Die Apfelschimmel.

 

Die Apfelschimmel.

 

Dem Grafen voran durchschritt der Baron eine Reihe von Zimmern, die durch ihre schwerfällige Pracht und den darin herrschenden übermäßig schlechten Geschmack auffielen, und gelangte in das Boudoir der Frau Danglars, ein kleines achteckiges Gemach, mit einem von indischem Musselin überzogenen Atlas tapeziert. Die Polsterstühle waren von altem vergoldetem Holz und hatten alten Überzug; über den Türen hingen Gemälde, Schäferszenen nach Boucher darstellend; zwei mit der übrigen Ausstattung im Einklang stehende hübsche Pastelle in Medaillenform machten endlich aus diesem Zimmer das einzige einigermaßen stilvolle des ganzen Hauses, was nur die Folge davon war, daß sich die Baronin mit Lucien Debray allein die Ausschmückung vorbehalten hatte.

 

Frau Danglars, die trotz ihrer sechsunddreißig Jahre noch schön genannt werden konnte, saß an ihrem Klavier, einem Meisterwerke von eingelegter Arbeit, während Lucien, an einem Tische sitzend, in einem Album blätterte.

 

Lucien hatte schon vor der Erscheinung des Grafen Zeit gehabt, der Baronin allerlei Dinge in Beziehung auf dessen Person zu erzählen. Man weiß, welchen Eindruck Monte Christo während des Frühstücks bei Albert auf dessen Gäste hervorbrachte; dieser Eindruck, so wenig empfänglich im ganzen Debray war, hatte sich bei ihm noch nicht verwischt, und die Mitteilungen, die er der Baronin über den Grafen machte, waren ganz davon erfüllt. Durch die früheren Erzählungen Morcerfs und durch die neuen Berichte Debrays angeregt, hatte die Neugierde der Baronin den höchsten Grad erreicht. Sie empfing Herrn Danglars mit einem Lächeln, wie es ihm gewöhnlich nicht zuteil wurde, während sie dem Grafen auf seinen Gruß eine zeremoniöse, aber zugleich freundliche Verneigung gewährte.

 

Lucien wechselte mit dem Grafen einen halbvertrauten Gruß und nickte Danglars zu.

 

Frau Baronin, sagte Danglars, erlauben Sie mir, Ihnen den Herrn Grafen von Monte Christo vorzustellen, den mein Korrespondent in Rom mit den dringendsten Empfehlungen an mich gewiesen hat. Ich habe nur ein Wort zu sagen, das ihn im Augenblick zum Liebling aller unserer schönen Damen machen wird; er kommt nach Paris, um ein Jahr hier zu bleiben und während dieses Jahres sechs Millionen auszugeben. Dies verspricht eine Reihe von Bällen, Diners und Soupers, wobei der Herr Graf, wie ich hoffe, uns ebensowenig vergessen wird, wie wir ihn bei unseren kleinen Festen!

 

Trotz der plumpen Art dieser Vorstellung ist doch ein Mensch, der nach Paris kommt, um in einem Jahre ein fürstliches Vermögen zu verbrauchen, etwas so Seltenes, daß Frau Danglars auf Monte Christo einen recht neugierigen Blick warf.

 

Wann sind Sie angelangt, mein Herr? fragte sie. – Gestern früh.

 

Und Sie kommen Ihrer Gewohnheit gemäß, wie man mir gesagt hat, vom Ende der Welt?

 

Diesmal nur von Cadix.

 

Oh! Sie erscheinen in einer abscheulichen Jahreszeit; Paris ist im Sommer fürchterlich; es gibt keine Bälle, keine Gesellschaften, keine Feste. Die italienische Oper ist in London, die französische Oper überall, nur nicht in Paris; und was das Théâtre-Français betrifft, so wissen Sie, daß es nirgends mehr zu finden ist. Somit bleiben uns als einzige Zerstreuung nur noch ein paar unglückliche Wettrennen auf dem Marsfelde und in Satory. Werden Sie rennen lassen, Herr Graf?

 

Ich, erwiderte Monte Christo, werde in Paris alles mitmachen, wenn ich das Glück habe, jemand zu finden, der mich recht in das Pariser Leben einführt.

 

Sie sind Liebhaber von Pferden, Herr Graf?

 

Ich habe einen Teil meines Lebens im Orient zugebracht, gnädige Frau, und die Orientalen schätzen, wie Sie wissen, nur zwei Dinge in der Welt, den Adel der Pferde und die Schönheit der Frauen.

 

Ah! Herr Graf, entgegnete die Baronin, Sie hätten, meine ich, die Frauen voransetzen können!

 

Sie sehen, Frau Baronin, daß ich recht hatte, wenn ich mir soeben einen Führer wünschte, der mir in den französischen Sitten Anleitung zu geben vermöchte.

 

In diesem Augenblick trat die Lieblingskammerfrau der Baronin Danglars ein, näherte sich ihrer Gebieterin und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Frau Danglars entgegnete erbleichend: Es ist unmöglich!

 

Nein, es ist die genaue Wahrheit, sagte die Kammerfrau.

 

Frau Danglars fragte, sich an ihren Gatten wendend: Ist es wahr, mein Herr?

 

Was, Frau Baronin? erwiderte er, sichtbar beunruhigt.

 

Man sagt mir, mein Kutscher habe, als er anspannen wollte, meine Pferde nicht mehr im Stalle gefunden. Ich frage Sie, was soll das bedeuten?

 

Frau Baronin, hören Sie mich!

 

Oh! ich höre schon, denn ich bin neugierig, zu erfahren, was Sie mir sagen werden; ich mache diese Herren zu Richtern zwischen uns und will Ihnen zunächst mitteilen, wie sich die Sache verhält. Der Baron hat zehn Pferde im Stall; unter diesen zehn Pferden gehören mir zwei, reizende Tiere, die schönsten Pferde von Paris; Sie kennen sie, Herr Debray, meine Apfelschimmel. Nun, jetzt eben, als Frau von Villefort meinen Wagen von mir entlehnt, als ich ihr ihn für morgen zu einer Spazierfahrt zusage, finden sich meine zwei Pferde nicht mehr vor. Herr Danglars hat wahrscheinlich ein paar tausend Franken dabei verdient. Wie verhaßt ist mir doch dieser gemeine Krämergeist!

 

Frau Baronin, erwiderte Danglars, die Pferde waren zu lebhaft und kaum vier Jahre alt, ich werde ähnliche, sogar schönere für Sie finden, wenn es welche gibt, aber sanfte, ruhige Pferde, die mir keine solche Angst einflößen.

 

Die Baronin zuckte die Achseln mit der Miene tiefer Verachtung.

 

Danglars schien diese mehr als deutliche Gebärde nicht zu bemerken und sagte, sich an Monte Christo wendend: In der Tat, ich bedaure, Sie nicht früher gekannt zu haben, Herr Graf; Sie richten Ihr Haus ein?

 

Ja wohl. Ich hätte Ihnen diese Tiere angetragen; denken Sie, ich habe sie um ein Nichts weggegeben; aber wie gesagt, ich wollte sie los sein, es waren zu feurige Tiere.

 

Mein Herr, sagte der Graf, ich danke Ihnen, ich habe heute morgen ziemlich gute und nicht zu teuer gekauft. Doch sehen Sie, Herr Debray! Sie sind, glaube ich, Kenner?

 

Während Debray ans Fenster trat, näherte sich Danglars seiner Frau und sagte ganz leise zu ihr: Stellen Sie sich vor, man kam und bot mir einen ungeheuren Preis für die Pferde. Ich weiß nicht, welcher Narr, der sich mit Gewalt zu Grunde richten will, heute seinen Intendanten zu mir schickte; nur so viel ist gewiß, daß ich sechzehntausend Franken bei dem Handel gewinne. Schmollen Sie nicht, und ich gebe Ihnen viertausend davon und Eugenie ebenfalls viertausend.

 

Frau Danglars ließ einen niederschmetternden Blick auf ihren Gatten fallen.

 

Wenn ich mich nicht täusche, sind Ihre Pferde, Ihre eigenen Pferde, an den Wagen des Grafen gespannt, rief Debray.

 

Meine Apfelschimmel! rief Frau Danglars und eilte ans Fenster. Danglars war ganz verblüfft.

 

Ist es möglich? rief Monte Christo, den Erstaunten spielend.

 

Es ist unglaublich, murmelte der Bankier.

 

Die Baronin sagte Debray ein paar Worte ins Ohr, und dieser näherte sich Monte Christo.

 

Die Baronin läßt Sie fragen, um welchen Preis ihr Gatte sein Gespann an Sie verkauft hat?

 

Ich weiß es nicht genau; es ist eine Überraschung, die mir mein Intendant, ich glaube um dreißigtausend Franken, bereitet hat.

 

Debray überbrachte der Baronin die Antwort.

 

Danglars erwiderte nichts, er sah eine unheilvolle Szene voraus; bereits war die Stirn der Baronin gefaltet und weissagte Sturm. Debray fühlte dies, schützte ein Geschäft vor und entfernte sich, Monte Christo, der mit Genugtuung die Lage der Dinge bemerkte, verbeugte sich vor Frau Danglars, ging ebenfalls weg und überließ den Baron dem Grimme seiner Gemahlin.

 

Gut, dachte Monte Christo, während er sich zurückzog; ich habe mein Ziel so ziemlich erreicht; ich halte den Frieden dieser Ehe in meinen Händen und kann mit einem Schlage das Herz des Mannes und das der Frau gewinnen; welches Glück! Aber ich bin Fräulein Eugenie Danglars nicht vorgestellt worden, während ich sie doch so gern hätte kennen lernen. Doch wir sind in Paris und haben Zeit vor uns. Es wird noch geschehen!

 

Zwei Stunden später erhielt Frau Danglars einen bestrickend liebenswürdigen Brief vom Grafen, worin er ihr schrieb, da er sein Erscheinen in der Pariser Welt nicht damit anfangen wolle, daß er eine hübsche Frau in Verzweiflung bringe, so bitte er sie, ihre Pferde zurückzunehmen. Als das Gespann wieder zurückgesandt wurde, trugen die Pferde das gleiche Geschirr, nur hatte der Graf in die Mitte jeder Rosette über dem Ohre einen Diamanten nähen lassen.

 

Danglars empfing auch einen Brief. Der Graf bat ihn um Erlaubnis, bei der Baronin dieser Millionärslaune entsprechen zu dürfen, und schrieb ihm zugleich, er möge die orientalische Manier entschuldigen, mit der die Zurücksendung der Pferde stattfinde.

 

Durch einen Schlag auf das Glöckchen gerufen, trat Ali am andern Morgen in das Kabinett des Grafen, der mit ihm am Abend vorher nach Auteuil gefahren war.

 

Ali, sagte Monte Christo, ich habe von deiner Geschicklichkeit im Werfen des Lassos gehört.

 

Ali machte ein bejahendes Zeichen und richtete sich stolz auf.

 

Du könntest also mit dem Lasso einen Ochsen aufhalten?

 

Ali machte mit dem Kopfe ein bejahendes Zeichen.

 

Einen Löwen?

 

Ali machte die Gebärde eines Menschen, der den Lasso schleudert, und ahmte ein ängstliches Gebrüll nach.

 

Ich begreife, sagte der Graf, du hast den Löwen gejagt. Würdest du zwei toll gewordene Pferde in ihrem Laufe aufhalten?

 

Ali lächelte.

 

Wohl, so höre! sagte Monte Christo. Sogleich wird ein Wagen, fortgerissen von zwei Apfelschimmeln, denselben, die gestern noch mein waren, hier vorüberkommen. Dun mußt diesen Wagen vor meiner Tür anhalten, und sollten die Pferde dabei zu Grunde gehen.

 

Ali ging auf die Straße hinab und zog vor der Tür eine Linie auf dem Pflaster; dann kehrte er zurück und zeigte dem Grafen, der ihm mit den Augen gefolgt war, die Linie.

 

Der Graf schlug ihm sanft auf die Schulter … dies war seine Weise, Ali zu danken; dann ging der Nubier abermals hinab und rauchte seinen Tschibuk auf einem Randsteine, der die Ecke des Hauses und der Straße bildete, während Monte Christo sich mit anderen Dingen beschäftigte.

 

Gegen fünf Uhr hörte man ein entferntes Rollen, das sich mit großer Geschwindigkeit näherte; es erschien eine Kalesche, deren Kutscher vergebens die Pferde zurückzuhalten suchte, die wütend, mit gesträubten Mähnen, in wahnsinnigen Sprüngen fortstürzten.

 

Eine junge Frau und ein Kind von sieben Jahren, die sich im Wagen eng umschlossen hielten, waren vor übergroßem Schrecken außer stande, einen Schrei auszustoßen; ein Stein unter einem Rad oder ein Anstreifen an einem Baume hätte genügt, den krachenden Wagen zu zerschmettern. Die Schreckensrufe der Vorübergehenden begleiteten das dahinsausende Gefährt.

 

 

Plötzlich legte Ali seinen Tschibuk weg, zog den Lasso aus der Tasche, schleuderte ihn, daß er dreimal die Vorderbeine des linken Pferdes umwickelte, und ließ sich ein paar Schritte durch die Heftigkeit der Bewegung fortreißen, aber dann stürzte das gefesselte Pferd nieder und lähmte die Anstrengungen des aufrecht gebliebenen, das mit aller Gewalt seinen Lauf fortzusetzen trachtete. Der Kutscher benutzte diese Frist, um von seinem Sitze herabzuspringen; doch bereits hatte Ali das zweite Pferd mit eiserner Faust an den Nüstern gepackt, und vor Schmerz wiehernd, stand das Tier regungslos.

 

Dies alles spielte sich so schnell ab, wie die Kugel zum Ziel fliegt. Doch reichte es hin, daß ein Mann aus dem Hause, vor dem der Unfall sich ereignet hatte, mit mehreren Dienern herbeieilen konnte; in dem Augenblick, wo der Kutscher den Schlag öffnete, hob er aus dem Wagen die Dame, die sich mit einer Hand an ein Kissen anklammerte, während sie mit der andern ihren ohnmächtigen Sohn an die Brust drückte. Monte Christo trug beide in den Salon und sagte, während er sie auf einen Diwan niederlegte: Seien Sie ruhig, gnädige Frau, Sie sind gerettet.

 

Die Frau kam zu sich und deutete auf ihren Sohn mit einem Blicke, beredter als alle Bitten.

 

Ja, ich begreife, sagte der Graf, das ohnmächtige Kind aufmerksam betrachtend; doch seien Sie unbesorgt, es ist ihm kein Unglück widerfahren, die bloße Angst hat den Kleinen in diesen Zustand versetzt.

 

Oh, mein Herr, rief die Mutter, sagen Sie mir das nicht, um mich zu beruhigen? Sehen Sie, wie bleich er ist! Mein Sohn! Mein Kind! Mein Eduard! Antworte doch deiner Mutter! Ach! mein Herr, lassen Sie einen Arzt rufen! Mein Vermögen dem, der mir meinen Sohn zurückgibt!

 

Monte Christo machte mit der Hand eine Gebärde, um die in Tränen zerfließende Mutter zu beruhigen, öffnete ein Kästchen, nahm daraus ein mit Gold verziertes Riechfläschchen von böhmischem Kristall, das einen blutroten Saft enthielt, und ließ einen einzigen Tropfen auf die Lippen des Kindes fallen.

 

Obgleich immer noch bleich, schlug das Kind sogleich die Augen auf. Bei diesem Anblick ward die Mutter beinahe wahnsinnig vor Freude.

 

Wo bin ich? rief sie, und wem verdanke ich so viel Glück nach einer so grausamen Prüfung?

 

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, Sie sind bei einem Manne, der sich äußerst glücklich fühlt, daß er Ihnen einen Kummer ersparen konnte.

 

Oh! fluchwürdige Neugierde, versetzte die Dame; ganz Paris sprach von den schönen Pferden der Frau Danglars, und ich hatte den tollen Gedanken, mit ihnen fahren zu wollen.

 

Wie? rief der Graf mit vortrefflich gespielter Verwunderung, es sind die Pferde der Baronin?

 

Ja, mein Herr, Sie kennen sie?

 

Frau Danglars? … Ich habe die Ehre, und es gewährt mir doppelte Freude, daß ich Sie der Gefahr entrissen habe, der Sie durch diese Pferde preisgegeben waren; denn Sie hätten diese Gefahr mir zuschreiben können; ich hatte die Pferde gestern dem Baron abgekauft, die Baronin schien dies jedoch sehr zu bedauern, so daß ich sie ihr mit der Bitte, sie von meiner Hand anzunehmen, zurückschickte.

 

Sie sind also der Graf von Monte Christo, von dem Hermine gestern so viel mit mir sprach?

 

Ja, gnädige Frau.

 

Und ich, mein Herr, bin Frau Heloise von Villefort.

 

Der Graf verbeugte sich wie ein Mensch, vor dem man einen Namen zum ersten Male ausspricht.

 

Oh! wie dankbar wird Herr von Villefort sein! fuhr Heloise fort, denn Sie haben ihm seine Frau und sein Kind wiedergegeben; ohne Ihren edelmütigen Diener wäre ich sicherlich mit meinem Kinde umgekommen.

 

Ach! gnädige Frau, ich zittre noch, wenn ich an die Gefahr denke, der Sie ausgesetzt waren.

 

Oh! ich hoffe, Sie werden mir erlauben, den aufopfernden Dienst dieses Menschen würdig zu belohnen.

 

Gnädige Frau, ich bitte Sie, verderben Sie mir Ali weder durch Lobeserhebungen, noch durch Belohnungen. Ali ist mein Sklave; dadurch, daß er Ihnen das Leben gerettet hat, dient er mir, und mir zu dienen, ist seine Pflicht.

 

Aber er hat sein Leben gewagt, sagte Frau von Villefort, auf welche dieser Gebieterton einen seltsamen Eindruck machte.

 

Ich habe ihm sein Leben gerettet, entgegnete Monte Christo, folglich gehört es mir.

 

Während des folgenden kurzen Stillschweigens konnte der Graf nach Gefallen das Kind betrachten, das seine Mutter mit ihren Küssen bedeckte. Es war klein, schwächlich, hatte eine so feine weiße Haut, wie sie gewöhnlich nur rothaarige Kinder besitzen, und dennoch bedeckte ein Wald von schwarzen, starren Haaren seine gewölbte Stirn und ließ, an beiden Seiten des Gesichtes auf die Schultern herabfallend, die Lebhaftigkeit seiner einen hohen Grad von Verschlagenheit und Bosheit verratenden Augen noch mehr hervortreten. Sein nun wieder roter Mund war von seinen Lippen umrandet, aber die Mundspalte zu weit; im ganzen deuteten die Züge des kaum achtjährigen Kindes auf mehr als zwölf Jahre. Es war sein erstes, daß er sich mit ungestümer Bewegung aus den Armen seiner Mutter losmachte und das Kästchen öffnete, woraus der Graf das Elixierfläschchen genommen hatte. Dann wollte er, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Pfropfen aus den Phiolen ziehen.

 

Berühren Sie das nicht, sagte der Graf, einige von den Flüssigkeiten sind gefährlich, nicht nur, wenn man sie trinkt, sondern schon, wenn man ihren Geruch einatmet.

 

Frau von Villefort erbleichte, hielt den Arm ihres Sohnes zurück und zog ihn an sich. Sobald ihre Furcht beschwichtigt war, warf sie auf das Kästchen einen kurzen, aber ausdrucksvollen Blick, der dem Grafen nicht entging.

 

In dieser Sekunde trat Ali ein.

 

Frau von Villefort machte eine Bewegung der Freude und sagte, ihren Sohn noch näher an sich ziehend: Eduard, siehst du diesen guten Diener? Er hat sich sehr mutig benommen, denn er setzte sein Leben ein, um die Pferde, die uns fortrissen, und den Wagen anzuhalten. Danke ihm, denn ohne ihn wären wir zu dieser Stunde wohl beide tot.

 

Das Kind streckte seine Lippen vor, wandte verächtlich den Kopf ab und rief: Er ist zu häßlich!

 

Der Graf lächelte, als hätte das Kind seine Hoffnung erfüllt; Frau von Villefort aber schalt ihren Sohn.

 

Siehst du, sagte der Graf arabisch zu Ali, diese Dame bittet ihren Sohn, dir zu danken, daß du ihnen das Leben gerettet hast, und das Kind erwidert, du seiest zu häßlich.

 

Ali wandte einen Augenblick seinen gescheiten Kopf nach dem Kinde und betrachtete es scheinbar ausdruckslos, aber aus dem Beben seiner Nasenlöcher ersah Monte Christo, daß der Araber im Herzen verwundet war.

 

Mein Herr, fragte Frau von Villefort, während sie aufstand, um sich zu entfernen, wohnen Sie gewöhnlich in diesem Hause?

 

Nein, gnädige Frau, es ist ein Absteigequartier, das ich mir gekauft habe; ich wohne in der Avenue des Champs-Elysées Nr. 30. Doch ich sehe, Sie haben sich wieder völlig erholt und wollen zurückkehren. Es ist Befehl gegeben, Ihre Pferde an meinen Wagen zu spannen, und Ali, der häßliche Bursche, sagte er, dem Kinde zulächelnd, wird die Ehre haben, Sie nach Hause zu fahren, während Ihr Kutscher hier bleibt, um Ihren Wagen wieder instand setzen zu lassen. Sodann bringt ihn eines von meinen Gespannen unmittelbar zu Frau Danglars zurück.

 

Aber mit denselben Pferden zu fahren, werde ich nie wagen, entgegnete Frau von Villefort.

 

Oh! Sie sollen sehen, gnädige Frau, sagte Monte Christo, unter Alis Hand werden sie sanft wie die Lämmer.

 

Ali näherte sich in der Tat den Pferden, die man nur mit Mühe auf die Beine gebracht hatte. Er hielt in der Hand einen kleinen mit aromatischem Essig getränkten Schwamm, rieb damit die mit Schaum und Schweiß bedeckten Nüstern und Schläfen, und fast in demselben Augenblick fingen die Pferde an, heftig zu schnauben, und ihr ganzer Leib zitterte ein paar Sekunden lang.

 

Dann ließ Ali mitten unter einem Volkshaufen, den der Lärm und der Anblick des zertrümmerten Wagens vor das Haus gezogen hatte, die Pferde an das Coupé des Grafen spannen, faßte die Zügel, stieg auf den Bock und war zum großen Erstaunen der Anwesenden, die den rasenden Lauf der Pferde angesehen hatten, genötigt, sich kräftig der Peitsche zu bedienen, um sie von der Stelle und zu einem matten Trabe zu bringen.

 

Kaum hatte Frau von Villefort in zwei Stunden ihr Haus im Faubourg Saint-Honoré erreicht, so schrieb sie folgendes Billett an Frau Danglars:

 

Liebe Hermine!

 

Ich bin auf wunderbare Weise mit meinem Sohne durch denselben Grafen von Monte Christo gerettet worden, von dem wir uns gestern abend unterhielten und den ich heute durchaus nicht zu sehen erwartet hatte. Sie sprachen gestern von ihm mit einer Begeisterung, die mit aller Macht meinen kleinen Witz zum Spotte reizte. Heute aber finde ich, daß diese Begeisterung noch weit unter dem Werte des Mannes bleibt, der sie eingeflößt hat. Ihre Pferde waren wie wütend geworden und rissen den Wagen mit so unwiderstehlicher Gewalt fort, daß mein armer Eduard und ich ohne Zweifel am ersten Baume der Landstraße oder am ersten Randsteine des Dorfes die Hirnschale zerschmettert hätten, als ein Nubier, im Dienste des Grafen, ich glaube auf ein Zeichen des letzteren, die Pferde im Laufe aufhielt, auf die Gefahr, selbst in Stücke zerrissen zu werden, – und es ist ein Wunder, daß dies nicht der Fall war. Da eilte der Graf herbei, trug Eduard und mich in seine Wohnung und rief hier meinen Sohn wieder ins Leben. Ich wurde in seinem Wagen nach Hause geführt, den Ihrigen wird man Ihnen morgen zuschicken. Sie werden Ihre Pferde seit diesem Vorfalle sehr geschwächt finden: sie sind wie betäubt, es ist, als könnten sie sich selbst nicht vergeben, daß sie sich von einem Menschen haben bändigen lassen. Der Graf beauftragt mich, Ihnen zu sagen, zwei Tage Ruhe auf der Streu und als einziges Futter Gerste werden sie wieder so kräftig, das heißt, wieder so furchtbar machen, wie sie gestern gewesen sind.

 

Adieu! ich danke Ihnen nicht für meine Spazierfahrt, Und wenn ich es mir überlege, ist es unbillig, daß ich Ihnen wegen des Mißgeschicks mit Ihrem Gespann grolle, denn diesem Umstand verdanke ich es, daß ich den Grafen von Monte Christo gesehen habe, und dieser scheint mir, abgesehen von den Millionen, über die er verfügt, ein äußerst seltsames, ein interessantes Problem, das ich um jeden Preis studieren will, selbst um den Preis einer neuen Spazierfahrt mit Ihren Pferden.

 

Eduard hat den Unfall mit einem wunderbaren Mute ausgehalten. Er ist ohnmächtig geworden, hat jedoch zuvor keinen Schrei ausgestoßen und nachher keine Träne vergossen. Sie werden mir abermals sagen, meine Mutterliebe verblende mich; aber in diesem kleinen, so schwächlichen, so zarten Körper wohnt eine eiserne Seele.

 

Unsere kleine Valentine läßt Ihrer Eugenie viel Schönes sagen; und ich umarme Sie von ganzem Herzen.

 

Heloise von Villefort.

 

N. S. Machen Sie doch, daß ich auf irgend eine Art mit dem Grafen von Monte Christo bei Ihnen zusammentreffe; ich will ihn durchaus wiedersehen. Übrigens hat mir Herr von Villefort versprochen, dem Grafen einen Besuch zu machen, und ich hoffe, er wird den Besuch erwidern.

 

Noch an demselben Abend bildete das Ereignis von Auteuil den Hauptgegenstand der Unterhaltung; Albert erzählte es seiner Mutter, Chateau-Renaud im Jockey-Klub, Debray im Salon des Ministers, Beauchamp sagte dem Grafen sogar in seinem Journal Artigkeiten in einem Artikel von zwanzig Zeilen, der den edlen Fremden zum Helden aller Damen der hohen Aristokratie erhob.

 

Viele Leute ließen sich bei Frau von Villefort einschreiben, um das Recht zu haben, ihren Besuch zu geeigneter Zeit zu wiederholen und dann aus ihrem Munde alle Einzelheiten des Abenteuers zu vernehmen. Herr von Villefort aber zog, wie Heloise gesagt hatte, einen schwarzen Frack und gelbe Handschuhe an und fuhr noch an demselben Abend vor der Tür des Hauses Nr. 30 in den Champs-Elysées vor.

 

Staatsanwalt und Kosmopolit.

 

Staatsanwalt und Kosmopolit.

 

Hätte der Graf von Monte Christo seit langer Zeit in der Pariser Welt gelebt, so würde er den Schritt des Herrn von Villefort seinem ganzen Werte nach zu schätzen gewußt haben.

 

Wohlgelitten bei Hofe, überall wegen seiner Gewandtheit gerühmt, von vielen gehaßt, aber von einigen warm beschützt, ohne jedoch von irgend jemand wirklich geliebt zu werden, nahm Herr von Villefort eine hohe Stellung in der Beamtenhierarchie ein. Kalte Höflichkeit und bedingungslose Unterwürfigkeit unter die Grundsätze der Regierung, dabei erbitterter Haß gegen die Idealisten, das waren die bezeichnendsten Eigenschaften dieser Säule des Staates.

 

Seine Beziehungen zu dem alten Hofe, von dem er stets mit Würde und Ehrfurcht sprach, machten ihn bei dem neuen geachtet, und er wußte so viele Dinge, daß man ihn nicht nur beständig schonte, sondern auch bisweilen zu Rate zog. Vielleicht wäre dem nicht so gewesen, wenn man sich seiner hätte entledigen können, aber Herr von Villefort hauste, wie ehemals rebellische Lehnsträger, in einer unüberwindlichen Feste. Diese Feste war sein Amt als Staatsanwalt, dessen Vorteile er vortrefflich auszubeuten wußte.

 

Selten machte oder erwiderte er Besuche; seine Frau besorgte dies für ihn, und die Gesellschaft nahm es geduldig hin, indem sie ernsten und zahlreichen Geschäften zuschrieb, was in Wirklichkeit nur eine Berechnung des Stolzes war.

 

Für seine Freunde war Herr von Villefort ein mächtiger Beschützer, für seine Feinde ein stummer, aber erbitterter Gegner, für die Gleichgültigen verkörperte er das starre Gesetz. Seine Physiognomie zeigte Gleichgültigkeit, sein Auge war matt und glanzlos oder unverschämt durchdringend und forschend. Herr von Villefort stand im Rufe des am wenigsten neugierigen Mannes in Paris. Seine Ungezwungenheit wurde von allen Seiten gerühmt; er gab jedes Jahr einen Ball und erschien dabei nur eine Viertelstunde, das heißt drei Viertelstunden kürzere Zeit als der König bei dem seinigen. Niemals sah man ihn im Theater oder Konzert, oder sonst an einem öffentlichen Orte.

 

So war der Mann beschaffen, dessen Wagen vor der Tür des Grafen von Monte Christo hielt.

 

Der Kammerdiener meldete Herrn von Villefort in dem Augenblick, wo der Graf, über einen großen Tisch gebeugt, auf einer Landkarte den Weg von St. Petersburg nach China verfolgte.

 

Der Staatsanwalt trat mit demselben ernsten, abgemessenen Schritte ein, mit dem er im Tribunal erschien; es war derselbe Mensch oder vielmehr die Fortsetzung desselben Menschen, den wir einst als Staatsanwaltsgehilfen in Marseille gesehen haben. Seine tiefliegenden Augen waren hohl, und seine Brille mit der goldenen Fassung schien einen Teil seines Gesichtes zu bilden; mit Ausnahme seiner weißen Halsbinde war sein ganzer Anzug schwarz, und diese Trauerfarbe wurde nur durch den Streifen eines roten Bandes unterbrochen, der durch sein Knopfloch ging.

 

So sehr Monte Christo seiner Herr war, so prüfte er doch mit sichtbarer Neugierde den Beamten, der, aus Gewohnheit mißtrauisch, mehr geneigt war, in dem edlen Fremden – so nannte man bereits Monte Christo – einen zur Ausbeutung eines neuen Schauplatzes nach Paris gekommenen Industrieritter oder einen verkappten Missetäter, als sonst etwas zu erblicken.

 

Mein Herr, sagte Villefort mit schnarrendem Beamtentone, der ausgezeichnete Dienst, den Sie gestern meiner Frau und meinem Sohne geleistet haben, macht es nur zur Pflicht, Ihnen zu danken. Ich komme daher, um mich dieser Pflicht zu entledigen und Ihnen meine ganze Erkenntlichkeit auszudrücken.

 

Während der Staatsbeamte sprach, verlor sein strenges Auge nichts von seiner gewöhnlichen Anmaßung. Er brachte seine Worte scharf und deutlich mit unsympathischer Stimme hervor.

 

Mein Herr, erwiderte der Graf ebenfalls mit eisiger Kälte, ich fühle mich sehr glücklich, daß ich imstande gewesen bin, einen Sohn seiner Mutter zu erhalten, denn das mütterliche Gefühl ist das mächtigste und heiligste von allen. Das Glück, das mir dabei zuteil ward, überhebt Sie der Verbindlichkeit, einer Pflicht nachzukommen, deren Erfüllung mich allerdings ehrt, denn ich weiß, daß Herr von Villefort nicht verschwenderisch mit einer solchen Gunst ist, die aber trotzdem für mich nicht den Wert der inneren Befriedigung hat.

 

Erstaunt über diesen Ausfall, auf den er durchaus nicht gefaßt war, bebte Villefort, und ein verächtliches Zucken seiner Lippen deutete an, daß er den Grafen von Monte Christo nicht für einen sehr artigen Edelmann halte.

 

Er schaute umher, um an irgend einen Gegenstand das abgebrochene Gespräch anzuknüpfen, und sah die Karte, die Monte Christo im Augenblick seines Eintrittes betrachtet hatte. Sie beschäftigen sich mit Geographie, sagte er. Das ist ein lohnendes Studium, für Sie besonders, der Sie, wie ich höre, so viele Länder gesehen haben, als sich im Atlas verzeichnet finden.

 

Ja, antwortete der Graf, ich wollte mit dem Menschengeschlechte im allgemeinen das vornehmen, was Sie täglich an Ausnahmen treiben, nämlich ein psychologisches Studium. Ich dachte, es würde mir dann leichter sein, vom Ganzen aus das Einzelne zu beurteilen. Ein algebraischer Grundsatz verlangt, daß man vom Bekannten zum Unbekannten, und nicht vom Unbekannten zum Bekannten fortschreite … Aber setzen Sie sich doch, Herr Staatsanwalt, ich bitte Sie.

 

Monte Christo bezeichnete dem Staatsanwalt einen Polsterstuhl, den vorzurücken der Gast sich selbst die Mühe nehmen mußte. Der Graf war halb seinem Besuche zugewendet; mit dem Rücken lehnte er sich ans Fenster und mit dem Ellbogen auf die geographische Karte.

 

Ah! Sie philosophieren, versetzte Villefort nach einem kurzen Stillschweigen, währenddessen er, wie ein Athlet, der einen mächtigen Gegner trifft, Vorrat an Kräften gesammelt hatte. Nun, mein Herr, bei meinem Ehrenworte, wenn ich wie Sie, nichts zu tun hätte, so würde ich mir wenigstens eine minder öde Beschäftigung suchen.

 

Es ist wahr, erwiderte Monte Christo, der Mensch ist eine häßliche Raupe für den, der ihn unter dem Mikroskop betrachtet. Doch Sie sagten, ich hätte nichts zu tun; … denken Sie etwa, Sie hätten etwas zu tun? Oder, um deutlicher zu sprechen, wähnen Sie, was Sie tun, sei der Mühe wert, davon zu reden?

 

Herrn von Villeforts Erstaunen verdoppelte sich bei diesem zweiten scharfen Schlage des seltsamen Gegners; seit langer Zeit hatte er kein so starkes Wort anhören müssen. Er erwiderte sofort:

 

Mein Herr, Sie sind ein Fremder und haben nach Ihrer eigenen Äußerung einen Teil Ihres Lebens im Orient zugebracht, Sie wissen also nicht, welchen vorsichtigen, abgemessenen Gang bei uns die in barbarischen Ländern so rasche und blutige Justiz hat.

 

Doch, mein Herr, doch; sie geht mit hinkendem Fuße. Ich weiß das alles, denn ich habe mich hauptsächlich mit der Justiz aller Länder beschäftigt, ich habe das kriminelle Verfahren aller Nationen mit der natürlichen Justiz verglichen und hierbei gefunden, daß das Gesetz der Urvölker, das Gesetz der Wiedervergeltung, das ist, das dem Willen Gottes am meisten entspricht. Würde dieses Gesetz eingeführt, mein Herr, entgegnete der Staatsanwalt, so müßte es unsere Gesetzbücher ungemein vereinfachen, und die Beamten hätten sodann, wie Sie soeben sagten, allerdings nicht mehr viel zu tun. Mittlerweile gelten unsere Gesetzbücher mit ihren den gallischen Sitten, den römischen Gesetzen, den fränkischen Gebräuchen entnommenen Bestimmungen; aber die Kenntnis aller dieser Gesetze erwirbt man sich, wie Sie zugestehen werden, nicht ohne lange Arbeiten, und es bedarf zur Erringung dieser Kenntnis ausgedehnter Studien, und ist sie einmal errungen, großer Geisteskraft, sie festzuhalten.

 

Ich bin auch dieser Meinung; doch alles, was Sie in Beziehung auf das französische Gesetzbuch wissen, weiß ich nicht nur hinsichtlich des letzteren, sondern auch hinsichtlich der Gesetzbücher aller Nationen. Die englischen, die türkischen, die japanischen, die hindostanischen Gesetze sind mir ebenso genau bekannt, wie die französischen.

 

In welcher Absicht haben Sie dies alles gelernt? fragte Villefort erstaunt.

 

Monte Christo lächelte und sagte: Mein Herr, ich sehe, daß Sie, obgleich Sie im Rufe eines großen Mannes stehen, alles aus dem materiellen, gewöhnlichen Gesichtspunkte der Gesellschaft betrachten, das heißt, aus dem beschränktesten Gesichtspunkte, den der menschliche Geist einnehmen kann.

 

Wollen Sie sich näher erklären, mein Herr, sagte Villefort, immer mehr erstaunt; ich verstehe Sie nicht ganz.

 

Ich sage, daß Sie, die Augen auf die gesellschaftliche Organisation der Nationen heftend, nur die Federn der Maschine sehen und nicht den erhabenen Werkmeister, der sie in Tätigkeit setzt; ich sage, daß Sie um sich her nur die Titelträger sehen, deren Patente von den Ministern oder vom König unterzeichnet sind, und daß die Menschen, die Gott über die Titelträger, die Minister und die Könige stellte, indem er ihnen eine besondere Sendung gab, Ihrer Kurzsichtigkeit entgehen. Tobias hielt auch den Engel, der ihm das Gesicht zurückgegeben hatte, für einen gewöhnlichen Menschen. Die Nationen hielten Attila, der sie vernichten sollte, für einen Eroberer, wie alle Eroberer, und beide mußten ihre göttlichen Sendungen offenbaren, damit man sie erkannte; der eine mußte sagen: Ich bin der Engel des Herrn, und der andere: Ich bin der Hammer Gottes, ehe ihr wahres Wesen erkannt wurde.

 

Also, sagte Villefort, der, immer mehr erstaunt, mit einem Erleuchteten oder mit einem Narren zu sprechen glaubte, also betrachten Sie sich als eines von den außerordentlichen Wesen, von denen Sie soeben sprachen?

 

Warum nicht? entgegnete kalt Monte Christo.

 

Entschuldigen Sie, versetzte Villefort fast bestürzt, wenn ich nicht wußte, daß ich zu einem Manne kam, dessen Kenntnisse und geistige Fähigkeiten so weit das Gewöhnliche überragen. Bei uns, den unglücklichen verderbten Erzeugnissen der Zivilisation, ist es nicht gebräuchlich, daß Edelleute, wie Sie, die im Besitze eines unermeßlichen Vermögens sind oder wenigstens scheinen, ihre Zeit mit gesellschaftlichen Spekulationen, mit philosophischen Träumen verlieren, die höchstens geeignet sind, die Menschen zu trösten, die das Schicksal von den Gütern der Erde enterbt hat!

 

Ei! ei! versetzte der Graf, sind Sie denn zu Ihrer hohen Stellung gelangt, ohne Ausnahmen zuzulassen oder angetroffen zu haben? Üben Sie nie Ihren Blick, der doch der Schärfe und Sicherheit so sehr bedürfte, um mit einem Schlage den zu erkennen, auf den eben dieser Blick gefallen ist? Sollte nicht ein öffentlicher Beamter, der beste Anwender des Gesetzes, der schlaueste Ausleger seiner Dunkelheiten, eine stählerne Sonde zur Prüfung der Herzen sein, ein Probierstein zur Untersuchung des Goldes, das sich in jeder Seele mit mehr oder weniger Legierung findet?

 

Mein Herr, Sie setzen mich ganz in Verwirrung; bei meinem Worte, ich habe nie jemand sprechen hören, wie Sie.

 

Dies ist der Fall, weil Sie stets in den Kreis der gewöhnlichen Bedingungen gebannt geblieben sind und es nie wagten, sich mit einem Flügelschlage in die höheren Sphären zu erheben, die Gott mit unsichtbaren und ausnahmsweisen Wesen bevölkert hat.

 

Ah! rief Villefort lächelnd, ich gestehe, ich möchte es gern wissen, wenn ein solches Wesen mit mir in Berührung kommt.

 

Ihr Wunsch ist erfüllt; Sie haben soeben davon Kenntnis erhalten, und ich wiederhole es.

 

Also Sie selbst? …

 

Ich bin eines von diesen Ausnahmewesen … ja, mein Herr, und ich glaube, daß sich bis auf den heutigen Tag noch kein Mensch in einer Stellung befunden hat, die der meinigen ähnlich gewesen wäre. Die Reiche der Könige sind begrenzt, entweder durch Gebirge, oder durch Flüsse, durch die Schranken der Sitte oder Sprache. Mein Reich ist groß wie die Welt, denn ich bin weder Italiener, noch Franzose, noch Hindu, noch Amerikaner, noch Spanier: ich bin Kosmopolit. Kein Land kann sagen, ich gehöre ihm durch die Geburt an. Gott allein weiß, in welchem Lande ich sterben werde. Ich befolge alle Gebräuche, rede alle Sprachen. Nicht wahr, Sie halten mich für einen Franzosen? Denn ich spreche Französisch mit derselben Leichtigkeit und derselben Reinheit, wie Sie. Wohl! Ali, mein Nubier, hält mich für einen Araber; Bertuccio, mein Intendant, für einen Römer und Haydee, meine Sklavin, für einen Griechen. Sie sehen also, da ich keinem Lande angehöre, von keiner Regierung Schutz verlange, keinen Menschen als meinen Bruder anerkenne, so vermag auch keine von den Bedenklichkeiten, welche die Mächtigen zurückhalten, oder keines von den Hindernissen, welche die Schwachen lähmen, mich zu lähmen oder zurückzuhalten. Ich habe nur drei Gegner, ich sage nicht Besieger, denn durch Beharrlichkeit unterwerfe ich sie: zwei sind die Entfernung und die Zeit. Der dritte und furchtbarste ist mein Zustand als sterblicher Mensch. Dieser allein kann mich auf dem Wege, auf dem ich fortschreite, und ehe ich das Ziel erreicht habe, nach dem ich strebe, aufhalten; alles übrige habe ich berechnet. Alles, was die Menschen die Wechselfälle des Schicksals nennen, habe ich vorhergesehen, und vermag mich auch einer zu treffen, so kann er mich doch nicht niederwerfen. Sterbe ich nicht, so werde ich immer das sein, was ich bin; deshalb sage ich Ihnen Dinge, die Sie nie gehört haben, selbst nicht einmal aus dem Munde der Könige, denn die Könige bedürfen Ihrer, und die andern Menschen haben Furcht vor Ihnen. Wer sagt sich nicht in einer Gesellschaft, die so lächerlich organisiert ist, wie die unsere: Vielleicht werde ich eines Tages mit dem Staatsanwalt zu tun haben!

 

Aber können Sie dies nicht selbst sagen? Denn sobald Sie in Frankreich wohnen, sind Sie natürlich den französischen Gesetzen unterworfen.

 

Ich weiß es wohl, erwiderte Monte Christo, doch wenn ich in ein Land gehen muß, fange ich damit an, daß ich durch Mittel, die nur ich besitze, alle Menschen prüfe, von denen ich etwas zu fürchten oder zu hoffen habe, und es gelingt mir, sie ebensogut oder vielleicht noch besser zu kennen, als sie sich selbst kennen. Infolgedessen ist jeder Staatsanwalt mehr in Verlegenheit als ich.

 

Damit wollen Sie sagen, versetzte Villefort zögernd, daß bei der Schwäche der menschlichen Natur jeder Mensch, Ihrer Ansicht nach, … Fehler begangen hat?

 

Fehler oder Verbrechen, sagte Monte Christo gleichgültig.

 

Und daß Sie allein unter den Menschen, die Sie, wie Sie selbst sagten, nicht als Ihre Brüder anerkennen, versetzte Villefort mit leicht bebender Stimme, … und daß Sie allein vollkommen sind?

 

Nein, nicht vollkommen, sondern nur undurchdringlich. Doch genug davon, mein Herr, wenn Ihnen das Gespräch mißfällt. Ich bin dann ebensowenig durch Ihre Justiz bedroht, wie Sie durch mein doppeltes Gesicht.

 

Nein! nein! mein Herr, entgegnete rasch Herr von Villefort, der ohne Zweifel befürchtete, es könnte scheinen, als wollte er das Terrain aufgeben. Durch Ihr glänzendes und erleuchtendes Gespräch haben Sie mich über den gewöhnlichen Standpunkt erhoben; wir unterhalten uns nicht mehr, wir philosophieren. Sie wissen ja, welche grausamen Wahrheiten sich oft die Theologen in der Sorbonne oder die Philosophen bei ihren Disputationen sagen; nehmen wir an, wir disputieren über soziale Theologie oder theologische Philosophie, so bemerke ich Ihnen ganz einfach: Mein Bruder, du frönst dem Stolze, du stehst über andern, aber Gott steht über dir.

 

Über allen, erwiderte Monte Christo mit so tiefer Bewegung, daß Villefort unwillkürlich schauderte. Ich habe meinen Stolz für die Menschen, für diese Schlangen, die stets bereit sind, sich gegen den zu erheben, der sie mit der Stirn überragt, ohne sie mit dem Fuße zu zertreten. Doch vor Gott, der mich aus dem Nichts hervorgezogen hat, um mich zu dem zu machen, was ich bin, lege ich diesen Stolz ab.

 

Dann bewundere ich Sie, Herr Graf, sagte Villefort, der sich zum ersten Mal bei dieser seltsamen Unterredung dieser aristokratischen Anrede dem Fremden gegenüber bediente. Ja, ich sage Ihnen, wenn Sie wirklich stark, wirklich erhaben, wirklich heilig oder undurchdringlich sind, so seien Sie stolz darauf … aber Sie haben doch irgend einen Ehrgeiz?

 

Ich hatte einen. Auch ich bin, wie dies allen Menschen einmal im Leben begegnet, vom Satan auf den höchsten Berg der Erde geführt worden; hier zeigte er mir die ganze Welt und sagte zu mir, wie er einst zu Christus gesagt hatte: Sprich, Menschenkind, was willst du, wenn du mich anbetest? Ich sann lange nach, denn seit geraumer Zeit zehrte wirklich ein furchtbarer Ehrgeiz an meinem Herzen; dann antwortete ich ihm: Ich habe stets von der Vorsehung sprechen hören, und dennoch habe ich sie nie erschaut, noch irgend etwas, was ihr gleicht, und das bringt mich auf den Glauben, sie bestehe gar nicht. Ich will selbst die Vorsehung sein, denn das Schönste, das Größte, das Erhabenste, was ich kenne, ist zu belohnen und zu bestrafen. Aber Satan neigte das Haupt, stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Du irrst dich, die Vorsehung besteht; nur siehst du sie nicht, weil sie, eine Tochter Gottes, unsichtbar ist, wie ihr Vater. Du hast nichts gesehen, was ihr gleicht, weil sie mit verborgenen Federn wirkt und auf dunkeln, unbekannten Wegen wandelt. Alles, was ich für dich tun kann, besteht darin, daß ich dich zu einem der Werkzeuge der Vorsehung mache. Der Handel wurde abgeschlossen, ich verliere dabei vielleicht meine Seele; doch gleichviel, er reut mich nicht.

 

Villefort schaute Monte Christo mit dem höchsten Erstaunen an und fragte: Haben Sie Verwandte, Herr Graf?

 

Nein, ich bin allein auf der Welt.

 

Schade, Sie hätten ein Schauspiel sehen können, das Ihren Stolz wohl gebrochen hätte. Sie sagen, Sie fürchten nur den Tod?

 

Ich sage nicht, daß ich ihn fürchte, ich sage nur, er könne mich aufhalten.

 

Und das Alter?

 

Meine Sendung wird vollendet sein, ehe ich alt bin.

 

Und der Wahnsinn?

 

Ich bin beinahe wahnsinnig geworden, und Sie kennen den Satz non bis in eodem (nie zweimal das gleiche); es ist ein strafrechtlicher Grundsatz und gehört folglich in Ihr Reich.

 

Mein Herr, versetzte Villefort, es gibt noch etwas anderes zu fürchten als den Tod, das Alter oder den Wahnsinn; zum Beispiel den Schlagfluß, diesen Wetterstrahl, der Sie trifft, ohne Sie zu zerstören, und der doch alles wertlos macht. Wenn Sie einmal Lust haben, dieses Gespräch in meinem Hause fortzusetzen, mit einem Gegner, der fähig ist, Sie zu begreifen, und begierig, Sie zu widerlegen, so zeige ich Ihnen meinen Vater, Herrn Noirtier von Villefort, einen der heftigsten Jakobiner der französischen Revolution, einen Mann, der zwar nicht, wie Sie, alle Reiche der Erde gesehen, aber zum Umsturz eines der mächtigsten beigetragen hat. Nun, mein Herr, das Zerspringen eines Blutgefäßes in einem Gehirnlappen hat dies alles zerstört, und zwar in einer Sekunde. Herr Noirtier, der mit Revolutionen spielte, der Frankreich nur noch als ein großes Schachbrett betrachtete, von dem Bauern, Türme, Ritter und Königin verschwinden mußten, weil der König matt war; der furchtbare und gefürchtete Herr Noirtier war am andern Tage nur ein armer, schwacher Greis, dem Willen des schwächsten Wesens im ganzen Hause, seiner Enkelin Valentine, unterworfen.

 

Ah! dieses Schauspiel ist weder meinen Augen, noch meinem Geiste fremd, entgegnete Monte Christo, ich bin ein wenig Arzt und habe, wie meine Kollegen, wiederholt die Seele in der lebendigen oder in der toten Materie gesucht, und sie ist, wie die Vorsehung, obgleich meinem Herzen gegenwärtig, doch für meine Augen unsichtbar geblieben. Hundert Schriftsteller haben seit Sokrates, seit Seneca, seit dem heiligen Augustin, seit Gall den Vergleich gemacht, den Sie machen, aber dennoch begreife ich, daß die Leiden eines Vaters den Geist eines Sohnes stark beeinflussen können. Da Sie mich dazu auffordern, so werde ich zur Förderung meiner Demut dieses furchtbare Schauspiel betrachten, das Trauer in Ihr Haus bringen muß.

 

Es wäre dies ohne Zweifel der Fall, hätte mich Gott nicht reich entschädigt. Während der Greis sich mühsam zum Grabe schleppt, treten zwei blühende Kinder frisch ins Leben: Valentine, eine Tochter aus meiner ersten Ehe mit Fräulein Renée von Saint-Meran, und Eduard, der Sohn, dem Sie das Leben gerettet haben.

 

Und was schließen Sie daraus?

 

Ich schließe daraus, daß mein Vater, von Leidenschaften irregeführt, eines von jenen Versehen begangen hat, die der menschlichen Gerechtigkeit entgehen, aber von der Gerechtigkeit Gottes gesühnt werden … und daß Gott, der nur eine Person treffen wollte, auch nur eine geschlagen hat.

 

Monte Christo konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

 

Leben Sie wohl, mein Herr, sagte Villefort, der schon seit einiger Zeit aufgestanden war; indem ich Sie verlasse, trage ich ein Gefühl der Hochachtung mit mir fort, das Ihnen hoffentlich angenehm sein wird, wenn Sie mich näher kennen, denn ich bin nichts weniger als ein Mensch vom Alltagsschlage. Überdies haben Sie sich meine Frau zur ewigen Freundin gemacht.

 

Der Graf verbeugte sich und begleitete Herrn von Villefort nur bis an die Tür seines Kabinetts; der Staatsanwalt kehrte zu seinem Wagen zurück, wobei zwei Lakaien vorauseilten, die ihm auf den Wink ihres Herrn den Schlag öffneten.

 

Als Villefort verschwunden war, sagte Monte Christo, einen schweren Seufzer aus seiner gepreßten Brust ausstoßend: Genug des Giftes, und nun, da mein Herz voll davon ist, wollen wir das Gegengift suchen!

 

Und er schlug einmal auf das Glöckchen und sagte zu dem eintretenden Ali: Ich gehe zur gnädigen Frau hinauf; in einer halben Stunde muß der Wagen bereit sein.

 

Steigen und Fallen.

 

Steigen und Fallen.

 

Einige Tage nach diesem Zusammentreffen machte Albert von Morcerf dem Grafen von Monte Christo einen Besuch in seinem Hause in den Champs-Elyées, das bereits das Aussehen eines Palastes gewonnen hatte. Er gab aufs neue dem Dank der Frau Danglars Ausdruck, den sie dem Grafen schon vorher in einem Brief mit der Unterschrift Baronin Danglars, geborene Hermine von Servieux, abgestattet hatte.

 

In Alberts Begleitung war Lucien Debray, der den Worten seines Freundes einige Komplimente hinzufügte, über deren Quelle jedoch der Graf bei seinem Scharfblicke sich nicht täuschen ließ. Er konnte in der Tat, ohne einen Irrtum befürchten zu müssen, voraussetzen, daß Frau Danglars, da sie sich außer stande fühlte, mit eigenen Augen in die Geheimnisse eines Mannes zu dringen, der Pferde für dreißigtausend Franken verschenkte und in die Oper mit einer Sklavin ging, die für eine Million Diamanten trug, Debray beauftragt hatte, ihr so viel wie möglich Auskunft zu verschaffen.

 

Aber der Graf gab sich den Anschein, als vermute er nicht im geringsten einen Zusammenhang zwischen Luciens Besuche und der Neugierde der Baronin. Sie stehen in fast ununterbrochenem Verkehr mit dem Baron Danglars? fragte er Albert von Morcerf.

 

Ja, Herr Graf, Sie wissen, was ich Ihnen gesagt habe.

 

Der Plan besteht also noch immer?

 

Mehr als je, es ist eine abgemachte Sache, sagte Lucien.

 

Und indem er meinte, mit diesem einen ins Gespräch geworfenen Wort habe er sich das Recht erkauft, sich nun schweigend zu verhalten, klemmte Lucien sein Lorgnon ins Auge, biß auf den goldenen Knopf seines Stöckchens und schritt, mit aller Aufmerksamkeit die Waffen und Gemälde betrachtend, im Zimmer umher.

 

Ah! rief Monte Christo, nach Ihren Worten hätte ich nicht an eine so schnelle Lösung geglaubt.

 

Was wollen Sie? Die Dinge entwickeln sich, ohne daß man’s merkt. Wenn wir auch nicht an sie denken, denken sie an uns, und wenn wir uns umdrehen, sind wir erstaunt darüber, wie sie vorgeschritten sind. Mein Vater und Herr Danglars haben miteinander in Spanien gedient, mein Vater bei der eigentlichen Armee, Herr Danglars beim Train. Mein Vater, den die Revolution zu Grunde gerichtet hatte, und Herr Danglars, der von Haus aus vermögenslos war, legten dort den Grund, mein Vater zu seinem großen politischen und militärischen Glück, Herr Danglars zu seinem bewunderungswürdigen politischen und finanziellen Glück.

 

Ja, in der Tat, erwiderte Monte Christo, ich glaube, Herr Danglars erzählte mir davon während des Besuches, den ich ihm machte; und, sagte er, einen Seitenblick auf Lucien werfend, der in einem Album blätterte, und ist Fräulein Eugenie hübsch?

 

Sehr hübsch; aber von einer Schönheit, die ich nicht zu schätzen weiß, ich Unwürdiger.

 

Sie sprechen, als ob Sie bereits ihr Gatte wären.

 

Oh! rief Albert, und sah sich dabei ebenfalls nach seinem Freunde um.

 

Wissen Sie, sagte Monte Christo, die Stimme dämpfend, wissen Sie, daß Sie mir nicht eben sehr begeistert für diese Heirat zu sein scheinen.

 

Fräulein Danglars ist zu reich für mich, und das erschreckt mich, erwiderte Morcerf.

 

Bah! versetzte Monte Christo, ein schöner Grund; sind Sie nicht selbst reich?

 

Mein Vater hat etwa fünfzigtausend Franken Rente und wird mir vielleicht zehn bis zwölf bei meiner Verheiratung geben.

 

Das sieht allerdings bescheiden aus, besonders in Paris, sagte der Graf; aber das Vermögen ist nicht alles auf dieser Welt, ein schöner Name und eine hohe gesellschaftliche Stellung haben auch ihren Wert. Ihr Name ist berühmt. Ihre Stellung glänzend, der Graf von Morcerf ist ein Soldat, und man sieht gern die Unantastbarkeit eines Ritters ohne Furcht und Tadel mit der Armut eines Kreuzritters vereinigt. Die Uneigennützigkeit ist der schönste Sonnenstrahl, in dem ein edler Degen erglänzen kann. Ich finde im Gegenteil diese Verbindung im höchsten Grade passend; Fräulein Danglars bereichert Sie, und Sie adeln das Fräulein!

 

Albert schüttelte den Kopf und blieb nachdenklich. Es ist dabei noch etwas anderes, sagte er.

 

Ich gestehe, daß ich diesen Widerwillen gegen ein junges, reiches und schönes Mädchen nicht begreifen kann, sagte der Graf.

 

Oh, mein Gott! rief Morcerf, dieser Widerwille, wenn wirklich ein Widerwille stattfindet, kommt nicht ganz von meiner Seite.

 

Von welcher Seite denn? Sagten Sie mir nicht, Ihr Vater wünschte diese Heirat?

 

Er kommt von meiner Mutter, und meine Mutter hat ein sicheres Auge. Sie lächelt nicht zu dieser Verbindung, sie hat ein Vorurteil gegen die Danglars.

 

Oh! das läßt sich begreifen, sagte der Graf mit etwas gezwungenem Tone; die Frau Gräfin von Morcerf, welche die Vornehmheit, der Adel, die Feinheit in der Person ist, scheut sich, eine gemeinbürgerliche, plumpe, rohe Hand zu berühren, und das ist natürlich.

 

Ich weiß nicht, ob dies der Fall ist, entgegnete Albert, weiß jedoch, daß diese Heirat, wenn sie wirklich stattfindet, meine Mutter unglücklich machen wird. Schon vor sechs Wochen sollte eine Familienversammlung zur Besprechung des Heiratsvertrages stattfinden, aber meine Mutter wurde dergestalt von der Migräne befallen, ohne Zweifel infolge ihrer Abneigung dagegen, daß man die Zusammenkunft auf zwei Monate verschob. Sie begreifen, es eilt nicht, ich bin noch nicht einundzwanzig Jahre alt und Eugenie erst siebzehn; doch die zwei Monate sind in der nächsten Woche abgelaufen, und man muß sich am Ende entscheiden. Sie können sich nicht vorstellen, mein lieber Graf, in welcher Verlegenheit ich mich befinde … Ah! wie glücklich sind Sie doch, Sie freier Mann!

 

Nun so seien Sie auch frei, wer hindert Sie daran?

 

Oh, es würde meinem Vater einen so großen Verdruß bereiten, wenn ich Fräulein Danglars nicht heiratete.

 

So heiraten Sie das Fräulein, sagte der Graf mit einer seltsamen Bewegung der Achsel.

 

Ja, aber meiner Mutter würde diese Verbindung nicht Verdruß, sondern Schmerz bereiten.

 

Dann heiraten Sie das Fräulein nicht, sagte der Graf.

 

Ich werde es versuchen; nicht wahr, Sie geben mir Ihren Rat, und wenn es Ihnen möglich ist, entziehen Sie mich dieser Verlegenheit? Oh! um meiner vortrefflichen Mutter keinen Kummer zu bereiten, würde ich es, glaube ich, sogar auf einen Konflikt mit meinem Vater ankommen lassen.

 

Monte Christo wandte sich ab, er schien bewegt.

 

Ei! sagte er zu Debray, der auf einem weichen Polsterstuhl am Ende des Salons saß und in der rechten Hand einen Bleistift, in der linken ein Notizbuch hielt, ei! was machen Sie denn? Eine Skizze nach Poussin?

 

Ich? Nein, ich mache ganz das Gegenteil davon, ich mache Zahlen und zwar solche, die Sie unmittelbar angehen, Vicomte. Ich berechne, was das Haus Danglars bei dem letzten Steigen der Hayti-Papiere gewinnen mußte; von 206 stiegen sie in drei Tagen auf 499, und der kluge Bankier hatte viel um 206 gekauft. Er muß 300 000 Franken gewonnen haben.

 

Das ist noch nicht sein bester Treffer, sagte Morcerf; hat er nicht in diesem Jahre eine Million mit spanischen Bons gewonnen?

 

Sie sprechen von Hayti? fragte Monte Christo.

 

Oh! Hayti, das ist das Wunderland der französischen Börsenspieler. So hat Herr Danglars gestern zu 409 verkauft und steckt 300 000 Franken ein, hätte er bis heute gewartet, so würde er, da die Papiere wieder auf 205 gesunken sind, statt 300 000 Franken zu gewinnen, 25 000 Franken verloren haben.

 

Und warum sind diese Papiere von 409 auf 205 gefallen? fragte Monte Christo. Entschuldigen Sie, ich verstehe von allen diesen Börsengeschäften nicht das geringste.

 

Weil die Nachrichten sich folgen, aber nicht sich gleichen, antwortete Albert lachend.

 

Ah Teufel! rief der Graf, Herr Danglars spielt also so hoch, daß er an einem Tage 300 000 Franken gewinnen oder verlieren kann! Da muß er ja ungeheuer reich sein?

 

Er selbst spielt gar nicht, rief Lucien lebhaft, Frau Danglars tut es; sie riskiert wahrhaftig alles.

 

Aber Sie, der Sie ein vernünftiger Mann sind, Lucien, Sie, der Sie wissen, wie unzuverlässig die Nachrichten sind, der Sie an der Quelle sitzen, Sie sollten sie davon abhalten, sagte Morcerf lächelnd.

 

Wie vermöchte ich dies, da es ihrem Manne nicht gelingt? fragte Lucien. Sie kennen den Charakter der Baronin; niemand hat Einfluß auf sie, und sie tut durchaus nur, was sie will.

 

Oh! wenn ich an Ihrer Stelle wäre, sagte Albert, ich wollte sie heilen; das hieße ihrem künftigen Schwiegersohne einen Dienst leisten.

 

Wieso?

 

Ah, bei Gott! das ist sehr einfach. Ich würde ihr eine Lektion geben. Ihre Stellung als Sekretär des Ministers verleiht Ihren Äußerungen großes Gewicht; Sie dürfen nur den Mund öffnen, und die Wechselagenten stenographieren so schnell als möglich Ihre Worte. Lassen Sie nun die Baronin hunderttausend Franken Schlag auf Schlag verlieren, und sie wird klug werden.

 

Ich begreife nicht, stammelte Lucien.

 

Es ist doch ganz klar, erwiderte der junge Mann mit durchaus echter Naivität. Teilen Sie ihr an einem schönen Morgen irgend etwas Unerhörtes mit, eine telegraphische Nachricht, die nur Sie allein wissen können, zum Beispiel: Heinrich IV. sei gestern bei Gabrielle gesehen worden; das läßt die Fonds steigen, sie richtet ihren Börsenhandel danach ein und verliert sicherlich, wenn Beauchamp den andern Tag in seiner Zeitung schreibt: Mit Unrecht behaupten wohlunterrichtete Leute, König Heinrich IV. sei gestern bei Gabrielle gesehen worden; dies ist völlig unrichtig; König Heinrich IV. hat den Pont-Neuf nicht verlassen.

 

Lucien spitzte den Mund zu einem Lächeln. Obgleich scheinbar gleichgültig, hatte Monte Christo doch kein Wort von dieser Unterhaltung verloren, und sein durchdringendes Auge hatte sogar hinter der Verlegenheit des Sekretärs ein Geheimnis zu entdecken geglaubt.

 

Es war eine Folge dieser Verlegenheit, von der Albert nicht das geringste wahrnahm, daß Lucien seinen Besuch abkürzte; er fühlte sich offenbar unbehaglich. Der Graf sagte ihm, während er ihn bis zur Tür geleitete, mit leiser Stimme ein paar Worte, worauf er erwiderte: Sehr gern, Herr Graf, ich nehme es an.

 

Der Graf kehrte zu Albert von Morcerf zurück und sagte:

 

Denken Sie nicht, wenn Sie sich die Sache überlegen, daß Sie unrecht gehabt haben, so über Ihre Schwiegermutter in Gegenwart des Herrn Debray zu reden?

 

Ich bitte, Graf, versetzte Morcerf, sagen Sie dieses Wort nicht mehr.

 

Wahrhaftig und ohne Übertreibung, ist die Gräfin in diesem Grade gegen die Heirat eingenommen?

 

Dergestalt, daß die Baronin nur selten in unser Haus kommt, und daß meine Mutter, glaube ich, nicht zweimal in ihrem ganzen Leben bei Fran Danglars gewesen ist.

 

Das ermutigt mich, offenherzig mit Ihnen zu sprechen, sagte der Graf. Herr Danglars ist mein Bankier, Herr von Villefort hat mich mit Höflichkeiten überhäuft, indem er mir seinen Dank für einen Dienst aussprach, den ich ihm zufällig zu leisten imstande war. Ich mache mich nach alledem auf eine Lawine von Einladungen zu Mittagessen und Abendunterhaltungen gefaßt. Um aber den Anschein prunkhafter Vorbereitung zu vermeiden, und wenn Sie wollen, um mir das Verdienst der Zuvorkommenheit zu wahren, gedenke ich, Herrn und Frau, sowie Fräulein Danglars und Herrn und Frau von Villefort in mein Landhaus in Auteuil zu bitten. Wenn ich nun Sie, sowie den Herrn Grafen und die Frau Gräfin von Morcerf, ebenfalls zu diesem Mittagessen einlade, wird es da nicht aussehen, wie wenn ich Sie beide absichtlich zusammenbringen wollte, oder wird nicht wenigstens die Frau Gräfin von Morcerf die Sache so betrachten, besonders wenn der Herr Baron von Danglars mir die Ehre erweist, seine Tochter mitzubringen? Dann wird Ihre Mutter eine Abneigung gegen mich fassen, und das möchte ich durchaus nicht, denn es ist mir alles daran gelegen, sagen Sie ihr dies, so oft sich Gelegenheit dazu bietet, in gutem Andenken bei ihr zu stehen.

 

Herr Graf, ich danke Ihnen, daß Sie mit so viel Offenherzigkeit mit mir sprechen, und ich bleibe gern dem Mahle fern, wie Sie es mir scheinen vorschlagen zu wollen. Sie sagen, es sei Ihnen daran gelegen, in gutem Andenken bei meiner Mutter zu bleiben; Sie stehen bereits in voller Wertschätzung bei ihr.

 

Sie glauben? sagte Monte Christo mit Teilnahme.

 

Oh! ich bin dessen gewiß. Als Sie uns neulich verließen, plauderten wir noch eine ganze Stunde von Ihnen. Doch ich komme auf das zurück, worüber wir soeben sprachen. Wenn meine Mutter von dieser Aufmerksamkeit Ihrerseits erführe, und ich es wagte, sie ihr mitzuteilen, ich bin überzeugt, sie wüßte Ihnen den innigsten Dank dafür; mein Vater würde allerdings in nicht geringe Wut geraten.

 

Der Graf erwiderte lachend: Sie sind nun in Kenntnis gesetzt. Doch ich denke, Ihr Vater wird keinen Anlaß haben, wütend zu werden; Herr und Frau Danglars werden mich für einen Menschen von sehr schlechter Lebensart halten. Sie wissen, daß ich mit Ihnen vertraut verkehre, daß Sie sogar mein ältester Pariser Bekannter sind und werden mich, wenn sie Sie nicht bei mir finden, fragen, warum ich Sie nicht eingeladen habe. Suchen Sie es wenigstens so einzurichten, daß Sie vorher schon eine wertvolle Einladung annehmen, und teilen mir dies schriftlich mit. Sie wissen, bei den Bankiers gilt nur das Geschriebene.

 

Ich gedenke, etwas Besseres zu tun, Herr Graf, erwiderte Albert; meine Mutter wünscht wieder einmal Seeluft zu atmen. Auf welchen Tag ist Ihr Mittagessen bestimmt?

 

Auf Sonnabend.

 

Wir haben heute Dienstag, morgen abend reisen wir ab, übermorgen früh sind wir in Treport. Sie sind ein bezaubernder Mann, Herr Graf, daß Sie den Leuten die Dinge so nach ihrer Bequemlichkeit und zu ihrer Zufriedenheit einrichten.

 

Sie überschätzen mein Verdienst weit; ich wünsche Ihnen nur angenehm zu sein.

 

Auf welchen Tag wollen Sie einladen?

 

Heute.

 

Gut! ich gehe zu Herrn Danglars und kündige ihm an, daß ich morgen mit meiner Mutter Paris verlasse und nicht Ihr Gast sein könne.

 

Recht; die Sache ist abgemacht.

 

Hätten Sie nicht Lust, Herr Graf, heute mit uns zu Mittag zu speisen? Wir sind nur in kleiner ausgewählter Gesellschaft, Sie, meine Mutter und ich. Sie haben meine Mutter kaum bemerkt; doch Sie werden sie in der Nähe sehen. Es ist eine merkwürdige Frau, und ich bedaure nur, daß nicht ihresgleichen im Alter von zwanzig Jahren lebt; dann würde es bald eine Gräfin und eine Vicomtesse von Morcerf geben. Meinen Vater finden Sie nicht, er hat Kommissionssitzung und speist beim Großreferendar. Kommen Sie, wir plaudern von Reisen! Sie, der Sie die ganze Welt gesehen haben, erzählen uns von Ihren Abenteuern; Sie teilen uns die Geschichte der schönen Griechin mit, die kürzlich mit Ihnen in der Oper war und von Ihnen Ihre Sklavin genannt wird, während Sie sie wie eine Prinzessin behandeln. Wir sprechen Italienisch und Spanisch! Kommen Sie, meine Mutter wird Ihnen dankbar sein.

 

Tausend Dank, erwiderte der Graf, Ihre Einladung ist äußerst liebenswürdig, und ich bedaure lebhaft, daß ich sie nicht annehmen kann. Ich bin nicht frei, wie Sie wähnten, sondern ich habe im Gegenteil ein höchst wichtiges Zusammentreffen.

 

Ah! nehmen Sie sich in acht, Sie haben mich soeben gelehrt, wie man sich klüglich einer unerwünschten Einladung zum Mittagessen entziehen kann. Ich bedarf eines Beweises. Glücklicherweise bin ich nicht Bankier wie Herr Danglars, wohl aber ebenso neugierig wie er.

 

Ich werde Ihnen auch den Beweis geben, erwiderte der Graf und läutete.

 

Baptistin trat ein und blieb wartend an der Tür stehen.

 

Baptistin, was sagte ich Ihnen, als ich Sie heute morgen in mein Arbeitszimmer rief?

 

Sie befahlen mir, die Tür des Herrn Grafen schließen zu lassen, sobald es fünf Uhr geschlagen hätte, antwortete der Diener. Hernach hießen Sie mich nur den Herrn Major Bartolomeo Cavalcanti empfangen.

 

Sie hören, den Herrn Major Bartolomeo Cavalcanti, einen Mann vom ältesten Adel Italiens, dessen Namen Dante zu verherrlichen bemüht war; ferner seinen Sohn, einen reizenden jungen Mann, ungefähr von Ihrem Alter, Vicomte, der denselben Titel führt wie Sie und in die Pariser Welt mit den Millionen seines Vaters eintritt. Der Major bringt mir heute abend seinen Sohn Andrea, den Contino, wie wir in Italien sagen. Er will ihn mir anvertrauen, und ich werde sein Glück zu fördern suchen, wenn er einiges Verdienst besitzt. Nicht wahr, Sie helfen mir?

 

Ganz gewiß! Dieser Major Cavalcanti ist wohl ein alter Freund von Ihnen? fragte Albert.

 

Keineswegs, er ist ein würdiger, sehr höflicher, sehr bescheidener, sehr diskreter Herr, wie es in Italien eine Menge gibt. Ich habe ihn wiederholt in Florenz, in Bologna, in Lucca gesehen, und er teilte mir seine Ankunft mit. Die Reisebekanntschaften sind anspruchsvoll; sie verlangen überall von uns die Freundschaft, die wir ihnen zufällig einmal erzeigt haben. Dieser gute Major Cavalcanti besucht Paris wieder, das er nur einmal im Vorübergehen unter der Kaiserherrschaft gesehen hat. Ich gebe ihm ein gutes Diner, er läßt mir seinen Sohn hier, ich verspreche, ihn zu überwachen, lasse ihn alle Torheiten begehen, und wir sind quitt.

 

Vortrefflich! rief Albert, ich sehe, Sie sind ein kostbarer Mentor. Gott befohlen, bis Sonntag sind wir zurück. Doch ich habe Nachricht von Franz erhalten.

 

Ah! wirklich? Gefällt es ihm immer noch in Italien.

 

Ich denke ja; er bedauert indessen, daß Sie nicht mehr dort sind, denn er sagt, Sie seien die Sonne von Rom, und ohne Sie herrsche dort trübes Wetter.

 

Er ist also von seiner Ansicht über mich zurückgekommen?

 

Im Gegenteil, er beharrt daraus, Sie für höchst phantastisch zu halten; darum bedauert er Ihre Abwesenheit.

 

Ein liebenswürdiger junger Mann, versetzte Monte Christo; ich fühlte für ihn schon eine lebhafte Sympathie am ersten Abend, als ich ihn auf der Insel Monte Christo nach irgend einem Abendessen Ausschau halten sah und ihm Gastfreundschaft erweisen durfte. Er ist, glaube ich, ein Sohn des Generals d’Epinay, der im Jahre 1815 auf eine so erbärmliche Weise von den Bonapartisten ermordet wurde?

 

Ganz richtig.

 

Liegt für ihn nicht auch ein Heiratsplan vor?

 

Ja, er soll sich mit Fräulein von Villefort vermählen, wie ich Fräulein Danglars heiraten soll, erwiderte Albert lachend.

 

Sie lachen?

 

Ich lache, weil es mir vorkommt, als besitze er ebensoviel Sympathie für die Heirat, wie ich für eine Verbindung zwischen mir und Fräulein Danglars. Aber wahrhaftig, lieber Graf, wir plaudern von Frauen, wie die Frauen von Männern plaudern. Das ist unverzeihlich! Albert stand auf.

 

Sie gehen?

 

Die Frage ist gut! Seit zwei Stunden quäle ich Sie, und Sie haben die Höflichkeit, mich zu fragen, ob ich gehe! In der Tat, Graf, Sie sind der artigste Mann der Erde! Und Ihre Bedienten, wie sind sie dressiert, besonders Herr Baptistin! Ich konnte nie einen solchen Menschen bekommen.

 

Er wandte sich zum Gehen und rief: Welchen Dienst würden Sie mir leisten, und wie wollte ich Sie noch hundertmal mehr lieben, wenn ich mit Ihrer Hilfe Junggeselle bliebe, und wäre es nur noch zehn Jahre lang!

 

Alles ist möglich, erwiderte Monte Christo mit ernstem Tone. Er verabschiedete sich von Albert und trat in sein Arbeitszimmer, wo er Bertuccio fand.

 

Herr Bertuccio, sagte der Graf, wissen Sie, daß ich am Sonnabend in meinem Hause in Auteuil eine Gesellschaft gebe?

 

Bertuccio erwiderte leicht schaudernd: Gut, gnädiger Herr.

 

Ich bedarf Ihrer, fuhr der Graf fort, damit alles aufs beste vorbereitet wird. Das Haus ist sehr schön oder kann wenigstens sehr schön sein.

 

Man müßte zu diesem Zwecke alles verändern, Herr Graf, denn die Tapeten sehen recht alt aus.

 

Verändern Sie alles, mit Ausnahme des roten Schlafzimmers, dies lassen Sie ganz, wie es ist! Den Garten lassen Sie ebenfalls unberührt, aber aus dem Hofe, zum Beispiel, machen Sie alles, was Sie wollen! Es wird mir sogar angenehm sein, wenn man ihn nicht wiedererkennen kann.

 

Ich werde tun, was in meinen Kräften liegt, um den Herrn Grafen zufrieden zu stellen.

 

Der Major Cavalcanti

 

Der Major Cavalcanti

 

Es schlug sieben Uhr, und Bertuccio war seit zwei Stunden nach Auteuil abgereist, als ein Fiaker vor der Tür des Hotels hielt und an dem Gitter einen Mann von etwa zweiundfünfzig Jahren absetzte, der einen von jenen Röcken mit schwarzen Borten trug, deren Geschlecht in Europa unvergänglich zu sein scheint. Eine weite Hose, ziemlich reinliche Stiefel, hirschlederne Handschuhe, eine schwarze Halsbinde mit einem schmalen weißen Streifen, die man, wenn sie ihr Eigentümer nicht freiwillig getragen haben würde, für ein Halseisen hätte halten können, das war die malerische Tracht, in welcher der Mensch erschien, der an dem Gitter läutete, hier fragte, ob nicht in Nr. 30 der Avenue der Champs-Elysees der Graf von Monte Christo wohne, und auf die bejahende Antwort des Portiers eintrat.

 

Der kleine, eckige Kopf dieses Menschen, seine weißlichen Haare und sein dicker, grauer Schnurrbart machten ihn für Baptistin erkenntlich, denn dieser besaß das genaue Signalement des Gastes und erwartete ihn im untern Hausflur. Kaum hatte er seinen Namen vor dem Diener ausgesprochen, als Monte Christo von seiner Ankunft benachrichtigt wurde.

 

Man führte den Fremden in den einfachsten Salon. Der Graf erwartete ihn daselbst und ging ihm mit lachender Miene entgegen. Ah! lieber Herr, sagte er, seien Sie willkommen! Ich erwartete Sie.

 

Wirklich? erwiderte der Lukkeser, Eure Exzellenz erwartete mich?

 

Ja, ich war von Ihrer Ankunft auf heute um sieben Uhr benachrichtigt.

 

Sie waren von meiner Ankunft benachrichtigt?

 

Vollkommen.

 

Ah! desto besser, ich befürchtete, man hätte diese Vorsichtsmaßregel vergessen.

 

Welche?

 

Sie in Kenntnis zu setzen.

 

Oh, nein!

 

Sind Sie dessen gewiß, täuschen Sie sich nicht?

 

Ich bin dessen gewiß.

 

Mich erwartete Eure Exzellenz heute abend um sieben Uhr?

 

Allerdings Sie. Ich will Ihnen den Beweis geben.

 

Oh, wenn Sie mich erwarteten, so ist es nicht der Mühe wert.

 

Doch! doch! rief Monte Christo.

 

Der Lukkeser schien etwas beunruhigt.

 

Sprechen Sie, sind Sie nicht der Marquis Bartolomeo Cavalcanti?

 

Bartolomeo Cavalcanti, wiederholte freudig der Lukkeser, so ist es.

 

Exmajor in österreichischen Diensten?

 

War ich Major? fragte schüchtern der alte Soldat.

 

Ja, sagte Monte Christo, Major. Das ist der Name, den man in Frankreich dem Grade gibt, den Sie in Italien einnahmen.

 

Gut, versetzte der Lukkeser, Sie begreifen, mir ist es ganz lieb …

 

Übrigens, kommen Sie nicht aus eigenem Antriebe hierher?

 

Allerdings.

 

Sie sind durch den vortrefflichen Abbé Busoni an mich gewiesen worden?

 

So ist es, rief der Major.

 

Und Sie haben einen Brief?

 

Hier ist er.

 

Monte Christo nahm den Brief, öffnete und las ihn.

 

Der Major schaute den Grafen mit großen, erstaunten Augen an, die zwar neugierig in allen Teilen des Gemaches umherliefen, jedoch immer wieder zu dessen Eigentümer zurückkehrten.

 

So ist es … der liebe Abbé … Der Major Cavalcanti, ein würdiger Patricier aus Lucca, von den Cavalcanti in Florenz abstammend, fuhr Monte Christo lesend fort, im Besitze eines Vermögens, das jährlich eine halbe Million abwirft.

 

Monte Christo schlug die Augen vom Papier auf und verbeugte sich.

 

Eine halbe Million, sagte er, Teufel! mein lieber Herr Cavalcanti.

 

Steht eine halbe Million da? fragte der Lukkeser.

 

Mit allen Buchstaben, und das muß so sein, der Abbé Busoni ist ein Mann, der ganz genau die großen Vermögen in Europa kennt!

 

Es mag wohl richtig sein mit der halben Million; doch auf mein Ehrenwort, ich glaubte nicht, daß es sich so hoch beliefe.

 

Weil Sie einen Intendanten haben, der Sie bestiehlt; was wollen Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, man muß sich das gefallen lassen!

 

Und da Sie mir hierüber Aufklärung gegeben haben, so werde ich den Burschen vor die Tür werfen, sagte mit ernstem Tone der Lukkeser.

 

Monte Christo fuhr fort zu lesen: Und dem nur eines zu seinem Glücke fehlte.

 

Oh, mein Gott! ja, nur eines, sagte der Lukkeser mit einem Seufzer.

 

Einen angebeteten Sohn wiederzufinden.

 

Einen angebeteten Sohn?

 

Der in seiner Jugend entweder durch einen Feind seiner Familie oder durch Zigeuner geraubt wurde.

 

Im Alter von fünf Jahren, mein Herr! sagte der Lukkeser mit einem tiefen Seufzer und die Augen zum Himmel aufschlagend.

 

Armer Vater! sagte Monte Christo.

 

Der Graf las weiter: Ich gebe ihm die Hoffnung, ich gebe ihm das Leben, Herr Graf, indem ich ihm verkündige, daß Sie ihm diesen Sohn, den er seit fünfzehn Jahren umsonst suchte, wiederfinden können.

 

Der Lukkeser schaute Monte Christo mit einem Ausdrucke voll unsäglicher Unruhe an.

 

Ich kann es, sagte Monte Christo.

 

Der Major richtete sich hoch auf und rief: Ah! ah! der Brief ist also bis zum Ende wahr?

 

Zweifelten Sie daran, mein lieber Herr Bartolomeo?

 

Nein, niemals! Ein ernster, eine religiöse Würde bekleidender Mann, wie der Abbé Busoni, hätte sich nie einen solchen Scherz erlaubt; doch Sie haben nicht alles gelesen, Exzellenz!

 

Ah! das ist wahr, es findet sich hier noch eine Nachschrift.

 

Ja, erwiderte der Lukkeser, es findet sich … eine … Nachschrift.

 

Um den Major Cavalcanti nicht in die Verlegenheit zu setzen, Papiere verkaufen zu müssen, schicke ich ihm einen Wechsel von zweitausend Franken für seine Reiseunkosten und akkreditiere ihn bei Ihnen mit der Summe von achtundvierzigtausend Franken, die ich bei Ihnen gut habe.

 

Der Major verfolgte in sichtbarer Angst diese Nachschrift mit den Augen.

 

Gut! begnügte sich der Graf zu bemerken.

 

Er hat gut gesagt, murmelte der Lukkeser. Also die Nachschrift wird von Ihnen ebenso günstig aufgenommen, wie der übrige Brief?

 

Der Abbé Busoni und ich stehen miteinander in Abrechnung; ich weiß nicht genau, ob er achtundvierzigtausend Franken bei mir gut hat, aber es kommt zwischen uns auf ein paar Banknoten nicht an. Ah! Sie legten also einen großen Wert auf diese Nachschrift, mein lieber Cavalcanti?

 

Ich muß Ihnen gestehen, antwortete der Lukkeser, daß ich mich, voll Zutrauen zu der Unterschrift des Abbé Busoni, nicht mit andern Geldern versehen hatte; wäre mir diese Quelle entgangen, so würde ich mich in Paris in großer Verlegenheit befunden haben.

 

Setzen Sie sich doch, sagte Monte Christo; in der Tat, ich weiß nicht, was ich mache … ich lasse Sie seit einer Viertelstunde stehen.

 

Der Major zog einen Stuhl an sich und setzte sich.

 

Nun sagen Sie, sagte der Graf, wollen Sie etwas zu sich nehmen? Ein Glas Xeres, Porto, Alicante?

 

Alicante, wenn Sie erlauben, das ist mein Lieblingswein.

 

Monte Christo läutete; Baptistin erschien. Der Graf ging auf ihn zu und fragte leise: Nun …?

 

Der junge Mensch ist im blauen Salon, antwortete der Kammerdiener.

 

Vortrefflich. Bringen Sie Alicantewein und Zwiebacke.

 

Baptistin brachte das Verlangte.

 

Der Graf befahl Baptistin, die Platte in den Bereich der Hand seines Gastes zu stellen, der zuerst den Alicante mit dem Rande seiner Lippen kostete, sodann eine Miene der Zufriedenheit annahm und endlich den Zwieback zart in das Glas tauchte.

 

Sie wohnten also in Lucca? sagte Monte Christo, Sie waren reich, Sie waren vornehmer Abkunft, Sie genossen die allgemeine Achtung, Sie hatten alles, was einen Menschen glücklich machen kann?

 

Alles, Exzellenz, erwiderte der Major, seinen Zwieback verschlingend, durchaus alles.

 

Und es fehlte nur zu Ihrem Glück, Ihr Kind wiederzufinden? Dies fehlte mir sehr, rief der würdige Major, schlug die Augen zum Himmel auf und suchte zu seufzen.

 

Nun reden Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, wie verhält es sich mit diesem so sehr beklagten Sohne? Denn man sagte mir, Sie seien Junggeselle geblieben.

 

Man glaubte es, mein Herr, und ich selbst …

 

Ja, versetzte Monte Christo, und Sie selbst suchten diesem Gerüchte Glauben zu verschaffen. Eine Jugendsünde, die Sie vor aller Augen verbergen wollten.

 

Der Lukkeser richtete sich auf, nahm seine ruhigste und würdigste Haltung an, schlug aber zugleich bescheiden die Augen nieder, sei es, um seine Haltung zu sichern, sei es, um seine Einbildungskraft zu unterstützen, während er von unten herauf den Grafen anschaute, dessen auf seine Lippen festgebanntes Lächeln stets dieselbe wohlwollende Neugierde andeutete. Ja, mein Herr, sagte er, ich wollte diesen Fehler vor der ganzen Welt verbergen.

 

Nicht Ihretwegen, versetzte Monte Christo, denn ein Mann steht über dergleichen Dingen!

 

Oh! nein, gewiß nicht meinetwegen, erwiderte der Major, lächelnd und die Achseln zuckend.

 

Sondern seiner Mutter wegen?

 

Seiner Mutter wegen, rief der Lukkeser, seiner armen Mutter wegen!

 

Trinken Sie doch, lieber Herr Cavalcanti, sagte Monte Christo, dem Lukkeser ein zweites Glas Alcante einschenkend; die Erinnerung überwältigt Sie.

 

Seiner armen Mutter wegen, murmelte der Lukkeser, indem er einen Versuch machte, ob nicht die Kraft des Willens den Winkel seines Auges mit einer falschen Zähre zu befeuchten vermöchte.

 

Welche, glaube ich, einer der ersten Familien Italiens angehörte?

 

Eine Patrizierin von Fiesole.

 

Namens?

 

Marchesa Oliva Corsinari!

 

Und Sie heirateten sie am Ende, trotz des Widerstrebens der Familie?

 

Mein Gott! ja, das tat ich am Ende.

 

Und Ihre Papiere, die Sie mitbringen, sind ganz in Ordnung?

 

Was für Papiere? fragte der Lukkeser.

 

Nun, Ihr Trauschein mit Oliva Corsinari und der Taufschein von Andrea Cavalcanti, Ihrem Sohne; heißt er nicht Andrea?

 

Ganz richtig, Herr Graf, doch mit Bedauern muß ich Ihnen bemerken, nicht darauf aufmerksam gemacht, daß ich mich mit diesen Papieren versehen sollte, versäumte ich, sie mitzunehmen.

 

Ah! Teufel! rief Monte Christo.

 

Sind Sie denn durchaus nötig?

 

Unerläßlich, rief Monte Christo; wenn man hier irgend einen Zweifel über die Gültigkeit Ihrer Ehe und die Rechtmäßigkeit Ihres Kindes erhöbe!

 

Es ist richtig, man könnte Zweifel erheben.

 

Das wäre sehr unangenehm.

 

Es könnte ihm dadurch eine glänzende Heirat entgehen.

 

O peccato!

 

Sie begreifen, in Frankreich ist man streng. Es genügt nicht, wie in Italien, einen Priester aufzusuchen und ihm zu sagen: Wir lieben einander, verbinden Sie uns! In Frankreich gibt es eine bürgerliche Ehe, und um sich bürgerlich zu verheiraten, braucht man Papiere, durch welche die Identität nachgewiesen wird.

 

Das ist ein Unglück, ich habe diese Papiere nicht.

 

Zum Glücke habe ich sie.

 

Ah! mein Herr, rief der Lukkeser, der, als er das Ziel seiner Reise durch den Mangel seiner Papiere verfehlt sah, befürchtete, dieses Vergessen könnte einige Schwierigkeiten in Beziehung auf die achtundvierzigtausend Franken zur Folge haben, ah! mein Herr, das ist ein Glück. Ja, wiederholte er, das ist ein Glück, denn ich hätte nicht daran gedacht.

 

Bei Gott! ich glaube wohl, man denkt nicht an alles. Glücklicherweise dachte der Abbé Busoni für Sie daran.

 

Ein bewunderungswürdiger Mann; und er schickte Ihnen die Papiere?

 

Hier sind sie.

 

Der Lukkeser legte die Hände als Zeichen der Bewunderung zusammen. Sie heirateten Oliva Corsinari in der St. Paulskirche in Monte Cattini, hier ist der Trauschein des Priesters.

 

Ja, meiner Treu, sagte der Major, den Schein mit Erstaunen anschauend.

 

Und hier der Taufschein von Andrea Cavalcanti, ausgefertigt von dem Pfarrer von Saravezza.

 

Alles ist in Ordnung, sagte der Major.

 

So nehmen Sie diese Papiere, mit denen ich nichts zu tun habe, geben Sie sie Ihrem Sohne, der sie sorgfältig aufbewahren wird.

 

Ich glaube wohl! … Wenn er sie verlieren würde! …

 

Was nun die Mutter des jungen Mannes betrifft …

 

Mein Gott, sagte der Lukkeser, unter dessen Füßen die Schwierigkeiten immer neu emporzuwachsen schienen, sollte man ihrer bedürfen?

 

Nein, mein Herr, versetzte Monte Christo, hat sie übrigens nicht …

 

Doch, doch! rief der Major, sie hat …

 

Der Natur ihren Tribut bezahlt …

 

Ach, ja! sagte rasch der Lukkeser.

 

Ich habe das erfahren, sagte Monte Christo, sie ist vor zehn Jahren gestorben.

 

Und ich beweine noch ihren Tod, mein Herr, versetzte der Major, ein Taschentuch aus seiner Tasche ziehend.

 

Was wollen Sie, sagte Monte Christo, wir sind alle sterblich. Sie begreifen, lieber Herr Cavaleanti, man braucht in Frankreich nicht zu wissen, daß Sie seit fünfzehn Jahren von Ihrem Sohne getrennt sind. Alle diese Geschichten von kinderstehlenden Zigeunern finden bei uns keinen Anklang mehr. Sie haben ihn zur Erziehung in ein Kolleg in der Provinz geschickt, und er soll nun nach Ihrem Willen diese Erziehung in der Pariser Welt vollenden. Deshalb verließen Sie Via Reggio, wo Sie seit dem Tode Ihrer Frau wohnen. Das wird genügen.

 

Sie glauben?

 

Gewiß.

 

Gut also.

 

Wenn man etwas von dieser Trennung erführe …

 

Ah! ja. Was würde ich sagen?

 

Ein ungetreuer Lehrer, von den Feinden Ihrer Familie erkauft, habe dieses Kind geraubt, damit Ihr Name erlösche.

 

Ganz richtig, da es der einzige Sohn ist …

 

Nun da alles festgestellt ist, da Ihre Erinnerungen, wieder aufgefrischt, Sie nicht verraten werden, müssen Sie wohl geahnt haben, daß Ihnen eine Überraschung bevorsteht.

 

Eine angenehme? fragte der Lukkeser.

 

Ah! ich sehe wohl, daß man ebensowenig das Auge, als das Herz eines Vaters täuscht.

 

Hm! machte der Major.

 

Ist Ihnen irgend eine indiskrete Enthüllung zuteil geworden, oder haben Sie vielmehr erraten, er sei da?

 

Wer?

 

Ihr Kind, Ihr Sohn, Ihr Andrea!

 

Ich habe es erraten, erwiderte der Lukkeser mit dem größten Phlegma der Welt; er ist also hier?

 

Er ist hier, sagte Monte Christo, mein Kammerdiener hat mich soeben von seiner Ankunft benachrichtigt.

 

Ah! sehr gut! sagte der Major, indem er dabei die Schnüre seiner Polonaise zusammenzog.

 

Mein Herr, ich begreife Ihre Erschütterung, man muß Ihnen Zeit lassen, sich zu erholen; auch will ich den jungen Menschen auf die so sehr ersehnte Zusammenkunft vorbereiten, denn ich setze voraus, er ist nicht minder ungeduldig als Sie.

 

Ich glaube es wohl, sagte Cavalcanti.

 

Gut! in einer kleinen Viertelstunde gehören wir Ihnen.

 

Sie bringen mir ihn? Sie treiben also Ihre Güte so weit, daß Sie mir meinen Jungen selbst vorstellen?

 

Nein, ich will mich keineswegs zwischen einen Vater und seinen Sohn stellen; Sie werden allein sein, Herr Major; doch seien Sie unbesorgt, selbst dann, falls die Stimme des Blutes stumm bliebe, könnten Sie sich nicht täuschen, er wird durch diese Tür eintreten. Es ist ein hübscher, blonder, junger Mann, vielleicht etwas zu blond, und von äußerst einnehmenden Manieren, wie Sie sehen werden.

 

Doch Sie wissen, sagte der Major, ich nahm nur die zweitausend Franken mit, die mir der Abbé Busoni zu geben die Güte hatte. Damit machte ich die Reise, und …

 

Und Sie brauchen Geld, das ist nur zu billig, mein lieber Herr Cavalcanti. Hier sind auf Abschlag acht Tausendfranknoten.

 

Die Augen des Majors glänzten wie Karfunkel.

 

Somit bin ich Ihnen noch vierzigtausend Franken schuldig, sagte Monte Christo.

 

Will Eure Exzellenz einen Empfangschein? fragte der Major, die Scheine in die innere Tasche seiner Polonaise steckend.

 

Wozu?

 

Als Belege dem Abbé Busoni gegenüber.

 

Sie geben mir einen allgemeinen Schein, wenn Sie die letzten vierzigtausend Franken in Empfang genommen haben. Unter ehrlichen Leuten sind solche Vorsichtsmaßregeln unnötig.

 

Ah! ja, das ist wahr, sagte der Major, unter ehrlichen Leuten.

 

Nun noch ein letztes Wort, Marquis. Sie erlauben mir eine kleine, unmaßgebliche Bemerkung, nicht wahr?

 

Ich bitte darum.

 

Es wäre wirklich nicht übel, wenn Sie diese Polonaise ablegen würden.

 

Wirklich? sagte der Major, sein Kleid mit einem gewissen Wohlgefallen anschauend.

 

Ja, das trägt man noch in Via Reggio, aber in Paris ist dieses Kostüm, so elegant es auch sein mag, längst aus der Mode.

 

Das ist ärgerlich.

 

Oh! wenn Sie viel darauf halten, so ziehen Sie es bei Ihrer Abreise wieder an.

 

Aber was soll ich dafür nehmen?

 

Was Sie in Ihren Koffern finden.

 

Wie, in meinen Koffern! Ich habe nur einen Mantelsack.

 

Bei sich, allerdings. Wozu sich beschweren? Überdies liebt es ein alter Soldat, mit leichter Ausrüstung zu marschieren.

 

Gerade deshalb …

 

Sie sind ein vorsichtiger Mann und haben Ihre Koffer vorausgeschickt. Diese sind gestern im Hotel des Princes, Rue de Richelieu, angelangt. Dort ist Ihre Wohnung bestellt.

 

In diesen Koffern also? …

 

Ich setze voraus, Sie sind so vorsichtig gewesen, durch Ihren Kammerdiener alles, was Sie brauchen, einpacken zu lassen: Röcke zu gewöhnlichen Ausgängen, Uniformen. Bei großen Veranlassungen ziehen Sie Ihre Uniform an, das tut gut. Vergessen Sie Ihre Kreuze nicht. Man spottet darüber in Frankreich, trägt sie aber dennoch immer.

 

Sehr gut! sehr gut! sehr gut! sagte der Major, von dem, was er hörte, immer mehr geblendet.

 

Und nun, da Ihr Herz gegen zu lebhafte Empfindungen gewappnet ist, bereiten Sie sich vor, lieber Cavalcanti, Ihren Sohn Andrea wiederzusehen.

 

Und sich freundlich vor dem entzückten Lukkeser verbeugend, verschwand Monte Christo hinter dem Türvorhange.

 

Andrea Cavalcanti.

 

Andrea Cavalcanti.

 

Monte Christo trat in den anstoßenden Salon, den Baptistin unter dem Namen der blaue Salon bezeichnet hatte, und in den schon vor ihm ein ziemlich elegant gekleideter junger Mann von ungezwungenen Manieren eingetreten war. Dieser lag auf dem Sofa und klopfte mit zerstreuter Miene seine Stiefel mit einem goldknöpfigen Röhrchen. Sobald er Monte Christo wahrnahm, stand er rasch auf.

 

Der Herr Graf von Monte Christo? fragte er.

 

Ja, antwortete dieser, und ich habe wohl die Ehre, mit dem, Herrn Grafen Cavalcanti zu sprechen?

 

Der Graf Andrea Cavalcanti, wiederholte der junge Mann, indem er diese Worte mit einer äußerst freien Verbeugung begleitete.

 

Sie müssen ein Beglaubigungsschreiben für mich haben?

 

Ja, unterzeichnet seltsamerweise von Simbad dem Seefahrer. Da ich aber diesen Simbad nur aus Tausendundeiner Nacht kannte, so …

 

Wohl, es ist ein Abkömmling von ihm, ein sehr reicher Freund von mir, ein mehr als origineller, fast närrischer Engländer, der mit seinem wahren Namen Lord Wilmore heißt.

 

Ah! das erklärt mir die Sache, versetzte Andrea. Dann geht es vortrefflich. Es ist derselbe Engländer, den ich kennen gelernt habe … in … ja, sehr gut! … Mein Herr Graf, ich bin Ihr Diener.

 

Wenn das, was Sie mir zu sagen die Güte haben, wahr ist, sagte lächelnd der Graf, so hoffe ich, daß Sie so gefällig sein werden, mir etwas Näheres über Sie und Ihre Familie mitzuteilen.

 

Sehr gern, Herr Graf, antwortete der junge Mann mit einer Zungenfertigkeit, die bewies, daß er ein gutes Gedächtnis besaß. Ich bin, wie Sie sagten, der Graf Andrea Cavalcanti, Sohn des Majors Bartolomeo Cavalcanti, Abkömmling der in das goldene Buch von Florenz eingetragenen Cavalcanti. Obgleich noch sehr reich, denn mein Vater besitzt ein Zinseneinkommen von einer halben Million, hat unsere Familie doch viel Unglück erfahren, und ich selbst, mein Herr, bin in einem Alter von fünf Jahren durch einen ungetreuen Hofmeister geraubt worden und habe deshalb seit fünfzehn Jahren den Urheber meiner Tage nicht gesehen. Seitdem ich das Alter der Vernunft erreicht und Herr meiner selbst bin, suche ich ihn vergebens. Endlich meldet mir dieser Brief Ihres Freundes Simbad, daß er sich in Paris befindet, und erteilt mir Vollmacht, mich an Sie zu wenden, um weitere Auskunft zu erhalten.

 

In der Tat, mein Herr, alles, was Sie mir da erzählen, ist sehr interessant, sagte der Graf, der mit ingrimmiger Zufriedenheit die dreiste Miene des Sprechers betrachtete, und Sie werden wohl daran tun, wenn Sie in allen Stücken der Aufforderung meines Freundes Simbad entsprechen, denn Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie.

 

Der Graf hatte seit seinem Eintritt in den Salon den jungen Mann nicht aus dem Gesichte verloren; er bewunderte die Festigkeit seines Blickes und die Sicherheit seiner Stimme. Doch bei den Worten: Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie, machte der junge Andrea einen Sprung und rief entsetzt: Mein Vater? Mein Vater hier?

 

Allerdings, erwiderte Monte Christo, Ihr Vater, der Major Bartolomeo Cavalcanti.

 

Der Ausdruck des Schreckens, der sich über die Züge des jungen Mannes verbreitet hatte, verschwand fast in demselben Augenblick wieder.

 

Ah! ja, es ist wahr, rief er, der Major Cavalcanti. Und Sie sagen, dieser liebe Vater sei hier?

 

Ja, mein Herr. Ich sage noch mehr. Soeben habe ich ihn verlassen; die Geschichte, die er mir von seinem geliebten, einst verlorenen Sohn erzählte, ergriff mich ungemein; seine Schmerzen, seine Befürchtungen, seine Hoffnungen wegen dieses Sohnes klingen wie ein rührendes Gedicht. Endlich hört er eines Tags, die Räuber seines Sohnes seien bereit, den Geraubten gegen eine sehr bedeutende Summe zurückzugeben oder ihm mitzuteilen, wo er sei. Nichts hielt den guten Vater zurück. Die Summe wurde an die Grenze von Piemont geschickt … Sie befanden sich, glaube ich, im Süden Frankreichs? Ja, mein Herr, antwortete Andrea mit einer ziemlich verlegenen Miene; ja, ich befand mich im Süden Frankreichs.

 

Ein Wagen sollte Sie in Nizza erwarten?

 

So ist es, er führte mich von Nizza nach Genua und über Turin nach Paris.

 

Vortrefflich; er hoffte immer, Ihnen unterwegs zu begegnen, denn dies war die Straße, die er selbst verfolgte.

 

Aber wenn er mir begegnet wäre, dieser liebe Vater, sagte Andrea, ich zweifle, ob er mich erkannt haben würde; es ist eine ziemliche Veränderung mit mir vorgegangen, seitdem er mich aus dem Gesichte verloren hat.

 

Ah! die Stimme des Blutes, sagte Monte Christo.

 

Ah! ja, das ist wahr, erwiderte der junge Mann, ich dachte nicht an die Stimme des Blutes.

 

Nun beunruhigt nur ein Gedanke den Marquis Cavalcanti, versetzte Monte Christo; was Sie wohl getan haben, während Sie von ihm entfernt waren; wie Sie von Ihren Verfolgern behandelt worden sind; ob man Ihrer Abkunft die schuldige Rücksicht hat zu teil werden lassen, ob nicht die Fähigkeiten, mit denen Sie die Natur so reich begabte, in jener Umgebung vernachlässigt worden sind, und ob Sie selbst meinen, den Ihnen gebührenden Rang wieder einnehmen und würdig behaupten zu können.

 

Mein Herr, stammelte der junge Mann verwirrt, ich hoffe, es wird kein falscher Bericht …, übrigens, er kann ruhig sein. Die Räuber, die mich von meinem Vater entfernten und ohne Zweifel, wie sie es später getan, mich an ihn zu verkaufen beabsichtigten, berechneten, daß man mir, um einen guten Nutzen aus mir zu ziehen, meinen ganzen persönlichen Wert lassen und ihn sogar, wenn es möglich wäre, steigern müßte. Ich erhielt daher eine ziemlich gute Erziehung und wurde von den Kinderdieben ungefähr so behandelt, wie einst in Kleinasien die Sklaven, aus denen ihre Herren Grammatiker, Mediziner und Philosophen machten, um sie teuer auf dem Markte zu Rom zu verkaufen. Monte Christo lächelte zufrieden; er hatte, wie es scheint, nicht so viel von Andrea Cavalcanti gehofft.

 

Wenn sich übrigens, versetzte der junge Mann, bei mir ein Mangel an Erziehung, oder vielmehr an Weltgewandtheit zeigen sollte, so wird man wohl die Nachsicht haben, dies zu entschuldigen, in Betracht der Unglücksfälle, die mich seit meiner Jugend verfolgten.

 

Nun, Graf, Sie werden daraus machen, was Sie wollen, sagte mit gleichgültigem Tone Monte Christo; denn Sie sind der Herr, und es geht nur Sie an; doch auf mein Wort, ich würde im Gegenteil nicht eine Silbe von all diesen Abenteuern sprechen, denn Ihre Geschichte ist ein Roman, und kaum haben Sie irgend jemand davon erzählt, so wird sie völlig entstellt in der Welt umlaufen. Sie werden nicht mehr ein wiedergefundenes Kind, sondern ein Findelkind sein. Vielleicht wird Ihnen der Erfolg zuteil, daß Sie Neugierde erregen; doch nicht jeder liebt es, der Mittelpunkt von Beobachtungen und die Zielscheibe von Kommentaren zu sein. Das wird Ihnen etwas unangenehm werden.

 

Ich glaube, Sie haben recht, Herr Graf, sagte der junge Mann, unter Monte Christos unbeugsamem Blicke unwillkürlich erbleichend; es ist dies eine große Unannehmlichkeit.

 

Oh! Sie müssen sich andererseits die Sache nicht übertrieben vorstellen, entgegnete Monte Christo; denn das hieße, um einen Fehler zu vermeiden, in eine Torheit verfallen. Nein, es gilt nur, einen Plan des Vorgehens festzustellen, und von einem gescheiten Manne, wie Sie sind, läßt sich dieser Plan um so eher durchführen, als er mit Ihren Interessen im Einklang steht; Sie müssen eben durch Zeugnisse und ehrenwerte Verbindungen alles bekämpfen, was Ihre Vergangenheit etwa Dunkles hat.

 

Andrea verlor sichtbar seine Haltung.

 

Gern würde ich mich Ihnen als Bürge anbieten, sagte Monte Christo; doch es ist bei mir oberster Grundsatz, stets an meinen besten Freunden zu zweifeln, und ein Bedürfnis, auch die andern zum Zweifel anzuregen. So würde ich hier eine Rolle spielen, die nicht in meinem Fache läge, wie die Schauspieler sagen, und ich liefe Gefahr, mich auspfeifen zu lassen!

 

Herr Graf, versetzte Andrea mit kaltem Tone, ich denke jedoch, in Rücksicht auf Lord Wilmore, der mich Ihnen empfohlen hat …

 

Ja, gewiß; doch Lord Wilmore verhehlt mir nicht, mein lieber Herr Andrea, daß Sie eine etwas stürmische Jugend hinter sich haben. Oh! sagte der Graf, als er Andreas Bewegung sah, ich verlange keine Beichte von Ihnen. Dazu hat man zu Ihrer Beruhigung den Herrn Marquis Cavalcanti, Ihren Vater, von Lucca kommen lassen. Sie werden sehen, er ist ein wenig steif, etwas geschraubt; doch das ist schließlich eine Uniformfrage, und wenn man erfährt, daß er seit seinem achtzehnten Jahre in österreichischen Diensten steht, ist alles entschuldigt. Doch, ich versichere Ihnen, er genügt als Vater völlig.

 

Ah! Sie beruhigen mich, mein Herr, ich verließ ihn vor so langer Zeit, daß ich keine Erinnerung mehr an ihn habe.

 

Und Sie wissen, ein großes Vermögen läßt über vieles hinwegsehen.

 

Mein Vater ist also wirklich reich, mein Herr?

 

Millionär … 500 000 Franken Rente.

 

Ich werde mich also in einer angenehmen Lage befinden? fragte ängstlich der junge Mann.

 

In einer äußerst angenehmen, mein lieber Herr; er gibt Ihnen fünfzigtausend Franken jährlich, solange Sie in Paris bleiben.

 

Dann werde ich immer hier bleiben.

 

Ei! wer kann für die Umstände bürgen? Der Mensch denkt, Gott lenkt.

 

Andrea stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Aber solange ich in Paris bleibe und kein Umstand mich zwingt, wegzugehen, ist mir das Geld, von dem Sie soeben sprachen, sicher? Ganz gewiß.

 

Durch meinen Vater? fragte Andrea mit einer gewissen Unruhe.

 

Ja, aber garantiert durch Lord Wilmore, der Ihnen auf die Bitte Ihres Vaters einen Kredit von fünftausend Franken monatlich bei Herrn Danglars, einem der sichersten Bankiers von Paris, eröffnet hat.

 

Und mein Vater gedenkt, lange in Paris zu bleiben? fragte Andrea mit derselben Unruhe.

 

Nur einige Tage, antwortete Monte Christo. Sein Dienst erlaubt ihm nicht, länger als zwei bis drei Wochen abwesend zu sein.

 

Oh, der liebe Vater! rief Andrea, sichtbar entzückt über diese schnelle Abreise.

 

Auch will ich, versetzte Monte Christo, der sich stellte, als täuschte er sich über das in den Worten des jungen Mannes zum Ausdruck gekommene Gefühl, auch will ich die Stunde Ihrer Wiedervereinigung keinen Augenblick mehr verzögern. Sind Sie vorbereitet, den würdigen Herrn Cavalcanti zu umarmen?

 

Sie zweifeln hoffentlich nicht daran?

 

Nun, so treten Sie in diesen Salon, mein junger Freund, und Sie werden Ihren Vater finden, der Sie erwartet.

 

Andrea machte eine tiefe Verbeugung vor dem Grafen und trat in den Salon.

 

Der Graf folgte ihm mit den Augen und drückte, sobald er ihn verschwinden sah, an einer Feder, die mit einem Gemälde in Verbindung stand, das sich aus dem Rahmen schob und so durch einen geschickt angebrachten Zwischenraum den Blick in den Salon dringen ließ.

 

Andrea machte die Tür hinter sich zu und näherte sich dem Major, der sich erhob, sobald er das Geräusch seiner Tritte hörte.

 

Ah! mein Herr und lieber Vater, sagte Andrea mit lauter Stimme und so, daß es der Graf durch die geschlossene Tür hören konnte, sind Sie es wirklich?

 

Guten Tag, mein lieber Sohn, sagte der Major mit ernstem Tone.

 

Nach so vielen Jahren der Trennung, fuhr Andrea, nach der Tür schielend fort, welch ein Glück, uns wiederzusehen!

 

In der Tat, die Trennung hat lange gedauert.

 

Umarmen wir uns nicht, mein Herr? fragte Andrea.

 

Und die beiden umarmten sich, wie man sich auf der Bühne umarmt, das heißt, sie streckten sich den Kopf über die Schulter.

 

So sind wir also wieder vereinigt? sagte Andrea.

 

Wir sind wiedervereinigt, wiederholte der Major.

 

Um uns nie mehr zu trennen?

 

In der Tat; ich glaube, mein lieber Sohn, Sie betrachten Frankreich nunmehr als ein zweites Vaterland?

 

Ich wäre allerdings in Verzweiflung, wenn ich Paris verlassen müßte.

 

Und ich vermöchte, wie Sie begreifen, nicht außerhalb Luccas zu leben. Ich werde daher sobald als möglich nach Italien zurückkehren.

 

Doch ehe Sie abreisen, mein geliebter Vater, stellen Sie mir ohne Zweifel die Papiere zu, mit deren Hilfe ich imstande bin, leicht nachzuweisen, von welchem Blute ich abstamme.

 

Allerdings, denn ich komme ausdrücklich deshalb und habe es mich so viel Mühe kosten lassen, Sie zu treffen, um sie Ihnen zustellen zu können.

 

Andrea griff gierig nach dem Trauscheine seines Vaters, nach seinem eigenen Taufscheine und durchlief, nachdem er das Ganze mit einem bei einem guten Sohn erklärlichen Ungestüm geöffnet hatte, die Papiere mit einer Hast und Gewandtheit, die zugleich das geübte Auge und das lebhafteste Interesse verrieten.

 

Als er damit zu Ende war, erglänzte ein unbeschreiblicher Ausdruck von Freude auf seiner Stirn, und er sagte, den Major mit einem seltsamen Lächeln anschauend, in vortrefflichem Toskanisch: Ah! es gibt also keine Galeeren in Italien?

 

Der Major warf sich zurück und rief: Was meinen Sie?

 

Daß man ungestraft solche Dokumente fabriziert? Für die Hälfte davon, mein vielgeliebter Vater, würde man Sie in Frankreich auf fünf Jahre die Luft von Toulon einatmen lassen.

 

Wie beliebt? sagte der Lukkeser, der eine majestätische Miene zu erlangen suchte.

 

Mein lieber Herr Cavalcanti, sagte Andrea, den Major am Arme fassend, wieviel gibt man Ihnen dafür, daß Sie mein Vater sind?

 

Der Major wollte sprechen.

 

Stille! sagte Andrea, die Stimme dämpfend, ich will Ihnen zuerst Vertrauen schenken; man bezahlt mir fünfzigtausend Franken jährlich dafür, daß ich Ihr Sohn bin; Sie begreifen folglich, daß ich nie geneigt sein werde, zu leugnen, Sie seien mein Vater.

 

Der Major schaute unruhig umher.

 

Oh! seien Sie unbesorgt, wir sind allein, versetzte Andrea; überdies sprechen wir Italienisch.

 

Nun wohl, mir gibt man ein für alle Mal fünfzigtausend Franken, sprach der Lukkeser.

 

Herr Cavalcanti, glauben Sie an Feenmärchen?

 

Nein, früher nicht; aber jetzt muß ich daran glauben.

 

Sie haben also Beweise erhalten?

 

Der Major zog eine Handvoll Gold aus seiner Tasche.

 

Handgreifliche, wie Sie sehen.

 

Sie denken, ich könne den Versprechungen trauen, die man mir gemacht hat?

 

Ich glaube es.

 

Und dieser brave Mann von einem Grafen werde sie halten?

 

Punkt für Punkt; doch Sie begreifen, um zu diesem Ziele zu gelangen, müssen wir unsere Rollen spielen.

 

Wie denn? Ich als zärtlicher Vater.

 

Und ich als ehrfurchtsvoller Sohn.

 

Da sie verlangen, daß Sie von mir abstammen.

 

Welche sie?

 

Verdammt, ich weiß es nicht, die, welche uns schrieben; haben Sie nicht auch einen Brief bekommen?

 

Doch wohl.

 

Von wem?

 

Von einem gewissen Abbé Busoni.

 

Den Sie nicht kennen?

 

Ich habe ihn nie gesehen. Was sagte Ihnen der Brief, den Sie erhielten?

 

Sie werden mich nicht verraten?

 

Ich werde mich wohl hüten, unsere Interessen sind dieselben.

 

So lesen Sie.

 

Und der Major gab dem jungen Mann einen Brief.

 

Andrea las mit leiser Stimme:

 

Sie sind arm, ein unglückliches Alter erwartet Sie. Wollen Sie, wenn nicht reich, doch wenigstens unabhängig werden?

 

Reisen Sie auf der Stelle nach Paris und fordern Sie bei dem Herrn Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, Nr. 30, den Sohn zurück, den Sie von der Marchesa Corsinari gehabt haben und der Ihnen in einem Alter von fünf Jahren gestohlen worden ist.

 

Dieser Sohn heißt Andrea Cavalcanti.

 

Damit Sie die Absicht des Unterzeichneten, Ihnen angenehm zu sein, nicht in Zweifel ziehen, finden Sie anbei:

 

Eine Anweisung von zweitausend vierhundert toskanischen Lire, zahlbar bei Herrn Gozzi in Florenz.

 

Einen Brief zum Zweck der Einführung bei dem Herrn Grafen von Monte Christo, auf den ich Sie mit einer Summe von achtundvierzigtausend Franken akkreditiere.

 

Finden Sie sich am 26. Mai abends um sieben Uhr bei dem Grafen ein.

 

Abbé Busoni.

 

So ist es.

 

Wie, so ist es? Was wollen Sie damit sagen? fragte der Major.

 

Ich sage, daß ich einen ungefähr ähnlichen Brief erhalten habe.

 

Sie? Von dem Abbé Busoni?

 

Von einem Engländer, von einem gewissen Lord Wilmore, der den Namen Simbad der Seefahrer annahm.

 

Und den Sie ebensowenig kennen, wie ich den Abbé Busoni?

 

Doch; ich bin weiter vorgerückt als Sie.

 

Sie haben ihn gesehen?

 

Ja, einmal.

 

Wo?

 

Ah! das ist es gerade, was ich Ihnen nicht sagen kann; sonst wüßten Sie so viel wie ich, und das ist nicht nötig.

 

Dieser Brief sagte Ihnen?

 

Lesen Sie!

 

Sie sind arm und sehen nur einer elenden Zukunft entgegen; wollen Sie einen Namen haben, frei sein, reich sein?

 

Nehmen Sie den Postwagen, den Sie bespannt finden, wenn Sie von Nizza durch das Genueser Tor weggehen. Reisen Sie durch Turin, Chambéry und Pont-de-Beauvoisin. Begeben Sie sich zu dem Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, am 26. Mai um sieben Uhr abends, und fordern Sie Ihren Vater von ihm.

 

Sie sind der Sohn des Marquis Bartolomeo Cavalvanti und der Marchesa Oliva Corsinari, wie dies die Ihnen von dem Marquis zu übergebenden Papiere bestätigen werden, die Ihnen unter diesem Namen in der Pariser Welt zu erscheinen gestatten.

 

Was Ihren Rang betrifft, so wird Sie eine Rente von fünfzigtausend Lire in den Stand setzen, denselben zu behaupten.

 

Sie erhalten anbei eine Anweisung auf fünftausend Lire an Herrn Ferrea, Bankier zu Nizza, und einen Einführungsbrief für den Grafen von Monte Christo, der von mir beauftragt ist, für die Befriedigung aller Ihrer Bedürfnisse zu sorgen.

 

Simbad der Seefahrer.

 

Hm, sagte der Major, das ist sehr schön!

 

Nicht wahr?

 

Sie haben den Grafen gesehen? Hat er anerkannt? Alles.

 

Begreifen Sie etwas hiervon?

 

Meiner Treu, nein.

 

In dieser ganzen Geschichte ist einer der Tor.

 

Auf jeden Fall weder Sie noch ich.

 

Nein, gewiß nicht.

 

Wohl, aber wer sonst?

 

Daran ist wenig gelegen, nicht wahr?

 

Allerdings, das wollte ich eben sagen; setzen wir unsere Rollen fort und spielen ein gemeinschaftliches Spiel. Gut; Sie werden mich würdig finden, Ihr Partner zu sein. Ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, mein lieber Vater.

 

Sie erweisen mir viel Ehre, mein lieber Sohn.

 

Monte Christo wählte diesen Augenblick, um in den Salon zurückzukehren. Als sie das Geräusch seiner Tritte hörten, warfen sie sich in die Arme; der Graf fand sie eng umschlossen.

 

Nun, Herr Marquis, es scheint, Sie haben einen Sohn nach Ihrem Herzen wiedergefunden?

 

Ah! Herr Graf, die Freude erstickt mich fast.

 

Und Sie, junger Mann?

 

Ah! Herr Graf, das Glück erstickt mich.

 

 

Glücklicher Vater! glückliches Kind! rief der Graf. Nur eines betrübt mich, sagte der Major; die Notwendigkeit, in der ich mich befinde, Paris so schnell zu verlassen. Oh! lieber Herr Cavalcanti, Sie werden hoffentlich nicht eher abreisen, als bis ich Sie einigen Freunden vorgestellt habe, entgegnete Monte Christo.

 

Ich stehe dem Herrn Grafen zu Befehl, sagte der Major. Nun beichten Sie, junger Mann, sagte Monte Christo.

 

Wem?

 

Ihrem Herrn Vater, sagen Sie ihm ein paar Worte von dem Zustand Ihrer Finanzen.

 

Ah! Teufel! rief Andrea; Sie berühren die empfindlichste Seite.

 

Hören Sie, Major? sagte Monte Christo.

 

Allerdings höre ich.

 

Das gute Kind sagt, es brauche Geld!

 

Was soll ich tun?

 

Bei Gott, Sie müssen ihm geben!

 

Ich?

 

Ja Sie.

 

Monte Christo trat zwischen beide.

 

Nehmen Sie, sagte er zu Andrea und drückte ihm ein Päckchen mit Banknoten in die Hand.

 

Was ist das?

 

Die Antwort Ihres Vaters.

 

Meines Vaters?

 

Gaben Sie ihm nicht zu verstehen, Sie hätten Geld nötig? Ja. Nun?

 

Er beauftragt mich, Ihnen dies zuzustellen. Auf Abschlag von meiner Rente?

 

Nein, zur Deckung Ihrer Einrichtungskosten.

 

Oh, teurer Vater!

 

Still, sagte Monte Christo, Sie sehen, ich soll Ihnen nicht sagen, daß es von ihm kommt.

 

Ich weiß diese Zartheit zu würdigen, versetzte Andrea und steckte die Banknoten in seine Tasche.

 

Es ist gut, gehen Sie nun! sagte Monte Christo. Und wann werden wir die Ehre haben, den Herrn Grafen wiederzusehen? fragte Cavalcanti

 

Ah! ja, wiederholte Andrea; wann werden wir diese Ehre haben?

 

Sonnabend, wenn Sie wollen … ja … Sonnabend. Ich habe in meinem Hause in Auteuil, Rue de la Fontaine, Nr. 30, mehrere Personen bei Tische, und unter anderen Herrn Danglars, Ihren Bankier; ich werde Sie ihm vorstellen, denn er muß Sie beide kennen, um Ihnen Ihr Geld auszuzahlen.

 

In Gala? fragte mit heller Stimme der Major.

 

In Gala: Uniform, Kreuze, kurze Hose.

 

Und ich? fragte Andrea.

 

Oh! Sie, sehr einfach. Schwarze Beinkleider, lackierte Stiefel, weiße Weste, schwarzer Frack, lange Halsbinde; lassen Sie sich bei Blin oder bei Veronique kleiden. Baptistin wird Ihnen die Adresse dieser Herrn geben. Je weniger anspruchsvoll Sie sich kleiden, desto besser wird bei Ihrem Reichtum die Wirkung sein. Kaufen Sie Pferde, so nehmen Sie sie bei Dedeveux; brauchen Sie einen Wagen, so gehen Sie zu Baptiste.

 

Um welche Stunde dürfen wir uns einfinden?

 

Gegen halb sieben Uhr.

 

Es ist gut, man wird nicht verfehlen, sagte der Major, nach seinem Hute greifend.

 

Die beiden Cavalcanti verbeugten sich und verließen das Zimmer.

 

Der Graf näherte sich dem Fenster und sah sie Arm in Arm durch den Hof schreiten.

 

In der Tat, sagte er, das sind zwei große Schufte! Wie schade, daß sie einander nicht wirklich als Vater und Sohn angehören!

 

Dann fügte er nach einem Augenblick düsteren Nachdenkens hinzu: Wir wollen zu den Morels gehen; ich glaube, der Ekel greift mein Herz noch mehr an, als der Haß.

 

Unsere Leser müssen uns nun erlauben, sie zu dem an das Haus des Herrn von Villefort grenzenden Luzernengehege zu führen, wo wir hinter dem von Kastanienbäumen überschatteten Gitter uns befreundete Personen finden.

 

Das Luzernengehege.

 

Das Luzernengehege.

 

Diesmal hat sich Maximilian zuerst eingefunden. Er lauert in dem tiefgelegenen Garten auf eine Erscheinung zwischen den Bäumen und auf das Knistern eines seidenen Schuhes auf dem Sande der Allee.

 

Endlich läßt sich das so lang ersehnte Knistern hören, aber statt einer Gestalt erscheinen zwei. Die Zögerung Valentines war durch einen Besuch der Frau Danglars und Eugenies, der sich über die Stunde, wo Valentine erwartet wurde, ausgedehnt hatte, veranlaßt worden. Um das Stelldichein nicht ganz zu versäumen, schlug Valentine Fräulein Danglars einen Spaziergang im Garten vor, denn sie wollte Maximilian zeigen, daß sie nicht schuld an dem Verzuge sei, unter dem er ohne Zweifel gelitten.

 

Der junge Mann begriff alles mit der den Liebenden eigenen schnellen Auffassung, und sein Herz war erleichtert. Ohne bis in den Bereich der Stimme zu kommen, richtete Valentine doch ihren Spaziergang so ein, daß Maximilian sie hin und her gehen sehen konnte, und jeder dem jungen Mann zugeworfene Blick sagte ihm: Fassen Sie Mut, Freund, Sie sehen, daß es nicht meine Schuld ist.

 

Und Maximilian faßte in der Tat Mut, während er den Kontrast zwischen den beiden Mädchen bewunderte, zwischen der Blonden mit schmachtenden Augen und vorgebeugter Gestalt, gleich einer schönen Weide, und der Braunen mit den stolzen Augen und dem pappelartig geraden Wuchse. Es versteht sich von selbst, daß bei dieser Vergleichung zwischen zwei so entgegengesetzten Naturen der Vorzug, wenigstens von dem jungen Manne, Valentine eingeräumt wurde.

 

Nach einem halbstündigen Spaziergang entfernten sich die beiden Mädchen. Maximilian begriff, daß Frau Danglars‘ Besuch zu Ende war.

 

Eine Minute nachher erschien Valentine wirklich wieder allein. Aus Furcht, ein neugieriger Blick könne ihr folgen, kam sie langsam; und statt unmittelbar auf das Gitter zuzuschreiten, setzte sie sich auf eine Bank, während sie scheinbar absichtslos jedes Gebüsch untersuchte und das Auge in die Tiefe der Allee hinabsandte. Nach diesen Vorsichtsmaßregeln lief sie zu dem Gitter.

 

Guten Morgen, Valentine, sagte eine Stimme.

 

Guten Morgen Maximilian; ich ließ Sie warten, aber Sie haben wohl die Ursache gesehen?

 

Ja, ich erkannte Fräulein Danglars; doch ich glaubte nicht, daß Sie in so enger Verbindung mit dieser Dame ständen.

 

Wir plauderten miteinander, und sie gestand mir ihren Widerwillen gegen eine Verbindung mit Herrn von Morcerf, und ich gestand ihr, daß ich es als ein Unglück betrachte, Herrn d’Epinay heiraten zu sollen.

 

Teure Valentine!

 

Deshalb, mein Freund, sahen Sie diese scheinbare Harmonie zwischen mir und Eugenie! Während ich aber von dem Manne sprach, den ich nicht lieben kann, dachte ich an den Mann, den ich liebe.

 

Sie sind gut in allen Dingen, Sie haben etwas an sich, was Fräulein Danglars nie haben wird: den unerklärlichen Zauber, der bei der Frau das ist, was der Wohlgeruch bei der Blume, der Wohlgeschmack bei der Frucht; denn bei der Blume wie bei der Frucht ist mit der Schönheit nicht alles getan.

 

Ihre Liebe läßt Sie mich so anschauen!

 

Nein, Valentine, das schwöre ich Ihnen. Ich betrachtete Sie beide vorhin, und bei meiner Ehre, während ich der Schönheit Fräulein Danglars‘ Gerechtigkeit widerfahren ließ, begriff ich doch nicht, wie sich ein Mann in sie verlieben könnte – doch gestatten Sie eine Frage der bloßen Neugierde: Liebt Fräulein Danglars einen andern, daß sie sich einer Verheiratung mit Herrn von Morcerf scheut?

 

Sie sagte mir, sie liebe niemand, sagte Valentine; sie verabscheue die Ehe; ihre größte Freude wäre es gewesen, ein freies und unabhängiges Leben zu führen, und sie wünschte beinahe, ihr Vater möchte sein Vermögen verlieren, daß sie wie ihre Freundin, Fräulein Luise d’Armilly, Künstlerin werden könnte.

 

Ah, das ist interessant, doch ich wollte Ihnen sagen, daß ich kürzlich Herrn von Morcerf getroffen habe. Franz ist sein Freund, wie Sie wissen; er kündigte mir seine nahe bevorstehende Rückkehr an.

 

Valentine erbleichte und hielt sich am Gitter.

 

Ah, mein Gott! sagte sie, wenn dies so wäre! Frau von Villefort ließ mich vorhin wissen, ich sollte in zehn Minuten bei ihr sein; sie habe mir eine für mich äußerst wichtige Nachricht mitzuteilen. Ob Sie wohl diese Nachricht meint? Doch nein, diese Mitteilung käme nicht von Frau von Villefort.

 

Warum nicht?

 

Warum … ich weiß es nicht … doch es scheint mir, wenn sich Frau von Villefort auch nicht offen widersetzt, so ist sie doch nicht für diese Heirat eingenommen.

 

Ah! Valentine, ich glaube, ich werde Frau von Villefort anbeten.

 

Oh! nicht zu eilig, Maximilian, sagte Valentine mit einem traurigen Lächeln.

 

Wenn sie aber gegen diese Heirat aus irgend einem Grunde eingenommen ist, würde ihr Ohr nicht vielleicht für einen andern Antrag offen sein?

 

Glauben Sie dies nicht, Maximilian! Nicht die Ehesucher verwirft Frau von Villefort, sondern die Ehe.

 

Wie, die Ehe? Wenn sie die Ehe so sehr haßt, warum hat sie sich verheiratet?

 

Sie verstehen mich nicht, Maximilian. Als ich vor einem Jahre den Gedanken äußerte, mich in ein Kloster zurückzuziehen, nahm sie trotz der Bemerkungen, die sie dagegen machen zu müssen glaubte, meinen Vorschlag mit Freuden an, und ich bin fest überzeugt, auch mein Vater gab auf ihren Antrieb seine Einwilligung dazu; nur mein armer Großvater hielt mich zurück. Sie können sich nicht vorstellen, Maximilian, welcher Ausdruck in den Augen dieses armen Greises liegt, der nur mich allein in der Welt liebt und, Gott verzeihe mir, wenn dies eine Lästerung ist, nur von mir allein in der Welt geliebt wird. Wenn Sie wüßten, wie er mich anschaute, wieviel Vorwurf in diesem Blicke, wieviel Verzweiflung in diesen Tränen lag, die ohne Klagen, ohne Seufzer an seinen unbeweglichen Wangen herabrollten! Ah, Maximilian, ich fühlte etwas wie einen Gewissensbiß, warf mich ihm zu Füßen und rief: Verzeihung! Verzeihung! mein Vater, man mag mit mir machen, was man will, ich werde Sie nie verlassen. Dann schlug er die Augen zum Himmel auf! Maximilian, ich kann viel erdulden; dieser Blick meines guten, alten Großvaters hat mich zum voraus für das belohnt, was ich leiden werde.

 

Teure Valentine! Sie sind ein Engel.

 

Hören Sie weiter! Ich habe als Erbteil von meiner Mutter gegen 50 000 Franken Rente; mein Großvater und meine Großmutter, der Marquis und die Marquise von Saint-Meran, müssen mir ebensoviel hinterlassen; Herr Noirtier hat offenbar die Absicht, mich zu seiner einzigen Erbin einzusetzen. Daraus geht hervor, daß mein Bruder Eduard im Vergleiche mit mir, da er kein Vermögen von Frau von Villefort zu erwarten hat, arm ist. Frau von Villefort aber liebt dieses Kind, und hätte ich den Schleier genommen, so wäre mein ganzes Vermögen von meinem Vater, der alles von dem Marquis, der Marquise und mir erbte, ihrem Sohne zugekommen.

 

Oh, wie sonderbar ist eine solche Habgier bei einer jungen und hübschen Frau!

 

Bemerken Sie wohl, daß sie nicht für sich, sondern für ihren Sohn danach trachtet, und daß das, was Sie ihr als einen Fehler vorwerfen, aus dem Gesichtspunkte der mütterlichen Liebe betrachtet, fast eine Tugend ist.

 

Wie wäre es aber, Valentine, wenn Sie einen Teil Ihres Vermögens diesem Sohne abtreten wollten?

 

Aber wie einen solchen Vorschlag machen, und besonders einer Frau gegenüber, die beständig das Wort Uneigennützigkeit auf der Zunge führt?

 

Valentine, meine Liebe ist mir stets heilig geblieben, und wie jede heilige Sache, habe ich sie mit dem Schleier meiner Achtung bedeckt und in meinem Herzen eingeschlossen. Niemand in der Welt, nicht einmal meine Schwester, hat eine Ahnung von dieser Liebe, Valentine, erlauben Sie mir, mit einem Freunde über diese Liebe zu sprechen?

 

Valentine bebte und erwiderte: Mit einem Freunde? Oh, mein Gott! Maximilian, ich zittere, wenn ich Sie nur so reden höre! Mit einem Freunde, und wer ist denn dieser Freund?

 

Teure Freundin, Sie kennen ihn, er hat Ihrer Stiefmutter und ihrem Sohne das Leben gerettet.

 

Der Graf von Monte Christo? Oh! er kann nie mein Freund sein, denn er ist zu sehr der meiner Stiefmutter.

 

Der Graf der Freund Ihrer Stiefmutter, Valentine? Ich bin überzeugt, daß Sie sich täuschen, sagte Maximilian.

 

Oh! wenn Sie wüßten, nicht Eduard regiert mehr im Hause, sondern der Graf: hochgeschätzt von Frau von Villefort, die in ihm den Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse erblickt, bewundert von meinem Vater, der behauptet, er habe nie mit mehr Beredsamkeit erhabene Gedanken aussprechen hören, und vergöttert von Eduard, der ihm, trotz seiner Furcht vor seinen großen, schwarzen Augen, entgegenläuft, sobald er ihn kommen sieht, und ihm die Hand öffnet, wo er stets ein bewunderungswürdiges Spielzeug findet. Auf diese Art ist der Graf Monte Christo Herr in unserm Hause.

 

Gut, Valentine, wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, so müssen Sie bereits die Wirkungen seiner Gegenwart fühlen oder werden sie wenigstens bald fühlen. Er trifft Albert von Morcerf in Italien, um ihn den Händen von Räubern zu entreißen; er erblickt Frau Danglars, um ihr ein königliches Geschenk zu machen; Ihre Stiefmutter und Ihr Bruder fahren vor seiner Tür vorüber, damit sein Nubier ihnen das Leben rettet. Dieser Mann besitzt offenbar die Macht, auf die Ereignisse, auf die Menschen und auf die Dinge einen Einfluß zu üben. Ich sah nie einen einfacheren Geschmack in Verbindung mit größerer Pracht. Sein Lächeln ist so süß, wenn er es mir zuwendet, daß ich vergesse, wie bitter die andern sein Lächeln finden. Oh! sagen Sie mir, Valentine, hat er Ihnen so zugelächelt? Wenn er dies getan, so werden Sie glücklich sein.

 

Mir! rief das junge Mädchen; oh, mein Gott! Maximilian, er schaut mich nicht einmal an, oder er wendet vielmehr das Auge ab, wenn ich zufällig in seine Nähe komme. Nein, er ist nicht edelmütig, oder er besitzt nicht den scharfen Blick, der in der Tiefe der Herzen liest und den Sie mit Unrecht bei ihm voraussetzen. Besäße er diesen Blick, so würde er gesehen haben, daß ich unglücklich bin; wäre er edelmütig, so würde er seinen Einfluß zu meinem Schutze angewendet haben, und spielte er, wie Sie sagen, die Rolle der Sonne, so hätte sich mein Herz an einem ihrer Strahlen erwärmt. Sie behaupten, er sei Ihr Freund, Maximilian; ei, mein Gott! woher wissen Sie dies?

 

Es ist gut, Valentine, erwiderte Morel seufzend; sprechen wir nicht mehr davon, ich werde ihm nichts sagen!

 

Ach! mein Freund, ich betrübe Sie. Oh, warum kann ich Ihnen nicht die Hand drücken, um mir Verzeihung von Ihnen zu erbitten! Doch mir wäre nichts lieber, als wenn ich überzeugt würde; sagen Sie mir, was hat denn dieser Graf von Monte Christo für Sie getan?

 

Ich gestehe, Sie setzen mich sehr in Verlegenheit, Valentine, wenn Sie mich fragen, was er für mich getan habe; ich weiß wohl, es ist nichts Auffallendes. Auch entspringt meine Zuneigung für ihn rein dem Zuge des Herzens, und ich kann sie nicht verstandesgemäß begründen. Hat die Sonne etwas für mich getan? Nein; sie erwärmt mich, und ihr Licht läßt mich Sie erblicken. Hat dieser oder jener Wohlgeruch etwas für mich getan? Nein; sein Duft erquickt auf eine angenehme Weise meine Sinne; ich kann nichts weiter sagen, wenn man mich fragt, warum ich diesen Wohlgeruch rühme. Meine Freundschaft für den Grafen ist unerklärlich, wie die seinige für mich. Eine geheime Stimme offenbart mir, daß diese unvorhergesehene und gegenseitige Freundschaft mehr als Zufall ist. Ich finde in seinen einfachsten Handlungen, in seinen geheimsten Gedanken einen Zusammenhang mit meinen Handlungen und meinen Gedanken. Sie werden abermals über mich lachen, Valentine; aber seitdem ich diesen Mann kenne, ist mir der törichte Gedanke gekommen, alles, was mir Gutes begegne, entströme ihm. Und dennoch habe ich dreißig Jahre gelebt, ohne dieses Beschützers zu bedürfen … nicht wahr? Gleichviel, hören Sie ein Beispiel: Er hat mich auf Sonnabend zum Mittagessen eingeladen, das ist bei unserem Verhältnis zu einander ganz natürlich, nicht wahr? Nun, was habe ich seitdem erfahren? Ihr Vater ist zu diesem Mittagessen eingeladen, Ihre Mutter wird kommen. Ich werde mit ihnen zusammentreffen, und wer weiß, was in der Zukunft hieraus entspringt? Das sind scheinbar ganz einfache Umstände. Ich aber sage mir, der Graf, dieser sonderbare Mann, der alles errät, habe mich mit Herrn und Frau von Villefort zusammenbringen wollen, und ich suche bisweilen, das schwöre ich Ihnen, in seinen Augen zu lesen, ob er nicht meine Liebe erraten hat.

 

Guter Freund, entgegnete Valentine, ich müßte Sie für einen Träumer und Schwärmer halten und an Ihrem Verstande zweifeln, wenn ich von Ihnen nur solche Bemerkungen hörte. Wie, Sie sehen in diesem Zusammentreffen etwas anderes als einen Zufall? Bedenken Sie doch! Mein Vater, der nie ausgeht, war zehnmal auf dem Punkte, diese Einladung abzuschlagen, trotz der Bitte der Frau von Villefort, die im Gegenteil vor Verlangen brennt, den wunderbaren Nabob in seinem Hause zu sehen, und nur mit großer Mühe hat sie es dahin gebracht, daß er sie begleite. Nein, nein, glauben Sie mir, Maximilian, abgesehen von Ihnen, habe ich von niemand auf dieser Welt Hilfe zu erwarten, als von meinem Großvater, einem Leichnam.

 

Ich fühle, daß Sie recht haben, Valentine, und daß die Logik auf Ihrer Seite ist! Doch Ihre sanfte, stets für mich so mächtige Stimme überzeugt mich heute nicht.

 

Die Ihrige mich auch nicht, und ich gestehe, wenn Sie keinen weiteren Grund anzuführen wissen …

 

Ich weiß einen, sagte Maximilian zögernd; doch in der Tat, Valentine, ich muß selbst bekennen, er ist noch törichter als der erste.

 

Desto schlimmer, versetzte lächelnd Valentine.

 

Nun, so schauen Sie durch die Bretter, und sehen Sie dort an einem Baume das neue Pferd, mit dem ich gekommen bin.

 

Oh! ein herrliches Tier! rief Valentine, warum haben Sie es nicht zum Gitter geführt? Ich hätte mit ihm gesprochen, und es würde mich verstanden haben.

 

Es ist in der Tat ein sehr wertvolles Tier; Sie wissen aber, daß mein Vermögen beschränkt ist, Valentine, und daß ich das bin, was man einen vernünftigen Menschen nennt. Nun, ich hatte diese herrliche Medea, so nenne ich sie, bei einem Pferdehändler gesehen; ich fragte nach dem Preise; man antwortete mir: 4500 Franken. Ich mußte mich, wie Sie begreifen, enthalten, sie länger schön zu finden, und entfernte mich mit schwerem Herzen, denn das Pferd hatte mich zärtlich angeschaut, mich mit seinem Kopfe geliebkost und, als ich auf ihm saß, auf die anziehendste Weise unter mir getanzt. An demselben Abend sah ich einige Freunde bei mir, Herrn Debray und fünf bis sechs andere Taugenichtse, die Sie nicht einmal dem Namen nach kennen. Man schlug ein Hazardspiel vor; ich spiele nie, denn ich bin nicht reich genug, um verlieren zu können, und nicht arm genug, um einen Gewinn zu wünschen. Doch Sie begreifen, ich war Wirt und konnte nichts anderes tun, als Karten holen lassen. Als man sich zur Tafel setzte, kam Herr von Monte Christo. Man spielte, und ich gewann; kaum wage ich es zu gestehen, Valentine, ich gewann fünftausend Franken. Wir trennten uns um Mitternacht. Ich konnte mich nicht halten, nahm einen Wagen und ließ mich zu meinem Pferdehändler führen. Ich stürzte durch die Tür, trat in den Stall und schaute nach der Raufe. Oh Glück! Medea knaupelte an ihrem Haber. Ich ergreife einen Sattel, befestige ihn selbst auf dem Rücken, lege den Zaum an, und Medea zeigt sich mit meinem Tun durchaus einverstanden. Dann händige ich dem erstaunten Kaufmann die 4500 Franken ein und reite die ganze Nacht auf den Champs-Elysées spazieren. Ich sah Licht an den Fenstern des Grafen, und es kam mir sogar vor, als erblickte ich seinen Schatten hinter den Vorhängen. Nun wollte ich schwören, Valentine, der Graf wußte, daß ich dieses Pferd wünschte, und verlor absichtlich, um mich gewinnen zu lassen.

 

Mein lieber Maximilian, Sie sind in der Tat zu phantastisch … und werden mich nicht lange lieben … ein Mann, der so poetische Anschauungen hat, wird eine eintönige Liebe wie die unsrige bald satt bekommen. Doch hören Sie, großer Gott, man ruft mich.

 

Oh! Valentine, durch die kleine Öffnung des Verschlags Ihren kleinsten Finger … daß ich ihn küssen kann.

 

Maximilian, wir sagten, wir wollten füreinander nichts als zwei Stimmen, zwei Schatten bleiben.

 

Nach Ihrem Belieben, Valentine.

 

Werden Sie glücklich sein, wenn ich tue, was Sie wollen?

 

Ganz gewiß!

 

Valentine stieg auf eine Bank und streckte, nicht ihren kleinen Finger durch die Öffnung, sondern ihre ganze Hand über den Verschlag.

 

Maximilian stieß einen Schrei aus, sprang auf einen Stein, ergriff die teure Hand und drückte seine glühenden Lippen darauf; doch sogleich entschlüpfte die Hand wieder der seinigen, und der junge Mann hörte Valentine, die vielleicht über die Empfindung erschrocken war, die sich ihrer bemächtigt hatte, rasch entfliehen.

 

Noirtier von Villefort.

 

Noirtier von Villefort.

 

Während der eben mitgeteilten Unterredung zwischen Valentine und Maximilian trug sich im Hause des Staatsanwalts folgendes zu. Herr von Villefort trat mit Frau von Villefort bei dem Vater des ersteren ein. Beide setzten sich an die Seite des Greises, nachdem sie ihn begrüßt und Barrois, einen alten Diener, der schon 25 Jahre in seinem Dienste stand, weggeschickt hatten.

 

Herr Noirtier saß in seinem großen Rollstuhle, auf den man ihn jeden Morgen setzte, einem Spiegel gegenüber, in dem das ganze Zimmer sichtbar war und der dem Greise, ohne daß er eine Bewegung machte, zeigte, wer in sein Zimmer eintrat, wer es verließ und was man um ihn her machte. Unbeweglich wie ein Leichnam, schaute Herr Noirtier mit gescheiten, lebhaften Augen seine Kinder an, deren umständliche Begrüßung ihm irgend einen feierlichen und unerwarteten Schritt verkündigte.

 

Das Gesicht und das Gehör waren noch die einzigen Sinne, die wie zwei Funken dieses bereits zu drei Vierteln dem Grabe angehörige menschliche Gebilde belebten; und von diesen zwei Sinnen vermochte nur einer nach außen das innere Leben des starren Körpers zu enthüllen, das Auge. Und dieses Auge, welches das innere Leben offenbarte, war einem von jenen fernen Lichtern ähnlich, die in finsterer Nacht dem in der Wüste verirrten Reisenden anzeigen, daß es noch ein Wesen gibt, welches in dieser Stille und in dieser Dunkelheit wacht.

 

In dem schwarzen Auge des alten Noirtier, das eine schwarze Braue überragte, während all sein Haar, das er lang und auf die Schultern herabhängend trug, weiß war, – in diesem Auge waren die ganze Tätigkeit, die ganze Gewandtheit, die ganze Kraft, der ganze Verstand, die einst in diesem Körper und in diesem Geiste weilten, nunmehr konzentriert. Fehlten auch die Bewegungen des Armes, die Gebärden des Antlitzes, der Ton der Stimme, die Haltung des Körpers, dieses mächtige Auge ersetzte alles; er befahl mit den Augen, er dankte mit den Augen; es war ein Leichnam mit lebendigen Augen, und nichts war ergreifender anzuschauen, als wenn sich zuweilen in diesem Marmorgesichte ein Zorn entzündete oder eine Freude glänzte. Nur drei Personen verstanden die Sprache des armen Gelähmten: Villefort, Valentine und der alte Diener. Da jedoch Villefort nur selten und eigentlich nur, wenn er es nicht umgehen konnte, seinen Vater sah, so beruhte das ganze Glück des Greises auf seiner Enkelin, und Valentine war durch Ergebenheit, Liebe und Geduld dahin gelangt, daß sie alle Gedanken Noirtiers von seinen Augen ablas. Auf seine stumme, für jeden andern unverständliche Sprache antwortete sie mit ihrer ganzen Stimme, mit ihrer ganzen Physiognomie, mit ihrer ganzen Seele, so daß sogar lebensvolle Gespräche zwischen dem Mädchen und dem Mann mit dem ungeheuren Wissen, dem unerhörten Scharfsinne und dem mächtigen Willen stattfinden konnten.

 

Valentine hatte also das seltsame Problem gelöst, die Gedanken des Greises zu verstehen und ihm ihre Gedanken verständlich zu machen; und infolgedessen kam es nur selten vor, daß sie bei den gewöhnlichen Vorkommnissen des Lebens nicht genau das Verlangen dieser lebendigen Seele oder das Bedürfnis dieses halb unempfindlichen Körpers erraten hätte. Der Diener Barrois kannte alle Gewohnheiten seines Herrn, und Noirtier brauchte nur ausnahmsweise etwas von ihm zu verlangen.

 

Villefort bedurfte keiner Unterstützung, um mit seinem Vater das seltsame Gespräch anzuknüpfen, das er mit ihm zu führen gedachte, denn auch er kannte, wie gesagt, vollkommen das Wörterbuch des Greises, und wenn er sich desselben nicht häufiger bediente, so geschah dies aus Überdruß oder Gleichgültigkeit. Er ließ also vorher Valentine in den Garten hinabgehen, entfernte Barrois, setzte sich rechts von seinem Vater, während Frau von Villefort ihren Platz zu seiner Linken nahm, und begann: Mein Herr, wundern Sie sich nicht, daß Valentine nicht mit uns heraufgekommen ist, und daß ich Barrois entfernte, denn die Unterredung, die wir untereinander haben werden, kann nicht in Gegenwart eines jungen Mädchens oder eines Dieners stattfinden; Frau von Villefort und ich haben Ihnen eine Mitteilung zu machen.

 

Noirtiers Gesicht blieb unempfindlich, während Villeforts Auge bis in die tiefste Seele des Greises dringen zu wollen schien.

 

Diese Mitteilung, fuhr der Staatsanwalt mit dem eisigen Tone fort, der nie einen Widerspruch zuzulassen schien, diese Mitteilung, Frau von Villefort und ich sind fest davon überzeugt, wird Sie erfreuen.

 

Das Auge des Greises blieb teilnahmlos, er hörte nur.

 

Mein Herr, sagte Villefort, wir verheiraten Valentine.

 

Ein Gesicht von Wachs wäre bei dieser Kunde nicht kälter geblieben, als das Gesicht des Greises.

 

Die Heirat wird binnen drei Monaten stattfinden, fügte Villefort hinzu.

 

Das Auge des Greises blieb immer gleich leblos.

 

Frau von Villefort nahm ebenfalls das Wort und sagte hastig:

 

Wir dachten, diese Mitteilung hätte Interesse für Sie, mein Herr; überdies schien Valentine sich stets Ihrer Zuneigung zu erfreuen; wir haben Ihnen also nur noch den Namen des für sie bestimmten jungen Mannes zu sagen. Es ist eine von den ehrenvollsten Partien, auf die Valentine Anspruch machen kann. Der junge Mann besitzt Vermögen, einen schönen Namen, und sein Benehmen und sein Geschmack bieten die vollkommene Gewähr, daß sie glücklich sein wird. Sein Name kann Ihnen nicht unbekannt sein: es handelt sich um Franz von Quesnel, Baron d’Epinay.

 

Während der kurzen Rede seiner Frau heftete Villefort einen noch aufmerksameren Blick als zuvor auf den Greis. Sobald Frau von Villefort den Namen Franz aussprach, bebte Noirtiers Auge, das sein Sohn so gut kannte, und ließ einen Blitz hervorleuchten.

 

Der Staatsanwalt, der mit der früheren politischen Feindschaft, die zwischen seinem Vater und Franzens Vater bestanden hatte, vertraut war, begriff diesen Feuerblick und diese Aufregung; doch er ließ beides scheinbar unbemerkt vorübergehen und nahm die Rede da wieder auf, wo seine Frau abgebrochen hatte.

 

Mein Herr, sagte er, Sie begreifen, es ist von Wichtigkeit, daß Valentine, die nunmehr ihrem neunzehnten Jahre nahe steht, ihre häusliche Versorgung findet. Nichtsdestoweniger haben wir Sie bei unseren Konferenzen nicht vergessen, und wir haben uns zum voraus vergewissert, daß Valentines Gatte einwilligen würde, wenn nicht bei uns zu leben, was für ein junges Ehepaar vielleicht lästig wäre, wenigstens Sie, den Valentine ganz besonders liebt, und der die gleiche Zuneigung für sie zu besitzen scheint, bei sich aufzunehmen. Dann würden Sie keine von Ihren Gewohnheiten aufzugeben brauchen und statt eines zwei Kinder haben, die über Ihre alten Tage wachten.

 

Noirtiers Augenblitz wurde gleichsam blutig. Es ging offenbar etwas Furchtbares im Innern des Greises vor, sicherlich stieg ihm der Schrei des Schmerzes und der Wut in die Kehle und erstickte ihn beinahe, da er nicht ausbrechen konnte, denn sein Gesicht wurde purpurrot, und seine Lippen erbleichten.

 

Villefort öffnete ruhig ein Fenster und sagte: Es ist sehr warm hier, die Wärme bekommt Herrn Noirtier schlecht.

 

Dann kam er zurück, jedoch ohne sich zu setzen.

 

Die erwähnte Heirat, fügte Frau von Villefort hinzu, ist Herrn d’Epinay und seiner Familie sehr angenehm; übrigens besteht diese Familie nur aus einem Oheim und einer Tante. Seine Mutter starb in dem Augenblick, wo sie ihn zur Welt brachte, und da sein Vater 1815, das heißt, als das Kind kaum zwei Jahre alt war, ermordet wurde, so braucht er nur dem eigenen Willen zu folgen.

 

Ein geheimnisvoller Mord, dessen Urheber unbekannt geblieben sind, obgleich der Verdacht sich auf verschiedene lenkte, sagte Villefort.

 

Noirtier machte eine solche Anstrengung, daß seine Lippen sich wie zu einem Lächeln zusammenzogen.

 

Die wahren Schuldigen aber, fuhr Villefort fort, diejenigen, die da wissen, daß sie das Verbrechen begangen haben; diejenigen, welche die Gerechtigkeit der Menschen während ihres Lebens und die Gerechtigkeit Gottes nach ihrem Tode treffen kann, sollten glücklich sein, wenn sie sich an unserem Platze befänden und Herrn Franz d’Epinay eine Tochter bieten könnten, um auch den Schein des Verdachtes zu ersticken.

 

Noirtier hatte sich mit einer Gewalt beruhigt, die man bei dieser gebrochenen Organisation nicht hätte erwarten sollen.

 

Ja, ich begreife, antwortete er Villefort mit einem Blicke, der zugleich tiefe Verachtung und sittlichen Zorn ausdrückte.

 

Villefort erwiderte diesen Blick, dessen Inhalt er gelesen hatte, mit einem leichten Achselzucken. Dann bedeutete er seiner Frau durch ein Zeichen, sie möge aufstehen.

 

Mein Herr, genehmigen Sie nun den Ausdruck meiner Achtung, sagte Frau von Villefort. Erlauben Sie, daß Eduard Ihnen seine Ehrfurcht bezeugt?

 

 

Verabredetermaßen drückte der Greis durch ein Schließen der Augen seine Billigung, seine Weigerung durch ein wiederholtes Blinzeln, und irgend einen Wunsch dadurch aus, daß er seine Augen zum Himmel aufschlug. Verlangte er nach Valentine, so schloß er nur das rechte Auge, verlangte er nach Barrois, so schloß er das linke Auge.

 

Auf Frau von Villeforts Frage blinzelte er heftig.

 

Als Frau von Villefort den Vorschlag mit einer offenbaren Weigerung aufgenommen sah, kniff sie die Lippen zusammen.

 

Ich werde Ihnen also Valentine schicken? sagte sie.

 

Ja, antwortete der Greis, rasch die Augen schließend.

 

Herr und Frau von Villefort grüßten und entfernten sich mit dem Befehle, Valentine zu rufen, der indessen schon gesagt worden war, sie sollte sich im Verlaufe des Tages bei Herrn Noirtier einfinden.

 

Kaum hatten sich die Eltern entfernt, so trat Valentine, noch ganz rosig vor Aufregung, bei dem Greise ein. Ein Blick sagte ihr, wie sehr ihr Großvater litt, und wieviel er ihr zu sagen hatte.

 

Ah, guter Papa, rief sie, was ist denn geschehen? Nicht wahr, man hat dich geärgert, und du bist aufgebracht?

 

Ja, erwiderte er, die Augen schließend.

 

Gegen wen? Gegen meinen Vater? Nein. Gegen Frau von Villefort? Nein. Gegen mich?

 

Der Greis machte ein bejahendes Zeichen.

 

Gegen mich! versetzte Valentine erstaunt.

 

Der Greis wiederholte das Zeichen.

 

Was habe ich dir denn getan, lieber, guter Papa? rief Valentine. – Keine Antwort; sie fuhr fort: Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen, man hat dir irgend etwas über mich gesagt.

 

Ja, sagte mit Heftigkeit der Blick des Greises.

 

Vergebens suche ich zu erraten. Mein Gott! ich schwöre dir, guter Vater … Ah! nicht wahr, Herr und Frau Villefort gingen soeben von hier weg?

 

Ja.

 

Und sie sind es, welche dir Dinge gesagt haben, die dich ärgern? Was ist es denn? Mein Gott! Was konnten sie dir sagen? Und sie suchte, endlich sagte sie, die Stimme dämpfend und sich dem Greise nähernd. Oh! ich habe es, sie sprachen vielleicht von meiner Verheiratung?

 

Ja, antwortete der zornige Blick.

 

Ich begreife, du grollst mir wegen meines Stillschweigens. Oh! siehst du, sie hatten mir so oft eingeschärft, dir nichts davon zu sagen! Sie hätten mir selbst nichts davon gesagt, würde ich es nicht durch einen Zufall selbst erfahren haben; deshalb war ich so zurückhaltend gegen dich. Vergib mir, guter Papa Noirtier!

 

Wieder starr und ausdruckslos geworden, schien der Blick zu antworten: Es ist nicht allein dein Stillschweigen, was mich betrübt.

 

Was ist es denn? fragte das junge Mädchen; du glaubst vielleicht, ich würde dich verlassen, guter Vater, meine Heirat könnte mich vergeßlich machen?

 

Nein, erwiderte der Greis.

 

Warum bist du dann ärgerlich? Die Augen des Greises nahmen einen Ausdruck von unendlicher Sanftmut an.

 

Ja, ich begreife, sagte Valentine, weil du mich liebst.

 

Der Greis machte ein bejahendes Zeichen.

 

Und du fürchtest, ich könnte unglücklich werden?

 

Ja.

 

Du liebst Herrn Franz nicht?

 

Seine Augen wiederholten drei- oder viermal: Nein.

 

Dann bist du wohl sehr bekümmert, lieber Vater?

 

Ja.

 

Wohl, so höre, sagte Valentine, vor Noirtier niederknieend und ihre Arme um seinen Hals schlingend. Ich bin auch sehr bekümmert, denn ich liebe Herrn Franz d’Epinay ebenfalls nicht.

 

Ein Blitz der Freude erleuchtete die Augen des Greises.

 

Als ich mich ins Kloster zurückziehen wollte, warst du so sehr aufgebracht gegen mich.

 

Eine Träne befeuchtete das trockene Augenlid Noirtiers.

 

Nun wohl, fuhr Valentine fort, ich dachte hieran, um dieser Heirat zu entgehen, die mich in Verzweiflung bringt.

 

Noirtiers Atem wurde keuchend.

 

Diese Heirat macht dir also großen Kummer, guter Vater? Oh, mein Gott! wenn du mir beistehen könntest, wenn wir beide diesen Plan zu vereiteln vermöchten! Aber du bist ohne Kraft gegen sie, du, dessen Geist doch so lebhaft, dessen Wille noch so fest ist; wenn es sich aber darum handelt, zu kämpfen, so bist du schwach und sogar noch schwächer als ich. Ach! du wärest in den Tagen deiner Kraft und deiner Gesundheit ein so mächtiger Beschützer für mich gewesen; aber heute vermagst du nur noch mich zu begreifen und dich mit mir zu freuen oder zu betrüben; es ist dies ein letztes Glück, das mir Gott mit den andern zu nehmen vergessen hat.

 

In Noirtiers Augen lag ein solcher Ausdruck von Kraft und Tiefe, daß das junge Mädchen darin die Worte zu lesen glaubte: Du täuschest dich, ich vermag noch viel für dich.

 

Du vermagst noch etwas für mich, lieber, guter Papa?

 

Ja.

 

Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf. Dies war das zwischen ihm und Valentine verabredete Zeichen, wenn er etwas wünschte.

 

Was willst du, lieber, guter Papa?

 

Valentine suchte einen Augenblick in ihrem Geiste, drückte laut ihre Gedanken aus, wie sie ihr hintereinander kamen, und als sie sah, daß der Greis auf alles, was sie sagen mochte, beständig: Nein! antwortete, rief sie: Wohl, wir müssen zu den großen Mitteln greifen, da ich so dumm bin.

 

Dann sagte sie hintereinander alle Buchstaben des Alphabets her vom A bis zum N, während ihr Lächeln das Auge des Gelähmten befragte; beim N machte Herr Noirtier ein bejahendes Zeichen.

 

Ah! sagte Valentine, die Sache, die du begehrst, fängt mit dem Buchstaben N an; laß einmal sehen, na, ne, ni, no …

 

Ja, ja, ja, machte der Greis.

 

Ah, es ist no.

 

Valentine holte ein Wörterbuch, das sie vor Noirtier legte; sie öffnete es, und während das Auge des Greises auf die Blätter geheftet war, lief ihr Finger rasch auf den Seiten herab.

 

Die Übung seit den sechs Jahren, da Noirtier in seinen betrübten Zustand verfallen, machten ihr die Proben so leicht, daß sie so rasch den Gedanken des Greises erriet, als hätte dieser selbst in dem Wörterbuch suchen können.

 

Bei dem Worte Notar gab ihr Noirtier ein Zeichen, einzuhalten.

 

Notar? sagte sie; du willst einen Notar, guter Papa?

 

Der Greis machte ein Zeichen, daß er wirklich einen Notar verlange.

 

Darf es mein Vater wissen?

 

Ja.

 

Dann wird man dir ihn sogleich holen!

 

Valentine lief nach der Glocke, rief einen Bedienten und bat ihn, Herrn oder Frau von Villefort zu dem Großvater zu bitten.

 

Bist du zufrieden? sagte Valentine und lächelte ihrem Großvater zu, wie eine Mutter ihrem Kinde.

 

Herr von Villefort trat, von Barrois gerufen, wieder ein.

 

Was wollen Sie, mein Herr? fragte er den Gelähmten.

 

Mein Großvater verlangt nach einem Notar, sagte Valentine.

 

Bei diesem seltsamen und so unerwarteten Verlangen wechselte Herr von Villefort einen Blick mit dem Gelähmten.

 

Ja, machte der letztere mit einer Festigkeit, die ausdrücken wollte, er sei mit Hilfe von Valentine und seinem alten Diener, der nun wußte, was er haben wollte, bereit, den Kampf aufzunehmen.

 

Warum? fragte Villefort.

 

Der Blick des Gelähmten blieb unbeweglich und folglich stumm, was besagen wollte: Ich beharre auf meinem Willen.

 

Um uns einen schlimmen Streich zu spielen? versetzte Villefort, lohnt sich das der Mühe?

 

Wenn der gnädige Herr einen Notar haben will, so bedarf er seiner offenbar, sagte Barrois mit der, alten Bedienten eigentümlichen Hartnäckigkeit. Also werde ich einen Notar holen.

 

Barrois erkannte keinen andern Herrn an, als Noirtier, und gab nie zu, daß seinem Willen in irgend einer Beziehung widersprochen wurde.

 

Ja, ich will einen Notar, machte der Greis und schloß die Augen mit einer Miene des Trotzes, und als wollte er sagen: Wir wollen doch sehen, ob man es wagt, mir zu verweigern, was ich verlange.

 

Es wird ein Notar kommen, da Sie es durchaus so haben wollen, mein Herr; doch ich werde mich und Sie bei ihm entschuldigen, denn die Szene wird sehr lächerlich sein.

 

In dem Augenblick, wo Barrois wegging, schaute Noirtier Valentine mit einer herausfordernden Teilnahme an, die mehr sagte als Worte. Das Mädchen begriff diesen Blick und Villefort ebenfalls, denn seine Stirn verdüsterte sich, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er nahm einen Stuhl, setzte sich in dem Zimmer des Gelähmten fest und wartete.

 

Noirtier ließ ihn mit vollkommener Gleichgültigkeit gewähren, forderte aber mit einem kurzen Seitenblick Valentine auf, sich durchaus nicht zu beunruhigen und ebenfalls zu bleiben.

 

Drei Viertelstunden nachher kam der Diener mit dem Notar zurück.

 

Mein Herr, sagte Villefort nach den ersten Begrüßungen, Sie sind von Herrn Noirtier von Villefort hierher berufen worden; eine allgemeine Lähmung hat ihm den Gebrauch der Glieder und der Stimme geraubt, und uns allein gelingt es mit großer Mühe, einige Fetzen seiner Gedanken aufzufassen.

 

Noirtier ließ mit dem Auge eine so ernste und gebieterische Mahnung an Valentine ergehen, daß Sie auf der Stelle hinzufügte: Ich, mein Herr, verstehe alles, was mein Großvater sagen will.

 

Es ist wahr, bestätigte Barrois, alles, durchaus alles, wie ich dem Herrn unterwegs sagte.

 

Erlauben Sie mir, mein Herr, und Sie, mein Fräulein, sagte der Notar, sich an Villefort und Valentine wendend, es ist dies einer von den Fällen, wo der öffentliche Beamte nicht unbedachtsam zu Werke gehen darf, ohne eine gefährliche Verantwortlichkeit zu übernehmen. Wenn ein Akt gültig sein soll, so muß der Notar notwendigerweise vor allem davon überzeugt sein, daß er den Willen dessen, der ihm denselben diktiert, genau aufgefaßt und getreu ausgelegt hat. Ich kann aber unmöglich der Billigung oder der Mißbilligung eines Klienten, der nicht spricht, sicher sein, und da mir der Gegenstand seiner Wünsche oder seines Widerstrebens infolge seiner Stummheit nicht klar dargetan werden kann, so ist meine Tätigkeit hier mehr als unnütz und wäre sogar ungesetzlich ausgeübt.

 

Der Notar tat einen Schritt, um sich zu entfernen. Ein unmerkliches Lächeln des Triumphes zeigte sich auf den Lippen des Staatsanwaltes. Noirtier aber schaute Valentine mit einem so schmerzlichen Ausdrucke an, daß sie sich dem Notar in den Weg stellte.

 

Mein Herr, sagte sie, die Sprache, welche ich mit meinem Großvater spreche, läßt sich sehr leicht erlernen; und ich will sie Ihnen in wenigen Minuten begreiflich machen. Was brauchen Sie, mein Herr, um zur vollkommenen Beruhigung Ihres Gewissens zu gelangen?

 

Sie fragen, was zur Gültigkeit unserer Akte nötig sei? erwiderte der Notar; die Gewißheit der Billigung oder Mißbilligung. Wenn man testieren will, kann man zwar körperlich krank, aber geistig muß man gesund sein.

 

Wohl, mein Herr, mit zwei Zeichen werden Sie die Gewißheit erlangen, daß sich mein Großvater nie mehr, als jetzt, der Fülle seines Verstandes erfreut. Der Stimme und der Beweglichkeit der Gliedmaßen beraubt, schließt Herr Noirtier die Augen, wenn er ja sagen will, und blinzelt wiederholt, wenn er nein sagen will. Sie wissen nun genug, um mit Herrn Noirtier zu sprechen; versuchen Sie es!

 

Der Blick, den der Greis Valentine zuwarf, war so voll Zärtlichkeit und Dankbarkeit, daß ihn selbst der Notar begriff.

 

Sie haben gehört und verstanden, mein Herr, was Ihre Enkelin soeben sagte? fragte der Notar.

 

Noirtier schloß sacht die Augen und öffnete sie dann bald wieder.

 

Und Sie billigen, was sie sagte, nämlich, daß die von ihr angegebenen Zeichen wirklich die sind, mit deren Hilfe Sie Ihre Gedanken begreiflich machen?

 

Ja, machte der Greis.

 

Sie ließen mich rufen, um Ihr Testament zu machen?

 

Ja.

 

Und ich soll mich nicht entfernen, ohne dieses Testament gemacht zu haben?

 

Der Gelähmte blinzelte lebhaft und wiederholt mit den Augen.

 

Begreifen Sie nun, fragte das Mädchen, und ist Ihr Gewissen beruhigt?

 

Doch ehe der Notar antworten konnte, zog ihn Villefort beiseite und sagte zu ihm: Mein Herr, glauben Sie, daß ein Mensch ungestraft einen so furchtbaren körperlichen Schlag, wie ihn Herr Noirtier von Villefort erfahren hat, ertragen könne, ohne daß sein Geist ebenfalls bedenklich angegriffen sein muß.

 

Das beunruhigt mich nicht so sehr, Herr von Villefort, antwortete der Notar, aber ich frage mich, wie wir dazu gelangen, die Gedanken zu erraten, um Antworten hervorzurufen.

 

Sie sehen also, daß es unmöglich ist, sagte Villefort.

 

Valentine und der Greis hörten diese Unterredung mit an. Noirtier heftete seinen Blick so starr und fest auf Valentine, daß er offenbar eine Erwiderung veranlassen wollte.

 

Mein Herr, sagte sie, lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen! So schwierig es auch ist oder vielmehr scheinen mag, die Gedanken meines Großvaters zu entdecken, so werde ich sie Ihnen doch in einer Weise offenbaren, die jeden Zweifel in dieser Hinsicht benehmen muß. Seit sechs Jahren bin ich bei Herrn von Noirtier, und er mag selbst sagen, ob im Verlauf dieser sechs Jahre einer von seinen Wünschen, weil er ihn mir nicht hätte verständlich machen können, in seinem Herzen begraben geblieben ist.

 

Nein, bezeichnete der Greis.

 

Versuchen wir es! sagte der Notar. Sie nehmen das Fräulein zu Ihrem Dolmetscher an?

 

Der Gelähmte machte ein bejahendes Zeichen.

 

Wohl; was wünschen Sie, mein Herr, und welcher Akt soll vorgenommen werden?

 

Valentins! nannte alle Buchstaben des Alphabets bis zum Buchstaben T.

 

Bei dem T hielt Noirtiers beredter Blick an.

 

Der Herr verlangt den Buchsraben T, sagte der Notar; das ist offenbar.

 

Valentine nahm nun das Wörterbuch und blätterte vor den Augen des aufmerksamen Notars. Testament bezeichnete bald ihr Finger, durch Noirtiers Blick festgehalten.

 

Testament! rief der Notar, die Sache ist klar, der Herr will testieren.

 

Ja, machte Noirtier wiederholt.

 

Mein Herr, das ist wunderbar, Sie müssen es selbst gestehen, sagte der Notar erstaunt zu Villefort.

 

In der Tat, versetzte dieser, und noch wunderbarer wäre das Testament; denn ich kann nicht denken, daß Sie die Bestimmungen Wort für Wort ohne die geistreiche Mithilfe meiner Tochter zu Papiere bringen wollen. Valentine ist aber etwas zu sehr bei diesem Testamente interessiert, um als eine entsprechende Dolmetscherin des dunkeln Willens des Herrn Noirtier von Villefort gelten zu können.

 

Nein, nein, nein! machte der Gelähmte.

 

Wie! entgegnete Herr von Villefort, Valentine ist nicht interessiert bei Ihrem Testament?

 

Nein, bezeichnete Noirtier.

 

Mein Herr, sagte der Notar, der, entzückt über ein solches Erlebnis, in der Gesellschaft die einzelnen Umstände dieser malerischen Episode wiederzuerzählen gedachte, – mein Herr, nichts scheint mir jetzt leichter als das, was ich soeben noch für etwas Unmögliches hielt, und dieses Testament wird ganz einfach ein sogenanntes mystisches Testament sein, das heißt von dem Gesetze vorhergesehen und als rechtsgültig anerkannt, vorausgesetzt, daß es in Gegenwart von sieben Zeugen vorgelesen, von dem Testator in ihrer Anwesenheit gebilligt und durch den Notar, ebenfalls in ihrer Anwesenheit, geschlossen wird. Was die Zeit betrifft, so wird es nicht länger dauern, als ein gewöhnliches Testament. Vor allem kommen die ehrwürdigen Formeln in Betracht, die sich immer gleich bleiben, und was die Einzelheiten betrifft, so werden diese sich zum größten Teil nach Lage der Sache und mit Ihrer Hilfe, der Sie die Geschäfte für den Erblasser besorgt haben, von selbst ergeben. Damit übrigens der Akt unangreifbar bleibt, werden wir ihm die vollständige Rechtsgültigkeit geben; einer von meinen Kollegen wird mir als Gehilfe dienen und gegen die Gewohnheit dem Diktieren beiwohnen. Sind Sie zufrieden, mein Herr? fügte der Notar, sich an den Greis wendend, hinzu.

 

Ja, erwiderte Noirtier, strahlend vor Freude, daß man ihn begriff.

 

Was hat er nur vor? fragte sich Villefort, dem seine hohe Stellung so viel Zurückhaltung aufnötigte, während er nicht zu erraten vermochte, worauf sein Vater abzielte.

 

Das Testament.

 

Das Testament.

 

Nach einer Viertelstunde war die ganze Familie im Zimmer des Gelähmten versammelt, und der zweite Notar hatte sich ebenfalls eingefunden.

 

Mit wenigen Worten verständigten sich die beiden Beamten. Man las Noirtier eine allgemeine herkömmliche Testamentsformel vor; dann sagte der erste Notar, sich nach dem Greise umwendend, um gleichsam die Untersuchung seines Verstandes zu beginnen: Wenn man sein Testament macht, mein Herr, so geschieht es zu Gunsten oder zum Nachteil irgend einer Person.

 

Ja, bezeichnete Noirtier.

 

Haben Sie einen Gedanken, wie hoch sich Ihr Vermögen belaufen mag?

 

Ja.

 

Ich will Ihnen, aufwärts gehend, verschiedene Zahlen nennen; Sie werden mich anhalten, wenn ich diejenige erreicht habe, welche Sie als die Ihrige betrachten.

 

Ja.

 

Es war ein eigentümlich feierliches und ergreifendes Schauspiel, bei dem der Kampf des Geistes gegen die Materie auf das packendste in Erscheinung trat.

 

Die Anwesenden schlossen einen Kreis um Noirtier; der zweite Notar saß an einem Tische, bereit zu schreiben; der erste stand vor ihm und fragte: Nicht wahr, Ihr Vermögen übersteigt 300 000 Franken?

 

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

 

Besitzen Sie 400 000 Franken? fragte der Notar.

 

Noirtier blieb unbeweglich. 600 000? 700 000? 900 000?

 

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

 

In unbeweglichen Gütern? fragte der Notar.

 

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

 

In Renteneinschreibungen?

 

Noirtier machte ein bejahendes Zeichen.

 

Diese Einschreibungen sind in Ihren Händen?

 

Auf einen Blick Noirtiers an Barrois ging der alte Diener hinaus und kehrte einen Augenblick nachher mit einer kleinen Kassette zurück.

 

Man öffnete die Kassette und fand für 900 000 Franken Einschreibungen.

 

Der erste Notar überreichte die Einschreibungen eine nach der andern seinem Kollegen; die Sache stimmte.

 

Es ist so, der Verstand des Erblassers erfreut sich offenbar noch seiner vollkommenen Kraft, sagte der Notar. Dann fuhr er, an den Gelähmten sich wendend, fort: Sie besitzen also in Kapitalien 900 000 Franken. Wem wollen Sie dieses Vermögen hinterlassen?

 

Oh! sagte Frau von Villefort, das ist nicht zweifelhaft. Herr Noirtier liebt einzig und allein seine Enkelin, Fräulein Valentine von Villefort; sie ist es, die ihn seit sechs Jahren pflegt und durch ihre beständige Fürsorge die Zuneigung ihres Großvaters, ich möchte beinahe sagen, seine Dankbarkeit zu fesseln wußte; es ist also gerecht und billig, daß sie den Preis ihrer Ergebenheit erntet.

 

Noirtiers Auge schleuderte einen Blitz, als würde er durch das falsche Ziel nicht betört, das Frau von Villefort seinen vermeintlichen Absichten setzte.

 

Wollen Sie Fräulein Valentine von Villefort diese 900 000 Franken vermachen? fragte der Notar, der diese Bestimmung nur noch eintragen zu müssen glaubte.

 

Valentine hatte einen Schritt rückwärts gemacht und weinte mit niedergeschlagenen Augen; der Greis schaute sie eine Sekunde lang mit dem Ausdrucke einer tiefen Zärtlichkeit an, dann wandte er sich gegen den Notar und blinzelte mit den Augen auf die bezeichnete Weise.

 

Nein? sagte der Notar; wie, Sie setzen Fräulein Valentine von Villefort nicht zur Universalerbin ein?

 

Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.

 

Täuschen Sie sich nicht? rief der Notar ganz verwundert; Sie sagen nein?

 

Nein, wiederholte Noirtier, nein!

 

Valentine hob das Haupt wieder empor; sie war erstaunt, nicht über ihre Enterbung, sondern darüber, daß ihr Großvater ihr gegenüber das seinem Tun entsprechende Gefühl hegen sollte.

 

Doch Herr Noirtier schaute sie mit so tiefer Zärtlichkeit an, daß sie ausrief: Oh! mein guter Vater, ich sehe wohl, Sie entziehen mir nur Ihr Vermögen, lassen mir aber Ihr Herz?

 

Oh! ja, gewiß, sagten die Augen des Gelähmten mit einem Ausdruck, in dem sich Valentine nicht täuschen konnte.

 

Dank! Dank! murmelte das Mädchen.

 

Diese Weigerung hatte indessen in Frau von Villeforts Herzen eine unerwartete Hoffnung erzeugt; sie näherte sich dem Greise.

 

Sie hinterlassen also Ihr Vermögen Ihrem Enkel Eduard von Villefort, mein lieber Herr Noirtier? fragte die Mutter.

 

Das Blinzeln war furchtbar; es prägte beinahe Haß aus.

 

Nein, sagte der Notar; also Ihrem Sohne?

 

Nein! entgegnete der Greis.

 

Die zwei Notare schauten sich erstaunt an; Villefort und seine Frau fühlten, wie sie aus Scham und Verdruß rot wurden.

 

Aber was haben wir Ihnen denn getan, Vater, sagte Valentine; Sie lieben uns also nicht mehr?

 

Der Blick des Greises flog rasch über seinen Sohn und über seine Schwiegertochter hin und blieb mit einem Ausdruck inniger Zärtlichkeit an Valentine haften.

 

Nun, sagte sie, wenn du mich liebst, guter Vater, so suche diese Liebe mit dem, was du in diesem Augenblick tust, in Einklang zu bringen. Du kennst mich und weißt daher, daß ich nie an dein Vermögen gedacht habe. Überdies sagt man, ich sei von meiner Mutter Seite reich, zu reich; erkläre dich doch!

 

Noirtier heftete einen glühenden Blick aus Valentines Hand.

 

Meine Hand? sagte sie.

 

Ja, bezeichnete Noirtier.

 

Ihre Hand! wiederholten die Anwesenden.

 

Ah! meine Herren, Sie sehen wohl, daß alles vergeblich, und daß mein armer Vater ein Narr ist, sprach Villefort.

 

Oh! ich begreife! rief plötzlich Valentine; nicht wahr, meine Heirat, guter Vater?

 

Ja, ja, ja, wiederholte dreimal der Gelähmte und schleuderte dabei einen Blitz, so oft sich sein Augenlid hob.

 

Nicht wahr, du grollst uns wegen der Heirat?

 

Ja.

 

Das ist albern, sagte Villefort.

 

Verzeihen Sie, mein Herr, sagte der Notar, alles dies ist im Gegenteil sehr logisch und scheint mir durchaus wohlbegründet zu sein.

 

Du willst nicht, daß ich Herrn Franz d’Epinay heirate?

 

Nein, ich will nicht, drückte das Auge des Greises aus.

 

Und Sie enterben Ihre Enkelin, weil sie eine Heirat wider Ihren Willen macht? rief der Notar.

 

Ja, antwortete Noirtier.

 

Ohne diese Heirat wäre sie also Ihre Erbin?

 

Ja.

 

Es trat nun ein tiefes Stillschweigen um den Greis ein. Die beiden Notare berieten sich; Valentine schaute mit gefalteten Händen und einem dankbaren Lächeln ihren Großvater an: Villefort biß sich auf seine dünnen Lippen; Frau von Villefort war außer stande, ein freudiges Gefühl zurückzudrängen, das sich unwillkürlich über ihr Antlitz verbreitete.

 

Aber es scheint mir, sagte endlich Villefort, das Stillschweigen brechend, es scheint mir, daß ich allein befugt bin, über diese Angelegenheit zu urteilen und zu verfügen. Ich, als alleiniger Herr der Hand meiner Tochter, will, daß sie Herrn Franz d’Epinay heiratet, und sie wird ihn heiraten.

 

Valentine fiel weinend auf einen Stuhl.

 

Mein Herr, sagte der Notar, sich an den Greis wendend, was gedenken Sie mit Ihrem Vermögen zu tun, wenn Fräulein Valentine Herrn Franz d’Epinay heiratet? Sie gedenken doch darüber zu verfügen?

 

Ja, bezeichnete Noirtier.

 

Zu Gunsten irgend eines Mitgliedes Ihrer Familie?

 

Nein.

 

Also zu Gunsten der Armen?

 

Ja.

 

Sie wissen doch, daß das Gesetz dem widerstrebt, daß Sie Ihren Sohn völlig ausschließen?

 

Ja.

 

Sie werden also nur über den Teil verfügen, den Sie nach dem Gesetz das Recht haben ihm zu entziehen.

 

Noirtier blieb unbeweglich.

 

Sie wollen immer noch über das Ganze verfügen?

 

Ja.

 

Man wird das Testament nach Ihrem Tode angreifen.

 

Nein.

 

Mein Vater kennt mich, sagte Herr von Villefort, er weiß, daß sein Wille mir heilig sein wird; übrigens erkennt er recht gut, daß ich in meiner Stellung nicht gegen die Armen prozessieren kann.

 

Noirtiers Auge drückte einen Triumph aus.

 

Was bestimmen Sie, mein Herr? fragte der Notar Villefort.

 

Nichts, mein Herr, es ist ein im Herzen meines Vaters feststehender Entschluß, und ich weiß, daß er nie etwas an seinen Entschließungen ändert, sagte Villefort. Ich füge mich also. Diese 900 000 Franken werden der Familie verloren gehen, um Hospitäler zu bereichern; aber ich gebe der Laune eines Greises nicht nach und werde nach meinem Gewissen handeln.

 

Hiernach entfernte sich Villefort mit seiner Frau und überließ es seinem Vater, nach Gutdünken zu testieren.

 

Noch an demselben Tage wurde das Testament gemacht; man holte Zeugen, es wurde von dem Greise gebilligt, in Gegenwart der Zeugen geschlossen und bei Herrn Deschamps, dem Notar der Familie, niedergelegt.

 

Bertuccio.

 

Bertuccio.

 

Mittlerweile war der Graf in seiner Wohnung angelangt; er hatte sechs Minuten gebraucht, den Weg zurückzulegen. Diese sechs Minuten genügten, daß er von zwanzig jungen Leuten bemerkt wurde, die, bekannt mit dem Preise des Gespanns, das sie selbst nicht hatten kaufen können, ihre Rosse in Galopp setzten, um den glänzenden Herrn zu sehen, der sich Pferde im Werte von 20 000 Franken anschaffte.

 

Das von Ali gewählte Haus, das für Monte Christo als Pariser Residenz dienen sollte, lag rechts, wenn man die Champs-Elysées hinaufgeht, zwischen Hof und Garten. Eine üppige Baumgruppe, die sich mitten im Hofe erhob, verbarg einen Teil der Fassade. Das inmitten eines weiten Raumes vereinzelt stehende Haus hatte außer dem Haupteingang noch einen andern Eingang, der sich nach der Rue de Ponthieu öffnete.

 

Ehe der Kutscher den Pförtner angerufen hatte, drehte sich schon das massive Gittertor auf seinen Angeln; man hatte den Grafen kommen sehen, und er wurde in Paris, wie in Rom und überall, mit Blitzesschnelle bedient. Der Kutscher fuhr also hinein, beschrieb den Halbkreis, ohne den Gang seiner Pferde im geringsten zu hemmen, und die Räder krachten noch auf dem Sande der Allee, als bereits das Gitter wieder geschlossen war. Auf der linken Seite der Freitreppe hielt der Wagen an, zwei Männer erschienen am Schlage; der eine war Ali, der seinem Herrn mit unglaublich treuherziger Freude zulächelte und sich durch einen einzigen Blick von Monte Christo bezahlt fand. Der andere verbeugte sich in Demut und reichte dem Grafen den Arm, um ihm aussteigen zu helfen.

 

Ich danke, Herr Bertuccio, sagte der Graf, leicht herausspringend; wie ist’s mit dem Notar?

 

Er wartet im kleinen Salon, antwortete Bertuccio.

 

Und die Visitenkarten, die Sie meinem Befehle gemäß stechen lassen sollten, sobald Sie die Nummer des Hauses wüßten?

 

Sind besorgt, Herr Graf; ich war bei dem besten Graveur des Palais Royal und ließ ihn die Platte in meiner Gegenwart ausführen; die erste abgezogene Karte wurde, wie Sie befohlen, dem Baron Danglars, Deputierten, Rue de la Chaussee d’Antin Nr. 7, überbracht, die andern liegen auf dem Kamin des Schlafzimmers Eurer Exzellenz!

 

Gut. Wieviel Uhr ist es? – Vier Uhr.

 

Monte Christo gab seine Handschuhe, seinen Hut und Stock einem Bedienten und ging dann in den kleinen Salon, wo ihn der Notar, ein ehrliches Schreibergesicht mit der unzerstörbaren Würde eines Pariser Beamten, erwartete.

 

Ist dies der Notar, der den Auftrag hat, das Landhaus zu verkaufen, das ich mir erwerben will? fragte Monte Christo.

 

Ja, Herr Graf, antwortete der Notar; hier ist der Kaufvertrag!

 

Vortrefflich. Und wo liegt das Haus? fragte Monte Christo nachlässig, sich halb an Bertuccio, halb an den Notar wendend.

 

Der Intendant machte eine Gebärde, die wohl bedeuten sollte: Ich weiß es nicht.

 

Der Notar schaute Monte Christo an und rief: Wie, der Herr Graf weiß nicht, wo das Haus liegt, das er kaufen will?

 

Wie zum Teufel soll ich es wissen? Ich komme heute von Cadix, bin nie in Paris gewesen, ja es ist sogar das erste Mal, daß ich französischen Boden betrete.

 

Dann ist es etwas anderes; das Haus, das der Herr Graf kauft, liegt in Auteuil.

 

Bei diesen Worten erbleichte Bertuccio sichtbar.

 

Und wo liegt Auteuil? fragte Monte Christo.

 

Nur ein paar Schritte von hier, Herr Graf, erwiderte der Notar, etwas hinter Paffy, in einer reizenden Gegend.

 

So nahe! sagte Monte Christo, das ist kein Landhaus. Wie zum Teufel konnten Sie ein Haus vor den Toren der Stadt wählen, Herr Bertuccio?

 

Ich! rief der Intendant mit seltsamem Eifer; hat mich der Herr Graf nicht beauftragt, dieses Haus zu wählen? Der Herr Graf wolle die Gnade haben, sich zu besinnen.

 

Ah! es ist richtig, sagte Monte Christo, ich erinnere mich nun, ich habe die Anzeige in irgend einem Blatte gelesen und mich durch den lügnerischen Titel Landhaus verführen lassen.

 

Es ist noch Zeit, sagte Bertuccio lebhaft, und wenn mich Eure Exzellenz beauftragen will, anderswo zu suchen, so werde ich das Beste finden, was es gibt, mag es nun in Enghien, in Fontenay-aux-Roses oder in Bellevue sein.

 

Nein, erwiderte Monte Christo gleichgültig, da dies einmal ins Auge gefaßt ist, will ich’s auch behalten.

 

Und der gnädige Herr hat recht, sagte rasch der Notar, der seine Gebühr zu verlieren fürchtete, es ist ein reizendes Eigentum: fließendes Wasser, Gebüsch, ein, wenn auch seit geraumer Zeit verlassenes, doch äußerst behagliches Wohngebäude, abgesehen von dem Mobiliar, das, so alt es auch ist, doch seinen Wert hat, besonders heutzutage, wo man Altertümer liebt und sucht.

 

Zum Teufel, eine solche Gelegenheit wollen wir nicht versäumen, rief Monte Christo; den Vertrag, Herr Notar!

 

Und er unterzeichnete rasch, nachdem er einen Blick auf die Stelle geworfen hatte, wo die Lage des Hauses und die Namen der Eigentümer angegeben waren, dann befahl er, 55 000 Franken auszuzahlen. Der Intendant ging mit unsichern Schritten hinaus und kehrte mit einem Päckchen Banknoten zurück, die der Notar zählte.

 

Und nun ist allen Förmlichkeiten Genüge geleistet? fragte der Graf. Haben Sie die Schlüssel?

 

Sie sind in den Händen des Hausverwalters, der das Haus bewacht; doch hier ist der schriftliche Befehl, den ich an ihn ergehen lasse, den gnädigen Herrn in sein Eigentum einzuführen.

 

Sehr gut. Begleiten Sie diesen Herrn, sagte der Graf zu Bertuccio.

 

Der Intendant ging hinter dem Notar hinaus.

 

Kaum war der Graf allein, als er aus seiner Tasche ein Portefeuille mit einem Schlosse zog, das er mit einem Schlüsselchen öffnete, das er am Halse trug und nie von sich ließ. Nachdem er einen Augenblick gesucht hatte, nahm er ein Blättchen zur Hand, worauf einige Notizen standen, verglich diese mit dem auf dem Tische liegenden Verkaufsschein und sagte: Auteuil, Rue de la Fontaine Nr. 30, es stimmt. Soll ich nun durch religiösen Schrecken oder durch körperliche Angst ein Geständnis zu entreißen suchen? Jedenfalls werde ich in einer Stunde alles wissen.

 

Bertuccio! rief er, mit einem Hämmerchen auf ein Glöckchen schlagend, das einen scharfen, anhaltenden Ton von sich gab, und der Intendant erschien auf der Schwelle.

 

Herr Bertuccio, sagte der Graf, erzählten Sie mir nicht, Sie seien in Frankreich gereist?

 

Ja, Exzellenz, in einigen Teilen Frankreichs.

 

Sie kennen ohne Zweifel die Gegend von Paris?

 

Nein, Exzellenz, antwortete der Intendant mit einem Beben, das der Graf als Kenner einer heftigen Unruhe zuschrieb.

 

Es ist ärgerlich, daß Sie nie die Gegend von Paris besucht haben, sagte er, denn ich will noch heute abend mein neues Gut in Augenschein nehmen, und wenn Sie mich begleitet hätten, würden Sie mir ohne Zweifel nützliche Auskunft gegeben haben.

 

Nach Auteuil! rief Bertuccio, dessen kupferfarbiges Gesicht plötzlich leichenblaß wurde. Ich nach Auteuil gehen?

 

Aber was ist denn Erstaunliches daran, daß Sie nach Auteuil gehen sollen? Wenn ich in Auteuil wohnen werde, müssen Sie wohl dahin kommen, da Sie doch zum Haushalt gehören!

 

Bertuccio neigte das Haupt vor dem gebieterischen Blicke des Herrn und blieb unbeweglich und ohne zu antworten.

 

Was ist Ihnen denn? Sie lassen mich zum zweitenmale um den Wagen läuten? rief Monte Christo mit dem Tone, in dem Ludwig XIV. das bekannte: Ich habe warten müssen! aussprach.

 

Bertuccio sprang in das Vorzimmer und schrie mit heiserer Stimme: Die Pferde Seiner Exzellenz! Monte Christo schrieb ein paar Briefe; als er den letzten versiegelte, erschien der Intendant wieder und meldete den Wagen.

 

Wohl, nehmen Sie Ihren Hut, sagte Monte Christo.

 

Es gab kein Beispiel, daß man einem Befehle des Grafen widersprochen hätte; der Intendant folgte auch, ohne eine Einwendung zu machen, seinem Herrn und nahm seinen Platz ehrfurchtsvoll auf dem Vordersitz.

 

Der Telegraph.

 

Der Telegraph.

 

Herr und Frau von Villefort erfuhren, als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, Herr von Monte Christo sei gekommen, ihnen einen Besuch zu machen, und warte auf sie im Salon. Zu aufgeregt, um sogleich einzutreten, ging Frau von Villefort durch ihr Schlafzimmer, während der Staatsanwalt, mehr seiner Herr, gerade auf den Salon zuschritt.

 

Doch so sehr er auch Herr seiner Empfindungen war, so gut er sein Gesicht zu formen wußte, so vermochte Herr von Villefort die Wolke doch nicht so völlig von seiner Stirn zu entfernen, daß der Graf, der ihm mit einem strahlenden Lächeln entgegentrat, nicht die düstere, brütende Miene bemerkt hätte.

 

Oh! mein Gott! rief Monte Christo nach den ersten Begrüßungen, was haben Sie denn, Herr von Villefort? Bin ich in dem Augenblick gekommen, wo Sie vielleicht eine hochnotpeinliche Anklage abfaßten?

 

Herr von Villefort suchte zu lächeln und erwiderte: Nein, mein Herr Graf, es ist hier kein anderes Opfer, als ich selbst. Ich bin es, der den Prozeß verliert; der Zufall, die Halsstarrigkeit, die Narrheit haben die Anklageschrift abgefaßt.

 

Was wollen Sie damit sagen? fragte Monte Christo mit einer vortrefflich gespielten Teilnahme. Ist Ihnen in der Tat ein ernstes Unglück widerfahren?

 

Oh! Herr Graf, versetzte Villefort mit ingrimmiger Ruhe, es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen; es ist so gut wie nichts, nur ein Geldverlust.

 

In der Tat, erwiderte Monte Christo, ein Geldverlust ist etwas Geringes bei einem Vermögen, wie Sie es besitzen, und bei Ihrem philosophischen, erhabenen Geiste.

 

Auch ist es nicht die Geldfrage, was mich kümmert, obschon 900 000 Franken immerhin wohl ein Bedauern oder wenigstens eine Regung des Ärgers wert sind, sondern ich fühle mich getroffen durch die Fügung des Schicksals, des Zufalls, des Verhängnisses, ich weiß nicht, wie ich die Macht nennen soll, die den Schlag lenkt, der mich trifft, meine Hoffnungen niederstürzt und vielleicht die Zukunft meiner Tochter durch die Laune eines kindisch gewordenen Greises zerstört.

 

Ei, mein Gott! rief der Graf. 900 000 Franken, sagten Sie? In der Tat, diese Summe verdient wohl ein Bedauern, selbst für einen Philosophen. Und wer bereitete Ihnen diesen Verdruß?

 

Mein Vater, von dem ich mit Ihnen sprach.

 

Herr Noirtier? Sie sagten mir doch, er sei völlig gelähmt, und alle seine Fähigkeiten seien vernichtet?

 

Ja, seine körperlichen Fähigkeiten, denn er kann sich nicht rühren, er kann nicht sprechen, und bei alledem denkt er, will er, handelt er, wie Sie sehen. Ich habe ihn vor fünf Minuten verlassen, und er ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, zwei Notaren ein Testament zu diktieren.

 

Er hat also doch gesprochen?

 

Nein, aber er hat sich mit Hilfe des Blickes verständlich gemacht; die Augen haben zu leben fortgefahren und töten, wie Sie sehen.

 

Mein Freund, sagte Frau von Villefort, welche nun ebenfalls eintrat, Sie übertreiben wohl die Lage der Dinge.

 

Gnädige Frau … sagte der Graf sich verbeugend.

 

Frau von Villefort grüßte mit ihrem freundlichsten Lächeln.

 

Was sagt mir denn Herr von Villefort? sagte Monte Christo; und welche unbegreifliche Ungnade …

 

Unbegreiflich, das ist das richtige Wort, versetzte der Staatsanwalt, die Achseln zuckend; die Laune eines Greises!

 

Gibt es denn kein Mittel, ihn von dieser Entscheidung abzubringen?

 

Doch, sagte Frau von Villefort, und es hängt nur von meinem Manne ab, daß dieses Testament statt zum Nachteil für Valentine, gerade zu ihren Gunsten gemacht wird.

 

Als der Graf sah, daß die beiden Ehegatten in Rätseln zu sprechen anfingen, nahm er eine zerstreute Miene an und sah mit größter Aufmerksamkeit und der augenscheinlichsten Billigung Eduard zu, der Tinte in das Trinkgeschirr der Vögel goß.

 

Meine Teure, sagte Villefort, seiner Frau antwortend, Sie wissen, daß ich es nicht liebe, in meinem Hause als Tyrann aufzutreten. Es ist mir indessen daran gelegen, daß meine Entscheidungen in meiner Familie geachtet werden und die Narrheit eines Greises und die Laune eines Kindes nicht einen seit langen Jahren festgestellten Plan umwerfen. Der Baron d’Epinay war mein Freund, wie Sie wissen, und eine Verbindung mit seinem Sohne mußte mir in jeder Beziehung entsprechend erscheinen.

 

Glauben Sie, Valentine sei mit ihm einverstanden? sagte Frau von Villefort; sie widersetzte sich in der Tat von jeher dieser Heirat, und es würde mich nicht wundern, wenn alles, was wir soeben gehört und gesehen haben, die Ausführung eines zwischen ihnen verabredeten Planes wäre.

 

Gnädige Frau, entgegnete Villefort, glauben Sie mir, man verzichtet nicht so leicht auf ein Vermögen.

 

Sie verzichtete doch auf die Welt, als sie vor einem Jahre in ein Kloster gehen wollte.

 

Gleichviel, rief Villefort, ich sage, daß diese Heirat geschlossen werden muß, gnädige Frau.

 

Gegen den Willen Ihres Vaters! sagte Frau von Villefort, eine andere Seite angreifend, das ist sehr ernst!

 

Monte Christo stellte sich, als hörte er nichts, verlor aber kein Wort von dem, was gesprochen wurde.

 

Ich kann wohl sagen, fuhr Villefort fort, daß ich stets meinen Vater geachtet habe, weil sich mit dem natürlichen Gefühle der Abkunft bei mir das Bewußtsein seiner moralischen Überlegenheit verband; doch diesmal muß ich darauf Verzicht leisten, verständige Überlegung in dem Greise anzuerkennen, der nur wegen seines Hasses gegen den Vater auf diese Art den Sohn verfolgt. Es wäre also lächerlich von mir, wenn ich mich in meinem Benehmen nach seinen Launen richtete. Ich werde nicht aufhören, die größte Achtung für Herrn Noirtier zu hegen; ich werde, ohne zu klagen, mich der Geldstrafe unterziehen, die er über mich verhängt; aber ich bleibe unerschütterlich in meinem Willen, und die Welt mag richten, auf welcher Seite die gesunde Vernunft ist. Ich verheirate folglich meine Tochter mit dem Baron Franz d’Epinay, weil diese Verbindung meinen Ansichten nach gut und ehrenvoll ist, und ich meine Tochter verheiraten kann, mit wem es mir beliebt.

 

Ei! sagte der Graf, dessen Billigung der Staatsanwalt beständig mit dem Blicke nachgesucht hatte; ei! Herr Noirtier enterbt, wie Sie sagen, Fräulein Valentine, weil sie den Herrn Baron Franz d’Epinay heiraten soll?

 

Mein Gott! ja, mein Herr; das ist der Grund, rief Villefort, die Achseln zuckend.

 

Läßt sich dies begreifen? entgegnete die junge Frau, ich frage Sie, in welcher Hinsicht mißfällt Herr d’Epinay Herrn Noirtier mehr als ein anderer?

 

In der Tat, sagte der Graf. Ich habe Herrn Franz d’Epinay kennen gelernt; er ist doch der Sohn des Generals von Quesnel, der von König Karl X. zum Baron d’Epinay gemacht wurde?

 

Ganz richtig! erwiderte Villefort.

 

Ei! mir scheint, das ist ein reizender junger Mann.

 

Ich bin fest überzeugt, es ist auch nur ein Vorwand, sagte Frau von Villefort; die Greise sind Tyrannen in ihren Zuneigungen; Herr Noirtier will nicht, daß seine Enkelin heiratet.

 

Können Sie sich nicht diesen Haß irgendwie sonst erklären? Vielleicht stammt er von irgend einer politischen Antipathie?

 

In der Tat, mein Vater und der Vater des Herrn d’Epinay lebten in stürmischen Zeiten, von denen ich nur noch die letzten Tage gesehen habe, sprach Villefort.

 

War Ihr Vater nicht Bonapartist? Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir etwas dergleichen sagten.

 

Mein Vater war vor allem Jakobiner, erwiderte Villefort, durch die Aufregung über die Grenzen der Klugheit fortgerissen, und das Gewand des Senators, das ihm Napoleon um die Schultern warf, gab ihm nur eine andere Hülle, ohne etwas an ihm zu ändern. Konspirierte mein Vater, so geschah es nicht für den Kaiser, sondern gegen die Bourbonen, denn mein Vater hatte das Furchtbare an sich, daß er nie für Hirngespinste, sondern stets für mögliche Dinge kämpfte, und daß er zur Durchsetzung seiner Ideen vor keinem Mittel zurückwich.

 

Sie sehen, sagte Monte Christo, Herr Noirtier und Herr d’Epinay werden sich auf politischem Boden entgegengetreten sein. Hatte der General d’Epinay, obgleich er unter Napoleon diente, nicht im Grunde seines Herzens eine royalistische Gesinnung bewahrt, und ist es nicht derselbe, der eines Abends, als er einen napoleonistischen Klub verließ, zu dem man ihn in der Hoffnung des Beitritts eingeladen hatte, ermordet wurde?

 

Villefort schaute den Grafen beinahe mit Schrecken an.

 

Täusche ich mich? fragte Monte Christo.

 

Nein, mein Herr, antwortete Frau von Villefort, im Gegenteil, es ist genau so, und eben, um einen alten Haß zu ersticken, hatte Herr von Villefort den Gedanken, zwei Kinder sich lieben zu lassen, deren Väter sich gehaßt hatten.

 

Erhabener Gedanke! rief Monte Christo, ein Gedanke voll milder Menschenliebe, dem die ganze Welt ihren Beifall zollen müßte. In der Tat, es wäre schön gewesen, Fräulein Noirtier von Villefort sich Frau Franz d’Epinay nennen zu sehen.

 

Villefort bebte und schaute Monte Christo an, als wollte er im Grunde seines Herzens die Absicht lesen, welche den soeben ausgesprochenen Worten zu Grunde lag.

 

Da aber der Graf das wohlwollende Lächeln, an das seine Lippen gewöhnt waren, beibehielt, so vermochte der Staatsanwalt trotz der Schärfe seines Blickes nicht, hinter die Maske Monte Christos zu blicken.

 

Obgleich es ein großes Unglück für Valentine ist, das Vermögen ihres Großvaters zu verlieren, sagte Villefort, so glaube ich doch nicht, daß die Heirat deshalb scheitert; ich glaube nicht, daß Herr d’Epinay vor diesem pekuniären Verlust zurückweicht. Er wird sehen, daß ich wohl mehr wert bin, als diese Summe, die ich dem Wunsche, ihm mein Wort zu halten, opfere; er wird sich zudem sagen, daß Valentine schon durch das Vermögen ihrer Mutter reich ist, das von Herrn und Frau von Saint Meran verwaltet wird, die sie beide zärtlich lieben.

 

Und wohl würdig sind, daß man sie liebt und pflegt, wie dies Valentine bei Herrn Noirtier getan hat, fügte Frau von Villefort hinzu. Sie kommen spätestens in einem Monat nach Paris, und Valentine wird nach einer solchen Beleidigung nicht mehr gebunden sein, sich, wie sie es jetzt getan, bei Herrn Noirtier begraben zu lassen.

 

Der Graf hörte mit Wohlgefallen die disharmonische Stimme verletzter Eitelkeit und in den Staub getretener Interessen und sagte nach kurzem Stillschweigen: Mir scheint, und ich bitte Sie im voraus wegen dessen, was ich sagen werde, um Verzeihung, daß Herr Noirtier, wenn er Fräulein von Villefort, nur weil sie einen jungen Mann heiraten wollte, dessen Vater er gehaßt hat, enterbt, daß Herr Noirtier, sage ich, dem lieben Eduard nicht dasselbe Unrecht vorwerfen kann.

 

Nicht wahr? rief Frau von Villefort mit einem unbeschreiblichen Tone, nicht wahr, das ist ungerecht, abscheulich ungerecht. Dieser arme Eduard ist ebensogut der Enkel des Herrn Noirtier, und dennoch würde er Valentine sein ganzes Vermögen hinterlassen haben, wenn sie nicht Franz hätte heiraten sollen, und Eduard führt überdies den Namen der Familie, abgesehen davon, daß Valentine, wenn sie auch wirklich ihr Großvater enterbt, immer noch dreimal reicher sein wird, als er.

 

Nach diesem kräftigen Ausfall hörte der Graf nur noch zu und sparte sich selbst weitere Anregungen.

 

Nun genug, sagte Villefort. Wir wollen uns nicht länger über diese kleinlichen Familienangelegenheiten unterhalten! Ja, es ist richtig, mein Vermögen wird die Einkünfte der Armen vermehren, die heutzutage die wahren Reichen sind. Ja, mein Vater wird mich um eine gesetzliche Hoffnung gebracht haben, und das ohne Grund; ich aber habe dann als Mann von Verstand, als Mann von Herz gehandelt. Herr d’Epinay, dem ich die Rente von dieser Summe versprach, wird sie bekommen, und sollte ich mir die größten Entbehrungen auferlegen.

 

Es wäre doch vielleicht besser, sagte Frau von Villefort, auf den einzigen Gedanken zurückkommend, der unablässig in der Tiefe ihres Herzens auftauchte; es wäre doch vielleicht besser, man machte Herrn d’Epinay Mitteilung, damit er in der Lage wäre, selbst sich darüber zu entscheiden und sein Wort zurückzugeben!

 

Oh! das wäre ein großes Unglück, rief Villefort.

 

Ein großes Unglück? wiederholte Monte Christo.

 

Allerdings, erwiderte Villefort, sich besänftigend, eine gescheiterte Heirat, und scheitert sie auch aus Geldgründen, wirft ein schlechtes Licht auf ein junges Mädchen. Dann würden auch alte Gerüchte, die ich ersticken wollte, wieder laut werden. Doch nein, dem wird nicht so sein, Herr d’Epinay, der ein ehrenhafter Mann ist, wird sich durch Valentines Enterbung noch mehr für gebunden erachten, als zuvor, sonst würde er ja nur aus Habsucht um unser Kind gefreit haben; nein, das ist nicht möglich.

 

Ich denke wie Herr von Villefort, sagte Monte Christo, seinen Blick auf Frau von Villefort heftend, und wenn ich ihm einen Rat geben dürfte, so würde ich ihn auffordern, jetzt, wo Herr d’Epinay, wie ich höre, zurückkehrt, das Band so fest zu knüpfen, daß es sich nicht mehr lösen läßt. Ich würde unter allen Umständen eine Verbindung zustande bringen, die Herrn von Villefort nur zur Ehre gereichen kann.

 

Villefort erhob sich, von sichtbarer Freude ergriffen, während seine Frau leicht erbleichte.

 

Gut, sagte er, das ist alles, was ich haben wollte, und ich werde mir die Meinung eines Ratgebers, wie Sie sind, zu nutze machen, fügte er, Monte Christo die Hand reichend, hinzu. Hiernach ist alles, was sich hier ereignet hat, als nicht geschehen zu betrachten, und an unsern Plänen hat sich nichts geändert.

 

Mein Herr, sagte Monte Christo, so ungerecht die Welt ist, so wird sie Ihnen doch Dank für diesen Entschluß wissen, dafür stehe ich Ihnen. Ihre Freunde werden stolz darauf sein, und Herr d’Epinay, müßte er auch Fräulein von Villefort ohne Mitgift nehmen, was schwerlich der Fall sein wird, ist sicherlich entzückt über seinen Eintritt in eine Familie, in der man sich auf die Höhe solcher Opfer zu erheben weiß, um sein Wort zu halten und seine Pflicht zu erfüllen.

 

Während der Graf so sprach, stand er auf und schickte sich an, wegzugehen.

 

Sie verlassen uns? sagte Frau von Villefort.

 

Ich bin genötigt, gnädige Frau; ich kam nur, um Sie an Ihr Versprechen für Sonnabend zu erinnern.

 

Befürchten Sie, wir würden es vergessen?

 

Sie sind zu gütig, gnädige Frau; doch Herr von Villefort hat so ernste und zuweilen so dringende Geschäfte …

 

Mein Mann hat sein Wort gegeben, Herr Graf, und Sie konnten soeben sehen, daß er es hält, wenn alles dabei verloren gehen kann; er wird es umsomehr tun, wenn alles dabei zu gewinnen ist.

 

Findet die Gesellschaft in Ihrem Hause in den Champs-Elysées statt? fragte Villefort.

 

Nein, sagte Monte Christo, und das macht Ihr Opfer noch verdienstlicher … auf dem Lande.

 

In der Nähe von Paris?

 

Vor dem Tore, eine halbe Stunde vor dem Tore, in Auteuil.

 

In Auteuil! rief Villefort. Ah! es ist wahr, Frau von Villefort sagte mir, Sie wohnten in Auteuil, wo man sie in Ihr Haus brachte. Und wo in Auteuil?

 

Rue de la Fontaine.

 

Rue de la Fontaine? versetzte Villefort mit gepreßter Stimme; Nummer?

 

Nummer 30.

 

Man hat also an Sie das Haus des Herrn von Saint-Meran verkauft? rief Villefort.

 

Des Herrn von Saint-Meran? fragte Monte Christo. Dieses Haus gehörte Herrn von Saint-Meran?

 

Ja, erwiderte Frau von Villefort; nicht wahr, es ist eine schöne Besitzung?

 

Reizend.

 

Und denken Sie sich, mein Mann wollte nie darin wohnen.

 

In der Tat, mein Herr? Das ist ein Vorurteil, von dem ich mir keine Rechenschaft geben kann.

 

Ich liebe Auteuil nicht, sagte der Staatsanwalt, sich selbst bezwingend.

 

Es würde mich jedoch sehr unglücklich machen, sollte mich diese Antipathie des Vergnügens berauben, Sie bei mir zu empfangen! versetzte Monte Christo.

 

Nein, Herr Graf, ich hoffe wohl … glauben Sie mir, daß ich alles tun werde, was ich vermag …, stammelte Villefort.

 

Oh! ich nehme keine Entschuldigung an, entgegnete Monte Christo. Sonnabend um sechs Uhr erwarte ich Sie, und wenn Sie nicht kämen, so würde ich glauben müssen, es ruhe auf diesem seit zwanzig Jahren unbewohnten Hause irgend eine finstere Überlieferung, irgend eine blutige Legende.

 

Ich werde kommen, sagte Villefort rasch.

 

Meinen Dank. Nun aber müssen Sie mir erlauben, mich von Ihnen zu verabschieden.

 

In der Tat, Sie sagten, Sie müssen uns verlassen, Herr Graf, versetzte Frau von Villefort, und Sie wollten uns sogar mitteilen, warum, als Sie sich unterbrachen, um zu einem andern Gedanken überzugehen.

 

Wahrhaftig, gnädige Frau, ich weiß nicht, ob ich Ihnen sagen soll, wohin ich gehe.

 

Warum nicht? Sagen Sie es nur!

 

Ich will mir etwas ansehen, worüber ich oft stundenlang geträumt habe.

 

Was?

 

Einen Telegraphen.

 

Einen Telegraphen? wiederholte Frau von Villefort.

 

Ei, mein Gott! ja, einen Telegraphen. Zuweilen sah ich am Ende einer Straße auf einem Hügel bei schönem Sonnenscheine die schwarzen, wie die Füße eines ungeheuren Käfers sich biegenden Arme, und dieses Schauspiel hat mich immer merkwürdig ergriffen, das versichere ich Ihnen, denn ich dachte, diese Zeichen, welche die Luft mit unfehlbarer Sicherheit durchschneiden und auf Hunderte von Meilen den unbekannten Willen eines vor einem Tische sitzenden Menschen einem andern am Ende der Linie befindlichen Menschen verkünden, verdanken ihr Dasein nur der Energie des sonderbaren Insektenkörpers. Geister, Sylphen, Gnomen schienen mir dabei im Spiele zu sein. Niemals aber trieb es mich, diese großen Insekten mit den weißen Bäuchen und den schwarzen mageren Füßen von nahem zu sehen; denn ich fürchtete, ich würde unter ihrem steinernen Flügel den kleinen Menschenwitz, sehr ernst und würdig, sehr gründlich und steifleinen, triefend von Wissenschaft, von kleinlicher Eifersüchtelei, vielleicht auch von Aberglauben finden. Eines Morgens erfuhr ich aber, die bewegende Kraft jedes Telegraphen sei ein armer Teufel von einem Angestellten mit einem jährlichen Gehalt von zwölfhundert Franken, der nur mechanische Handgriffe verstehe und so wenig von der wunderbaren elektrischen Kraft wisse, wie ein Nachtwächter von der Poesie der göttlichen Nacht. Da erfaßte mich ein seltsames Verlangen, diese lebendige Puppe einmal näher anzuschauen.

 

Und Sie wollen nun dahin?

 

Ja, gnädige Frau!

 

Und zu welchem Telegraphen wollen Sie gehen? Zu dem im Ministerium des Innern oder zu dem im Observatorium?

 

 

Oh, nein, ich könnte dort Leute antreffen, die mich nötigen wollten, etwas zu begreifen, das ich gar nicht begreifen will, und die mir wider meinen Willen ein Geheimnis zu enthüllen versuchen, das ihnen im Grunde selbst verborgen ist. Zum Teufel! Ich will wenigstens die Illusionen mir erhalten, die ich noch über die Insekten hege; es ist genug, daß ich die, welche ich über die Menschen hatte, verlieren mußte. Ich werde also zu keinem der beiden Pariser Telegraphen gehen, weder zu dem auf dem Observatorium noch dem im Ministerium des Innern. Ich brauche einen Telegraphen im freien Felde.

 

So gehen Sie, denn in zwei Stunden ist es Nacht, und Sie sehen dann nichts mehr.

 

Teufel! Sie erschrecken mich! Wo ist der nächste auf der Straße nach Bayonne?

 

In Chatillon.

 

Und nach dem in Chatillon?

 

Ich glaube, der auf dem Turme von Monthléry.

 

Ich danke; auf Wiedersehen! Sonnabend werde ich Ihnen meine Eindrücke erzählen.

 

Vor der Tür traf der Graf mit den zwei Notaren zusammen, die soeben Valentine enterbt hatten und sich nun wegbegaben … äußerst entzückt, daß sie einen Akt aufgesetzt hatten, der ihnen unfehlbar große Ehre machen mußte.