachtete sie mit aufrichtiger Bewunderung.

 

»Bei deinen sonst soliden Ansichten kleidest du dich manchmal etwas gewagt, Marje.«

 

»Darüber kannst du nicht urteilen. Und nenne mich doch vor allem nicht Marje. Das klingt so gewöhnlich, ich will es nicht hören.«

 

»Aber Marjorie, wie kannst du nur so schroff sein!« rief ihre Mutter entrüstet.

 

»Bist du fertig, Lance?« fragte Marjorie kurz und ging, ohne seine Antwort abzuwarten, nach draußen, wo die Pferde bereitstanden.

 

Er eilte ihr nach, um ihr behilflich zu sein, aber schon ehe er ankam, hatte sie den Fuß in den Steigbügel gesetzt und sich in den Sattel geschwungen.

 

»Du bist ja kolossal selbständig geworden«, beschwerte er sich, da er sich zurückgesetzt fühlte.

 

Sie ritten durch eine lange Allee, die von hohen Hecken eingefaßt war, und Marjorie blieb zunächst schweigsam. Sie hatte die Absicht, Lance kurz mitzuteilen, was sie telegrafiert hätte, und sie zweifelte natürlich nicht daran, daß er ihre Handlungsweise verurteilen würde.

 

»Deine Mutter hat von Schloß Tynewood gesprochen«, begann er schließlich, und sie ärgerte sich, daß dieser Name fiel.

 

»Ich hoffe nur, daß sie heute nachmittag nicht wieder zu Lady Tynewood geht«, sagte sie plötzlich, aber Lance schwieg über diesen Punkt.

 

»Hast du das Schloß eigentlich schon einmal gesehen?«

 

Sie erinnerte sich gut genug an den schrecklichen Abend, den sie dort zugebracht hatte, und schauderte leicht.

 

»Nein, ich kenne es nicht.«

 

»Es ist ein schönes, altes Gebäude aus der Tudorzeit, und der Park ist wirklich großartig. Ich verstehe nicht, daß Sir James es fertigbringt, seine hübsche Frau und eine solche Besitzung im Stich zu lassen und in der Wildnis umherzustreifen. Ich halte das direkt für Wahnsinn!«

 

»Du scheinst ja mit den Verhältnissen der Familie Tynewood ziemlich gut Bescheid zu wissen.«

 

»Ja, man erfährt so allerlei. Der Baron hat seine Frau verlassen, und zwar einige Tage nach der Hochzeit. Die wirklichen Zusammenhänge sind hier allerdings nicht bekannt. Er hat nämlich zwei große Güter und hält sich meistens auf dem anderen auf. Hier in Schloß Tynewood ist nur der alte Pförtner, der ihn schon seit seiner frühen Jugend kennt. Vor vier Jahren hat Sir James ganz plötzlich geheiratet. Lady Tynewood war früher Schauspielerin, das weißt du wohl auch.«

 

»Ja, ich habe davon gehört.«

 

»Er muß nicht ganz bei Verstand gewesen sein. Ohne daß er ihr die geringste Mitteilung machte, hat er sie einfach verlassen. Die beiden haben in London geheiratet.«

 

»Wer hat dir denn das alles erzählt?«

 

»Nun, wenn ich offen sein soll – Lady Tynewood selbst. Sie hat mich in diese traurige Angelegenheit eingeweiht, als ich neulich zum Tee bei ihr war«, sagte Lance gleichgültig.

 

»Ach so, jetzt verstehe ich.« Marjorie lächelte ein wenig. »Aber sprich nur ruhig weiter. Ich interessiere mich sehr für Sir James Tynewood.«

 

»Also, der Mann ist unbegreiflicherweise auf und davon gegangen«, fuhr Lance fort. Er war sehr stolz darauf, daß er die Geschichte aus erster Hand hatte. »Soweit ich die Sache beurteilen kann, hatte er einen etwas aufbrausenden Charakter und war in mehrere unangenehme Affären verwickelt, bevor er Alma traf – ich meine Lady Tynewood. Man hat seinerzeit viel in den Zeitungen über ihn geschrieben. In einem Artikel wurde auch erwähnt, daß Lady Tynewood in den Besitz des berühmten Halsbandes kommen würde. Es ist ein herrliches Brillantkollier.«

 

»Ich weiß, daß es kein Hundehalsband ist«, erwiderte sie ironisch.

 

Er sah sie mißtrauisch von der Seite an.

 

»Lady Tynewood bestand darauf, daß James es ihr bringen sollte. Das war in ihrer Londoner Wohnung. Er kam bis hierher zum Schloß, und von dem Augenblick an« – er machte eine dramatische Pause – »hat man nie wieder etwas von ihm gesehen. Am nächsten Morgen erhielt sie einen Brief von seinem Rechtsanwalt, daß sie unter keinen Umständen den Versuch machen dürfte, das Schloß und den Park von Tynewood zu betreten. Und dabei war sie doch rechtmäßig verheiratet! Es wurde ihr ein jährliches Einkommen ausgesetzt, aber es ist viel zu gering für eine Frau von ihrer Stellung. Und dann las sie in der Zeitung, daß James Tynewood nach Südafrika gereist sei.«

 

»Nach Südafrika?« wiederholte sie mit besonderer Betonung. »Natürlich, das Schiff ›Carisbrooke Castle‹ fährt ja nach Kapstadt.«

 

»Den Namen des Schiffes habe ich doch gar nicht erwähnt«, entgegnete Lance etwas verblüfft. Aber er war zufrieden mit der Wirkung seiner Worte und machte sich nicht die Mühe, Marjorie näher auszufragen. »Warum hast du denn eigentlich eben so merkwürdig ›Südafrika‹ gesagt?«

 

»Weil ich mich dafür interessiere«, erwiderte sie schroff.

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Ich heirate nämlich einen Pretoria-Smith«, fuhr sie fort.

 

»Pretoria-Smith?« rief er atemlos. »Aber was soll denn das heißen?«

 

»Hier – lies bitte.«

 

Sie nahm den Brief aus der Tasche und gab ihn Lance, der sein Pferd anhielt.

 

»Du wirst doch nicht einen derartigen Unsinn machen«, sagte er heftig, als er die Zeilen überflogen hatte. »Diesen Pretoria-Smith kenne ich sehr gut, er ist ein entsetzlicher Mensch! Furchtbar aufdringlich, spricht nur von sich selbst, verprügelt die Neger und ist ein roher, wüster Kerl. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er einen Eingeborenen geschlagen hat. Es war so schlimm, daß ich dazwischentreten mußte. Einmal stand er auch vor Gericht, weil er einen Buschmann erschossen hatte. Den Namen habe ich vergessen, aber auf jeden Fall bleibt die Tatsache bestehen, daß er vor Gericht stand. Und dann trinkt der Mensch. Ich war mehrmals Zeuge, wie er stockbesoffen durch die Straßen wankte. Man sagt auch –«

 

»Ach, hör doch auf!« sagte sie schaudernd und fuhr mit der Hand über die Augen.

 

»Aber Marjorie, das kann doch nicht dein Ernst sein. Du wirst diesen Mann nicht heiraten! Ich selbst hoffe, dich in allernächster Zeit um deine Hand bitten zu können.«

 

»Dich könnte ich niemals heiraten, Lance«, erwiderte sie ruhig. »Bitte, mache die Sache nicht noch komplizierter, als sie schon ist.«

 

»Aber das ist doch Wahnsinn! Das erlaube ich nicht!«

 

Sie lächelte bitter.

 

»Du kannst doch gar nichts dagegen tun., Und es bleibt mir wirklich nichts anderes übrig.«

 

Sie erzählte ihm nichts von den Torheiten ihrer Mutter und von ihrem eigenen Kummer, als sie weiterritten. Lance war wütend und fühlte sich persönlich gekränkt, während sich Marjorie hilflos dem unabwendbaren Schicksal gegenübersah.

 

Schließlich kamen sie an das Parktor von Tynewood.

 

»Ich möchte mir den Park heute nicht ansehen«, sagte sie abgespannt. »Aber wir wollen einen Augenblick hier ausruhen.«

 

Sie hatten einen schönen Blick auf die großen Wiesen, die alten, mächtigen Bäume mit den weitausladenden Ästen und das graue Haus, dessen Fenster in der Nachmittagssonne glänzten.

 

»Es ist wirklich herrlich hier«, sagte sie leise.

 

Während sie die wundervolle Aussicht genoß, vergaß sie für einen Augenblick ihre Sorgen.

 

Plötzlich kam ein Auto in Sicht und hielt gleich darauf vor dem Parktor. Eine Dame stieg aus.

 

»Lady Tynewood«, flüsterte Lance.

 

Marjorie wollte eigentlich davonreiten, ohne sich umzusehen, aber ihre Neugierde hielt sie doch zurück.

 

Der Pförtner öffnete, blieb aber mitten im Weg stehen.

 

»Kann ich etwas für Sie tun, Mylady?« fragte er und legte die Hand an die Mütze.

 

»Ich möchte mir den Park ansehen«, erwiderte Alma.

 

Der Mann rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

 

»Es tut mir sehr leid, Mylady, aber ich habe strengen Befehl, Sie unter keinen Umständen einzulassen.«

 

»Und ich gebe Ihnen jetzt den strikten Auftrag, zur Seite zu treten und mir den Weg freizugeben«, entgegnete sie aufgeregt. »Ich habe mich allzu lange den Wünschen von Sir James gefügt, aber jetzt bestehe ich auf meinem Recht. Ich will den Schloßpark betreten, wann es mir paßt.«

 

Der Pförtner trat einen Schritt zurück und schloß das schwere Tor vor ihrer Nase.

 

»Es tut mir sehr leid, Mylady, aber meine Instruktionen sind eindeutig. Ich kann Ihnen nicht gestatten näherzutreten.«

 

Als sich Lady Tynewood wütend umdrehte, entdeckte sie Marjorie.

 

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie mit heiserer Stimme und legte die Hand an die Kehle, als ob ihr das Atmen schwerfiele. »Das ist eine neue Unverschämtheit von Ihnen, daß Sie mir hier nachspüren! Aber das soll Ihnen schlecht bekommen?«

 

Marjorie sagte zunächst nichts, und es entstand eine peinliche Pause.

 

»Ich spüre Ihnen nicht nach«, erwiderte das junge Mädchen schließlich gelassen. »Nicht einmal, wenn Sie meiner Mutter beim Bridgespiel das Geld abnehmen.«

 

Sie wandte ihr Pferd und ritt davon.

 

Kapitel 12

 

12

 

Mr. Vance, Chef der renommierten Rechtsanwaltfirma Vance and Vance, war gerade eifrig beschäftigt, als ihm ein Besuch gemeldet wurde. Er las die Karte und zog die Augenbrauen in die Höhe.

 

»Lassen Sie Miss Stedman näher treten.«

 

Er erhob sich und ging ihr halbwegs entgegen.

 

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen«, begann er. »Aber Sie kommen doch hoffentlich nicht zu mir, um sich in Rechtsangelegenheiten beraten zu lassen?«

 

»Nein, das gerade nicht«, entgegnete sie lächelnd.

 

»Man erzählt sich ja große Dinge darüber, wie angesehen Sie in Ihrer Gegend sind. Aber nehmen Sie doch bitte Platz. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Ich muß sagen, daß ich Sie als Privatsekretärin sehr vermißt habe. Ja, der Ruf Ihrer Tüchtigkeit ist selbst bis zu meinem Büro nach London gedrungen. Wie ich hörte, haben Sie eine große Summe für das dortige Hospital zusammengebracht. Ich las auch in der Zeitung, daß Ihnen zu Ehren ein Essen stattfinden sollte. Haben Sie das schon hinter sich?«

 

»Nein, ich habe es noch vor mir, aber es wird nicht für mich allein abgehalten. Man will nur die Gelegenheit feiern, und alle Leute gratulieren sich, daß die Aufbringung des Fonds so gut gelungen ist. Und zu diesen Leuten gehöre ich auch.« Sie machte plötzlich ein ernstes Gesicht. »Mr. Vance, haben Sie eigentlich jemals meinen Onkel Alfred Stedman gesehen?«

 

»Soviel ich weiß, habe ich Ihnen diese Frage schon einmal beantwortet.« Er nickte. »Ich kann mich allerdings nur sehr dunkel auf ihn besinnen.«

 

»Sie wissen aber doch, daß er ein großes Vermögen erworben hat?«

 

»Gewiß. Das haben Sie mir ja damals geschrieben, und ich kann Ihnen dazu nur gratulieren. Aber was ist denn passiert?« fragte er schnell, als er den traurigen Ausdruck in ihren Zügen sah. »Hat er sein Geld etwa wieder verloren?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Manchmal wünschte ich direkt, daß es so wäre. Nein, das ist es nicht. Aber denken Sie, er hat den Versuch gemacht, über meine Zukunft zu bestimmen«, sagte sie zögernd.

 

Mr. Vance sah sie etwas verwirrt an, aber dann verstand er plötzlich den Sinn ihrer Worte.

 

»Ach so, er hat einen Mann für Sie ausgesucht?« fragte er vergnügt und zwinkerte ihr mit den Augen zu.

 

»Sie haben es erraten.«

 

»Und wer ist denn der Glückliche?«

 

»Jemand, den Sie sehr gut kennen.«

 

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Rechtsanwalts.

 

»Wie soll ich das verstehen – jemand, den ich sehr gut kenne? Miss Stedman, das müssen Sie mir genauer erklären. Ist es einer meiner Freunde?«

 

»Ich weiß nicht, ob er ein Freund von Ihnen ist. Ich habe ihn allerdings früher einmal in Ihrem Büro hier getroffen – es ist Mr. Smith von Pretoria.«

 

Er erhob sich halb aus seinem Stuhl und sah sie ungläubig an.

 

»Mr. Smith von Pretoria – das ist doch ausgeschlossen!«

 

»Wenn es nur so wäre!«

 

Trotz ihres Kummers amüsierte sie sich einen Augenblick über seine Verwirrung.

 

Dann erzählte sie ihm kurz die näheren Umstände, erwähnte den Brief ihres Onkels, die Unterredung mit ihrer Mutter und deren törichte Handlungsweise. Sie hielt es nicht für angebracht, diese Dinge jetzt noch zu verschweigen.

 

»Ich bin tatsächlich aufs höchste erstaunt«, erwiderte Mr. Vance etwas betreten, als sie geendet hatte. »Vor allem hatte ich nicht die geringste Ahnung, daß Mr. Smith augenblicklich in England ist.«

 

Er dachte einige Zeit nach, und Marjorie beobachtete ihn scharf. Ihre Mitteilungen hatten den alten Herrn in ungewöhnliche Erregung versetzt.

 

»Ich möchte Sie noch etwas fragen, Mr. Vance. Aber bitte sagen Sie mir jetzt die volle Wahrheit. Das klingt zwar etwas unhöflich, aber es handelt sich um meine Zukunft, und da muß ich die Wahrheit erfahren.«

 

»Was wollen Sie denn wissen?« fragte er ruhig.

 

»Was bedeutete der Auftritt, den ich an einem gewissen Abend vor vier Jahren in Schloß Tynewood beobachtete?«

 

Er schwieg eine Weile.

 

»Darauf kann ich Ihnen nicht antworten, Miss Stedman«, sagte er schließlich. »Wenn ich es täte, würde ich das Vertrauen eines Freundes verletzen, und es würde dadurch ein alter, geachteter Name in den Staub getreten werden.«

 

»Sie meinen die Ehre des Hauses Tynewood?« fragte sie schnell.

 

Er nickte.

 

»Dann beantworten Sie mir bitte eine andere Frage. Wenn ich mich für Pretoria-Smith entscheide, heirate ich dann nicht den Mann, der die Veranlassung dazu war, daß Sir James Tynewood aus England verschwand? Ich sage ausdrücklich nicht, daß er ihn ermordete«, fügte sie hastig hinzu. »Das wäre zu schrecklich. Ich weiß allerdings, daß Sir James Tynewood tot ist. Aber ich habe das Versprechen gehalten, das ich Ihnen gab, und mit keinem Menschen über jene Ereignisse auf dem Schloß gesprochen.«

 

Er sah Marjorie mit aufrichtiger Bewunderung an.

 

»Dafür bin ich Ihnen auch zu größtem Dank verpflichtet, Miss Stedman. Und auch Sir James wird Ihnen das sicher hoch anrechnen, wenn er wieder nach England zurückkehrt.«

 

Marjorie schaute ihn durchdringend an.

 

»Sir James Tynewood ist tot«, sagte sie fest. Seine Augen verengten sich.

 

»Ich wiederhole«, entgegnete er ruhig, »daß Sir James Tynewood Ihnen das hoch anrechnen wird, wenn er nach England zurückkehrt.«

 

Marjorie legte die Hand auf den Schreibtisch.

 

»Ich will ganz offen und ehrlich zu Ihnen sein. Ich weiß, daß Sir James Tynewood tot ist. Durch einen Zufall habe ich es erfahren. Ich kam damals in Ihr Zimmer, als Sie mit Doktor Fordham darüber sprachen.«

 

Er erhob sich und ging langsam im Zimmer auf und ab. Nachdenklich hatte er das Kinn auf die Brust gesenkt und die Hände auf dem Rücken gefaltet. Plötzlich blieb er vor ihr stehen.

 

»Sie haben also die Absicht, Pretoria-Smith zu heiraten?« fragte er.

 

Sie zuckte die Schultern. »Was bleibt mir denn sonst noch übrig?«

 

Er rieb sein Kinn.

 

»Sie könnten noch schlimmere Dinge tun. Pretoria-Smith ist ein sehr liebenswürdiger, charaktervoller Mann und stammt aus einer guten, alten Familie.«

 

»Heißt er wirklich Smith?«

 

»Sie wissen doch ganz genau, daß sich viele Leute Smith nennen«, erwiderte er gut gelaunt. »Miss Stedman –« er legte die Hand auf ihre Schulter, »wollen Sie einen guten Rat von Ihrem alten Freund annehmen?«

 

»Was raten Sie mir denn?«

 

»Pretoria-Smith zu heiraten«, lautete die erstaunliche Antwort.

 

»Was, ich soll einen Trunkenbold heiraten?« rief sie erregt und zornig.

 

»Wie kommen Sie denn auf eine solche Idee?« fragte er betroffen. »Pretoria-Smith ist doch kein Trinker!« sagte er dann ungläubig. »Das müssen Sie mir näher erklären.«

 

»Mein Vetter Lance Kelman hat eine Reise nach Südafrika gemacht und kennt daher den Mann genauer – wahrscheinlich viel besser als Sie. Er hat mir noch heute erzählt, daß er mit eigenen Augen, sah, wie Pretoria-Smith betrunken in den Straßen umherwankte.« Marjorie war ärgerlich auf ihren alten Chef, weil er ihr den Rat, gegeben hatte, diesen Menschen zu heiraten, and sie beobachtete nun triumphierend seine offensichtliche Bestürzung.

 

»Mr. Vance, wollen Sie mir nicht wenigstens sagen, wie er wirklich heißt? Ich kann doch nicht einen Mann heiraten, dessen Namen ich nicht einmal kenne.«

 

Er zögerte und sah sie unentschlossen an.

 

»Wenn ich Ihnen das mitteile, müssen Sie mir aber versprechen, und zwar feierlich und unverbrüchlich, weder Pretoria-Smith noch sonst jemandem zu sagen, daß Sie es von mir erfahren haben.«

 

»Gut, das verspreche ich Ihnen«, erwiderte sie sofort.

 

»Also – er heißt in Wirklichkeit Norman Garrick«, entgegnete er langsam.

 

»Norman Garrick?« wiederholte sie. Plötzlich glaubte sie einen Zusammenhang zu erkennen. »War er irgendwie verwandt mit dem jungen Mann, der jetzt tot ist?«

 

Sie konnte den Namen Tynewood im Augenblick, nicht aussprechen.

 

Mr. Vance suchte Zeit zu gewinnen und antwortete nicht gleich.

 

»Er ist sein Halbbruder«, sagte er dann leise. »Mehr kann ich Ihnen aber nicht erzählen.«

 

Er unterhielt sich noch eine Weile mit ihr über das Leben, das sie auf dem Lande führte, und über das große Festessen. Dann verabschiedete sie sich von ihm. Im äußeren Zimmer hielt sie kurz an, um den Bürovorsteher zu begrüßen, mit dem sie früher sehr gut gestanden hatte.

 

»Man wird wirklich an die guten, alten Zeiten erinnert, wenn man Sie wiedersieht, Miss Stedman«, meinte er vergnügt. »Ich muß schon sagen, es ist nach Ihnen kein Mensch mehr hier gewesen, mit dem ich so gern zusammengearbeitet habe wie mit Ihnen.«

 

»Ich soll wohl wiederkommen und Ihnen helfen? Sie haben sicher sehr viel zu tun und werden nicht mit der Arbeit fertig«, erwiderte sie lachend.

 

»Ach, das habe ich mir schon oft gewünscht. Auf meinem Platz sammeln sich die Aktenstöße und die Dokumente, und es ist niemand da, der alles so schön ordnen könnte, wie Sie es früher taten.«

 

Auf seinem Schreibtisch türmten sich tatsächlich die Schriftstücke in wildem Durcheinander.

 

»Sie haben es niemals verstanden, Ordnung zu halten, Mr. Herman«, sagte sie und begann rein mechanisch die Papiere zu sichten.

 

Als sie einen Stoß auf der einen Seite des Schreibtisches niedersetzte, fiel ihr Blick zufällig auf ein kleines Aktenstück, das mit einer roten Schnur zusammengebunden war. Sie nahm es auf, um es zu den anderen Schriftstücken zu legen, und las dabei die Aufschrift.

 

»In Sachen Norman Garrick.«

 

Mit einem Ausruf ließ sie den Aktendeckel fallen und starrte den Bürovorsteher an.

 

»Wer ist denn Norman Garrick?« fragte sie ängstlich.

 

Mr. Herman sah sie sonderbar an, nahm dann das Aktenstück und schob es in eine Schublade.

 

»Er ist einer unserer Klienten«, entgegnete er gleichgültig. »Das heißt, er gehörte früher dazu, denn vor einiger Zeit ist er gestorben.«

 

Zwei Minuten später ging Marjorie wie im Traum die Straße entlang, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander.

 

Pretoria-Smith war Norman Garrick – und Norman Garrick war tot! Wer war denn nun Pretoria-Smith? Der Mann hatte ja überhaupt keine Existenzberechtigung!

 

Kapitel 13

 

13

 

Der Abend war gekommen, an dem die Direktion des Krankenhauses von Droitshire die Aufbringung des Fonds durch ein großes Galadiner feiern wollte. Die Gelder waren notwendig, um die Anstalt weiterführen zu können. Aber eigentlich wurde das Essen zu Ehren der energischen Sekretärin des Hilfskomitees gegeben, deren unermüdliche Tätigkeit den unerwartet großen Erfolg gebracht hatte.

 

Marjorie Stedman hatte das Wissen und die Geschäftserfahrungen, die sie in London gesammelt hatte, praktisch verwertet. Alle Vorteile hatte sie ausgenutzt, und da sie außerdem ein gutes Organisationstalent besaß, hatte sie diese hohe Summe zusammenbringen können.

 

Seine Königliche Hoheit der Herzog von Wight war der Protektor des Hospitals, und er war eigens von London gekommen, um den Vorsitz bei der Feier zu führen. Er war der Gast des Earl von Wadham, der seinen Landsitz in dieser Gegend hatte.

 

Marjorie sah in ihrem weißen Seidenkleid mit Silberbrokat entzückend aus. In der fröhlichen Umgebung und inmitten der glänzenden Gesellschaft vergaß sie für kurze Zeit ihre Sorgen und die unangenehmen Ereignisse des vergangenen Tages. Alle Leute gratulierten ihr. Von jeder hervorragenden Familie war mindestens ein Mitglied erschienen.

 

Lord Wadham war ein älterer Herr mit weißen Haaren und gesundem, gutmütigem Gesicht. Er trug ein Monokel und lächelte fast immer. Um zu Marjorie zu gelangen, mußte er sich einen Weg durch die Menge bahnen, denn sie wurde von allen Seiten umringt.

 

»Ach, hier sind Sie!« sagte er laut. Seine Stimme schrillte, und wenn er flüsterte, konnte man es noch im äußersten Winkel des großen Saales hören. »Kommen Sie doch bitte mit mir, Miss Stedman, ich möchte Sie Seiner Königlichen Hoheit vorstellen.«

 

Er führte sie zu dem Empfangsraum, wo sich der Herzog von Wight, eine jugendlich-schlanke Erscheinung, mit mehreren Herren unterhielt. Über der Frackweste trug der Prinz das blaue Band des Hosenbandordens.

 

»Königliche Hoheit, darf ich mir gestatten, Miss Marjorie Stedman vorzustellen, deren aufopferungsvoller Tätigkeit wir diesen großen Erfolg für das Droitshire-Hospital verdanken?«

 

Der Herzog lächelte und reichte ihr die Hand.

 

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Miss Stedman, und ich bin hergekommen, um Ihnen meinen Dank persönlich auszusprechen. Wie Sie wissen, interessiere ich mich ganz besonders für das Hospital. Wenn Sie sich nicht mit solcher Tatkraft der Sache angenommen hätten, wären wahrscheinlich große Schwierigkeiten entstanden.«

 

Sie macht einen Hofknicks, als sie ihre Hand in die seine legte.

 

»Königliche Hoheit, die Arbeit für den wohltätigen Zweck war mir das größte Vergnügen.«

 

»Und es muß auch ein großes Vergnügen sein, mit Ihnen zusammenzuarbeiten«, erwiderte der Prinz liebenswürdig. Dann warf er Lord Wadham einen Blick zu und sah auf die große Uhr.

 

Gleich darauf meldete ein Diener, daß das Essen serviert sei, und die Anwesenden begaben sich in den Speisesaal.

 

Etwa fünfzig kleinere Tische waren aufgestellt worden. Nur am hinteren Ende des Raumes stand eine größere, überreich mit Blumen dekorierte Tafel, und dorthin führte der Herzog Marjorie Stedman.

 

»Heute sitzen Sie an meiner Rechten«, sagte er verbindlich, als sie neben ihm Platz nahm.

 

Die Mitglieder der alten Familien neideten ihr diese Ehre nicht, im Gegenteil, sie freuten sich darüber, daß die Verdienste dieses jungen Mädchens belohnt wurden. Aber die kleineren Leute, die Neureichen und Emporkömmlinge, gönnten ihr diese Auszeichnung nicht. Auch Lady Tynewood, die an einem der kleinen Tische mitten im Saal saß, gehörte zu ihnen.

 

»Nun, Mr. Kelman, was halten Sie jetzt von Ihrer Kusine?« wandte sie sich an ihren Tischherrn.

 

»Ach, sie sieht doch ganz nett aus«, entgegnete er vorsichtig, denn er wußte wohl, daß er in Almas Gegenwart Marjorie nicht zu sehr loben durfte. »Ich fürchte nur, sie wird hochmütig, wenn soviel Aufhebens von ihr gemacht wird. Wissen Sie, jungen Leuten steigt dergleichen gewöhnlich zu Kopf.«

 

Sie sah ihn belustigt an.

 

»Aber Sie sind doch selbst noch nicht so alt«, sagte sie ironisch. »Ist es wirklich wahr, daß sie einen Minenbesitzer heiratet? Ich habe gehört, daß sie sich mit einem gewissen Pretoria-Smith aus Südafrika verloben will.«

 

»Das ist ein ganz gemeiner Mensch«, erwiderte Lance heftig. »Wenn sie ihn gesehen hätte, wie ich ihn gesehen habe, würde sie überhaupt nicht daran denken, ihn zu heiraten. Es ist eine unverständliche Laune von ihr, und ich möchte ihr tatsächlich einmal eine Lektion erteilen.«

 

Marjorie dachte im Augenblick weder an Pretoria-Smith noch an sonst jemanden. Während der Herzog mit ihr über das Hospital sprach, ließ er den Blick über die Versammlung schweifen, und plötzlich entdeckte er Alma.

 

»Sitzt dort nicht Lady Tynewood?« fragte er.

 

»Ja, Königliche Hoheit. Ist sie Ihnen bekannt?«

 

»Ich kenne ihren Mann«, entgegnete er nachdenklich. »Wir waren zusammen in Eton auf der Schule. Später habe ich ihn in Südafrika wieder getroffen und war lange Zeit mit ihm dort unten auf der Jagd. Ein wirklich netter, lieber Kerl«, sagte er und schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe diese merkwürdige Heirat niemals verstehen können.« Aber dann erinnerte er sich plötzlich daran, daß er sich nicht auf Gerede und Klatsch einlassen durfte, und änderte sofort das Gesprächsthema.

 

Lady Tynewood hatte seinen Blick aufgefangen und mit untrüglichem Instinkt sofort erkannt, daß der Herzog ihr nicht wohlgesinnt war.

 

»Lance, gehen Sie doch einmal zur Garderobe«, wandte sie sich an ihren Tischherrn. »Ich habe meine Handtasche dort gelassen, und darin liegt mein kleines Opernglas. Da ich hier für das Essen bezahlt habe, kann ich mir auch, ruhig den Schnabel Seiner Königlichen Hoheit genauer ansehen.«

 

Mr. Kelman lachte über diesen rohen Scherz und erhob sich.

 

Die Eingangshalle des Hotels war leer, und die Garderobenfrau hatte schnell die Handtasche gefunden.

 

Lance Kelman wollte gerade wieder in den Speisesaal zurückkehren, als ein Herr mit unsicheren Schritten in das Vestibül trat. Er sah ihn genauer an und glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Dann fuhr ihm plötzlich ein teuflischer Gedanke durch den Kopf. Es war eine häßliche, gemeine Intrige, die er inszenieren wollte und über deren Folgen er sich nicht klarwurde.

 

Der Fremde war groß und breitschultrig und hatte ein glattrasiertes Gesicht, aber seine Züge zeigten kein Leben und schienen zu einer Maske erstarrt zu sein. Er trug einen etwas schäbigen, grauen Anzug nach Art der Farmer in Südafrika und ein Oberhemd mit weichem, offenem Kragen.

 

Lance steckte das Opernglas der Lady Tynewood ein und trat auf ihn zu.

 

»Hallo!« rief er.

 

Der Fremde drehte sich langsam nach ihm um.

 

»Hallo!« entgegnete er ein wenig heiser.

 

»Sie sind doch Pretoria-Smith?«

 

Der Mann schwankte von einer Seite zur anderen.

 

»Ja, so heiße ich«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Aber zum Kuckuck, wer sind Sie denn?«

 

»Können Sie sich nicht auf mich besinnen? Ich bin doch der Neffe von Mr. Stedman.«

 

»Ach so – ja – jetzt fällt es mir wieder ein.« Pretoria-Smith nickte. »Sagen Sie, wo ist denn der Eingang zum Hotel? Ich bin anscheinend auf einer falschen Seite hereingegangen. Hier ist doch ein Festessen oder etwas Ähnliches im Gang?«

 

Der Gedanke, der Lance Kelman wie ein Blitz durchzuckt hatte, nahm immer festere Gestalt an. Er vergaß alle Rücksicht, die er Marjorie schuldig war, und er dachte nicht an die Folgen, die seine unverantwortliche Handlungsweise haben mußte. Rasch packte er Pretoria-Smith am Arm.

 

»Kommen Sie mit«, sagte er eifrig, »ich bringe Sie auf einem Seitengang dorthin, wo Sie die Dame treffen können, die Sie suchen.«

 

»Warten Sie einen Augenblick. Was haben Sie denn eigentlich vor?«

 

»Sie sind doch hungrig?«

 

»Ja, das stimmt«, erwiderte Pretoria-Smith heiser, nachdem er Lance einige Zeit mit glasigen Blicken betrachtet hatte. »Aber ich möchte doch nichts essen. Ich habe eigentlich mehr Durst.«

 

Wieder schwankte er unsicher.

 

Total betrunken, dachte Kelman frohlockend. Marjorie, du wirst dich sicherlich wundern, was für einen Mann du heiraten willst!

 

»Ich bringe Sie zu einem Büfett, wo Sie etwas trinken können«, sagte er laut. »Dort bekommen Sie alles, was Sie nur wollen.«

 

Er führte ihn den Korridor entlang, der dem Speisesaal parallel lief.

 

Der große Raum hatte mehrere Türen, und an der letzten blieb Mr. Kelman stehen. Er vermutete, daß sie direkt der Ehrentafel gegenüberlag. Wenn er diesen Mann jetzt in den Saal brachte, mußte es eine Sensation geben, die nicht zu überbieten war! Die Tür zu öffnen machte einige Schwierigkeiten, aber schließlich gelang es ihm doch. Er zog Pretoria-Smith schnell hinein, und die Aufmerksamkeit der Gäste richtete sich auch sofort auf den Fremden.

 

Der Herzog sah sich bestürzt um und runzelte die Stirn. Marjorie starrte betroffen auf den Mann, dem sie seit vier Jahren nicht mehr begegnet war. Sie glaubte, daß er betrunken sei, und wurde bleich.

 

Im Saal herrschte plötzlich peinliche Stille. Lance Kelman war befriedigt und redete die Versammlung mit erhobener Stimme an.

 

»Königliche Hoheit, meine Damen und Herren – gestatten Sie, daß ich Ihnen den Verlobten von Miss Marjorie Stedman vorstelle – Mister Pretoria-Smith aus Südafrika«, rief Kelman langsam aus.

 

Der Mann an seiner Seite sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an, als ob er nicht verstünde, was um ihn vorging. Er machte ein paar Schritte vorwärts und ging auf den Prinzen zu, der aufgesprungen war. Marjorie war einer Ohnmacht nahe und schrak in ihrem Stuhl entsetzt zurück.

 

»Donnerwetter, ist der Mensch betrunken!« sagte Lord Wadham leise, aber der ganze Saal hörte es.

 

Im gleichen Augenblick strauchelte Pretoria-Smith und fiel polternd gegen den Tisch den Prinzen.

 

Kapitel 14

 

14

 

Marjorie Stedman wäre vor Scham am liebsten in die Erde gesunken, als sie diese demütigende Szene erleben mußte. Wie durch einen Schleier sah sie den großen Saal, der taghell erleuchtet, war, die mit den Landesflaggen dekorierten Wände, die weißen Tische und die prachtvollen Gedecke. Alle Gesichter wandten sich ihr zu, und vor ihr auf dem Boden lag Smith.

 

Er redete in einer fremden, ungewöhnlichen Sprache und mußte nur noch halb bei Bewußtsein sein. Der Prinz hatte beide Hände auf die Tischplatte gelegt und sich leicht vorgeneigt. Er war der erste, der sich rührte. Schnell ging er um den Tisch herum, und bevor die Kellner kommen konnten, hatte er Pretoria-Smith aufgehoben. Anderen Leuten, die nun zu Hilfe kommen wollten, winkte er ab, stützte Pretoria-Smith und führte ihn langsam in die Hotelhalle.

 

Sobald er den Saal verlassen hatte, setzte an allen Tischen lebhafte Unterhaltung ein. Alle sahen zu Marjorie hinüber, die noch starr vor Entsetzen und Furcht auf ihrem Platz saß.

 

Nach kurzer Zeit kam der Prinz ruhig und gelassen zurück, als ob nichts geschehen wäre, und setzte sich wieder an ihre Seite. Freundlich neigte er sich zu ihr und streichelte ihre Hand.

 

»Es tut mir so unendlich leid«, sagte er leise. »Wer ist denn eigentlich dieser junge Mann, der ihn hereingebracht hat?«

 

Er schaute sich um, und sein Blick traf Kelman. Lance fühlte sich nicht besonders wohl, als der Herzog ihn zu sich winkte. Nachdem er seinen niederträchtigen Plan ausgeführt hatte, packte ihn großer Schrecken. Mit zitternden Knien ging er zu dem Tisch und blieb an derselben Stelle stehen, an der Pretoria-Smith wenige Minuten vorher gelegen hatte.

 

»Ich kenne Ihren Namen nicht«, sagte der Prinz und sah ihn mit eisigem Blick an, »und ich wünsche ihn auch nicht zu erfahren. Aber ich möchte Ihnen erklären, daß Sie kein Gentleman sind und nicht in diese Gesellschaft gehören. Ich fordere Sie deshalb auf, den Saal zu verlassen.«

 

Lance Kelman ging hinaus, ohne sich umzusehen. Innerlich kochte er vor Wut, die jedoch zum größten Teil aus einer wahnsinnigen Angst vor den Folgen seiner Unbesonnenheit bestand. Ihn, Lance Kelman, einen vermögenden, angesehenen Mann, der wahrscheinlich später einmal im Parlament sitzen würde, hatte man aus dem Saal gewiesen! Diese öffentliche Schande war doch zu groß. Er hätte laut aufschreien mögen. Die Tränen waren ihm nahe, und er bemitleidete sich selbst, als er in den Wagen stieg und zu dem Haus zurückfuhr, das er für den Sommer gemietet hatte.

 

Nur wenige Leute hatten gesehen, daß er sich entfernte, oder den Grund für sein Verschwinden erkannt.

 

Marjorie hatte die Worte des Prinzen natürlich gehört. Der Herzog wandte sich jetzt wieder lächelnd an sie.

 

»Aber Miss Stedman, Sie essen und trinken ja gar nichts«, sagte er vergnügt. »Darf ich Sie bitten, sich durch dieses traurige Vorkommnis nicht weiter stören zu lassen?«

 

Sie hob das Weinglas, und er sah, daß ihre Hand zitterte.

 

»Es muß entsetzlich für Sie gewesen sein, und es tut mir aufrichtig leid, daß dieser Zwischenfall das schöne Fest gestört hat. Der junge Mann, den ich hinauswies, hat sich aber auch unglaublich betragen. Hat er denn irgendeinen Grund für seine Handlungsweise?«

 

»Ich verstehe nicht, was ihn dazu getrieben hat«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Lance Kelman und ich waren bisher ganz gute Freunde. Aber er scheint irgend etwas übelgenommen zuhaben.«

 

Mit großem Takt verstand es der Herzog,, ihr Vertrauen zu gewinnen, und schließlich erzählte sie ihm, was sie bedrückte. Er erfuhr von dem Brief ihres Onkels, von dem Heiratsbefehl, von ihrer Abneigung und dem Entsetzen, das sie vor diesem unbekannten Mann hatte. Sie erzählte ihm allerdings nicht, daß sie Pretoria schon von früher her kannte, und sie sprach auch nicht über den Leichtsinn ihrer Mutter. Aber er vermutete, daß nur ein äußerst wichtiger Grund sie bestimmt haben konnte, den Vorschlag Mr. Stedmans anzunehmen.

 

»Ich hatte keine Ahnung, daß er schon in England war. Aus dem Brief meines Onkels sah ich nur, daß er unterwegs sein mußte. Er ist wahrscheinlich mit demselben Schiff angekommen, der auch den Brief beförderte.«

 

Der Prinz nickte.

 

»Was soll ich nun tun?« fragte sie hilflos. »Wenn ich meiner eigenen Neigung folgen könnte, würde ich nach London zurückgehen und dort wieder eine Stellung annehmen, um mir mein Brot zu verdienen. Aber aus bestimmten Gründen geht das nicht. Ich muß deshalb den Wunsch meines Onkels erfüllen und mich mit – Pretoria-Smith abfinden.«

 

Der Herzog schwieg einen Augenblick. Alle Leute im Saal beobachteten, daß sich Marjorie anscheinend angeregt mit ihm unterhielt; nicht die geringste Bewegung der beiden interessanten Persönlichkeiten entging ihnen.

 

Plötzlich erhob sich der Prinz, und es herrschte sofort Stille. Würde er eine Erklärung für den sonderbaren Zwischenfall abgeben?

 

»Meine Damen und Herren«, begann der Herzog von Wight, »ich bringe einen Toast aus auf Seine Majestät den König.«

 

Die Sache wurde also mit Stillschweigen übergangen, und es blieb ihnen selbst überlassen, herauszubringen, was diese ungewöhnliche Szene bedeutet haben mochte.

 

Marjorie war mit niemandem verlobt, soweit ihnen bekannt war, und bestimmt würde dieses Mädchen nicht einen Vagabunden und Herumtreiber heiraten, der sich derartig benahm.

 

Es gab mindestens ein Dutzend junger Leute in der Umgebung, die Marjorie mit Freuden zum Altar geführt hätten. Sie hatte viele Freunde, denen der Auftritt so peinlich war wie ihr selbst. Sie nahmen sich alle vor, später über diese Angelegenheit noch ein ernstes Wort mit Mr. Lance Kelman zu sprechen. So leicht sollte er nicht davonkommen, nachdem er die junge Dame so schwer beleidigt hatte.

 

Schließlich vergaß man die unangenehme Sache, als die Tischreden begannen, und Marjorie hörte wie im Traum das große Lob, das ihr der Prinz in seiner Rede spendete. Nachdem er geendet hatte, wandte er sich zu ihr und heftete ihr die Insignien des Ordens vom Roten Kreuz an.

 

Die Versammlung brach in spontane und begeisterte Hochrufe aus. Nur Lady Tynewood blieb stumm auf ihrem Stuhl sitzen und rührte sich nicht. Sie beobachtete die Szene aber genau durch ihr brillantenbesetztes Opernglas, und ihre Wut und ihr Neid kannten keine Grenzen mehr.

 

»Der Mann muß sich tatsächlich selbst in das Mädchen verliebt haben«, sagte sie laut.

 

Ihr Tischnachbar, ein etwas altmodischer Herr, sah sie mit einem bösen Blick an.

 

»Solche Worte wünsche ich nicht wieder in diesem Saal zu hören«, erwiderte er und wandte ihr den Rücken zu.

 

Sie kümmerte sich aber nicht darum. Ihre Gedanken waren nur damit beschäftigt, wie sie sich an Marjorie rächen könnte. Dieser Pretoria-Smith mußte ihr dabei helfen. Sie hatte ihn an diesem Tag zum erstenmal gesehen, aber sie wollte ihn näher kennenlernen und ihn für ihre Zwecke ausnützen.