Kapitel 6

 

6

 

»Dean macht das Rennen!« schrien die Leute wild durcheinander.« Auf den billigeren Plätzen hatte man es zuerst leise geäußert, aber nun ertönte dieser Ruf von allen Seiten.

 

Drei Pferde galoppierten dicht nebeneinander, dem Gros weit voraus. Aber ein viertes Pferd machte sich auffallend bemerkbar. Es war stark und kräftig gebaut, und seine wilde, rotbraune Mähne flatterte im Winde. Alle Augen waren auf Dean gerichtet.

 

Er lief ganz allein auf der Außenseite und holte gegen die Spitzengruppe immer mehr und mehr auf.

 

»Dean macht das Rennen!«

 

Näher und näher kam das Feld. Der berühmte Jockey Mahon spornte Battling Jerry an; denn er hatte sich umgesehen und die drohende Gefahr erkannt.

 

Einmal, zweimal gebrauchte er die Peitsche, aber er konnte nichts mehr aus dem Pferd herausholen.

 

Zwanzig Meter vom Ziel entfernt, strauchelte Battling Jerry und schwankte. Mahon riß ihn wieder in die Höhe, aber es war zu spät. Dean hatte als Erster das Ziel passiert.

 

Eric Stanton wischte sich die Stirn.

 

Was war das für ein Rennen gewesen!

 

»Dieser verdammte Dean!« brummte Wilton, der neben ihm stand.

 

»Wieso denn?«

 

»Ich dachte, Jerry würde gewinnen«, entgegnete Toady Wilton ärgerlich. Er war sonst eine unfehlbare Autorität in bezug auf Rennen, aber heute hatte er viel Geld verloren.

 

»Ich war meiner Sache wegen Jerry nicht so sicher«, erklärte Stanton nachdenklich, »und ich habe auch nichts dagegen, daß der alte Dean gesiegt hat.«

 

Wilton sah ihn verwundert an, denn Stanton war der Eigentümer von Battling Jerry.

 

»Wenn Sie so denken, ist ja weiter nichts über die Angelegenheit zu sagen. Ich wünschte nur, ich hätte nicht auf Jerry gesetzt.«

 

Wilton verschwand in der Menge, und Eric Stanton ging zu seinem Pferd. Sein Trainer Clew überwachte gerade das Absatteln.

 

»Beinahe hätten wir das Rennen gewonnen«, meinte der Mann. »Aber Jerry konnte auf den letzten fünfzig Metern nicht mehr gegen Dean ankommen. Mahon wußte das auch. Und Jerry hat das Letzte hergegeben …«

 

»Mahon kann das ja am besten beurteilen. Ich glaube ihm unbedingt«, entgegnete Eric. »Auf jeden Fall war es ein glänzendes Rennen.« Er sah sich um. »Wo ist Mr. President?«

 

Clew lächelte.

 

»Es ist phantastisch, wie der alte Herr seinen Dean trainiert. Das Pferd muß doch jetzt schon zehn Jahre alt sein!«

 

»Die Australier verstehen sich auf Pferde. Aber ich will nichts gegen Sie gesagt haben, Clew«, fügte er hinzu.

 

»Ich begreife«, entgegnete Clew ruhig. »Aber vor dem alten Mr. President kann man wirklich den Hut abnehmen. Er vollbringt geradezu Wunder mit Dean.«

 

In diesem Augenblick sah Eric den alten Herrn, über den sie gerade gesprochen hatten, und bahnte sich einen Weg durch die Presseleute.

 

John President stand etwas abseits von den anderen. Trotz seiner achtzig Jahre hielt er sich noch vollkommen aufrecht wie ein Soldat.

 

Er hatte einen kleinen, kurzgeschnittenen Bart, und unter dem grauen Zylinder sah man seine schneeweißen Haare. Sein durchfurchtes Gesicht hatte eine frische Farbe und war sonnverbrannt. Als er Eric kommen sah, lächelte er ihm freundlich zu. Seine Bewegungen waren noch jugendlich lebhaft.

 

»Ah, Mr. Stanton«, sagte er mit tiefer, melodischer Stimme, »wir haben Sie geschlagen beim Rennen! Das tut mir einerseits wirklich leid, andererseits bin ich natürlich darüber hocherfreut.«

 

Eric nahm die ausgestreckte Hand und drückte sie kräftig.

 

»Auf jeden Fall war es ein glänzendes Rennen. Es ist wirklich erstaunlich, wie mustergültig der alte Dean von Ihnen trainiert wurde. Sie haben ja allerdings auch nur dieses eine Pferd.«

 

»Nein, das ist ein Irrtum. Ich besitze zwei«, erwiderte Mr. President vergnügt. »Aber Dean ist so groß und stark, daß er einen Stall für sich allein braucht. Die Leute wissen im allgemeinen nicht recht, was sie von mir halten sollen«, fuhr der alte Herr fort und zeigte mit dem Kopf nach der Menge. »Manche sagen, es wäre Hochverrat, daß ein alter Australier wie ich mit einem so alten Pferd nach Ascot geht und die besten Preise wegschnappt. Dean hat tatsächlich kein schnittiges Aussehen, aber auf der Rennbahn zeigt er doch immer noch zähe Ausdauer!«

 

»Auf jeden Fall beweist er durch seinen Galopp, daß er es mit allen anderen Pferden in Ascot aufnehmen kann«, entgegnete Eric lächelnd.

 

»Er ist meine dritte Hoffnung«, sagte Mr. President etwas rätselhaft. »Ich verlasse mich auf ihn – und auf die beiden anderen auch. Eines Tages wird mein sehnlichster Wunsch doch noch in Erfüllung gehen.«

 

Eric sah ihn überrascht an, denn er verstand diese merkwürdigen Worte nicht. Was konnte denn der sehnlichste Wunsch dieses alten Mannes noch sein? Ein Mensch in seinen Jähren hatte gewöhnlich keine Wünsche mehr. Aber Eric bekam keine weitere Erklärung.

 

Er unterhielt sich noch einige Zeit mit Mr. President und trennte sich dann von ihm, um seine Gäste aufzusuchen.

 

Es war ein herrlicher Frühlingstag, und der Andrang des Publikums zu dem Rennen war außergewöhnlich groß;

 

Als Stanton zum Teepavillon kam, fand er nahezu alle Plätze besetzt. Aber schließlich entdeckte er einen kleinen Tisch an der Außenseite, andern noch ein Stuhl frei war. Ihm gegenüber saß eine junge Dame, die anscheinend ohne Begleitung war. Ihre großen, dunklen Augen wirkten äußerst anziehend; sie hatte feingeschnittene Züge, eine gerade Nase und frische, rote Lippen. Er hatte das Gefühl, daß er sie früher schon einmal gesehen haben mußte, und plötzlich entsann er sich.

 

»Verzeihen Sie, habe ich die Ehre mit Miss President?«

 

Sie nickte lächelnd.

 

»Wir haben uns doch bei dem Eisenbahnunglück in Südfrankreich gesehen?«

 

»Das stimmt. Ich kann mich deutlich an Ihre Stimme erinnern. Sie standen hinter mir, als Monsieur Soltescu so laut über seinen Verlust klagte.«

 

Ihre Züge verdüsterten sich einen Augenblick, aber er konnte nicht ahnen, was die Ursache dazu war. Sie plauderten miteinander, und nach einigen Minuten war es ihnen, als ob sie sich schon seit Jahren kennen müßten. Sein freundliches, offenes Wesen gefiel ihr sofort, und auch er fühlte, daß er ihr sympathisch war.

 

Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß sie nicht einmal bemerkten, wie sich der Teepavillon allmählich leerte. Erst als das Glockenzeichen von der Rennbahn her ertönte, erkannten sie, daß sie das Rennen versäumt hatten.

 

»Es täte mir sehr leid, wenn ich Sie aufgehalten hätte«, sagte sie lächelnd.

 

»Nein, nein, durchaus nicht. Ich habe sowieso kein großes Interesse an den anderen Rennen, die heute noch gelaufen werden. Darf ich Sie zum Sattelplatz begleiten?«

 

Sie nickte und nahm ihre Tasche auf.

 

»Wahrscheinlich treffen wir meinen Großvater dort«, meinte sie. Diese Feststellung machte sie etwas widerwillig, denn sie hatte sich in der Gesellschaft dieses hübschen jungen Mannes außerordentlich wohl gefühlt.

 

Als sie fortgingen, begegnete ihnen am Ausgang ein Herr. Er grüßte Miss President höflich, aber sie nickte nur kühl.

 

»Kennen Sie Sir George Frodmere auch?« fragte Eric.

 

»Er kennt uns«, sagte sie gleichgültig. »Er bewundert meinen Großvater wegen seiner Tüchtigkeit. In der letzten Zeit war er öfter bei uns, aber ich mag seine Gesellschaft nicht sehr. Hoffentlich ist er nicht Ihr Freund.«

 

Eric lachte.

 

»Nein, er ist durchaus kein Freund von mir. Und er weiß auch, daß ich nicht viel von ihm halte.«

 

Sie betrachtete ihn lächelnd.

 

»Und was halten Sie von Mr. Wilton, der immer in seiner Begleitung ist? Kennen Sie den genauer? Ich sah Sie vorhin zusammen auf der Tribüne.«

 

Sie biß sich auf die Lippen und errötete, denn sie hatte nicht verraten wollen, wie sehr sie sich für ihn interessierte. Während sie in angeregter Unterhaltung über den Platz gingen, warf sie ab und zu einen scheuen Blick auf ihn.

 

Milton Sands beobachtete die beiden und lächelte verständnisvoll.

 

»Sehen Sie einmal dorthin, Miss Symonds«, sagte er.

 

Eine schlanke junge Dame ging neben ihm her. Ihre Augen strahlten, und ihre Umgebung schien sie auf das lebhafteste zu interessieren. Im Gegensatz zu den kostbaren Toiletten, die man bei den Rennen sehen konnte, war sie einfach gekleidet. In Wesen und Haltung aber machte sie durchaus den Eindruck einer Dame.

 

»Wen meinen Sie?« fragte sie eifrig. Sie besuchte zum erstenmal ein Rennen, und alles kam ihr neu und wunderbar vor.

 

»Dort den Herrn und die Dame.«

 

Sie nickte und lachte vergnügt.

 

»Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich freue. Es war zu liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mich mitgenommen haben.« Sie lächelte ihn an. »Es ist alles so herrlich, und ich gehe auch so gern mit Ihnen. Sie sind so anders –«

 

»Darauf bilde ich mir auch etwas ein. Ich bin tatsächlich anders als die anderen.«

 

»Ich scherze aber nicht. Sie sind anders als alle meine früheren Chefs, für die ich gearbeitet habe.« In ihren großen Augen zeigte sich Bewunderung. »Sie sind immer so gut zu mir, und ich dachte doch früher, daß die Leute aus den Kolonien einen sehr rohen Charakter hätten.«

 

»Sie haben eben noch nicht den nötigen Überblick im Leben. Habe ich Sie nicht aus dem entsetzlichen Büro des Rechtsanwalts befreit, wo Sie fünfundzwanzig Schilling die Woche für Ihre harte Arbeit erhielten und die unglaublichsten Schriftsätze dafür herunterklappern mußten? Habe ich Sie nicht zur Privatsekretärin des berühmtesten Detektivs gemacht?« Er sah Tränen in ihren Augen und war erstaunt. »Aber was fehlt Ihnen denn, liebes Kind? Ich mache doch nur Spaß.«

 

»Ich dachte, Sie meinten es im Ernst. Aber, bitte, machen Sie sich nicht lustig über mich.«

 

»Soll sich einer bei den Frauen auskennen! Sie müssen doch immer daran denken, daß Sie der Juniorpartner des großen Detektivs Sands sind! Haltung, meine junge Dame!«

 

»Sollen wir uns vielleicht verkleiden und mit falschen Perücken und Bärten hier auf dem Rennplatz herumlaufen?« fragte sie vergnügt.

 

»Das haben wir im Augenblick nicht nötig» Aber wir wollen uns jetzt einmal wie durstige Rennbesucher benehmen und zum Teepavillon gehen.«

 

»Ja, das ist eine gute Idee.«

 

Zwei Jahre waren vergangen, seitdem Milton Sands ein ängstliches Mädchen vor den Angriffen einer wütenden Wirtin beschützt hatte. Milton hatte damals als Abenteurer ziemlich viel Pech und fast all sein Geld auf den Rennen in Ascot verloren. Früher bewohnte er eine Anzahl von Räumen im Imperial-Hotel, aber dann mußte er sich auf ein bescheidenes Zimmer in Pimlico beschränken, für das er die immer noch sehr hohe Miete von acht Schilling wöchentlich zahlte. Janet Symonds wohnte bei derselben Wirtin. Sie nahm damals Unterricht in Maschinenschreiben und Stenographie, war aber noch nicht weit in ihren Kenntnissen gekommen.

 

Sie bekam eine wöchentliche Unterstützung von zehn Schilling, die ihr der Testamentsvollstrecker ihrer Mutter auszahlte. Aber das reichte natürlich nicht für ihren Lebensunterhalt aus, und sie war daher in Rückstand mit ihrer Mietzahlung gekommen. Die Wirtin ging auf ihr Zimmer und schimpfte entsetzlich, und als der Skandal gerade seinen Höhepunkt erreichte, erschien Milton Sands auf der Bildfläche. Er machte der unerquicklichen Szene ein kurzes Ende, nahm die Wirtin beiseite und zahlte die rückständige Miete für Miss Symonds. Die Frau hütete sich nachher, Janet gegenüber auch nur die geringste unangenehme Bemerkung zu machen, da sie sich vor Mr. Sands fürchtete.

 

Von jenem Tag an datierte die Freundschaft der beiden. Milton kümmerte sich auch weiterhin um das Mädchen, sorgte dafür, daß sie in ein Heim für junge Damen aufgenommen wurde, und verschaffte ihr die Stellung bei dem »schrecklichen Rechtsanwalt«, der in Wirklichkeit gar nicht so schrecklich war. Aber es folgten schöne Tage für sie, als er wieder in der Lage war, seine Zimmer im Imperial-Hotel zu beziehen und ein Detektivbüro aufzumachen. Er hatte hübsche, vornehm ausgestattete Räume in der Regent Street mit grausamtenen Vorhängen und einem mauvefarbenen Teppich. Die modernen Möbel paßten vorzüglich dazu. Auch das kleine Büro seiner Sekretärin war elegant eingerichtet.

 

»Sie müssen mir nun aber auch bei der Auffindung von Mr. Stantons Schwester helfen«, sagte er, als sie an dem Abend zur Stadt zurückkehrten. »Ich habe so eine Ahnung, daß Sie gewisse Informationen leichter bekommen können als ich.«

 

»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht«, entgegnete sie bereitwillig.

 

Kapitel 7

 

7

 

Es kamen nur wenig Leute in das Büro der Detektivagentur, denn Milton annoncierte nicht in den Zeitungen und setzte einem jungen Mann, der ihn zur Aufgabe einiger Anzeigen veranlassen wollte, seine Gründe dafür auseinander.

 

»Ich ziehe es vor, nicht an die Öffentlichkeit zu treten. Ich habe eine ausgesuchte Kundschaft, und die vornehmsten Herrschaften verkehren bei mir«, erklärte er.

 

Aber seine Worte schienen auf den Besucher wenig Eindruck zu machen.

 

»Dann haben Sie doch auch das nötige Geld, um ein paar Annoncen aufzugeben.«

 

»Werden Sie nicht unverschämt«, warnte ihn Milton. »Sonst muß ich Sie aus dem Fenster hinauswerfen, und Sie landen dann auf der Lichtreklame des Zahnarztes, hier unter mir seine Praxis ausübt.«

 

Er lachte, als der Annoncenreisende das Büro verließ.

 

»Wenn der wüßte, wie wir unsere Nachmittagsstunden hier zubringen«, sagte er und nahm einen Pack Spielkarten aus einer Schublade. »Was wollen wir spielen – Piquet oder Bezique?«

 

»Piquet«, antwortete Janet prompt und holte aus einer anderen Schublade eine Schachtel Pralinen hervor.

 

»Zehn Pfund für hundert Punkte«, schlug Milton vor.

 

»Nein, ein Schilling für tausend«, erklärte sie.

 

Aber sie wurden schon wieder unterbrochen, als sie kaum angefangen hatten zu spielen. Es klopfte leise an der Bürotür, und Milton raffte die Karten rasch zusammen, Janet hatte gerade noch Zeit genug, an ihre Maschine zu eilen. Sie schrieb mit rasender Geschwindigkeit, als Monsieur Soltescu hereintrat.

 

»Sind Sie Mr. Sands?« fragte er.

 

»Ja. Nehmen Sie bitte Platz, Monsieur Soltescu.«

 

»Woher kennen Sie mich denn? Sie haben mich doch noch nicht gesehen?« fragte der Rumäne lächelnd. Er fühlte sich sehr geschmeichelt.

 

»Ein Detektiv muß alle Leute kennen – wenigstens alle bedeutenden Leute«, erklärte Milton ernst. »Auf jeden Fall sind Sie mir bekannt. Ich habe Ihren Namen schon öfters gehört. In den Zeitungen wurde ja über die Waffenlieferungen nach den Philippinen berichtet, und wenn ich nicht irre, waren Sie auch einer der Geldgeber für die letzte Revolution in Südamerika. Waren Sie nicht auch in den Raub der Kronjuwelen verwickelt?«

 

Monsieur Soltescu lachte.

 

»Sie dürfen nicht allen bösen Gerüchten glauben. Die sind zum größten Teil frei erfunden. Tatsache ist nur, daß ich ein verhältnismäßig großes Vermögen besitze, das mir natürlich Neid und Mißgunst vieler Leute einträgt. Ich kümmere mich aber nicht weiter darum. Ich hätte viel zu tun, wenn ich alle Leute verklagen wollte, die verleumderisch über mich sprechen.«

 

Er nahm Milton gegenüber am Schreibtisch Platz.

 

»Ich habe Ihre Annonce im Matin vor etwa drei Wochen gelesen«, sagte Sands. »Deshalb habe ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Ich bin erst seit kurzer Zeit Privatdetektiv, aber ich kenne die Verbrecherbanden, die in den Eisenbahnzügen nach der Riviera arbeiten.«

 

»Die kommen nicht in Frage«, unterbrach ihn Soltescu sofort. »Ich glaube, daß mir ein Gelegenheitsdieb die Mappe entwendet hat, und ich habe sogar einen ganz bestimmten Verdacht.«

 

Milton sah ihn durchdringend an.

 

»Das glaube ich auch«, entgegnete er ruhig. »Aber sagen Sie mir bitte, wen Sie verdächtigen.«

 

Soltescu zögerte.

 

»Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen gleich sagen soll«, erwiderte er vorsichtig.

 

Milton lachte ironisch.

 

»Tun Sie nur, was Sie für gut halten. Sie brauchen mein Angebot ja auch nicht anzunehmen. Aber ich kann Ihnen nur sagen, daß es in England niemand gibt, der Ihnen mehr helfen könnte als ich.«

 

Die letzten Worte sagte er mit so viel Überzeugung, daß er Eindruck auf den Rumänen machte.

 

»Nun, wir können es ja einmal versuchen«, erklärte Soltescu nach einer kurzen Pause.

 

»Sie müssen mir natürlich erst alle Unterlagen geben«, entgegnete Milton kurz. »Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie verloren haben, und warum Ihr Verdacht auf eine ganz bestimmte Persönlichkeit fällt. Zunächst beschreiben Sie mir einmal die Aktentasche.«

 

Er griff nach Bleistift und Papier, um die Angaben schriftlich festzuhalten.

 

»Sie war aus schwarzem, russischem Leder, etwa fünfzig auf fünfunddreißig Zentimeter groß und durchaus nicht auffällig. Sie hatte vier besondere Abteilungen, und als Kennzeichen möchte ich erwähnen, daß mein Monogramm auf der Klappe eingeprägt war.«

 

Milton machte sich schnell die nötigen Notizen.

 

»In der Mappe befanden sich nicht ganz vierzigtausend Pfund in englischen Banknoten und etwas französisches Papiergeld. Aber darauf kommt es mir weniger an. Von größtem Wert für mich sind dagegen die Schriftstücke, die darin lagen. Sie waren mit einer Klammer zusammengehalten und enthielten die Beschreibung einer hochwichtigen Erfindung, nämlich des biegsamen Glases. Ursprünglich steckten die sechs Schreibmaschinenbogen in einem Briefumschlag. Bei dem Zusammenstoß ließ ich die Mappe fallen. Eine junge Dame hat die Papiere aufgehoben.« Er sprach langsam und betonte jedes Wort. »Und diese Dame habe ich im Verdacht, daß sie mir die Mappe entwendet hat. Die näheren Gründe möchte ich Ihnen jetzt nicht mitteilen. Sobald sie mir den Briefumschlag zurückgegeben hatte, ging ich damit in mein Abteil zurück. Damals kam mir zum Bewußtsein, daß die Aufschrift auf dem Kuvert zu unliebsamen Weiterungen führen könnte. Ich nahm die Schriftstücke daher heraus und steckte sie ohne Hülle in meine Mappe.«

 

»Welche Aufschrift trug denn das Kuvert?«

 

Soltescu schüttelte den Kopf. Über diesen Punkt wollte er durchaus keine genaueren Angaben machen, denn es hätte seine Schwierigkeiten höchstens noch vergrößert, wenn er den Namen John President im Augenblick genannt hätte. Besonders da er jetzt wußte, daß John President tatsächlich noch lebte und daß diesem Mann die Papiere gestohlen worden sein mußten.

 

»Ich will Ihnen nur den Namen der Dame nennen. Es war Mary President, und ich habe allen Grund zu der Annahme, daß die Schriftstücke augenblicklich in ihrem Besitz sind.«

 

Milton Sands überlegte einen Augenblick.

 

»Ich glaube, daß Sie sich irren. Aber wenn Sie mir den Fall übertragen, werde ich sehen, was ich tun kann. Sie wünschen doch, daß ich den Dieb fasse?«

 

Soltescu lächelte.

 

»An der Bestrafung des Diebes habe ich weniger Interesse. Mir liegt vor allem an den Schriftstücken selbst.«

 

Milton Sands klopfte nachdenklich mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte.

 

»Ich habe mich mit der Sache bereits befaßt. Soweit ich weiß, befanden sich in dem Zug von Nizza nach Paris mehrere verdächtige Persönlichkeiten – Bud Kitson, Sir George Frodmere, Mr. Toady Wilton, außerdem Tom Sench, der australische Bankräuber, und Black Boyd, der New Yorker Betrüger. Ich könnte Ihnen noch einige mehr oder weniger obskure Individuen nennen.«

 

»Wie haben Sie denn das alles herausgebracht?« fragte Soltescu verblüfft.

 

Milton lächelte schlau, gab aber keine weitere Erklärung. Er hatte ja diese Leute selbst alle im Zug gesehen, hielt es jedoch nicht für klug, seinen Besucher darüber aufzuklären.

 

Der Rumäne erhob sich.

 

»Ihr Gesicht kommt mir merkwürdig bekannt vor«, sagte er plötzlich.

 

»Ich kann Ihnen auch den Grund dafür angeben. Vor zehn Jahren kam ich als ziemlich reicher junger Mann von Australien nach Nizza und spielte dort in einem Privatklub. Damals war ich im Besitz von vierzigtausend Pfund. Ich spielte die ganze Nacht mit einem sehr interessanten Rumänen und seinen Freunden, und als ich am Morgen den Klub verließ, hatte ich nur noch einige Franc in der Tasche.«

 

Soltescu sah Milton Sands genauer an, dann lachte er. laut auf.

 

»Ganz recht, jetzt besinne ich mich auf Sie. Ich kann mich deutlich erinnern. Sie haben damals so entsetzlich mit Ihrem Geld renommiert. Aber das eine kann ich Ihnen sagen: Das Spiel war absolut fair.«

 

»Ich habe auch nicht das Gegenteil behauptet«, erwiderte Milton, als er seinen Besucher zum Fahrstuhl geleitete.

 

»Nun, das wäre wenigstens ein Auftrag mehr«, meinte er ein paar Minuten später, als er wieder ins Büro zurückkam. »Wenn ich die Formel auch nicht finden werde, so kann ich doch meine Tätigkeit genügend hoch berechnen.«

 

Kapitel 20

 

20

 

Milton Sands ging langsam und nachdenklich zu seinen Freunden zurück. Janets Abwesenheit fiel ihm sofort auf, und er fragte nach ihr.

 

»Sie wird schon nicht verlorengehen«, sagte Mary President heiter. »Sicher kommt sie bald wieder zurück.«

 

Sie zog ihren Stuhl etwas vor und sah auf den Rennplatz, den die Polizei räumte, damit das nächste Rennen stattfinden konnte. Aber die Aufregung des Publikums über den seltsamen Ausgang des Derbys hatte sich noch nicht gelegt. Die Leute schrien immer noch durcheinander.

 

John President war auch fortgegangen, denn er sorgte sich um Donavan.

 

»Es ist ein großer Tag für uns«, meinte Eric.

 

»Vielleicht ist Janet bei meinem Großvater«, sagte Mary plötzlich. »Gleich nachdem Sie fortgingen, ist sie gerufen worden.«

 

Milton nickte, er war keineswegs beunruhigt.

 

Kurze Zeit später klopfte es zaghaft an der Tür der Loge.

 

Milton runzelte die Stirn, als er sah, daß Toady Wilton bleich und verstört hereinkam.

 

»Ist es gestattet, daß ich nähertrete?« fragte er höflich.

 

Sands wechselte einen schnellen Blick mit Eric Stanton.

 

»Kommen Sie herein«, sagte er dann kühl.

 

Mr. Wilton fühlte den eisigen Empfang, der ihm von allen Seiten bereitet wurde.

 

»Ich muß mich entschuldigen, daß ich störe«, begann er zögernd. Er machte einen so niedergeschlagenen Eindruck, daß Mary ihn unwillkürlich bedauerte.

 

»Ich habe einen solchen Ausgang des Rennens nicht vermutet, Mr. Stanton. Glauben Sie mir, ich habe nichts von dem Betrug gewußt. Es war eine ebenso große Überraschung für mich wie für alle anderen.«

 

Eric erwiderte nichts. Milton sah Today neugierig an und wunderte sich, daß es dieser Mann wagte, sich Stanton noch einmal zu nähern.

 

»Es war eine entsetzliche Geschichte«, führ Wilton fort und wischte sich die Stirn mit einem seidenen Taschentuch. »Ich habe niemals geglaubt, daß Sir George einen derartigen Betrug begehen könnte. Ich kann zwar das Geschehene nicht wieder gutmachen, aber ich möchte doch Sir George wenigstens daran hindern, daß er eine noch größere Schandtat begeht.«

 

Er sah sich um, ob seine Worte Eindruck gemacht hatten. Eric Stanton erwiderte seinen Blick mit eisiger Kälte, aber Milton nickte ihm ermutigend zu.

 

»Ich hatte eine kurze Unterredung mit Buncher«, erzählte Toady weiter. Er stand immer noch im Eingang der Loge und wagte nicht, näherzutreten. »Er glaubte, daß ich das volle Vertrauen Sir Georges besitze, und so kam es, daß er mir den schändlichen Plan mitteilte.«

 

»Was ist denn das für ein Plan?« Milton nahm an, daß Toady ihm noch Einzelheiten über den Turfschwindel enthüllen wollte.

 

»Natürlich weiß ich nichts Genaues darüber.« Wilton zuckte die Schultern.

 

»Ich nehme ohne weiteres an, daß Sie ein unschuldiger Helfershelfer sind.«

 

»Nein, nicht einmal das«, erklärte Toady schnell. »Ich sagte Ihnen ja, daß ich von der ganzen Sache nichts wußte. Sir George hat mir heute gesagt, daß er heiraten wolle.«

 

»Was, er will sich verheiraten?« fragte Milton erstaunt. »Das ist allerdings eine merkwürdige Neuigkeit. Wer ist denn die Auserwählte?«

 

Toady war so verwirrt, daß er kaum zusammenhängend sprechen konnte. Er sah Eric bittend an.

 

»Ich weiß nicht, wie Sir George die Identität der Dame entdeckte. Aber wahrscheinlich steckt seine Schwester dahinter. Sie war neulich in Ihrem Büro.«

 

»Erzählen Sie doch endlich, was eigentlich los ist«, sagte Milton ungeduldig. »Mrs. Thompson hat tatsächlich mein Büro aufgesucht und Miss Symonds eine Menge Unsinn über Detektivarbeit vorgeredet.«

 

»Sie hat auch noch über andere Dinge gesprochen.« Toady faßte jetzt mehr Vertrauen. »Sie hat Ihre Sekretärin gefragt, ob sie nicht ein Muttermal am linken Fuß hätte, und das Mädchen gab zu, daß sie am Knöchel einen gelben, schlangenartigen Streifen hätte.«

 

Milton sprang plötzlich auf.

 

»Was?« rief er atemlos. »Sagen Sie mir sofort, was Sie davon wissen.« Er packte Toady an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Ist das die Dame, die er heiraten will?«

 

Wilton konnte nur nicken.

 

»Wann soll denn die Hochzeit stattfinden?« fragte Sands.

 

»Sofort. Er hat sie heute nachmittag in einem Auto entführen lassen.«

 

»Was hat denn das alles zu bedeuten?« fragte Eric Stanton verwundert und schaute erstaunt von einem zum andern.

 

»Das bedeutet, daß Janet Symonds Ihre Schwester ist, die wir schon so lange suchen, und wenn Wilton die Wahrheit sagt, dann befindet sie sich jetzt in der Gewalt Sir George Frodmeres.«

 

Er eilte hinaus und fand seinen Chauffeur, der bei einigen Kollegen stand.

 

»Holen Sie schnell den Wagen. Haben Sie Miss Symonds gesehen?«

 

Der Mann nickte.

 

»Sie ist vor ungefähr zehn Minuten hier vorbeigefahren.«

 

»Wer war in ihrer Gesellschaft?«

 

»Soweit ich sehen konnte, war sie allein. Es war ein geschlossener Wagen. Zufällig stand ich an der Ausfahrt.«

 

Eine Beschreibung des Wagens konnte Milton im Augenblick nicht viel helfen. Der Autoverkehr war momentan so groß, daß die Polizei nicht alle Wagen kontrollieren konnte. Milton gab zwar die Beschreibung, die er von seinem Chauffeur erhalten hatte, an den aufsichtsführenden Polizeiinspektor weiter, aber das war alles, was er tun konnte. Er ging zur Loge zurück, wo Eric Stanton ungeduldig auf ihn wartete. Toady Wilton war auch noch nicht gegangen.

 

»Sie sind der einzige, der mir noch einige Informationen geben kann«, sagte Milton zu ihm. »Nennen Sie mir alle Plätze, an die Sir George die Dame eventuell bringen könnte.«

 

Wilton zählte sie der Reihe nach auf, aber Sands schüttelte jedesmal den Kopf.

 

»Dann wüßte ich nur noch einen Platz, aber ich glaube nicht, daß er sie dorthin bringen läßt.«

 

»Sagen Sie doch schon, was Sie meinen.«

 

»Sein Hausboot an der Themse. Es ist aber schon sehr alt und kaum noch seetüchtig. Es liegt einige Meilen östlich von Reading.«

 

Auf Miltons Drängen beschrieb Toady den Ankerplatz.

 

»Aber ich glaube wirklich nicht, daß Sie die Dame dort finden. Ich war selbst noch vor ein paar Wochen dort. Das Boot ist zwar sehr geräumig, aber nicht mit Möbeln ausgestattet. Es ist außerdem defekt und zieht Wasser. Dauernd muß es ausgeschöpft werden, und es besteht immer die Gefahr, daß es an seinem Ankerplatz untergeht. Die Firma Mayton hat dreihundert Pfund verlangt, um das Boot wieder herzurichten und auszustatten.«

 

»Wann hat er bei der Firma angefragt?«

 

»Ich habe den Brief von Mayton erst vorgestern gesehen. Er kann etwa eine Woche alt sein. Auf das Datum habe ich nicht genau geachtet.«

 

Milton ging sofort zur Garage und fuhr nach Epsom, wo er vor dem Postgebäude haltmachte. Er bekam nicht gleich Verbindung mit London, denn an dem heutigen Renntag war der Telefonverkehr zwischen Epsom und London ungeheuer groß. Aber nach einem unliebsamen Aufenthalt gelang es ihm doch, die Firma Mayton zu erreichen, und er erfuhr, daß sie tatsächlich von Sir George Frodmere den Auftrag bekommen hatte, das Boot neu auszustatten, und daß die Arbeit in kürzester Zeit ausgeführt worden war.

 

Milton hängte den Hörer an.

 

»Wir müssen zu dem Hausboot fahren«, sagte er nur kurz zu Eric, der ihn begleitete.

 

Nach zwei Stunden Fahrt waren sie in Reading, das sie mit höchster Geschwindigkeit durchfuhren. Außerhalb der Stadt kamen sie ans Ufer der Themse, wo tatsächlich ein großes Hausboot vertäut lag.

 

Eric sprang zuerst aus dem Wagen, und Milton folgte ihm auf dem Fuß. Sie eilten den schlechten Weg entlang, der zum Anlegeplatz führte, aber hier erlebten sie eine unliebsame Überraschung. Das Hausboot war besetzt. Mehrere Damen hielten sich oben an Deck auf, und ein starker, untersetzter Mann stand am Ufer. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, rauchte eine Zigarre und sah neugierig auf die beiden Herren, die sich dem Boot näherten.

 

»Ja, Sie haben vollkommen recht«, erwiderte er auf Miltons Frage. »Das ist das Hausboot von Sir George Frodmere. Aber ich habe es auf einen Monat von ihm gemietet.«

 

Miltons Hoffnung sank.

 

»Ich bin heute mit meiner Familie hierhergekommen.«

 

Gewohnheitsmäßig beobachtete Milton alle Menschen sehr genau, und so fiel ihm auf, daß der Mann sehr viel gestikulierte und mit einer wohlklingenden, gepflegten Stimme sprach.

 

»Ich suche nach einer jungen Dame«, erklärte er, »einer gewissen Miss Symonds.«

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Sie ist nicht auf unserem Boot«, entgegnete, er höflich. »Wenn Sie wollen, können Sie an Bord gehen und sich persönlich davon überzeugen.«

 

Milton wußte, daß das zwecklos sein würde.

 

»Erwarten Sie noch jemand?«

 

»Nein, niemand.«

 

»Entschuldigen Sie dann bitte, daß ich Sie gestört habe«, erwiderte Milton.

 

Die beiden kehrten zu ihrem Wagen zurück.

 

»Ich war eigentlich fest davon überzeugt, daß wir sie hier finden würden«, erklärte Milton mutlos. »Es ist nicht die ausgesetzte Belohnung, die mich anspornt – ich habe mich vor einiger Zeit mit Janet verlobt.«

 

Stanton reichte ihm die Hand, und Milton drückte sie schweigend.

 

»Wir wollen in Reading zu Abend essen, dann können wir nachher um so eifriger unsere Nachforschungen fortsetzen.«

 

Sie hatten bald, ein geeignetes Hotel gefunden, und sie setzten sofort Telegraf und Telefon in Bewegung. Scotland Yard hatte bereits alle Maßnahmen getroffen, aber bis jetzt war kein Bericht über den gesuchten Wagen eingelaufen. Detektive waren nach Pennwaring geschickt worden, um das Herrenhaus und alle anderen Orte zu beobachten, wo sich Sir George hätte verstecken können.

 

»Es wird besser sein, wenn wir die Nacht über hierbleiben«, erklärte Milton. »Reading ist für unsere Zwecke durchaus geeignet. Frodmeres Interessen konzentrieren sich ja in der Hauptsache auf Westengland.«

 

Eric Stanton stimmte zu. Es war dasselbe, ob sie hierblieben oder zur Stadt zurückkehrten.

 

Kapitel 21

 

21

 

Östlich von Reading liegt ein uninteressanter, eintöniger Landstrich, der an die Themse grenzt. Es sind fast ausschließlich niedrig liegende Wiesen, die stets überschwemmt werden, wenn der Fluß aus den Ufern tritt. Seit langer Zeit hatte das Hausboot keine Fahrt mehr auf dem Strom unternommen, weil man allgemein der Ansicht war, daß ein derartiger Ausflug wahrscheinlich seinen Untergang bedeuten würde.

 

Janet Symonds wußte nicht, warum das Auto, in dem sie fuhr, in der Nähe von Reading von der Straße abbog und über einen holperigen Feldweg dem Ufer zusteuerte. Es war ihr klar, daß sie eine Gefangene war. Buncher hatte sie das fühlen lassen, als er bei einer Tankstelle halten mußte.

 

»Sie haben vor allem den Mund zu halten und ruhig zu sein«, sägte er drohend. »Ich habe den Auftrag bekommen, Sie zu Mr. Milton Sands zu bringen. Wenn Sie das nicht glauben wollen, dann lassen Sie es bleiben. Aber ich dulde unter keinen Umständen, daß Sie mir Scherereien machen.«

 

Als der Wagen am Ufer hielt, zog er sie aus dem Auto. Sie trat einen Schritt zurück, als sie das Hausboot sah, aber Bud Kitson und seine Frau waren sofort zur Stelle und redeten auf sie ein.

 

Sie führten Janet in den großen, geräumigen Salon, der hellerleuchtet und schön möbliert war.

 

»Wo ist denn Mr. Sands?« fragte sie.

 

Sie klammerte sich noch immer an diese Illusion.

 

»Sie müssen noch etwas warten«, entgegnete Kitson unfreundlich. »Nicht nur Sie wollen Mr. Sands sprechen. Ich will ihn mir auch kaufen. Er ist daran schuld, daß ich ins Kittchen gekommen bin. Drei Tage habe ich im Portland-Gefängnis gesessen, bis man herausfand, daß Mr. Sands mir nur einen Streich gespielt hatte. Glauben Sie mir, ich habe ebenso dringend den Wunsch, ihn zu sehen, wie Sie. Aber das hat noch Zeit.«

 

»Wer hat mich denn hierhergebracht?« fragte sie schwach.

 

»Sie sind aus einem guten Grund hierhergekommen. Wenn Sie vernünftig sind, können Sie das Boot sehr schnell wieder verlassen«, sagte die Frau. »Es gehört einem Herrn, der sich in Sie verliebt hat. Warum er sich soviel Umstände mit einer gewöhnlichen Stenotypistin macht, verstehe ich allerdings nicht«, fügte sie geringschätzig hinzu. »Es wäre besser, wenn Sie jetzt in Ihre Kabine gingen.«

 

Sie begleitete sie in einen Raum, der halb so groß war. wie der Salon. Auch dieses Zimmer war neu ausgestattet und für ihren Empfang vorbereitet.

 

Die Tür wurde hinter ihr verschlossen. Das einzige Fenster der Kabine lag nach dem Ufer zu, und sie sah sofort, daß ein dunkler Streifen Wasser sie vom Lande trennte. Sie hätte wohl die Aufmerksamkeit der Leute erregen können, die zufällig am Ufer vorbeigingen, aber sie wußte instinktiv, daß ein solches Verhalten gefährlich sein würde.

 

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als geduldig und ruhig die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Erst gegen Mitternacht hörte sie, daß ein Auto sich dem Ufer näherte. Als der Wagen hielt, sprachen mehrere Männer leise miteinander. Sie sah einen großen Herrn über die Landungsbrücke an Bord gehen. Kurz darauf klopfte es an ihre Tür, und eine Frau, fragte, ob sie wach sei. Janet hatte sich nicht ausgezogen und folgte der Frau, die hier anscheinend als Dienstmädchen angestellt war, nach dem großen Salon.

 

Sie erkannte den Mann, der am Ende des langen Tisches stand, obwohl sie ihn bisher nur einmal gesehen hatte. Sir George Frodmere konnte man auch nicht leicht verkennen. Er verneigte sich vor ihr, und auf seinen Wink verließen die beiden anderen Herren, die zugegen waren, den Raum.

 

»Warum haben Sie mich hierhergebracht?« fragte sie ruhig und gefaßt.

 

Er sah sie nachdenklich an. Sie war tatsächlich schöner, als er erwartet hatte.

 

»Meine verehrte junge Dame«, begann er liebenswürdig, »ich bedaure unendlich, daß ich Sie hierherbringen mußte. Aber Sie sind jung und vielleicht romantisch veranlagt, und so hoffe ich, daß Sie meine Lage begreifen werden. Ich hoffe sogar, daß Sie die nötige Sympathie für mich haben, um mir zu helfen.«

 

Sie schwieg. Es hatte ja keinen Zweck, seine Erklärung zu unterbrechen. Und sie mußte vor allem erfahren, was er beabsichtigte.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte er verbindlich.

 

»Nein, danke, ich möchte lieber stehen.«

 

»Dann muß ich auch stehenbleiben«, entgegnete er lächelnd. »Nun, das ist ja auch nicht so wichtig. Wahrscheinlich wissen Sie, wer ich bin?«

 

»Ja.«

 

»Und Sie sind sicher auch über meine Familie orientiert?«

 

Er schaute sie fragend an, aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Außer Ihrem Namen weiß ich nichts von Ihnen, Sir George.«

 

»Dann wissen Sie also nicht, daß ich der Erbe eines großen Vermögens bin, und zwar einer halben Million Pfund. An die Erbschaft ist aber die Bedingung geknüpft, daß ich bis zu einem gewissen Alter verheiratet sein muß. Bis jetzt habe ich es nicht für nötig gefunden, mich mit einer Frau zu belasten. Das klingt sehr unhöflich, aber Sie werden wahrscheinlich verstehen, was ich meine.«

 

Sie nickte. Sie hatte genug von Sir Georges Privatleben gehört, um die Bedeutung seiner Worte zu erfassen.

 

»Übermorgen werde ich nun achtunddreißig Jahre alt, und bis dahin muß ich verheiratet sein? Erst jetzt ist mir zum Bewußtsein gekommen, in welcher kritischen Lage ich mich befinde. Ich bin nicht im mindesten darauf vorbereitet gewesen, denn erst gestern haben mich meine Rechtsanwälte wieder an die Notwendigkeit erinnert, daß ich mich sofort verheiraten muß. Deshalb bin ich gezwungen, schnell eine Wahl zu treffen. Aber ich hoffe, daß sie glücklich ist, denn sie ist auf Sie gefallen.«

 

»Mich wollen Sie heiraten?«

 

»Ja. Ich weiß, daß Sie sehr hart zu kämpfen hatten … Und ich schätze und verehre Sie ganz besonders. Sie besitzen alle Eigenschaften, die mich glücklich machen könnten.«

 

Trotz der sonderbaren Situation mußte sie lachen.

 

»Aber das ist doch einfach unmöglich, Sir George! Ich kann Sie doch nicht so ohne weiteres heiraten.«

 

»Ich glaube, daß Sie die Möglichkeiten unterschätzen, die sich Ihnen durch meine Wahl bieten. Ich brauche eine Frau, die ich sofort nach der Trauung wieder verlassen kann.«

 

Er schaute sie durchdringend an, aber seine Worte schienen keinen Eindruck auf sie zu machen.

 

»Ich sage Ihnen, ich brauche eine Frau, von der ich mich direkt nach der Trauung wieder trennen kann«, wiederholte er mit besonderem Nachdruck. »Ich bin bereit, Ihnen als Hochzeitsgeschenk die Summe von hunderttausend Pfund zu überreichen.«

 

»Aber es gibt doch Hunderte von jungen Mädchen, die nur zu gern Ihren Vorschlag annehmen würden, Sir George«, entgegnete sie bestürzt und verwundert.

 

Er sah, daß sie errötete, und wußte, daß sie jetzt an Milton Sands dachte.

 

»Ja, es gibt Hunderte von jungen Mädchen«, wiederholte er, »aber es ist keine unter ihnen, die mir zusagt, keine, der ich trauen könnte. In Ihnen habe ich die Frau mit all den Eigenschaften gefunden, die ich schätze. Und ich wiederhole Ihnen in aller Form, daß Sie mich nach der Trauung sofort wieder verlassen können. Vorher überreiche ich Ihnen einen Scheck über hunderttausend Pfund.«

 

»Sie scheinen zu vergessen, Sir George, daß ich seit einigen Monaten mit Mr. Sands zusammenarbeite.«

 

»Ich wüßte nicht, was das zu sagen hätte.«

 

»Nun, dann will ich es Ihnen klarmachen. Mr. Sands hat mich in der letzten Zeit über vieles aufgeklärt, damit ich ihm beruflich helfen kann, und ich habe viele Dinge erfahren, von denen ich früher keine Ahnung hatte. Ich halte Ihr ganzes Benehmen mir gegenüber nur für ein Betrugsmanöver. Was Sie mir da eben erzählten, unterscheidet sich nicht wesentlich von den Geschichten, die andere berüchtigte Betrüger in solchen Fällen vorbringen.«

 

Der Baronet wurde dunkelrot vor Zorn, denn ihre Worte hatten ihn schwer getroffen.

 

»Wollen Sie mir denn nicht glauben, Miss Symonds?«

 

»Offen gestanden, nein.«

 

»Nun, Sie werden mir schon glauben müssen. Innerhalb zweier Tage heiraten Sie mich. Ich habe mir schon eine besondere Genehmigung besorgt.«

 

»Trotz alledem glaube ich es nicht«, entgegnete sie fest.

 

»Sie verlassen sich darauf, daß Milton Sands Ihnen zu Hilfe kommt und Sie aus dieser Situation befreit«, erwiderte er mit einem boshaften Lächeln. »An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so sehr auf ihn verlassen. Sie können aber mir und auch Ihren Freunden einen guten Dienst erweisen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Ihre Heirat mit mir auch Mr. Sands einen großen pekuniären Vorteil bringen wird.«

 

»Ich möchte mich nicht weiter mit Ihnen über diese Sache unterhalten. Sie können eine Frau doch nicht gegen ihren Willen heiraten!«

 

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging in ihre Kabine zurück.

 

Sir George machte keine Anstrengungen mehr, mit ihr zu sprechen, aber eine Stunde später klopfte Mrs. Kitson an ihre Tür und brachte ihr ein Tablett mit Speisen.

 

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Etwas müssen Sie ja schließlich essen.«

 

Janet hatte bis dahin alles abgelehnt, aber jetzt fühlte sie großen Hunger. Die Mahlzeit war ausgezeichnet zubereitet. Es stand auch eine kleine Porzellankanne mit Schokolade dabei, und gerade starke Schokolade eignet sich hervorragend dazu, den Geschmack von Morphiumpräparaten zu überdecken.

 

Janet fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, hatte aber trotzdem ein quälendes Gefühl. Schließlich tanzte ein großes, helles Licht vor ihren Augen. Sie versuchte, es mit der Hand abzublenden. Dabei kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß sie etwas am Finger hatte, das früher nicht dort gewesen war. Langsam kam sie zu sich und starrte auf den schmalen, goldenen Ring an dem vierten Finger ihrer rechten Hand. Sie sah sich verwundert und verstört um und entdeckte, daß sie sich zusammen mit mehreren Menschen im Salon befand. Sir George war zugegen und schaute sie merkwürdig an. Neben ihm standen Kitson und seine Frau, und außer ihnen bemerkte sie noch einen verhältnismäßig schlanken Mann von mittlerer Größe. Er hatte weiße Haare und trug die Kleidung eines Geistlichen.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie atemlos vor Entsetzen.

 

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Lady Frodmere?« fragte der Mann im schwarzen Talar.

 

»Lady Frodmere?« wiederholte sie dumpf.

 

»Sie sind jetzt Lady Frodmere, meine Frau«, erklärte Sir George.

 

»Aber ich habe Sie doch nicht geheiratet!«

 

Der Geistliche lächelte.

 

»Ich sehe, daß Sie noch etwas verwirrt sind, Mylady. Ich habe Sie selbst mit George Frodmere getraut, und Sie waren bei vollem Bewußtsein.«

 

»Aber das ist doch unmöglich!« rief sie. »Sie konnten mich doch nicht trauen. Ich habe nicht geantwortet!«

 

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

 

»Sie haben alle Fragen richtig beantwortet, die ich an Sie stellte. Für gewöhnlich nehme ich ja Trauungen nicht gerade um Mitternacht vor, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie jetzt Lady Frodmere sind.«

 

Sie sank in den Stuhl zurück und zitterte am ganzen Körper. Es war ein entsetzlicher Gedanke. Was hatten die Leute nur mit ihr gemacht? Ihre Vernunft sagte ihr, daß etwas nicht stimmen konnte. Aber der Geistliche stand doch vor ihr, und auf dem Tisch lag ein Dokument – eine Trauungsurkunde! Sie sprang auf und schaute sie an. Schwarz auf weiß stand ihre eigene Unterschrift darunter. Das war zuviel für sie. Mit einem Schrei floh sie den Gang entlang in ihre Kabine, schlug die Tür hinter sich zu und türmte alle Möbelstücke dagegen auf, die sie in dem Raum finden konnte.

 

»Also, die Sache wäre erledigt«, sagte Sir George im Salon.

 

»Kann ich die Nacht über hier an Bord bleiben?« fragte der Geistliche.

 

»Ich würde Ihnen den guten Rat geben, fortzugehen, Pentridge«, erwiderte Sir George. »Ihre Anwesenheit könnte auffallen.«

 

Der angebliche Geistliche zog seinen Talar aus und legte den weißen Kragen ab.

 

»Ich kann dieses Zeug nicht leiden. Es hat furchtbar eingeschnitten. Nun, wie habe ich die Trauung vollzogen?« fragte er lachend.

 

»Großartig haben Sie Ihre Sache gemacht«, entgegnete der Baronet und klopfte ihm befriedigt auf die Schulter. »An Ihnen ist direkt ein Schauspieler verlorengegangen, Penty. Haben Sie das Geld dabei?«

 

»Ja, ich habe es bei mir. Hier sind zweitausend Pfund. Das ist allerdings eine ziemlich hohe Anleihe für jemand, der erledigt ist.«

 

»Aber ich leihe es doch nur für ein paar Tage von Ihnen, Mr. Pentridge«, sagte Sir George lächelnd, als er die Scheine nahm und sie in seine Brieftasche legte. »Wir werden ja bald beweisen können, daß Sands gelogen hat, und dann schwimme ich in Geld.«

 

»Hoffentlich gelingt Ihnen das. Und wenn Sie keinen Erfolg haben sollten –«

 

»In diesem Fall werde ich durch meine Heirat ein Vermögen in die Hand bekommen. Für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, sollen Sie einen reichlichen Anteil erhalten. Übrigens sind die Papiere wiedergefunden worden, die Sie an Soltescu verkauft haben.«

 

Pentridge sah ihn schnell an.

 

»Hat er die Sache aufgegeben?«

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte Sir George überrascht.

 

»Natürlich Milton Sands. War es Ihnen denn nicht von Anfang an klar, daß er sich die Papiere angeeignet hatte?«

 

»Milton Sands!« wiederholte Sir George ungläubig.

 

»Ja!« Bud Kitson schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das stimmt. Kein anderer konnte sie genommen haben. Mir ist jetzt alles klar. Er fuhr in demselben Zug wie wir nach Paris. In Monte Carlo hatte er sein ganzes Geld verspielt und mußte nun irgend etwas beginnen. Toady Wilton sah doch, wie er das Kasino verließ, und sprach mit ihm. Dann kommt er nach London zurück und hat plötzlich genügend Geld, um ein Detektivbüro in der Regent Street zu eröffnen –«

 

»Aber dann möchte ich nur wissen, warum er überhaupt ein Detektivbüro aufgemacht hat!« sagte Sir George.

 

»Das war doch die einzige Möglichkeit, sich die Belohnung für die Wiederbeschaffung der Papiere zu sichern, ohne Argwohn und Verdacht zu erregen. Die Sache ist vollkommen klar und durchsichtig!«

 

»Also so verhält es sich«, meinte Sir George und nickte. »Dann hätte ich ja eventuell noch eine Chance, mich mit Milton Sands zu vergleichen. Aber nach alledem wird es wohl sehr schwer sein.«

 

»Ich habe auch noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen!« rief Kitson wild. »Ich lasse mich nicht umsonst nach Portland ins Gefängnis schleppen!«

 

Sir George sah den wütenden Mann nachdenklich von der Seite an. Wahrscheinlich konnte er ihn noch bei der Durchführung seiner Pläne brauchen, bevor er ihn ganz fallenließ.

 

Er verabschiedete sich von Pentridge, der zur Stadt zurückkehrte.

 

»Ist das Fenster gesichert? Sie kann doch hoffentlich nicht durch das Kabinenfenster entkommen?«

 

»Nein, das ist, unmöglich«, entgegnete Bud. »Ich habe Eisenstangen daran befestigt.«

 

»Gut«, erwiderte Sir George befriedigt.

 

Kapitel 15

 

15

 

Mary President stand früh auf und ging durch den wundervollen kleinen Garten, der in tausend Farben strahlte. Die Sonne schien herrlich, und Mary freute sich über den schönen Frühlingstag. Später ging sie in die Küche, um den Tee zu bereiten. Aber dann beschloß sie, mit dem Frühstück noch auf ihren Großvater zu warten, den sie nicht stören wollte. Es war kurz vor sieben.

 

Sie seufzte, als sie an Eric Stanton dachte. Was mußte er von alledem denken? Wie würde er über John President urteilen? Und doch hatte er kein Recht, über ihn den Stab zu brechen. Gewiß hatte der Mann eine schreckliche Tat begangen, aber er hatte auch sehr darunter gelitten und sie bitter bereut. Und die Sache lag schon so weit zurück … Eric würde sicher milde urteilen. Aber sie wollte keine Gnade, sondern Recht.

 

Nachdenklich setzte sie sich ah den einfachen Küchentisch. Der Duft der Blumen zog vom Garten her zum Fenster herein. Eine kühne Drossel hüpfte auf das Fensterbrett, legte den Kopf auf die Seite, sah sie schief an und flog dann wieder weg. Mary sah ihr betrübt nach, aber dann senkte sie den Blick. Als gleich darauf ein Schatten auf den Tisch fiel, schaute sie schnell wieder auf. Erschreckt erhob sie sich, als sie plötzlich Mr. Stanton vor sich sah, mit dem sich ihre Gedanken dauernd beschäftigt hatten.

 

»Guten Morgen«, sagte sie verlegen.

 

»Darf ich vielleicht nähertreten?«

 

Sie zeigte lächelnd auf die Tür.

 

»Ja, bitte, kommen Sie nur herein.«

 

Er kam ins Zimmer und legte Peitsche, Hut und Handschuhe auf einen Stuhl.

 

»Zu einem großen Frühstück kann ich Sie allerdings nicht einladen, nur zu einer einfachen Tasse Tee.«

 

»Das genügt auch vollkommen«, entgegnete er vergnügt und rückte seinen Stuhl an den Tisch.

 

»Wir müssen ganz leise sein, damit mein Großvater nicht aufwacht. Er schläft noch.«

 

»Das wundert mich aber«, erwiderte er erstaunt und betrachtete sie aufs neue. Wie schön sie heute morgen wieder aussah! In dem duftigen Kleid kam ihre hübsche Figur in vorteilhaftester Weise zur Geltung.

 

»Wieviel Stück Zucker darf ich Ihnen geben?« fragte sie plötzlich.

 

»Sechs«, sagte er verwirrt. »Ich wollte sieben sagen«, erklärte er dann bestimmt. »Ich nehme mir immer sieben Stück Zucker«, behauptete er, um seine Verlegenheit zu verbergen.

 

»Ich werde Ihnen ein Stück geben, das genügt. Wenn Sie noch mehr wollen, müssen Sie es sich selbst nehmen.«

 

»Ich bin auf eine Einladung Mr. Presidents hergekommen. Auch ich habe hier in der Nähe ein Haus«, erzählte er ihr, während sie Tee tranken.

 

Sie atmete erleichtert auf.

 

»Denken Sie denn nicht schlecht über meinen Großvater?« fragte sie leise.

 

»Nein, durchaus nicht. Warum sollte ich denn schlecht von ihm denken? Er ist einer der besten Menschen, die mir jemals begegnet sind.«

 

Sie war ihm dankbar für diese Worte und sah ihn freudestrahlend an. Eine große Sorge war nun von ihr genommen.

 

»Sie sind wirklich sehr gut«, sagte sie mit ihrer klingenden, melodischen Stimme.

 

»Hoffentlich kann ich recht häufig zu Ihnen kommen. Ich möchte Mr. President einige meiner Pferde zur Verfügung stellen, damit sie zusammen mit Donavan trainieren können. – Es ist doch herrlich, wenn man morgens ausreitet.«

 

Er hatte schnell das Thema gewechselt, als er sah, daß Tränen in ihre Augen traten.

 

»Man fühlt sich so frisch und jung, wenn man schon in der Frühe im Sattel sitzt.«

 

Wieder traf ihn ein dankbarer Blick aus ihren Augen.

 

»Wir wollen in den Garten gehen«, sagte sie plötzlich und erhob sich.

 

Auch er stand langsam auf. Er war zwischen ihr und der Tür, und wenn sie ins Freie gehen wollte, mußte sie an ihm vorüber. Aus einem Grund, über den sie sich nicht klar wurde, scheute sie sich aber, sich ihm zu nähern.

 

»Gehen Sie bitte voraus.«

 

Aber er blieb stehen und sah sie so sonderbar an, daß sie in Verwirrung geriet und aufs neue errötete. Rasch trat er auf sie zu und schloß sie in die Arme. Sie ließ es geschehen und lehnte den Kopf glücklich an seine Brust.

 

*

 

»Mary!«

 

Sie löste sich schnell aus Erics Umarmung und strich in größter Eile ihr Haar zurecht.

 

»Ach, das ist mein Großvater«, sagte sie bestürzt. »Ich habe ihm den Tee nicht gebracht. Er ist schon im Garten! Und ich habe gar nicht gehört, daß er die Treppe heruntergekommen ist!«

 

»Das war auch wohl nicht möglich«, erklärte Eric fröhlich. »Ich habe ihn nämlich heute morgen schon draußen getroffen. Ich war sehr erstaunt, als du mir erzähltest, daß er noch schlafen würde …«

 

Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu und stürzte dann In den Garten hinaus. Aber im Vorbeigehen streichelte sie ihn.

 

»Hast du Mr. Stanton gesehen?« fragte John President besorgt. »Ich habe ihn doch hierhergeschickt. Ach, da ist er ja«, sagte er und sah Eric lächelnd an, als dieser ebenfalls in den Garten heraustrat. »Du bist wohl erstaunt, daß du mich hier siehst«, meinte der alte Herr lachend und klopfte sie auf die Wange. »Aber du siehst ja so erhitzt aus, Mary«, sagte er dann verwundert. »Hast du denn den ganzen Morgen am Herd gestanden?«

 

»Nein.« Sie wurde noch verlegener. »Ich habe – wir haben zusammen Tee getrunken – gefrühstückt.«

 

John President schüttelte den Kopf.

 

»Wer sorgt denn jetzt für mich?«

 

Er schaute Eric bedeutungsvoll an, dann nahm er ihn am Arm und ging mit ihm durch den Garten.

 

»Ich verstehe vollkommen«, sagte er nur.

 

Ein tiefes Schweigen folgte.

 

»Sie haben das Recht, Genaueres über mein Leben zu erfahren«, begann John President nach einiger Zeit. »Sie haben gehört, was Wilton neulich auf dem Rennplatz sagte … Es stimmt alles. Ich habe im Jähzorn meine, Frau erschossen. Aber was im allgemeinen nicht bekannt wurde, ist die Tatsache, daß ich auf ihren Bruder schoß und unglücklicherweise sie traf. Ich hatte mich furchtbar über ihn aufgeregt, und ich war damals noch jung und heißblütig. Bei dem Gerichtsverfahren wurden mir mildernde Umstände zuerkannt. Die Richter zogen in Betracht, wie schwer ich für mein Vergehen gestraft war, und verurteilten mich nicht zum Tode. Ich wurde nach Australien deportiert. Denken Sie sich, Mr. Stanton«, fuhr er mit bitterer Stimme fort, »ich stand damals am Beginn einer bedeutenden Laufbahn. Man hielt mich für einen großen Erfinder, der seiner Zeit viel nützen würde. Meine Frau war mir plötzlich genommen – ich hatte sie durch meine eigene Schuld verloren. Auch meine beiden Kinder hatte ich nicht mehr bei mir. Australien war damals noch ein verrufenes Land. Ich war fast von Sinnen, als ich dort anlangte. Niemals blieb ich lange in Gefangenenlagern, denn ich war ein sehr unruhiges Element und plante alle möglichen Anschläge gegen die Gefängnisleitung. Deshalb wurde ich schließlich zur Strafe an Bord des Dampfers ›President‹ gesandt. Sechs Jahre, mußte ich auf diesem, erbärmlichen Kasten aushalten. Ich war fast verzweifelt, aber dann bekam ich einen Brief von einem alten Freund aus England, der mir berichtete, daß er meine beiden Kinder zu sich genommen hätte und für sie sorgen wolle. Ihretwegen machte ich mir die schwersten Vorwürfe. Später schrieb er mir, daß sie nur auf den Tag warteten, an dem sie zu mir nach Australien kommen könnten. Das gab mir wieder Lebensmut. Ich hatte eine Unterredung mit Colonel Champ, der damals das Gefangenenlager beaufsichtigte und viel für die Leute tat, die seiner Obhut anvertraut waren. Ich sagte ihm, daß ich mich bessern wollte. Er glaubte mir auch und half mir. So wurde ich in einem wissenschaftlichen Institut beschäftigt und konnte dort in einem Laboratorium arbeiten. Ich machte wichtige Entdeckungen, die mich später zur Erfindung des biegsamen Glases brachten. Nachdem ich genügend Proben meiner Befähigung abgelegt hatte, kam ich in das Regierungslaboratorium und arbeitete unter dem jungen Dr. Lubbock.

 

Damals machte ich auch die Bekanntschaft eines gewissen John Cotton, der sich jetzt John Pentridge nennt. Wir waren zusammen in dem Laboratorium tätig, wo er die schweren Arbeiten zu verrichten hatte. Wir wurden gute Freunde. Er war so begabt, daß er den Sinn meiner Experimente verstand und auch ihren Wert beurteilen konnte. Ich arbeitete damals fieberhaft, um mir einen großen Erfolg zu sichern, denn ich hatte immer die Absicht, mit meinen Kindern in guten Verhältnissen zu leben, wenn ich freigelassen würde. Meine Freunde in England halfen, mir, und ich wurde schließlich am selben Tage wie John Pentridge entlassen. Wir logierten in einem kleinen Hotel in Melbourne und arbeiteten später in der gleichen Fabrik. Wenn wir abends zurückkamen, experimentierten wir noch zusammen. Ich fand eine neue Methode, Schafwolle zu färben, und nun brauchte ich nicht mehr in der Fabrik zu arbeiten. Meine Einnahmen wuchsen ständig, und ich konnte meine Studien in aller Muße betreiben. Meine beiden Kinder kamen zu mir nach Australien. Wir lebten glücklich zusammen, und die Jahre vergingen. Die beiden wuchsen auf, und meine Tochter heiratete. Mary ist ihr Kind. Mein Sohn fiel in den Kolonialkriegen in Afrika. Damals erfand ich das biegsame Glas und stellte die genaue Formel auf. Ich hatte für mich eine Scheibe Glas hergestellt, die so biegsam war wie Pappe. Aber ich hatte mich überarbeitet und wurde sehr schwer krank. Weil ich fürchtete, daß ich sterben müßte, schrieb ich den ganzen Herstellungsprozeß auf. Nachher packte mich das Fieber, und ich lag lange besinnungslos. Erst drei Wochen später kam ich wieder zum Bewußtsein, war aber noch sehr schwach und krank. In der Zwischenzeit war John Pentridge aus Australien verschwunden und hatte mir die Papiere gestohlen. Das ist in groben Umrissen die Geschichte meines Lebens.«

 

Eric hatte schweigend zugehört. Er empfand tiefes Mitgefühl für den alten Mann.

 

»Zehn Jahre lang habe ich in Australien nach John Pentridge gesucht«, fuhr John President fort. »Nun habe ich ihn hier gefunden, aber ich fühle, daß es vergeblich ist.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Stanton überrascht.

 

»Die Papiere sind nicht mehr in seinem Besitz. Das erkannte ich sofort, als er mir in Sandown so unverschämt entgegentrat. Er hat sie sicher veräußert.«

 

»Aber Sie können ihn doch zur Rechenschaft ziehen, und er muß Ihnen sagen, wo er sie gelassen hat!«

 

»Da kennen Sie John Pentridge schlecht«, erwiderte der alte Mann. »Aber jetzt wollen wir zu den Pferden gehen.«

 

Er änderte das Gesprächsthema, denn die Erinnerung an das schwere Leid seines Lebens nahm ihn zu sehr mit.

 

»Ich glaube, ich bin zu alt geworden, um noch zu hassen«, sagt er, während sie über das ebene Gelände gingen. »Ich habe verschiedene Detektive engagiert, um Pentridge ausfindig zu machen, und jetzt, da ich ihn gefunden habe, weiß ich nicht, was ich mit ihm machen soll.«

 

»Warum stellen Sie denn nicht jemand an, der Ihnen die Schriftstücke wieder beschafft?«

 

Eric war ein gutmütiger Mensch, der stets bereitwillig anderen helfen wollte, und seiner Meinung nach war das wieder eine Aufgabe für Milton Sands.

 

*

 

John Pentridge hatte eine Einladung nach Pennwaring erhalten, aber er zögerte, die Gastfreundschaft Sir Georges anzunehmen. Sein Auftreten hatte sich vollkommen geändert, nachdem er John President gesehen hatte. Er ging in seinem Hotelzimmer unruhig auf und ab, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Kopf auf die Brust gesenkt. Er dachte darüber nach, ob es nicht besser wäre, wieder nach Frankreich zurückzukehren. Seine Stimmung war trüb, als Milton Sands in sein Zimmer trat.

 

Pentridge wandte sich sofort um, als sich die Tür öffnete.

 

»Wer sind Sie?« fragte er. »Wissen Sie nicht, daß dies mein Zimmer ist? Wie kommen Sie dazu, mich unangemeldet zu stören?«

 

»Beruhigen Sie sich, Penty«, erwiderte Sands leichthin.

 

Pentridge erkannte in ihm sofort einen Zeugen jenes Auftritts auf der Rennhahn, und es überkam ihn plötzlich eine ungewisse Furcht. Wahrscheinlich hatte dieser Besuch mehr zu bedeuten. Dieser Mann schien offenbar ein Freund John Presidents zu sein.

 

»Es hat keinen Zweck, daß Sie hierherkommen, um mich auszuholen«, sagte er ärgerlich. »Damit haben Sie kein Glück bei mir.«

 

»Ja, das ist mir klar«, entgegnete Milton und rückte einen Stuhl an den kleinen Tisch in der Mitte des Raums. »Trotzdem möchte ich einige Fragen an Sie richten, die Sie mir sicher gern beantworten werden. Sie sind doch der Mann, der Monsieur Soltescu die Formel des biegsamen Glases verkauft hat?«

 

»Ich lehne es ab, diese Frage zu beantworten«, erklärte Pentridge hartnäckig.

 

»Ich bin aber von Soltescu hierhergeschickt worden«, entgegnete Milton Sands lächelnd. »Er schrieb mir heute morgen einen Brief und bat mich darin, Sie aufzusuchen. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen das Schreiben ja zeigen.«

 

Er griff in die Tasche und brachte den Brief zum Vorschein.

 

Pentridge betrachtete ihn argwöhnisch.

 

»Wie kann ich wissen, daß dieser Brief von Soltescu ist?«

 

»Beweise kann ich Ihnen dafür nicht geben. Sie müssen eben auf mein Wort glauben, daß der Brief von ihm ist.«

 

Pentridge las ziemlich lange, denn Soltescu hatte keine besonders leserliche Handschrift.

 

»Die Sache scheint in Ordnung zu sein«, brummte er. »Was wollen Sie denn von mir wissen?«

 

»Sie haben doch Soltescu die Beschreibung des Herstellungsprozesses verkauft?«

 

Pentridge nickte.

 

»Wie kamen die Papiere in Ihren Besitz?«

 

»Ich habe sie von einem Freund bekommen«, antwortete Pentridge ausweichend.

 

»Ich nehme an, daß Sie sie gestohlen haben, und zwar von eben diesem Freund. Aber ich möchte gern wissen, wer dieser Freund war, dem Sie die Papiere entwendeten, und unter welchen näheren Umständen Sie dies taten. Diese Einzelheiten sind für Monsieur Soltescu sehr wichtig. Ein Komitee auf der großen Ausstellung in Lyon hat nämlich eine Belohnung von hunderttausend Pfund für die Erfindung des biegsamen Glases ausgesetzt. Und dabei ist gar nicht einmal bekannt, daß ein solches Glas schon erfunden worden ist. Aber wenn Soltescu die Erfindung zur Prämiierung einreicht, muß er wissen, wer der Erfinder ist, und wir müssen noch viele. Details darüber in Erfahrung bringen.«

 

Pentridge ging in seinem Zimmer auf und ab und blickte düster vor sich hin.

 

»Wie lange dauert es, bis ein Diebstahl verjährt?«

 

Milton wußte sofort, worauf der Mann hinauswollte.

 

»Für den Staatsanwalt verjährt ein Verbrechen allerdings, aber nicht für den Bestohlenen und seine Schadenersatzansprüche. Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie nicht angeklagt werden sollen.«

 

»Dann will ich Ihnen erzählen, wie die Geschichte kam«, erwiderte John Pentridge nach einer längeren Pause. »Ich hatte einen Freund in New South Wales, einen tüchtigen Erfinder. Er war der klügste Mensch, der mir jemals in meinem Leben begegnet ist. In Pentridge war er der älteste Gefangene, aber auch der schlaueste. Vor vielen Jahren wurde er deportiert, weil er seine Frau erschossen hatte. Er war ein schwer zugänglicher Mann, bis er sich plötzlich vollständig änderte. Er arbeitete die ganze Zeit an Erfindungen, und als er schließlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, half ich ihm, denn ich kannte seine Methoden und war an die Zusammenarbeit mit ihm gewöhnt.«

 

Wieder machte er eine Pause.

 

»Dieser Mann hat auch die Herstellung von biegsamem Glas erfunden. Ich glaubte, daß er sterben würde – und –«

 

»Und da haben Sie sich mit den Aufzeichnungen über den Herstellungsprozeß aus dem Staube gemacht!«

 

»Aus dem Staube gemacht habe ich mich nicht. Ich bin von Australien abgereist. Das ist die ganze Geschichte.« »Wer war denn der Mann, den Sie bestohlen haben?«

 

Pentridge hatte die Überzeugung, daß Sands nicht für John President arbeitete.

 

»Das werde ich Ihnen nicht erzählen«, sagte er nach einer kleinen Weile. »Das müssen Sie selbst herausbringen. Der Mann ist tot.« Bei diesen Worten sah er Sands prüfend an.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz gewiß?«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Pentridge laut. »Glauben Sie, ich lüge Ihnen etwas vor?«

 

»Ich habe mir die Sache noch nicht genau überlegt. Aber wenn mir jemand das sagte, wäre ich nicht sehr erstaunt.«

 

»Monsieur Soltescu kann Ihnen verraten, wer es war. Der Name stand auf dem Briefumschlag.«

 

»Unglücklicherweise hat Soltescu den Briefumschlag vernichtet und kann sich nicht mehr auf den Namen besinnen.«

 

Milton sah, daß Pentridge erleichtert aufatmete.

 

»Nun, ich kann es Ihnen auch nicht sagen«, erklärte er kurz.

 

»Dann wäre noch etwas zu besprechen. Sie hatten einen alten Freund, mit dem Sie in früheren Jahren häufig zusammen gesehen worden sind. Sie kannten ihn schon in Australien, und er kam mit Ihnen nach Europa. Vor einiger Zeit fand man ihn in Monte Carlo ermordet auf.«

 

»Ermordet?« rief Pentridge bestürzt. Er war bleich geworden, und seine Hände zitterten. »Was wollen Sie damit sagen?«

 

»Nichts Besonderes. Er wurde mit zertrümmertem Schädel im Garten einer leerstehenden Villa aufgefunden. Und er wurde an dem Abend ermordet, an dem ich und Sie Monte Carlo verließen.«

 

»An dem Abend war ich nicht in Monte Carlo«, sagte Pentridge schnell.

 

»Selbstverständlich waren Sie dort. Sie spielten an demselben Tisch mit mir und wurden später aus dem Kasino gewiesen, weil Sie durch Ihr Benehmen die anderen Spieler störten.«

 

»Ich weiß nichts davon«, erwiderte Pentridge düster. »Auf keinen Fall hatte ich eine Ahnung, daß der Mann in Monte Carlo war.«

 

»Er hat Ihnen damals bei dem Diebstahl der Papiere in Australien geholfen, soviel ich weiß. Auf jeden Fall konnte ich feststellen, daß Sie beide von Melbourne mit demselben Dampfer abfuhren. War er der Erfinder?«

 

»Nein«, entgegnete Pentridge gereizt.

 

»Haben Sie eine Ahnung, warum der Mann ermordet wurde?«

 

Pentridge schwieg.

 

»Wissen Sie vielleicht, wer der Mörder ist?«

 

Wieder keine Antwort.

 

»Gab es einen triftigen Grund, aus dem Sie ihn getötet haben könnten?«

 

Pentridge wandte sich ärgerlich um.

 

»Wer sagt, daß ich ihn umgebracht habe?«

 

»Ich setze nur den Fall«, erklärte Milton liebenswürdig. »Ich will die Behauptung nicht ohne weiteres aufstellen.«

 

Damit erhob er sich und zog seine Handschuhe an.

 

»Ich sehe, daß ich die Informationen, die ich brauche, nicht von Ihnen bekommen kann.«

 

»Wohin wollen Sie gehen?« fragte Pentridge nervös.

 

»Ich setze meine Nachforschungen anderweitig fort.«

 

Als Milton Sands in das Auto stieg, das draußen auf ihn wartete, war er sich darüber klar, daß er Pentridge wohl einen heilsamen Schrecken eingejagt, sonst aber nicht viel erreicht hatte. In wessen Besitz mochten sich die Papiere jetzt befinden? Und wer war wohl ihr ursprünglicher Eigentümer? Wenn es ihm gelang, diesen Punkt aufzuklären, war viel gewonnen. Es war merkwürdig, daß er mit keinem Gedanken an John President dachte. Als Mary seine Hilfe gegen Bud Kitson in Anspruch nahm, glaubte er, daß sie nur deshalb in Verdacht gekommen war, weil sie das Zugabteil neben Soltescu innegehabt hatte. Er hielt den Verdacht des Rumänen damals für vollkommen unbegründet. Jetzt grübelte er darüber nach, ob nicht vielleicht doch mehr hinter der Sache stecke, als er vermutet hatte. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, und er kam deprimiert zu seinem Büro zurück. Aber es gab ja einen sehr einfachen Weg, dies festzustellen. Er brauchte doch nur Miss President selbst zu fragen. Als er eintrat, begrüßte er zuerst Janet, die eifrig die Morgenzeitungen durchstudierte. Dann nahm er einige Telegrammformulare aus seinem Schreibtisch und schrieb schnell.

 

»Ich muß aufs Land reisen, um mit Miss President zu sprechen.«

 

»Wie lange bleibst du fort?«

 

»Höchstens zwei Tage.«

 

»Du hast große Sorgen«, sagte sie schnell.

 

»Warum sollte ich denn große Sorgen haben?« protestierte er. »Ich war noch nie so lustig und vergnügt in meinem Leben.«

 

»Wie steht es denn mit deinen anderen Arbeiten? Hast du die Schwester Mr. Stantons gefunden?«

 

»Nein, bis jetzt habe ich noch keine Spur von ihr entdecken können.«

 

Sie sah ihn lange und nachdenklich an.

 

»Mir ist eine Idee gekommen«, sagte sie zögernd, »aber ich wage kaum, sie auszusprechen.«

 

»Was ist denn?« fragte er neugierig. »Ich bin dankbar für jede Anregung, die du mir geben kannst. Die Sache mit Miss Stanton fällt mir mit der Zeit auf die Nerven.«

 

»Vor vielen Jahren habe ich einmal Sir George Frodmeres Schwester kennengelernt. Jedenfalls war sie mit meiner Mutter bekannt.«

 

»Ich glaube, daß ich auch schon von ihr gehört habe«, erwiderte Milton lächelnd. »Sie ist die Dame, die leichtsinnig Dienstboten empfiehlt, wenn ihr Bruder es wünscht.«

 

»Darüber bin ich nicht orientiert. Aber ich weiß, daß sie sehr viel klatscht. Es ist während der letzten zwanzig Jahre kaum etwas in London passiert, was sie nicht wüßte. Vielleicht könnte dich diese Frau auf die Spur bringen.«

 

»Das ist tatsächlich eine gute Idee«, meinte er nachdenklich. »Ich will sie sofort aufsuchen, wenn ich von meiner Reise zurückkomme.«

 

Um zwei Uhr nachmittags fuhr er nach Sussex, aber er blieb nicht die beabsichtigten zwei Tage aus, sondern kam schon am selben Abend um elf Uhr wieder zurück. Die Nachrichten, die er erhalten hatte, stimmten ihn sehr nachdenklich und brachten ihm viel Arbeit. Als der graue Morgen dämmerte, und das erste Frühlicht durch die Fenster seines Schlafzimmers schien, saß er noch am Tisch und schrieb.

 

Kapitel 16

 

16

 

Als Sands Mrs. Gordon Thompson aufsuchte, war es bereits Nachmittag, aber sie saß immer noch in ihrem Morgenrock da und legte Patience. Sie war eine ungewöhnliche Frau, und obwohl sie noch nicht einmal frisiert war, ließ sie Milton Sands sofort in ihr Zimmer eintreten.

 

»Wie geht es Ihnen?« fragte sie und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. »Nehmen Sie sich bitte einen Stuhl.« Sie unterbrach ihr Kartenspiel nicht. »Wir haben uns doch schon irgendwo getroffen?«

 

»Ja, ich glaube vor einiger Zeit in Enghien.«

 

»Oh, ich entsinne mich. Sie sind der Mann, der damals beim Spiel so großes Glück hatte.«

 

»Es ist möglich, daß ich damals mehr Glück hatte als jetzt.«

 

Sie legte die Karten zusammen, lehnte sich zurück und betrachtete ihn aufmerksam.

 

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Sands?«

 

»Oh, Sie können mir sehr viel helfen«, sagte er freundlich, um ihre Sympathie zu gewinnen. »Auf jeden Fall denkt meine Freundin Janet Symonds das.«

 

»Ach, sehen Sie, die kleine Janet!« rief Mrs. Thompson interessiert. »Was macht sie denn?«

 

»Augenblicklich ist sie meine Sekretärin.«

 

»Und welchen Beruf haben Sie zur Zeit?«

 

»Ich bin in gewisser Weise ein Privatdetektiv.«

 

»Welches Spezialfach?« .

 

Mrs. Thompson interessierte sich nun sehr für ihn, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen.

 

»Ich suche nach bestimmten Leuten, und Miss Symonds dachte, daß Sie mir dabei behilflich sein könnten. Sie sagt, daß Sie seit Jahren alle Leute in London kennen, die eine Rolle gespielt haben, und daß Sie …« Er zögerte, weiterzusprechen.

 

»Daß Sie alle Skandalgeschichten wissen, die sich in dieser Zeit abgespielt haben«, ergänzte sie belustigt. »Ja, die kleine Janet hat nicht so ganz unrecht.«

 

Mit wenigen Worten erklärte ihr Milton nun sein Anliegen.

 

»Sie suchen nach Eric Stantons Schwester?« sagte sie nachdenklich. »Da haben Sie sich allerdings eine schwere Aufgabe gestellt. Ich weiß nicht viel. Mrs. Stanton trennte sich von ihrem Mann und wohnte kurze Zeit in einer Pension in Bayswater mit einem älteren Dienstmädchen zusammen. Ich habe sie nie kennengelernt. Manche Leute haben auch angenommen, daß sie nach Belgien gegangen wäre. Ich kann Ihnen nur einen einzigen Anhaltspunkt geben … Das Dienstmädchen hat einen Reitknecht geheiratet, einen entsetzlichen Kerl. Den Namen habe ich im Augenblick vergessen. Er kam in Schwierigkeiten und verschwand von der Bildfläche. Mein Bruder hat ihn früher beschäftigt.«

 

Plötzlich kam Milton eine Idee.

 

»Hieß der Mann nicht Buncher?« fragte er eifrig.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Ja, richtig. Das war sein Name. Kennen Sie ihn denn?«

 

»Ich habe von ihm gehört«, sagte er schnell. »Halten Sie es für möglich, daß er weiß, wo das Kind geblieben ist?«

 

»Das möchte ich stark bezweifeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Seine Frau ist nur kurze Zeit bei Mrs. Stanton im Dienst gewesen. Aber immerhin könnte sie etwas wissen.«

 

»Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, diese Frau ausfindig zu machen, aber bisher ohne Erfolg. Jedenfalls bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

 

»Janets Mutter hätte Ihnen viel helfen können, wenn sie noch lebte. Auf einen Empfehlungsbrief von Mrs. Stanton wurde ich nämlich mit den Symonds bekannt. Sehen Sie, so kommt es, daß ich wohl mit Mrs. Stanton korrespondiert habe, aber sie nicht persönlich kennenlernte. Sie und ihr Mann interessierten sich für eine der Aktiengesellschaften, die mein Mann gründete, und als er finanziell ruiniert war, schrieb sie mir einen sehr liebenswürdigen Brief. Ja, wenn ich es genau sagen soll, schickte sie mir etwas Geld, das ich damals dringend brauchte. Später hörte ich nichts mehr von ihr, bis sie mir von Brügge aus einen Empfehlungsbrief für die Symonds schrieb. Vielleicht weiß Janet das nicht. Ich lebte damals selbst in sehr traurigen Verhältnissen, aber ich tat alles, was in meinen Kräften stand.« Sie lächelte und sah ihn durchdringend an, als er sich erhob. »Ist eigentlich eine Belohnung für die Auffindung der Frau ausgesetzt?« fragte sie gespannt.

 

»Ja.

 

»Vergessen Sie nicht, daß ich einen Teil davon verdient habe«, erklärte sie mit bewunderungswürdiger Offenheit und nahm ihre Karten wieder auf. »Welches Pferd wird denn das Derby gewinnen?« fragte sie, als Milton schon in der Tür stand.

 

»Donavan«, erklärte er prompt.

 

»Da sind Sie aber schlecht beraten.« Sie verteilte die Karten auf dem Tisch.

 

»Ich glaube nicht.« Er schloß die Tür und verließ das Haus.

 

Eine Nachricht hatte er wenigstens erhalten, aber es war schwer, diesen Anhaltspunkt weiter zu verwerten, denn in Pennwaring hatte er sich nicht sehr beliebt gemacht. Hätte er vorher davon gewußt, so hätte er die Gelegenheit besser ausgenützt, die sich ihm damals bot. Trotzdem sagte er sich, daß er die Zeit in Sir Georges Haus äußerst nutzbringend angewandt hatte. Auf jeden Fall hatte er aufgeklärt, welche häßliche Rolle Toady Wilton bei dem Ehestreit der Stantons zugefallen war. Aber diese Sache war augenblicklich nicht so wichtig, da Lord Chanderson Toady ja schon genügend bloßgestellt hatte.

 

Sands hoffte eigentlich, daß er aus den Papieren Wiltons etwas über den Aufenthaltsort von Stantons Schwester erfahren würde. Er hatte geglaubt, daß Wilton stets in Verbindung mit dem jungen Mädchen geblieben war, um sie in einem günstigen Augenblick wieder auftreten zu lassen. Darin täuschte er sich aber. Wilton hatte keine Ahnung von ihrem jetzigen Aufenthalt.

 

Sands hatte mit Eric Stanton verabredet, daß sie in seinem Klub zu Mittag speisen wollten. Stanton war im Gegensatz zu seinem Freund in sehr froher Laune.

 

»Nun, Sie tun ja so, als ob Ihnen alle Felle weggeschwommen wären«, sagte er vergnügt.

 

»Ich bin nicht gerade in trüber Stimmung, aber ich habe viel erfahren, was mich sehr nachdenklich gemacht hat.«

 

»Mir geht es ähnlich. Bitte, wenden Sie Ihre volle Aufmerksamkeit jetzt der Wiederbeschaffung der verlorenen chemischen Formel für biegsames Glas zu. Ich hatte heute morgen eine längere Unterredung mit Mr. President. Und Sie wissen, daß das Komitee der Ausstellung in Lyon eine große Prämie für biegsames Glas ausgesetzt hat.«

 

Milton nickte.

 

»Der letzte Einsendetermin für die Lösung ist nächste, Woche. Und wenn es Ihnen gelingen sollte, diese Papiere zu finden, so würde das für Mr. President sehr viel bedeuten. Heute morgen noch sagte er, daß er es sehr bedauerte, die Lösung nicht einsenden zu können. Ich bin direkt gerührt über das Zutrauen, das er zu seiner Erfindung hat.«

 

»Ist er eigentlich reich?«

 

Stanton schüttelte den Kopf.

 

»Er lebt in ganz guten Verhältnissen und hat ein paar tausend Pfund zurückgelegt, aber er gibt für seine Pferde sehr viel Geld aus.«

 

»Für Donavan?«

 

»Ja. Und nach allem, was ich heute morgen sah, wird das Pferd das Derby gewinnen. Es hat Dean um mehrere Längen geschlagen, und zwar ohne die geringste Anstrengung. Ich habe selbst abgestoppt. Es hat die Meile fast in Rekordzeit zurückgelegt.«

 

»Ich bin davon überzeugt, daß es das Derby beinahe gewinnen wird.«

 

»Warum sollte Donavan nicht Sieger werden? Welches Pferd könnte denn sonst den ersten Platz belegen?«

 

Milton lächelte.

 

»Das Pferd von Sir George Frodmere.«

 

»Ist das tatsächlich Ihre Meinung? Glauben Sie, daß Portonius das Rennen macht?«

 

»Ich habe nur gesagt, daß Sir George Frodmeres Pferd das Rennen macht. Was nachher passiert, ist eine Sache für sich.«

 

»Sie sind ja heute sehr geheimnisvoll«, sagte Eric etwas unwillig. »Wollen Sie den Schleier nicht ein wenig lüften?«

 

»Da müssen Sie bis zum Rennen warten.«

 

Die beiden erhoben sich und verließen zusammen den Klub. Milton verabschiedete sich auf der großen Treppe.

 

»Mit der Auffindung Ihrer Schwester bin ich übrigens einen Schritt vorwärtsgekommen. Ich habe jetzt wenigstens einen Anhaltspunkt, der mir vielleicht weiterhilft. Und wegen Mr. Presidents Schriftstücken wird sich auch noch Rat schaffen lassen. Wann wird denn das Resultat des Wettbewerbs in Lyon bekanntgegeben?«

 

»Merkwürdigerweise an demselben Tag, an dem das Derby stattfindet.«

 

Milton nickte.

 

»Darm kann Mr. President vielleicht an diesem Tag einen doppelten Sieg buchen. Sollten wir uns nicht vorher treffen, so sehen wir uns jedenfalls bei dem Rennen in Epsom.«

 

Damit trennten sich die beiden.

 

*

 

Das kleine Haus, das Sir George seinem Trainer zur Verfügung gestellt hatte, lag an der verwahrlosten großen Fahrstraße, die die Ländereien durchschnitt. Sie war jetzt nicht mehr in Gebrauch, weil ihre Instandsetzung zuviel Geld gekostet hätte.

 

Eines Abends ging Mr. Buncher zum nahegelegenen Dorfwirtshaus. Seine Frau blieb zu Hause und atmete erleichtert auf, als die Tür ins Schloß fiel. Sie war hager und hatte in ihrer siebzehnjährigen Ehe harte Züge bekommen. Schwere Jahre lagen hinter ihr.

 

Sie saß in der Küche und fuhr erschreckt zusammen, als sie hörte, daß jemand an der Gartentür war. Zuerst glaubte sie, ihr Mann wäre zurückgekommen, und eilte hinaus. Aber draußen stand ein Fremder.

 

»Sind Sie Mrs. Buncher?« fragte er freundlich.

 

»Ja.«

 

Es war offenbar ein vornehmer Herr. Nicht nur seine Kleidung, auch sein Benehmen und seine Sprache ließen darauf schließen. Obendrein war er in einem Auto angekommen.

 

»Ich möchte Sie in einer dringenden Angelegenheit ein paar Minuten sprechen.«

 

Sie zögerte. Ihr Mann hatte ihr den strikten Auftrag gegeben, niemand in das Haus zu lassen. Aber einen solchen Fall hatte er wohl nicht vorausgesehen.

 

»Ich glaube, es ist Ihr Vorteil, wenn Sie mit mir sprechen«, erklärte Milton Sands.

 

Mrs. Buncher war sofort interessiert und schloß das Tor auf, wenn ihre Hände auch zitterten.

 

»Wollen Sie bitte nähertreten.«

 

Sie führte Milton in das Wohnzimmer und bot ihm einen Stuhl an.

 

»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte Milton, der absichtlich gewartet hatte, bis Mr. Buncher zu seinem Abendschoppen ins Dorf gegangen war. »Sie waren doch früher bei Mrs. Stanton im Dienst?«

 

Sie zögerte mit der Antwort, aber nach einer kleinen Pause bejahte sie die Frage.

 

»Es ist Ihnen auch bekannt, daß sich Mrs. Stanton von ihrem Mann trennte. Und ihre kleine Tochter mitnahm? Gingen Sie damals mit ihr?«

 

»Ja. Mrs. Stanton ist immer sehr gut zu mir gewesen; ihr Mann dagegen war ein abscheulich brutaler Mensch …« Sie wollte alle Einzelheiten des Falles erzählen, aber Milton hinderte sie daran.

 

»Wie lange waren Sie noch bei Mrs. Stanton, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte?«

 

Mrs. Buncher sah zur Decke und überlegte.

 

»Im ganzen zwei Jahre, ein Jahr in England und ein Jahr in Brügge. Dann kam ich mit ihr nach England zurück, mußte mich aber von ihr trennen, da sie nicht mehr genügend Geld hatte, um meinen Lohn zu bezahlen. Sie mußte sehr sparen.«

 

»Sie wissen doch, daß Mr. Stanton für die Auffindung seiner Schwester eine Belohnung ausgesetzt hat?«

 

Die Frau nickte.

 

»Ich habe davon gehört. Aber es hat keinen Zweck, daß ich mich darum bemühte; ich weiß ja selbst nichts Genaues.«

 

»Wo wohnte denn Mrs. Stanton, als sie nach London zurückkam?«

 

»In Hornsey – in einer Pension.«

 

Milton schrieb sich die Adresse genau auf.

 

»Können Sie mir vielleicht irgendein besonderes Erkennungszeichen nennen, das das Kind an sich hatte? Ein Muttermal, an dem man es erkennen könnte?«

 

»O ja, es hatte ein gelbliches Muttermal rund um das linke Fußgelenk. Es sah aus wie eine Schlange. Und das war merkwürdig, denn wir sagten immer –«, sie hielt plötzlich inne.

 

»Sprechen Sie doch weiter«, ermutigte sie Milton.

 

»Ich möchte nichts gegen Mr. Wilton sagen – er wohnt jetzt hier im Herrenhaus, aber Mrs. Stanton haßte ihn – und wir nannten ihn immer die Schlange.«

 

»Das ist wenigstens ein Anhaltspunkt«, meinte Milton lächelnd.

 

Die Unterhaltung der beiden wurde plötzlich durch ein lautes Klopfen an der Haustür unterbrochen, und die Frau sprang auf.

 

»Mr. Buncher!« rief Sir George von draußen.

 

»Sagen Sie Sir George nicht, daß ich bei Ihnen bin. Wo kann ich mich solange verstecken?« fragte Milton.

 

»Gehen Sie durch den hinteren Gang in die Küche«, erwiderte sie verstört, denn jetzt erinnerte sie sich wieder an den Auftrag ihres Mannes, niemand ins Haus zu lassen.

 

Sie wartete, bis Milton Sands das Zimmer verlassen hatte, und ging erst dann, um Sir George zu öffnen.

 

»Wo ist Ihr Mann?« fragte der Baronet scharf.

 

»Er ist ins Dorf gegangen.«

 

»Dann holen Sie ihn rasch.«

 

Er stand in der offenen Haustür und klopfte ungeduldig mit der Reitpeitsche an seine hohen Stiefel.

 

Die Frau zögerte eine Sekunde, aber dann machte sie sich auf den Weg. Sie hoffte nur, daß der unbekannte Fremde seine Anwesenheit nicht verraten würde.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch vollkommen sicher?« wandte sich Sir George an Toady, der ihn begleitet hatte.

 

»Vollkommen. Ich habe mich bestimmt nicht getäuscht.«

 

»Ich dachte, er würde England an dem Tag vor dem. Derby verlassen?«

 

»Vielleicht hat er Urlaub bekommen, oder er ist auf ein anderes Schiff versetzt worden.«

 

»Das ist allerdings ein unglücklicher Zufall.«

 

Die beiden gingen langsam den Gartenweg auf und ab, der am Haus vorbeiführte, und blieben schließlich eine Weile vor dem Küchenfenster stehen.

 

»Daß dieser niederträchtige Zahlmeister sich ausgerechnet für Rennen interessieren muß, ist schlimm genug. Daß er bei dem Derby zugegen sein wird, ist noch schlimmer, aber am schlimmsten ist es, daß er hierhergekommen ist. Es ist einfach katastrophal, daß er nach – Pennwaring geht, um zu spionieren. Sind Sie sicher, daß er den Galopp gesehen hat?«

 

»Ganz sicher«, erklärte Toady. »Wenn Sie die Bemerkung gestatten, halte ich es entschieden für einen Fehler, das Pferd nachmittags laufen zu lassen. Während des Galopps kann man es ja glücklicherweise nicht beobachten, aber bei der Rückkehr zum Stall kommt der Gaul in einer Entfernung von hundert Metern an der Mauer vorbei. Ich beobachtete Buncher, als er das Pferd zum Stall zurückführte. Dabei sah ich mich zufällig um und entdeckte unseren Zahlmeister. Er saß mit einem Feldstecher oben auf der Umfassungsmauer.«

 

Sir George sah düster drein und runzelte die Stirn.

 

»Er hat uns schon lange im Verdacht. Erinnern Sie sich noch, was er alles sagte, als wir auf den Dampfer kamen? Er meinte, es sei doch sehr zu bedauern, daß El Rey zu einem Gestüt geschickt würde, da er noch so manches Rennen gewinnen könnte. Der hat damals schon etwas gemerkt. Und nun ist er hergekommen, um sich von der Richtigkeit seiner Vermutung zu überzeugen. Was haben Sie denn gemacht?«

 

Toady warf sich in die Brust.

 

»Ich habe vor allem nicht den Kopf verloren«, erwiderte er stolz. »Ich sah nur einen Augenblick zu ihm auf und war sofort auf der Höhe. In solchen Momenten der Gefahr stehe ich immer meinen Mann.«

 

»Reden Sie nicht soviel von sich selbst«, entgegnete Sir George ärgerlich. »Ich will wissen, was passiert ist. Was Sie in gefährlichen Augenblicken machen, weiß ich zur Genüge. Ich habe da meine bösen Erfahrungen mit Ihnen.«

 

»Ich wünschte ihm einfach guten Tag und sprach ein paar Worte mit ihm über das Pferd. Dann fragte ich ihn, ob er einmal zum Stall kommen wollte, um sich den Gaul näher zu besehen. Und er nahm mein Anerbieten an.«

 

»Wenn wir mit Buncher gesprochen haben, müssen wir uns entscheiden, was wir tun wollen.« Sir George schlug mit der Faust in die flache Hand. »Ich brauche dringend größere Summen. Wenn etwas schiefgeht und etwas dazwischenkommt, weiß ich nicht, wie ich durchhalten soll. Wir müssen vor allem herausbringen, wieviel der Zahlmeister weiß, und wieviel er vermutet. Aber das eine kann ich Ihnen nur sagen, er muß um jeden Preis zum Schweigen gebracht werden.«

 

Toady nickte. Er hatte die gefährliche Situation vollkommen erfaßt. Auch ein großer Teil seines eigenen Geldes war auf Portonius gesetzt.

 

»Hier ist er schon«, sagte Sir George leise.

 

Sie waren langsam nach vorne gegangen und standen jetzt an der Haustür, von der aus man die Gartentür beobachten konnte. Der Fremde kam zu gleicher Zeit mit Mr. Buncher und seiner Frau. Sie warf einen ängstlichen Blick auf das Küchenfenster, konnte aber von dem früheren Besucher nichts sehen und hoffte nur, daß er die erste beste Gelegenheit benützt hatte, um sich aus dem Staube zu machen. Sir George wies vielsagend mit dem Kopf auf die Frau.

 

»Schon gut«, brummte Buncher. »Ich brauch dich nicht mehr. Wir wollen allein miteinander reden.«

 

»Wollen Sie ins Wohnzimmer gehen?« fragte sie furchtsam.

 

»Nein, wir sprechen hier draußen. Ach, hier ist ja Mr. Delane.«

 

Sir George erkannte ihn trotz des schwachen Lichtes sofort. Es war tatsächlich der Zahlmeister des Dampfers, auf dem El Rey nach England transportiert worden war.

 

Buncher maß den Fremden mit düsteren Blicken und brummte etwas, das man nicht verstehen konnte.

 

»Wie ich hörte, haben Sie mein Pferd beim Training gesehen?« begann Sir George.

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Nun, was halten Sie von ihm?« fragte der Baronet leichthin.

 

Mr. Delane antwortete nicht gleich, sondern schien sich seine Worte genau zu überlegen.

 

»Es macht sich sehr gut«, sagte er schließlich.

 

»Haben Sie seinen Galopp gesehen?«

 

»Nur das Finish.«

 

»Wirklich ein gutes Pferd. Sind Sie nicht auch der Meinung?« fragte Sir George anscheinend harmlos. Aber er ließ den Mann nicht aus den Augen und beobachtete ihn scharf.

 

»Außerordentlich gut in Form«, entgegnete Mr. Delane sachlich. Aber seine Worte schienen eine besondere Bedeutung zu haben.

 

»Glauben Sie, daß es das Derby gewinnen wird?«

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Ja, der Gaul geht als erster durchs Ziel«, erklärte er überzeugt.

 

»Ich verstehe vollkommen.«

 

Sir George blickte eine Weile dumpf brütend vor sich hin, dann sah er plötzlich auf.

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mit mir zum Herrenhaus kämen«, sagte er.

 

Der Zahlmeister lächelte.

 

»Das geht leider nicht, Sir George«, entgegnete er höflich. »Ich muß heute abend noch nach London zurückfahren.«

 

»Kommen Sie zu den Rennen nach Epsom? Ich dachte, Sie wären schon auf See …«

 

»Eigentlich war es ja auch so bestimmt, aber ich wurde auf ein anderes Schiff versetzt, und die Gesellschaft gibt mir bis dahin Urlaub.«

 

Ein peinliches Schweigen trat ein.

 

»Sind Sie eigentlich schon einmal in Bukarest gewesen?« fragte Sir George dann unvermittelt.

 

»Nein«, erwiderte Mr. Delane erstaunt. »Warum fragen Sie danach?«

 

»Ich überlegte mir gerade, ob Sie einen geschäftlichen Auftrag für mich übernehmen wollten. Ich erwarte in nächster Zeit wichtige Nachrichten, die es notwendig machen, daß ich einen Vertreter in Bukarest habe. Und ich glaube, daß Sie sich für den Posten vorzüglich eignen würden. Auf diese Weise könnten Sie Ihren Urlaub nutzbringend verwerten. – Sie müßten nach Bukarest gehen, wo Sie im besten Hotel wohnen würden. Warten Sie dort, bis Sie meine weiteren Anweisungen erhalten. Ich bin bereit, Ihnen für Ihre Mühe sehr anständig zu zahlen. Etwa fünfzig Pfund wöchentlich für Ihre Spesen, und weitere fünfzig Pfund für die Dienste, die Sie mir leisten. Es würde sich um eine Zeit von etwa sechs Wochen handeln. Nebenbei könnten Sie die schöne Gegend am Schwarzen Meer kennenlernen. Und –«

 

»Und auf diese Art und Weise würde ich aus England entfernt sein. Nein, Sir George, ich muß Ihren Auftrag ablehnen.«

 

» Vielleicht willigen Sie ein, wenn ich Ihnen zweihundert Pfund die Woche bewillige. Das wären im ganzen eintausendzweihundert Pfund – das ist doch wirklich eine sehr gute Bezahlung für so kurze Zeit.«

 

Der Zahlmeister war nicht gerade reich, und er zögerte. Schließlich war es ja nicht seine Sache, sich in diese Affäre einzumischen. Hier bot sich eine Gelegenheit wie vielleicht nie wieder in seinem Leben. Er war sonst ein absolut ehrlicher Mann. Aber Sir George hatte ja nichts gesagt, was ihm die Annahme des Vorschlags unmöglich gemacht hätte.

 

Dieser englische Baronet hatte so vielfache Interessen, daß er vielleicht tatsächlich wichtige geschäftliche Transaktionen in Bukarest vornehmen mußte.

 

»Ich will mir die Sache noch überlegen.«

 

»Treffen Sie Ihre Entscheidung lieber jetzt«, sagte Sir George mit freundlichem Lächeln, »und fahren Sie heute abend noch nach Rumänien ab. Sind Sie eigentlich verheiratet?«

 

Mr. Delane schüttelte den Kopf.

 

»Sehen Sie, das macht die Sache ja noch bedeutend leichter. Sie können den Zehnuhrzug von Liverpool Street über Hoek van Holland noch erreichen und dann in Amsterdam den Orientexpreß benützen. An Ihrer Stelle würde ich sofort annehmen.«

 

Der Mann zögerte immer noch. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er anders handelte, als er beabsichtigte. Aber schließlich hatte diese Rennangelegenheit ja nichts mit ihm zu tun. Er wußte nicht einmal genau, ob hier wirklich ein Schwindel durchgeführt werden sollte. Und graue Pferde sahen einander für gewöhnlich ziemlich ähnlich. Es bestand kein großer Unterschied.

 

»Während Ihres Aufenthalts in Bukarest können Sie ja schließlich auch Soltescus Gestüt und El Rey besuchen.«

 

Sir George sagte das so gleichgültig, als ob er nicht viel Wert auf die Entscheidung des Zahlmeisters legte. Aber mit dieser geschickten Äußerung gelang es ihm, das Gewissen Delanes zu beruhigen.

 

»Ich werde noch heute abend fahren«, erklärte dieser.

 

»Gut, kommen Sie mit in mein Haus, damit wir den Vertrag abschließen können«, sagte Sir George und ging voraus.

 

Unterwegs unterhielt er sich noch angeregt mit Mr. Delane über alle möglichen Dinge, nur nicht über Pferde.

 

Da Mr. Buncher nicht fortgeschickt worden war, schloß er sich ihnen an. Das war günstig für Milton Sands, denn nun konnte er sich ungesehen davonschleichen.

 

Kapitel 17

 

17

 

Eine Woche war vergangen, in der Milton Sands alle Hände voll zu tun hatte.

 

John President war von morgens bis abends auf den Beinen und dauernd mit seinem Lieblingspferd beschäftigt.

 

Am Sonnabend vor dem Rennen in Epsom schien es so, als ob die Leute nur noch über die Aussichten der einzelnen Pferde in dem Derby sprechen würden.

 

Eric Stanton ritt mit Milton über die Ebene. Am Abend vorher hatte er John President besucht und mit ihm über Donavan gesprochen. Der alte Herr hatte unerschütterliches Zutrauen zu seinem Pferd und war so optimistisch, als ob er mindestens fünfzig Jahre jünger wäre.

 

Milton Sands war zu Gast bei Stanton, der in der Nähe einen größeren Landsitz hatte.

 

»Ich mache mir keine Sorgen darüber, daß der alte President eventuell sein Geld verlieren wird«, sagte Eric. »Einen solchen Schaden kann man leicht wieder gutmachen. Aber ich fürchte den niederschmetternden Eindruck, den eine Niederlage Donavans auf ihn machen wird. Er ist wirklich sehr alt, und er glaubt felsenfest an den Erfolg seines Pferdes. Ich weiß nicht, ob er eine Niederlage Donavans überstehen wird. Und ich habe einen ganz besonderen Grund, warum ich ihn gerade jetzt glücklich und zufrieden sehen möchte.«

 

Milton schaute ihn verständnisvoll an.

 

»Ich glaube, ich verstehe den Zusammenhang. Aber Sie müssen mir jetzt Ihr volles Vertrauen schenken. Meiner Meinung nach kommt es gar nicht darauf an, was in Epsom passiert.«

 

»Wie meinen Sie denn das?« fragte Eric erstaunt.

 

»Genauso, wie ich es sage. Sie müssen mir gestatten, daß ich nicht alle meine Geheimnisse ausplaudere. Ich bin eben ein Detektiv. Gestern traf ich Soltescu. Er war in bester Stimmung und beging die Taktlosigkeit, mich an einen Spielverlust zu erinnern, den er mir früher beibrachte. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen, aber gerade jetzt habe ich alle Hände voll zu tun. Vor allem beschäftige ich mich mit Ihrer Privatangelegenheit, und ich hoffe, bald vorwärtszukommen. Die Dinge entwickeln sich.«

 

»Haben Sie tatsächlich Hoffnung, meine Schwester zu finden?« fragte Eric schnell.

 

»Ja, ich habe sogar große Hoffnung. Es ist mir gelungen, die Spuren Ihrer Mutter und Ihrer Schwester bis zu einer Pension in einer Vorstadt Londons zu verfolgen. Dort werde ich wahrscheinlich weitere Anhaltspunkte erhalten.«

 

Eric nickte.

 

»Sie wissen nicht, wieviel das für mich bedeutet. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht an meine Schwester denke. Es kommt mir so vor, als ob ich sie um ihr Geld betröge. Ich lebe hier in Wohlsein und Luxus, während sie sich vielleicht mühselig durchkämpfen muß und in bitterer Armut steckt.«

 

Milton klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Ich würde mir nicht zu große Sorgen machen«, erwiderte er freundlich. »In der nächsten Woche erleben wir allerhand Enthüllungen. Ich werde die Hauptrolle dabei spielen, und hoffentlich den Dank und den Applaus meiner Freunde ernten.«

 

Milton trennte sich von Stanton, weil er sich bei der Frau angemeldet hatte, in deren Pension Mrs. Stanton früher gewohnt hatte.

 

Madame Burford war inzwischen glückliche Besitzerin eines Privathotels in Brighton geworden, und dort suchte Milton sie auf.

 

Sie konnte sich deutlich an Mrs. Stanton erinnern und ihm viele wertvolle Einzelheiten mitteilen, die ihm bis dahin unbekannt waren, Mrs. Stanton war von Hornsey aus in eine andere Pension in Bloomsbury gezogen, die Madame Burford ihm angeben konnte, da sie sorgfältig Buch über die Adressen ihrer Mieter führte.

 

Als sie ihm den Namen und die Straße aufschrieb, sah sie ihn lächelnd an.

 

»Sie kommen aber verhältnismäßig spät, um sich zu informieren.«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Sie sind schon der zweite, der sich bei mir nach Mrs. Stanton und ihrer Tochter erkundigt.«

 

»Wer hat denn vor mir nach ihnen gefragt?« sagte Milton erstaunt.

 

»Eine Dame, eine gewisse Mrs. Thompson.«

 

Milton unterdrückte einen Ausruf.

 

Warum interessierte sich plötzlich Mrs. Thompson für die Gesuchten? Aber dann fiel ihm die Belohnung ein, die Stanton ausgesetzt hatte, und er lächelte. Er mußte schnell arbeiten, wenn er nicht noch zu guter Letzt um die Früchte seiner Bemühungen kommen wollte.

 

Seine Furcht war begründet, denn Mrs. Thompson war in den letzten Tagen sehr tätig gewesen. Sie hatte sich in London erkundigt, war von da nach Bloomsbury gefahren, dann nach Balham und wieder zurück nach Bloomsbury. Und sie hatte sehr viel erfahren.

 

Sir George Frodmere erhielt daraufhin ein kurz und bündig abgefaßtes Telegramm von ihr.

 

»Komme um elf Uhr vierzehn. Schicke Auto zur Bahn. Georgina.«

 

»Was, zum Teufel, will sie denn schon wieder?« sagte er ärgerlich.

 

Es bestand kein allzu herzliches Verhältnis zwischen den Geschwistern. Sie standen sich zwar nicht feindlich gegenüber, aber Sir George hielt sich seine Schwester so fern als möglich, weil er bis zu einem gewissen Grade ihre scharfe Zunge fürchtete. Manchmal konnte er sie allerdings gut gebrauchen, aber er hatte sie noch niemals auf seinen Landsitz eingeladen.

 

»Ich kann ihr nicht mehr abschreiben«, wandte er sich an Toady. »Fahren Sie zur Bahn und holen Sie Mrs. Thompson ab. Ich muß morgen zur Stadt. Sie können sich ja mit ihr beschäftigen.«

 

Toady war durchaus nicht entzückt von dieser Aussicht und entschuldigte sich mit einer Verabredung, die er einhalten müßte.

 

»Ach, das ist nicht so wichtig«, erklärte Sir George. »Sie müssen sich um meine Schwester kümmern. Mir fällt sie sowieso immer furchtbar auf die Nerven mit ihrem dauernden Gerede und ihren Skandalgeschichten.«

 

Toady fuhr zum Bahnhof.

 

»Wir freuen uns sehr über Ihr Kommen«, begrüßte er Mrs. Thompson.

 

»Lügen Sie nicht, Toady«, sagte sie schroff. »George ist wütend, daß ich gekommen bin. Aber er muß schon zwei Tage mit mir vorlieb nehmen. Und wahrscheinlich hat die Sache für ihn große Vorteile.«

 

Sie stieg in den Wagen. Toady machte noch mehrmals den Versuch, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen, aber da er keinen Erfolg hatte, lehnte er sich schließlich schweigend in seinen Sitz zurück.

 

Erst als sie sich dem Herrenhaus näherten, wandte sich Mrs. Thompson plötzlich an ihren Begleiter.

 

»Wie steht es mit George? Wird er das Derby gewinnen?«

 

»Wir hoffen es alle stark«, entgegnete Toady vorsichtig.

 

»Sir George legt sein Geld nicht nur auf bloße Hoffnungen hin an«, sagte sie entschieden. »Wenn er so viel Geld wettet, dann muß er ganz besondere Sicherheiten haben. Und ich bin neugierig, warum er die Aussichten seines Pferdes so günstig beurteilt.«

 

»Das wird er Ihnen sicher erklären«, erwiderte Toady diplomatisch. Er liebte es nicht, sich von dieser entsetzlich schwatzhaften Frau ausfragen zu lassen.

 

Erleichtert atmete er auf, als der Wagen vor der Freitreppe des Hauses hielt. Sir George wartete mit düsterem Gesicht oben auf der Terrasse, und sein Willkommensgruß war ziemlich frostig.

 

»Hallo«, sagte er unfreundlich, als seine Schwester die Stufen hinaufstieg. »Warum kommst denn du hierher?«

 

»Aus Sorge um deine Zukunft und dein Wohlergehen, George«, erklärte sie kurz.

 

Er führte sie in die Bibliothek. Sie nahm eine Zigarette aus dem Etui, das auf dem Schreibtisch lag, und zündete sie an.

 

»Sie brauchen nicht hier zu warten, Toady«, sagte sie dann barsch.

 

Wilton ging fort und verwünschte sie wegen ihrer Unhöflichkeit.

 

Als die beiden allein waren, drehte sich Sir George um. Er hatte bis jetzt zum Fenster hinausgesehen.

 

»Nun, Georgina, was führt dich hierher?«

 

»Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, daß du heiratest.« Sie ging direkt auf ihr Ziel los.

 

»Wie kommst du denn plötzlich zu dieser Überzeugung?« fragte er ironisch, aber doch etwas erstaunt.

 

»Eine reiche Heirat könnte dich aus deiner unangenehmen Situation befreien. Ich weiß alles über dich und deine Unternehmungen. Du schwebst ständig in Gefahr, mit dem Gericht in Konflikt zu kommen.«

 

»Willst du mir hier etwa Religionsunterricht geben?«

 

»Nein, das weißt du selbst sehr gut«, entgegnete sie kühl. »Ich bin hergekommen, um geschäftlich mit dir zu sprechen. Und glaube mir, Ehrlichkeit macht sich immer bezahlt.«

 

»Inwiefern soll ich denn meine Ehrlichkeit betätigen?’« fragte er lächelnd.

 

»Du sollst eine vorteilhafte Ehe schließen. Ich kenne eine Dame mit einer halben Million Vermögen. Was sagst du dazu?«

 

»Das kommt mir allerdings sehr komisch vor. Ich bin doch nicht mehr der Jüngste. Aber wo und wie hast du denn diese sagenhafte Dame gefunden? Ich muß gestehen, daß ich seit den letzten zwanzig Jahren erfolglos nach ihr gesucht habe. Ich bin durchaus kein Verächter des schönen Geschlechtes, aber Damen mit großem Vermögen waren nie sehr huldreich zu mir.«

 

Sie setzte sich auf eine Ecke des Diwans.

 

»Ich will dir also meinen Vorschlag machen. Ich habe eine Dame entdeckt, die du wahrscheinlich sofort heiraten kannst. Sie lebt augenblicklich in ärmlichen Verhältnissen, und du brauchst nur nett, liebevoll und ritterlich zu ihr zu sein. Sicher wird sie dich nehmen, da sie nicht von Adel ist. Und dann heiratest du sie einfach.«

 

Er kniff die Augenlider zusammen und sah sie forschend an.

 

»Welchen Vorteil hast du denn davon?« fragte er ruhig.

 

»Ich bekomme zehn Prozent von ihrem Vermögen als Provision«, erwiderte sie geschäftstüchtig. »Wahrscheinlich wirst du nicht gleich über das ganze Vermögen verfügen können, aber vielleicht bist du ein Jahr nach der Heirat in der Lage, mir meinen Anteil auszuzahlen. Sie weiß augenblicklich noch nicht, was für eine große Erbschaft sie machen wird, und du hast Zeit, dich um ihre Gunst zu bewerben, so daß sie dir später willig die Verwaltung ihrer Geldangelegenheiten übertragen wird.«

 

»Ich verstehe. Wer ist denn die Dame?«

 

Mrs. Thompson sah ihn belustigt an.

 

»Glaubst du auch nur einen Augenblick, daß ich dir das jetzt sagen würde? Mein lieber George, für wie einfältig hältst du mich denn? Nein, zuerst müssen wir einen schriftlichen Vertrag machen zwischen George Mortimer Maxwell Frodmere einerseits und Georgina Heloise Gordon Thompson andererseits. Der Vertrag muß in vollkommen einwandfreier juristischer Form aufgesetzt, gestempelt, gesiegelt und mit allen Sicherungen versehen sein, die mein Rechtsanwalt nur ausfindig machen kann. Vorher unternehme ich auch nicht einen Schritt weiter in der Sache.«

 

Sir George blieb eine Weile ruhig am Schreibtisch stehen und betrachtete seine Schwester.

 

»Die Idee ist im Grunde nicht schlecht«, sagte er dann liebenswürdig, ganz im Gegensatz zu seiner früheren Haltung. »Bis jetzt habe ich allerdings kein Glück gehabt mit meinen Heiratsangelegenheiten.«

 

»Du bist doch nicht etwa schon heimlich verheiratet?« fragte sie schnell.

 

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Nein, ich meine nur, meine nutzlosen Bemühungen, mich günstig zu verheiraten, sind alle fehlgeschlagen. Aber ich halte deinen Plan für absolut durchführbar und gut. Wir wollen auch sofort an die Ausführung gehen. Mein Rechtsanwalt soliden Vertrag gleich aufsetzen. Ich werde ihn telegrafisch herrufen.«

 

»Dann telegrafiere auch sofort an den meinen.«

 

»Das ist doch nicht notwendig.«

 

»Das ist wichtiger als alles andere, wenn ich mit dir verhandle. Ich bin. vorsichtig geworden, denn ich kenne dich.«

 

*

 

Sir George Frodmere reiste am nächsten Morgen nicht nach London, wie er ursprünglich beabsichtigt hatte. An seiner Stelle fuhr Toady Wilton, der über den Stimmungswechsel seines Freundes angenehm überrascht war. In der. letzten Zeit war so viel Geld auf Donavan gewettet worden, daß Portonius etwas ins Hintertreffen geriet, und diese Chance wollte sich Toady nicht entgehen lassen. Er suchte seine letzten Geldreserven zusammen, um sie auf Portonius zu setzen, und er war mit sich und seiner Lage augenblicklich sehr zufrieden. In der letzten Zeit hatte Portonius sehr gute Fortschritte gemacht und mußte das Rennen unweigerlich gewinnen. Das Pferd war noch nie in so guter Form gewesen. Die Gefahr, daß der Klimawechsel ihm schaden könnte, war glücklich vorübergegangen. Die für dieses Derby gemeldeten Dreijährigen waren nicht gerade besonders hervorragend, so daß sich schon dadurch die Aussichten Sir Georges verbesserten.

 

Toady fuhr direkt von der Bahn zu dem Büro seines Wettagenten. Der junge Mann saß hinter seinem Schreibtisch und sah keineswegs wie ein Buchmacher aus. Er war unauffällig gekleidet, hatte vornehme Gesichtszüge, trug nicht den geringsten Schmuck und unterschied sich auch sonst vorteilhaft von seinen Kollegen. Man hätte eher annehmen können, daß man sich in dem Büro eines Bankdirektors befände.

 

»Wie geht es mit Ihrem Pferd?« fragte er, als er seinem Besucher eine Zigarette anbot.

 

»Großartig«, entgegnete Toady. »Aber es ist merkwürdig, daß so viel Geld auf Donavan gesetzt wird.«

 

Mr. Gursley nickte.

 

»Sie wissen wahrscheinlich, daß jemand gegen Sie setzt? Sie können soviel Geld eins zu sechs auf Portonius setzen, wie Sie wollen. Gestern wurden mir noch Wetten angeboten mit sechstausend zu eintausend oder dreißigtausend zu fünftausend. Ich hätte abschließen können, wenn ich gewollt hätte.«

 

»Wer hat Ihnen denn das angeboten?« fragte Toady eifrig. »Ist der Mann auch sicher? Hat er genügend Deckung?«

 

»Da können Sie vollkommen beruhigt sein. Er hat das Angebot nicht von sich aus gemacht, er handelt im Auftrag eines anderen. Sie können die Wette heute noch abschließen, wenn Ihnen etwas daran liegt.«

 

Er nahm den Hörer vom Telefon und rief eine Nummer in der Jermyn Street an.

 

»Sie haben mir gestern dreißigtausend zu fünf auf Portonius für das Derby angeboten. Halten Sie Ihr Angebot noch aufrecht?«

 

»Selbstverständlich.«

 

Gursley sah Wilton bedeutungsvoll an.

 

»Wollen Sie die Wette abschließen?«

 

Toady nickte.

 

»Gut, dreißigtausend zu fünf auf Portonius. Die Sache ist abgemacht.«

 

Der Buchmacher legte den Hörer wieder auf.

 

»Sie wissen, daß Sie und Ihre Freunde sich sehr stark für Portonius engagiert haben?«

 

»Wieviel müßten wir zahlen, wenn wir verlören?«

 

»Etwa zwanzigtausend Pfund. Und bis jetzt habe ich erst zehntausend von Ihnen in der Hand.«

 

Toady lächelte.

 

»Ist es nötig oder gesetzliche Bestimmung, daß man das Geld für Wetten vor dem Rennen einzahlt?«

 

»Nein, das Gesetz schreibt es nicht vor. Aber es ist äußerst notwendig, bevor ich weitere Schritte unternehme. Selbst jetzt kann ich die eben telefonisch verabredete Wette erst dann schriftlich bestätigen, wenn Sie mir die betreffende Summe einzahlen. Wenn man mit so großen Beträgen arbeitet, kann man nicht vorsichtig genug sein. Ich weiß, es ist gegen die Gewohnheit, aber ich habe Ihnen das ja gleich zu Anfang unserer Geschäftsverbindung gesagt. Sie müssen das Geld bis morgen früh auf mein Bankkonto überweisen.«

 

»Wird erledigt«, erklärte Toady.

 

Soltescu war in London und konnte ihm das Geld leicht beschaffen.

 

Wilton fuhr sofort zu dem Hotel des Rumänen und traf ihn auch an. Soltescu war in bester Stimmung und Toady hatte in einer Viertelstunde alles erreicht, was er wollte.

 

Kapitel 18

 

18

 

Der Tag des Derbys kam, und die Rennbahn war sehr stark besucht. Überall sah man die großen, farbenfreudigen Plakate der Buchmacher, die in lebhaftem Gegensatz zu dem grünen Rasen und der dunklen Volksmenge standen. Ein unheimliches Gedränge herrschte auf den Sattelplätzen und auf den Tribünen. Jeder Platz war besetzt.

 

Eric Stanton hatte eine Loge für sich und war von fröhlichen Menschen umgeben. Neben ihm saßen Mary President und ihr Großvater, und auch Milton Sands und Janet Symonds waren in der Nähe. Mary schaute auf die große Menschenmenge und wandte sich dann an Eric.

 

»Ich weiß nicht, ich bin so unruhig geworden. Glaubst du wirklich, daß Donavan das Rennen macht?« fragte sie. Er nickte.

 

»Ich persönlich bin davon überzeugt. Milton Sands ist allerdings anderer Ansicht.« Er drehte sich zu ihm um. »Es ist doch richtig, was ich eben sagte?«

 

Milton schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das stimmt nicht. Ich sagte nicht, daß Donavan nicht gewinnen, sondern daß er wahrscheinlich heute geschlagen würde.«

 

»Diese feinen Unterschiede kann ich nicht verstehen. Das ist mir zu hoch. Die Detektive drücken sich doch wirklich zu vorsichtig und geheimnisvoll aus.«

 

Milton Sands hatte nur halb zugehört. Er sah über die Menge weg und erkannte Sir George Frodmere und seine Freunde unten auf der Rennbahn. Sie standen in der Nähe auf einem freien Platz und sprachen anscheinend ernst miteinander. Soltescu ging gerade auf sie zu. Er sah in dem glänzenden Zylinder mit seiner großen Zigarre stattlich aus. Milton Sands überlegte sich, wieviel Geld der Mann wohl verlieren würde, wenn das Rennen nicht so verlief, wie er erwartete.

 

Ähnliche Gedanken kamen auch Sir George Frodmere. Er unterhielt sich mir Wilton über dasselbe Thema.

 

»Ich weiß nicht, wie es heute noch werden soll, Toady«, sagte er nervös. »Aber ich habe ein unangenehmes Gefühl, daß die Sache nicht glatt geht.«

 

»Die Buchmacher denken aber anders darüber«, entgegnete Toady gutgelaunt. »Sie nehmen Wetten fünf zu zwei auf Portonius. Und es ist schwer, selbst große Summen zu diesen Bedingungen unterzubringen.«

 

»Wenn ich dieses Rennen verliere«, sagte Sir George nachdenklich, »dann verlieren Sie Ihr Heim, Toady.«

 

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Wilton erschreckt.

 

»Genauso, wie ich es sage. Wenn ich verliere, werde ich mich verheiraten.«

 

»Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«

 

Sir George lächelte.

 

»Eine äußerst tüchtige Geschäftsfreundin hat mich darauf gebracht«, entgegnete er ausweichend.

 

»Haben Sie der Dame denn schon einen Antrag gemacht?« fragte Toady neugierig.

 

»Dazu ist keine Zeit«, erklärte Sir George kurz. »Leider hat sie andere Ansichten darüber und scheint ihre Neigung einem anderen zuzuwenden, so daß sie wahrscheinlich nicht so leicht umzustimmen sein wird. Ich habe Nachforschungen angestellt … Es wird deshalb notwendig sein, andere Methoden anzuwenden. Aber Sie werden verstehen, daß ich zu diesem Schritt gezwungen bin, wenn unser Plan mißlingt.«

 

»Ich weiß gar nicht, wie Sie dazu kommen, so etwas zu sagen. Es wird nicht schiefgehen«, erklärte Toady aufgeregt. »Was ist denn los? Ist dem Pferd etwas zugestoßen?«

 

»Nein, das ist in bester Form, und ich bin eigentlich fest davon überzeugt, daß es das Rennen macht. Aber ich denke an andere schlimme Möglichkeiten.«

 

»Sie wissen doch bestimmt, daß der wirkliche Portonius nach Belgien abtransportiert, worden ist?« fragte Toady plötzlich.

 

»Warum fragen Sie danach?« erwiderte Sir George unangenehm berührt. »Ich habe noch nie daran gezweifelt.«

 

»Es liegt ja auch gar kein Grund dazu vor. Ich dachte nur so«, entgegnete Toady lahm.

 

»Dann behalten Sie so dumme Fragen lieber für sich«, sagte der Baronet ärgerlich. »Ich habe schon genug Sorgen ohne Ihr Geschwätz.«

 

Er blickte düster vor sich hin. Wenn der Schwindel mit Portonius herauskam, würde man ihn aus dem Rennverband ausschließen, und das würde seinen Ruin bedeuten. Er suchte den Gedanken loszuwerden, aber es gelang ihm nicht. Unruhig ging er zur Waage und schlenderte von dort zum Start.

 

»Sie kommen!« hörte er einige Leute rufen.

 

Ein großes Stimmengewirr erhob sich, als das Feld in Einzelreihe vorüberritt. Die Farben der Jockeys waren weithin zu sehen.

 

Die Erregung der Menge stieg, als die Pferde vorbeidefiliert waren. Am Start gab es noch einen längeren Aufenthalt, und der Starter hatte eine schwere Arbeit. Portonius fiel besonders auf wegen seiner hellen Farbe. Er hatte einen Platz an der Außenseite und war ziemlich ruhig. Donavan dagegen trippelte nervös hin und her, als ob sich die Spannung und Erwartung der Menge auf ihn übertragen hätte.

 

Endlich schoß das weiße Band in die Höhe, und das Feld stürzte vorwärts.

 

Das Geschrei der Menge war ohrenbetäubend, und Mary President zuckte zusammen. Ihr Herz schlug schneller, ihre Hände zitterten, und sie wurde bleich. Eric war aufgestanden, und Milton war merkwürdigerweise verschwunden. Sie wunderte sich einen Augenblick darüber, daß er diesem bedeutenden Rennen nicht zusehen wollte. Aber Miltons Interesse konzentrierte sich jetzt auf andere Dinge.

 

Das Feld raste geschlossen den Hügel hinauf. Das war die erste Kraftprobe, die die Derbypferde zu bestehen hatten.

 

Samborino hatte sich von der Masse gelöst und war zwei Längen vor den übrigen. Hinter ihm kamen Mangla, Texter und Portonius. Das graue Pferd lag ruhig auf der Außenseite. Dicht hinter ihm war Donavan, der mühelos aufholte.

 

»Donavan macht sich gut«, sagte John President, als er das Glas an die Augen setzte. Er folgte jeder Bewegung seines Pferdes.

 

Das Feld hatte jetzt eine lange, gerade Strecke vor sich, bevor die gefürchtete Senkung der Rennbahn kam. Auf dem abschüssigen Gelände änderte sich dann die Stellung der einzelnen Pferde schnell. Mangla fiel zurück – sie hatte das Rennen schon verloren. Texter gelang es, Samborino einzuholen. Aber als das Pferd nach der Kurve wieder in die Gerade einschwenkte, war auch Samborino am Ende seiner Kraft. Texter übernahm die Führung vor Portonius und Donavan, die dicht nebeneinander lagen.

 

Zwischen diesen dreien mußte sich das Rennen entscheiden.

 

»Es wird einen harten Endspurt geben«, meinte Eric.

 

Portonius gelang es, aufzuholen. Er war jetzt in gleicher Höhe mit Texter. Langsam schob sich auch Donavan an der Außenseite vor. Die drei Pferde rasten Kopf an Kopf über die Bahn. Sie waren jetzt dem Ziel schon so nahe, daß der Endspurt begann. Die Jockeys holten mit größter Anstrengung das Letzte aus ihren Pferden heraus. Bis jetzt hatte noch keiner die Peitsche gebraucht. Der Lärm der Menge wuchs, und es konnte kaum noch jemand sein eigenes Wort verstehen. Und doch erhob sich ein lauter Schrei, als Texter unsicher wurde und zurückblieb. Nun konnte die Entscheidung nur noch zwischen Donavan und dem grauen Pferd fallen, und diese beiden lieferten sich einen erbitterten Endkampf.

 

»Keine Peitsche«, sagte John President, und seine Augen glänzten vor Erregung. »Donavan muß frei auslaufen!«

 

Es war, als ob es der Jockey gehört hätte, so genau befolgte er die Anweisung.

 

Aber Portonius bekam nun die Peitsche. Zweimal sauste sie nieder, und er schoß vor.

 

»Jetzt!« rief John President.

 

Wieder schien der Jockey zu gehorchen. Die Peitsche hob sich, fiel aber nur einmal.

 

Das Pferd raste vorwärts und hatte im Nu den Verlust aufgeholt. Nur noch einige Meter trennten sie vom Ziel, und bevor noch einer der Jockeys die Peitsche aufs neue benutzen konnte, flogen sie am Pfosten vorüber.

 

»Totes Rennen!« sagte Eric Stanton, weiß vor Erregung.

 

Einen Augenblick herrschte absolute Ruhe, dann wurde langsam eine Nummer bei dem Sitz des Unparteiischen hochgezogen.

 

Portonius hatte das Rennen um eine Kopflänge gewonnen!

 

Eric wandte sich schnell Mr. President zu. Die Züge des alten Mannes waren bewegungslos, aber er schien in den wenigen Augenblicken stark gealtert zu sein. Jede Linie seines sonst so gesunden Gesichts hatte sich vertieft.

 

In dem Augenblick kam Milton Sands wieder in die Loge und nahm Mr. President am Arm.

 

»Ich muß Sie eine Sekunde sprechen.«

 

Seine Worte hatten einen wunderbar belebenden Einfluß auf den alten Herrn, und als Mary zu ihrem Großvater trat und ihre Hand auf seinen Arm legte, um ihn zu trösten, sah sie ein Lächeln auf seinen Zügen.

 

»Ich bin so traurig«, sagte sie leise.

 

»Du hast gar keinen Grund dazu, Liebling«, sagte er und klopfte sie auf die Wange. »Du wirst noch sehr merkwürdige Dinge erleben.«

 

Die Menge staute sich bei dem Ausgang, wo die Pferde auf ihrem Weg zur Waage vorüberkommen mußten, und die Polizei hatte alle Mühe, die Menschen zurückzuhalten. Sir George führte Portonius und wurde von der Menge bejubelt.

 

Die Leute besprachen erregt das Ereignis, freudig oder traurig gestimmt, je nachdem sie gewettet hatten. Die Nachricht wurde sofort in die weite Welt gemeldet, und die Reporter eilten zu den Telefonen.

 

Portonius hatte das Derby gewonnen!

 

Der Jockey war auf der Waage unter Aufsicht des Vorstandes, und der Beamte wollte gerade das Rennen für gültig erklären, als Milton Sands sich plötzlich in den Raum drängte und dem ersten Vorsitzenden ein Blatt Papier überreichte. Der Mann hob die Hand, las es und sah dann schnell zu dem Beamten an der Waage hinüber.

 

»Erkennen Sie das Rennen noch nicht an«, sagte er und las dann laut vor:

 

»Ich protestiere gegen Portonius, weil er in Wirklichkeit der vier Jahre alte El Rey ist, der kürzlich von Brasilien importiert wurde.«

 

Diese Nachricht wirkte wie eine Bombe auf die Anwesenden, und auch draußen rief sie bald größte Erregung hervor.

 

»Protest! Protest!«

 

Ein paar Minuten später ging eine Tafel mit der gleichen Inschrift hoch.

 

Alles schrie wild durcheinander. Was mochte wohl der Grund hierfür sein? Toady Wilton stand bleich und aufgeregt mitten in der Menge. Man wußte, daß er der Vertraute von Sir George war, und alle bestürmten ihn mit Fragen. Aber er schüttelte nur abweisend den Kopf.

 

»Ich habe keine Behinderung gesehen«, sagte Lord Chanderson verwundert zu Eric Stanton. »Es war ein faires Rennen von Anfang bis zu Ende. Ich verstehe nicht, warum Protest eingelegt worden ist.«

 

»Ich kann es ebensowenig begreifen wie Sie, aber es muß doch ein schwerwiegender Grund vorliegen. Mr. President wäre doch sicher der letzte, der ohne Ursache einen solchen Schritt tun würde.«

 

Sir George Frodmere sah zu Milton hinüber, der eine so schwere Anklage gegen ihn erhoben hatte. Äußerlich trat er vollkommen ruhig und sicher auf.

 

»Das müssen Sie aber erst beweisen. Sie können sich darauf verlassen, daß ich eine Schadenersatzklage gegen Sie erheben werde.«

 

Ein Beamter des Rennklubs mischte sich ein.

 

»Sir George, ich habe in der Zwischenzeit durch den vereidigten Tierarzt Ihr Pferd oberflächlich untersuchen lassen. Allem Anschein nach ist das Tier vier Jahre alt.«

 

»Auch das ist noch kein Beweis«, entgegnete Sir George gelassen. »Es genügt nicht, daß ich unter Verdacht stehe – der Verdacht muß vor allem bewiesen werden. Und welchen Verdacht haben Sie denn? Mr. Sands scheint im Auftrag von Mr. President zu handeln. Ein schönes Paar – der eine ein früherer Zuchthäusler, der andere ein hergelaufener Abenteurer!«

 

»Ich habe alle Beweise in der Hand«, erklärte Milton, auf den die Worte des Baronets nicht den geringsten Eindruck gemacht hatten. »Erstens habe ich das Zeugnis des Zahlmeisters, auf dessen Schiff El Rey nach England gebracht wurde. Er wird unter Eid aussagen, daß der angebliche Portonius dasselbe Pferd ist, das er an Bord hatte, und daß Sie ihm zweihundert Pfund wöchentlich geboten haben, wenn er ins Ausland ginge, bis das Rennen vorüber wäre. Mr. Delane war tatsächlich auf der Reise nach Bukarest, als ich mit ihm zusammentraf und ihn überredete, seinen Entschluß zu ändern. Er hat daraufhin das Geld, das er von Ihnen bekam, auf einer Bank deponiert.«

 

»Der Vorstand des Rennklubs wird sich kaum mit den Aussagen eines Zahlmeisters zufriedengeben können«, entgegnete Sir George. Er kämpfte verzweifelt, um Zeit zu gewinnen. Wenn es ihm gelang, den Protest im Augenblick zu widerlegen, kam er vielleicht doch noch durch!

 

»Wenn dies nicht Portonius ist, dann sagen Sie mir doch, wo das wirkliche Pferd steckt.«

 

»Das ist auch meine Absicht«, erklärte Milton.

 

Er wechselte einige Worte mit dem Vorsitzenden des Rennklubs und führte dann die Beteiligten nach draußen. Ein anderes Pferd hatte inzwischen die Stelle des Derbysiegers eingenommen. Es war jung und in bester Verfassung.

 

»Hier sehen Sie den wirklichen Portonius«, sagte Milton. Auf ein Zeichen nahm der Reitknecht die Decken ab.

 

Sir Georges Augen weiteten sich. Es war kein Zweifel möglich. Dies war Portonius. Aber man konnte ihn kaum wiedererkennen, so gut hatte er sich bei der Pflege erholt, die ihm Milton Sands hatte angedeihen lassen.

 

»Die Sache unterliegt keinem Zweifel«, sagte der Vorsitzende. »Ich kann mich auf das Pferd deutlich besinnen. Es hat seinerzeit das Brocklesbury-Rennen in Lincoln mitgemacht … Der merkwürdige Bau der Hinterbeine ist mir schon damals aufgefallen. Ich habe mir heute vor dem Rennen den Derbysieger daraufhin angesehen und war verwundert, daß mich mein Gedächtnis so im Stich gelassen haben sollte.«

 

Er ging um das Pferd herum.

 

»Dies ist der wirkliche Portonius«, wiederholte er laut und deutlich. »Was haben Sie dazu zu sagen, Sir George?«

 

Der Baronet zuckte die Schultern.

 

»Ich habe mit der Sache nichts zu tun – ich wasche meine Hände in Unschuld. Wenn Sie mir das Rennen absprechen, dann kann ich Ihnen hier keinen weiteren Widerstand leisten. Sollten Sie zu meinen Ungunsten entscheiden, so werde ich die Gerichte anrufen.«

 

Nach diesen Worten bahnte er sich einen Weg durch die Leute und verließ den Rennplatz. Tausende von Gläsern waren nach dem Signalmast gerichtet, an dem jetzt ein großes Plakat hochgezogen wurde:

 

Protest gegen Portonius wegen betrügerischer Eintragung angenommen. Der erste Preis fällt an Donavan.

 

Kapitel 19

 

19

 

»Ist das nicht wundervoll?« rief Mary President. Ihre Augen leuchteten vor Erregung. »Wir haben also tatsächlich das Derby gewonnen!«

 

»Ich gratuliere«, sagte Eric und sah sie zärtlich an.

 

Sie drückte seinen Arm liebevoll.

 

»Ich möchte nur wissen, wie Sie den Betrug entdeckt haben«, wandte er sich an Milton, der inzwischen wieder zu der Gesellschaft zurückgekommen war.

 

»Das war verhältnismäßig einfach. Ich las einen Zeitungsartikel in einem südamerikanischen Blatt, reiste daraufhin nach Tilbury und beobachtete die Ankunft El Reys. Das übrige konnte ich mir leicht zusammenreimen. Ich folgte Sir George und seinen Freunden und entdeckte, auch den Stall, in dem das Pferd untergebracht wurde. Allerdings mußte ich zu diesem Zweck auf ein benachbartes Dach klettern, und das war eine recht unangenehme Aufgabe. Aber es wurde mir dadurch möglich, den Ereignissen genau zu folgen. Ich fürchtete nur, daß der ursprüngliche Portonius erschossen werden sollte. Aber als ich später am Abend sah, wie das Pferd von einem heruntergekommenen Kerl fortgeführt wurde, ging ich ihm nach, und es gelang mir, ihm das Tier abzunehmen. Der Rest war dann leicht.«

 

»Ich bin neugierig, was nun mit Sir George passiert«, meinte Eric. »Auf jeden Fall wird er aus dem Rennklub ausgeschlossen.«

 

Milton nickte.

 

Im selben Augenblick trat ein Postbote in die Loge, der ein Telegramm für Mr. Sands brachte.

 

»Sie müssen ja sehr viel zu tun haben, wenn Sie sich sogar auf den Rennplatz Telegramme schicken lassen!« rief Eric überrascht.

 

»Als guter Detektiv bin ich bereit, überall Nachrichten entgegenzunehmen.«

 

Er riß den Umschlag auf und las den Inhalt, der ihn sehr zu befriedigen schien. Lächelnd steckte er das Formular in die Tasche.

 

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.«

 

Mit diesen Worten ging er fort.

 

»Milton hat heute seinen großen Tag«, sagte Eric zu Mary. »Willst du noch hierbleiben oder wollen wir lieber nach Hause gehen?«

 

»Ich bin jetzt wieder ganz ruhig geworden. Wir wollen bleiben.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte ihn an. »Ich möchte den anderen Rennen auch zusehen.«

 

Gleich darauf trat ein uniformierter Bote zu ihnen in die Loge.

 

»Ist Miss Symonds hier?« erkundigte er sich und schaute fragend von einem zum anderen.

 

Janet erhob sich.

 

»Ja. Was wünschen Sie?«

 

»Sie werden verlangt«, erwiderte der junge Mann kurz.

 

Sie errötete leicht. Milton hatte sich, an diesem Tag nicht viel um sie gekümmert, aber sie sagte sich selbst, daß er dazu wenig Zeit hatte.

 

Wenn junge Damen verliebt sind, fällt es ihnen schwer, logisch zu denken, und sie freute sich über diese kleine Aufmerksamkeit um so mehr. Rasch folgte sie dem Boten die Treppe hinunter.

 

»Wer hat denn nach mir verlangt?« fragte sie unten, aber sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß es nur Milton Sands gewesen sein konnte.

 

»Ein Herr. Er sagte mir, ich sollte Sie zu ihm bringen.«

 

Er bahnte einen Weg durch die Menge zu einem Auto, das in der Nähe des Eingangs hielt.

 

Sie zögerte.

 

»Wo ist er denn hingegangen?« fragte sie erstaunt …

 

»Alles in Ordnung, Miss«, entgegnete der Chauffeur. Es war Buncher, den Janet nicht kannte. »Er wartet weiter unten auf Sie.«

 

Ohne noch zu zögern, stieg sie ein, obwohl sie sah, daß es nicht Miltons Auto war. Sie war mit John President nach Epsom gekommen. Aber vielleicht war es Stantons Wagen, oder vielleicht hatte Milton ihn für heute gemietet. Auf keinen Fall hatte sie Zeit, lange danach zu fragen. Möglicherweise wollte Milton schnell zur Stadt zurückkehren, ohne sich erst lange von den anderen zu verabschieden, und hatte sie auf diese Weise zu sich gerufen. Was konnte ihr auch auf der offenen, menschenbelebten Straße passieren?

 

Das Auto fuhr langsam an, steigerte aber nach und nach die Geschwindigkeit, als es die offene Landstraße erreicht hatte.

 

Als sie zehn Minuten gefahren waren, wurde Janet unruhig und klopfte dem Chauffeur auf die Schulter. Aber der Mann kümmerte sich nicht darum und fuhr weiter, ohne sich umzuschauen.

 

Wieder stieß sie ihn an, aber Buncher reagierte nicht im geringsten darauf. Sie lehnte sich vor.

 

»Wohin fahren Sie mich?« fragte sie scharf.

 

Der Mann erwiderte etwas, das sie nicht verstehen konnte.

 

Es hatte keinen Zweck, weiter mit ihm zu verhandeln. Sie war jetzt ernstlich beunruhigt, glaubte aber trotzdem nicht, daß man etwas gegen sie im Schilde führte.

 

Es mußte ein Mißverständnis sein. Oder hatte Milton irgendeinen Plan, bei dessen Durchführung sie ihm helfen sollte?

 

Sie zwang sich zur Ruhe und wollte das Ende der Fahrt in Geduld abwarten. Aber es überkam sie doch eine ungewisse Furcht, die sich nach und nach immer mehr steigerte. Sie wußte, daß Milton Feinde hatte, und sie vermutete, daß irgendein Anschlag gegen ihn geplant war. Die Gefahr kam von einer Bande, die John President beraubt hatte, und Leuten, die dazu fähig waren, konnte man alles zutrauen. Sie erschrak aufs neue, als sie sah, daß der Chauffeur die Straße nach London einschlug.

 

*

 

In der Zwischenzeit ging Sir George zu seinem Wagen, den er an einem Nebeneingang hatte vorfahren lassen. Es blieb ihm keine Zeit, auf Toady Wilton zu warten. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Die Ereignisse des heutigen Tages bedeuteten den Ruin für ihn, und zwar nicht nur gesellschaftlich, sondern auch finanziell.

 

Er mußte jetzt einen Ausweg finden, mochte es kosten, was es wollte. Alles Planen hatte ihm nichts geholfen. Er stand im Brennpunkt des öffentlichen Interesses, und seine Betrügereien waren enthüllt. Plötzlich hörte er, daß ihn jemand anrief, und wandte sich um. Milton Sands ging schnell hinter ihm her. Sir George blieb stehen, ohne mit der Wimper zu zucken, und wartete auf den Mann, der ihn ruiniert hatte.

 

»Was wollen Sie von mir?« fragte er barsch.

 

»Ich muß noch kurz mit Ihnen sprechen, bevor Sie abfahren. Ich habe eine Neuigkeit, die Sie und auch Ihren Freund Soltescu interessieren wird.«

 

In diesem Augenblick fuhr Buncher an ihnen vorüber. Er hatte Milton erkannt und schlug seinen Kragen hoch. Ein rascher Blick der Verständigung wurde zwischen Sir George und ihm gewechselt, und der Baronet wurde plötzlich höflich.

 

»Was wollten Sie mir denn mitteilen? Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß ich wenig Zeit habe, da meine Anwesenheit in London dringend notwendig ist.«

 

»Ich werde mich so kurz wie möglich fassen«, erwiderte Milton lächelnd. »Die Dokumente über den Herstellungsprozeß des biegsamen Glases von John President sind gefunden worden.«

 

»Das ist ja unmöglich.«

 

»Der Mann, der sie gestohlen hat, gab sie wieder zurück, und die Formel ist dem Ausstellungskomitee in Lyon eingeschickt worden.«

 

»Wer hat die Papiere denn entwendet?«

 

»Darüber kann ich Ihnen nichts Genaueres mitteilen. Vielleicht ahnen Sie es. Ich kann Ihnen nur sagen, daß der Mann, der die Dokumente und eine größere Summe aus der Mappe Monsieur Soltescus nahm, die Tat bereute und die gestohlenen Sachen zurückgab.«

 

»War es Kitson?« fragte Sir George schnell.

 

Milton schüttelte den Kopf.

 

»Mehr kann ich Ihnen nicht erzählen. Aber Sie wissen nun genug; um Monsieur Soltescu einen großen Schrecken einzujagen. Wenn er es erfährt, wird er einen schweren Schock bekommen.«

 

»Ich habe vergessen, daß Sie Privatdetektiv sind. Sie haben schon eine ganze Anzahl von Aufträgen erhalten.«

 

»Und ich war bisher auch einigermaßen erfolgreich, das müssen Sie wohl zugeben. Ich habe den größten Turfschwindel aufgedeckt, der seit langem passierte, und ich habe die gestohlenen Dokumente wiederbeschafft. Aber ich habe noch eine große Aufgabe zu lösen.«

 

»Ja, Sie sollen den Aufenthalt von Miss Stanton ausfindig machen«, erwiderte Sir George lächelnd.

 

Milton sah ihn verwundert an. Dieser Mann war vollkommen ruiniert, und doch leuchteten seine Augen triumphierend. Es mußte etwas Ungewöhnliches geschehen sein, daß er in diesem Augenblick so zuversichtlich erscheinen konnte.

 

»Nun, ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte Sir George noch, dann stieg er in seinen Wagen ein.

 

Kapitel 2

 

2

 

In der warmen Frühlingsnacht bewegte sich eine, fröhliche, lachende Menge in den Straßen Monte Carlos. Am Tage hatten die großen Rennen stattgefunden, und es hielten sich viele Fremde in der Stadt auf. Aus Nizza, Mentone, ja selbst aus San Remo und anderen Orten der Küste waren sie angelockt worden. Die herrlichen Parkanlagen waren bevölkert von festlich gekleideten Menschen, und die Cafés waren überfüllt.

 

Zwei Herren traten langsam aus dem Palace-Hotel und blieben auf der breiten, marmorgedeckten Terrasse vor dem Gebäude stehen, um die bunte Menge zu betrachten. Sie waren beide noch jung, und an dem eleganten Schnitt ihrer Anzüge konnte man sie auf den ersten Blick als Engländer erkennen.

 

Offenbar hatten sie keine große Eile, denn sie warteten einige Zeit und ließen das anregende Bild auf sich wirken. Der größere mochte ungefähr dreißig Jahre zählen, hatte ein sonngebräuntes, glattrasiertes Gesicht und hielt sich so gerade, daß man ihn für einen Offizier hätte halten können. Trotzdem hatte Million Sands nur als Freiwilliger den Krieg bei den südafrikanischen Jägern mitgemacht. Über seinen großen, klaren, grauen Augen, die freundlich in die Welt schauten, wölbten sich buschige, dunkle Brauen, und in seinen Zügen drückten sich Energie und Tatkraft aus. Besonders der scharf gezeichnete Mund und das eckige, harte Kinn verrieten starke Willenskraft. In gewissem Gegensatz dazu standen allerdings die vielen Lachfältchen in seinen Augenwinkeln.

 

Eric Stanton, sein Begleiter, machte durchaus den Eindruck eines vornehmen, guterzogenen Engländers. Auch er war glattrasiert und hielt sich aufrecht, aber seine Züge waren weicher und milder. An seiner gesunden Gesichtsfarbe konnte man erkennen, daß er sich viel in der freien Luft aufhielt.

 

Er streifte die Asche seiner Zigarette ab und wandte sich dann plötzlich an Milton Sands.

 

»Also, wo soll die Reise hingehen?«

 

Sands sah sich lächelnd um.

 

»Ich werde mich wieder zu dem Sündenbabel begeben.«

 

»Ins Kasino? Ich hoffe nur, daß Sie mehr Glück haben als mein –« Er wollte gerade sagen »Freund«, änderte aber seine Absicht. »– als Wilton. Wie ist es Ihnen denn kürzlich am Spieltisch ergangen?«

 

Sands blies einige Rauchringe in die stille Abendluft, bevor er antwortete. Er freute sich darüber, daß Toady Wilton Geld verloren hatte, denn er konnte diesen Menschen nicht leiden.

 

»Das ist eigentlich schwer zu sagen«, entgegnete er vorsichtig. »In gewisser Weise ist es mir nicht schlecht gegangen. Meinen Zweck habe ich allerdings nicht erreicht. Ich bin mit verhältnismäßig geringen Mitteln aus London abgefahren, und ich habe bis jetzt weder etwas verloren noch etwas gewonnen.«

 

Eric Stanton lachte.

 

»Sie haben wirklich einen unverwüstlichen Humor. Ich habe mir schon oft überlegt, ob die Leute auf ihre Kosten kommen, die ins Kasino gehen. Ich habe niemals gespielt – wenigstens nicht, um Geld zu gewinnen. Ich beteilige mich wohl an den Rennwetten, aber Roulette, Bakkarat und andere Glücksspiele habe ich noch nicht versucht.«

 

»Das ist auch sicher eine ganz vornehme Lebensauffassung, aber ich bin nicht hier, um die Zeit totzuschlagen, sondern um Geld zu verdienen. Daraus mache ich gar kein Hehl. Ich kam nach Monte Carlo mit einem System und einem Betriebskapital von zweihundert Pfund. Das System habe ich immer noch!«

 

»Den gewünschten Erfolg hat es Ihnen anscheinend nicht gebracht.«

 

»Ich probiere es eben erst aus, aber ich sehe dem Resultat mit philosophischer Ruhe entgegen. Wenn Sie wollen, können Sie mich einen Glücksjäger und Abenteurer nennen. Es macht mir ungeheuren Spaß, anderen Leuten Geld abzunehmen, besonders wenn ich es mit einem dicken französischen Croupier zu tun habe. Aber auf alle Fälle habe ich eine kluge Vorsichtsmaßregel ergriffen«, meinte er lächelnd, »Im Hotel habe ich eine größere Summe hinterlegt, damit ich unter allen Umständen meine Rechnung bezahlen kann. Außerdem habe ich schon mein Rückreisebillett nach London in der Tasche. Drückende Sorgen sind also nicht vorhanden. Und das übrige Geld –«, er deutete vielsagend auf das Kasino hin, das in hellem Lichterglanz strahlte – »kann ich ruhig verspielen. Also vorwärts!«

 

Sie gingen die Stufen langsam hinunter und bahnten sich einen Weg durch die auf und ab flutende Menge.

 

Drei Herren im Abendanzug saßen an einem kleinen Marmortisch auf der Terrasse des Hotels, tranken Kaffee, und rauchten Zigaretten. Sie hatten die beiden mit Interesse beobachtet.

 

»Warum haben Sie sich denn vor Ihrem Freund versteckt, Toady?« fragte Sir George Frodmere gelangweilt.

 

Toady Wilton sah ihn mißmutig an.

 

»Lassen Sie mich doch in Ruhe!«

 

»Warum ärgern Sie sich über meine Frage? Es ist doch keine Beleidigung, wenn man Freund eines Millionärs genannt wird!«

 

»Sie machen schon den ganzen Abend Bemerkungen über mich«, erwiderte Wilton düster. »Ich habe es satt, daß man mich immer zum besten hält. Wenn Sie durchaus wissen wollen, warum ich weggesehen habe, will ich es Ihnen sagen. Ich wollte nicht haben, daß er mich In Ihrer Gesellschaft sieht!«

 

Sir George lachte leichthin. Er war nicht empfindlich, und die Beleidigung, die in diesen Worten lag, berührte ihn nicht. Er strich seinen kurzen Schnurrbart und betrachtete Wilton wohlwollend durch sein Monokel. Sir George Frodmere war ein hübscher Mann mit frischer Gesichtsfarbe. Ein Typ, wie ihn französische Karikaturisten zeichnen, wenn sie einen charakteristischen Engländer darstellen wollen.

 

»Mein lieber Toady«, erwiderte er gönnerhaft, »ein Mann, der sein ganzes Leben lang mit Herzögen, Lords und Mitgliedern der Aristokratie verkehren will, sollte etwas höflicher zu einem Baronet sprechen. Ich weiß wohl, daß Ihr Freund prinzipiell etwas gegen mich hat, aber er kann mir nichts vorwerfen, und nach außen hin bin ich jedenfalls immer noch das Musterbeispiel eines englischen Barons. Übrigens ist dieser Stanton eine tadellose Erscheinung«, fuhr er nachdenklich fort. »Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich. Ich kann mich noch auf sie besinnen.«

 

Bei diesen Worten faßte er Wilton plötzlich scharf ins Auge, und Toady wurde unruhig.

 

»Sie war eine schöne Frau.« Sir George kniff die Augenlider zusammen. »Es ist wirklich schade, daß sie ein so trauriges Leben hatte. Sie ist doch damals ihrem Mann fortgelaufen?«

 

»Ja«, brummte Toady und schlug vor, jetzt zu gehen.

 

»Ihre ungeschickte Bemühung, mich abzulenken, beweist mir, daß Sie entweder sehr bescheiden sind und nicht gern über sich selbst sprechen, oder daß Sie ein besonders schlechtes Gewissen haben. Und da ich allzu große Bescheidenheit früher noch nie bei Ihnen bemerkt habe, bleibt nur die zweite Möglichkeit übrig. Sie ist also damals von dem alten Stanton fortgegangen, weil –«

 

»Sie wissen doch alles ganz genau«, entgegnete Wilton barsch. »Sie hat ihn verlassen, weil er sie zu Unrecht beschuldigte, daß sie ein Verhältnis mit Lord Chanderson gehabt hätte.«

 

»Und ihr kleines Töchterchen hat sie auch mitgenommen, nicht wahr? Habe ich nicht recht? Es war eine romantische Geschichte. Und man hat nachher nie wieder etwas von ihr gehört.«

 

»Mein Freund Stanton hat ein kleines Vermögen ausgegeben, um ihren Aufenthalt ausfindig zu machen. Aber es ist eine unangenehme Sache, und ich wünschte, Sie sprächen nicht mehr darüber.« »Man hat nichts mehr von ihr gehört«, wiederholte Sir George, ohne sich um die Bemerkung Wiltons zu kümmern. »Weder von ihr noch von ihrer Tochter. Aber der alte Stanton hat entdeckt, daß er sich von anderen Leuten hatte hinters Licht führen lassen. Alles war nur auf die Machenschaften eines ganz gemeinen Menschen zurückzuführen, der wahrscheinlich aus reiner Bosheit die Beweise gegen die Frau gefälscht hat. Haben Sie etwas gesagt, Toady?«

 

»Nein«, entgegnete Wilton kleinlaut.

 

»Als Stanton sein Unrecht einsah, hat er große Summen ausgegeben, um ihren Aufenthalt zu erfahren«, fuhr Sir George fort. »Schließlich hinterließ er die Hälfte seines Vermögens seiner Frau und seiner Tochter, die er beide so tief gekränkt hatte.«

 

»Es war eben eine Verkettung unglücklicher Umstände«, erwiderte Wilton undeutlich. »Ihr Mann glaubte, sie hätte ein Verhältnis mit Chanderson gehabt. Er sah Briefe, die der Lord an sie geschrieben haben sollte, und nachher stellte sich heraus, daß es nur Fälschungen waren.«

 

»ja, das habe ich auch gehört.«

 

Er trank seinen Likör aus.

 

»Und Sie waren der beste Freund des alten Stanton und haben auch noch eine kleine Erbschaft von ihm erhalten.«

 

»Aber welchen Zweck hat es denn, all die alten Geschichten wieder aufzuwärmen?« fragte Toady nervös. »Sie wissen ebensogut wie ich, daß er mir in seinem Testament nichts hinterlassen hat. Nur auf dem Totenbett hat er noch eine Bemerkung über mich gemacht, und sein Sohn schloß daraus, daß mir der alte Herr Geld zukommen lassen wollte.«

 

»Und er hat Ihnen auch Geld zukommen lassen. Sie sind wirklich ein Glückspilz, Toady. Wenn Eric Stanton Sie so gut kennen würde, wie ich Sie kenne, hätten Sie wahrscheinlich keine zehntausend Pfund erhalten.«

 

Wilton antwortete nicht, sondern wandte sich an Bud Kitson, der neben ihm saß und bisher geschwiegen hatte. Bud fühlte sich in der Gesellschaft der beiden anderen Herren nicht recht wohl. In seinem schlechtsitzenden Anzug sah er nicht vorteilhaft aus, und er wußte nicht, was er mit seinen großen Händen anfangen sollte. An der allgemeinen Unterhaltung konnte er sich auch nicht beteiligen, da er nicht zu den Kreisen seiner beiden Begleiter gehörte. Von Zeit zu Zeit faßte er nervös an seinen Kragen, als ob ihn dieser drückte, und es machte ihm anscheinend wenig Vergnügen, diese Abendkleidung zu tragen.

 

»Wann kommt denn der Junge, auf den wir warten?« fragte er.

 

»Sie müssen sich noch etwas gedulden, Bud«, entgegnete Sir George. »Unser Freund Soltescu trinkt gern etwas, und Sie wissen ja wohl selbst, daß solche Leute es für gewöhnlich nicht sehr genau mit der Zeit nehmen und immer unpünktlich sind.«

 

»Ich wünschte nur, er käme«, meinte Toady mißvergnügt. »Er ist ja wahnsinnig, daß er in Monte Carlo mit sechzigtausend Pfund in der Tasche herumläuft! Sämtliche Verbrecher Europas treiben sich doch hier auf den Straßen herum!«

 

»Nicht alle«, erwiderte Sir George belustigt. »Wenigstens kenne ich drei, die hier in aller Ruhe vor dem Palace-Hotel sitzen. Aber ich gebe Ihnen recht, Toady. Es wäre ein Skandal, wenn dieses schöne Geld in fremde Hände fallen sollte, nachdem wir uns so große Mühe gegeben und so viele Pläne ausgearbeitet haben. Von Rechts wegen gehörte es uns eigentlich schon.«

 

»Ich begreife die Geschichte nicht«, mischte sich Bud Kitson ein. »Ich dachte, dieser Mensch wäre einer von uns. Was ist denn nun eigentlich los?«

 

Sir George sah ihn lächelnd an.

 

»Die Sache ist furchtbar einfach«, sagte er liebenswürdig. »Monsieur Soltescu ist unheimlich reich und hat große Ländereien und Fabriken in der Nähe von Bukarest. Er hat schon einige unserer interessanten Unternehmungen finanziert, und an einer der letzten sind Sie ja auch persönlich interessiert. Aber wenn er auch gewissermaßen unser Teilhaber ist, so bleibt er doch im Grunde genommen ein dummer Kerl. Jawohl, das stimmt, obwohl er zu den größten und reichsten Geschäftsleuten Europas gehört, hinter vielen fragwürdigen Affären steckt und heute oder morgen eine Erfindung kaufen will, die ihn vielleicht zu einem der reichsten Leute der Welt macht. Sie haben Bud das wahrscheinlich noch nicht auseinandergesetzt?«

 

Wilton schüttelte den Kopf. Er hatte es nicht für nötig gehalten, diesem primitiven Menschen, den er nur als ein Werkzeug betrachtete, auch noch Erklärungen zu geben.

 

»Also dann will ich es Ihnen sagen«, begann Sir George, neigte sich etwas vor und sprach jetzt vollkommen ernst. »Soltescu besitzt die größten Glasfabriken in ganz Südeuropa. Seit Jahren hat er den Versuch gemacht, bruchsicheres, biegsames Glas herzustellen – Glas, das man biegen kann wie ein Stück Pappe, ohne daß es bricht. Die Chemiker der ganzen Welt arbeiten seit Jahrzehnten an der Lösung dieses Problems, aber ohne den geringsten Erfolg. Soltescu ist aber felsenfest davon überzeugt, daß man solches Glas fabrizieren kann, und hat deshalb einen Preis von fünfundzwanzigtausend Pfund für die Erfindung ausgesetzt. Und jetzt ist er einer solchen Erfindung auf der Spur. Ich weiß nicht, wer sie ihm angeboten hat.« Er zuckte die Schultern. »Der Mann muß aber hier in der Nähe leben und verhältnismäßig arm sein. Soltescu hat schon längere Zeit über die Angelegenheit verhandelt und auch bereits Proben des neuen Glases erhalten. Er ist hergekommen, um den Vertrag abzuschließen. Ist Ihnen die Sache jetzt klar?« Bud Kitson nickte.

 

»Er gehört zu den unvorsichtigen Menschen, die immer große Geldsummen mit sich herumtragen«, erklärte Sir George weiter. »Wahrscheinlich hat er im Augenblick sechzigtausend Pfund in der Tasche, denn er will den Mann gleich in bar auszahlen. Das heißt, er wird die Erfindung natürlich um eine viel geringere Summe kaufen können, so daß noch eine schone Portion von dem Geld übrigbleibt.« Er klopfte mit dem Mittelfinger auf den Marmortisch. »Die Vorsehung schickt uns nun nicht jeden^ Tag einen so reichen Mann in den Weg, und da ist es mir ziemlich gleich, ob er ein Fremder oder ein Geschäftsfreund ist. Geld ist eben Geld, und eine so günstige Gelegenheit darf man nicht vorübergehen lassen«, meinte er mit einem Schulterzucken. »Außerdem steht er meistens unter Alkohol, und ich sehe nicht ein, warum wir nicht doppelt an ihm verdienen sollten.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Bud leise. »Sollen wir ihm auflauern und ihm das Geld sofort abnehmen?«

 

»Nein, ganz so gewinnsüchtig sind wir doch nicht«, entgegnete Sir George lächelnd. »Er soll ruhig erst sein Patent kaufen. Es hat keinen Zweck, dem armen Erfinder das Geld wegzunehmen. Aber was übrigbleibt, ist auch noch eine sehr große Summe.«

 

»Verstehe vollkommen.« Bud Kitson nickte.

 

»Also, um es Ihnen weiter zu erklären«, begann der Baronet wieder, fing aber einen warnenden Blick von Toady Wilton auf und schwieg.

 

Ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren stieg die breite Marmortreppe zur Hotelterrasse herauf. Er war etwas untersetzt, hatte einen kahlen Kopf und einen schwarzen Spitzbart. Den Hut hielt er in der Hand und trocknete sich die Stirn mit einem seidenen Taschentuch. Er strauchelte und wäre beinahe gefallen. Sir George und Toady bemerkten sofort, daß er zuviel getrunken hatte.

 

»Ach, da sind Sie ja!« rief Soltescu auf Englisch. Er beherrschte diese Sprache sehr gut, denn er war in England erzogen worden. »Freue mich sehr, Sie zu sehen.«

 

Er gab dem Baron beide Hände und hätte ihn auch geküßt, wenn ihm Sir George nicht ausgewichen wäre.

 

»Ich habe Sie leider warten lassen müssen«, sagte er schnell und liebenswürdig. »Ich bitte das zu entschuldigen. Aber ich hatte auch viele Schwierigkeiten zu überwinden. Obendrein sind alle Straßen in diesem verdammten Monte Carlo so voller Menschen, daß man kaum vorwärtskommt. Mein Auto ist außerdem nicht hier. Ich habe mir schon den ganzen Weg lang Vorwürfe gemacht, daß ich nicht zu der verabredeten Stunde hier sein konnte!«

 

Je länger er sprach, desto mehr Fehler machte er. Wie die meisten Rumänen suchte er London selten zu seiner Erholung auf, da er die Annehmlichkeiten von Paris dem nüchternen Leben in der Themsestadt vorzog.

 

»Ich habe aber nur wenig Zeit, weil ich heute abend noch nach Nizza muß, um mit meinem Erfinder zu sprechen.«

 

»Was sind Sie doch für ein tüchtiger Geschäftsmann«, erwiderte Sir George anerkennend. »Wir Engländer könnten noch viel von Ihnen lernen.«

 

Soltescu zuckte die Schultern.

 

»In vielen Dingen müssen wir uns aber immer wieder die Engländer zum Vorbild nehmen«, entgegnete er mit einem höflichen Lächeln.

 

Es unterlag keinem Zweifel, daß er schon viel Alkohol zu sich genommen hatte, aber trotzdem konnte er noch vollkommen klar denken.

 

»Wir waren schon besorgt um Sie, Monsieur Soltescu«, sagte Toady Wilton verbindlich.

 

»Besorgt um mich?« wiederholte der Rumäne überrascht.

 

»Ja. Wir halten es nämlich nicht gerade für sehr ratsam, zu dieser Zeit in Monte Carlo mit einer so großen Summe in der Tasche spazierenzugehen«, erklärte Sir George.

 

Monsieur Soltescu lachte und klatschte in die Hände, um den Kellner zu rufen. Er bestellte eine Flasche süßen Sekt, und der Baron schauderte bei dem Gedanken, daß er eventuell auch ein Glas mittrinken müßte.

 

»Sehen Sie, hier ist mein Geld.« Soltescu zog seine Brieftasche heraus.

 

Sir George hätte schon bemerkt, wie stark der Rock des Mannes auf der rechten Seite aufgebauscht war, und er atmete erleichtert auf.

 

»O nein, mein Geld habe ich mir nicht stehlen lassen«, erklärte Soltescu stolz und schlug mit der Ledertasche auf den Tisch, daß Gläser und Kaffeetassen in Gefahr gerieten. Er entschuldigte sich allerdings auch sofort dafür.

 

Kitson, dessen Blicke magnetisch von der schwarzen Ledertasche angezogen wurden und der in diesen Dingen Fachmann war, sah aber, daß der Rumäne trotz der liebenswürdigen Entschuldigung die Tasche fest in der Hand hielt.

 

»Heute abend gehe ich nach Nizza zu der entscheidenden Besprechung. Es ist bereits alles arrangiert. Endlich komme ich in den Besitz der chemischen Formel und der Beschreibung des Herstellungsprozesses. Ich sage Ihnen, die Welt wird staunen!« Er strahlte vor Freude. »Vor allem die Fachwelt wird staunen! Die Sache gehört zu den wichtigsten Erfindungen, die während des letzten Jahrzehnts gemacht wurden, und wird geradezu eine Revolution auf dem Wirtschaftsmarkt hervorrufen. Hoffentlich haben Sie verstanden, was ich Ihnen sagen wollte. Mein Englisch ist nicht so einwandfrei, wie es eigentlich sein sollte, besonders wenn ich ein wenig mehr als gewöhnlich getrunken habe.«

 

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Monsieur Soltescu«, erwiderte Sir George liebenswürdig. »Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, daß Sie heute abend schon etwas getrunken haben.«

 

Der Rumäne lachte und steckte die Brieftasche wieder ein.

 

»Oh, ich habe schon ganz gehörig gefeiert. Zwei Flaschen Sekt habe ich geleert, und ich fühle mich schon recht vergnügt. Aber jetzt wollen wir einmal den geschäftlichen Teil besprechen.«

 

Er setzte sich aufrecht und rückte seinen Stuhl so, daß er alle drei sehen konnte.

 

»Sie haben einen großen Schlag für die Rennen vorbereitet und sind davon überzeugt, daß die Sache gelingen wird und daß wir eine Menge Geld dabei machen werden. Ich selbst komme zum Derby nach England hinüber. Es wird mir Vergnügen machen, als Zuschauer dabeizusein. Ich frage Sie nicht«, fuhr er fort und hob die Hand, »ob Ihre Pläne mit dem Gesetz in Übereinstimmung stehen, oder ob sie irgendwie unehrenhaft sind. Mir genügt es, wenn ich Geld dabei verdienen kann, und wenn es ein großes sportliches Ereignis wird. Sie gehören zu den besten Adelskreisen Englands, Sir George, und ich bin zufrieden, wenn Sie die Sache selbst planen. Ich übernehme die Finanzierung. Welche Summe benötigen Sie?«

 

»Fünftausend Pfund.«

 

»Fünftausend Pfund«, wiederholte Soltescu nachdenklich. »Und welche Sicherheit bieten Sie mir dafür?«

 

»Mein Name muß Ihnen genügen«, entgegnete Sir George nachdrücklich.

 

»Genügt mir auch. Morgen überweise ich Ihnen den Betrag.« Er dachte einen Augenblick nach. »Nein, morgen noch nicht. Heute abend fahre ich nach Paris. Ich gebe Ihnen einen Scheck auf meine Bank – Credit Lyonnais – ich habe ein Konto bei der Zentralstelle in Paris.«

 

»Aber warum wollen Sie mir die Summe nicht heute abend in bar zahlen?« fragte George freundlich. »Sie tragen doch so viel Geld mit sich herum.«

 

»Das geht nicht.« Der Rumäne schüttelte den Kopf. »Es ist möglich, daß ich die ganze Summe brauche. Ich stehe vor dem Ankauf einer großen Erfindung, und ich weiß nicht, was ich im Anschluß daran in den nächsten Tagen noch alles zu erledigen habe. Sie verstehen mich doch?« wandte er sich an Toady Wilton.

 

»Vollkommen«, antwortete dieser höflich. Er hatte jedoch kein Wort verstanden, denn Soltescu sprach schnell und vergaß in der Begeisterung alle englischen Sprachregeln. Nur Leute, die lange mit ihm bekannt waren, konnten ihm folgen.

 

»Heute abend reise ich nach Paris, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Um 23.43 fahre ich von Nizza ab. Meine Adresse in Paris ist Ihnen ja bekannt.«

 

Er erhob sich etwas unsicher, schüttelte Sir George mit großer Herzlichkeit beide Hände und verabschiedete sich mit demselben Enthusiasmus von Wilton und Kitson.

 

Sie sahen ihm nach, als er die Treppe hinunterging.

 

»Er fährt heute abend. Sie haben doch gehört, wie er es sagte«, bemerkte Sir George leise. »Wilton, gehen Sie sofort zum Bahnhof und nehmen Sie drei Schlafwagenkarten von Nizza nach Paris, und sehen Sie vor allem zu, daß Sie herausbringen, welche Bettnummer Soltescu hat.«

 

Am selben Abend trat Milton Sands gegen neun Uhr in das prachtvoll dekorierte Vestibül des Kasinos. Er hatte eine Zehnfrancs-Zigarre im Mund und weniger als zehn Francs in der Tasche. Sein Geld war verspielt, aber er empfand keine Reue und machte sich auch nicht die mindesten Vorwürfe darüber. Er nahm das Leben mit all seinen Wechselfällen in philosophischer Ruhe hin. Wie schlecht war es ihm nicht in Australien gegangen, als er ohne Wasser und Nahrung durch die wildesten Einöden wandern mußte! Nur der unerschütterliche Glaube, daß er aus all diesen Gefahren herauskommen würde, hatte ihm damals durchgeholfen. Zwar hatte er nicht auf ein Land gehofft, in dem Milch und Honig fließt, aber wenigstens auf eine Gegend mit vielen Bächen, wo er sein Pferd tränken und Wild schießen konnte, um sich am Leben zu erhalten. Er hatte Goldkonzessionen in Coolgardie für einen billigen Preis aus der Hand gegeben, und die Käufer hatten später Millionen daraus gezogen. Sein Vorleben befähigte ihn dazu, auch die schwersten Verluste mit Gleichmut zu ertragen.

 

Er ging zum Hotel zurück, stieg, langsam die breite Marmortreppe hinauf und winkte den Portier zu sich.

 

»Lassen Sie mein Gepäck herunterholen. Ich fahre heute abend nach Paris.«

 

Der Mann in der glänzenden Uniform murmelte einige Worte des Bedauerns. Auch er hatte auf seinem Posten schon genügend Erfahrung gesammelt. Mr. Sands war nicht der erste Gast des Hotels, der sich längere Zeit hier aufhalten wollte, dann aber plötzlich die Absicht äußerte, mit dem Nachtschnellzug abzufahren. In Monte Carlo kam dergleichen öfter vor.

 

Milton ging in sein Zimmer, zog sich um, und nachdem er gepackt hatte, beobachtete er den Hausdiener, der das geringe Gepäck hinaustrug.

 

»Francois, würden Sie einmal nachsehen, ob Mr. Eric Stanton im Hotel ist?« fragte er.

 

»Jawohl, Monsieur«, erwiderte der Mann diensteifrig und verließ das Zimmer. Bald darauf erschien er wieder.

 

»Der Herr ist unten im Vestibül.«

 

Milton Sands nickte nur, ging den langen Korridor entlang und traf Eric gerade, als dieser in den Fahrstuhl steigen wollte.

 

»Ich möchte Sie einen Augenblick sprechen, Stanton.«

 

Er führte Eric zu einem entlegenen Teil der Empfangsräume.

 

»Sie haben mich bisher nur oberflächlich kennengelernt – wie einen gelegentlichen Bekannten, den man einmal in Monte Carlo sieht. Aber ich kenne Sie, und ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten. Vorausschicken muß ich, daß ich Geld von Ihnen leihen will. Es handelt sich aber nur um fünf Pfund.«

 

»Sie können auch fünfzig Pfund von mir bekommen, wenn Sie sie brauchen«, erwiderte Stanton lächelnd.

 

Milton Sands schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich brauche nur soviel Geld, daß ich nach London komme. Dort warten schon verschiedene Schecks auf mich, die ich einkassieren kann.«

 

»Fahren Sie etwa auch schon heute abend mit dem Nachtzug?«

 

»Ja – Sie auch?«

 

»Ich habe eben ein Telegramm erhalten, das mich nach Hause ruft. Monte Carlo fällt mir auch etwas auf die Nerven. Ich fange an, mich hier zu langweilen.«

 

»Das ist ja eine angenehme Nachricht für mich. Soll ich schnell zum Bahnhof gehen und noch einen Platz im Schlafwagen für Sie belegen?«

 

»Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen. Aber Sie können die Bettkarte nicht lösen, ohne Geld in der Tasche zu haben«, sagte er, als Milton fortgehen wollte.

 

Mit einem Lächeln zog er seine Brieftasche heraus und. gab ihm einige Banknoten.

 

»So, hier haben Sie wenigstens tausend Francs. Nehmen Sie das Geld doch. Sie brauchen es unterwegs. Wenn Sie allerdings tatsächlich nur fünf Pfund von mir annehmen wollen, können Sie mir ja den Rest zurückgeben.«

 

»Fünf Pfund müssen ausreichen«, erwiderte Milton kurz. »Ich möchte wirklich nicht mehr Geld in der Tasche haben, als ich unumgänglich für Essen und Logis brauche.«

 

Es fiel ihm nicht schwer, noch einen Platz im Schlafwagen zu bekommen, denn zu dieser Zeit reisten wenig Leute von Monte Carlo ab. Der Nachtzug war auch nicht besonders beliebt; die vornehme Gesellschaft zog den Luxuszug am Tage bei weitem vor.

 

Er besorgte die Fahrkarte und kehrte dann zu Stanton zurück, der sich inzwischen für die Reise vorbereitet hatte und soeben seine Rechnung im Hotel bezahlte. Auch Sands beglich seine Rechnung und erhielt noch etwas Geld von seinem Depot zurück.

 

In Muße gingen sie zum Bahnhof, da sie noch genügend Zeit hatten.

 

»Welche Pläne haben Sie jetzt eigentlich?« fragte Stanton plötzlich.

 

»Ich mache niemals Pläne für lange Zeit und für die Zukunft. Es ist mir sehr unangenehm, mich festlegen zu müssen.«

 

»Es war ja auch etwas anmaßend von mir, Sie danach zu fragen«, entgegnete Eric. »Aber vielleicht habe ich mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Ich wollte eigentlich wissen, ob Sie irgendeine regelrechte Beschäftigung haben.«

 

»Ich sagte Ihnen ja schon früher, daß ich ein Glücksjäger bin. Einen Beruf habe ich nicht – ich verdiene mein Geld als Abenteurer. Und ich mache niemals Pläne für die Zukunft, weil ich mich immer erst im letzten Augenblick entscheiden kann. So habe ich es stets in meinem Leben gehalten, und so soll es auch bleiben.«

 

Eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her.

 

»Ich muß allerdings gestehen«, sagte Milton dann, »daß ich augenblicklich gezwungen bin, irgendwelche Zukunftspläne zu machen. Ich habe viel Zeit auf die Ausarbeitung meines Systems verwandt, und ich war fest davon überzeugt, daß ich Erfolg damit haben müßte. Es ist eins von den Systemen, zu deren Durchführung man eine Million Pfund braucht. Ich habe es daher scherzhaft das Eine-Million-Pfund-System getauft. Und jetzt weiß ich, daß man es nicht nötig hat, zu spielen, wenn man über eine so hohe Summe verfügen kann.«

 

Eric Stanton hatte diesen jungen Mann gern, dem kein Schicksalsschlag etwas anzuhaben schien, und dem Abenteuer nur eine willkommene Unterbrechung des eintönigen Lebens bedeuteten.

 

»Ich habe Beziehungen zu großen Firmen«, sagte er zögernd, »und ich könnte Ihnen vielleicht zu einem Posten verhelfen.«

 

Milton lachte und schlug ihm vergnügt auf die Schulter.

 

»Mein lieber Freund«, erwiderte er offen, »wenn Sie mir eine Vertrauensstellung geben, dann brenne ich eventuell in der nächsten Woche mit einer großen Summe durch. Nein, das ist nichts für mich. Ich habe ganz andere Absichten. Aber auf jeden Fall bin ich Ihnen äußerst dankbar, daß Sie mir so freundlich helfen wollen. Ich bin ein Spieler und werde ein Spieler bleiben bis zum Ende meines Lebens. Es sei denn, daß ich irgendeine Beschäftigung entdecke, in der ich meine Begabung besser verwerten kann.«

 

»Ich will Ihnen meine Adresse geben, und wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, dann lassen Sie es mich wissen.«

 

Milton nahm die Karte, die ihm Eric gab.

 

»Man trifft selten einen Menschen wie Sie«, sagte er. »Die reichen Leute sind im allgemeinen verdorben, weil sie von allerhand Vagabunden und schlechten Elementen getäuscht und betrogen werden, so daß sie überhaupt nichts mehr von ihren Mitmenschen wissen wollen. Aber vielleicht komme ich noch einmal in die Lage, Ihre Güte zu erwidern. Inzwischen können wir uns ja die Langeweile auf der Reise vertreiben, indem wir uns nach einem passenden Beruf für mich umsehen. Irgend etwas muß ich schließlich anfangen.« Er hatte halb im Scherz, halb im Ernst gesprochen. »Morgen muß ich mir jedenfalls klar darüber sein, was ich tun will. Ob wir nun zu dem Resultat kommen, daß ich zur Bühne gehe – und ich bin keineswegs ein schlechter. Schauspieler –, oder ob ich mich als Kellner in einem Lokal auf dem Montmartre verdinge, ist ja im allgemeinen gleichgültig. Nur habe ich gehört, daß die Trinkgelder auf dem Montmartre sehr gut sein sollen, so daß man bei einer solchen Beschäftigung nicht schlecht fährt. Veilleicht könnte ich auch Plakatkleber in London werden. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit mir beraten wollten, welcher Beruf für mich am zweckmäßigsten ist.«