Vater und Sohn.

 

Vater und Sohn.

 

Herr Noirtier folgte dem Bedienten mit den Augen, bis er die Tür zugemacht hatte; dann, ohne Zweifel fürchtend, er könnte im Vorzimmer horchen, öffnete er noch einmal hinter ihm. Diese Vorsicht war nicht überflüssig, und die Geschwindigkeit, mit der sich Herr Germain zurückzog, bewies, daß er von der Sünde nicht frei war, die unsere Ureltern ins Verderben stürzte. Herr Noirtier unterzog sich hieraus selbst der Mühe, die Tür des Vorzimmers zu schließen, schloß auch die des Schlafzimmers, kam dann zurück und reichte Villefort, der alle seine Bewegungen mit großem Erstaunen verfolgt hatte, die Hand.

 

Ei! weißt du wohl, lieber Gérard, sagte er lächelnd, daß du nicht aussiehst, als seiest du entzückt, mich zu sehen?

 

Doch, Vater, aber ich gestehe, ich war so weit entfernt, Ihren Besuch zu erwarten, daß er mich einigermaßen überraschte.

 

Lieber Freund, sagte Noirtier, sich setzend, es scheint mir, ich könnte dir dasselbe sagen. Wie? Du kündigst mir deine Verlobung in Marseille auf den 28. Februar an und bist am 3. März in Paris?

 

Wenn ich hier bin, Vater, erwiderte Gérard, sich Herrn Noirtier nähernd, so beklagen Sie sich nicht darüber, denn ich bin Ihretwegen hierher gekommen, und diese Reise rettet Sie vielleicht.

 

Ah, wirklich? sagte Herr Noirtier, sich nachlässig im Lehnstuhl ausstreckend. Erzählen Sie mir das doch etwas ausführlicher, Herr Staatsbeamter … es muß interessant sein!

 

Vater, Sie haben von einem gewissen bonapartistischen Klub gehört, der in der Rue Saint-Jacques zusammenkommt?

 

Nr. 53? Ja, ich bin Vizepräsident desselben.

 

Vater, Ihre Kaltblütigkeit läßt mich schaudern.

 

Was willst du, mein Lieber? Wenn man unter Robespierre geächtet worden ist, wenn man Paris in einem Heuwagen verlassen hat und in den Heiden von Bordeaux von den Spürhunden des Konvents umstellt wurde, gewöhnt man sich an allerlei. Fahre fort! Was ist mit dem Klub in der Rue Saint-Jacques geschehen?

 

Es ist geschehen, daß man den General Quesnel kommen ließ, der um neun Uhr abends sein Haus verließ, und zwei Tage nachher in der Seine gefunden wurde.

 

Gut, ich will dir dafür eine andre Neuigkeit mitteilen.

 

Ich glaube bereits zu wissen, was Sie mir sagen wollen.

 

Ah! Du weißt von der Landung Sr. Majestät des Kaisers?

 

Still, Vater, ich bitte Sie, einmal für Sie und dann für mich. Ja, ich wußte davon und sogar vor Ihnen; denn seit drei Tagen jage ich mit der Post von Marseille nach Paris, voll Wut darüber, daß ich den Gedanken, der mir das Hirn zermartert, nicht zweihundert Meilen vorausschleudern kann.

 

Seit drei Tagen? Bist du toll? Vor drei Tagen war der Kaiser noch nicht gelandet. Ganz gleich, ich kannte durch einen Brief, der von der Insel Elba an Sie gerichtet war, seinen Plan.

 

An mich?

 

Ja, an Sie, ich habe ihn im Portefeuille des Boten erwischt. Wenn der Brief in die Hände eines andern gefallen wäre, würden Sie vielleicht schon erschossen sein.

 

Herr Noirtier brach in ein Gelächter aus und erwiderte: Es scheint, die Restauration hat vom Kaiserreiche gelernt, wie man Geschäfte schnell erledigt. Erschossen, mein Lieber? Wie rasch du zu Werke gehst! Und wo ist dieser Brief?

 

Ich habe ihn verbrannt, damit nichts davon zurückbleibe; denn dieser Brief bedeutete Ihre Verurteilung.

 

Und den Verlust deiner Zukunft, erwiderte Noirtier kalt; ja, ich begreife das; aber da du mich beschützest, habe ich nichts zu befürchten.

 

Ich tue noch mehr als dies, ich rette Sie!

 

Zum Teufel, das wird immer dramatischer! Erkläre dich deutlicher!

 

Ich komme auf den Klub in der Rue-Saint-Jacques zurück.

 

Es scheint, dieser Klub liegt der Polizei sehr am Herzen. Warum suchte sie nicht besser? Sie hätte ihn gefunden.

 

Sie hat ihn nicht gefunden, ist ihm aber auf der Spur, dafür hat man einen Leichnam gefunden; der General Quesnel ist getötet worden, und in allen Ländern der Welt nennt man das einen Mord.

 

Einen Mord, sagst du? Nichts beweist, daß der General das Opfer eines Mordes geworden ist. Man findet täglich Leute in der Seine, die sich aus Verzweiflung hineingestürzt haben oder ertrunken sind, weil sie nicht schwimmen konnten.

 

Vater, Sie wissen sehr wohl, daß sich der General nicht aus Verzweiflung ertränkt hat, und daß man sich um diese Jahreszeit nicht in der Seine badet. Nein, nein, täuschen Sie sich nicht, dieser Tod ist mit Recht als Mord bezeichnet worden. In der Politik, mein Lieber, das weißt du so gut wie ich, gibt es keine Menschen, sondern Ideen, keine Gefühle, sondern Interessen. Man tötet nicht, sondern man beseitigt einfach ein Hindernis. Willst du wissen, wie sich die Sache verhält? Man glaubte, auf den uns von der Insel Elba aus empfohlenen General Quesnel zählen zu können; einer von uns geht zu ihm und lädt ihn ein, sich in die Rue Saint-Jacques zu einer Versammlung zu begeben, wo er Freunde finden werde. Er kommt dahin, und man entwickelt ihm den ganzen Plan; die Abreise von Elba, die beabsichtigte Landung. Nachdem er alles erfahren hat, erklärt er, er sei ein Royalist. Da schauen sich alle an; man läßt ihn einen Eid leisten, er leistet ihn, aber auf eine Weise, als wolle er Gott versuchen. Trotzdem ließ man den General ungehindert weggehen, er ist aber nicht nach Hause zurückgekehrt und wird sich auf dem Wege verirrt haben. Ein Mord? In der Tat, es setzt mich in Erstaunen, Villefort, daß du, der Vertreter des Staatsanwalts, eine Anklage auf so elende Beweise bauen willst! Ist es mir je eingefallen, wenn du dein Royalistenhandwerk treibst und einem von meinen Freunden den Kopf abschneiden läßt, dir zu sagen: Mein Sohn, du hast einen Mord begangen? Nein, ich sage dir: Du hast heute gesiegt, morgen kommt die Vergeltung.

 

Aber, Vater, seien Sie auf Ihrer Hut, die Vergeltung, die wir üben, wird furchtbar sein. – Ich verstehe dich nicht. – Sie zählen auf die Rückkehr des Usurpators? Sie täuschen sich, er wird keine sechs Meilen in Frankreich zurücklegen, ohne verfolgt, umstellt, wie ein wildes Tier eingefangen zu werden. – Lieber Freund, der Kaiser befindet sich in diesem Augenblick auf dem Wege nach Grenoble; am 10. oder 12. ist er in Lyon, am 20. oder 25. in Paris. – Die Bevölkerung wird sich erheben … – Um ihm entgegenzugehen. – Er hat nur ein paar Mann bei sich, und man wird Heere gegen ihn schicken. – Die seine Eskorte bei der Rückkehr in die Hauptstadt bilden werden. – Grenoble und Lyon sind getreue Städte und werden ihm eine unübersteigbare Schranke entgegensetzen.

 

Grenoble wird ihm begeistert seine Tore öffnen, ganz Lyon wird ihm entgegengehen. Glaube mir, wir sind ebenso gut unterrichtet, wie du, und unsere Polizei ist so viel wert, wie eure. Willst du einen Beweis hierfür? Du wolltest mir deine Reise verbergen, und dennoch habe ich deine Ankunft eine halbe Stunde, nachdem du durch das Tor gefahren bist, gewußt. Du hast deine Adresse niemand gegeben, als dem Postillon, und ich kenne deine Adresse, denn, du siehst, ich komme in dem Augenblick zu dir, wo du dich zu Tische setzen willst. Läute also und bestelle ein zweites Gedeck, und wir speisen miteinander zu Mittag.

 

In der Tat, antwortete Villefort und schaute dabei seinen Vater erstaunt an, in der Tat, Sie scheinen mir sehr gut unterrichtet.

 

Ei, mein Gott, die Sache ist äußerst einfach. Ihr, die ihr die Gewalt in den Händen haltet, habt nur die Mittel, die euch das Geld gibt; wir dagegen, die sie erwarten, haben die, welche die Ergebenheit bietet.

 

Und Noirtier streckte selbst die Hand nach der Klingelschnur aus, um den Bedienten zu rufen. Villefort hielt ihn am Arm zurück.

 

Warten Sie, Vater, noch ein Wort! So schlecht die royalistische Polizei auch sein mag, so kennt sie doch das Signalement des Mannes, der am Morgen des Tages, an dem General Quesnel verschwunden ist, bei diesem war.

 

So sie weiß es, die gute Polizei? Und wie ist das Signalement?

 

Gesichtsfarbe braun, Haare, Backenbart und Augen schwarz, Oberrock blau, bis an das Kinn zugeknöpft, Rosette des Offiziers der Ehrenlegion am Knopfloche, Hut mit breiter Krempe, Rohrstock.

 

So, so! Das weiß sie, sagte Noirtier, und warum legte sie nicht Hand an diesen Menschen? Weil sie ihn gestern oder vorgestern an der Ecke der Rue Coq-Héron aus dem Gesicht verloren hat.

 

Nun, sagte ich nicht eben, deine Polizei sei nichts wert?

 

Ja, aber sie kann ihn jeden Augenblick finden.

 

Ganz richtig, sagte Noirtier, sorglos um sich schauend, wenn dieser Mann nicht davon in Kenntnis gesetzt ist; aber er ist es und, fügte er lachend hinzu, er wird Gesicht und Kleidung verändern. Bei diesen Worten stand er auf, legte Oberrock und Halsbinde ab, ging auf den Tisch zu, auf dem die Toilettengegenstände seines Sohnes lagen, seifte sich das Gesicht ein, nahm ein Rasiermesser und schnitt sich mit vollkommen fester Hand den gefährlichen Bart ab. Villefort schaute ihn voll Schrecken und Bewunderung an.

 

Als der Bart abgeschnitten war, gab Noirtier seinen Haaren eine andere Form, nahm statt seiner schwarzen Halsbinde eine farbige, die er oben in einem geöffneten Koffer liegen sah, zog statt seines blauen einen kastanienbraunen Rock von Villefort an, versuchte vor dem Spiegel einen Hut mit aufgestülpter Krempe, schien mit der Art, wie er ihm stand, zufrieden, ließ sein Rohr in der Kaminecke stehen, wohin er es gestellt hatte, und schwang mit seiner nervigen Hand ein kleines Bambusstöckchen.

 

Nun! sagte er, sich seinem erstaunten Sohne zuwendend, glaubst du, die Polizei werde mich jetzt erkennen?

 

Nein, Vater, stammelte Villefort, ich hoffe es wenigstens.

 

Ja, fuhr Noirtier fort, nun glaube ich, daß du recht hast, und daß ich dir vielleicht das Leben zu verdanken habe; aber ich werde dir’s bald mit gleichem vergelten.

 

Villefort schüttelte den Kopf.

 

 

Willst du in den Augen des Königs als Prophet gelten, sagte Noirtier, so gehe und sage ihm folgendes: Sire, man täuscht Sie über die Stimmung in Frankreich, die Meinung der Städte, den Geist des Heeres. Der, den sie in Paris noch den korsischen Werwolf nennen, den man in Nevers noch den Usurpator nennt, heißt in Grenoble bereits Bonaparte und in Lyon der Kaiser. Sie halten ihn für umstellt, verfolgt, auf der Flucht begriffen, und er marschiert rasch wie der Adler, den er zurückbringt. Die Soldaten, von denen Sie glaubten, sie würden vor Hunger und Anstrengung desertieren, vermehren sich wie die Schneeflocken um den Ball, der vom Gebirge herabstürzt. Sire, fliehen Sie, überlassen Sie Frankreich seinem wahren Herrn, dem, der es nicht erkauft, sondern erobert hat! Fliehen Sie, Sire, nicht als ob Sie Gefahr liefen, denn Ihr Gegner ist stark genug, um Ihnen Gnade angedeihen zu lassen, sondern weil es demütigend für einen Enkel des heiligen Ludwig wäre, sein Leben dem Helden von Marengo und Austerlitz verdanken zu müssen. – Sage ihm dies, Gérard, oder vielmehr geh und sage ihm nichts! Halte deine Reise geheim, rühme dich dessen nicht, was du tun wolltest und in Paris getan hast! Nimm die Eilpost und fahre, daß die Räder rauchen! Begib dich bei Nacht nach Marseille, betritt deine Wohnung durch die Hinterpforte und bleibe dort demütig und geheim und vor allem ganz harmlos. Denn diesmal, das schwöre ich dir, werden wir als kräftige Männer, als Leute, die ihre Feinde kennen, handeln. Geh, mein Sohn, und wenn du die väterlichen Befehle befolgst, wird es möglich sein, dich auf deinem Posten zu erhalten. Vielleicht, fügte Noirtier lächelnd hinzu, vielleicht wirst du dann in der Lage sein, mich zum zweitenmale zu retten, wenn der politische Wagbalken euch eines Tages wieder emporhebt und mich hinabsinken läßt. Gott befohlen, lieber Gérard, bei deiner nächsten Reise steige bei mir ab!

 

Und Nortier entfernte sich nach diesen Worten mit derselben Ruhe, die ihn nicht einen Augenblick während der Dauer dieser Unterredung verlassen hatte. Bleich und erschüttert lief Villefort ans Fenster und sah ihn ruhig mitten durch einen Schwarm verdächtiger Gestalten gehen, die sich an der nächsten Ecke aufgestellt hatten und vielleicht beauftragt waren, den Mann mit dem schwarzen Backenbart, dem blauen Oberrock und dem breitkrempigen Hute zu verhaften.

 

Eine halbe Stunde später war Villefort auf dem Wege nach Marseille; unterwegs erfuhr er, daß Napoleon siegreich in Grenoble eingezogen war.

 

Die hundert Tage.

 

Die hundert Tage.

 

Herr Noirtier war ein guter Prophet, und die Dinge nahmen, wie er vorher gesagt hatte, einen raschen Gang. Seltsam und wunderbar verlief Napoleons Rückkehr von der Insel Elba, und die Geschichte kennt kein zweites Beispiel dieser Art. – Ludwig XVIII. versuchte es nur schwach, den harten Schlag zu parieren. Das geringe Vertrauen, das er zu den Menschen hatte, ließ ihn auch den Ereignissen mißtrauen. Die Monarchie, eben erst wiederhergestellt, zitterte auf ihrer unsicheren Grundlage, und eine einzige Gebärde des Kaisers ließ das ganze Gebäude, eine gestaltlose Mischung von Vorurteilen und neuen Gedanken, einstürzen.

 

Die Dankbarkeit seines Königs, die sich Villefort erworben hatte, war also für diesen im Augenblick nicht nur unnütz, sondern sogar gefährlich, und er war so klug, das Offizierkreuz der Ehrenlegion niemand zu zeigen. Napoleon hätte ihn gewiß ohne den Schutz Noirtiers abgesetzt, der am Hofe der hundert Tage sowohl wegen der Gefahren, denen er Trotz geboten, als wegen der Dienste, die er geleistet hatte, allmächtig geworden war. Nur der Erste Staatsanwalt wurde, als politisch verdächtig, abgesetzt.

 

So blieb Villefort trotz des Sturzes seines Vorgesetzten an seiner Stelle, aber seine Verheiratung wurde auf glücklichere Zeiten verschoben. Behielt der Kaiser den Thron, so bedurfte Gérard einer andern Verbindung, die sein Vater ihm vermitteln sollte; führte eine zweite Restauration Ludwig XVIII. nach Frankreich zurück, so verdoppelte sich der Einfluß des Herrn von Saint-Meran, wie der seinige, und die beabsichtigte Verbindung wurde wünschenswerter, als je.

 

Der Staatsanwalt war also für den Augenblick der erste richterliche Beamte von Marseille, als eines Morgens seine Tür sich öffnete und man ihm Herrn Morel ankündigte, der durch seine Anhänglichkeit an Napoleon jetzt ein ganz anderes Ansehen als früher besaß.

 

Herr Morel erwartete, Villefort niedergeschlagen zu finden; er fand ihn aber ruhig, fest und voll jener kalten Höflichkeit, der unübersteigbarsten aller Schranken, die den erhabenen Staatsdiener vom gewöhnlichen Sterblichen trennen.

 

Er war zu Villefort in der Überzeugung gekommen, der Beamte würde bei seinem Anblick zittern, und nun war er es, der bang und erregt dem Beamten gegenüberstand, der ihn, den Ellbogen auf den Schreibtisch und das Kinn auf die Hand stützend, erwartete.

 

Er blieb an der Tür stehen. Villefort schaute ihn an, als ob er Mühe hätte, ihn wiederzuerkennen. Endlich, nach einigen Sekunden des Stillschweigens und der Prüfung, während deren Herr Morel seinen Hut in den Händen hin und her drehte, sagte Villefort: Herr Morel, wenn ich mich nicht täusche?

 

Ja, mein Herr, antwortete der Reeder.

 

Treten Sie näher, sagte Villefort mit Gönnermiene, und sagen Sie mir, welchem Umstande ich die Ehre Ihres Besuches zu verdanken habe!

 

Mein Herr, sagte der Reeder, Sie erinnern sich, daß ich einige Tage, ehe man die Landung Sr. Majestät des Kaisers erfuhr, zu Ihnen kam und Sie um Nachsicht für einen unglücklichen jungen Menschen, einen Seemann, Sekond an Bord meiner Brigg, bat. Man hat ihn angeklagt, er stehe in Verbindung mit der Insel Elba; eine solche Verbindung, die damals ein Verbrechen war, gewährt jetzt Anspruch auf Belohnung. Sie dienten zu jener Zeit Ludwig XVIII. und haben den jungen Mann nicht geschont; das war Ihre Pflicht. Heute dienen Sie Napoleon, und Sie müssen ihn in Schutz nehmen; das ist abermals Ihre Pflicht. Ich komme also, um Sie zu fragen, was aus ihm geworden ist.

 

Villefort rang mit aller Macht seine Bewegung nieder und erwiderte: Der Name dieses jungen Mannes? Haben Sie die Güte, mir seinen Namen zu sagen.

 

Edmond Dantes. Villefort hätte offenbar lieber der Pistole eines Duellgegners stand gehalten, als diesen Namen so geradezu aussprachen hören; er verzog jedoch keine Miene. Dantes? Edmond Dantes, sagen Sie? wiederholte er und öffnete ein dickes Register, das in einem nahen Fache lag, ging an einen Tisch, von dem Tische zu einem Haufen Aktenbündeln und sagte, sich zum Reeder wendend, mit äußerst unschuldiger Miene:

 

Warten Sie, ich habe es. Es ist ein Seemann, nicht wahr, der eine Katalonierin heiratete? Ja, ja; oh, ich erinnere mich jetzt, die Sache war sehr ernster Natur.

 

Wieso?

 

Sie wissen, daß er von hier in das Gefängnis des Justizpalastes geführt wurde. Acht Tage darauf brachte man ihn fort, man wird ihn nach Fenestrelles, nach Pignerol oder auf die Sainte-Marguerite-Inseln transportiert haben. Von dort werden Sie ihn eines schönen Tages wiederkehren und das Kommando seines Schiffes übernehmen sehen.

 

Er mag kommen, wann er will, seine Stelle bleibt ihm offen. Doch warum ist er nicht zurückgekehrt?

 

Von dem durch das Gesetz vorgeschriebenen Wege dürfen wir nicht abweichen, erwiderte Villefort. Der Einkerkerungsbefehl war von oben gekommen, der Freilassungsbefehl muß auch von oben kommen. Napoleon aber ist erst seit vierzehn Tagen zurückgekehrt, und die Begnadigungsschreiben können kaum ausgefertigt sein.

 

Gibt es denn kein Mittel, fragte Morel, die Förmlichkeiten zu beschleunigen, jetzt, da wir triumphieren? Ich habe verschiedene Freunde und einigen Einfluß; ich vermag die Aufhebung des Spruches zu erlangen.

 

Es fand kein Spruch statt.

 

Aber es muß doch eine Gefangenenliste geben.

 

Bei politischen Vergehen gibt es keine Gefangenenlisten. Die Regierungen haben oft ein Interesse daran, einen Menschen verschwinden zu lassen, ohne daß eine Spur von seinem Vorhandensein übrig bleibt.

 

Dies war unter den Bourbonen so, doch jetzt …

 

Das ist zu allen Zeiten so, Herr Morel. Eine Regierung folgt der andern, und eine gleicht der andern. Die unter Ludwig XIV. eingerichtete Strafmaschine ist noch heutigen Tages im Gange fast bis auf die Bastille. Der Kaiser handhabte die Gefängnisvorschriften noch strenger als der große König selbst, und die Zahl der Eingekerkerten, von denen sich in den Registern keine Spur findet, ist unberechenbar.

 

Morel hegte nicht den geringsten Verdacht mehr und fragte: Was würden Sie mir raten zur Beschleunigung der Rückkehr des armen Dantes zu tun?

 

Es gibt nur ein Mittel: Richten Sie eine Bittschrift an den Justizminister.

 

Und Sie wollen es übernehmen, diese Bittschrift an ihr Ziel gelangen zu lassen?

 

Mit größtem Vergnügen. Dantes konnte damals schuldig sein, heute ist er unschuldig, und es ist meine Pflicht, dem die Freiheit wiederzugeben, den ich meiner Pflicht gemäß ins Gefängnis setzen mußte.

 

Villefort kam auf diese Art der Gefahr einer nicht sehr wahrscheinlichen, aber doch möglichen Untersuchung zuvor, die ihn hätte ins Verderben stürzen müssen.

 

Setzen Sie sich also hierher, Herr Morel, sagte Villefort, dem Reeder seinen Platz abtretend, ich will Ihnen diktieren. Villefort bebte bei dem Gedanken an den in der Stille und Finsternis ihn verfluchenden Gefangenen; aber er war zu weit gegangen, um zurückweichen zu können. Dantes mußte vom Räderwerke seines Ehrgeizes zermalmt werden.

 

Villefort diktierte nun eine Bittschrift, in der er in anscheinend vortrefflicher Absicht Dantes‘ Patriotismus und die von ihm der bonapartistischen Sache geleisteten Dienste übertrieb. In dieser Bittschrift war Dantes als einer der tätigsten Agenten für die Rückkehr Napoleons dargestellt, und es schien keinem Zweifel zu unterliegen, daß der Minister, der dieses Papier in die Hände bekam, dem Armen sofort Gerechtigkeit widerfahren ließ.

 

Und diese Eingabe wird bald abgehen? fragte Morel.

 

Noch heute. – Mit einem Begleitberichte von Ihnen?

 

Der beste Bericht, den ich beifügen kann, besteht darin, daß ich alles, was Sie in dieser Bittschrift sagen, bestätige.

 

Villefort setzte sich nun ebenfalls und schrieb auf eine Ecke der Eingabe seine Zustimmung.

 

Was soll ich nun weiter tun? sagte Morel.

 

Warten, versetzte Villefort, ich stehe für alles.

 

Diese Versicherung gab Morel die Hoffnung wieder. Er verließ entzückt den Staatsanwalt und kündigte Dantes‘ altem Vater an, er würde seinen Sohn bald wiedersehen. Villefort aber, statt diese Botschaft nach Paris zu schicken, behielt sie in seinen Händen und verwahrte sie sorgfältig.

 

Dantes blieb also gefangen; in der Tiefe seines Kerkers verloren, hörte er nichts von dem geräuschvollen Einsturz des Thrones Ludwigs XVIII., oder von dem noch lauteren Krachen beim Zusammenbruch des Kaiserreiches. Villefort aber hatte alles mit wachsamem Auge verfolgt, alles mit aufmerksamem Ohre gehört. Zweimal war während dieser kurzen Kaiserzeit, die man die hundert Tage nannte, Morel, auf Dantes‘ Freilassung dringend, zu Villefort gekommen, und jedesmal hatte dieser ihn durch Versprechungen und Hoffnungen beschwichtigt. Endlich kam der Tag von Waterloo, und Napoleon wurde Gefangener auf Sankt Helena. Jetzt zeigte sich Morel nicht mehr bei Villefort. Der Reeder hatte für seinen jungen Freund alles getan, was ein Mensch tun konnte. Neue Versuche unter dieser zweiten Restauration machen, hieß sich nutzlos selbst gefährden.

 

Ludwig XVIII. bestieg wieder den Thron. Villefort, für den Marseille voll von Erinnerungen war, die ihm zuweilen Gewissensbisse bereiteten, erbat sich und erhielt die unbesetzte Stelle des Staatsanwalts in Toulouse. Vierzehn Tage später heiratete er Fräulein von Saint-Meran, deren Vater bei dem Hofe höher als je in Gunst stand.

 

So verharrte Dantes während der hundert Tage und auch nach Waterloo hinter Schloß und Riegel.

 

Danglars, der vorher triumphiert und das Gelingen seiner Denunziation in heuchlerischer Verblendung eine Fügung der Vorsehung genannt hatte, wurde von Angst ergriffen, als Napoleon wieder in Paris war und seine Stimme abermals gebieterisch erschallte. Er erwartete jeden Augenblick, Dantes drohend und stark wieder erscheinen zu sehen. Er eröffnete deshalb Herrn Morel seinen Wunsch, den Seedienst zu verlassen, und reiste nach Madrid ab. Seitdem hörte man nichts mehr von ihm.

 

Fernand begriff nichts von allem. Dantes war nicht da; was aus ihm geworden war, wollte er gar nicht wissen. Während der ganzen Frist, die ihm die Abwesenheit des Nebenbuhlers gewährte, strengte er seine Erfindungskraft an, teils um Mercedes über die Ursachen und Beweggründe dieser Abwesenheit zu täuschen, teils um Auswanderungs- und Entführungspläne auszusinnen. Manchmal, in trüben Stunden, setzte er sich wohl auf die Spitze des Kap Pharao und schaute traurig und unbeweglich wie ein Raubvogel hinaus, ob er nicht den jungen Mann mit dem freien Gange und dem hoch erhobenen Kopfe erblickte, der auch für ihn der Künder schwerer Rache sein mußte. Dann stand sein Plan fest. Er wollte Dantes mit einem Flintenschusse den Schädel zerschmettern und sich hernach selbst töten, wie er sich, um seinen Mordplan zu beschönigen, vorredete.

 

Mittlerweile rief das Kaiserreich einen neuen Heerbann auf, und alles, was sich in Frankreich an waffenfähiger Mannschaft vorfand, eilte auf die mächtige Stimme des Kaisers herbei. Auch Fernand mußte dem Rufe folgen. Er verließ seine Hütte und Mercedes, von dem grausamen Gedanken zermartert, sein Nebenbuhler könnte in der Zwischenzeit kommen und die Geliebte heiraten.

 

Seine Aufmerksamkeiten für Mercedes, das Mitleid, das er für ihr Unglück zu empfinden schien, die Sorge, mit der er ihren geringsten Wünschen zuvorkam, hatten die Wirkung hervorgebracht, die der Schein der Ergebenheit auf edle Herzen immer hervorbringt. Mercedes hatte stets eine freundschaftliche Zuneigung für Fernand gehegt, und ihre Freundschaft für ihn vermehrte sich durch ein neues Gefühl, durch die Dankbarkeit. Mein Bruder, sagte sie, als sie den Tornister auf den Schultern des Kataloniers befestigte, mein Bruder, mein einziger Freund, laßt Euch nicht töten, laßt mich nicht allein in dieser Welt, wo ich weinen muß und völlig vereinsamt bin, sobald Ihr nicht mehr lebt.

 

Diese im Augenblick der Trennung gesprochenen Worte gewährten Fernand wieder einige Hoffnung. Wenn Dantes nicht zurückkam, konnte Mercedes eines Tages die Seinige werden.

 

Mercedes blieb allein auf dieser kalten Erde, die ihr nie so öde vorgekommen war, allein, mit dem unermeßlichen Meere als Horizont. Ganz in Tränen gebadet sah man sie beständig um das kleine Dorf der Katalonier irren. Bald stand sie unter der glühenden Mittagssonne, unbeweglich, stumm wie eine Bildsäule, und schaute nach Marseille; bald saß sie am Rande des Gestades, horchte auf das Stöhnen des Meeres, so ewig wie ihr Schmerz, und fragte sich, ob es nicht besser wäre, sich vorwärts zu beugen, sich dem eigenen Gewichte zu überlassen, den Abgrund zu öffnen und sich darein zu versenken, statt die beständige Trauer einer hoffnungslosen Erwartung zu ertragen. Es fehlte ihr nicht an Mut, dieses Vorhaben zu verwirklichen, aber die Religion kam ihr zu Hilfe und bewahrte sie vor dem Selbstmord.

 

Caderousse wurde einberufen wie Fernand; da er jedoch verheiratet und acht Jahre älter war, als der Katalonier, kam er zum dritten Aufgebote und wurde zur Küstenverteidigung verwandt.

 

Der alte Dantes, den nur die Hoffnung aufrecht erhalten hatte, verlor diese bei dem Sturze des Kaisers. Genau fünf Monate, nachdem er von seinem Sohne getrennt worden war, und fast zur selben Stunde, wo man ihn verhaftet hatte, gab er in Mercedes‘ Armen den Geist auf. Herr Morel übernahm alle Kosten seiner Beerdigung und bezahlte die geringen Schulden, die der Greis während seiner Krankheit gemacht hatte. Es war mehr als Wohltätigkeit, so zu handeln, es gehörte Mut dazu. Der Süden Frankreichs stand in Flammen, und den Vater eines so gefährlichen Bonapartisten, wie Dantes, selbst auf dem Totenbette zu unterstützen, war ein Verbrechen.

 

Der wütende Gefangene und der verrückte Gefangene.

 

Der wütende Gefangene und der verrückte Gefangene.

 

Ungefähr ein Jahr nach der Rückkehr Ludwigs XVIII. unternahm der Generalinspektor der Gefängnisse eine Rundreise. Er besuchte wirklich hintereinander alle Zellen und Kerker. Mehrere Gefangene des Kastells If wurden ebenfalls vernommen; der Inspektor fragte sie über die Nahrung, die man ihnen verabreichte, und was sie etwa sonst noch zu wünschen hätten. Sie antworteten einstimmig, das Essen sei abscheulich, und sie wünschten, frei zu sein.

 

Der Inspektor fragte sie, ob sie ihm weiter nichts mitzuteilen hätten. Sie schüttelten den Kopf; was konnten Gefangene anderes verlangen, als die Freiheit?

 

Der Inspektor wandte sich um und sagte zu dem Gouverneur: »Ich weiß nicht, warum man uns diese unnützen Rundreisen machen läßt. Wer ein Gefängnis sieht, sieht hundert; wer einen Gefangenen hört, hört tausend. Es ist stets das gleiche: schlecht genährt und unschuldig. Haben Sie noch andere?

 

Ja, wir haben gefährliche Gefangene oder Narren, die im Kerker bewacht werden müssen.

 

Laßt sie sehen, sagte der Inspektor gelangweilt, ich darf mir nichts sparen.

 

Warten Sie, sagte der Gouverneur, wir müssen wenigstens zwei Soldaten zum Schutze haben. Die Gefangenen begehen zuweilen, und wäre es nur aus Lebensüberdruß und um sich zum Tode verurteilen zu lassen, Taten der Verzweiflung, und Sie könnten das Opfer einer solchen Handlung werden.

 

Man holte wirklich zwei Soldaten und stieg eine feuchte, übelriechende, schimmelige Treppe hinab.

 

Oho! rief der Inspektor, auf der Hälfte der Treppe stehen bleibend, wer zum Teufel kann hier wohnen?

 

Einer der gefährlichsten Meuterer, ein Mensch, der uns als zu allem fähig zu besonderer Wachsamkeit empfohlen ist.

 

Wie lange ist er hier?

 

Seit ungefähr einem Jahre, nachdem er den Schließer hatte töten wollen, hat man ihn in diesen Kerker gesetzt.

 

Er ist also toll?

 

Er ist noch viel schlimmer, sagte der Schließer, er ist ein Teufel.

 

Wollen Sie, daß ich Klage über ihn führe? fragte der Inspektor den Gouverneur.

 

Es bedarf dessen nicht, mein Herr, er ist so hinreichend bestraft. Überdies grenzt sein Zustand gegenwärtig an Narrheit, und nach der Erfahrung, die wir gemacht haben, wird er, ehe ein weiteres Jahr vergeht, verrückt sein.

 

Desto besser für ihn, sagte der Inspektor. Ist er einmal ein völliger Narr, so wird er weniger leiden.

 

Sie haben recht, sagte der Gouverneur, so haben wir in einem Kerker, der von diesem nur durch etwa zwanzig Fuß Mauerwerk getrennt ist, einen alten Abbé, einen ehemaligen italienischen Parteiführer. Er ist seit 1811 hier, wurde gegen das Ende des Jahres 1813 verrückt, und seit dieser Zeit ist er körperlich nicht mehr zu erkennen; früher weinte er, jetzt lacht er; früher magerte er ab, jetzt wird er fett.

 

 

Bei dem Klirren der schweren Schlösser, bei dem Ächzen der verrosteten Angeln, die sich auf ihren Zapfen drehten, erhob Dantes sein Haupt. Beim Anblick eines unbekannten Mannes, der von zwei fackeltragenden Schließern und zwei Soldaten begleitet war, und mit dem der Gouverneur sprach, erriet er, worum es sich handelte, und sprang, da er sah, daß sich ihm endlich eine Gelegenheit bot, einen höheren Beamten anzuflehen, mit gefalteten Händen vorwärts. Die Soldaten kreuzten sogleich das Bajonett, denn sie glaubten, der Gefangene stürze in böser Absicht auf den Inspektor los; auch dieser selbst machte einen Schritt rückwärts.

 

Als Dantes sah, daß man ihn als einen gefährlichen Menschen hingestellt halte, sammelte er in seinem Blicke alles, was das Herz des Menschen an Sanftheit und Demut zu enthalten vermag, und suchte mit ergreifenden, Gott als Zeugen seiner Unschuld und seines Elends anrufenden Worten, welche die Anwesenden in Erstaunen setzten, die Seele des hohen Besuchers zu rühren.

 

Der Inspektor hörte Dantes‘ Rede bis zum Ende an.

 

Er fängt an, fromm zu werden, sagte er hierauf zum Gouverneur mit halber Stimme; schon gibt er sanfteren Gefühlen Raum. Sehen Sie, die Furcht bringt ihre Wirkung auf ihn hervor. Er ist vor den Bajonetten zurückgewichen, ein Narr aber weicht vor nichts zurück; ich habe hierüber in der Irrenanstalt in Charenton seltsame Beobachtungen gemacht. Dann sich an den Gefangenen wendend, fragte er: Was verlangen Sie also?

 

Ich verlange zu wissen, welches Verbrechen ich begangen habe; ich verlange, daß man mir Richter gibt; ich verlange, daß mein Prozeß eingeleitet wird; ich verlange, daß man mich erschießt, wenn ich schuldig bin, aber auch, daß man mich in Freiheit setzt, wenn ich unschuldig bin.

 

Bekommen Sie gute Speise? fragte der Inspektor.

 

Ja, ich glaube; ich weiß es nicht. Doch daran ist wenig gelegen. Aber was nicht allein mich, den armen Gefangenen, sondern auch alle Justizbeamten und sogar den König angeht, das ist, daß ein Unschuldiger nicht das Opfer einer schändlichen Denunziation sein und nicht seine Henker verfluchend eingekerkert bleiben soll.

 

Sie find heute sehr demütig, sagte der Gouverneur, Sie waren nicht immer so. Sie sprachen ganz anders, mein lieber Freund, an dem Tage, wo Sie Ihren Wärter ermorden wollten.

 

Das ist wahr, antwortete Dantes, und ich bitte diesen Mann um Verzeihung, denn er ist stets gut gegen mich gewesen; aber was wollen Sie? Ich war verrückt, ich war wütend.

 

Und Sie sind es nicht mehr?

 

Nein, Herr; denn die Gefangenschaft hat mich gebeugt, gebrochen, vernichtet … Es ist schon so lange, daß ich hier bin!

 

So lange … wann sind Sie denn verhaftet worden?

 

Am 28. Februar 1815 um zwei Uhr nachmittags.

 

Der Inspektor rechnete: Wir haben den 30. Juli 1816; was wollen Sie? Sie sind erst seit siebzehn Monaten gefangen.

 

Siebzehn Monate! Oh! Herr, Sie wissen nicht, was siebzehn Monate Gefängnis sind; siebzehn Jahre, siebzehn Jahrhunderte, besonders für einen Menschen, der, wie ich, seinem Glücke so nahe stand; für einen Menschen, der, wie ich, ein geliebtes Wesen heiraten sollte; für einen Menschen, der eine ehrenvolle Laufbahn vor sich offen sah, und dem jetzt alles entrissen ist, der mitten aus dem schönsten Tage in die tiefste Nacht versinkt; der seine Zukunft zerstört sieht; der nicht weiß, ob die, welche er liebte, ihn noch liebt; der nicht weiß, ob sein alter Vater gestorben ist oder lebt! Siebzehn Monate Gefängnis für einen Menschen, der an die Luft des Meeres, an die Unabhängigkeit des Seemanns, an den freien Raum, an die Unermeßlichkeit, an die Unendlichkeit gewöhnt ist, Herr! Siebzehn Monate Gefängnis, das ist mehr, als alle Verbrechen verdienen, welche die menschliche Sprache mit den gefährlichsten Namen bezeichnet! Haben Sie daher Mitleid mit mir, und verlangen Sie für mich nicht Nachsicht, sondern Strenge, nicht Gnade, sondern ein Gericht; Richter, Herr, ich verlange nur Richter; man kann einem Angeklagten die Richter nicht verweigern.

 

Es ist gut, sagte der Inspektor, wir wollen sehen. In der Tat, der arme Teufel dauert mich; wenn wir hinaufkommen, werde ich mir die Gefangenenliste zeigen lassen.

 

Ganz gewiß! antwortete der Gouverneur; aber Sie werden schwer belastende Eintragungen finden.

 

Ich weiß, Herr, fuhr Dantes fort, daß Sie mich nicht durch eigene Entscheidung freilassen können; doch Sie vermögen meine Bitte der Behörde zu übergeben, Sie können eine Untersuchung veranlassen, mich vor ein Gericht stellen; ein Gericht, das ist alles, was ich fordere. Ich will wissen, welches Verbrechen ich begangen habe, und zu welcher Strafe ich verurteilt bin. Denn sehen Sie, die Ungewißheit ist die schlimmste aller Strafen.

 

Leuchtet mir! sagte der Inspektor.

 

Herr, rief Dantes, ich entnehme dem Tone Ihrer Stimme, daß Sie bewegt sind. Oh, Herr, sagen Sie mir, daß ich hoffen darf.

 

Ich kann Ihnen das nicht sagen, antwortete der Inspektor, ich verspreche Ihnen nur, daß ich die Sie betreffenden Akten untersuchen werde.

 

Oh, dann bin ich frei, dann bin ich gerettet!

 

Wer hat Sie verhaften lassen? fragte der Inspektor.

 

Herr von Villefort, antwortete Dantes, sprechen Sie mit ihm, fragen Sie ihn!

 

Herr von Villefort ist seit einem Jahr nicht mehr in Marseille, sondern in Toulouse.

 

Ah! dann wundere ich mich nicht mehr, murmelte Dantes; mein einziger Beschützer ist entfernt.

 

Hatte Herr von Villefort irgend einen Grund des Hasses gegen Sie? fragte der Inspektor.

 

Keinen, Herr, er benahm sich sogar sehr wohlwollend gegen mich.

 

Ich kann mich also auf die Erklärungen verlassen, die er über Sie gemacht hat oder mir geben wird?

 

Vollkommen, Herr.

 

Es ist gut. Warten Sie!

 

Dantes fiel auf die Knie und murmelte ein Gebet, worin er Gott diesen Mann empfahl, der in sein Gefängnis herabgestiegen war, wie der Heiland, um die Seelen aus der Hölle zu erretten. Die Tür schloß sich wieder; aber die Hoffnung, die mit dem Inspektor herabgekommen war, blieb ebenfalls im Kerker eingeschlossen.

 

Beeilen wir uns, dass wir fertig werden, sagte der Inspektor: wer kommt jetzt daran?

 

Oh, ein drolliger Narr, antwortete der Gouverneur, er hält sich nämlich für den Besitzer eines ungeheuren Schatzes. Im ersten Jahre seiner Gefangenschaft ließ er der Regierung eine Million anbieten, wenn sie ihn in Freiheit setzen wollte, im zweiten Jahre zwei Millionen, im dritten Jahre drei und so fort. Jetzt ist er im fünften Jahre seiner Gefangenschaft; er wird Sie bitten, insgeheim mit Ihnen sprechen zu dürfen, und Ihnen fünf Millionen anbieten.

 

Oh, das ist sonderbar, sagte der Inspektor, und wie heißt dieser Millionär? – Abbé Faria.

 

Der Schließer öffnete eine Tür, und der Inspektor warf einen neugierigen Blick in den Kerker des närrischen Abbés. Mitten im Zimmer, in einem mit einem Stück Mauerkalk auf der Erde gezogenen Kreise lag ein fast nackter Mensch, so sehr waren seine Kleider in Lumpen zerfallen. Er zeichnete in den Kreis sehr eifrig eine geometrische Linie und schien ebensosehr mit der Lösung seines Problems beschäftigt, wie es Archimedes war, als er von einem Soldaten des Marcellus getötet wurde. Er rührte sich nicht bei dem Geräusche, das das Öffnen des Kerkers veranlaßte, und schien erst zu erwachen, als das Licht der Fackeln mit einem ungewohnten Glanze den feuchten Boden übergoß, auf dem er arbeitete. Dann wandte er sich um und sah mit Erstaunen die zahlreiche Gesellschaft, die in seinen Kerker herabgestiegen war.

 

Sogleich stand er lebhaft auf, nahm eine Decke, die am Fuße seines elenden Bettes lag, und wickelte sich darein, um in den Augen der Fremden in einem schicklicheren Zustande zu erscheinen.

 

Was sind Ihre Wünsche? sagte der Inspektor, ich bin Vertreter der Regierung und habe den Auftrag, die Beschwerden und Bitten der Gefangenen entgegenzunehmen.

 

Oh, dann hoffe ich, wir werden uns verständigen, rief der Abbé.

 

Sehen Sie! sagte leise der Gouverneur. Fängt es nicht an, wie ich gesagt habe?

 

Mein Herr, fuhr der Gefangene fort, ich bin der Abbé Faria, geboren zu Rom und war zwanzig Jahre Sekretär des Kardinals Rospigliosi; ich wurde, ohne zu wissen warum, Anfang 1811 verhaftet. Ich bin sehr glücklich, Sie zu sehen, obgleich Sie mich in einer sehr wichtigen Berechnung gestört haben, in einer Berechnung, die, wenn sie gelingt, vielleicht Newtons Lehre von der Schwerkraft über den Haufen wirft. Können Sie mir die Gunst einer geheimen Unterredung bewilligen?

 

Das ist unmöglich.

 

Wenn es sich jedoch darum handelte, versetzte der Abbé, der Regierung eine ungeheure Summe zuzuwenden, sagen wir fünf Millionen?

 

Wahrhaftig, sagte der Inspektor zum Gouverneur, Sie haben alles, sogar bis auf die Summe, vorhergesagt.

 

Mein Lieber, sagte der Gouverneur, leider wissen wir zum voraus und auswendig, was Sie uns sagen wollen; es handelt sich um Ihre Schätze, nicht wahr?

 

Faria schaute den Spötter mit Augen an, in denen ein vorurteilsloser Beobachter den Blitz der Vernunft und der Wahrheit hätte leuchten sehen; dann sagte er: Allerdings, wovon soll ich sprechen, wenn nicht davon?

 

Herr Inspektor, fuhr der Gouverneur fort, ich kann Ihnen diese Geschichte ebensogut erzählen, wie der Herr Abbé selbst; denn seit vier oder fünf Jahren muß ich immer und ewig dasselbe hören.

 

Das beweist, sagte der Abbé, daß Sie wie die Menschen sind, von denen die Schrift spricht, welche Augen haben und nicht sehen, welche Ohren haben und nicht hören.

 

Mein Lieber, die Regierung ist reich und bedarf, Gott sei Dank, Ihres Schatzes nicht. Behalten Sie ihn also für den Tag, wo Sie dieses Gefängnis verlassen werden.

 

Das Auge des Abbés erweiterte sich; er ergriff die Hand des Inspektors und sagte: Aber wenn ich das Gefängnis nicht verlasse, wenn ich gegen jede Gerechtigkeit in diesem Kerker zurückgehalten werde, wenn ich hier sterbe, ohne mein Geheimnis irgend jemand vermacht zu haben, so ist also der Schatz verloren? Ist es nicht besser, wenn die Regierung daraus Nutzen zieht und ich ebenfalls? Ich werde bis zu sechs Millionen gehen, mein Herr, ja, ich werde sechs Millionen abtreten und mich mit dem Reste begnügen, wenn man mir die Freiheit schenken will.

 

Auf mein Wort, sagte der Inspektor halblaut, wüßte man nicht, daß dieser Mensch ein Narr ist, so müßte man glauben, er rede die Wahrheit, in so überzeugendem Tone spricht er.

 

Ich bin kein Narr, Herr, und sage die Wahrheit, versetzte Faria, der mit der den Gefangenen eigenen Feinheit des Gehörs kein Wort von der Bemerkung des Inspektors verloren hatte. Der Schatz, von dem ich spreche, ist wirklich vorhanden, und ich erbiete mich, einen Vertrag mit Ihnen zu unterschreiben, kraft dessen Sie mich an den von mir angegebenen Ort führen. Man soll die Erde unter unsern Augen ausgraben, und wenn ich lüge, wenn man nichts findet, so bin ich ein Narr, wie Sie sagen, und Sie bringen mich in diesen Kerker zurück, wo ich ewig bleiben und sterben werde, ohne von irgend jemand mehr etwas zu verlangen.

 

Der Gouverneur brach in ein Gelächter aus und sagte: Die Sache ist nicht übel ersonnen. Wenn alle Gefangenen sich den Spaß machen wollten, ihre Wärter hundert Meilen spazieren zu führen, so wäre das ein vortreffliches Mittel für sie, bei Gelegenheit sich aus dem Staube zu machen, und an Gelegenheit würde es dabei nicht fehlen.

 

Es ist ein bekanntes Mittel, sagte der Inspektor, und der Herr hat nicht einmal das Verdienst der Erfindung.

 

Mein Herr, antwortete Faria, schwören Sie mir bei Christus, mir zur Freiheit zu verhelfen, wenn ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, und ich nenne Ihnen den Ort, wo mein Schatz vergraben liegt. Sie wagen dabei nichts, und Sie sehen, daß ich mir nicht dadurch eine Gelegenheit verschaffen will, mich zu flüchten, da ich im Gefängnis bleibe, während die Probe gemacht wird.

 

Sie sind mit Ihrer Kost zufrieden? fragte der Inspektor, um zu Ende zu kommen.

 

Fort mit Ihnen! rief der Abbé. Seien Sie verflucht wie die andern Wahnsinnigen, die mir nicht glauben wollten! Sie wollen nichts von meinem Golde; ich werde es behalten. Sie verweigern mir die Freiheit, Gott wird sie mir schicken. Fort, ich habe nichts mehr zu sagen.

 

Damit warf der Abbé seine Decke zurück, griff wieder nach dem Kalkstück, setzte sich in seinen Kreis und fuhr fort, seine Linien und Zahlen zu zeichnen.

 

Sie gingen weg, und der Gefangenenwärter schloß die Tür hinter ihnen.

 

Er muß in der Tat Schätze besessen haben, sagte der Inspektor, die Treppe hinaufsteigend.

 

Es hat ihm wohl vom Besitz derselben geträumt, antwortete der Gouverneur, und am andern Morgen ist er als Narr erwacht.

 

In der Tat, versetzte der Inspektor mit bezeichnender Naivität, wenn er wirklich reich gewesen wäre, so säße er nicht im Gefängnis.

 

So endigte die Inspektion für den Abbé. Er blieb Gefangener, und sein Ruf als lustiger Narr wuchs noch infolge dieses Besuchs.

 

Was Dantes betrifft, so hielt der Inspektor sein Wort.

 

Als er in die Wohnung des Gouverneurs kam, ließ er sich die Gefangenenliste geben.

 

Die den Gefangenen betreffende Note lautete:

 

Edmond Dantes Wütender Bonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.

 

Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aufsicht zu halten.

 

Diese Note war von einer andern Handschrift und mit einer andern Tinte als das übrige Verzeichnis geschrieben, woraus hervorging, daß man sie während Dantes‘ Gefangenschaft hinzugefügt hatte.

 

Die Anklage war zu bestimmt, als daß ein Ankämpfen dagegen möglich gewesen wäre. Der Inspektor schrieb also daneben: Nichts zu machen.

 

Dieser Besuch hatte Dantes gleichsam wiederbelebt. Seitdem er ins Gefängnis gekommen war, hatte er die Tage zu zählen vergessen: aber der Inspektor gab ihm ein neues Datum, und Dantes vergaß es nicht. Er schrieb an die Wand mit einem Stück von der Decke gelösten Kalk den 30. Juli 1816, und von jetzt an machte er jeden Tag eine Kerbe, um fortlaufend das Datum bestimmen zu können.

 

Die Tage verliefen, dann die Wochen, dann die Monate; Dantes wartete immer. Er hatte damit angefangen, daß er einen Termin von vierzehn Tagen bis zu seiner Befreiung feststellte. Als diese vierzehn Tage abgelaufen waren, sagte er sich, es sei töricht von ihm, zu glauben, der Inspektor würde sich vor seiner Rückkehr nach Paris mit ihm beschäftigen: seine Rückkehr könnte aber nicht eher stattfinden, als bis er seine Rundreise vollendet hätte, und diese Rundreise dürfte einen bis zwei Monate dauern. Er verlängerte also die Frist auf drei Monate. Als drei Monate abgelaufen waren, bewilligte er sechs Monate. Als aber diese sechs Monate abgelaufen waren, stellte es sich heraus, daß er zehn und einen halben Monat gewartet hatte. Während dieser zehn Monate hatte sich nichts in seiner Lage geändert; keine tröstliche Nachricht war zu ihm gelangt; der Gefangenwärter blieb bei seinen Fragen stumm wie gewöhnlich. Dantes fing an, an seinen Sinnen zu zweifeln und zu glauben, was er für eine Erinnerung hielt, sei nichts als die tolle Ausgeburt seines Gehirns, und der tröstende Engel, der in seinem Gefängnisse erschienen, sei auf den Flügeln eines Traumes herabgekommen.

 

Nach Verlauf eines Jahres wurde der Gouverneur versetzt und nahm Dantes‘ Schließer mit. Ein neuer Gouverneur kam an. Es wäre für ihn zu zeitraubend gewesen, sich die Namen aller Gefangenen sagen zu lassen; er ließ sich nur ihre Nummern vorlegen. Das furchtbare Hotel garni auf If bestand aus fünfzig Zimmern; ihre Bewohner wurden mit der Nummer des Zimmers, das sie inne hatten, vorgerufen, und der unglückliche junge Mann hörte auf, seinen Vornamen Edmond oder seinen Namen Dantes zu führen; er hieß Nummer 34.

 

Haydee.

 

Haydee.

 

Die Hoffnung auf den angenehmen Besuch und auf ein paar glückliche Augenblicke verbreitete, sobald Villefort verschwunden war, einen heiteren Ausdruck über das Antlitz des Grafen, so daß Ali, der bei dem Klange des Glöckchens herbeigelaufen war, sich auf der Fußspitze und mit gehemmtem Atem zurückzog, als wollte er die guten Gedanken nicht verscheuchen, die seinen Gebieter zu umschweben schienen.

 

Die schöne Griechin befand sich in einer Wohnung, die von der des Grafen völlig getrennt war. Ihre Gemächer hatte man ganz auf orientalische Weise ausgeschmückt, das heißt, die Böden waren mit dicken türkischen Teppichen belegt, Brokatstoffe fielen an den Wänden herab, und in jedem Zimmer lief an den Wänden ein großer Diwan mit vielen Kissen entlang. Haydee hatte drei französische Kammerfrauen und eine griechische. Die französischen Kammerfrauen verweilten im ersten Zimmer, bereit, auf den Ton eines goldenen Glöckchens herbeizulaufen und den Befehlen der griechischen Sklavin zu gehorchen, die hinreichend Französisch sprach, um ihnen den Willen ihrer Gebieterin zu verdolmetschen, und sollten nach der Vorschrift Monte Christos Haydee mit einer Rücksicht behandeln, die man sonst nur einer Königin gegenüber beobachtet.

 

Die Griechin befand sich im hintersten Zimmer ihrer Wohnung, in einer Art von rundem, nur von oben beleuchtetem Boudoir, worein das Licht durch Scheiben von rosenfarbigem Glase drang. Sie lag auf dem Boden auf Kissen von blauem, mit Silber durchwirktem Atlas, halb zurückgelehnt auf den Diwan, den Kopf mit ihrem weich gerundeten rechten Arme umschlingend, während sie mit der Linken die Korallenspitze einer persischen Pfeife an ihre Lippen hielt. Ihr Anzug war der der epirotischen Frauen; sie trug Beinkleider von weißem, mit rosenfarbigen Blumen broschiertem Atlas, die zwei niedliche Füße entblößt ließen, an denen zwei kleine, mit Gold und Perlen gestickte Sandalen mit aufwärts gebogenen Spitzen sichtbar waren; ferner eine blau und weiß gestreifte Jacke mit weiten, unten geschlitzten Ärmeln, mit silbernen Knopflöchern und Knöpfen von Perlen; endlich eine Art von Leibchen, das durch einen herzförmigen Schnitt den Hals und den ganzen obern Teil der Brust offen ließ und unterhalb des Busens mit zwei Diamantknöpfen geschlossen wurde. Der untere Teil des Leibchens und der obere des Beinkleides verschwanden unter einem Gürtel von lebhaften Farben und mit langen seidenen Fransen. Auf dem Kopfe hatte sie ein mit Gold und Perlen gesticktes, auf die Seite geneigtes Mützchen, unter dem sich eine schöne, natürliche, purpurrote Rose herabneigte.

 

 

Ihr Gesicht zeigte die griechische Schönheit in ihrer ganzen Vollendung, große schwarze, samtartige Augen, marmorne Stirn, gerade Nase, Korallenlippen, Perlenzähne und schwarze Haare. Über dieses reizende Ganze lag die Jugend mit all ihrem Schimmer, all ihrem Dufte ausgebreitet; Haydee mochte kaum neunzehn Jahre alt sein.

 

Monte Christo rief der griechischen Kammerfrau und ließ Haydee um Erlaubnis bitten, bei ihr eintreten zu dürfen. Statt jeder Antwort hieß Haydee ihre Zofe den Vorhang zurückschlagen, der an der Tür angebracht war, deren Simswerk das junge Mädchen wie ein reizendes Gemälde umrahmte.

 

Monte Christo trat ein.

 

Haydee erhob sich auf den Ellenbogen, reichte dem Grafen ihre Hand, lächelte ihm freundlich entgegen und sagte in der wohlklingenden Sprache der Töchter von Athen: Warum läßt du mich um Erlaubnis bitten, bei mir eintreten zu dürfen? Bist du nicht mein Gebieter, bin ich nicht mehr deine Sklavin?

 

Monte Christo lächelte ebenfalls und erwiderte: Haydee, Sie wissen …

 

Warum sagst du nicht mehr du zu mir, wie gewöhnlich? unterbrach ihn die junge Griechin; habe ich denn irgend ein Versehen begangen? Dann mußt du mich bestrafen und nicht Sie nennen.

 

Haydee, entgegnete der Graf, du weißt, daß wir in Frankreich sind, und daß du folglich frei bist.

 

Frei, wozu? fragte das Mädchen.

 

Es steht dir frei, mich zu verlassen.

 

Dich verlassen? … Und warum sollte ich dich verlassen?

 

Was weiß ich? Wir werden andere Leute bei uns sehen.

 

Ich will niemand sehen.

 

Und wenn du unter den jungen Leuten, denen du begegnen wirst, einen träfest, der dir gefiele, so wäre ich nicht so ungerecht …

 

Ich habe keinen schöneren Mann, als du bist, gesehen, und nie einen andern geliebt, als meinen Vater und dich.

 

Armes Kind, sagte Monte Christo, du hast kaum mit jemand anders gesprochen außer mit mir und deinem Vater.

 

Wohl! was brauche ich mit anderen zu sprechen? Mein Vater nannte mich seine Freude, du nennst mich deine Liebe, und Ihr beide nennt mich Euer Kind.

 

Du erinnertst dich deines Vaters, Haydee?

 

Das junge Mädchen lächelte.

 

Er ist da und da, sagte die Griechin, ihre Hand auf ihre Augen und auf ihr Herz legend.

 

Und ich, wo bin ich? fragte lächelnd Monte Christo.

 

Du, erwiderte sie, du bist überall.

 

Monte Christo nahm Haydees Hand, um sie zu küssen, aber das naive Kind entzog sie ihm und bot ihm die Stirn dar.

 

Nun weißt du, Haydee, sagte der Graf, daß du frei, daß du Gebieterin, daß du Königin bist; du kannst deine Tracht beibehalten oder nach deiner Laune aufgeben. Du bleibst hier, wenn du bleiben willst, du fährst aus, wenn du ausfahren willst, es wird stets ein Wagen für dich angespannt sein, Ali und Myrtho begleiten dich überallhin und sind zu deinem Befehl; nur bitte ich dich um eines: Bewahre das Geheimnis deiner Geburt, sage kein Wort über deine Vergangenheit, nenne bei keiner Veranlassung den Namen deines Vaters oder deiner armen Mutter!

 

Herr, ich habe dir bereits gesagt, daß ich niemand sehen werde.

 

Höre mich, Haydee, diese orientalische Abgeschlossenheit wird dir in Paris vielleicht unmöglich werden. Fahre fort, das Leben in unsern nördlichen Ländern kennen zu lernen, wie du dies in Rom, in Florenz, in Mailand und in Madrid getan hast; dies wird dir immerhin nützlich sein, magst du nun beständig hier leben oder nach dem Orient zurückkehren.

 

Das Mädchen schlug seine großen, feuchten Augen zu dem Grafen auf und erwiderte: Oder ob wir nach dem Orient zurückkehren, willst du sagen, nicht wahr, Herr?

 

Ja, meine Tochter, du weißt wohl, daß ich dich nie verlassen werde. Nicht der Baum verläßt die Blüte, sondern die Blüte trennt sich vom Baume. Ich werde dich auch nie verlassen, Herr, denn ich weiß, daß ich ohne dich nicht leben könnte.

 

Armes Kind! In zehn Jahren bin ich alt, und in zehn Jahren bist du noch ganz jung.

 

Mein Vater hatte einen langen, weißen Bart; das hinderte mich nicht, ihn zu lieben; mein Vater zählte sechzig Jahre, und er kam mir schöner vor, als alle jungen Leute, die ich sah.

 

Doch sage mir, glaubst du, daß es dir hier gefallen wird? – Werde ich dich sehen? – Jeden Tag. Nun, Herr, warum fragst du mich dann? – Ich befürchte, du langweilst dich.

 

Nein, Herr, denn am Morgen denke ich, daß du kommen wirst, und am Abend erinnere ich mich, daß du gekommen bist; dann habe ich im Herzen drei Gefühle, mit denen man sich nie langweilt: die Traurigkeit, die Liebe und die Dankbarkeit.

 

Du bist eine würdige Tochter des Epirus, Haydee, du Anmutige, du Poetische, und man sieht, daß du von der in deinem Lande geborenen Familie von Göttinnen abstammst. Sei also unbesorgt, meine Tochter, ich werde es so machen, daß deine Schönheit nicht verloren geht, denn wenn du mich wie deinen Vater liebst, so liebe ich dich wie mein Kind.

 

Du täuschest dich, Herr, ich liebte meinen Vater nicht, wie ich dich liebe, meine Liebe für dich ist eine andere Liebe; mein Vater ist tot, und ich bin nicht tot, während ich sterben müßte, wenn du sterben würdest.

 

Der Graf reichte Haydee die Hand mit einem Lächeln voll tiefer Zärtlichkeit; sie drückte wie gewöhnlich ihre Lippen darauf.

 

Und so in der rechten Stimmung für die Zusammenkunft, die er mit Morel und seiner Familie haben sollte, entfernte er sich, folgende Verse von Pindar murmelnd:

 

Die Jugend ist eine Blüte, deren Frucht die Liebe ist …

Glücklich ist der Gärtner, der sie pflückt, nachdem er sie langsam hat reifen sehen.

 

Der Wagen stand seinen Befehlen gemäß bereit. Er stieg ein, und die Pferde führten ihn wie immer im Galopp fort.

 

-Kapitelname unbekannt-

-Kapitelname unbekannt-


Der Graf von Monte Christo. Erster Band.





Marseille. – Die Ankunft.

 

Marseille. – Die Ankunft.

Am 25. Februar 1815 fuhr der Dreimaster Pharao langsam und wie zögernd in den Hafen von Marseille. Eine Trauerwolke schien das Schiff zu umschweben. Gespannt folgte eine schaulustige Menge allen Bewegungen des Fahrzeugs und bemerkte bei dessen Näherkommen, daß es von einem auffallend jungen und wohlgestalten, dabei aber anscheinend ebenso tatkräftigen wie geschickten Manne gelenkt wurde.

 

Das Volk von Marseille, dem schon seit Gründung der Stadt einiges Griechenblut durch die Adern rollt, ist von Natur lebhaft und neugierig. In jenen Tagen kam dazu eine besondere Unruhe, die vor allem die Herzen der heißblütigen Provençalen erfüllte. Seit neun Monaten weilte Napoleon nach jähem Sturz von halbgottähnlicher Machthöhe als Verbannter auf dem unfernen Eiseneiland Elba. Die Royalisten triumphierten in Frankreich, und nichts war gefährlicher, als bonapartistischer Umtriebe oder auch nur bonapartistischer Gesinnung verdächtig zu sein. Nichtsdestoweniger raunte sich die immer wachsende Zahl der Wohlunterrichteten zu, der kleine Korse mit dem großen Zäsarenkopf bereite sich vor, die ihm aufgedrängte Maske des gebändigten Löwen abzuwerfen. Die Beschränktheit der Anhänger des neuen Königs, Ludwigs XVIII., die alle Errungenschaften der Revolution zurückzuschrauben wünschten, die Uneinigkeit der in Wien um das Erbe des Verbannten sich streitenden Mächte, der noch frische Ruhmesglanz des blendenden napoleonischen Namens ließen die Augen vieler Franzosen sich immer aufgeregter und erwartungsvoller nach dem Süden richten.

 

Unter der bewegten des Pharao harrenden Menge fiel ein Mann auf, der, wie es schien, vor Unruhe die Einfahrt des Schiffes gar nicht erwarten konnte. Er sprang in eine kleine Barke und befahl, dem Pharao entgegenzurudern, den er auch bald erreichte. Als der junge Leiter des Fahrzeugs die Barke sich nähern sah, verließ er seinen Posten neben dem Lotsen, dessen Befehle er mit rascher Gebärde und lebhaftem Blick für die Mannschaft wiederholt hatte, nahm den Hut in die Hand und lehnte sich über die Brüstung des Schiffes.

 

Es war ein Jüngling von achtzehn bis zwanzig Jahren mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren. In seiner ganzen Person drückte sich Ruhe und Entschlossenheit aus, wie sie den Menschen eigentümlich sind, die von Kindheit an mit der Gefahr zu kämpfen haben.

 

Ah, Sie sind es, Dantes, rief der Mann in der Barke; was ist geschehen, und was bedeutet das traurige Aussehen des Schiffes?

 

Ein großes Unglück, Herr Morel, antwortete der junge Mann. Auf der Höhe von Civita Vecchia haben wir den braven Kapitän Leclère verloren.

 

Und die Ladung? fragte lebhaft der Reeder.

 

Ist glücklich geborgen, Herr Morel, und ich glaube, Sie werden in dieser Hinsicht zufrieden sein; aber der arme Kapitän …

 

Was ist ihm denn geschehen? fragte der Reeder, sichtbar erleichtert, was ist ihm denn geschehen, dem braven Kapitän?

 

Er ist tot. – In das Meer gefallen?

 

Nein, er starb an einer Hirnentzündung. Dann wandte sich der junge Seemann seinen Leuten zu, rief: Holla, he! Jeder an seinen Posten zum Ankern! und erst als er sah, daß seine Befehle vollführt wurden, kehrte er zu Herrn Morel zurück.

 

Mein Gott, ganz überraschend. Nach einer langen Unterredung mit dem Hafenkommandanten verließ der Kapitän Neapel in sehr aufgeregtem Zustande. Nach 24 Stunden faßte ihn das Fieber, drei Tage nachher war er tot … Er ruht in einer Hängematte, eine Kugel an den Füßen und eine am Kopf, auf der Höhe der Insel Giglio. Wir bringen der Witwe sein Ehrenkreuz und seinen Degen zurück. Warum mußte er, fuhr der junge Mann schwermütig fort, zehn Jahre gegen die Engländer kämpfen, um nun einen solchen Strohtod zu sterben?

 

Verdammt! Wir sind alle sterblich, und die Alten müssen den Jungen Platz machen, und von dem Augenblicke an, wo ich sicher bin, daß die Ladung …

 

Sie befindet sich in gutem Zustande, Herr Morel, dafür stehe ich. Das ist eine Ladung, die ich Ihnen nicht für 25000 Franken Nutzen aus der Hand zu geben rate. Dann, als man um den Leuchtturm am Hafeneingang fuhr, rief er: Alle Segel gestrichen!

 

Der Befehl wurde mit derselben Geschwindigkeit ausgeführt, wie auf einem Kriegsschiffe, und das Schiff rückte nur noch langsam vorwärts.

 

Wenn Sie heraufkommen wollen, Herr Morel, sagte Dantes, die Unruhe des Reeders wahrnehmend, hier ist Ihr Rechnungsführer, Herr Danglars, der wird Ihnen jede Auskunft geben. Ich meinesteils muß für die Ankerung sorgen. – Der Reeder ließ sich das nicht zweimal sagen und erstieg behende das Schiff, wo ihm, während Dantes auf seinen Posten zurückkehrte, Danglars entgegenkam.

 

Danglars war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, unterwürfig gegen seine Obern und barsch gegen seine Untergebenen, Eigenschaften, die ihn allgemein bei der Mannschaft ebenso verhaßt machten, wie Edmond Dantes bei ihr beliebt war. Nun, Herr Morel, sagte Danglars, Sie wissen bereits das Unglück, nicht wahr?

 

Ja, ja, der arme Leclère! Ein braver, ehrlicher Mann!

 

Und ein trefflicher Seemann, ergraut zwischen Himmel und Wasser, wie es sich für einen Mann geziemt, dem die Interessen eines so wichtigen Hauses wie Morel und Sohn anvertraut sind.

 

Aber, versetzte der Reeder, mit den Augen dem geschäftigen Dantes folgend, es scheint mir, man braucht nicht gerade ein so alter Seemann zu sein, um sein Handwerk zu kennen, und unser Freund Edmond hier treibt das seinige, meine ich, wie ein Mensch, der niemandes Rat nötig hat.

 

Ja, antwortete Danglars, auf Dantes einen Blick des Hasses werfend, ja, der ist jung und fürchtet nichts. Kaum war der Kapitän tot, so übernahm er das Kommando, ohne jemand um Rat zu fragen, und ließ uns anderthalb Tage auf der Insel Elba verlieren, statt unmittelbar nach Marseille zurückzukehren.

 

Was die Übernahme des Kommandos betrifft, sagte der Reeder, so war dies seine Pflicht als Sekond; was aber das Verlieren von anderthalb Tagen auf der Insel Elba betrifft, so hatte er unrecht, wenn nicht das Schiff Haverei ausbessern mußte.

 

Das Schiff befand sich so wohl, wie ich mich befinde, und diese anderthalb Tage dienten bloß dem Vergnügen, ans Land zu steigen.

 

Dantes, sagte der Reeder, sich nach dem jungen Mann umwendend, kommen Sie hierher!

 

Ich bitte um Entschuldigung, erwiderte Dantes, ich stehe sogleich zu Diensten; dann rief er der Mannschaft zu: Anker geworfen!

 

Sogleich fiel der Anker, und die Kette rasselte geräuschvoll hinterdrein. Dantes blieb trotz der Gegenwart des Lotsen an seinem Posten, bis dieses letzte Manöver beendigt war. Dann rief er: Hißt die Flagge Halbmast! Kreuzt die Segelstangen! Sie sehen, sagte Danglars, auf mein Wort, er hält sich bereits für den Kapitän.

 

Gott verdamme mich, warum sollen wir ihn nicht an diesem Posten lassen? entgegnete der Reeder; ich weiß wohl, er ist jung, aber er scheint mir ganz bei der Sache und bereits recht erfahren zu sein.

 

Eine Zorneswolke trübte Danglars‘ Miene.

 

Um Vergebung, Herr Morel, sagte Dantes nähertretend; nun, da das Schiff geankert hat, stehe ich zu Befehl.

 

Danglars machte einen Schritt rückwärts.

 

Ich wollte Sie fragen, warum Sie an der Insel Elba angehalten haben, begann der Reeder.

 

Es geschah in Vollzug eines letzten Befehls des Kapitäns Leclère, der mir sterbend ein Paket für den Großmarschall Bertrand übergab.

 

Sie haben ihn also gesehen, Edmond?

 

Wen? – Den Großmarschall. – Ja.

 

Morel schaute um sich her, zog Dantes beiseite und fragte lebhaft: Wie geht es dem Kaiser?

 

Gut, soviel ich mit meinen eigenen Augen sehen konnte.

 

Haben Sie mit ihm gesprochen? Was sagte er?

 

Er stellte Fragen an mich über das Schiff, über Zeit und Weg unserer Fahrt nach Marseille und über die Ladung. Ich glaube, wäre ich der Herr des Schiffes gewesen, so hätte er es kaufen wollen. Aber ich sagte ihm, ich sei nur Sekond, und das Schiff gehöre dem Hause Morel und Sohn. Ah, erwiderte er, ich kenne das Haus. Die Morel sind ein altes Reedergeschlecht, und ein Morel stand in demselben Regimente mit mir in Valence in Garnison.

 

Das ist bei Gott wahr! rief der Reeder ganz freudig, es war Policar Morel, mein Oheim, der später Kapitän geworden ist. Dantes, Sie werden meinem Oheim sagen, daß der Kaiser sich seiner erinnert hat, und der alte Murrkopf wird weinen. Gut, gut, fuhr der Reeder, dem jungen Menschen vertraulich auf die Schulter klopfend, fort, Sie haben wohl daran getan, Dantes, den Auftrag des Kapitäns Leclère zu erfüllen und an der Insel Elba anzuhalten. Doch wenn man wüßte, daß Sie dem Marschall ein Paket übergeben und mit dem Kaiser gesprochen haben … es könnte Sie gefährden.

 

Wie sollte mich dies gefährden? entgegnete Dantes. Ich weiß nicht einmal, was ich überbrachte, und der Kaiser richtete nur die nächstliegenden Fragen an mich. Doch um Vergebung, hier sind die Zollbeamten. Sie erlauben … nicht wahr?

 

Gewiß, mein lieber Dantes. Der junge Mann entfernte sich, und je weiter er sich entfernte, desto näher kam Danglars.

 

Nun, fragte er, er scheint Ihnen gute Gründe für seinen Aufenthalt in Elba angegeben zu haben?

 

Vortreffliche Gründe, antwortete der Reeder, und es läßt sich nichts dagegen einwenden. Kapitän Leclère selbst hatte ihm den Befehl erteilt.

 

Ah! was den Kapitän Leclère betrifft … hat Dantes Ihnen nicht einen Brief von ihm zugestellt?

 

Nein! Hatte er denn einen?

 

Ich glaubte, der Kapitän Leclère hätte ihm außer dem Paket auch einen Brief anvertraut.

 

Von welchem Paket sprechen Sie, Danglars?

 

Von dem, das Dantes auf Elba abzugeben hatte.

 

Woher wissen Sie, daß er ein Paket abzugeben hatte?

 

Danglars errötete und sagte: Ich ging an der halb geöffneten Tür der Kapitänskabine vorüber und sah, wie Leclère den Brief und das Paket Dantes einhändigte.

 

Er hat mir nichts davon gesagt, entgegnete der Reeder, wird mir aber wohl den Brief noch übergeben.

 

Danglars überlegte einen Augenblick und erwiderte: Ich bitte Sie, Herr Morel, nicht mit Dantes davon zu sprechen; ich werde mich getäuscht haben.

 

In diesem Augenblick kehrte der junge Mann zurück, während Danglars sich entfernte.

 

Nun, mein lieber Dantes, sind Sie frei? fragte der Reeder. – Jawohl, alles ist in Ordnung. – Sie können mit mir zu Mittag speisen. – Ich bitte, entschuldigen Sie mich, Herr Morel; mein erster Besuch gehört meinem Vater. Doch ich bin darum nicht minder dankbar für die Ehre, die Sie mir erzeigen. – Recht, Dantes, ganz recht. Ich weiß, daß Sie ein guter Sohn sind; aber nach diesem ersten Besuche zählen wir auf Sie. – Entschuldigen Sie abermals, nach diesem ersten Besuche habe ich einen zweiten zu machen, der mir nicht minder am Herzen liegt. – Ah! das ist wahr, Dantes, ich vergaß, daß es unter den Kataloniern jemand gibt, der mit nicht geringerer Ungeduld auf Sie wartet, als Ihr Vater. Es ist die schöne Mercedes.

 

Dantes errötete.

 

Ah! ah! sagte der Reeder, ich wundere mich gar nicht mehr, daß sie dreimal zu mir gekommen ist und mich um Nachricht über den Pharao gebeten hat. Edmond, Sie sind nicht zu beklagen, Sie haben eine hübsche Braut. Doch da fällt mir ein, hat Ihnen nicht der Kapitän Leclère sterbend einen Brief für mich gegeben?

 

Es war ihm unmöglich, zu schreiben. Nun möchte ich mir aber noch auf einige Tage Urlaub erbitten.

 

Um zu heiraten?

 

Einmal und dann, um nach Paris zu gehen.

 

Gut, gut, Sie nehmen sich so viel Zeit, als Sie wollen, Dantes. Zum Löschen des Schiffes brauchen wir an sechs Wochen, und vor drei Monaten gehen wir nicht wieder in See. Sie müssen also erst in drei Monaten hier sein. Der Pharao, fuhr der Reeder, den jungen Mann auf die Schulter klopfend, fort, könnte nicht ohne seinen Kapitän abgehen.

 

Ohne seinen Kapitän? rief Dantes mit funkelnden Augen, Sie entsprechen den geheimsten Hoffnungen meines Herzens. Es wäre also wirklich Ihre Absicht, mich zum Kapitän des Pharao zu ernennen?

 

Wenn ich allein wäre, würde ich Ihnen die Hand reichen, lieber Dantes, und sagen: Es ist abgemacht! Aber ich habe einen Associe, und Sie kennen das italienische Sprichwort: Che ha compagno ha padrone. (Wer einen Kompagnon hat, hat auch einen Herrn.) Doch zur Hälfte ist das Geschäft wenigstens abgeschlossen, denn von zwei Stimmen haben Sie bereits eine. Überlassen Sie es mir, Ihnen die andere zu verschaffen; ich werde mein möglichstes tun!

 

Oh, Herr Morel! rief der junge Seemann und ergriff, mit Tränen in den Augen, die Hände des Reeders, Herr Morel, ich danke Ihnen in meines Vaters und in Mercedes‘ Namen.

 

Es ist gut, Edmond, es gibt einen Gott im Himmel für die braven Leute! Besuchen Sie Ihren Vater und Mercedes, und kommen Sie dann zu mir zurück!

 

Soll ich Sie nicht an das Land führen?

 

Nein, ich danke, ich bleibe hier, um meine Rechnung mit Danglars zu ordnen. Sind Sie während der Reise mit ihm zufrieden gewesen?

 

Das kommt auf den Sinn an, in dem Sie diese Frage an mich richten. In Bezug auf gute Kameradschaft, nein; denn ich glaube, er liebt mich nicht mehr, seitdem ich bei einem kleinen Streit die Dummheit beging, ihm vorzuschlagen, zehn Minuten an der Insel Monte Christo anzuhalten, um den Streit auszumachen, ein Vorschlag, den er mit Recht zurückwies. Fragen Sie mich aber nach dem Rechnungsführer, so glaube ich, daß Sie mit der Art und Weise, wie er sein Geschäft besorgt hat, zufrieden sein werden.

 

Wie aber? sagte der Reeder; wenn Sie Kapitän des Pharao wären, würden Sie Danglars gern behalten?

 

Kapitän oder Sekond, antwortete Dantes, ich werde stets die größte Achtung vor denen haben, die das Vertrauen meiner Reeder besitzen.

 

Schön, schön, Dantes, ich sehe, daß Sie in jeder Beziehung ein braver Bursche sind; ich will Sie nicht länger aufhalten, denn Sie stehen gewiß wie auf glühenden Kohlen.

 

Auf Wiedersehen, Herr Morel, und tausend Dank! Der junge Seemann sprang in den Kahn und gab Befehl, an der Cannebière zu landen. Der Reeder folgte ihm lächelnd mit den Augen bis zum Kai, sah ihn aussteigen und sich unter der bunten Menge verlieren, die von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends die berühmte Rue de la Cannebière durchströmt, auf welche die Marseiller so stolz sind, daß sie mit dem größten Ernste von der Welt sagen: Wenn Paris die Cannebière hätte, so wäre es ein kleines Marseille.

 

Als er sich umwandte, erblickte der Reeder Danglars hinter sich, der dem Anscheine nach seine Befehle erwartete, in Wirklichkeit aber dem jungen Seemanne mit dem Blicke folgte. Nur war ein großer Unterschied in dem Ausdruck dieser beiden Blicke, die demselben Menschen folgten.

Das Haus in Auteuil.

 

Das Haus in Auteuil.

 

Monte Christo war es nicht entgangen, daß Bertuccio sich bekreuzt und im Wagen ein kurzes Gebet gemurmelt hatte, denn er ließ den Intendanten, dessen Widerwille gegen die Fahrt unverkennbar war, keinen Augenblick aus den Augen.

 

In zwanzig Minuten war man in Auteuil. Die Unruhe des Intendanten hatte immer mehr zugenommen, und als sie in das Dorf hineinfuhren, betrachtete er mit fieberhafter Aufregung jedes Haus, an dem sie vorüberkamen.

 

Sie lassen in der Rue de la Fontaine Nr. 30 halten, sagte der Graf, seinen Blick unbarmherzig auf den Intendanten heftend.

 

Der Schweiß trat Bertuccio aufs Gesicht, aber er gehorchte und rief, sich aus dem Wagen neigend, dem Kutscher zu: Rue de la Fontaine, Nr. 30.

 

Diese Nummer 30 lag am Ende des Dorfes. Während der Fahrt war es Nacht geworden, der Wagen hielt an, und der Lakai stürzte an den Schlag und öffnete.

 

Nun! sagte der Graf, Sie steigen nicht aus, Herr Bertuccio, Sie bleiben im Wagen? Aber zum Teufel, was ist Ihnen denn heute?

 

Bertuccio sprang aus dem Wagen und bot seine Schulter dem Grafen zur Stütze.

 

Klopfen Sie, sagte dieser, und melden Sie mich an.

 

Bertuccio klopfte, die Tür öffnete sich, und der Hausmeister erschien.

 

Was beliebt? fragte er.

 

Ihr neuer Herr ist hier, sagte der Diener und übergab dem Hausmeister das Schreiben des Notars.

 

Das Haus ist also verkauft, und der Herr wird es bewohnen? versetzte der Hausmeister.

 

Ja, mein Freund, sagte der Graf, und ich werde dafür sorgen, daß Sie den Verlust Ihres früheren Herrn nicht zu beklagen haben.

 

Oh! Herr, ich habe nicht viel zu beklagen, denn wir sahen ihn nur äußerst selten, den Herrn Marquis von Saint-Meran.

 

Der Marquis von Saint-Meran! versetzte Monte Christo, der Name kommt mir bekannt vor … Und er schien in seinem Gedächtnis zu suchen.

 

Ein alter Edelmann, fuhr der Hausmeister fort, ein getreuer Diener der Bourbonen. Er hatte eine einzige Tochter, die an Herrn von Villefort verheiratet war, der Staatsanwalt in Nimes und später in Versailles gewesen ist.

 

Monte Christo warf einen Blick auf Bertuccio, der fahler aussah, als die Mauer, an die er sich lehnte, um nicht zu fallen.

 

Ist diese Tochter nicht gestorben? fragte Monte Christo; es ist mir, als hätte ich davon gehört.

 

Ja, vor einundzwanzig Jahren.

 

Ich danke, sagte Monte Christo, denn der Intendant kam ihm so niedergeschmettert vor, daß er jetzt nicht weiter fragte. Nehmen Sie eine Wagenlaterne, Bertuccio, und zeigen Sie mir die Zimmer!

 

Der Intendant gehorchte unverzüglich, aber aus dem Zittern der Hand, welche die Laterne hielt, war leicht zu entnehmen, was ihn dieser Gehorsam kostete. Sie durchschritten ein ziemlich geräumiges Erdgeschoß und einen ersten Stock, bestehend aus einem Salon, einem Badezimmer und zwei Schlafzimmern. Durch eines von diesen Schlafzimmern gelangte man zu einer Wendeltreppe, die nach außen zu führen schien.

 

Ah! ein Nebenausgang, sagte der Graf, das ist sehr bequem. Leuchten Sie mir, Herr Bertuccio; gehen Sie voraus, wir wollen sehen, wohin die Treppe führt!

 

Herr Graf, sie geht in den Garten. – Und woher wissen Sie das? – Das heißt, sie muß wohl dahin führen. – Gut, wir wollen uns überzeugen.

 

Bertuccio stieß einen Seufzer aus und ging voran. Die Treppe führte wirklich nach dem Garten. An der Ausgangstür blieb Bertuccio stehen.

 

Vorwärts! sagte der Graf.

 

Doch Bertuccio war wie betäubt, wie vernichtet. Seine irren Augen suchten ringsumher die Spuren einer furchtbaren Vergangenheit, und er schien mit seinen krampfhaft zusammengepreßten Händen entsetzliche Erinnerungen zurückdrängen zu wollen.

 

Nun! rief der Graf.

 

Nein, stammelte Bertuccio, die Laterne hinstellend; nein, Herr Graf, ich gehe nicht weiter, es ist unmöglich!

 

Was soll das heißen? entgegnete des Grafen gebieterische Stimme.

 

Sie sehen Wohl, Exzellenz, rief der Intendant, daß dies nicht mit natürlichen Dingen zugeht. Sie wollten ein Haus in der Gegend von Paris kaufen und kauften gerade eins in Auteuil, und das Haus, das Sie kauften, ist gerade Nummer 30 in der Rue de la Fontaine. Oh! warum habe ich Ihnen nicht schon dort alles gesagt, gnädiger Herr; Sie hätten sicherlich nicht von mir verlangt, ich solle mitfahren. Ich hoffte, das Haus des Herrn Grafen würde ein anderes sein! Als ob es nicht noch mehr Häuser in Autenil gäbe als das, wo der Mord vorgefallen ist!

 

Oh! oh! rief Monte Christo, was für ein scheußliches Wort haben Sie da ausgesprochen! Teufel von einem Menschen! Eingefleischter Korse! Stets Aberglauben oder Geheimnisse! Nehmen Sie die Laterne und lassen Sie uns den Garten besehen, in meiner Gegenwart werden Sie hoffentlich keine Angst haben?

 

Bertuccio hob die Laterne auf und gehorchte. Als die Tür sich öffnete, wurde ein blasser Himmel sichtbar, an dem der Mond vergebens gegen ein Meer ihn meist verhüllender Wolken kämpfte. Der Intendant wollte sich nach der linken Seite wenden.

 

Nein, nein, sagte der Graf, wozu den Alleen folgen? Hier ist ein schöner Rasen, gehen wir geradeaus!

 

Bertuccio wischte den Schweiß von seiner Stirn ab, gehorchte, zielte dabei aber fortwährend nach links. Monte Christo wandte sich im Gegenteil mehr rechts; an einer Baumgruppe blieb er stehen. Der Intendant vermochte es nicht länger auszuhalten und rief: Zurück, Herr! ich bitte, halten Sie sich fern, Sie sind gerade an der Stelle.

 

Lieber Bertuccio, versetzte der Graf lachend, kommen Sie doch zu sich, wir sind hier in einem, ich kann es nicht leugnen, schlecht unterhaltenen englischen Garten, weiter nichts.

 

Gnädigster Herr, ich flehe Sie an, bleiben Sie nicht dort!

 

Ich glaube, Sie werden ein Narr, Bertuccio; wenn dies der Fall ist, so sagen Sie es mir, ich lasse Sie in irgend eine Heilanstalt einsperren, ehe ein Unglück geschieht.

 

Ach, Exzellenz, sagte Bertuccio, den Kopf schüttelnd und die Hände mit einer Bewegung faltend, die den Grafen zum Lachen gebracht hätte, wenn ihn nicht im Augenblick Gedanken von höherem Interesse gefesselt und äußerst aufmerksam auf jede Äußerung dieses von der Angst gepeinigten Gewissens gemacht hätten; ach! Exzellenz, das Unglück ist geschehen.

 

Bertuccio, entgegnete der Graf, ich erlaube mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie bei Ihren heftigen Gebärden sich die Arme verdrehen und die Augen rollen, wie ein Besessener, aus dessen Leib der Teufel nicht weichen will. Ich habe aber stets wahrgenommen, daß der Teufel mit der größten Hartnäckigkeit am Platze zu bleiben trachtet, wo ein Geheimnis zu Grunde liegt. Ich wußte, daß Sie ein Korse sind, ich wußte auch, daß Sie stets düster waren und eine alte Rache im Herzen trugen, und ließ dies in Italien hingehen, weil dergleichen dort gang und gäbe ist. In Frankreich aber ist man gegen Morde allgemein sehr eingenommen; es gibt Gendarmen, die sich damit beschäftigen, Richter, die verurteilen, und rächende Schafotte.

 

 

Bertuccio faltete die Hände, während die Laterne, die er hielt, sein verstörtes Gesicht beleuchtete. Monte Christo schaute ihn eine Minute lang mit demselben Blick an, mit dem er in Rom Andreas Hinrichtung angeschaut hatte, und sprach dann mit einem Tone, bei dem ein neuer Schauer den Leib des armen Intendanten durchlief: Der Abbé Busoni hat also gelogen, als er mir Sie nach seiner Reise durch Frankreich im Jahre 1829 mit einem Empfehlungsbriefe zuschickte, worin er Ihre kostbaren Eigenschaften hervorhob. Gut, ich werde dem Abbéschreiben, ich werde ihn für seinen Schützling verantwortlich machen und ohne Zweifel erfahren, wie es sich mit dieser Mordgeschichte verhält. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, Bertuccio, daß ich mich immer, wo ich meinen Aufenthalt nehme, nach den Gesetzen des Landes zu richten pflege und keine Lust habe, mich Ihnen zu Liebe mit der französischen Justiz zu entzweien.

 

Oh! tun Sie das nicht, Exzellenz; nicht wahr, ich habe treu gedient? rief Bertuccio in Verzweiflung, ich bin immer ein ehrlicher Mann gewesen, und habe sogar, soviel ich vermochte, gute Handlungen verrichtet.

 

Ich leugne das nicht, doch warum zum Teufel gebärden Sie sich so? Das ist ein schlimmes Zeichen; ein reines Gewissen bringt nicht solche Blässe auf die Wangen, solches Fieber in die Hände …

 

Aber, Herr Graf, versetzte Bertuccio zögernd, sagten Sie mir nicht selbst, es sei Ihnen vom Abbé Busoni, der mich im Gefängnis zu Nimes beichten hörte, mitgeteilt worden, ich hätte mir einen schweren Vorwurf zu machen?

 

Ja, doch da er Sie mit der Bemerkung, Sie würden ein vortrefflicher Intendant werden, zu mir sandte, so glaubte ich, Sie hätten gestohlen.

 

Oh! Herr Graf, rief Bertuccio mit Verachtung.

 

Oder als Korse hätten Sie der Begierde nicht widerstehn können, eine Haut zu machen, wie man in Ihrem Lande sonderbarerweise sagt, während man doch eine Haut vernichtet.

 

Nun ja, guter gnädiger Herr, ja, Exzellenz, so ist es, rief Bertuccio, sich dem Grafen zu Füßen werfend, ja, es ist eine Rache, das schwöre ich, nichts als eine Rache.

 

Ich begreife das, begreife aber nicht, warum Sie gerade dieses Haus in solche heftige Aufregung versetzt?

 

Ist das nicht natürlich, gnädigster Herr, da in diesem Hause die Rache vollführt wurde?

 

Wie, in meinem Hause?

 

Oh! Exzellenz, es gehörte Ihnen noch nicht.

 

Das ist ein seltsames Zusammentreffen. Sie befinden sich durch Zufall wieder an einem Orte, wo eine Szene vorgefallen ist, die so furchtbare Gewissensbisse bei Ihnen veranlaßt …

 

Gnädiger Herr, ich bin fest überzeugt, ein unvermeidliches Verhängnis lenkt dies so. Zuerst kaufen Sie ein Haus gerade in Auteuil. Dieses Haus ist das, wo ich einen Mord begangen habe; Sie steigen in den Garten gerade auf der Treppe herab, wo er herabgestiegen ist; Sie bleiben gerade auf der Stelle stehen, wo er den Stoß erhalten hat. Zwei Schritte von hier, unter jener Platane, war das Grab, wo er das Kind verscharrt hatte. Alles dies ist kein Zufall, sonst müßte der Zufall zu sehr der Vorsehung gleichen.

 

Gut, nehmen wir an, es sei die Vorsehung – ich nehme immer alles an, was man will; überdies muß man kranken Geistern entgegenkommen. Auf, Bertuccio, fassen Sie sich und erzählen Sie mir die ganze Geschichte.

 

Ich habe sie nur ein einziges Mal erzählt, und zwar dem Abbé Busoni. Dergleichen, fügte Bertuccio hinzu, läßt sich nur unter dem Siegel der Beichte aussprechen.

 

Dann werden Sie es für angezeigt halten, wenn ich Sie zu Ihrem Beichtvater schicke, mein lieber Bertuccio! Doch mir bangt vor einem Gaste, den solche Gespenster in Schrecken versetzen; mir paßt es nicht, daß meine Leute am Abend nicht in den Garten zu gehen wagen. Auch muß ich gestehen, daß mich durchaus nicht nach dem Besuche irgend eines Polizeikommissars verlangt. Denn lassen Sie sich sagen, Herr Bertuccio, in Italien bezahlt man die Justiz nur, wenn sie schweigt, in Frankreich bezahlt man sie dagegen nur, wenn sie spricht. Teufel! ich meinte, Sie seien noch ein wenig Korse, ein gut Teil Schmuggler und ein äußerst geschickter Intendant; aber ich sehe, daß Sie noch andere Saiten auf Ihrem Bogen haben. Sie sind nicht mehr in meinem Dienst!

 

Oh! gnädigster Herr, rief der Intendant, bei dieser Drohung vom heftigsten Schrecken ergriffen, wenn es nur hiervon abhängt, ob ich in Ihrem Dienste bleibe, so werde ich reden, so werde ich alles sagen, und wenn ich Sie verlasse, nun so mag es sein, um das Schafott zu besteigen!

 

Das ist etwas anderes, sagte Monte Christo, doch wenn Sie lügen wollen, überlegen Sie es sich wohl! Es wäre dann besser, Sie sprächen gar nicht.

 

Nein, Herr Graf, ich schwöre Ihnen bei dem Heile meiner Seele, ich werde alles sagen; denn selbst der Abbé Busoni hat nur einen Teil meines Geheimnisses erfahren. Aber ich flehe Sie vor allem an, entfernen Sie sich von dieser Platane; sehen Sie, der Mond tritt eben hervor und will jene Stelle beleuchten, und dort, wo Sie stehen, in den Mantel gehüllt, der mir Ihre Gestalt verbirgt und ganz dem des Herrn von Villefort gleicht …

 

Wie! rief Monte Christo, Herrn von Villefort? …

 

Eure Exzellenz kannte ihn? – Ja, wenn es der ehemalige Staatsanwalt von Nimes ist, der den Ruf eines der ehrlichsten und gerechtesten Beamten hatte? – Jawohl, gnädiger Herr, rief Bertuccio, dieser Mann … – Nun? – War ein Schurke! –

 

Bah, unmöglich! – Es ist dennoch, wie ich Ihnen sage. – Oh! und Sie haben den Beweis dafür? – Ich hatte ihn wenigstens. – Und Sie waren so ungeschickt, ihn zu verlieren? – Ja, doch wenn man gut sucht, kann man ihn wohl wieder finden. – Wahrhaftig, erzählen Sie mir das, Bertuccio, denn es fängt wirklich an, mich zu interessieren!

 

Und eine Arie aus der Oper Lucia trällernd, setzte sich der Graf auf eine Bank, während ihm Bertuccio, seine Erinnerungen sammelnd, folgte. Bertuccio blieb vor Monte Christo stehen.

 

Die Vendetta.

 

Die Vendetta.

 

Wo soll ich anfangen, Herr Graf? fragte Bertuccio.

 

Wo Sie wollen, erwiderte Monte Christo, denn ich weiß von nichts.

 

Die Sache geht in das Jahr 1815 zurück.

 

Ah! ah! rief Monte Christo, 1815 ist lange her.

 

Ja, gnädiger Herr, aber dennoch sind die geringsten Umstände meinem Gedächtnis so gegenwärtig, als wäre nur ein Tag vergangen. Ich hatte einen älteren Bruder, der dem Kaiser diente und Leutnant in einem ganz aus Korsen bestehenden Regiment war. Dieser Bruder war mein einziger Freund; wir waren, ich mit fünf, er mit achtzehn Jahren, Waisen; er zog mich auf, als wäre ich sein Sohn. Im Jahre 1814, unter den Bourbonen, verheiratete er sich; der Kaiser kam von der Insel Elba zurück, mein Bruder nahm sogleich wieder Dienste und zog sich, bei Waterloo leicht verwundet, mit der Armee hinter die Loire zurück. Eines Tages empfingen wir einen Brief von meinem Bruder. Er teilte uns mit, die Armee sei entlassen, und er werde über Clermont-Ferrand und Nimes zurückkommen; er bat mich, wenn ich etwas Geld hätte, es ihm durch einen Wirt in Nimes, mit dem ich in Verbindung stand, zukommen zu lassen. Ich liebte, wie gesagt, meinen Bruder zärtlich und war entschlossen, ihm das Geld selbst zu bringen. Ich besaß etwa tausend Franken, ließ fünfhundert davon Assunta, meiner Schwägerin, nahm die andern fünfhundert und begab mich auf den Weg nach Nimes. Dies bot keine Schwierigkeit; ich hatte meine Barke, auch einen Seetransport zu besorgen; alles begünstigte mein Vorhaben. Als aber die Ladung fertig war, wurde der Wind konträr, so daß wir vier oder fünf Tage nicht in die Rhone einlaufen konnten. Endlich gelang es uns; wir fuhren bis Arles hinaus, ließen die Barke zwischen Bellegarde und Beaucaire und schlugen den Weg nach Nimes ein. Es war die Zeit, wo die berüchtigten Metzeleien im Süden stattfanden. Wer des Bonapartismus verdächtig war, wurde von den Blutknechten des Royalismus erwürgt. In Nimes watete man buchstäblich im Blute, bei jedem Schritt stieß man auf Leichen; zu förmlichen Banden organisierte Mörder töteten, plünderten, sengten und brannten. Bei dem Anblicke dieser Schlächterei erfaßte mich ein Schauder, nicht für mich, den einfachen, korsischen Fischer, – denn ich hatte nicht viel zu befürchten, im Gegenteil, das war für uns Schmuggler eine gute Zeit, – sondern für meinen Bruder, der von der Loire-Armee mit seiner Uniform und seinen Epauletten zurückkam und folglich alles zu befürchten hatte. Ich lief zu unserm Wirte, meine Ahnungen hatten mich nicht getäuscht; mein Bruder war am Abend zuvor in Nimes angekommen und vor der Tür des Mannes, von dem er Gastfreundschaft forderte, ermordet worden. Ich tat alles in der Welt, um die Mörder in Erfahrung zu bringen, aber niemand wagte es, mir ihre Namen zu sagen, so sehr waren sie gefürchtet. Ich dachte nun an die französische Justiz, von der man mir so viel gesprochen hatte, und begab mich zum ersten Staatsanwalt.

 

Und dieser Staatsanwalt hieß Villefort? fragte Monte Christo scheinbar gleichgültig.

 

Ja, Exzellenz; er kam von Marseille, wo er Staatsanwaltsgehilfe gewesen war. Sein Eifer hatte seine Beförderung zur Folge gehabt. Er hatte, heißt es, als einer der ersten der Regierung die Landung von der Insel Elba angezeigt. Mein Herr, sagte ich zu ihm, mein Bruder ist in den Straßen von Nimes ermordet worden, ich weiß nicht von wem, aber das ist Ihre Sache. Sie sind hier der Chef der Justiz, und der Justiz kommt es zu, die zu rächen, die sich nicht zu verteidigen vermochten. – Was war Ihr Bruder? fragte der Staatsanwalt. – Leutnant im korsischen Bataillon. – Ein Soldat des Usurpators also? – Ein Soldat der französischen Armee. – Wohl! erwiderte er, er hat sich des Schwertes bedient und ist durch das Schwert umgekommen. – Sie täuschen sich, mein Herr, er ist durch den Dolch umgekommen. – Was soll ich dabei tun? – Ich habe es Ihnen bereits gesagt, Sie sollen ihn an seinen Mördern rächen. – Warum? Ihr Bruder wird Streit gehabt und sich duelliert haben. Diese alten Soldaten erlauben sich Übergriffe, die ihnen unter der Herrschaft des Kaisers durchgingen, jetzt aber nicht mehr, denn hier im Süden liebt man weder die Soldaten, noch die Übergriffe.

 

Mein Herr, entgegnete ich, ich bitte Sie nicht für mich. Ich werde mich rächen, aber mein Bruder hatte eine Frau; die Arme würde Hungers sterben, denn sie lebte allein von der Arbeit meines Bruders. Erlangen Sie eine kleine Pension für sie von der Regierung!

 

Jede Revolution hat ihre Katastrophen, antwortete Herr von Villefort. Ihr Bruder ist ein Opfer der neuesten gewesen, das mögen Sie als ein Unglück betrachten, aber die Regierung ist Ihrer Familie deshalb nichts schuldig. Wenn wir zu Gericht zu sitzen hätten über alle Rachetaten, welche die Parteigänger des Usurpators gegen die Parteigänger des Königs verübten, als noch die Macht in ihren Händen lag, so wäre Ihr Bruder heute vielleicht zum Tode verurteilt. Was hier vorgeht, kann nur als etwas Natürliches erscheinen, denn es ist die Folge des Gesetzes der Vergeltung.

 

Herr, rief ich, ist es möglich, daß Sie so sprechen, Sie, als Staatsbeamter?

 

Bei meinem Ehrenwort, alle Korsen sind Narren, erwiderte Herr von Villefort, Sie glauben, Ihr Landsmann sei noch Kaisers, Sie irren sich in der Zeit, mein Lieber, Sie hätten mir das vor zwei Monaten sagen müssen. Gehen Sie, oder ich lasse Sie abführen!

 

Ich schaute ihn einen Augenblick an, um zu sehen, ob weiteres Bitten Erfolg verspräche. Aber der Mann war von Stein. Ich näherte mich ihm und sagte mit halber Stimme: Wohl! da Sie die Korsen so gut kennen, so müssen Sie wissen, wie sie ihr Wort halten. Sie meinen, man habe wohl daran getan, meinen Bruder umzubringen, der ein Bonapartist war, während Sie Royalist sind. Ich bin ebenfalls Bonapartist und sage Ihnen nur eins: Ich werde Sie töten. Von diesem Augenblicke an erkläre ich Ihnen Vendetta! Seien Sie also auf Ihrer Hut, denn sobald wir uns wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, hat Ihre letzte Stunde geschlagen. Darauf öffnete ich, ehe er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, die Tür und entfloh.

 

Ah! ah! sagte Monte Christo, mit Ihrem ehrlichen Gesichte bringen Sie dergleichen fertig und noch dazu gegen einen Staatsanwalt! Pfui doch! Und wußte er denn, was das Wort Vendetta besagen wollte?

 

Er wußte es so gut, daß er von diesem Augenblick an nicht mehr allein ausging, sich zu Hause verschanzte und mich überall suchen ließ. Zum Glück war ich so gut verborgen, daß er mich nicht finden konnte. Da faßte ihn die Angst, er fürchtete sich, länger in Nimes zu bleiben; er bat um Versetzung, und da er wirklich ein einflußreicher Mann war, so berief man ihn nach Versailles. Aber Sie wissen, daß es für einen Korsen, der seinem Feinde Rache geschworen hat, keine Entfernung gibt, und sein Wagen, so gut er gefahren wurde, hatte nie über einen halben Tag Vorsprung vor mir, während ich ihm doch zu Fuße folgte.

 

Das Schwierige dabei war nicht, ihn zu töten, denn hundertmal fand ich hierzu Gelegenheit, aber ich mußte ihn töten, ohne entdeckt und besonders ohne verhaftet zu werden. Denn ich gehörte nicht mehr mir; ich hatte meine Schwägerin zu beschützen und zu ernähren. Drei Monate lang belauerte ich Herrn von Villefort; drei Monate lang machte er keinen Schritt, keinen Spaziergang, ohne daß ihm mein Blick folgte. Endlich entdeckte ich, daß er insgeheim nach Auteuil kam; ich folgte ihm und sah ihn in das Haus gehen, in dem wir uns befinden; nur kam er, statt durch die Haustür vorn einzutreten, entweder zu Pferde oder zu Wagen, ließ Pferd oder Wagen im Wirtshaus und schlich sich durch die kleine Tür herein, die Sie dort sehen.

 

Ich hatte nichts mehr in Versailles zu tun, blieb in Autenil und zog Erkundigungen ein. Wollte ich ihn fangen, so mußte ich offenbar hier meine Falle stellen. Das Haus gehörte Villeforts Schwiegervater, Herrn von Saint-Meran. Dieser wohnte aber in Marseille, folglich war ihm dieses Landhaus unnütz; es hieß auch, er habe es an eine junge Witwe vermietet, die nur unter dem Namen die Baronin bekannt war. Während ich eines Abends über die Mauer schaute, sah ich wirklich eine hübsche junge Frau allein im Garten gehen. Sie blickte häufig nach der kleinen Tür, und ich sagte mir, daß sie Herrn von Villefort am Abend erwarte. Als sie so nahe zu der Mauer kam, daß ich trotz der Dunkelheit ihre Züge zu unterscheiden vermochte, erkannte ich, daß sie sehr hübsch, blond, groß und etwa neunzehn Jahre alt war; auch konnte ich bemerken, daß sie sich in andern Umständen befand, und ihre Schwangerschaft schien mir sogar ziemlich weit vorgerückt. Einige Augenblicke nachher öffnete man die kleine Tür; ein Mann trat ein, die junge Fran lief ihm so rasch als möglich entgegen, sie umarmten sich, küßten sich zärtlich und gingen ins Haus. Dieser Mann war Herr von Villefort. Ich dachte, wenn er herauskäme, besonders wenn er bei Nacht herauskäme, müßte er den Garten in seiner ganzen Länge durchschreiten.

 

Und Sie haben seitdem den Namen der Frau erfahren? fragte der Graf.

 

Nein, Exzellenz, Sie werden sehen, daß ich nicht Zeit gehabt habe, mich danach zu erkundigen. – Ich hätte den Staatsanwalt vielleicht an diesem Abend töten können; aber ich kannte den Garten noch nicht genau genug und fürchtete, wenn er nicht sofort tot wäre und Leute auf sein Geschrei herbeiliefen, nicht schnell genug fliehen zu können. Deshalb verschob ich die Ausführung meines Vorhabens auf das nächste Mal und bezog, damit mir nichts entginge, ein kleines Zimmer mit der Aussicht auf die Straße, die längs der Gartenmauer hinlief.

 

Drei Tage nachher sah ich gegen sieben Uhr abends einen Diener zu Pferde aus dem Garten eilen und im Galopp auf dem Wege fortsprengen, der zur Straße nach Sèvres führte. Ich nahm an, er reite nach Versailles, und täuschte mich nicht. Drei Stunden später kam er mit Staub bedeckt zurück. Zehn Minuten nach ihm erschien ein anderer Mann, in einen Mantel gehüllt, zu Fuß und öffnete die kleine Gartentür, die sich wieder hinter ihm schloß.

 

Ich ging rasch hinab. Obschon ich das Gesicht des Mannes nicht gesehen hatte, so verrieten mir doch die Schläge meines Herzens, daß er es sei; ich ging über die Straße zu einem Randstein an der Mauerecke, von dem aus ich das erste Mal in den Garten gesehen hatte. Diesmal begnügte ich mich nicht mit dem Schauen, ich zog mein Messer aus der Tasche, überzeugte mich, daß es gehörig geschärft war, und sprang über die Mauer. Es war mein erstes, an die Tür zu laufen; er hatte den Schlüssel stecken lassen und ihn nur zweimal umgedreht. Nichts konnte also von dieser Seite meine Flucht hemmen. Ich übersah die Örtlichkeit; der Garten bildete ein langes Geviert, mittendurch zog sich ein Rasenteppich, an dessen Rande dichtbelaubte Baumgruppen standen. Um sich von dem Hause an die kleine Tür oder von der kleinen Tür nach dem Hause zu begeben, mußte Herr von Villefort an einer von diesen Baumgruppen vorübergehen.

 

Es war Ende September, der Wind blies heftig, ein wenig Mondschein, alle Augenblicke durch dichte Wolken verschleiert, die schnell am Himmel hinglitten, ließ den Sand der zu dem Hause führenden Alleen weiß erscheinen, vermochte aber die Dunkelheit der Gebüsche nicht zu durchdringen. Ich verbarg mich also in dem Gebüsch, an dem Herr von Villefort vorüberkommen mußte. Kaum war ich hier, als ich unter den Windstößen, welche die Baumzweige über meine Stirn beugten, etwas wie Seufzen zu unterscheiden glaubte. Es vergingen zwei Stunden, während deren ich wiederholt dasselbe Seufzen zu hören glaubte. Endlich schlug es Mitternacht.

 

Als noch der letzte Schlag verhallte, sah ich einen schwachen Schimmer die Geheimtreppe erhellen, auf der wir soeben herabgekommen sind. – Die Tür öffnete sich, und der Mann mit dem Mantel erschien. Der furchtbare Augenblick war da. Doch ich hatte mich auf diesen Augenblick so lange vorbereitet, daß ich nicht die geringste Schwäche empfand; ich zog mein Messer, öffnete es und hielt mich fertig.

 

Der Mann mit dem Mantel kam gerade auf mich zu; als er aber in dem entblößten Raume weiter vorschritt, glaubte ich zu bemerken, daß er in der rechten Hand eine Waffe hielt; ich fürchtete nicht den Kampf, sondern das Mißlingen. Sobald er nur noch einige Schritte von mir entfernt war, erkannte ich, daß das, was ich für eine Waffe gehalten hatte, nichts anderes war, als ein Spaten. Ich hatte noch nicht erraten können, in welcher Absicht Herr von Villefort das Gerät trug, als er am Saume des Gebüsches stehen blieb und, nachdem er sich umgeschaut hatte, ein Loch in die Erde zu graben anfing. Nun bemerkte ich, daß er etwas in seinem Mantel trug, das er auf den Rasen legte, um in seinen Bewegungen freier zu sein. Da mischte sich, muß ich gestehen, etwas Neugier in meinen Haß, ich wollte sehen, was Herr von Villefort tat, blieb unbeweglich, atemlos und wartete.

 

Es kam mir ein Gedanke, der sich auch bestätigte, als ich den Staatsanwalt ein kleines, etwa zwei Fuß langes und sechs bis acht Zoll breites Kistchen unter seinem Mantel hervorziehen sah, das er in das Loch legte, auf das er wieder Erde warf; diese frische Erde bearbeitete er sodann mit seinen Füßen, um die Spur seines nächtlichen Werkes verschwinden zu lassen. Hierauf warf ich mich auf ihn, stieß ihm mein Messer in die Brust und sagte: Ich bin Giovanni Bertuccio! Dein Tod für meinen Bruder, dein Schatz für seine Witwe. Du siehst, meine Rache ist noch vollständiger als ich hoffte.

 

 

Ich weiß nicht, ob er diese Worte hörte, ich glaube es nicht, denn er sank nieder, ohne einen Ton von sich zugeben; ich fühlte das Blut heiß auf meine Hände und in mein Gesicht spritzen; aber ich war trunken, ich war wahnsinnig; dieses Blut erfrischte mich, statt mich zu brennen. In einer Sekunde hatte ich das Kistchen mit Hilfe des Spatens wieder ausgegraben; ich füllte das Loch wieder, warf den Spaten über die Mauer, eilte durch die Tür, schloß sie doppelt von außen und nahm den Schlüssel mit.

 

Gut, sagte Monte Christo, das war, scheint mir, ein Raubmord.

 

Nein, Exzellenz, erwiderte Bertuccio, es war Vendetta, verbunden mit einer Wiedererstattung.

 

Sie fanden doch wenigstens eine runde Summe?

 

Ich lief an den Fluß und sprengte, begierig zu erfahren, was das Kistchen enthielt, das Schloß mit meinem Messer.

 

In eine Windel von seinem Battist war ein neugebornes Kind eingewickelt; sein purpurrotes Gesicht und seine blauen Hände deuteten an, daß es durch eine Schnur, die sich um seinen Hals geschlungen, erdrosselt war. Da es mir jedoch noch nicht ganz kalt zu sein schien, zögerte ich, das arme Geschöpf in das Wasser zu werfen; nach einem Augenblick glaubte ich in der Tat ein leichtes Schlagen in der Gegend des Herzens zu fühlen. Ich befreite seinen Hals von der Schnur, und da ich als Krankenwärter im Hospital von Bastia gedient hatte, so tat ich, was ein Arzt unter solchen Umständen hätte tun können, das heißt, ich blies ihm kräftig Luft in die Lunge, und nach einer Viertelstunde unerhörter Anstrengung sah ich es atmen, und unmittelbar darauf hörte ich einen Schrei seiner Brust sich entwinden. – Ich stieß ebenfalls einen Schrei aus, aber einen Freudenschrei. Gott verflucht mich also nicht, sagte ich zu mir selbst, denn er gestattet mir, einem Menschen Leben zu geben, im Austausch für das Leben, das ich einem andern genommen habe.

 

Und was taten Sie mit diesem Kinde? fragte Monte Christo; es war ein ziemlich beschwerliches Gepäck für einen Menschen, der fliehen mußte.

 

Ich hatte auch keinen Augenblick den Gedanken, es zu behalten. Doch ich wußte, daß es in Paris ein Hospiz gibt, wo man diese armen Geschöpfe aufnimmt. Als ich durch die Barriere kam, gab ich vor, ich hätte das Kind auf der Straße gefunden und erkundigte mich. Das Kistchen machte meine Aussage glaubwürdig! die Battistwindeln deuteten an, daß das Kind reichen Eltern gehörte; das Blut, mit dem ich bedeckt war, konnte ebensowohl von dem Kinde, als von irgend einem andern Wesen herrühren. Man machte keine Einwendung, bezeichnete mir das Hospiz, das ganz oben in der Rue l’Enfer lag, und nachdem ich aus Vorsicht die Windel so entzwei geschnitten hatte, daß einer von den beiden Buchstaben, womit sie gezeichnet war, bei der Einhüllung blieb, während ich den andern an mich nahm, legte ich meine Bürde in den Turm, läutete und entlief, so rasch ich nur immer vermochte. Vierzehn Tage nachher war ich wieder in Rogliano und sagte zu Assunta: Tröste dich, meine Schwester. Israel ist tot, aber ich habe ihn gerächt. Da bat sie mich um Erläuterung meiner Worte, und ich erzählte ihr alles, was vorgefallen war.

 

Giovanni, sagte Assunta, du hättest das Kind hierher bringen sollen; wir würden Elternstelle bei ihm vertreten und ihm den Namen Benedetto gegeben haben, und Gott hätte uns für diese gute Handlung gesegnet.

 

Statt einer Antwort gab ich ihr die Hälfte der Windel, die ich behalten hatte, um das Kind eines Tages, wenn wir reicher wären, zurückzufordern.

 

Mit welchen Buchstaben war die Windel gezeichnet? fragte der Graf.

 

Mit einem H und N, und darüber eine Baronenkrone.

 

Fahren Sie fort! Ich bin begierig, zu erfahren, was aus dem Kleinen geworden ist, und welches Verbrechens man Sie beschuldigte, als Sie einen Beichtiger verlangten und der Abbé Busoni Sie darauf im Gefängnis aufsuchte.

 

Bertuccio fuhr in seiner Erzählung fort: Halb um die Erinnerungen zu vertreiben, die mich beständig quälten, halb um die Bedürfnisse der armen Witwe zu bestreiten, legte ich mich wieder mit allem Eifer auf das Schmugglerhandwerk. Dieses Gewerbe ist sehr einträglich, wenn man dabei mit einigem Verstand und Geschick zu Werke geht. Ich für meine Person lebte im Gebirge, denn ich hatte nun eine doppelte Ursache, die Gendarmen und Zöllner zu fürchten. Da ich tausendmal lieber getötet als verhaftet werden wollte, vollführte ich erstaunliche Dinge. Meine Unternehmungen wurden immer ausgedehnter und immer vorteilhafter. Assunta war eine gute Wirtschafterin, und unser kleines Vermögen rundete sich allmählich. Als ich eines Tages eine neue Wanderung antrat, sagte sie zu mir: Geh, bei deiner Rückkehr bereite ich dir eine Überraschung.

 

Mein Ausflug dauerte beinahe sechs Wochen; als ich zurückkam, war das erste, was ich erblickte, ein Kind von sieben bis acht Monaten, in einer im Verhältnis zu unserer sonstigen Ausstattung sehr kostbaren Wiege. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Die einzigen traurigen Gedanken, die mich seit der Ermordung des Staatsanwaltes heimgesucht, waren durch das Verlassen des Kindes verursacht worden. Es versteht sich von selbst, daß ich in Beziehung auf den Mord selbst keine Gewissensbisse fühlte.

 

Die arme Assunta hatte alles erraten; sie hatte, um nichts zu vergessen, den Tag und die Stunde, wo das Kind im Hospiz niedergelegt worden war, genau aufgeschrieben und war, mit der Windel versehen, nach Paris gereist, um den Kleinen zurückzufordern. Man machte keine Einwendung, und sie erhielt das Kind.

 

Ah! ich gestehe, Herr Graf, als ich das arme Kind in seiner Wiege schlafend erblickte, dehnte sich meine Brust aus, und Tränen traten in meine Augen. In der Tat, Assunta, rief ich, du bist eine vortreffliche Frau, und die Vorsehung wird dich segnen.

 

Dies ist weniger Philosophie, sagte der Graf, als Glaube.

 

Ach! Exzellenz, sagte Bertuccio, Sie haben ganz recht, gerade dieses Kind wählte Gott zum Werkzeug meiner Bestrafung. Nie offenbarte sich früher eine verderbte Natur, und dennoch kann man nicht sagen, daß es schlecht erzogen wurde, denn meine Schwester behandelte es wie den Sohn eines Fürsten. Es war ein Knabe von reizender Gesichtsbildung, mit hellblauen Augen; nur verliehen die etwas feurig blonden Haare dem Gesichte des Jungen einen seltsamen Ausdruck, den die Lebhaftigkeit seines Auges und die Schlauheit seines Lächelns noch verstärkten. Nach dem Sprichwort sind die Roten entweder ganz gut oder ganz böse; dieses Sprichwort log nicht in Beziehung auf Benedetto; er zeigte sich schon von seiner frühesten Jugend ganz böse. Es ist nicht zu leugnen, daß die Sanftmut seiner Mutter seine ersten üblen Neigungen ungemein begünstigte; denn während meine arme Schwägerin auf den Markt der fünf bis sechs Stunden entlegenen Stadt ging, um die ersten Früchte und das wohlschmeckendste Zuckerwerk zu kaufen, zog der Knabe die Kastanien und Äpfel, die er dem Nachbar stahl, vor.

 

Eines Tages – Benedetto mochte etwa fünf Jahre alt sein – kam der Nachbar Wasilio, der nach, der Gewohnheit unsers Landes weder seine Börse, noch seine Schmucksachen verschloß – der Herr Graf weiß, daß es in Korsika keine Diebe gibt, – zu uns und klagte, es sei ein Louisd’or aus seiner Börse verschwunden. Man glaubte, er habe falsch gezählt; aber er behauptete, seiner Sache gewiß zu sein. Benedetto hatte das Haus schon am Morgen verlassen, und wir gerieten in nicht geringe Unruhe, als wir ihn am Abend mit einem Affen zurückkehren sahen, den er gefesselt am Fuße eines Baumes gefunden zu haben vorgab. Seit einem Monat war es das leidenschaftliche Trachten des Kindes gewesen, einen Affen zu besitzen. Ein Gaukler, der durch Rogliano kam und mehrere solche Tiere besaß, deren Possen unsern Jungen sehr ergötzten, hatte ihm ohne Zweifel dieses unglückliche Verlangen eingeflößt.

 

Man findet in unsern Wäldern keinen Affen, sagte ich zu ihm, und besonders keinen gefesselten Affen; gestehe mir also, wie du dir das Tier verschafft hast.

 

Benedetto beharrte bei seiner Lüge und gab noch weitere nähere Umstände an, die mehr seiner Einbildungskraft, als seiner Wahrheitsliebe Ehre machten; ich ärgerte mich, er lachte; ich drohte, er zog sich ein paar Schritte zurück. – Du kannst mich nicht schlagen, sagte er, du hast nicht das Recht dazu, denn du bist nicht mein Vater.

 

Wir wußten gar nicht, wer ihm dieses unselige Geheimnis entdeckt hatte, das wir mit so großer Sorgfalt vor ihm verbargen. Aber die Antwort erschreckte mich so, daß mein aufgehobener Arm niederfiel, ohne den Schuldigen zu berühren. Das Kind triumphierte und wurde infolgedessen so unbändig, daß alles Geld Assuntas, deren Liebe zu ihm immer mehr zuzunehmen schien, je weniger er derselben würdig war, für tolle Launen des Knaben, die sie nicht zu bekämpfen vermochte, daraufging. Wenn ich in Rogliano war, ging es noch erträglich; aber sobald ich abreiste, war Benedetto Meister im Hause, und ein böser Streich folgte dem andern. Kaum elf Jahre alt, wählte er seine Kameraden unter den jungen Leuten von achtzehn und neunzehn Jahren, den schlimmsten Burschen von Bastia und Corte, und bereits hatte uns das Gericht Warnungen zugehen lassen.

 

Es wurde mir bange; jede Untersuchung konnte verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen, und ich sollte eben einer wichtigen Expedition halber Korsika für einige Zeit verlassen. Ich sann lange nach und beschloß, um ein Unglück zu vermeiden, Benedetto mit mir zu nehmen. Ich hoffte, das tätige harte Leben eines Schmugglers, die strenge Disziplin an Bord würden ihm, der sonst unrettbar verloren schien, gut tun. Ich nahm ihn also beiseite und machte ihm den Vorschlag, mir zu folgen, wobei ich ihm alles Mögliche versprach, was ein Kind von zwölf Jahren locken kann.

 

Er ließ mich reden, ohne mich zu unterbrechen. Als ich aber zu Ende war, schlug er ein Gelächter an und rief: Seid Ihr ein Narr, Oheim? – so nannte er mich, wenn er guter Laune war – Ich soll das Leben, das ich führe, meinen schönen Müßiggang, gegen die schauderhafte Arbeit vertauschen, die Ihr tut? Ich soll die Nacht in der Kälte, den Tag in der Hitze zubringen, mich fortwährend verbergen, oder, wenn ich mich zeige, Flintenschüsse kriegen, und dies alles, um ein wenig Gold zu gewinnen? Geld habe ich, soviel ich will; Mutter Assunta gibt mir, so oft ich von ihr fordere. Ihr seht also, daß ich dumm wäre, wenn ich Euern Vorschlag annähme.

 

Während ich noch ganz starr vor Staunen über diese Worte war, kehrte er zu seinen Kameraden zurück, und ich sah von ferne, wie er mich ihnen gegenüber für einen Dummkopf erklärte.

 

Ein reizendes Kind! murmelte Monte Christo.

 

Oh! wenn er mir gehört hätte, sagte Bertuccio, wenn er mein Sohn oder wenigstens mein Neffe gewesen wäre, so würde ich ihn auf den rechten Pfad zurückgeführt haben, denn das gute Gewissen verleiht Stärke. Aber der Gedanke, daß ich ein Kind schlagen sollte, dessen Vater ich getötet hatte, machte es mir unmöglich, ihn zu züchtigen. Ich gab meiner Schwester, die den Jungen stets verteidigte, gute Ratschläge, und da sie mir gestand, es hätten ihr wiederholt größere Summen gefehlt, so bezeichnete ich ihr einen Ort, wo sie unsern kleinen Schatz verbergen könnte. Mein Entschluß war gefaßt: Benedetto konnte vortrefflich lesen, schreiben und rechnen, denn wenn er sich zufällig zur Arbeit herbeiließ, so lernte er in einem Tag so viel, wie andere in einer Woche. Mein Entschluß, sage ich, war gefaßt; ich wollte ihn als Schreiber auf irgend einem zu langen Seefahrten bestimmten Schiffe unterbringen und, ohne ihn zuvor in Kenntnis zu setzen, an einem schönen Morgen nehmen und an Bord schaffen lassen. War er dem Kapitän gehörig empfohlen, so hing seine Zukunft nur von ihm ab. Sobald dieser Plan festgestellt war, brach ich nach Frankreich auf. Alle unsere Operationen sollten diesmal im Golf von Lyon ausgeführt werden; die Unternehmungen wurden aber immer schwieriger, denn der Küstendienst war strenger geworden, als je. Anfänglich ging alles vortrefflich. Wir banden unsere Barke, die einen doppelten Boden hatte, worin wir unsere Waren verbargen, mitten unter einer Anzahl von Schiffen an, die an den beiden Ufern der Rhone von Beaucaire bis Arles lagen. Hier begannen wir nächtlicherweile unsere verbotenen Waren auszuschiffen und durch die Vermittlung von Leuten, die mit uns in Verbindung standen, oder mit Hilfe der Wirte, bei denen wir unsere Niederlagen hatten, in die Stadt zu schaffen. Mag es nun sein, daß uns das Glück unvorsichtig gemacht hatte, oder waren wir verraten: eines Abends gegen fünf Uhr, als wir eben unser Vesper verzehren wollten, lief unser Schiffsjunge ganz erschrocken herbei und sagte, er habe eine Abteilung Zollbeamter auf unser Schiff zukommen sehen. In einem Augenblick waren wir auf den Beinen, aber es war schon zu spät, man hatte bereits unsere Barke umzingelt. Unter den Zöllnern bemerkte ich auch einige Gendarmen, und durch diesen Anblick erschreckt, stieg ich in den Schiffsraum hinab, schlüpfte durch eine Stückpforte und ließ mich in den Fluß fallen; dann schwamm ich unter dem Wasser, schöpfte nur nach laugen Zwischenräumen Atem und erreichte, ohne gesehen zu werden, einen kurz zuvor angelegten Graben, durch den die Rhone mit dem Kanal in Verbindung steht, der von Beaucaire nach Aigues-Mortes führt. Nun war ich gerettet, denn ich konnte dem Graben folgen, ohne gesehen zu werden. Ungehindert kam ich in den Kanal. Diesen Weg hatte ich auch deshalb gewählt, weil ich den Besitzer eines kleinen Gasthofs auf der Straße von Bellegarde nach Beaucaire kannte.

 

Wie hieß dieser? fragte der Graf, der wieder einiges Interesse an der Erzählung Bertuccios zu nehmen schien.

 

Er hieß Gaspard Caderousse und war mit einer Frau verheiratet, die am Sumpffieber hinsiechte. Der Mann dagegen war ein kräftiger Bursche, der uns mehr als einmal unter schwierigen Umständen Beweise von Geistesgegenwart und Mut gegeben hatte.

 

Und Sie sagen, fragte der Graf, diese Dinge seien vorgefallen im Jahre …

 

Am 3. Juni 1829 abends.

 

Ah! sagte Monte Christo, am 3. Juni 1829? … Gut, fahren Sie fort.

 

Bei Caderousse gedachte ich also eine Zufluchtsstätte zu finden. Da wir aber gewöhnlich nicht durch die Tür, die nach der Straße führte, bei ihm eintraten, so stieg ich über die Gartenhecke und erreichte, in der Besorgnis, Caderousse könnte einen Reisenden im Hause haben, eine Art Schuppen, worin ich wiederholt die Nacht zugebracht hatte. Dieser Schuppen war von der Gaststube im Erdgeschoß nur durch einen Bretterverschlag getrennt, in dem man Öffnungen gemacht hatte, damit wir im geeigneten Augenblick unsre Anwesenheit anmelden könnten. Ich gedachte, Caderousse, wenn er allein wäre, von meiner Ankunft in Kenntnis zu setzen, schlich mich also unter den Schuppen und tat Wohl daran, denn in demselben Augenblick kam Caderousse mit einem Unbekannten nach Hause. Ich hielt mich still und wartete, nicht um die Geheimnisse meines Wirtes zu belauschen, sondern weil ich nicht anders konnte.

 

Der Mann, der Caderousse begleitete, war offenbar fremd im südlichen Frankreich; er gehörte zu den Handelsleuten, die zur Messe von Beaucaire kommen, um Juwelen zu verkaufen. Caderousse trat rasch und zuerst ein. Als er die untere Stube wie gewöhnlich leer sah, rief er seiner Frau zu: He! Carconte, der würdige Priester hat uns nicht getäuscht; der Stein war gut.

 

Ein freudiger Ausruf ließ sich vernehmen, und fast in demselben Augenblick kam ein schwacher Tritt die Treppe herunter. Was sagst du? fragte die Frau, bleicher als eine Tote.

 

Ich sage, daß der Diamant gut war, und daß dieser Herr, einer der ersten Juweliere von Paris, uns fünfzigtausend Franken dafür geben will. Nur verlangt er, um sicher zu sein, daß der Diamant uns gehört, du sollst ihm, wie ich’s schon getan habe, erzählen, auf welche wunderbare Weise er in unsere Hände gekommen ist. Setzen Sie sich einstweilen, mein Herr, wenn es Ihnen beliebt, ich will Ihnen eine Erfrischung holen. Der Juwelier betrachtete mit großer Aufmerksamkeit das Innere der Herberge und die sichtbare Armut des Wirtes, der einen Diamanten, der aus dem Schmuckkästchen eines Fürsten zu kommen schien, an ihn verkaufen wollte.

 

Erzählen Sie, sagte der Fremde; ohne Zweifel wollte er die Abwesenheit des Mannes benutzen und sehen, ob die beiden Erzählungen übereinstimmten.

 

Ei! mein Gott, sagte die Frau mit großer Zungenfertigkeit, es ist ein Segen des Himmels, den wir entfernt nicht erwarteten. Denken Sie sich, lieber Herr, daß mein Mann im Jahre 1814 mit einem Seefahrer, namens Dantes, in Verbindung stand; der arme Junge, den Caderousse ganz vergessen hatte, hat ihn nicht vergessen und ihm, als er im Gefängnis starb, den Diamanten, den Sie hier sehen, hinterlassen.

 

Aber wie ist er in den Besitz dieses Diamanten gelangt? fragte der Juwelier. Er besaß ihn also, ehe er in das Gefängnis kam?

 

Nein, mein Herr, erwiderte die Frau, sondern er machte, wie mir scheint, im Gefängnis die Bekanntschaft eines reichen Engländers; und da sein Stubengenosse im Kerker krank wurde und Dantes ihn pflegte, so schenkte der Engländer, als er aus der Haft entlassen wurde, diesen Diamanten dem armen Dantes, der, minder glücklich, im Gefängnis starb und bei seinem Tode uns den Stein vermachte, den uns heute früh ein würdiger Abbé in seinem Auftrag überbrachte.

 

Das ist ganz das gleiche, murmelte der Juwelier, und die Geschichte muß am Ende wahr sein, so unwahrscheinlich sie auch aussieht. Es handelt sich also nur um den Preis, über den wir noch nicht einig sind.

 

Wie! rief Caderousse, ich glaubte, Sie hätten eingewilligt, den von mir verlangten Preis dafür zu zahlen. – Das heißt, versetzte der Juwelier, ich habe vierzigtausend Franken geboten. – Vierzigtausend Franken! rief die Careonte, wir geben ihn dafür nicht her. Der Abbé hat uns gesagt, er sei ohne Fassung fünfzigtausend Franken wert. – Zeigen Sie mir den Diamanten, sagte der Juwelier, damit ich ihn noch einmal betrachten kann; man irrt sich bei flüchtigem Betrachten leicht.

 

Caderousse zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral, öffnete es und gab es dem Juwelier. Beim Anblick des Diamanten, der so groß war wie eine kleine Haselnuß, funkelten die Augen der Carconte vor Begierde.

 

Und was dachten Sie dabei, Herr Horcher? fragte Monte Christo. Kannten Sie den Edmond Dantes, von dem die Rede war?

 

Nein, Exzellenz, ich hatte bis dahin nie von ihm sprechen hören und hörte auch seitdem nur ein einziges Mal den Abbé Busoni von ihm reden, als ich ihn im Gefängnis in Nimes sah.

 

Gut, fahren Sie fort!

 

Der Juwelier nahm den Ring aus Caderousses Händen, zog aus seiner Tasche ein stählernes Zänglein und eine kleine messingne Wage, öffnete die goldenen Krampen, die den Stein im Ringe hielten, zog den Diamanten heraus und wog ihn mit ängstlicher Sorgfalt. Dann sagte er: Ich gebe 45 000 Franken, aber keinen Sou mehr; es tut mir sogar leid, daß ich diese Summe geboten habe, insofern der Stein einen Mangel hat, den ich anfangs nicht bemerkte.

 

Bringen Sie den Stein wenigstens wieder in den Ring, sagte Caderousse spitzig. – Sie haben recht, versetzte der Juwelier, und brachte den Diamanten wieder in seinen Kasten. – Gut, sagte Caderousse, ich verkaufe ihn an einen anderen.

 

Ja, entgegnete der Juwelier, aber ein anderer wird sich nicht so leicht mit der Auskunft begnügen, die Sie mir gegeben haben. Er wird sagen: Es geht nicht mit rechten Dingen zu, daß ein Mensch wie Sie einen Diamanten von fünfzigtausend Franken besitzt, er wird die Behörden darauf aufmerksam machen, dann sucht man den Abbé Busoni, und die Abbés, die Diamanten von zweitausend Louisd’or verschenken, sind selten. Die Justiz bemächtigt sich der Sache, man schickt Sie ins Gefängnis, – und werden Sie auch als unschuldig erkannt, setzt man Sie nach einer Haft von drei bis vier Monaten wieder in Freiheit, so hat sich der Ring in der Gerichtskanzlei verloren, oder man gibt Ihnen einen falschen Stein, der drei Franken wert ist, statt eines Steines von fünfzigtausend Franken. Also ganz nach Ihrem Gutdünken; ich habe übrigens, wie Sie sehen, schönes Geld mitgebracht.

 

Und er zog aus einer von seinen Taschen eine Handvoll Gold, die er vor den geblendeten Augen des Wirtes funkeln ließ, und aus der andern ein Päckchen mit Banknoten. In Caderousses Innern entspann sich offenbar ein harter Kampf, und das kleine Futteral von Saffianleder, das er in seiner Hand hin und her drehte, schien ihm als Wert offenbar nicht der ungeheuren Summe zu entsprechen, die seine Augen blendete. Er wandte sich zu seiner Frau und sagte leise: Was meinst du dazu?

 

Gib, gib, antwortete sie; wenn er ohne den Diamanten nach Beaucaire zurückkehrt, zeigt er uns an, und wer weiß, ob wir je wieder des Abbés Busoni habhaft werden können.

 

Gut, sagte Caderousse, nehmen Sie den Diamanten für 45 000 Franken; meine Frau will aber noch eine goldene Kette haben und ich silberne Schnallen.

 

Nun, so geben Sie doch her! Was für ein schrecklicher Mensch! versetzte der Juwelier, ihm den Ring aus der Hand ziehend; ich zahle ihm 45 000 Franken, das heißt ein Vermögen, wie ich wohl eines haben möchte, und er ist noch nicht zufrieden!

 

Warten Sie, bis ich die Lampe angezündet habe, entgegnete die Carconte, es ist nicht mehr hell, und man könnte sich irren.

 

Während dieser Verhandlung war es wirklich Nacht geworden, und mit der Nacht war der Sturm gekommen, der seit einer halben Stunde loszubrechen drohte. Man hörte den Donner dumpf in der Ferne grollen; aber ganz und gar vom Dämon des Gewinnes besessen, schienen sich weder der Juwelier noch die Carconte darum zu bekümmern. Ich selbst fühlte mich ganz geblendet bei dem Anblick von all diesem Gold und all den Banknoten. Es kam mir vor, als träumte ich.

 

Caderousse zählte wiederholt das Gold und die Scheine, die der Juwelier auf den Tisch gezählt hatte, und gab dann beides seiner Frau, die ebenfalls alles durchzählte. Mittlerweile ließ der Juwelier den Diamanten unter dem Strahle der Lampe spiegeln.

 

Nun, ist die Rechnung richtig? fragte der Händler.

 

Ja, antwortete Caderousse, und nun, obgleich Sie uns vielleicht zehntausend Livres zu wenig gezahlt haben, wollen Sie mit uns zu Nacht speisen? Es kommt von gutem Herzen.

 

Ich danke, erwiderte der Juwelier. Es ist bereits spät, und ich muß nach Beaucaire zurück, sonst wird meine Frau unruhig. Bei Gott, es ist bald neun Uhr, ich werde vor Mitternacht nicht in Beaucaire sein. Gott befohlen, Kinder.

 

Ein Donnerschlag erdröhnte, begleitet von einem so grellen Blitze, daß beinahe die Lampe verdunkelt wurde.

 

Oh! sagte Caderousse, bei diesem Wetter wollen Sie fort? – Ich fürchte mich nicht vor dem Donner, versetzte der Juwelier. – Und vor den Räubern? fragte die Carconte. Die Straße ist während der Messe nie sicher. – Oh! was die Räuber betrifft, entgegnete der Händler, da ist etwas für sie. Und er zog ein paar kleine, bis an die Mündung geladene Pistolen aus der Tasche. Das sind Hunde, die zugleich bellen und beißen, sie sind für die beiden ersten bestimmt, die es nach Eurem Diamanten gelüsten sollte, Vater Caderousse.

 

Caderousse und seine Frau wechselten einen finstern Blick. Sie hatten, wie es schien, gleichzeitig einen furchtbaren Gedanken.

 

Dann glückliche Reise, sagte Caderousse.

 

Ich danke, erwiderte der Juwelier, nahm seinen Stock und wollte sich entfernen. In dem Augenblick, wo er die Tür öffnete, drang ein so heftiger Windstoß in die Stube, daß er beinahe die Lampe ausgelöscht hätte.

 

Oh! oh! sagte er, ein schönes Wetter, und drei Stunden Weg bei einem solchen Sturme! – Bleiben Sie hier, schlafen Sie bei uns! versetzte Caderousse. – Ja, bleiben Sie, sagte Carconte mit zitternder Stimme, wir sorgen für Sie. – Nein, ich muß in Beaucaire schlafen. Gott befohlen.

 

Caderousse ging langsam bis zur Schwelle.

 

Man sieht weder Himmel noch Erde, sagte der Juwelier, bereits halb außer dem Hause. Muß ich mich links oder rechts halten? – Rechts, antwortete Caderousse, Sie können nicht fehlen, die Straße ist auf beiden Seiten mit Bäumen besetzt. – Schließe doch die Tür! rief die Carconte, ich liebe offene Türen nicht, wenn es donnert! – Und wenn Geld im Hause ist, nicht wahr? entgegnete Caderousse, den Schlüssel zweimal im Schlosse drehend.

 

Er kam zurück, ging an den Schrank, nahm den Sack und das Portefeuille heraus, und beide fingen an, zum dritten Male ihr Gold und ihre Scheine zu zählen. Ich habe nie einen Ausdruck gesehen, wie den dieser gierigen, von der spärlichen Lampe beleuchteten Gesichter. Die Frau besonders war abscheulich, ihr gewöhnliches fiebriges Zittern hatte sich noch gesteigert. Ihr Gesicht war leichenfarbig geworden, ihre hohlen Augen flammten.

 

Warum hast du ihm ein Nachtlager hier angeboten? fragte sie mit dumpfem Tone. – Um … damit … antwortete Caderousse bebend, damit er bei dem Wetter nicht nach Beaucaire zurückzukehren brauchte. – Ah! sagte die Carconte mit einem Tone, der sich nicht beschreiben läßt; ich glaubte, es geschehe aus einem andern Grunde. – Weib! Weib! rief Caderousse, warum hast du solche Gedanken, und warum behältst du sie nicht für dich? – Gleichviel, sagte die Carconte, du bist kein Mann. – Warum? – Wärest du ein Mann, so würde er nicht von hier weg gekommen sein. – Weib! – Oder er würde wenigstens Beaucaire nicht erreichen. – Weib! – Die Straße macht eine Biegung, er muß der Straße folgen, während sich längs dem Kanal ein kürzerer Weg hinzieht. – Weib, du beleidigst den guten Gott. Halt, horch!

 

Man hörte in der Tat einen furchtbaren Donnerschlag, während ein Blitz die ganze Stube mit einer bläulichen Flamme übergoß, doch langsam abnehmend schien sich der Donner nur ungern von dem verfluchten Hause zu entfernen.

 

Jesus! rief die Carconte sich bekreuzend.

 

Beinahe in demselben Augenblicke hörte man mitten unter dem Stillschweigen des Schreckens, das gewöhnlich auf Donnerschläge folgt, an die Tür klopfen. Caderousse und seine Frau bebten und schauten sich ängstlich an.

 

Wer ist da? rief Caderousse aufstehend, schob die auf dem Tische zerstreuten Goldstücke und Banknoten auf einen Haufen und bedeckte sie mit seinen Händen.

 

Ei, bei Gott, ich, der Juwelier.

 

Nun, was sagtest du, versetzte die Carconte mit einem furchtbaren Lächeln, ich beleidige den guten Gott? … Gerade der gute Gott schickt ihn uns zurück.

 

Caderousse fiel bleich und keuchend auf seinen Stuhl.

 

Die Carconte dagegen stand auf, ging festen Schrittes auf die Tür zu, öffnete und sagte: Kommen Sie herein, lieber Herr.

 

Meiner Treu, sagte der Juwelier, der, vom Regen triefend, eintrat, es scheint, der Teufel will nicht, daß ich heute abend nach Beaucaire zurückkehre. Sie haben mir Gastfreundschaft angeboten, ich nehme sie an und komme, um hier zu schlafen.

 

Caderousse stammelte einige Worte, während er den Schweiß abtrocknete, der von seiner Stirn floß. Die Carconte schloß die Tür doppelt hinter dem Juwelier.

 

Der Blutregen.

 

Der Blutregen.

 

Der Juwelier schaute bei seinem Eintritt forschend umher; aber nichts schien einen Verdacht in ihm zu erregen. Caderousse hielt sein Gold und seine Banknoten immer noch mit beiden Händen. Die Carconte lächelte ihrem Gaste so freundlich zu, als sie nur immer konnte. Dann setzte sie auf eine Ecke des Tisches die magern Überreste eines Mittagsessens, denen sie einige frische Eier hinzufügte.

 

Caderousse hatte seine Geldscheine wieder in sein Portefeuille, das Gold in einen Sack getan und das Ganze in seinem Schrank verschlossen. Er ging düster und nachdenkend in der Stube auf und ab und schaute von Zeit zu Zeit den Juwelier an, der dampfend vor dem Herde stand und, als eine Seite trocken war, sich auf die andere wandte.

 

Mein Herr, sagte die Carconte, eine Flasche Wein auf den Tisch stellend, es ist alles bereit, wenn Sie zu Nacht essen wollen.

 

Und Sie? fragte der Gast.

 

Ich esse nicht zu Nacht, antwortete Caderousse.

 

Wir haben sehr spät zu Mittag gegessen und werden Sie bedienen, erwiderte die Carconte mit einem bei ihr, selbst gegen zahlende Gäste, ungewöhnlichen Eifer.

 

Caderousse warf von Zeit zu Zeit einen raschen Blick auf sie. Der Sturm wütete fort.

 

Es ist der Mistral, und der wird bis morgen fortdauern, sagte Caderousse, den Kopf schüttelnd, und stieß einen Seufzer aus.

 

Desto schlimmer für die, welche draußen sind, sagte der Juwelier, sich an den Tisch setzend.

 

Ja, die haben eine böse Nacht durchzumachen, versetzte die Carconte.

 

Der Juwelier fing an zu essen, und die Carconte erwies ihm fortwährend alle die kleinen Rücksichten einer aufmerksamen Wirtin; sonst so wunderlich und widerwärtig, war sie ein Muster von Zuvorkommenheit und Höflichkeit geworden. Hätte sie der Juwelier vorher gekannt, so würde ihm diese Veränderung sicherlich aufgefallen sein und Verdacht eingeflößt haben. Als das Abendessen beendet war, ging Caderousse selbst an die Tür, öffnete sie und sagte: Ich glaube, der Sturm legt sich.

 

Aber als sollte er Lügen gestraft werden, erschütterte in diesem Augenblick ein furchtbarer Donnerschlag das Haus, ein Windstoß, vermischt mit Regen, drang in die Tür und löschte die Lampe aus. Caderousse schloß die Tür wieder, und seine Frau zündete ein Licht an der ersterbenden Glut au.

 

Mein Herr, sagte sie, Sie müssen müde sein, ich habe das Bett frisch überzogen, gehen Sie hinauf und schlafen!

 

Der Juwelier blieb noch einen Augenblick, dann wünschte er seiner Wirtin gute Nacht und stieg die Treppe hinauf. Ich hörte ihn über mir gehen, jede Stufe krachte unter seinen Tritten. Die Carcounte folgte ihm mit gierigem Blick, während ihm Caderousse den Rücken zuwandte.

 

Alle diese einzelnen Umstände, welche seitdem in meinem Geiste mit der Frische des ersten Momentes Platz gegriffen haben, fielen nur zur Zeit, wo sie unter meinen Augen vorgingen, nicht auf; in allem, was geschah, lag im ganzen nichts Unnatürliches, und abgesehen von der Diamantengeschichte, die mir etwas unwahrscheinlich vorkam, konnte nichts einen Argwohn in mir rege machen.

 

Von Müdigkeit überwältigt und entschlossen, die erste Frist zu benutzen, die der Sturm den Elementen gönnen würde, wollte ich ein paar Stunden schlafen und um Mitternacht weggehen. Ich hörte im obern Zimmer den Juwelier alle Vorkehrungen treffen, um die Nacht so behaglich als möglich zuzubringen. Bald bemerkte ich an dem Krachen seines Bettes, daß er sich niedergelegt hatte.

 

Ich fühlte, wie sich meine Augen unwillkürlich schlossen, und da ich keinen Verdacht geschöpft hatte, so suchte ich nicht gegen den Schlaf zu kämpfen und warf nur noch einen Blick in das Innere. Caderousse saß an einem langen Tische auf einer von den hölzernen Bänken, die in den Dorfwirtshäusern die Stühle ersetzen; er wandte mir den Rücken zu und hielt seinen Kopf auf beide Hände gestützt.

 

Die Carconte schaute ihn eine Zeit lang an, zuckte die Achseln und setzte sich ihm gegenüber. In diesem Augenblick flackerte die Flamme zufällig auf, und ein etwas hellerer Schimmer erleuchtete die düstere Stube. Die Carconte schaute ihren Mann starr an, und da dieser stets in derselben Stellung verharrte, sah ich sie ihre gekrümmte Hand nach ihm ausstrecken und seine Stirn berühren.

 

Caderousse bebte. Es kam mir vor, als spräche sie ganz leise zu ihm, doch der Schall ihrer Worte gelangte nicht bis zu mir. Ich sah nur noch wie durch einen Nebel und halb traumbefangen. Endlich schlossen sich meine Augen, und ich verlor das Bewußtsein.

 

Ich lag im tiefsten Schlafe, als ich durch einen Pistolenschuß erweckt wurde, auf den ein furchtbarer Schrei folgte. Es erschollen ein paar wankende Tritte auf dem Boden der Stube, und eine träge Masse stürzte auf der Treppe, gerade über meinem Haupte, nieder.

 

Ich war noch nicht ganz meiner Herr. Ich vernahm Seufzer und dann halb erstickte Schreie, wie von einem Kampf. Ein letzter Schrei, der länger anhielt, als die andern, und sich endlich in ein Stöhnen verwandelte, entriß mich völlig meiner Erstarrung.

 

Ich erhob mich, öffnete die Augen, die in der Finsternis nichts sahen, und fuhr mit der Hand nach der Stirn, auf die, wie es mir vorkam, durch die Bretter der Treppe ein lauer Regen floß.

 

Das tiefste Schweigen war auf den furchtbaren Lärm gefolgt. Ich hörte sodann die Tritte eines Menschen über meinem Kopfe und auf der Treppe; dieser Mensch stieg in die untere Stube herab und zündete eine Kerze an. Ich erkannte Caderousse, sein Gesicht war bleich, und sein Hemd ganz mit Blut überzogen. Als das Licht angezündet war, stieg er rasch wieder die Treppe hinauf, und ich hörte von neuem seine raschen, unruhigen Tritte.

 

Einen Augenblick nachher kam er wieder herab; er hielt das Futteral in der Hand, wickelte es in sein rotes Tuch und band es um den Hals. Dann lief er nach dem Schranke, ergriff sein Geld, nahm ein paar Hemden, stürzte aus der Tür und verschwand in der Dunkelheit. Da wurde mir alles klar, und ich machte mir das Geschehene zum Vorwurf, als wäre ich selbst der wahre Schuldige. Es kam mir vor, als hörte ich ein Stöhnen. Der unglückliche Juwelier war nicht tot, vielleicht lag es in meiner Macht dadurch, daß ich ihm Hilfe leistete, einen Teil von dem Übel wieder gutzumachen, das ich zwar nicht selbst getan, wohl aber hatte tun lassen. Ich stemmte meine Schultern gegen die schlecht zusammengefügten Bretter, die den Schuppen, in dem ich mich befand, von der inneren Stube trennten. Die Bretter gaben nach, und ich befand mich im Hause.

 

Ich ergriff den Leuchter und eilte nach der Treppe; ein Körper versperrte mir den Weg, es war der Leichnam der Carconte. Der Pistolenschuß, den ich gehört, war auf sie abgefeuert; ihr Hals war völlig durchbohrt. Das Zimmer bot den Anblick der furchtbarsten Zerstörung. Alle Geräte waren umgeworfen; die Bettlaken, an die sich der unglückliche Juwelier ohne Zweifel angeklammert hatte, lagen auf dem Boden; er selbst war auf der Erde ausgestreckt und schwamm, den Kopf an die Wand gestützt, in seinem Blute, das aus drei breiten Wunden in seiner Brust hervorquoll. In einer vierten stak ein langes Küchenmesser, das bis ans Heft hineingestoßen war.

 

Ich näherte mich dem Juwelier, er war nicht ganz tot. Bei dem Lärm, den ich machte, öffnete er seine stieren Augen; heftete sie eine Sekunde lang auf mich, bewegte seine Lippen, als wollte er sprechen, und verschied.

 

 

Dieses furchtbare Schauspiel machte mich fast wahnsinnig. Von dem Augenblick jedoch, wo ich nicht mehr helfen konnte, fühlte ich nur das Bedürfnis, zu fliehen. Mich bei den Haaren fassend und ein Geschrei des Schreckens ausstoßend, stürzte ich nach der Treppe.

 

In der unteren Stube fand ich eine ganze bewaffnete Macht, bestehend aus fünf bis sechs Zollbeamten und mehreren Gendarmen. Man bemächtigte sich meiner. Ich versuchte es nicht einmal, Widerstand zu leisten; … ich war nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich wollte sprechen, stieß aber nur unzusammenhängende Töne aus.

 

Ich sah, daß die Zöllner und Gendarmen mit dem Finger auf mich deuteten, denn ich war ganz mit Blut bedeckt. Der laue Regen, der durch die Bretter der Treppe auf mich gefallen, war das Blut der Carconte.

 

Ich deutete mit dem Finger auf den Ort, wo ich verborgen gewesen war.

 

Was will er sagen? fragte ein Gendarm.

 

Ein Zöllner sah nach und sagte: Er will sagen, daß er hier durchgeschlüpft ist, und zeigte das Loch, durch das ich wirklich geschlüpft war.

 

Nun begriff ich, daß man mich für den Mörder hielt. Ich fand meine Sinne wieder, ich fand meine Kräfte wieder, befreite mich von den Händen zweier Männer, die mich hielten, und rief: Ich bin es nicht.

 

Zwei Gendarmen schlugen mit ihren Karabinern auf mich an.

 

Wenn du dich rührst, sagten sie, bist du des Todes.

 

Aber ich wiederhole, daß ich es nicht bin, rief ich.

 

Du kannst deine Geschichten den Richtern von Nimes erzählen, erwiderten sie. Inzwischen folge uns; und wenn wir dir raten sollen, leiste keinen Widerstand!

 

Das war nicht meine Absicht; ich fühlte mich durch Erstaunen und Schrecken gelähmt. Man legte mir Handschellen an, band mich an den Schweif eines Pferdes und führte mich nach Nimes.

 

Es war mir auf meinem Wege durch den Kanal ein Zöllner gefolgt; als er mich in der Gegend des Hauses aus dem Gesichte verlor, vermutete er, ich würde die Nacht hier zubringen. Er benachrichtigte seine Kameraden und kam mit ihnen gerade, um den Pistolenschuß zu hören und mich inmitten von Schuldbeweisen festzunehmen, deren Widerlegung mir, wie ich wohl einsah, kaum gelingen konnte.

 

Ich verließ mich auch nur auf eines und bat den Untersuchungsrichter sogleich, überall einen gewissen Abbé Busoni suchen zu lassen, der im Verlaufe des Tages im Wirtshause zum Pont du Gard gewesen sei. Hatte Caderousse gelogen, gab es keinen Abbé Busoni, so war ich offenbar verloren, wenn nicht Caderousse ebenfalls gefangen wurde und alles gestand.

 

Es vergingen zwei Monate, während deren, ich muß es zum Lobe meines Richters sagen, alle Nachforschungen angestellt wurden, um den aufzusuchen, nach dem ich verlangte. Ich hatte jede Hoffnung verloren, Caderousse war nicht festgenommen worden. In der nächsten Sitzung sollte ich gerichtet werden, als am 8. September, das heißt drei Monate und fünf Tage nach dem Vorfall, der Abbé Busoni, auf den ich nicht mehr rechnete, sich bei dem Kerkermeister einfand und sagte, er habe erfahren, ein Gefangener wünsche ihn zu sprechen. Er habe in Marseille davon gehört, gab er an, und beeile sich, dem Wunsche zu entsprechen.

 

Sie können sich denken, mit welcher Freude ich ihn empfing ich erzählte ihm das ganze Ereignis, dessen Zeuge ich gewesen, sprach aber nicht ohne Unruhe von der Geschichte mit dem Diamanten. Gegen mein Erwarten war sie Punkt für Punkt wahr; ebenfalls gegen mein Erwarten maß er allem, was ich sagte, Glauben bei. Von seinem Wohlwollen und seiner tiefen Einsicht ergriffen, beichtete ich ihm, was in Auteuil geschehen, und erhielt von ihm den Trost der Absolution. Er verließ mich, indem er mir versprach, er würde alles tun, was in seiner Macht liege, meine Richter von meiner Unschuld zu überzeugen.

 

Den Beweis, daß er sich wirklich mit mir beschäftigte, fand ich darin, daß meine Haft allmählich milder wurde. In der Zwischenzeit wurde Caderousse im Ausland verhaftet und nach Frankreich zurückgebracht. Er gestand alles und warf die Schuld des Vorbedachts und besonders der Anstiftung auf seine Frau. Er wurde zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt und mich setzte man in Freiheit.

 

Damals geschah es, daß Sie sich mit einem Briefe des Abbés Busoni bei mir einfanden? fragte Monte Christo.

 

Ja, Exzellenz; er nahm sichtbar Anteil an mir, riet mir, mein Schmugglerhandwerk aufzugeben, und wollte mich an einen Bekannten empfehlen.

 

Oh, mein Vater, rief ich, wieviel Güte! – Doch Sie schwören mir, daß ich es nie zu bereuen haben werde?

 

Ich streckte die Hand aus, um zu schwören.

 

Unnötig, sagte er, ich kenne und liebe die Korsen; hier ist meine Empfehlung.

 

Und auf diese Empfehlung hin hatte Eure Exzellenz die Gnade, mich in seine Dienste zu nehmen. Nun frage ich Eure Exzellenz, hat sie sich je über mich zu beklagen gehabt?

 

Nein, erwiderte der Graf, und ich gestehe mit Vergnügen, Sie sind ein guter Diener, Bertuccio, obgleich es Ihnen an Vertrauen gebricht.

 

Mir, Herr Graf?

 

Ja, Ihnen. Wie kommt es, daß Sie eine Schwägerin und einen Adoptivsohn haben, und weder von der einen noch von dem andern mit mir sprachen?

 

Ach! Exzellenz, ich muß Ihnen noch den traurigsten Teil meines Lebens mitteilen. Nach meiner Freilassung reiste ich nach Korsika, denn es drängte mich, meine arme Schwägerin wiederzusehen. Als ich aber nach Rogliano kam, fand ich das Haus in Trauer; es war eine furchtbare Szene vorgefallen. Meinem Rate gemäß, widerstand meine Schwägerin den Forderungen Benedettos, der jeden Augenblick alles Geld verlangte, das im Hause war. Eines Morgens bedrohte er sie und verschwand dann einen ganzen Tag. Sie weinte, denn die liebe Assunta hatte ein Mutterherz für den Elenden. Es kam der Abend, sie wartete auf ihn, ohne sich niederzulegen. Als er um elf Uhr mit zweien seiner Freunde, den gewöhnlichen Genossen seiner tollen Streiche, zurückkehrte, streckte sie die Arme nach ihm aus; doch die Ruchlosen packten sie, und einer von den dreien, ich fürchte, es war das höllische Kind selbst, rief: Wir wollen sie auf die Folter spannen, sie muß gestehen, wo sie ihr Geld hat.

 

Der Nachbar Wasilio war gerade in Bastia, und nur seine Frau allein zu Hause. Niemand außer ihr konnte sehen oder hören, was bei meiner Schwägerin vorging. Zwei von ihnen hielten die arme Assunta, der dritte verrammelte Türen und Fenster, und alle drei hielten dann Assuntas nackte Füße, indem sie mit Tüchern ihr Geschrei erstickten, über die Kohlenglut, um ihr das Geständnis zu entreißen, wo unser kleiner Schatz verborgen liege. Doch dabei fingen ihre Kleider Feuer; da ließen sie die Unglückliche los, um nicht selbst verbrannt zu werden. Ganz in Flammen lief sie nach der Tür, aber die Tür war verschlossen; sie stürzte nach dem Fenster, doch das Fenster war verrammelt. Nun hörte die Nachbarin ein furchtbares Geschrei; es war Assunta, die um Hilfe rief. Bald dämpfte sich ihre Stimme; die Schreie verwandelten sich in ein Stöhnen, und als am andern Morgen, nach einer Nacht des Schreckens und der Angst, Wasilios Frau aus ihrer Wohnung herauszugehen wagte und von der Polizei unser Haus öffnen ließ, fand man Assunta halb verbrannt, aber noch atmend, die Schränke erbrochen, das Geld entwendet. Benedetto hatte Rogliano verlassen, um nie mehr dahin zurückzukehren. Seit jenem Tage habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört. – Nachdem ich diese traurige Kunde vernommen, begab ich mich zu Eurer Exzellenz. Ich konnte nicht von Benedetto sprechen, weil er verschwunden, und nicht von meiner Schwägerin, weil sie tot war.

 

Und was dachten Sie von diesem Ereignis? sagte Monte Christo.

 

Es sei die Strafe für das Verbrechen, das ich begangen hatte. Oh! diese Villefort waren ein verfluchtes Geschlecht.

 

Ich glaube es, murmelte der Graf finster.

 

Und nun begreifen Eure Exzellenz wohl, daß dieses Haus, das ich seitdem nicht mehr gesehen, daß dieser Garten, in dem ich mich plötzlich wiederfand, daß dieser Platz, wo ich einen Menschen getötet habe, die Erschütterung in mir hervorbringen mußte, deren Veranlassung Sie erfahren wollten; denn ich weiß nicht gewiß, ob nicht hier zu meinen Füßen Herr von Villefort in dem Grabe liegt, das er für sein Kind gegraben hatte.

 

Es ist in der Tat alles möglich, sagte Monte Christo, von der Bank aufstehend, auf der er gesessen hatte, sogar, fügte er ganz leise hinzu, sogar, daß der Staatsanwalt nicht gestorben ist. Der Abbé Busoni hat wohl daran getan, Sie mir zuzuschicken. Sie haben ebenfalls wohl daran getan, mir Ihre Geschichte zu erzählen, denn ich werde nichts Schlimmes mehr von Ihnen denken. Doch was den verruchten Benedetto betrifft, haben Sie nie seine Spur aufzufinden gesucht, haben Sie nie zu erfahren gesucht, was aus ihm geworden ist?

 

Nie. Hätte ich gewußt, wo er wäre, so würde ich, statt zu ihm zu gehen, vor ihm geflohen sein, wie vor einem Ungeheuer. Nein, glücklicherweise habe ich nie irgend einen Menschen der Welt von ihm sprechen hören, und ich hoffe, er ist tot.

 

Hoffen Sie das nicht, Bertuccio; die Schlechten sterben nicht so leicht, denn Gott scheint sie unter seine Obhut zu nehmen, um Werkzeuge seiner Rache aus ihnen zu machen.

 

Es mag sein, versetzte Bertuccio. Ich bitte den Himmel nur, ihn nie mehr sehen zu dürfen. Und nun wissen Sie alles, Herr Graf, fügte der Intendant, sein Haupt neigend, hinzu, Sie sind mein Richter hienieden, wie dies Gott dort oben sein mag … Werden Sie mir nun nicht einige Worte des Trostes sagen?

 

Sie haben recht, ich kann Ihnen sagen, was der Abbé Busoni sagen würde: Der, welcher Sie mißhandelt hatte, Villefort, verdient eine Strafe für das, was er Ihnen getan, und vielleicht noch für etwas anderes. Benedetto aber wird, falls er lebt, zu einer göttlichen Rache dienen. Sie aber haben sich in Wahrheit nur einen Vorwurf zu machen: Fragen Sie sich, warum Sie das Kind, nachdem Sie es dem Tode entrissen, nicht seiner Mutter zurückgegeben haben! Hierin liegt Ihr Verbrechen, Bertuccio.

 

Ja, Herr Graf, das ist mein Verbrechen, denn ich bin hierbei feig gewesen; hatte ich das Kind einmal ins Leben zurückgerufen, so blieb nur eins zu tun: ich mußte es, wie Sie sagen, seiner Mutter zurückschicken. Aber zu diesem Behufe hätte ich auch Nachforschungen anstellen, die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, mich vielleicht preisgeben müssen. Ich wollte aber nicht sterben, ich hing meiner Schwägerin wegen am Leben, vielleicht auch nur aus Liebe zu eben diesem Leben. Oh, ich bin kein Tapferer, wie mein armer Bruder!

 

Bertuccio verbarg sein Gesicht in seinen beiden Händen, und Monte Christo heftete einen langen, unbeschreiblichen Blick auf ihn.

 

Dann nach einem kurzen Stillschweigen, das durch die Stunde und den Ort noch feierlicher wurde, sagte der Graf mit einem bei ihm ungewöhnlichen Tone der Schwermut:

 

Herr Bertuccio, erinnern Sie sich stets folgender Worte, ich habe sie oft vom Abbé Busoni aussprechen hören: Für jedes Übel gibt es zwei Mittel, die Zeit und das Stillschweigen. Lassen Sie mich nur eine Minute im Garten spazierengehen. Was für Sie, die handelnde Person, bei dieser furchtbaren Szene eine schmerzhafte Erschütterung hervorbringen muß, wird für mich eine beinahe sanfte Empfindung sein und diesem Gute einen doppelten Wert verleihen. Die Bäume gefallen mir, weil sie Schatten geben, und der Schatten gefällt mir, weil er voll von Träumen und Gesichten ist. Sehen Sie, ich habe einen Garten gekauft und glaubte nur einen von Mauern eingeschlossenen Raum zu kaufen; es findet sich aber, daß dieser Raum von Schreckbildern bevölkert ist, die gar nicht im Vertrage aufgeführt sind. Jedoch ich liebe diese Geister; meines Wissens haben die Toten in sechstausend Jahren nicht so viel Böses getan, wie die Lebenden an einem einzigen Tage. Kehren Sie also zurück und schlafen Sie in Frieden! Ist Ihr letzter Beichtiger minder nachsichtig, als es der Abbé Busoni war, so lassen Sie mich kommen, wenn ich noch auf der Welt bin, und ich werde Worte finden, die Ihre Seele in jeder Minute sanft einwiegen lassen, wo sie bereit ist, sich auf die große Reise zu machen, die man die Ewigkeit nennt.

 

Bertuccio verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Grafen und entfernte sich nach einem tiefen Seufzer. Nach einem Gange durch den Garten kehrte der Graf zu seinem Wagen zurück. Bertuccio stieg, ohne ein Wort zu sagen, auf den Bock neben den Kutscher. Der Wagen schlug wieder den Weg nach Paris ein.

 

Noch an demselben Abend, unmittelbar nach seiner Ankunft in dem Hause der Champs-Elysées, besichtigte Monte Christo die ganze Wohnung, wie es nur ein seit langen Jahren damit vertrauter Mensch hätte tun können. Nicht ein einziges Mal öffnete er, obgleich er allein ging, eine Tür statt einer andern, wählte er eine Treppe oder eine Flur, die ihn nicht dahin führte, wohin er gehen wollte. Ali begleitete ihn bei dieser nächtlichen Schau. Der Graf gab Bertuccio mehrere Befehle für die Verschönerung und Einteilung der Zimmer; dann zog er seine Uhr und sagte zu dem aufmerksamen Nubier: Es ist halb zwölf Uhr. Haydee muß bald kommen. Hat man die französischen Frauen davon in Kenntnis gesetzt?

 

Ali streckte die Hand nach der für die schöne Griechin bestimmten Wohnung aus, die so abgesondert und durch eine Tapetentür verborgen war, daß man das ganze Haus besichtigen konnte, ohne zu vermuten, daß es hier noch einen Salon und zwei bewohnte Zimmer gab. Ali streckte also die Hand nach dieser Wohnung aus, deutete die Zahl drei mit den Fingern seiner linken Hand an, legte dann den Kopf auf die wieder flach gemachte Hand und schloß die Augen, als schliefe er.

 

Oh! sagte Monte Christo, der an diese Sprache gewöhnt war, es sind ihrer drei, und sie warten im Schlafzimmer, nicht wahr?

 

Ali bejahte, indem er mit dem Kopfe nickte.

 

Madame wird heute abend müde sein und ohne Zweifel schlafen wollen; veranlasse sie nicht zum Sprechen; die französischen Kammerfrauen sollen ihre neue Gebieterin nur begrüßen und sich dann zurückziehen. Du wachst darüber, daß die griechische Kammerfrau nicht mit den französischen Frauen verkehrt.

 

Ali verbeugte sich.

 

Bald hörte man den Hausmeister anrufen; das Gitter öffnete sich, ein Wagen hielt vor der Freitreppe. Der Graf ging hinab; der Kutschenschlag war bereits offen; er reichte seine Hand einer Frau, die in einen großen, seidenen, ganz mit Gold gestickten, von ihrem Haupte herabfallenden Schleier gehüllt war. Die junge Frau nahm die ihr dargebotene Hand, küßte sie mit ehrfurchtsvoller Liebe und ließ ein paar zärtliche Worte laut werden, auf die der Graf mit sanftem Ernste antwortete. Dann wurde die junge Frau, eine junge Griechin, in ihre Gemächer begleitet.

 

Der unbegrenzte Kredit.

 

Der unbegrenzte Kredit.

 

Am andern Tage, gegen zwei Uhr nachmittags, hielt eine mit zwei prächtigen Pferden bespannte Kalesche vor der Tür des Grafen. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren in blauem Frack und weißer Weste mit ungeheurer goldener Uhrkette streckte seinen Kopf aus dem Coupé, auf dessen Füllung eine Baronenkrone gemalt war, und schickte seinen Diener zum Hausmeister, um zu fragen, ob der Graf von Monte Christo zu Hause sei.

 

Inzwischen betrachtete er mit großer Aufmerksamkeit das Äußere des Hauses und die Livree einiger Bedienten, die hin und her gingen. Sein Auge war lebhaft, aber mehr verschmitzt als geistreich; seine Lippen waren so dünn, daß sie, statt gegen außen vorzuspringen, in den Mund zurücktraten; die breiten und hervorragenden Backenknochen, die niedergedrückte Stirn, die Ausbuchtung des Hinterhauptes, die übermäßige Ohrmuschel trugen dazu bei, für jeden Physiognomiker dem Gesichte dieser Person einen fast abstoßenden Charakter zu verleihen.

 

Der Diener klopfte an das Fenster des Hausmeisters und fragte: Wohnt hier nicht der Graf von Monte Christo?

 

Seine Exzellenz wohnt hier, antwortete der Hausmeister; aber … Er befragte Ali mit einem Blicke. Ali machte ein verneinendes Zeichen.

 

Aber Seine Exzellenz ist nicht zu sprechen, sagte der Hausmeister.

 

Dann nehmen Sie diese Karte des Herrn Baron von Danglars und geben sie dem Herrn Grafen. Sagen Sie ihm, daß mein Herr, der jetzt zur Kammer fährt, einen Umweg macht, um sich die Ehre zu geben, ihm einen Besuch abzustatten.

 

Der Diener kehrte zum Wagen zurück und meldete, was man ihm gesagt.

 

Oh! oh! rief Danglars, dieser Herr ist also so vornehm, das; man ihn Exzellenz nennt, und daß nur sein Kammerdiener mit ihm sprechen darf; gleichviel, da er einen Kredit auf mich hat, muß ich ihn besuchen, für den Fall, daß er Geld zu erheben wünscht.

 

Und er warf sich in seinen Wagen zurück und rief dem Kutscher so laut zu, daß man es auf der andern Seite der Straße hören konnte: In die Deputiertenkammer!

 

Durch eine Jalousie hatte Monte Christo den Baron gesehen und ihn mit derselben Aufmerksamkeit gemustert, mit der Danglars das Haus, den Garten und die Livreen besichtigt hatte.

 

Dieser Mensch, sagte er, ist offenbar ein häßliches Geschöpf; erkennt man nicht sofort, wenn man ihn sieht, die Schlange an der platten Stirn, den Geier an dem gewölbten Schädel und den Habicht an dem scharfen Schnabel?

 

In demselben Augenblick trat der Intendant ein. Monte Christo wandte sich an ihn und sagte: Haben Sie die Pferde gesehen, die soeben vor meiner Tür hielten?

 

Allerdings, Exzellenz, sie sind sehr schön.

 

Wie kommt es, fragte Monte Christo, die Stirn faltend, daß es, wenn ich die zwei schönsten Pferde von Paris verlange, hier noch zwei andere Pferde gibt, die so schön sind, wie die meinigen, und daß diese Pferde nicht in meinem Stalle stehen?

 

Herr Graf, sagte Bertuccio, die Pferde, von denen Sie sprechen, waren nicht käuflich.

 

Monte Christo zuckte die Achseln und erwiderte: Lassen Sie sich sagen, mein Herr Intendant, daß stets alles für den käuflich ist, der den Preis zu machen weiß.

 

Herr Danglars hat 16 000 Franken dafür bezahlt.

 

Dann hätte man ihm 32 000 bieten müssen; er ist Bankier, und ein Bankier versäumt nie eine Gelegenheit, sein Kapital zu verdoppeln.

 

Spricht der Herr Graf im Ernste? fragte Bertuccio.

 

Monte Christo schaute den Intendanten wie ein Mensch an, der darüber erstaunt, daß man eine solche Frage an ihn zu richten wagt, und sagte sodann: Ich habe heute abend einen Besuch zu erwidern, die zwei Pferde müssen dann mit neuem Geschirr an meinen Wagen gespannt sein.

 

Bertuccio verbeugte sich, um wegzugehen; an der Tür blieb er noch einmal stehen und fragte: Um wieviel Uhr gedenkt Exzellenz den Besuch zu machen? – Um fünf Uhr.

 

Ich erlaube mir, Eure Exzellenz zu bemerken, daß es zwei Uhr ist, sagte der Intendant.

 

Ich weiß es, erwiderte Monte Christo mit trockenem Tone; dann fügte er, zu Ali gewendet, hinzu: Laß alle Pferde an Madame vorüberfahren, damit sie sich das Gespann auswählen kann, das ihr am meisten gefällt; will sie mit mir zu Mittag speisen, so mag sie es mir sagen lassen, man serviert dann bei ihr; geh und schicke mir den Kammerdiener.

 

Ali war kaum verschwunden, als der Kammerdiener ebenfalls eintrat.

 

Herr Baptistin, sagte der Graf, Sie sind seit einem Jahre in meinem Dienst; das ist die Probezeit, die ich gewöhnlich meinen Leuten auferlege. Sie sagen mir zu.

 

Baptistin verbeugte sich.

 

Nun fragt es sich nur noch, ob ich Ihnen zusage.

 

Oh! Herr Graf! rief Baptistin.

 

Hören Sie mich zu Ende! Sie erhalten im Jahr fünfzehnhundert Franken, Sie haben eine Tafel, wie sie sich viele wünschen würden. Ein Diener, haben Sie selbst wieder Diener, die für Ihr Weißzeug und Ihre andern Bedürfnisse sorgen. Außer den fünfzehnhundert Franken Gehalt stehlen Sie mir bei den Ankäufen, die Sie für meine Toilette zu machen haben, noch ungefähr weitere fünfzehnhundert Franken jährlich.

 

Oh! Herr Graf.

 

Ich beklage mich nicht, Herr Baptistin, denn ich finde dies nicht übermäßig; doch wünsche ich, daß es hierbei bleiben möge. Sie werden also nirgends einen Posten dem ähnlich finden, den Sie Ihr Glück finden ließ. Ich schlage meine Leute nie, ich fluche nie, ich gerate nie in Zorn, ich vergebe stets einen Irrtum, doch nie eine Nachlässigkeit oder Vergeßlichkeit. Meine Befehle sind gewöhnlich kurz, aber klar und genau; ich will sie lieber zwei- oder dreimal wiederholen, als falsch ausgelegt zu sehen. Ich bin reich genug, um alles zu erfahren, was ich erfahren will, und ich bin sehr neugierig, das sage ich Ihnen zum voraus. Erfahre ich nun, Sie hätten im Guten oder im Schlechten von mir gesprochen, meine Handlungen beurteilt, mein Tun überwacht, so würden Sie auf der Stelle mein Haus verlassen. Ich warne meine Diener nur ein einziges Mal, Sie sind gewarnt, gehen Sie! Baptistin verbeugte sich und machte ein paar Schritte, um sich zu entfernen.

 

Doch halt, sagte der Graf, ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich jedes Jahr eine gewisse Summe auf den Kopf meiner Leute anlege. Die, welche ich wegschicke, verlieren natürlich dieses Geld, das den Bleibenden zu gut kommt, die nach meinem Tode ein Recht darauf haben. Sie sind ein Jahr bei mir; die Ansammlung Ihres Vermögens hat begonnen, sorgen Sie dafür, daß es zunimmt.

 

Diese in Gegenwart von Ali, der kein Wort Französisch verstand, gehaltene Rede brachte auf Baptistin eine große Wirkung hervor.

 

Es soll mein Bestreben sein, mich in allen Punkten mit den Wünschen Eurer Exzellenz in Einklang zu setzen, sagte er; überdies werde ich mir Herrn Ali zum Vorbild nehmen. Oh! keineswegs, sagte der Graf eiskalt. Bei Ali sind viele Fehler mit guten Eigenschaften vermischt. Nehmen Sie sich kein Beispiel an ihm, denn Ali ist eine Ausnahme; er hat keinen Lohn, er ist kein Diener; er ist mein Sklave, mein Hund; verfehlt er sich gegen seine Pflicht, so jage ich ihn nicht fort, sondern töte ihn.

 

Baptistin riß die Augen weit auf.

 

Sie zweifeln? sagte Monte Christo.

 

Und er wiederholte arabisch die Worte, die er französisch zu Baptistin gesprochen hatte.

 

Ali hörte, lächelte, näherte sich seinem Herrn, setzte ein Knie auf die Erde und küßte ihm ehrfurchtsvoll die Hand. Diese kleine Zugabe zu der Lektion seines Gebieters machte das Maß des Erstaunens bei Baptistin voll. Der Graf hieß ihn nun durch ein Zeichen weggehen und Ali ihm folgen. Beide begaben sich in sein Kabinett, wo eine lange Unterredung stattfand.

 

Um fünf Uhr schlug der Graf dreimal auf sein Glöckchen. Ein Schlag rief Ali, zwei riefen Baptistin, drei Bertuccio.

 

Meine Pferde! sagte Monte Christo.

 

Sie sind angespannt, Exzellenz, erwiderte Bertuccio. Habe ich den Herrn Grafen zu begleiten?

 

Nein, der Kutscher, Ali und Baptistin, sonst niemand.

 

Der Graf ging hinab und erblickte an seinem Wagen die Pferde, die er wenige Stunden zuvor an Danglars‘ Wagen bewundert hatte.

 

Diese Tiere sind in der Tat schön, sagte er, und Sie haben wohl daran getan, sie zu kaufen, nur war es ein wenig spät.

 

Exzellenz, entgegnete Bertuccio, es hat mir viele Mühe gemacht, sie zu erhalten, und der Preis ist sehr hoch.

 

Kommen Ihnen die Pferde darum minder schön vor? fragte der Graf, die Achseln zuckend.

 

Dieses Gespräch fand oben auf der Freitreppe statt. Bertuccio tat einen Schritt, um die erste Stufe hinabzusteigen. Sacht, mein Herr, rief Monte Christo, ihn zurückhaltend. Ich bedarf eines Gutes an der Seeküste, sagen wir, in der Normandie, zwischen Havre und Boulogne. Ich gebe Ihnen Raum, wie Sie sehen. Bei diesem Ankauf müssen Sie auf einen kleinen Hafen, eine kleine Bucht bedacht sein, wo meine Korvette einlaufen und sich halten kann; ihr Tiefgang beträgt nur fünfzehn Fuß. Das Schiff muß stets bereit sein, in See zu gehen, zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht es mir beliebt. Sie erkundigen sich bei allen Notaren nach einem Gute, das den von mir angegebenen Bedingungen entspricht. Haben Sie ein solches in Erfahrung gebracht, so besichtigen Sie es, und wenn Sie damit zufrieden sind, kaufen Sie es in meinem Namen. Die Korvette ist auf dem Wege nach Fécamp, nicht wahr?

 

An demselben Abend, an dem wir Marseille verließen, sah ich sie in See gehen.

 

Und die Jacht?

 

Die Jacht hat Befehl, in Martigues zu bleiben.

 

Gut! Sie korrespondieren von Zeit zu Zeit mit den Patronen, welche die Schiffe befehligen, damit sie nicht einschlafen. Und dazu noch eins: Für das Dampfboot, das in Chalons ist, geben Sie dieselben Befehle wie für die Segelschiffe.

 

Sehr wohl.

 

Sobald das Gut gekauft ist, muß ich auf der Straße nach dem Norden und auf der nach dem Süden frische Pferde haben von zehn zu zehn Stunden.

 

Eure Exzellenz kann auf mich bauen.

 

Der Graf machte ein Zeichen der Zufriedenheit, stieg die Stufen hinab und sprang in seinen Wagen, der, von dem herrlichen Gespann im Trabe gezogen, erst vor dem Hotel des Bankiers anhielt.

 

Danglars führte eben den Vorsitz bei einer für Eisenbahn-Angelegenheiten ernannten Kommission, als man ihm den Besuch des Grafen von Monte Christo meldete. Die Sitzung war übrigens fast zu Ende. Bei dem Namen des Grafen stand er auf und sagte zu seinen Kollegen, von denen mehrere Kammermitglieder waren:

 

Meine Herren, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verlasse, aber denken Sie sich, daß das Haus Thomson und French in Rom einen gewissen Grafen von Monte Christo an mich weist und ihm zugleich einen unbegrenzten Kredit bei mir eröffnet. Es ist der possierlichste Scherz, den sich je meine Korrespondenten im Ausland gegen mich erlaubt haben. Sie werden begreifen, die Neugierde hat mich gepackt und hält mich noch fest; ich bin auch heute früh bei dem angeblichen Grafen vorgefahren. Wäre er ein wirklicher Graf, so könnte er, wie Sie einsehen werden, nicht so reich sein. Der Herr war nicht sichtbar. Sind die Manieren, die sich der Herr von Monte Christo erlaubt, Ihrer Ansicht nach nicht die einer Hoheit oder einer hübschen Frau? Das Haus auf den Champs-Elysées ist übrigens, wie ich erfahren habe, sein Eigentum und gar nicht zu verachten. Ich halte mich für mystifiziert. Aber sie wissen dort nicht, mit wem sie es zu tun haben; wer zuletzt lacht, lacht am besten.

 

Nachdem er diese Worte von sich gegeben hatte, die er mit einem seine Nasenlöcher schwellenden Nachdruck sprach, verließ der Herr Baron seine Gäste und ging in einen weiß und goldenen Salon, der in der Chaussée d’Antin in hohem Ansehn stand. Er hatte Befehl gegeben, den Grafen hier einzuführen, um ihn mit dem ersten Schlage zu blenden.

 

Monte Christo betrachtete ein paar Kopien von Albano und Fattore, die man bei dem Bankier für Originale ausgegeben hatte, aber bei dem Geräusch, das Danglars machte, wandte er sich um. Danglars grüßte leicht mit dem Kopfe und bedeutete dem Grafen durch ein Zeichen, er möge sich auf einen mit weißem, goldgesticktem Atlas überzogenen Polsterstuhl von vergoldetem Holze setzen.

 

Ich habe die Ehre, mit Herrn von Monte Christo zu sprechen?

 

Und ich, antwortete der Graf, mit dem Herrn Baron von Danglars, Ritter der Ehrenlegion, Mitglied der Kammer der Abgeordneten?

 

Monte Christo wiederholte alle Titel, die er auf der Karte des Barons gefunden hatte. Danglars fühlte den Stich, biß sich in die Lippen und antwortete:

 

Entschuldigen Sie mich, daß ich Ihnen nicht sogleich den Titel gegeben habe, unter dem Sie sich ankündigten; aber Sie wissen, wir leben unter einer volkstümlichen Regierung, und ich bin ein Vertreter der Rechte des Volkes.

 

So sehr, daß Sie zwar die Gewohnheit, sich selbst Baron nennen zu lassen, beibehielten, die, andere Graf zu nennen, aber vergessen haben!

 

Ah! ich halte auch für meine Person nichts darauf, mein Herr, entgegnete Danglars gleichgültig, man hat mich wegen einiger Dienste, die ich geleistet, zum Baron ernannt und zum Ritter der Ehrenlegion gemacht; daher …

 

Doch Sie entsagten Ihren Titeln und gaben ein schönes Beispiel!

 

Nicht ganz; Sie begreifen, für die Bedienten …

 

Ja, ja, für Ihre Leute heißen Sie gnädiger Herr, für die Journalisten Herr und für Ihre Wähler Bürger. Das sind unter einer konstitutionellen Regierung höchst praktische Abstufungen, wie ich vollkommen begreife.

 

Danglars kniff sich abermals die Lippen; er sah, daß er auf diesem Gebiete Monte Christo nicht gewachsen war, und suchte auf ein anderes überzugehen, mit dem er besser vertraut war.

 

Herr Graf, sagte er sich verbeugend, ich habe eine Mitteilung von dem Hause Thomson und French erhalten.

 

Ich bin darüber entzückt, Herr Baron, ich werde nicht nötig haben, mich selbst vorzustellen, was immer ein wenig peinlich ist. Sie haben also bereits eine Mitteilung empfangen? Ja, aber ich gestehe, daß ich den Sinn derselben nicht vollkommen begriff. – Bah!

 

Dieser Brief, ich habe ihn, glaube ich, bei mir. Ja, hier ist er. Dieser Brief eröffnet dem Herrn Grafen einen unbegrenzten Kredit auf mein Haus.

 

Nun, Herr Baron, was finden Sie hierin Dunkles?

 

Nichts, außer dem Worte unbegrenzt.

 

Wie, ist der Ausdruck nicht gut? Sie begreifen, der Brief ist von Engländern geschrieben.

 

Ah! ganz gewiß, hinsichtlich der Grammatik ist nichts dagegen einzuwenden, anders steht es geschäftlich.

 

Scheint Ihnen das Haus Thomson und French nicht vollkommen sicher, Herr Baron? sagte Monte Christo mit der naivsten Miene der Welt. Teufel! das wäre mir ärgerlich, denn ich habe einige Fonds dort angelegt.

 

Vollkommen sicher, erwiderte Danglars mit beinahe spöttischem Lächeln; aber der Sinn des Wortes unbegrenzt ist bei finanziellen Dingen so unbestimmt …

 

Daß er unbegrenzt ist, nicht wahr?

 

Das ist es gerade, was ich sagen wollte; das Unbestimmte aber ist der Zweifel, und im Zweifel enthalte dich, spricht der Weise.

 

Und das bedeutet, daß, wenn das Haus Thomson und French geneigt ist, Tollheiten zu begehen, das Haus Danglars keine Lust hat, dem Beispiel zu folgen.

 

Wieso, Herr Graf?

 

Ja gewiß, die Herren Thomson und French machen Geschäfte ohne bestimmte Zahlen, aber Herr Danglars hat eine Grenze bei den seinigen; er ist ein weiser Mann, wie er soeben bemerkte.

 

Mein Herr, sagte der Bankier stolz, es hat noch niemand an meiner Kasse etwas auszusetzen gefunden.

 

Dann werde ich anfangen, wie es scheint, erwiderte Monte Christo.

 

Wer sagt Ihnen das?

 

Die Erläuterungen, die Sie von mir verlangen, denn sie sind Zögerungen sehr ähnlich.

 

Danglars biß sich in die Lippen; zum zweiten Male wurde er von diesem Manne geschlagen, und zwar diesmal auf dem Gebiete, das er als sein eigenstes bezeichnete. Seine spöttische Höflichkeit war nur geheuchelt und berührte jenes Extrem, das der Unverschämtheit so nahe steht. Monte Christo dagegen lächelte aufs anmutigste und besaß, wenn er wollte, ein gewisses naives Wesen, das ihm sehr zum Vorteile gereichte.

 

Mein Herr, sagte Danglars nach kurzem Stillschweigen, ich will versuchen, mich dadurch verständlich zu machen, daß ich Sie bitte, selbst die Summe zu bestimmen, die Sie von mir zu erheben gedenken.

 

Mein Herr, antwortete Monte Christo, entschlossen, keinen Zoll breit bei dieser Verhandlung zurückzuweichen, wenn ich einen unbegrenzten Kredit auf Sie verlangt habe, so geschah dies, weil ich den Betrag der Summen, deren ich vielleicht bedarf, nicht kannte.

 

Der Bankier glaubte, der Augenblick sei gekommen, den Meister zu zeigen, er warf sich in seinen Polsterstuhl zurück und sagte mit stolzem, plumpem Lächeln: Oh! mein Herr, scheuen Sie sich nicht, Ihren Wunsch auszudrücken, Sie werden sich überzeugen, daß die Kasse des Hauses Danglars, so beschränkt sie auch ist, doch den ausgedehntesten Forderungen zu entsprechen vermag, und sollten Sie auch eine Million verlangen …

 

Wie beliebt?

 

Ich sage eine Million, wiederholte Danglars mit dem Nachdruck der Gemeinheit.

 

 

Und was soll ich mit einer Million tun? entgegnete der Graf. Guter Gott! wenn ich nur eine Million gebraucht hätte, … einer solchen Erbärmlichkeit wegen würde ich mir nicht haben einen Kredit auf Sie eröffnen lassen! Eine Million habe ich stets in meiner Brieftasche. Hierbei zog Monte Christo aus einem kleinen Täschchen, das auch seine Visitenkarten enthielt, zwei Anweisungen auf die Staatsbank, je über 500 000 Franken.

 

Einen Menschen wie Danglars mußte man mit einem Keulenschlage niederstrecken, leichte Stiche taten ihm nichts. Der Bankier wankte betäubt und schaute Monte Christo mit verdutzten Augen an, deren Stern sich furchtbar erweiterte. Gestehen Sie mir, daß Sie dem Hause Thomson und French mißtrauen? sagte Monte Christo. Mein Gott, das ist ganz einfach, ich habe diesen Fall vorgesehen. Hier sind noch zwei Briefe, dem ähnlich, den Sie erhalten haben, der eine ist von Arnstein in Wien an den Herrn Baron Rothschild, der andere von Baring in London an Herrn Laffitte. Sagen Sie ein Wort, und ich überhebe Sie jeder Unruhe, indem ich mich an eins von den beiden Häusern wende.

 

Das wirkte, Danglars war besiegt. Er öffnete sichtbar zitternd die beiden Briefe von Wien und London, die ihm der Graf mit den Fingerspitzen reichte, und untersuchte die Echtheit der Unterschriften mit einer ängstlichen Aufmerksamkeit, die für Monte Christo beleidigend gewesen wäre, wenn er sie nicht der Verwirrung des Bankiers zu gut gehalten hätte.

 

Oh! mein Herr, diese drei Unterschriften sind Millionen wert, sagte Danglars, indem er sich erhob, als wollte er in dem Manne, der vor ihm stand, die personifizierte Macht des Geldes begrüßen. Drei unbegrenzte Kredite auf unsere größten Häuser! Verzeihen Sie, Herr Graf, aber wenn man auch aufhört, mißtrauisch zu sein, so kann man doch noch erstaunt bleiben.

 

Oh! ein Haus wie das Ihrige dürfte wohl nicht staunen, erwiderte Monte Christo mit aller ihm zu Gebote stehenden Höflichkeit. Sie können mir also einiges Geld schicken?

 

Befehlen Sie, Herr Graf, ich bin zu Ihren Diensten.

 

Nun, da wir uns verstehen … nicht wahr, wir verstehen uns?

 

Danglars machte ein bejahendes Zeichen mit dem Kopfe.

 

Und Sie haben kein Mißtrauen mehr? fuhr Monte Christo fort.

 

Oh! Herr Graf, rief der Bankier, ich hatte es nie.

 

Nun also, da wir uns verstehen, wollen wir eine runde Summe für das erste Jahr feststellen, sechs Millionen etwa.

 

Sechs Millionen, gut! versetzte der Bankier ganz betäubt.

 

Brauche ich mehr, fuhr Monte Christo gleichgültig fort, so setzen wir mehr. Doch ich gedenke nur ein Jahr in Frankreich zu bleiben, und während dieses Jahres überschreite ich diese Summe wohl nicht … übrigens werden wir sehen … Schicken Sie mir morgen zunächst 500 000 Franken, ich werde bis zur Mittagsstunde zu Hause sein; und wäre dies auch nicht der Fall, so fände sich ein Empfangsschein bei meinem Intendanten.

 

Das Geld wird morgen vormittag um zehn Uhr bei Ihnen sein, Herr Graf, erwiderte Danglars.

 

Der Graf stand auf.

 

Ich muß Ihnen gestehen, Herr Graf, sagte Danglars, ich glaubte von allen großen Vermögen in Europa Kenntnis zu haben, aber das Ihre, das doch beträchtlich zu sein scheint, war mir völlig unbekannt; ist es neu?

 

Nein, mein Herr, es ist von sehr altem Datum; es war eine Art Familienschatz, den man nicht berühren durfte, der Zuschlag der Zinsen hat das Kapital verdreifacht. Die vom Erblasser festgesetzte Frist ist erst vor ein paar Jahr en abgelaufen, und erst seitdem bin ich im Genuß; somit ist es ganz natürlich, daß Ihnen von diesem Kapital nichts bekannt ist. Übrigens werden Sie den Stand der Dinge in einiger Zeit genauer kennen lernen.

 

Der Graf begleitete diese Worte mit jenem bleichen Lächeln, das Franz d’Epinay so bange gemacht hatte.

 

Mit Ihrem Geschmack und Ihrer Gesinnung, mein Herr Graf, fuhr Danglars fort, werden Sie in der Hauptstadt einen Luxus entwickeln, der uns arme kleine Millionäre insgesamt in den Staub treten muß. Doch dürfte ich um die Ehre bitten, Sie der Frau Baronin von Danglars vorstellen zu dürfen? Entschuldigen Sie meinen Eifer, Herr Graf, doch ein Kunde, wie Sie, gehört beinahe zur Familie.

 

Monte Christo verbeugte sich. Danglars läutete, und es erschien ein Lakai in auffallender Livree, den sein Herr fragte: Ist die Frau Baronin zu Hause?

 

Ja, Herr Baron. Die Frau Baronin hat Gesellschaft. Und wer ist bei der Frau Baronin? Herr Debray? fragte Danglars mit einer Gelassenheit, die Monte Christo, der bereits von den durchsichtigen Geheimnissen im Hause des Finanzmannes unterrichtet war, innerlich lächeln ließ.

 

Ja, Herr Baron, Herr Debray, antwortete der Lakai.

 

Danglars machte ein Zeichen mit dem Kopfe. Dann, sich gegen Monte Christo wendend, sagte er: Herr Lucien Debray, ein alter Freund von uns, ist geheimer Sekretär beim Minister des Innern. Was meine Frau betrifft, so muß ich Ihnen bemerken, daß sie einer sehr alten Familie angehört; sie ist ein Fräulein von Servières, Witwe aus erster Ehe mit dem Obersten Marquis von Nargonne.

 

Ich habe nicht die Ehre, die Frau Baronin von Danglars zu kennen; aber Herrn Lucien Debray traf ich unmittelbar nach meiner Ankunft bei Herrn von Morcerf.

 

Ah! Sie kennen den kleinen Vicomte.

 

Wir waren miteinander zur Zeit des Karnevals in Rom.

 

Ah! ja; habe ich nicht so etwas wie von einem sonderbaren Abenteuer mit Banditen sprechen hören, deren Händen er auf eine wunderbare Weise entrissen wurde? Ich glaube, er hat meiner Frau und meiner Tochter bei seiner Rückkehr aus Italien dergleichen erzählt.

 

Die Frau Baronin erwartet die Herren, meldete der Lakai.