Valentine

 

Valentine

 

Man errät, wo Morel zu tun hatte, und wem sein Eilen galt. Als er Monte Christo verließ, ging er jedoch langsam nach dem Villefortschen Hause – langsam, denn es drängte ihn, mit seinen Gedanken allein zu sein.

 

Er kannte die Stunde gut, zu der Valentine, an Noirtiers Frühstück teilnehmend, vor Störung sicher war. Noirtier und Valentine hatten ihm zwei Besuche in der Woche zugestanden, und er kam, von seinem Rechte Gebrauch zu machen.

 

Valentine erwartete ihn. Unruhig, fast verwirrt, nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zu ihrem Großvater. Diese heftige Unruhe rührte davon her, daß Valentine von dem bevorstehenden Duell zwischen Morcerf und Monte Christo gehört hatte. Sie ahnte schon, Morel würde Monte Christos Zeuge sein, und fürchtete, er werde bei seiner Unerschrockenheit ebenfalls in einen Zweikampf verwickelt werden.

 

Man begreift, welche unbeschreibliche Freude Morel in den Augen seiner Geliebten lesen konnte, als sie erfuhr, die furchtbare Angelegenheit habe einen ebenso glücklichen, wie unerwarteten Ausgang gehabt.

 

Valentine ließ Morel neben dem Greise sitzen, setzte sich selbst auf den Sessel, worauf seine Füße ruhten, und sagte: Nun lassen Sie uns ein wenig von unsern Angelegenheiten reden. Sie wissen, daß der gute Papa den Gedanken gehabt hat, das Haus zu verlassen und seine Wohnung außerhalb des Villefortschen Hauses zu nehmen.

 

Ja, gewiß, ich erinnere mich und habe diesem Plan meinen vollen Beifall geschenkt.

 

Und wissen Sie, sagte Valentine, welchen Grund der gute Papa für seine Absicht angibt?

 

Noirtier schaute seine Enkelin an, um ihr mit dem Auge Schweigen aufzuerlegen; doch Valentine sah ihn nicht an, ihre Augen, ihr Blick, ihr Lächeln gehörten nur Morel.

 

Oh! welchen Grund auch Herr Noirtier angeben mag, rief Morel, ich erkläre, daß er gut ist.

 

Vortrefflich; er behauptet, die Luft des Faubourg Saint Honoré sei für mich nicht gesund.

 

In der Tat, Valentine, Herr Noirtier könnte recht haben; ich finde, daß Ihre Gesundheit seit vierzehn Tagen etwas gelitten hat.

 

Ja, ein wenig, das ist wahr, antwortete Valentine; auch hat sich der gute Papa zu meinem Arzte gemacht, und da er alles weiß, so habe ich das größte Vertrauen zu ihm.

 

Sie leiden also wirklich, Valentine? fragte Morel rasch. Oh! mein Gott, das nennt man nicht leiden; ich fühle eine allgemeine Unbehaglichkeit, und sonst nichts. Ich habe den Appetit verloren, und es kommt mir vor, als hielte mein Magen einen Kampf aus, um sich an etwas zu gewöhnen.

 

Noirtier verlor keines von Valentines Worten.

 

Und welche Behandlung befolgen Sie für diese unbekannte Krankheit?

 

Oh! das ist ganz einfach, ich verschlucke jeden Morgen einen Löffel von dem Trank, den man für meinen Großvater bringt; wenn ich sage einen Löffel, so meine ich, ich habe mit einem angefangen, und nun bin ich beim vierten. Mein Großvater behauptet, es sei ein Heilmittel für alles.

 

Valentine lächelte, doch es lag etwas Trauriges, Leidendes in diesem Lächeln. Trunken vor Liebe schaute sie Maximilian schweigend an; sie war sehr schön, doch ihre Blässe hatte einen matten Ton angenommen, ihre Augen glänzten von einem glühenderen Feuer als gewöhnlich, und ihre sonst perlmutterweißen Hände schienen von gelblichem Wachs zu sein.

 

Von Valentine richtete der junge Mann seine Augen auf Noirtier. Dieser betrachtete mit innigem, prüfendem Blick das geliebte, liebende Mädchen und folgte, wie Morel, den Spuren eines tiefen Leidens, das, für das Auge der andern unsichtbar, dem des Großvaters und des Geliebten nicht entging.

 

Doch ich dachte, der Trank, von dem Sie bereits vier Löffel nehmen, sei für Herrn Noirtier verschrieben?

 

Ich weiß, daß er sehr bitter ist, erwiderte Valentine, so bitter, daß mir alles, was ich darauf trinke, denselben Geschmack zu haben scheint.

 

Noirtier schaute seine Enkelin mit fragendem Blicke an.

 

Ja, guter Papa, versetzte Valentine, es ist so. Soeben, ehe ich zu Ihnen ging, trank ich ein Glas Zuckerwasser; ich ließ die Hälfte davon stehen, so bitter schmeckte das Wasser.

 

Noirtier erbleichte und bedeutete durch ein Zeichen, er wolle sprechen. Valentine stand auf, um das Wörterbuch zu holen, und Noirtier folgte ihr in sichtbarer Angst mit den Augen.

 

Das Blut stieg in der Tat dem Mädchen in den Kopf, seine Wangen färbten sich. Halt! rief sie, immer noch voll Heiterkeit, das ist sonderbar! bin ich blind? Hat mich etwa die Sonne in die Augen getroffen?

 

Und sie stützte sich auf das Fenstersims.

 

Es scheint keine Sonne her, sagte Morel, noch mehr durch den Ausdruck Noirtiers als durch Valentines Unpäßlichkeit beunruhigt, und lief auf seine Braut zu.

 

Das Mädchen lächelte und sagte: Beruhige dich, guter Papa, beruhigen Sie sich, Maximilian, es ist nichts, es ist schon vorbei; stille doch! … Ist das nicht das Geräusch eines Wagens, was ich im Hofe höre?

 

Sie öffnete die Tür, lief an ein Fenster im Gange und kehrte eilig zurück.

 

Ja, sagte sie, es ist Frau Danglars und ihre Tochter, die uns einen Besuch machen wollen. Gott befohlen, ich fliehe, denn man würde mich doch holen, oder vielmehr auf Wiedersehen! Bleiben Sie bei dem guten Papa, ich verspreche Ihnen, den Besuch nicht zurückzuhalten.

 

Morel folgte ihr mit den Augen, sah sie die Tür zumachen und hörte sie die kleine Treppe hinaussteigen, die zugleich zu Frau von Villefort und in ihr Zimmer führte.

 

Sobald sie verschwunden war, bedeutete der Greis Morel, er solle das Wörterbuch nehmen. Nach Verlauf von zehn Minuten hatte der junge Mann Noirtiers Gedanken folgendermaßen übersetzt: Suchen Sie das Glas Wasser und die Flasche in Valentines Zimmer.

 

Morel läutete sogleich dem Diener, der Barrois ersetzt hatte, und erteilte ihm in Noirtiers Namen den Befehl.

 

Der Diener kam nach einem Augenblick zurück. Er hatte Flasche und Glas völlig leer gefunden. Noirtier machte hierauf ein Zeichen, daß er sprechen wolle.

 

Warum sind das Glas und die Flasche leer? fragte er mit Hilfe des Wörterbuchs. Valentine sagte, sie habe nur die Hälfte des Glases getrunken.

 

Ich weiß es nicht, antwortete der Bediente; doch die Kammerfrau ist in Valentines Zimmer; vielleicht hat sie es geleert.

 

Fragen Sie die Kammerfrau, sagte Morel.

 

Der Diener ging hinaus, kam beinahe in derselben Minute wieder zurück und meldete: Fräulein Valentine ist durch ihr Zimmer gegangen, um sich in das der Frau von Villefort zu begeben, und da sie Durst hatte, so trank sie, was im Glase übrig war; die Flasche hat Herr Eduard geleert, um einen Teich für seine Enten daraus zu machen.

 

Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf, wie ein Spieler, der seine ganze Habe auf einen Wurf setzt. Von da an hefteten sich die Augen nach der Tür und verließen diese Richtung nicht mehr.

 

Die befreundeten Damen waren eben in den Salon getreten und hatten Frau von Villefort begrüßt, als Valentine eintrat.

 

Liebe Freundin, sagte die Baronin, während sich die jungen Mädchen bei den Händen nahmen, ich bin gekommen, um Ihnen die nahe bevorstehende Verheiratung meiner Tochter mit dem Prinzen Cavalcanti mitzuteilen.

 

So erlauben Sie mir, Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche auszusprechen, antwortete Frau von Villefort. Der Herr Prinz Cavalcanti scheint ein junger Mann von seltenen Eigenschaften zu sein.

 

Hören Sie, versetzte die Baronin lächelnd, wenn wir als Freundinnen sprechen, so muß ich Ihnen sagen, daß uns der Prinz noch nicht das zu sein scheint, was er sein soll. Es ist an ihm noch etwas von dem Ungelenken, woran wir Französinnen auf den ersten Blick einen italienischen oder deutschen Edelmann erkennen. Er offenbart jedoch ein sehr gutes Herz, viel Feinheit des Geistes, und was die sonstigen Verhältnisse betrifft, so behauptet Herr Danglars, sein Vermögen sei majestätisch; dies ist sein Ausdruck.

 

Und dann, sagte Eugenie, in einem Album blätternd, setzen Sie nur noch dazu, daß Sie eine ganz besondere Neigung für den jungen Mann haben.

 

Ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, ob Sie diese Neigung teilen? versetzte Frau von Villefort.

 

Ich! entgegnete Eugenie mit ihrer gewöhnlichen Bestimmtheit; oh, nicht im mindesten, gnädige Frau. Ich fühle mich nicht für den Beruf geschaffen, mich an die Sorgen einer Haushaltung und die Launen eines Mannes zu ketten. Ich möchte Künstlerin werden und frei über mein Herz, meine Person und meine Gedanken verfügen. Da ich indessen wohl oder übel heiraten muß, so kann ich nur der Vorsehung danken, daß sie mir wenigstens Herrn Albert von Morcerfs Abneigung verschafft hat; ohne diese Vorsehung wäre ich heute die Frau eines seiner Ehre verlustigen Mannes.

 

Es ist wahr, sagte die Baronin, es fehlte wenig, so hätte meine Tochter Herrn Albert geheiratet. Dem General lag viel daran; er kam sogar, um von Herrn Danglars ihre Hand zu erzwingen; wir ließen ihn aber schön ablaufen.

 

Aber fällt denn die Schande des Vaters auch auf den Sohn? sagte schüchtern Valentine. Herr Albert scheint mir ganz unschuldig an dem Verrat des Generals.

 

Verzeihen Sie, liebe Freundin, versetzte die Männerfeindin; Albert verdient sein Teil davon. Nachdem er gestern Herrn von Monte Christo in der Oper herausgefordert, hat er sich heute auf dem Kampfplatze bei ihm entschuldigt.

 

Unmöglich! rief Frau von Villefort.

 

Ach! teure Freundin, sagte Frau Danglars, es ist so, ich habe es durch Herrn Debray erfahren, der bei der Erklärung zugegen war.

 

Valentine wußte auch die Wahrheit, aber sie sagte nichts. Durch ein Wort in ihre Erinnerungen zurückversetzt, befand sie sich in Gedanken wieder in Noirtiers Zimmer, wo sie Morel erwartete.

 

In diese innere Betrachtung versunken, hatte sie aufgehört, an dem Gespräche teilzunehmen, als plötzlich Frau Danglars‘ Hand sich auf ihren Arm stützte und sie ihrer Träumerei entzog.

 

Was wünschen Sie, gnädige Frau? fragte Valentine, bei der Berührung zusammenfahrend wie von einem elektrischen Schlage.

 

Meine liebe Valentine, sagte die Baronin, Sie sind jedenfalls leidend?

 

Ich? entgegnete das Mädchen, mit der Hand über seine glühende Stirne fahrend.

 

Ja, beschauen Sie sich nur im Spiegel; Sie sind drei- bis viermal hintereinander im Verlaufe einer Minute erbleicht und errötet.

 

Du bist in der Tat sehr bleich! rief Eugenie.

 

Oh, das tut nichts, Eugenie, ich bin seit einigen Tagen so.

 

So wenig schlau Valentine auch war, so begriff sie doch, daß sie nun Gelegenheit hatte, sich zu entfernen. Überdies kam ihr Frau von Villefort zu Hilfe, indem sie sagte: Entferne dich, Valentine, du leidest wirklich; trinke ein Glas Wasser, und du wirst dich erholen.

 

Valentine küßte Eugenie, verbeugte sich vor Frau Danglars und verließ das Zimmer.

 

Das arme Kind, sagte Frau von Villefort, als Valentine verschwunden war, es beunruhigt mich ernstlich, und es sollte mich nicht wundern, wenn ihr irgend ein Unfall widerführe.

 

Valentine war indessen in einer Aufregung, von der sie sich keine Rechenschaft geben konnte, durch Eduards Zimmer gegangen und hatte sodann die kleine Treppe zu Noirtiers Wohnung erreicht. Sie stieg alle Stufen bis auf die letzten drei hinab; sie hörte bereits Morels Stimme, als plötzlich eine Wolke vor ihren Augen hinzog, ihr starrer Fuß verfehlte die Stufe, ihre Hände hatten nicht mehr die Kraft, sich am Geländer zu halten, sie streifte an der Wand hin und rollte die drei letzten Stufen hinab.

 

 

Morel machte einen Sprung, öffnete die Tür und sah die Geliebte auf dem Boden liegen. Rasch hob er sie in seine Arme und trug sie in einen Lehnstuhl. Dann öffnete sie wieder die Augen.

 

Oh, ich Ungeschickte! sagte sie, fieberhaft schnell sprechend, ich weiß mich also nicht mehr zu halten.

 

Sie haben sich doch nicht verletzt, Valentine? rief Morel. Oh, mein Gott! mein Gott!

 

Valentine schaute umher; sie sah in Noirtiers Augen den größten Schrecken sich abspiegeln.

 

Beruhige dich, guter Papa, sagte sie, indem sie zu lächeln suchte; es ist nichts … nur ein Schwindel.

 

Abermals eine Ohnmacht! sagte Morel, die Hände faltend. Oh! nehmen Sie sich in acht, Valentine, ich flehe Sie an.

 

Nein, versetzte Valentine, nein, ich sage Ihnen, daß alles vorüber ist, und daß es nichts war. Nun lassen Sie mich Ihnen eine Neuigkeit mitteilen: in acht Tagen verheiratet sich Eugenie, und in drei Tagen findet ein großes Fest, ein Verlobungsmahl, statt. Wir alle sind eingeladen, mein Vater, Frau von Villefort und ich … wenigstens soviel ich verstanden habe.

 

Wann wird die Reihe an uns kommen? Oh! Valentine, Sie, die Sie so viel über Ihren guten Papa vermögen, bemühen Sie sich, daß er Ihnen antwortet: Bald! Solange Sie nicht mir gehören, Valentine, ist es mir immer, als ob Sie mir entgehen könnten.

 

Oh! antwortete Valentine mit einer krampfhaften Bewegung, Maximilian, Sie sind zu ängstlich für einen Offizier, der, wie man sagt, nie die Furcht gekannt hat. Und sie brach in ein scharfes, schmerzliches Gelächter aus, ihre Arme wurden steif, ihr Kopf fiel auf den Stuhl zurück, und sie blieb ohne Bewegung.

 

Morel rief bei diesem Anblick um Hilfe, worauf die Kammerfrau und die Bedienten sofort herbeieilten.

 

Valentine war so kalt, so bleich, so leblos, daß die Diener, ohne zu hören, was man ihnen sagte, von der Furcht erfaßt wurden, die beständig in einem verfluchten Hause wachte, und um Hilfe rufend, in die Gänge stürzten.

 

Frau Danglars und Eugenie entfernten sich soeben und erfuhren gerade noch die Ursache des Aufruhrs.

 

Ich sagte es Ihnen! rief ihnen Frau von Villefort zu; die arme Kleine!

 

Das Geständnis.

 

Das Geständnis.

 

In demselben Augenblick hörte man die Stimme des Herrn von Villefort aus seinem Kabinett rufen: Was gibt es denn?

 

Morel befragte mit dem Blicke Noirtier; dieser hatte wieder seine ganze Kaltblütigkeit erlangt und bezeichnete ihm mit dem Auge das Kabinett, in das er sich schon einmal unter ähnlichen Umständen geflüchtet hatte.

 

Gleich darauf stürzte Villefort in das Zimmer, lief auf Valentine zu und faßte sie in seine Arme. Einen Arzt! … Herrn d’Avrigny! Oder ich gehe vielmehr selbst, rief er und lief aus dem Zimmer.

 

Durch die andere Tür entfloh Morel. Eine schreckliche Erinnerung regte sich in seinem Herzen: die Unterredung zwischen Villefort und dem Doktor, die er in der Nacht, in der Frau von Saint-Meran starb, gehört hatte. Die Symptome, die dem Tode Barrois‘ vorhergegangen, schienen ihm dieselben zu sein, die er, wenn auch in etwas geringerem Grade, bei Valentine wahrgenommen hatte. Zugleich tönte an sein Ohr die Stimme des Grafen von Monte Christo, der ihm kaum zwei Stunden vorher gesagt hatte: Wenn Sie etwas brauchen, Morel, so kommen Sie zu mir, ich vermag viel. Diesen Helfer wollte er nun aufsuchen.

 

Inzwischen fuhr Herr von Villefort bei Herrn d’Avrigny vor; er läutete so heftig, daß ihm der Portier mit erschrockener Miene öffnete. Villefort stürzte nach der Treppe, ohne daß er die Kraft hatte, etwas zu sagen. Der Portier kannte ihn und rief ihm nur nach: In seinem Kabinett, Herr Staatsanwalt!

 

Villefort stieß bereits die Tür auf.

 

Ah! sagte der Doktor, Sie sind es? –

 

Ja, ich bin es und frage Sie, ob wir allein sind. Doktor, mein Haus ist ein verfluchtes Haus!

 

Wie! sagte dieser scheinbar kalt, jedoch mit tiefer innerer Erschütterung, haben Sie abermals einen Kranken?

 

Ja, Doktor! rief Villefort, mit krampfhafter Hand seine Haare fassend, ja!

 

In d’Avrignys Blick lag: Ich habe es Ihnen vorher gesagt. Dann sprachen seine Lippen langsam: Wer soll denn in Ihrem Hause sterben, und welches neue Opfer wird Sie vor Gott der Schwäche anklagen?

 

Ein schmerzliches Schluchzen entwand sich dem Herzen des Geängsteten, er näherte sich dem Arzte, faßte ihn am Arm und antwortete: Valentine! die Reihe ist an Valentine! Ihre Tochter! rief d’Avrigny, erschreckt.

 

Sie sehen, daß Sie sich täuschten, murmelte der Staatsanwalt, kommen Sie, schauen Sie meine Tochter an, und Sie werden sie wegen Ihres Verdachtes auf ihrem Schmerzenslager um Verzeihung bitten.

 

So oft Sie mich benachrichtigten, war es zu spät, sagte Herr d’Avrigny; doch gleichviel, ich gehe. Eilen wir!

 

Oh! diesmal, Doktor, werden Sie mir meine Schwäche nicht mehr vorwerfen. Diesmal werde ich den Mörder kennen lernen und treffen.

 

Suchen wir das Opfer zu retten, ehe wir an die Rache denken, sagte d’Avrigny; kommen Sie!

 

Inzwischen war Morel bei Monte Christo angekommen. Der Graf saß in seinem Kabinett und las sorgenvoll ein Billett, das ihm Bertuccio in der Eile geschickt hatte. Als er Morel, der ihn vor kaum zwei Stunden verlassen hatte, melden hörte, erhob der Graf das Haupt.

 

Für Morel, wie für den Grafen hatte sich während dieser zwei Stunden ohne Zweifel viel ereignet, denn der junge Mann, der ihn mit einem Lächeln auf den Lippen verlassen, kam mit verstörtem Gesichte zurück.

 

Er stand auf, eilte Morel entgegen und rief: Was gibt es denn, Maximilian? Sie sind bleich, und Ihre Stirn trieft von Schweiß.

 

Morel fiel auf einen Stuhl und erwiderte: Ja, ich bin schnell gelaufen, ich mußte Sie sprechen. Ich bedarf Ihrer. Sie können mir vielleicht bei einer Sache Hilfe leisten, wo sonst niemand helfen kann. – Reden Sie! – Graf, wollen Sie mir erlauben, Baptistin wegzuschicken und in einem Ihnen bekannten Hause Nachrichten einzuziehen? – Ich bin zu Ihrer Verfügung, und Sie mögen also noch viel mehr über meine Bedienten verfügen.

 

Morel ging hinaus, rief Baptistin und sagte ihm leise einige Worte. Der Kammerdiener eilte fort.

 

Morel erzählte nun, ohne die Namen zu nennen, dem Grafen, welches Geheimnis er aus dem im Garten des Staatsanwalts belauschten nächtlichen Gespräch erfahren habe, und Monte Christo hörte scheinbar mit der größten Ruhe zu.

 

Nun! endete Maximilian, der Tod ist zum dritten Male eingekehrt, und weder der Herr des Hauses, noch der Doktor hat etwas gesagt; der Tod wird vielleicht zum vierten Male treffen. Graf, wozu glauben Sie, daß mich die Kenntnis dieses Geheimnisses verpflichtet?

 

Mein lieber Freund, Sie scheinen mir eine Geschichte zu erzählen, die jeder von uns auswendig weiß. Ich kenne das Haus, wo Sie dies gehört haben, oder kenne wenigstens ein ähnliches: ein Haus, wo sich ein Garten, ein Familienvater, ein Doktor findet, ein Haus, wo sich drei seltsame, unerwartete Todesfälle ereignet haben. Wohl, schauen Sie mich an, mich, der nichts erlauscht hat, und dennoch dies alles so gut weiß wie Sie … habe ich Gewissensbedenken? Nein! das geht mich nichts an. Sie sagen, ein Würgeengel scheine dieses Haus dem Zorne des Herrn zu bezeichnen; wer sagt Ihnen denn, daß Ihre Voraussetzung nicht Wirklichkeit ist? Wenn die Gerechtigkeit und nicht der Zorn Gottes dieses Haus trifft, Maximilian, so wenden Sie den Kopf ab und lassen Sie die Gerechtigkeit Gottes ihren Gang gehen.

 

Morel bebte. Es lag zugleich etwas Finsteres, Feierliches und Furchtbares in dem Tone des Grafen.

 

Überdies, fuhr er mit so scharf veränderter Stimme fort, daß man hätte glauben sollen, diese letzten Worte kämen nicht mehr aus dem Munde desselben Menschen, – überdies, wer sagt Ihnen, daß es wieder anfangen wird?

 

Es fängt wieder an, Graf, rief Morel, und deshalb bin ich zu Ihnen gelaufen.

 

Was soll ich tun, Morel? Soll ich etwa den Herrn Staatsanwalt in Kenntnis setzen?

 

Monte Christo sprach diese Worte mit solchem Ausdrucke, daß Morel plötzlich aufstand und rief: Graf! Graf! nicht wahr, Sie wissen, von wem ich spreche? Allerdings, mein guter Freund, und ich will es Ihnen dadurch beweisen, daß ich Namen nenne. Sie sind am Todesabend des Herrn von Saint-Meran im Garten des Herrn von Villefort gewesen. Sie haben Herrn von Villefort mit Herrn d’Avrigny über den Tod des Herrn von Saint-Meran und über den nicht minder erstaunlichen Tod seiner Gattin sprechen hören. Herr d’Avrigny sagte, er glaube an eine Vergiftung, oder sogar an zwei Vergiftungen, und Sie, der vor allen ehrliche Mann, sind seitdem in Gewissensnöten, ob Sie dieses Geheimnis enthüllen, oder ob Sie schweigen sollen. So lassen Sie doch die Leute schlafen, wenn sie schlafen, und schlummern Sie selbst um Gotteswillen, Sie, den keine Gewissensbisse am Schlummern hindern.

 

Ein furchtbarer Schmerz prägte sich in Morels Zügen aus; er ergriff die Hand des Grafen und rief: Aber, es fängt wieder an, sage ich Ihnen!

 

Nun wohl, erwiderte der Graf, erstaunt über diese Hartnäckigkeit, die er nicht begriff, während er Maximilian noch aufmerksamer anschaute, lassen Sie es wieder anfangen; es ist eine Atriden-Familie! Gott hat sie verurteilt, und sie werden seinem Spruche unterliegen, sie werden verschwinden. Vor drei Monaten war es Herr von Saint-Meran; vor zwei Monaten war es Frau von Saint-Meran; kürzlich war es Barrois; heute ist es der alte Noirtier oder die junge Valentine.

 

Sie wußten es? rief Morel so erschrocken, daß Monte Christo bebte, er, den des Himmels Einsturz unempfindlich gefunden hätte. Sie wußten es und sagten nichts?

 

Was ist mir denn daran gelegen! versetzte Monte Christo, die Achseln zuckend, kenne ich diese Leute?

 

Aber ich, rief Morel, brüllend vor Schmerz, ich liebe sie!

 

Sie lieben, wen? rief Monte Christo aufspringend und Morels Hände ergreifend.

 

Ich liebe bis zur Raserei, ich liebe wie ein Mensch, der all sein Blut hingeben würde, um ihr eine Träne zu ersparen, ich liebe Valentine von Villefort, die man in diesem Augenblicke ermordet! Hören Sie wohl, ich liebe sie, und frage Gott und Sie, wie ich sie retten kann?

 

Monte Christo stieß einen Schrei aus und rief, die Hände ringend: Unglücklicher! du liebst die Tochter eines verfluchten Geschlechtes!

 

Nie hatte Morel einen ähnlichen Ausdruck gesehen, nie hatte ein so furchtbares Auge vor seinem Gesicht geflammt, nie hatte der Geist des Schreckens, den er so oft auf den Schlachtfeldern oder in den mörderischen Nächten Algeriens erschaut, so düstere Flammen um ihn her geschleudert. – Er wich erschrocken zurück.

 

Monte Christo schloß ein paar Sekunden lang nach diesem Ausbruche, wie von inneren Blitzen geblendet, die Augen. Während dieser Sekunden sammelte er sich mit solcher Gewalt, daß man nach und nach die wellenförmigen Bewegungen seiner von Stürmen schwellenden Brust sich legen sah, wie sich nach dem Gewitter unter der Sonne die stürmischen, schäumenden Wogen glätten.

 

Dann hob er seine bleiche Stirn empor und sagte mit leicht bebender Stimme: Ich, der unempfindlich, und neugierig dastand, ich, der die Entwickelung dieser furchtbaren Tragödie betrachtete; ich, der einem schlimmen Genius ähnlich über das Böse lachte, das die Menschen unter dem Schutze des Geheimnisses tun – ich fühle mich nun selbst gebissen von der Schlange, deren krummen Gang ich betrachtete, und zwar ins Herz gebissen.

 

Morel stieß einen dumpfen Seufzer aus.

 

Auf! auf! genug der Klagen, fuhr der Graf fort, seien Sie stark, seien Sie ein Mann, seien Sie voll Hoffnung, denn ich bin da, ich wache über Sie.

 

Morel schüttelte traurig den Kopf.

 

Ich sage Ihnen, Sie sollen hoffen, verstehen Sie mich? rief Monte Christo. Erfahren Sie, daß ich nie lüge, daß ich mich nie täusche. Es ist Mittag, Maximilian, danken Sie dem Himmel, daß Sie am Mittag gekommen sind, statt erst am Abend zu kommen. Hören Sie, was ich Ihnen sagen werde, Morel; es ist Mittag; wenn Valentine noch nicht tot ist, so wird sie nicht sterben.

 

Oh! mein Gott! mein Gott! rief Morel, ich habe sie sterbend zurückgelassen.

 

Monte Christo legte seine Hand an die Stirn. Was ging in diesem von furchtbaren Geheimnissen beschwerten Kopfe vor? Er hob die Stirn noch einmal, und diesmal war er ruhig wie das Kind beim Erwachen.

 

Maximilian, sagte er, kehren Sie still nach Hause zurück; ich befehle Ihnen, nichts zu tun, keinen Schritt zu versuchen, über Ihr Antlitz nicht den Schatten einer Unruhe schweben zu lassen, ich werde Ihnen Nachricht geben.

 

Mein Gott! mein Gott! Graf, Sie erschrecken mich mit Ihrer Kaltblütigkeit. Vermögen Sie etwas gegen den Tod? Sind Sie mehr als ein Mensch?

 

Und der junge Mann, den keine Gefahr je einen Schritt zurückweichen ließ, wich, von einem unsäglichen Schrecken erfaßt, zurück. Doch Monte Christo schaute ihn jetzt mit einem zugleich so schwermütigen und so sanften Lächeln an, daß Maximilian Tränen in seinen Augen fühlte.

 

Ich vermag viel, antwortete der Graf. Gehen Sie, ich muß allein sein, mein Freund.

 

Ohne Widerstreben drückte Morel dem Grafen die Hand und entfernte sich.

 

Villefort und d’Avrigny waren indessen in größter Eile nach dem Hotel des Staatsanwalts gefahren. Bei ihrer Rückkehr war Valentine noch ohnmächtig, und der Arzt untersuchte die Kranke mit der von den Umständen gebotenen Sorgfalt.

 

An seinen Lippen und seinen Blicken hängend, erwartete Villefort das Resultat der Prüfung. Bleicher, als das Mädchen, gieriger auf eine Lösung, als Villefort selbst, wartete Noirtier ebenfalls.

 

Endlich sprach d’Avrigny langsam die Worte: Sie lebt noch.

 

Noch? rief Villefort, oh! Doktor, welch ein furchtbares Wort haben Sie da ausgesprochen!

 

Ja, sagte der Doktor, ich wiederhole meine Behauptung; sie lebt noch, und ich bin darüber erstaunt.

 

Doch sie ist gerettet? – Ja, da sie lebt.

 

In diesem Moment begegnete der Blick d’Avrignys dem Blicke Noirtiers. Er erglänzte von so außerordentlicher Freude, daß der Arzt sich dadurch betroffen fühlte.

 

Er ließ das Mädchen, dessen bleiche, weiße Lippen sich kaum noch vom übrigen Gesicht abhoben, wieder auf den Stuhl fallen und sagte zu Villefort: Rufen Sie gefälligst die Kammerjungfer des Fräuleins.

 

Villefort ließ den Kopf seiner Tochter los, den er unterstützte, und lief weg, um die Kammerjungfer zu rufen.

 

Sobald Villefort die Tür zugemacht hatte, näherte sich d’Avrigny Herrn Noirtier und fragte ihn: Sie haben mir etwas zu sagen?

 

Der Greis blinzelte auf eine ausdrucksvolle Weise mit den Augen; es war dies, wie man sich erinnert, sein bejahendes Zeichen.

 

Gut, ich werde bei Ihnen bleiben.

 

In diesem Augenblick kehrte Villefort mit der Kammerjungfer zurück; hinter dieser ging Frau von Villefort.

 

Aber was hat denn das liebe Kind? rief sie: … sie ging von mir weg, beklagte sich zwar etwas über Unpäßlichkeit, doch ich glaubte, es sei von keiner Bedeutung.

 

Und die junge Frau näherte sich Valentine mit Tränen in den Augen und mit allen Zeichen der Zuneigung einer wahren Mutter, und nahm sie bei der Hand.

 

D’Avrigny schaute Noirtier fortwährend an; er sah, wie seine Augen sich erweiterten, wie seine Wangen zitterten und erbleichten, wie der Schweiß auf seiner Stirn perlte.

 

Oh! stieß er unwillkürlich hervor, während er der Richtung der Blicke des Greises folgte, das heißt, seine Augen auf Frau von Villefort heftete. Diese sagte wiederholt: Das arme Kind wird besser in seinem Zimmer sein. Kommen Sie, Fanny, wir wollen Valentine zu Bette bringen.

 

Der Arzt, der in diesem Vorschlag ein Mittel sah, mit Noirtier allein zu bleiben, erklärte dies für das beste, verbot aber, sie irgend etwas anderes nehmen zu lassen, als was er verordnen würde.

 

Man trug Valentine weg; sie hatte wieder das Bewußtsein erlangt, vermochte aber weder sich zu bewegen, noch zu sprechen, so sehr waren ihre Glieder durch die Erschütterung, die sie erlitten, gelähmt. Sie hatte indessen die Kraft, mit einem Blicke ihren Großvater zu grüßen, dem man, als man sie wegtrug, die Seele zu entreißen schien.

 

D’Avrigny folgte der Kranken, gab weitere Vorschriften, hieß Villefort selbst zum Apotheker fahren, dort die verordneten Tränke bereiten lassen, sie selbst zurückbringen und ihn im Zimmer seiner Tochter erwarten.

 

Nachdem er abermals eingeschärft, Valentine nichts nehmen zu lassen, ging er wieder zu Herrn Noirtier hinab, schloß sorgfältig die Tür, überzeugte sich, daß niemand horchte, und sagte: Mein Herr, Sie wissen etwas über die Krankheit Ihrer Enkelin? – Ja, machte der Greis.

 

Hören Sie, wir haben keine Zeit zu verlieren, ich will Sie fragen, und Sie antworten mir. Haben Sie den Unfall vorhergesehen, der heute Valentine begegnet ist? – Ja.

 

D’Avrigny dachte einen Augenblick nach, näherte sich sodann Noirtier und fuhr fort: Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen sagen werde; doch in der furchtbaren Lage, in der wir uns befinden, darf kein Anzeichen vernachlässigt werden. Haben Sie den armen Barrois sterben sehen?

 

Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf.

 

Wissen Sie, woran er gestorben ist? – Ja.

 

Glauben Sie, sein Tod sei natürlich gewesen?

 

Etwas wie ein Lächeln trat auf die trägen Lippen Noirtiers. Es ist Ihnen also der Gedanke gekommen, Barrois sei vergiftet worden? – Ja. – Glauben Sie, das Gift, dem er unterlegen ist, sei für ihn bestimmt gewesen? – Nein.

 

Meinen Sie, dieselbe Hand, die Barrois statt eines andern getroffen, treffe heute Valentine? – Ja. – Sie wird also ebenfalls unterliegen? fragte d’Avrigny, einen tiefen Blick auf Noirtier heftend. – Nein, erwiderte dieser mit triumphierender Miene. – Sie hoffen also? fragte d’Avrigny erstaunt. – Ja. – Was hoffen Sie?

 

Der Greis machte durch die Augen begreiflich, er könne nicht antworten.

 

Ah! ja, das ist wahr, murmelte d’Avrigny.

 

Dann sagte er: Sie hoffen, der Mörder würde müde werden? – Nein. – Also hoffen Sie, das Gift werde ohne Wirkung auf Valentine sein? – Ja. – Denn nicht wahr, ich belehre Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, man habe sie in der Tat zu vergiften gesucht?

 

Der Greis machte mit den Augen ein Zeichen, das keinen Zweifel in dieser Beziehung übrig ließ.

 

Wie hoffen Sie dann, daß Valentine entkommen werde?

 

Noirtier hielt hartnäckig seine Augen auf einen Punkt geheftet; d’Avrigny folgte der Richtung seiner Augen und sah, daß sie auf eine Flasche zielten, die den Trank enthielt, den man ihm jeden Morgen brachte.

 

Ah! ah! sagte d’Avrigny, plötzlich von einem Gedanken erleuchtet, sollten Sie den Einfall gehabt haben … – Noirtier ließ ihn nicht vollenden. Ja, machte er. – Sie gegen das Gift zu verwahren? – Ja. – Indem Sie Valentine allmählich daran gewöhnten, da Sie mich haben sagen hören, es komme Brucin in den Trank, den ich Ihnen gebe. – Ja, ja, ja, machte der Greis, entzückt, verstanden zu werden. – Und Sie gewöhnten sie an dieses Getränk und wollten dadurch die Wirkungen eines solchen Giftes aufheben?

 

Dieselbe triumphierende Freude bei Noirtier.

 

Und es ist Ihnen wirklich gelungen! rief d’Avrigny. Ohne diese Vorsichtsmaßregel wäre Valentine heute getötet, getötet ohne die Möglichkeit einer Hilfe; der Schlag war heftig, doch sie wurde nur erschüttert, und diesmal wenigstens wird Valentine nicht sterben.

 

Eine übermenschliche Freude glänzte in den mit einem Ausdrucke unsäglicher Dankbarkeit zum Himmel aufgeschlagenen Augen des Greises.

 

In dieser Minute kam Villefort zurück.

 

Hier, Doktor, sagte er, hier ist das Verlangte. – Dieser Trank ist in Ihrer Gegenwart bereitet worden? – Ja. – Er ist nicht aus Ihren Händen gekommen? – Nein.

 

D’Avrigny nahm die Flasche, goß ein paar Tropfen von ihrem Inhalt in seine hohle Hard und verschluckte sie.

 

Gut, sagte er, gehen wir zu Valentine! Ich werde dort meine Vorschriften geben, und Sie selbst, Herr von Villefort, wachen darüber, daß niemand davon abgeht.

 

In dem Augenblick, wo der Doktor in das Zimmer Valentines, von Villefort begleitet, zurückkehrte, mietete ein italienischer Priester das an das Hotel des Herrn von Villefort anstoßende Haus.

 

Man konnte nicht erfahren, was die drei Mieter dieses Hauses bewogen hatte, zwei Stunden nachher auszuziehen. Aber es ging allgemein das Gerücht in der Gegend, das Haus ruhe nicht fest auf seinem Grunde und drohe einzustürzen, was den neuen Mieter aber durchaus nicht abhielt, noch an demselben Tage gegen fünf Uhr einzuziehen.

 

Der Mietvertrag wurde für drei Jahre abgeschlossen und der Hauszins von dem neuen Mieter namens Signor Giacomo Busoni sechs Monate vorausbezahlt.

 

Es wurden sogleich Arbeiter gerufen, und noch in derselben Nacht sahen einige Verspätete beim Vorübergehen mit Erstaunen Zimmerleute und Maurer mit Ausbesserung des wankenden Hauses beschäftigt.

 

 

Das Verlobungsmahl.

 

Das Verlobungsmahl.

 

Am andern Morgen erhob sich die Sonne rein und glänzend, und ihre purpurnen Strahlen übergossen wie mit Rubinen die schäumenden Spitzen der Meereswellen.

 

Das Verlobungsmahl war im großen Saale des ersten Stockes der Reserve bereitet worden. In der Mitte der langen Tafel saß auf der einen Seite die reizende Mercedes, rechts von ihr im Sonntagsstaate der alte Dantes, während zu ihrer Linken ihr Vetter Fernand Platz genommen hatte. Ihnen gegenüber saß der Bräutigam, neben ihm Herr Morel, der das Verlobungsfest seines zukünftigen Kapitäns mit seiner Gegenwart beehrte.

 

In ihrer Nähe befanden sich auch Danglars sowie Caderousse, den die Hoffnung auf ein gutes Mahl vollends mit Dantes ausgesöhnt hatte und in dessen Gedächtnis nur eine schwankende Erinnerung von dem geblieben war, was sich am Tage vorher zugetragen hatte.

 

Außer diesen uns bekannten Gästen waren zahlreiche Freunde des Bräutigams, Seeleute und Soldaten, anwesend, die bereits anfingen, dem reichen Mahle zuzusprechen.

 

Schon liefen um die Tafel Würste von Arles mit ihrem eigentümlichen, starken Gerüche, Seekrebse mit blendender Schale, Prayres in rosafarbiger Muschel, Seeigel, die Kastanien glichen, und alle die Leckerbissen, welche die Wellen auf das sandige Ufer wälzen und die dankbaren Schiffer mit dem Namen Seefrüchte bezeichnen.

 

Ein schönes Schweigen, sagte Dantes‘ Vater, ein Glas Wein, gelb wie Topas, schlürfend. Sollte man glauben, es seien hier dreißig Personen, die sich frohe Zeit machen wollen?

 

Ei, auch ein Bräutigam kann nicht immer heiter sein, erwiderte Caderousse.

 

Es ist wahr, sagte Dantes, ich bin zu glücklich in diesem Augenblick, um heiter zu sein. Die Freude bringt zuweilen eine seltsame Wirkung hervor, sie drängt, wie der Schmerz, die laute Äußerung zurück. Es scheint mir, der Mensch ist nicht geschaffen, so leicht glücklich zu werden. Man muß kämpfen, um das Glück zu erobern, und ich weiß gar nicht, wodurch ich das Glück, Mercedes‘ Gatte zu sein, verdient habe.

 

Der Gatte, der Gatte, rief Caderousse lachend, noch nicht, mein Kapitän! Versuche es einmal, den Gatten zu spielen, und du wirst sehen, wie man dich aufnimmt!

 

Mercedes errötete.

 

Fernand quälte sich auf seinem Stuhle, bebte bei dem geringsten Geräusche und wischte sich jeden Augenblick große Schweißtropfen ab. Von Zeit zu Zeit schaute er nach Marseille zu, als ob er auf irgend etwas Besonderes wartete.

 

Bei Gott, man braucht mich nicht Lügen zu strafen; Mercedes ist allerdings noch nicht meine Frau, sagte Dantes und zog seine Uhr. Aber in anderthalb Stunden wird sie es sein.

 

Alle ließen Ausrufe des Erstaunens hören, nur Dantes Vater nicht, der durch ein breites Lachen seine noch schönen Zähne zeigte. Mercedes lächelte und errötete nicht mehr. Fernand faßte krampfhaft nach dem Hefte seines Messers.

 

Ja, meine Freunde, fuhr Dantes fort, dank dem Eintreten des Herrn Morel, des Mannes, dem ich nach meinem Vater am meisten auf dieser Welt zu verdanken habe, sind alle Schwierigkeiten beseitigt. Alle Förmlichkeiten sind erfüllt, und um halb drei Uhr erwartet uns der Maire von Marseille auf dem Rathause.

 

Fernand schloß die Augen; eine feurige Wolke brannte auf seinen Augenlidern; er stützte sich auf den Tisch und konnte sich eines dumpfen Seufzers nicht erwehren, der sich in dem Geräusche des Gelächters und der Glückwünsche der Versammlung verlor.

 

Das lass‘ ich mir gefallen, sagte der alte Dantes. Gestern morgen hier angekommen, heute um drei Uhr geheiratet! Die Seeleute segeln rasch in den Hafen.

 

Aber die sonstigen Förmlichkeiten? wandte Danglars ein, der Vertrag, die schriftlichen Erklärungen?

 

Der Vertrag? entgegnete Dantes lachend, der Vertrag ist fertig. Mercedes hat nichts, ich habe auch nichts. Da bedurfte es keines langen Schreibens und kostet auch nicht so viel … Dieser Scherz veranlaßte einen Ausbruch der Freude und des Beifalls.

 

Was wir für ein Verlobungsmahl hielten, ist also ein Hochzeitsmahl, sagte Danglars.

 

Nein, erwiderte Dantes, seid unbesorgt! Ihr sollt nichts dabei verlieren. Morgen früh reise ich nach Paris. Vier Tage hin, vier Tage her und einen Tag, um gewissenhaft meinen Auftrag zu vollziehen. Am ersten März bin ich dann zurück, und am zweiten findet das wahre Hochzeitsmahl statt.

 

Die Aussicht auf einen neuen Schmaus verdoppelte die Heiterkeit dergestalt, daß der Greis, der sich anfangs über die Stille beklagt hatte, mitten unter dem allgemeinen Gespräche vergebliche Versuche machte, seinen Glückwunsch für das zukünftige Ehepaar anzubringen. Es herrschte um die Tafel die geräuschvolle, ungebundene Heiterkeit, die bei Leuten aus dem Arbeiterstande das Ende des Mahles zu bezeichnen pflegt. Alle sprachen zu gleicher Zeit, und niemand antwortete auf das, was man ihm sagte, sondern jeder beschäftigte sich nur mit seinen eigenen Gedanken.

 

Fernands Blässe schien auf Danglars‘ Wangen übergegangen und Fernand selbst wie ein Verdammter im Fegefeuer zu sein. Er stand zuerst auf, ging im Saal umher und bemühte sich, sein Ohr von dem Klang der Lieder und des Zusammenstoßens der Gläser abzuwenden. Caderousse näherte sich ihm in dem Augenblicke, wo Danglars ihn in einer Ecke des Saales aufsuchte.

 

In der Tat, sagte Caderousse, dem Dantes‘ freundliches Wesen und besonders der gute Wein des Vaters Pamphile den ganzen Rest des Hasses und Neides gegen den jungen Seemann fortgeschwemmt hatten, in der Tat, Dantes ist ein vortrefflicher Bursche, und wenn ich ihn neben seiner Braut sitzen sehe, sage ich mir, es wäre schade gewesen, wenn man ihm den schlechten Streich gespielt hätte, den ihr gestern miteinander verabredet habt.

 

Du hast auch gesehen, erwiderte Danglars, daß ich die Sache vereitelt habe. Fernand war anfangs so verzweifelt, daß er mir bange machte; aber von dem Augenblicke an, wo er sich dazu entschloß, als erster Brautführer bei der Hochzeit seines Nebenbuhlers aufzutreten, war nichts mehr zu sagen.

 

Caderousse schaute Fernand an, der leichenblaß war.

 

Gehen wir, sagte jetzt Mercedes mit sanfter Stimme, es ist zwei Uhr, und man erwartet uns um halb drei.

 

Laßt uns gehen! riefen alle Gäste im Chor. In demselben Augenblick sah Danglars, wie Fernand, der auf dem Fenstersimse saß, plötzlich seine verstörten Augen weit aufriß, mit einer krampfhaften Bewegung sich erhob und dann wieder auf den Sims zurückfiel. Fast gleichzeitig vernahm man ein dumpfes Geräusch auf der Treppe. Dieses Geräusch schwerer Tritte und der verworrene Lärm von Stimmen, vermischt mit dem Klirren von Waffen, übertönten das Gespräch der Gäste und erregten die allgemeine Aufmerksamkeit, die sich durch ein auffälliges Stillschweigen kundgab. Der Lärm näherte sich, drei Schläge ertönten an der Tür, jeder schaute seinen Nachbar mit erstaunter Miene an.

 

Im Namen des Gesetzes! rief eine scharfe Stimme, der niemand antwortete. Sogleich öffnete sich die Tür, und ein Kommissar mit seiner Schärpe, dem vier bewaffnete Soldaten unter Anführung eines Korporals folgten, trat in den Saal. – Die Unruhe machte dem Schrecken Platz.

 

Was gibt es? sagte der Reeder, dem Kommissar, den er kannte, entgegengehend. Es findet hier sicherlich ein Irrtum statt.

 

 

Wenn ein Irrtum stattfindet, Herr Morel, antwortete der Kommissar, so glauben Sie mir, er wird schleunigst wieder gut gemacht werden. Im Augenblick bin ich der Träger eines Verhaftbefehles und muß meinen Austrag, wenn auch mit Bedauern, vollziehen. Wer von Ihnen, meine Herren, ist Edmond Dantes?

 

Alle Blicke wandten sich dem jungen Manne zu, der erregt, aber voll Würde einen Schritt vorwärts machte und erwiderte: Ich bin es, was wollen Sie von mir?

 

Edmond Dantes, sagte der Kommissar, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes.

 

Sie verhaften mich? sagte Edmond mit leichter Blässe. Warum verhaften Sie mich?

 

Ich weiß es nicht, mein Herr; aber Ihr erstes Verhör wird Sie darüber belehren.

 

Herr Morel begriff, daß sich nichts gegen die unbeugsame Gewalt der Verhältnisse tun ließ. Ein Kommissar in amtlicher Eigenschaft ist kein Mensch mehr; er ist die starre Hand des kalten, tauben Gesetzes. Der Greis aber stürzte dem Beamten entgegen; es gibt Dinge, die das Herz eines Vaters oder einer Mutter nie begreifen wird. Er bat, er flehte; Bitten und Tränen vermochten nichts; aber seine Verzweiflung war so groß, daß der Kommissar dadurch gerührt wurde.

 

Mein Herr, sagte er, beruhigen Sie sich, Ihr Sohn hat vielleicht irgend eine Zoll- oder Sanitätsvorschrift übersehen, und wenn man die gewünschte Auskunft von ihm erhalten hat, wird man ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in Freiheit setzen.

 

Was soll denn das bedeuten? sagte Caderousse zu Danglars, der den Erstaunten spielte.

 

Weiß ich es? entgegnete Danglars. Mir geht’s wie dir; ich sehe, was vorgeht, begreife nichts davon und bleibe ganz verwirrt.

 

Caderousse suchte mit seinen Augen Fernand; er war verschwunden, und nun trat ihm die ganze Szene vom vorhergehenden Tage mit furchtbarer Klarheit vor die Seele.

 

Oh, oh! sagte er mit dumpfer Stimme, ist das die Folge des Scherzes, von dem du gestern sprachst, Danglars? In diesem Falle wehe dem, der ihn gemacht hat, denn er ist sehr schlecht!

 

Keineswegs, rief Danglars, du weißt, daß ich das Papier zerrissen habe.

 

Du hast es nicht zerrissen, du warfst es in die Ecke.

 

Schweig, du hast nichts gesehen, du warst betrunken.

 

Wo ist Fernand? sagte Caderousse.

 

Weiß ich es? antwortete Danglars. Ohne Zweifel geht er seinen Geschäften nach.

 

Während dieses Gespräches drückte Dantes allen seinen Freunden die Hand und gab sich mit den Worten in Verhaft: Seid ruhig, der Irrtum wird sich aufklären, und wahrscheinlich komme ich nicht ins Gefängnis.

 

Ganz gewiß nicht, dafür wollte ich stehen, sagte Danglars, der sich in diesem Augenblicke der Hauptgruppe näherte.

 

Der Kommissar ging vor Dantes die Treppe hinab. Ein Wagen, dessen Schlag geöffnet war, wartete vor der Tür. Dantes stieg ein. Der Schlag wurde geschlossen, und der Wagen fuhr nach Marseille.

 

Leb wohl, Edmond, rief Mercedes, ans Fenster stürzend.

 

Der Gefangene hörte diesen letzten Schrei, der wie ein Schluchzen aus dem zerrissenen Herzen der Braut hervordrang. Er fuhr rasch mit dem Kopfe zu dem Schlage hinaus und rief: Auf Wiedersehen, Mercedes! Dann verschwand der Wagen hinter einer Ecke des Forts Saint-Nicolas.

 

Erwartet mich hier, sagte der Reeder, ich nehme den ersten Wagen, den ich treffe, eile nach Marseille und bringe euch bald Nachricht.

 

Gehen Sie, riefen alle Stimmen, und kommen Sie bald zurück!

 

Nach der Entfernung der beiden Männer herrschte einen Augenblick unter den Zurückbleibenden eine gewisse Betäubung. Der Greis und Mercedes verharrten eine Zeit lang jedes in seinen eigenen Schmerz versunken; dann aber begegneten sich ihre Augen, und in dem Bewußtsein, zwei von demselben Schlage getroffene Opfer zu sein, fielen sie einander in die Arme. Inzwischen kehrte Fernand zurück, schenkte sich ein Glas Wasser ein, leerte es und setzte sich auf einen Stuhl. Da dieser zufällig unweit des Ortes stand, wo Mercedes in die Arme des Greises sank, rückte Fernand seinen Stuhl unwillkürlich zurück.

 

Er ist’s gewesen, sagte Caderousse, der den Katalonier nicht aus dem Gesichte verloren hatte, zu Danglars.

 

Ich glaube es nicht, erwiderte Danglars, er ist zu dumm dazu. In jedem Fall mag der Streich auf den zurückfallen, der ihn ausgeführt hat!

 

Du meinst nicht den, der den Rat gegeben hat?

 

Ah! meiner Treu, soll man für das verantwortlich sein, was man in die Luft spricht? rief Danglars.

 

Ja, wenn das, was man in die Luft spricht, gerade auf das gewünschte Ziel zurückfällt.

 

Während dieser Zeit stellten die andern Gäste allerlei Vermutungen über die Verhaftung auf, und einer von ihnen wandte sich auch an Danglars mit der Frage, was seine Meinung von der Sache sei.

 

Ich, versetzte Danglars, ich denke, daß er ein paar Ballen verbotene Waren mitgebracht hat.

 

Oh, nun erinnere ich mich, murmelte der arme Vater, sich an diese leere Vermutung anklammernd, er sagte mir gestern, er hätte für mich eine Kiste Kaffee und eine Kiste Tabak.

 

Seht, das ist es, sagte Danglars; die Zollbeamten werden in unserer Abwesenheit einen Besuch an Bord des Pharao gemacht und den verborgenen Honig entdeckt haben.

 

Mercedes wollte dies nicht glauben; ihr bisher zurückgepreßter Schmerz machte sich plötzlich in gewaltigem Schluchzen Luft.

 

Ruhig, ruhig! Hoffnung! sagte der Alte, ohne zu wissen, was er sprach. Hoffnung! wiederholte Danglars. Hoffnung! suchte Fernand zu murmeln, aber das Wort erstickte auf seinen Lippen.

 

Meine Herren, rief einer von den Gästen, der als Schildwache an den Fenstern geblieben war, meine Herren, ein Wagen. Es ist Herr Morel. Mut, Mut! Ohne Zweifel bringt er uns gute Nachricht.

 

Mercedes und der alte Vater liefen dem Reeder entgegen, dem sie an der Tür begegneten. Herr Morel war sehr bleich.

 

Nun? riefen sie gleichzeitig.

 

Meine Freunde, antwortete der Reeder, die Sache ist ernster, als wir dachten.

 

Oh, Gott, rief Mercedes, er ist unschuldig!

 

Ich glaube es, antwortete Herr Morel, aber man klagt ihn an, ein bonapartistischer Agent zu sein.

 

Wer die Geschichte jener Tage kennt, weiß, wie furchtbar damals eine solche Anklage war.

 

Mercedes stieß einen Schrei aus; der Greis sank auf einen Stuhl.

 

Oh! Du hast mich hintergangen, Danglars, murmelte Caderousse, und der Scherz ist ausgeführt worden; aber ich kann diesen Greis und dieses Mädchen nicht vor Schmerz sterben lassen, und ich werde ihnen alles sagen.

 

Schweig, Unglücklicher! rief Danglars, oder ich stehe nicht für dich selber; wer sagt dir, daß Dantes nicht wirklich schuldig ist? Das Schiff hat die Insel Elba berührt, er ist an das Land gestiegen und einen ganzen Tag in Porto Ferrajo geblieben; wenn man einen Brief bei ihm fände, der ihn kompromittierte, so müßten die, welche ihn unterstützt hätten, als seine Mitschuldigen gelten!

 

Mit dem raschen Instinkte der Selbstsucht begriff Caderousse, wie furchtbar und gefährlich diese versteckte Drohung war. Er schaute Danglars mit Augen voll Furcht und Schmerz an.

 

Gehen wir, ich kann hier nicht länger bleiben, sagte er.

 

Ja, komm, versetzte Danglars, froh, Caderousses Absicht vereitelt zu haben; komm, sie mögen sich herausziehen, wie sie können!

 

Sie entfernten sich und bald auch die übrigen Gäste. Fernand, der nun wieder die Stütze des jungen Mädchens geworden war, nahm Mercedes bei der Hand und führte sie zu den Kataloniern zurück. Dantes‘ Freunde geleiteten den halb ohnmächtigen Greis nach den Allées de Meillan. Bald verbreitete sich das Gerücht, Dantes sei als bonapartistischer Agent verhaftet worden, durch die ganze Stadt.

 

Hätten Sie das geglaubt, lieber Danglars? sagte Herr Morel, als er seinen Rechnungsführer und Caderousse einholte, denn er eilte selbst in die Stadt zurück, um von dem ihm bekannten Staatsanwalt, Herrn von Villefort, etwas über Edmond zu erfahren; hätten Sie das geglaubt?

 

Bei Gott! erwiderte Danglars, ich sagte Ihnen, Dantes sei ohne allen Grund auf der Insel Elba gelandet, und dieser Aufenthalt war mir verdächtig vorgekommen.

 

Haben Sie Ihren Verdacht irgend jemand außer mir mitgeteilt?

 

Ich hütete mich wohl, erwiderte Danglars ganz leise; Sie wissen, wegen Ihres Oheims, des Herrn Policar Morel, der unter dem andern gedient hat und aus seiner Gesinnung keinen Hehl macht, stehen Sie in Verdacht, Napoleon zu beklagen Ich mußte fürchten, Edmond zu schaden, und damit auch Ihnen; es gibt Dinge, die man seinem Reeder mitzuteilen und allen anderen zu verbergen verpflichtet ist.

 

Gut, Danglars, gut! sagte der Reeder; Sie sind ein braver Mann; auch habe ich an Sie gedacht für den Fall, daß dieser arme Dantes Kapitän des Pharao würde, ich fragte ihn, was er von Ihnen dächte, und ob es ihm widerstrebe, Sie an Ihrem Posten zu behalten, denn ich weiß nicht, ich glaubte, eine gewisse Kälte zwischen euch wahrzunehmen.

 

Und was hat er Ihnen geantwortet?

 

Er glaube wirklich unter Umständen, die er auch nannte, unrecht gegen Sie gehabt zu haben, aber jeder, der das Vertrauen des Reeders besitze, besitze auch das seinige.

 

Der Heuchler! murmelte Danglars.

 

Armer Dantes! sagte Caderousse, er ist offenbar ein vortrefflicher Junge.

 

Ja, aber mittlerweile ist der Pharao ohne Kapitän, versetzte Herr Morel.

 

Oh, da wir erst in drei Monaten abreisen, so läßt sich hoffen, daß Dantes dann wieder in Freiheit gesetzt sein wird, und bis dahin bin ich da, Herr Morel, antwortete Danglars. Sie wissen, daß ich die Führung eines Schiffes so gut verstehe, wie ein Kapitän, der nach den entferntesten Ländern Fahrten unternimmt, und wenn Edmond aus dem Gefängnis kommt, brauchen Sie niemand zu danken. Er nimmt seinen Platz wieder ein und ich den meinigen, und damit ist die ganze Sache abgemacht.

 

Ich danke, Danglars, damit ist wirklich alles geordnet, übernehmen Sie also das Kommando, ich bevollmächtige Sie dazu, und beaufsichtigen Sie das Löschen der Ladung! Welches Unglück auch dem einzelnen begegnen mag, die Geschäfte dürfen nie darunter leiden.

 

Seien Sie unbesorgt! Aber kann man ihn denn wenigstens sehen, den guten Edmond?

 

Ich werde Ihnen das bald sagen, Danglars; ich will versuchen, Herrn von Villefort zu sprechen und zu Gunsten des Gefangenen umzustimmen. Ich weiß wohl, daß er ein wütender Royalist ist; aber wenn auch Royalist und Staatsanwalt, ist er doch ein Mensch, und ich halte ihn nicht für bösartig.

 

Nein, aber ich hörte, er sei ehrgeizig, und das ist dem sehr ähnlich.

 

Nun, wir wollen sehen, sagte Herr Morel mit einem Seufzer; gehen Sie an Bord, ich komme zu Ihnen. Und er verließ die zwei Freunde, um den Weg nach dem Justizpalaste einzuschlagen.

 

Du siehst, welche Wendung die Sache nimmt, sagte Danglars zu Caderousse. Hast du noch Lust, Dantes zu unterstützen?

 

Gewiß nicht, aber es ist doch etwas Furchtbares, daß ein Scherz solche Folgen hat.

 

Der Teufel! Wer hat ihn gemacht? Weder du noch ich, sondern Fernand. Du weißt, daß ich das Papier in einen Winkel geworfen habe; ich glaubte sogar, ich hätte es zerrissen.

 

Nein, nein, erwiderte Caderousse.

 

Fernand wird es aufgehoben haben, sagte Danglars; er hat es wahrscheinlich kopieren lassen … vielleicht hat er sich nicht einmal diese Mühe genommen; wenn ich bedenke, mein Gott! … er hat am Ende meinen eigenen Brief abgeschickt. Zum Glück hatte ich meine Handschrift verstellt.

 

Ich gäbe viel, wenn dies nicht geschehen wäre, versetzte Caderousse, oder wenn ich wenigstens in keiner Beziehung dazu stände. Du wirst sehen, es bringt uns Unglück.

 

Wenn es einem Unglück bringen soll, so ist das der wahre Schuldige, und der ist Fernand, wir sind es nicht. Was soll uns widerfahren? Wir haben uns nur ruhig zu verhalten, von der ganzen Geschichte keinen Ton zu reden, und das Gewitter geht vorüber.

 

Amen, sagte Caderousse, machte Danglars ein Zeichen des Abschiedes und wandte sich nach den Allées de Meillan, wobei er jedoch beständig den Kopf schüttelte und mit sich selbst sprach, ganz von peinigenden Gedanken erfüllt.

 

Gut, sagte Danglars, die Sache nimmt die von mir vorhergesehene Wendung; ich bin fürs erste Kapitän, und wenn dieser Dummkopf von Caderousse schweigen kann, für immer Kapitän. Es kann also nur das eine dazwischen treten, daß das Gericht Dantes freiläßt. Doch, fügte er lächelnd hinzu, die Justiz ist die Justiz, und ich verlasse mich auf sie.

 

Hierauf sprang er in eine Barke und gab den Schiffern Befehl, ihn nach dem Pharao zu rudern.

 

Der Staatsanwalt.

 

Der Staatsanwalt.

 

In der Rue du Grand-Cours, in einem der alten aristokratischen Häuser, feierte man zu derselben Stunde ebenfalls ein Verlobungsmahl. Nur gehörten die Gäste nicht dem Volke, sondern der Spitze der Marseiller Bevölkerung an. Es waren ehemalige Beamte, die unter dem Usurpator Napoleon ihren Abschied genommen hatten, alte Offiziere, die aus den Reihen des französischen Heeres desertiert waren, um zu Condés Armee überzugehen; junge Leute aus hoher Familie, in dem Hasse gegen den Mann erzogen, der dem französischen Volke nach fünf Jahren der Verbannung als Märtyrer und nach fünfzehn Jahren der Restauration als Gott erscheinen sollte.

 

Man saß bei Tische, und das Gespräch war im Schwunge, glühend von allen den Leidenschaften der Zeit, von den Leidenschaften, die um so lebendiger und erbitterter im Süden brausten, als seit fünf Jahren der religiöse Haß den politischen unterstützte.

 

Der Kaiser, – Herr der Insel Elba, nachdem er der unumschränkte Beherrscher eines Weltalls gewesen war, eine Bevölkerung von fünf bis sechstausend Seelen regierend, nachdem er: Es lebe Napoleon! von hundert und zwanzig Millionen in zehn verschiedenen Sprachen hatte rufen hören, wurde hier als ein für immer abgetaner Emporkömmling hingestellt. Die Beamten enthüllten seine politischen Mißgriffe, die Offiziere sprachen von Moskau und Leipzig, die Frauen von seiner Scheidung von Josephine.

 

Ein mit dem Sankt-Ludwigskreuze geschmückter Mann erhob sich und schlug den Gästen die Gesundheit des Königs Ludwig XVIII. vor. Es war der Marquis von Saint-Meran. Bei diesem Toast entstand eine gewaltige Begeisterung. Die Gläser wurden emporgehoben, die Frauen machten ihre Sträuße los und streuten die Blumen über das Tischtuch.

 

Wenn sie da wären, sagte die Marquise von Saint-Meran, eine Frau mit trockenem Auge, dünnen Lippen, mit aristokratischer und trotz ihrer fünfzig Jahre noch zierlichen Haltung, alle diese Revolutionäre, die uns vertrieben haben, und die wir nun ganz ruhig in unseren alten Schlössern, die sie unter der Schreckensregierung für ein Stück Brot erkauft haben, Meutereien anzetteln lassen, sie müßten anerkennen, daß die wahre Ergebenheit auf unserer Seite war, denn wir hielten an der einstürzenden Monarchie fest, während sie die aufgehende Sonne begrüßten und ihr Glück machten, indem wir das unsere verloren; sie müßten anerkennen, daß unser König Ludwig der Vielgeliebte wirklich gut war, während ihr Usurpator nie etwas anderes gewesen ist, als Napoleon der Verfluchte, nicht wahr, Villefort?

 

Sie sagen, Frau Marquise? … verzeihen Sie, ich war nicht beim Gespräche …

 

Ah, lassen Sie die Kinder, Marquise, versetzte der Greis, der den Toast ausgebracht hatte; diese Kinder wollen sich heiraten und haben natürlich von etwas anderem miteinander zu sprechen, als von Politik.

 

Ich bitte um Vergebung, meine Mutter, sagte eine junge, hübsche Dame mit blonden Haaren und mit Samtaugen, ich gebe Ihnen Herrn von Villefort zurück, den ich für eine Minute in Anspruch genommen hatte. Herr von Villefort, meine Mutter spricht mit Ihnen.

 

Die Marquise begann, zärtlich lächelnd: Ich sage, Villefort, die Bonapartisten besitzen weder unsere Begeisterung, noch unsere Überzeugung, noch unsere Ergebenheit.

 

Ah! gnädige Fran, Sie haben wenigstens etwas, das alles dies ersetzt, es ist der Fanatismus. Napoleon ist der Mohammed des Westens, er ist für alle diese dem Volke entstammenden, aber ehrgeizigen Menschen nicht nur ein Gesetzgeber und Herr, sondern auch das Musterbild der Gleichheit.

 

Napoleon das Musterbild der Gleichheit, rief die Marquise, und was werden Sie dann aus Robespierre machen? Es scheint mir, Sie stehlen ihm seinen Platz, um ihn dem Korsen zu geben.

 

Nein, gnädige Frau, antwortete Villefort, ich lasse jeden auf seinem Piedestal, Robespierre auf seinem Schafott, Napoleon auf der Vendomesäule; nur hat der eine eine Gleichheit gemacht, die erniedrigt, der andere eine Gleichheit, die erhöht; der eine hat die Könige auf das Niveau der Guillotine, der andere hat das Volk auf das Niveau des Thrones erhoben. Damit will ich nicht sagen, fügte er lachend hinzu, es seien nicht alle beide heillose Empörer, und der 9. Thermidor und der 4. April 1814 seien nicht glückliche Tage für Frankreich und würdig, durch die Freunde der Ordnung und der Monarchie gleich festlich begangen zu werden; aber dies erklärt auch, warum Napoleon, obgleich gefallen, um, wie ich hoffe, nie mehr aufzustehen, seine Anhänger, seine Freunde behalten hat.

 

Wissen Sie, daß das, was Sie da sprechen, auf eine Meile nach Revolution riecht? Aber ich vergebe Ihnen. Man kann nicht der Sohn eines Girondisten sein, ohne einen Erdgeruch beizubehalten.

 

Eine lebhafte Röte bedeckte Villeforts Stirn.

 

Mein Vater war Girondist, sagte er, das ist wahr; aber mein Vater hat nicht für den Tod des Königs gestimmt. Mein Vater wurde geächtet von derselben Schreckensregierung, welche Sie ächtete, und es fehlte nicht viel, so hätte er sein Haupt auf dasselbe Blutgerüst legen müssen, welches das Haupt Ihres Vaters fallen sah.

 

Ja, sagte die Marquise, ohne daß diese blutige Erinnerung irgend eine Veränderung in ihren Gesichtszügen zur Folge hatte, nur mit dem Unterschiede, daß beide aus geradezu entgegengesetzten Gründen den Kopf verloren hätten. Zum Beweise mag dienen, daß meine ganze Familie den verbannten Prinzen anhänglich geblieben ist, während sich die Ihrige eiligst mit der neuen Regierung verband, und daß, nachdem der Bürger Noirtier Girondist gewesen war, der Graf Noirtier Senator geworden ist.

 

Meine Mutter, rief Renée, Sie wissen, daß es verabredet war, von diesen üblen Erinnerungen gar nicht mehr zu sprechen.

 

Gnädige Frau, versetzte Villefort, ich verbinde mich mit Fräulein von Saint-Meran, um Sie demütigst um Vergessenheit des Vergangenen zu bitten. Wozu soll es nützen, über Dinge zu klagen, vor denen selbst der Wille Gottes ohnmächtig ist? Gott kann die Zukunft verändern, aber die Vergangenheit nicht. Ich habe mich nicht nur von den Ansichten, sondern auch von dem Namen meines Vaters getrennt. Mein Vater war und ist vielleicht noch jetzt Bonapartist und heißt Noirtier; ich bin Royalist und heiße von Villefort.

 

Bravo, Villefort, sagte der Marquis, bravo, gut geantwortet! Ich habe auch der Marquise immer Vergessenheit des Vergangenen gepredigt, ohne es je von ihr erlangen zu können; Sie werden hoffentlich glücklicher sein.

 

Ja, es ist gut, sagte die Marquise, vergessen wir die Vergangenheit! Aber Villefort soll wenigstens für die Zukunft unbeugsam sein. Vergessen Sie nicht, Villefort, daß wir bei Sr. Majestät uns für Sie verantwortlich gemacht haben, daß Se. Majestät ebenfalls die Gnade hatte, auf unsere Empfehlung zu vergessen, – sie reichte ihm die Hand –, wie ich es auf Ihre Bitte tue. Nur bedenken Sie, wenn irgend ein Meuterer in Ihre Hände fällt, daß die Augen um so mehr auf Sie gerichtet sind, als man weiß, daß Sie einer Familie angehören, die vielleicht mit diesen Meuterern in Verbindung steht.

 

Ah, sagte Villefort, mein Amt und besonders die Zeit, in der wir leben, gebieten mir, streng zu sein, und ich werde es sein. Bereits hatte ich einige politische Anklagen zu erheben, und ich habe in dieser Beziehung meine Probe abgelegt.

 

Oh, Herr von Villefort, rief eine hübsche, junge Dame, die Tochter des Grafen von Salvieur und eine Freundin des Fräuleins von Saint-Meran, suchen Sie doch, solange wir in Marseille sind, einen schönen Prozeß zu bekommen. Ich habe nie ein Schwurgericht gesehen, und man sagt, es sei etwas Interessantes.

 

In der Tat, sehr interessant, mein Fräulein, erwiderte der junge Staatsanwalt, denn statt einer scheinbaren Tragödie findet man ein wirkliches Drama, statt gespielter Schmerzen wirkliche Schmerzen. Statt, wenn der Vorhang herabgelassen ist, nach Hause zu gehen, mit seiner Familie zu Nacht zu speisen und sich ruhig niederzulegen, um am anderen Tage wieder anzufangen, kehrt mancher in das Gefängnis zurück, wo er den Henker findet. Sie sehen, daß es für Personen, die Aufregungen suchen, kein Schauspiel gibt, das diesem gleichkommt. Seien Sie unbesorgt, mein Fräulein, wenn sich Gelegenheit zeigt, werde ich es Ihnen verschaffen.

 

Oh! mein Gott! rief Renée düster, sprechen Sie im Ernste, Herr von Villefort?

 

In vollem Ernste, mein Fräulein, erwiderte der Beamte lächelnd. Und durch die schönen Prozesse, die das Fräulein wünscht, um seine Neugierde zu befriedigen, und die ich wünsche, um meinen Ehrgeiz zu befriedigen, wird sich die Lage der Dinge einigermaßen zuspitzen. Glauben Sie, daß diese Soldaten Napoleons, gewohnt, blindlings dem Feinde entgegenzugehen, überlegen, wenn sie eine Patrone abbrennen oder mit dem Bajonette angreifen? Werden sie mehr zaudern, einen Mann zu töten, den sie für ihren persönlichen Feind halten, als einen Russen, einen Österreicher, einen Ungarn, den sie nie zuvor gesehen haben? Überdies muß das so sein, sonst hätte unser Handwerk keine Entschuldigung. Ich selbst, wenn ich in dem Auge des Angeschuldigten den leuchtenden Blitz der Rache zucken sehe, fühle mich ermutigt, begeistert; es ist nicht mehr ein Prozeß, es ist ein Kampf; ich fechte gegen ihn, er macht seine Stöße, ich mache meine Gegenstöße, und der Kampf endigt, wie alle Kämpfe, mit einem Sieg oder mit einer Niederlage. Denken Sie an das Gefühl des Stolzes, das einen von der Schuld des Angeklagten überzeugten Staatsanwalt erfaßt, wenn er den Schuldigen unter dem Gewichte der Beweise, unter den Blitzen der Beredsamkeit sich niederbeugen sieht. Dieser Kopf beugt sich, er wird fallen.

 

Renée stieß einen leichten Schrei aus.

 

Das letzte Mal, sagte einer von den Gästen, haben Sie Ihre Sache auch vortrefflich gemacht, Herr von Villefort. Sie wissen, den Mann, der seinen Vater ermordet hatte, haben Sie buchstäblich getötet, ehe ihn der Henker nur berührte.

 

Ah! für Vatermörder, das lasse ich mir gefallen, versetzte Renée, es gibt keine Strafe, die für solche Menschen groß genug wäre; aber für die unglücklichen politischen Angeklagten! Sie versprechen mir Nachsicht für die, welche ich Ihnen empfehlen werde, nicht wahr?

 

Seien Sie unbesorgt, erwiderte Herr von Villefort mit seinem reizenden Lächeln, wir setzen meine Anträge gemeinsam auf.

 

Meine Liebe, sagte die Marquise, kümmere dich um deine Vögel und um dein Hündchen, und laß deinen zukünftigen Gatten seine Geschäfte selbst abmachen.

 

Ich glaube, mir wäre es lieber, wenn Sie ein Arzt wären, sagte Renée; der Würgeengel, wenn er auch ein Engel ist, hat mich stets erschreckt.

 

Gute Renée! murmelte Villefort und schaute dabei das Mädchen mit liebevollen: Blicke an.

 

Meine Tochter, sagte der Marquis, Herr von Villefort wird der moralische und politische Arzt dieser Provinz werden; glaube mir, es ist ihm eine schöne Rolle übertragen.

 

In diesem Augenblick trat ein Kammerdiener ein und sagte Herrn von Villefort einige Worte ins Ohr. Dieser stand, sich entschuldigend, vom Tische auf und kam einige Minuten nachher mit heiterem Antlitz und lächelnden Lippen wieder zurück. Renée schaute ihn liebevoll an; mit seinen blauen Augen, mit seiner matten Gesichtsfarbe und seinem schwarzen Backenbarte war er ein wahrhaft zierlicher junger Mann. Die Seele des jungen Mädchens schien an seinen Lippen zu hängen und die Erklärung seines Verschwindens zu erwarten.

 

Nun, mein Fräulein, sagte Villefort, Sie wünschten soeben einen Arzt als Gatten zu besitzen. Ich habe mit den Schülern Äskulaps die Ähnlichkeit, daß mir nie die Gegenwart gehört, und daß man mich sogar an Ihrer Seite, sogar beim Verlobungsmahle, stört.

 

Und aus welcher Veranlassung stört man Sie? fragte das Mädchen mit einer leichten Unruhe.

 

Ach! wegen eines Kranken, der, wenn das wahr ist, was man mir sagt, in der höchsten Gefahr schwebt. Diesmal ist es ein schwerer Fall, und die Krankheit führt zum Schafott.

 

Oh, mein Gott! rief Renée erbleichend.

 

Wirklich? fragte einstimmig die ganze Versammlung.

 

Es scheint, man hat ein bonapartistisches Komplott entdeckt.

 

Ist es möglich? rief die Marquise.

 

Hier ist die Denunziation. Und Villefort las den Brief, den Danglars geschrieben, vor.

 

Dieser Brief, sagte Renée, ist ja nur anonym; auch hat man ihn doch an den Ersten Staatsanwalt gerichtet und nicht an Sie.

 

Ja, aber der Erste Staatsanwalt ist nicht hier; in seiner Abwesenheit gelangte das Schreiben an den Sekretär, der die Briefe zu öffnen beauftragt war. Er hat also diesen geöffnet, mich suchen lassen, und da er mich nicht fand, Befehl zur Verhaftung gegeben.

 

Der Schuldige ist verhaftet? fragte die Marquise.

 

Das heißt der Angeklagte, verbesserte Renée.

 

Ja, erwiderte Villefort, und wie ich soeben Fräulein Renée zu bemerken die Ehre hatte, … findet man den erwähnten Brief, so ist die Krankheit sehr gefährlich.

 

Gehen Sie, mein Freund, sagte der Marquis, versäumen Sie Ihre Pflichten nicht, um bei uns zu verweilen, wenn Sie der Dienst des Königs ruft.

 

Oh! Herr von Villefort, sagte Renée, die Hände faltend, seien Sie nachsichtig, es ist heute unser Verlobungstag.

 

Villefort ging um den Tisch und sagte, dem Stuhle des jungen Mädchens sich nähernd, auf dessen Lehne er sich stützte: Um Ihnen eine Unruhe zu ersparen, werde ich alles tun, was ich vermag; aber wenn die Beschuldigung wahr ist, so wird wohl nichts übrig bleiben, als dies schlimme bonapartistische Kraut abzuschneiden.

 

Renée bebte bei dem Worte abschneiden, denn das Kraut, um das es sich handelte, hatte einen Kopf.

 

Bah! bah! rief die Marquise, hören Sie nicht auf dieses junge Mädchen, Villefort!

 

Und die Marquise reichte Villefort die trockene Hand, die er küßte, während er Renée ansah und dieser mit den Augen sagte: Ihre Hand ist es, die ich küsse oder wenigstens in diesem Augenblicke zu küssen wünschte.

 

Traurige Auspizien, murmelte Renée.

 

In der Tat, sagte die Marquise, du bist zum Verzweifeln kindisch; ich frage dich: Wie kannst du die Empfindeleien deiner Einbildungskraft und deines Herzens auf Staatsangelegenheiten übertragen?

 

Oh, meine Mutter, murmelte Renée.

 

Gnade für die schlechten Royalisten, Frau Marquise, sagte von Villefort, ich verspreche Ihnen, meine Aufgabe als Vertreter des Ersten Staatsanwalts gewissenhaft zu erfüllen, das heißt furchtbar streng zu sein.

 

Aber während der Beamte diese Worte an die Marquise richtete, warf er zu gleicher Zeit verstohlen seiner Braut einen Blick zu, und dieser sagte: Sei unbesorgt, Renée, um deiner Liebe willen werde ich nachsichtig sein.

 

Renée erwiderte diesen Blick mit ihrem süßesten Lächeln, und Villefort entfernte sich mit dem Paradiese im Herzen.

 

Das Verhör.

 

Das Verhör.

 

Kaum hatte Villefort den Speisesaal verlassen, als er seine heitere Miene ablegte und die ernste Maske eines Mannes annahm, der zu dem erhabenen Amt, über das Leben von seinesgleichen zu entscheiden, berufen ist. Trotz der Beweglichkeit seiner Gesichtszüge, die der Staatsanwalt wie ein geschickter Schauspieler vor seinem Spiegel geübt hatte, fiel es ihm diesmal schwer, eine ernste Miene und einen düstern Ausdruck beizubehalten. Abgesehen von der Erinnerung an die politische Laufbahn seines Vaters, die seiner Zukunft in den Weg treten konnte, war Gérard von Villefort in diesem Augenblick so glücklich, als es einem Menschen zu sein vergönnt ist. Schon an sich reich, nahm er mit siebenundzwanzig Jahren ein hohes Amt ein. Er war im Begriff, ein junges hübsches Mädchen, das er liebte, zu heiraten. Neben ihrer Schönheit hatte seine Braut noch den Vorzug, einer von den Familien anzugehören, die am Hofe im höchsten Ansehen standen, und außer dem politisch förderlichen Einflusse ihrer Eltern brachte sie ihrem Gatten eine Mitgift von 50 000 Talern, die sich eines Tages durch eine Erbschaft von einer halben Million vermehren sollte. Dies alles zusammen erhob den Staatsanwalt in einen solchen Zustand von Glückseligkeit, daß er sich jeden Augenblick zusammennehmen mußte, um die gewollte, seinem Amte angemessene Miene zur Schau zu tragen.

 

Vor der Tür fand er den Polizeikommissar, der auf ihn wartete. Beim Anblick des schwarzgekleideten Mannes viel er sofort aus der Höhe des dritten Himmels auf die materielle Erde, auf der wir einhergehen. Er brachte nun sein Gesicht leichter in die gehörige Verfassung, näherte sich dem Beamten und sagte: Hier bin ich, ich habe den Brief gelesen; Sie taten wohl daran, diesen Menschen zu verhaften. Geben Sie mir nun über ihn und über die Meuterei alle einzelnen Umstände an, die Sie in Erfahrung gebracht haben!

 

Über die Meuterei, mein Herr, wissen wir noch nichts; alle Papiere, die man bei ihm bekommen hat, sind in Ihrem Bureau versiegelt niedergelegt worden. Was den Angeschuldigten betrifft, so haben Sie aus dem Briefe, der ihn denunziert, ersehen, daß er Edmond Dantes heißt und Sekond an Bord des Dreimasters »der Pharao« ist, der Baumwollenhandel mit Alexandrien und Smyrna treibt und dem Hause Morel und Sohn in Marseille gehört.

 

Hat er bei der Kriegsmarine gedient, ehe er bei der Handelsmarine diente?

 

Nein, er ist ein ganz junger Mensch.

 

In diesem Augenblicke, als Villefort, an die Ecke der Rue des Conseils gelangt war, redete ihn ein Mann an, der ihn zu erwarten schien; es war Herr Morel.

 

Ah, Herr von Villefort! rief der brave Mann, ich bin sehr glücklich, Sie zu treffen. Denken Sie, daß man den seltsamsten, den unerhörtesten Mißgriff begangen hat; man hat den Sekond meines Schiffes, Edmond Dantes, verhaftet.

 

Ich weiß es, mein Herr, antwortete Villefort, und werde ihn sogleich verhören.

 

Oh, Herr, fuhr Morel, hingerissen von seiner Freundschaft für den jungen Mann, fort, Sie kennen den nicht, den man anklagt, aber ich kenne ihn. Denken Sie sich den sanftesten, den redlichsten Menschen, und ich wage wohl zu behaupten, einen der besten Seeleute bei der ganzen Handelsmarine. Oh, Herr von Villefort, ich empfehle Ihnen denselben aufrichtig und von ganzem Herzen.

 

Villefort gehörte, wie wir gesehen haben, der aristokratischen Partei der Stadt an und Morel der demokratischen. Der erste war Ultraroyalist, der zweite des Bonapartismus verdächtig. Villefort schaute Morel mißtrauisch an und antwortete ihm mit kaltem Tone:

 

Sie wissen, mein Herr, daß man im Umgang sanftmütig, als Händler ehrlich, im Berufe geschickt und nichtsdestoweniger politisch ein großer Verbrecher sein kann. Sie wissen das, nicht wahr, mein Herr?

 

Der Beamte legte auf diese letzten Worte einen besondern Nachdruck, als wollte er sie auf den Reeder selbst anwenden, während sein forschender Blick dem bis in die Tiefe des Herzens dringen zu wollen schien, der so kühn war, für einen andern einzutreten, während er wissen mußte, daß er selbst der Nachsicht bedurfte.

 

Morel errötete, denn er fühlte, daß sein Gewissen in Bezug auf seine politische Gesinnung nicht ganz rein war, und überdies beunruhigte seinen Geist einigermaßen die vertrauliche Mitteilung, die ihm Dantes über die Zusammenkunft mit dem Großmarschall gemacht hatte, und die Worte, die vom Kaiser an Dantes gerichtet worden waren. Er fügte indessen mit dem Tone der tiefsten Teilnahme hinzu: Ich bitte Sie inständig, Herr von Villefort, seien Sie gerecht, wie Sie es sein müssen, gut, wie Sie es immer sind, und geben Sie uns schleunigst diesen armen Dantes zurück!

 

Das »geben Sie uns« klang in dem Ohre des Staatsanwalts ganz revolutionär.

 

Ei, ei, sagte er ganz leise zu sich selbst, geben Sie uns! … sollte dieser Dantes zu irgend einer Massenverschwörung gehören, daß sein Beschützer sich unwillkürlich der Mehrzahl bedient? Man hat ihn, wie man mir sagte, in zahlreicher Gesellschaft verhaftet, das werden wohl seine Genossen gewesen sein! Laut fügte er hinzu: Mein Herr, Sie können vollkommen ruhig sein. Sie werden nicht vergeblich an meine Gerechtigkeit appelliert haben, wenn der Angeklagte unschuldig ist. Ist er dagegen schuldig, so werde ich genötigt sein, meine Pflicht zu tun.

 

Da er inzwischen die Tür seines unmittelbar an den Justizpalast stoßenden Hauses erreicht hatte, grüßte er mit eisiger Höflichkeit den unglücklichen Reeder, der wie versteinert auf dem Platze blieb, und trat würdevoll in seine Wohnung. Das Vorzimmer war voll von Gendarmen und Polizeiagenten. Mitten unter ihnen stand, streng bewacht, ruhig und unbeweglich der Gefangene.

 

Villefort schritt durch das Vorzimmer, warf einen flüchtigen Blick auf Dantes, nahm ein Bündel Akten, das ihm ein Agent überreichte, und verschwand mit den Worten: Man führe den Gefangenen vor!

 

So rasch sein Blick auch gewesen war, so genügte er doch für Villefort, ihm einen Begriff von dem Menschen zu geben, den er verhören sollte. Auf dieser breiten, offenen Stirn las er Verstand, im festen Auge Mut, in den fleischigen halbgeöffneten und elfenbeinweiße Zähne zeigenden Lippen Treuherzigkeit.

 

Einen Augenblick nach ihm trat Dantes ein. Der junge Mann war immer noch bleich, aber ruhig und sorglos. Er verbeugte sich vor seinem Richter mit ungezwungener Artigkeit und suchte dann mit den Augen einen Stuhl, als befände er sich im Zimmer des Reeders Morel.

 

Jetzt erst begegnete er Villeforts düsterm Blicke, dem Blicke, der den Männern des Gesetzes eigentümlich ist, die nicht in ihren Gedanken lesen lassen wollen. Dieser Blick belehrte ihn, daß er sich vor der strengen Justiz befand.

 

Wer sind Sie und wie heißen Sie? fragte Villefort, in den Akten blätternd, die bereits sehr umfangreich geworden waren.

 

Ich heiße Edmond Dantes und bin Sekond an Bord des Schiffes Pharao.

 

Was taten Sie in dem Augenblick, wo Sie verhaftet wurden?

 

Ich wohnte meinem Verlobungsmahle bei, mein Herr, sagte Dantes mit leicht bewegter Stimme, so schmerzlich war der Kontrast jener Augenblicke der Freude mit der traurigen Szene, in der er hier auftrat, so sehr ließ Herrn von Villeforts, düsteres Gesicht seiner Mercedes‘ strahlendes Antlitz in um so hellerem Lichte erglänzen.

 

Sie wohnten Ihrem Verlobungsmahle bei? sagte Villefort, unwillkürlich bebend. So unempfindlich er gewöhnlich war, so erregte ihn doch dies Zusammentreffen lebhaft, und Dantes‘ bewegte Stimme erweckte eine sympathische Fiber im Grunde seiner Seele. Er heiratete auch, er war auch glücklich, wie Dantes, und man hatte ihn in seinem Glücke gestört, damit er zur Vernichtung der Freude eines Menschen beitrüge, der, wie er, seiner Seligkeit so nahe stand.

 

Man sagt, Sie haben sehr auffallende politische Ansichten? fuhr nach einigen Augenblicken Villefort fort, der gern die Frage in die Form einer Anklage kleidete.

 

Meine politischen Ansichten, mein Herr? Ach! ich schäme mich beinahe, es zu gestehen, aber ich habe das nie gehabt, was man eine Ansicht nennt. Ich bin kaum neunzehn Jahre alt, ich weiß nichts, ich bin nicht bestimmt, irgend eine Rolle zu spielen; das wenige aber, was ich weiß und sein werde, wenn man mir die Stelle bewilligt, nach der ich trachte, habe ich Herrn Morel zu verdanken. Alle meine Ansichten, ich sage nicht politische, sondern Privatansichten, beschränken sich auf folgende drei Gefühle: ich liebe meinen Vater, ich ehre Herrn Morel und bete Mercedes an. Das ist alles, was ich über meine Ansichten vor Gericht erklären kann, und Sie sehen, daß es nicht eben sehr interessant ist.

 

Während Dantes so sprach, schaute Villefort sein zugleich sanftes und offenes Gesicht an und erinnerte sich zugleich der Worte Renées, die, ohne den Gefangenen zu kennen, um Nachsicht für ihn gebeten hatte. Mit dem gewohnten Scharfblick, den er in der Erforschung des Verbrechens und der Verbrecher bereits besaß, erkannte er in jedem Worte Dantes‘ den Beweis seiner Unschuld.

 

Bei Gott, sagte Villefort zu sich selbst, das ist ein guter Bursche, und ich werde hoffentlich nicht viel Mühe haben, mich bei Renée willkommen zu machen, indem ich ihrer Empfehlung Folge leiste. Das trägt mir einen guten Händedruck vor aller Welt und insgeheim einen herzlichen Kuß ein.

 

Bei dieser doppelten Hoffnung erheiterte sich Villeforts Antlitz so, daß Dantes, der allen Bewegungen in der Physiognomie seines Richters gefolgt war, lächelnd die große Veränderung in seinem Aussehen bemerkte.

 

Ist Ihnen bekannt, sagte Villefort, daß Sie Feinde haben?

 

Feinde, ich? erwiderte Dantes, ich habe das Glück, noch zu wenig zu sein, als daß mir meine Stellung Feinde verschafft haben sollte. Was meinen vielleicht etwas lebhaften Charakter betrifft, so suche ich ihn stets meinen Untergeordneten gegenüber zu mildern. Ich habe zehn bis zwölf Matrosen unter meinem Befehle; und diese werden Ihnen auf Befragen sagen, daß sie mich lieben und achten, nicht wie einen Vater, dazu bin ich noch zu jung, sondern wie einen Bruder.

 

Aber in Ermanglung von Feinden haben Sie vielleicht Neider; Sie sollen mit neunzehn Jahren Kapitän werden, das ist ein hoher Posten in Ihrem Stande; Sie sollen ein hübsches Mädchen heiraten, das Sie liebt, das ist ein seltenes Glück bei allen Ständen der Erde. Diese zwei Vorzüge des Schicksals konnten Ihnen Neider zuziehen.

 

Ja, Sie haben recht. Sie müssen wohl die Menschen besser kennen, als ich. Sollten aber diese Neider unter meinen Freunden sein, so gestehe ich, daß ich sie lieber nicht kennen lernen will, um sie nicht Hassen zu müssen.

 

Sie haben unrecht; man muß so klar als möglich um sich her sehen. In der Tat, Sie scheinen mir ein so ehrenwerter Mann zu sein, daß ich von der gewöhnlichen Regel des Gerichtsverfahrens abgehen und Ihnen zum Lichte verhelfen will, indem ich Ihnen die Anzeige mitteile, die Sie vor mich gebracht hat. Hier ist das Papier. Erkennen Sie die Handschrift?

 

Villefort zog den Brief aus seiner Tasche und reichte ihn Dantes. Dieser schaute und las. Eine Wolke zog über seine Stirn, und er sagte: Nein, ich kenne diese Handschrift nicht, sie ist verstellt, und dennoch hat sie eine sehr freie Form. Jedenfalls ist es eine geschickte Hand, die dies geschrieben hat; ich bin sehr glücklich, fügte er, Villefort dankbar anschauend, hinzu, daß ich es mit einem Manne, wie Sie sind, zu tun habe, denn in der Tat, mein Neider ist ein wahrer Feind.

 

Und an dem Blitze, der in den Augen des jungen Mannes zuckte, als er diese Worte sprach, konnte Villefort erkennen, wieviel heftige Energie unter dieser äußeren Sanftmut verborgen lag.

 

Und nun antworten Sie mir offenherzig, sagte der Staatsanwalt, nicht wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mensch in einer falschen Stellung einem andern Menschen antwortet, der sich für ihn interessiert. Was ist wahr an dieser anonymen Anklage?

 

Villefort warf den Brief, den ihm Dantes zurückgegeben hatte, mit einer Gebärde des Widerwillens auf den Schreibtisch.

 

Alles oder nichts, mein Herr. Hören Sie die reine Wahrheit, bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe für Mercedes, bei dem Leben meines Vaters. Als wir Neapel verließen, wurde der Kapitän Leclère von einer Hirnentzündung befallen. Unerwartet rasch verschlimmerte sich seine Krankheit, so daß er nach drei Tagen sein Ende herannahen fühlte und mich zu sich berief. Er ließ mich schwören, alles zu tun, was er von mir verlange, befahl mir, nach der Insel Elba zu steuern, dort dem Großmarschall einen Ring und Brief zu überbringen und schließlich eine Sendung zu erfüllen, mit der mich der Großmarschall beauftragen würde. Es war die höchste Zeit; zwei Stunden nachher erfaßte ihn das Delirium; am andern Tage war er tot. Ich steuerte also nach der Insel Elba, wo ich am andern Tage anlangte, und stieg allein an das Land. Unverzüglich sandte ich dem Großmarschall den Ring, der mir als Erkennungszeichen dienen sollte, und alle Türen öffneten sich vor mir. Er empfing mich, fragte mich nach dem Tode des unglücklichen Leclère und übergab mir einen Brief, den er mich persönlich nach Paris zu bringen beauftragte. Ich versprach es ihm, denn es galt, den letzten Willen meines Kapitäns zu erfüllen. Ich stieg hier an das Land, ordnete rasch alles, was das Schiff betraf, und lief dann zu meiner Braut, die ich liebevoller und schöner als je wiederfand. Ich feierte endlich, wie ich Ihnen sagte, mein Verlobungsmahl, sollte mich in einer Stunde verheiraten und gedachte morgen nach Paris abzureisen, als ich auf die Denunziation hin verhaftet wurde.

 

Ja, ja, murmelte Villefort, dies alles scheint mir der Wahrheit gemäß, und wenn Sie schuldig sind, so sind Sie nur einer Unklugheit schuldig, und diese entschuldigt sich noch durch die Befehle Ihres Kapitäns. Geben Sie uns den Brief, den man Ihnen auf Elba eingehändigt hat! Verpfänden Sie mir Ihr Ehrenwort, sich bei der ersten Vorladung zu stellen, und kehren Sie zu Ihren Freunden zurück.

 

Ich bin also frei! rief Dantes im Übermaß der Freude.

 

Ja, nur geben Sie mir den Brief!

 

Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit meinen andern Papieren genommen.

 

Warten Sie, sagte Villefort zu Dantes, der seine Handschuhe und seinen Hut nahm; warten Sie! An wen war er adressiert?

 

An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron in Paris.

 

Wie vom Blitz getroffen sank Villefort auf seinen Stuhl zurück. Aber mit krampfhafter Anstrengung erhob er sich bald wieder, um den Stoß Papiere, die man Dantes abgenommen, zu erreichen, und zog nach kurzem Suchen den unseligen Brief hervor, auf den er einen Blick voll unsäglichen Schreckens warf.

 

Herr Noirtier, Rue Coq-Héron Nr. 13, murmelte er, immer mehr erbleichend.

 

Ja, antwortete Dantes erstaunt. Kennen Sie ihn?

 

Nein, verfetzte Villefort lebhaft; ein treuer Diener des Königs kennt keine Verschwörer.

 

Es handelt sich also um eine Verschwörung? sagte Dantes, der von einer noch größeren Bangigkeit als zuvor erfaßt wurde. Jedenfalls wußte ich, wie ich Ihnen vorhin sagte, durchaus nichts von der Depesche, deren Träger ich war.

 

Ja, versetzte Villefort mit dumpfem Tone, aber Sie wissen den Namen des Adressaten.

 

Um ihm selbst den Brief zu überbringen, mußte ich ihn wohl wissen.

 

Und Sie haben diesen Brief niemand gezeigt? fragte Villefort, während er las und immer mehr erbleichte.

 

Niemand, mein Herr, auf Ehre!

 

Niemand weiß, daß Sie der Träger eines von Elba kommenden und an Herrn Noirtier adressierten Briefes waren?

 

Niemand, mit Ausnahme dessen, der ihn mir zugestellt hat.

 

Das ist zuviel, das ist noch zuviel! murmelte Villefort, und seine Stirn verdüsterte sich immer mehr, je näher er dem Ende des Briefes kam. Seine bleichen Lippen, seine zitternden Hände, seine glühenden Augen erregten in Dantes die traurigsten Befürchtungen. Nachdem Villefort vollends ausgelesen hatte, ließ er sein Haupt in seine Hände sinken und blieb einen Augenblick unbeweglich.

 

Oh, mein Gott! was ist Ihnen denn? fragte Dantes schüchtern.

 

Villefort antwortete nicht; aber nach einer Minute richtete er seinen bleichen, verstörten Kopf wieder auf, las den Brief zum zweitenmale und sagte dann: Und Sie sagen, Sie wissen nichts von dem Inhalte des Briefes?

 

Ich wiederhole Ihnen bei meiner Ehre, ich weiß nichts davon, antwortete Dantes; aber mein Gott, was haben Sie denn? Sie sind unwohl! Soll ich läuten? Soll ich rufen?

 

Nein, antwortete Villefort, rasch aufstehend, rühren Sie sich nicht, sprechen Sie kein Wort! Ich brauche nichts, ein vorübergehender Schwindel, nichts mehr. Antworten Sie!

 

Dantes erwartete das Verhör, das diese Frage ankündigte, aber vergebens. Villefort fiel auf seinen Stuhl zurück, fuhr mit eisiger Hand über seine mit Schweiß übergossene Stirn, las den Brief zum drittenmale und sagte zu sich selbst: Ah, wenn er weiß, was dieser Brief enthält, und wenn er je erfährt, daß Noirtier mein Vater ist, so bin ich verloren, auf immer verloren.

 

Und von Zeit zu Zeit schaute er Edmond an, als hätte sein Blick die unsichtbare Schranke durchbrechen können, welche im Herzen die Geheimnisse verbirgt, die der Mund bewahrt.

 

Wir dürfen nicht mehr daran zweifeln! rief er plötzlich.

 

Aber in des Himmels Namen, sagte der unglückliche junge Mann, wenn Sie an mir zweifeln, wenn Sie einen Verdacht gegen mich haben, so fragen Sie mich, und ich bin bereit zu antworten. i

 

Villefort raffte sich mit einer heftigen Anstrengung auf und sagte mit einem Tone, dem er Sicherheit verleihen wollte: Herr Dantes, die schwersten Anschuldigungen entspringen für Sie aus diesem Verhöre. Es steht also nicht in meiner Gewalt, wie ich anfangs gehofft habe, Sie in Freiheit zu setzen. Ehe ich eine solche Maßregel treffe, muß ich mich mit dem Untersuchungsrichter beraten. Sie haben ja bisher gesehen, wie ich gegen Sie verfahren bin.

 

Ja, mein Herr! rief Dantes, und ich danke Ihnen, denn Sie sind für mich eher ein Freund als ein Richter gewesen.

 

Nun wohl, ich werde Sie noch einige Zeit, doch so kurze Zeit als nur immer möglich, gefangen halten. Die Hauptanklage gegen Sie liegt in diesem Briefe, und Sie sehen …

 

Villefort näherte sich dem Kamin, warf ihn ins Feuer und blieb dabei stehen, bis er völlig in Asche verwandelt war.

 

Und Sie sehen, fuhr er fort, daß ich ihn vernichte. Doch hören Sie mich, nach einer solchen Handlung müssen Sie natürlich Zutrauen zu mir haben, nicht wahr?

 

Oh, befehlen Sie, ich werde Ihre Befehle befolgen!

 

Nein, sagte Villefort, sich dem jungen Mann nähernd, nein, ich will Ihnen keinen Befehl, sondern einen guten Rat geben. Ich will Sie bis heute abend hier im Justizpalaste behalten; vielleicht wird ein anderer kommen und Sie befragen. Sagen Sie ihm alles, was Sie mir gesagt haben, aber kein Wort von diesem Briefe!

 

Ich verspreche es Ihnen.

 

Villefort sprach in bittendem Tone, und der Angeklagte beruhigte den Richter.

 

Sie begreifen, sagte er, einen Blick auf die Asche werfend, die noch die Form des Papiers bewahrte, nun, da dieser Brief vernichtet ist, wissen nur Sie und ich allein von seiner Existenz, und er kann Ihnen nie wieder vorgelegt werden. Verleugnen Sie ihn, wenn man davon spricht, verleugnen Sie ihn keck, und Sie sind gerettet!

 

Seien Sie unbesorgt, ich werde leugnen, sagte Dantes.

 

Gut, gut, versetzte Villefort und fuhr mit der Hand nach einer Klingelschnur. In dem Augenblicke aber, wo er läuten wollte, hielt er wieder inne und sagte: Es war der einzige Brief, den Sie hatten?

 

Der einzige.

 

Schwören Sie?

 

Dantes streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre.

 

Villefort läutete. Der Polizeikommissar trat ein. Villefort sagte dem Beamten einige Worte ins Ohr. Der Kommissar antwortete mit einer Bewegung des Kopfes.

 

Folgen Sie dem Herrn! sagte Villefort zu Dantes.

 

Dantes verbeugte sich, warf einen Blick der Dankbarkeit auf Villefort und ging ab.

 

Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, als Villefort die Kräfte schwanden und er wie ohnmächtig auf einen Stuhl fiel.

 

Nach einem Augenblick aber murmelte er: Oh, mein Gott! Woran hängen Leben und Glück! Wäre der Erste Staatsanwalt in Marseille gewesen, hätte man den Untersuchungsrichter statt meiner gerufen, so war ich verloren, und dieses Papier, dieses verfluchte Papier stürzte mich in den Abgrund. Oh, Vater, wirst du denn immer als Hindernis zwischen mich und das Glück treten? Muß ich denn ewig mit deiner Vergangenheit kämpfen?

 

Dann schien plötzlich ein unerwarteter Gedanke seinen Geist zu durchzucken, sein Antlitz erleuchtete sich, ein Lächeln umspielte seine noch zusammengepreßten Lippen, und seine Augen gewannen wieder ihre Festigkeit. Ja, so ist es, sagte er; dieser Brief, der mich zu Grunde richten sollte, wird vielleicht mein Glück machen. Auf, Villefort, ans Werk!

 

 

Und nachdem er sich versichert hatte, daß der Angeschuldigte sich nicht mehr im Vorzimmer befand, entfernte er sich ebenfalls und ging rasch nach dem Hause seiner Braut.

 

Das Kastell If.

 

Das Kastell If.

 

Das Vorzimmer durchschreitend, machte der Polizeikommissar zwei Gendarmen ein Zeichen. Man öffnete eine Tür, durch die die Wohnung des Staatsanwalts mit dem Justizpalast in Verbindung stand, und folgte einem durch die ganze Länge des Justizgebäudes führenden Gange nach dem Gefängnisse. Endlich kam man an eine Tür mit einem eisernen Gitter, an die der Polizeikommissar dreimal mit einem eisernen Hammer klopfte. Die Tür öffnete sich, und die Gendarmen schoben den Gefangenen, der abermals zögerte, mit Gewalt vorwärts. Dantes überschritt die furchtbare Schwelle, und die Tür schloß sich hinter ihm. Man führte ihn in ein ziemlich reines, aber mit Gittern und Riegeln versehenes Zimmer. Der Anblick seiner neuen Wohnung machte ihm nicht zu sehr bange. Die Worte des teilnehmenden Staatsanwalts klangen in seinem Ohre wie ein süßer Hoffnungston.

 

Es war bereits vier Uhr, als Dantes in sein Zimmer geführt wurde. Es war der erste März, die Tage waren noch kurz, und der Gefangene befand sich frühzeitig im Dunkeln. Sein Gehör schärfte sich nun immer mehr, je mehr der Gesichtssinn versagte. Bei dem geringsten Geräusche erhob er sich lebhaft und machte, in der Hoffnung, man käme, ihn in Freiheit zu setzen, einen Schritt nach der Tür; aber bald erstarb das Geräusch in einer andern Richtung, und Dantes fiel wieder auf seinen Schemel zurück.

 

Endlich gegen zehn Uhr abends, in dem Augenblick, wo er die Hoffnung zu verlieren anfing, ließ sich ein neues Geräusch vernehmen, und diesmal schien es sich seinem Zimmer zuzuwenden. Es erschollen wirklich Tritte im Gange, die vor seiner Türe anhielten. Ein Schlüssel wurde im Schlosse gedreht, die Riegel klirrten, die massige Schranke von Eichenholz öffnete sich und ließ plötzlich in dem düsteren Zimmer das blendende Licht zweier Fackeln aufleuchten.

 

Bei dem Schimmer dieser Fackeln sah Dantes die Säbel und Musketen von vier Gendarmen glänzen. Er hatte zwei Schritte vorwärts gemacht, blieb aber nun, als er diese Menschen gewahrte, auf der Stelle und fragte: Wollt ihr mich holen?

 

Ja, antwortete einer von den Gendarmen.

 

Auf Befehl des Herrn Staatsanwaltsvertreters?

 

Ich denke wohl.

 

Gut, sagte Dantes, ich bin bereit, euch zu folgen.

 

Der Gedanke, daß man ihn auf Befehl des Herrn von Villefort hole, benahm dem Unglücklichen jede Furcht; er schritt ruhig und festen Schrittes vorwärts und stellte sich mitten unter die Gendarmen. Vor der Tür wartete ein Wagen, auf dem neben dem Kutscher ein Gefreiter saß. Der Kutschenschlag wurde geöffnet, und Dantes fühlte, daß man ihn hineinschob. Er war weder im stande, noch hatte er die Absicht, Widerstand zu leisten. In einem Augenblick saß er im Hintergrunde des Wagens zwischen zwei Gendarmen; die andern setzten sich auf den Vordersitz, und der schwere Wagen rollte mit dumpfem Lärm vorwärts.

 

Der Gefangene schaute nach den Öffnungen; sie waren vergittert, und kaum konnte er durch die dichten Stäbe seine Hand strecken. Er hatte nur sein Gefängnis verändert, das aber jetzt forteilte und ihn einem unbekannten Ziele immer näher brachte. Dantes erkannte jedoch, daß man durch die Rue Tamaris nach dem Kai hinabfuhr.

 

Bald sah er durch seine Gitter die Lichter des Hafenwachtlokals glänzen. Der Wagen hielt still, der Gefreite stieg ab und näherte sich der Wachtstube. Ein Dutzend Soldaten kamen heraus und stellten sich in Reih und Glied; Dantes sah bei dem Schimmer der Lichter ihre Flinten glänzen.

 

Sollte man meinetwegen eine solche militärische Macht entwickeln? sagte er zu sich selbst.

 

Den Schlag öffnend, beantwortete der Gefreite diese Frage, ohne ein Wort zu sprechen, denn Dantes sah, daß für ihn nur zwischen den zwei Reihen Soldaten ein Weg vom Wagen nach dem Hafen übrig gelassen war. Die zwei Gendarmen, die auf dem Vordersitze saßen, stiegen zuerst aus, dann ließ man ihn aussteigen, und endlich folgten die, welche an seiner Seite gesessen hatten. Man ging auf eine Barke zu, die ein Zollbeamter an dem Kai mittels einer Kette befestigt hielt. Die Soldaten sahen Dantes mit einer Miene alberner Neugierde an. In wenigen Augenblicken befand er sich im Hinterteile des Kahnes, immer zwischen den vier Gendarmen, während sich der Gefreite auf dem Vorderteile hielt. Ein kräftiger Stoß entfernte das Fahrzeug vom Lande, und vier Ruderer arbeiteten mit aller Macht. Auf einen Ruf von der Barke her senkte sich die Kette, die den Hafen schließt, und Dantes befand sich außerhalb desselben.

 

Die erste Regung des Gefangenen war, sobald er sich in freier Luft sah, die der Freude. Freie Luft ist die halbe Freiheit. Er atmete also mit voller Brust den Wind ein, der auf seinen Flügeln alle die unbekannten Gerüche der Nacht und des Meeres dahertrug. Bald jedoch stieß er einen Seufzer aus. Er kam an der Reserve vorüber, wo er am selben Tage bis zu seiner Verhaftung so glücklich gewesen war, und durch zwei offene Fenster drang der Freudenlärm eines Balles zu ihm.

 

Dantes faltete die Hände, schlug die Augen zum Himmel auf und betete, während die Barke ihren Weg fortsetzte. Sie war an der Tête-de-More vorübergefahren und nun im Begriff, um die Batterie zu rudern; Dantes konnte dieses Manöver nicht begreifen und sagte daher: Wohin führt ihr mich?

 

Sie werden es sogleich erfahren. – Aber …

 

Es ist verboten, Ihnen eine Erklärung zu geben.

 

Dantes schwieg, aber die seltsamsten Gedanken durchkreuzten nun seinen Geist. Da man in einer solchen Barke keine lange Fahrt machen konnte, da kein Schiff in der Richtung, in der man fuhr, vor Anker lag, so dachte er, man würde ihn an einem entfernten Punkte der Küste ans Ufer setzen und ihm bedeuten, er sei frei. Er war nicht gebunden, was ihm als ein gutes Vorzeichen erschien. Hatte ihm nicht überdies der Staatsanwalt, der ihn so gut behandelt hatte, gesagt, wenn er den unseligen Namen Noirtier nicht ausspräche, hätte er nichts zu befürchten? Hatte nicht Villefort in seiner Gegenwart den gefährlichen Brief, den einzigen Beweis, der gegen ihn vorlag, vernichtet? Er wartete also, stumm und in Gedanken versunken, und suchte mit dem an die Finsternis gewöhnten Auge des Seemanns trotz der Dunkelheit der Nacht den Raum zu durchdringen.

 

Man hatte die Insel Ratonneau, auf der ein Leuchtfeuer brannte, zur Rechten gelassen und war, an der Küste hinfahrend, bis zur Höhe der Bucht der Katalonier gelangt. Hier verdoppelten die Blicke des Gefangenen ihre Kraft, hier wohnte Mercedes, und es kam ihm jeden Augenblick vor, als erschaute er an dem düsteren Ufer die schwankende, unbestimmte Form eines weiblichen Wesens.

 

Warum sollte Mercedes nicht eine Ahnung sagen, ihr Geliebter komme auf dreihundert Schritte vorüber? Ein einziges Licht brannte bei den Kataloniern, und indem Dantes den Ausgangspunkt dieses Lichtes genau festzustellen suchte, erkannte er, daß es aus dem Zimmer seiner Braut stammte. Mercedes war also die einzige Person in der ganzen Kolonie, die noch wachte. Wenn er einen kräftigen Schrei ausstieß, konnte der junge Mann von seiner Verlobten gehört werden; aber eine falsche Scham hielt ihn zurück. Was würden seine Wächter sagen, wenn sie ihn wie einen Wahnsinnigen schreien hörten? Er blieb also stumm, die Augen auf das Licht heftend. Inzwischen setzte die Barke ihren Weg fort; aber der Gefangene dachte nicht an die Barke, er dachte an Mercedes.

 

Eine Wendung des Fahrzeugs ließ das Licht verschwinden. Dantes drehte sich um und bemerkte, daß die Barke auf das hohe Meer segelte.

 

Während er, in seine eigenen Gedanken versunken, hinausschaute, hatte man die Ruder durch Segel ersetzt, und die Barke fuhr, vom Winde getrieben, vorwärts. Obgleich es Dantes widerstrebte, neue Fragen an die Gendarmen zu richten, näherte er sich doch dem einen, nahm ihn bei der Hand und sagte: Kamerad, bei Ihrem Gewissen, bei Ihrer Eigenschaft als Soldat beschwöre ich Sie, haben Sie Mitleid und antworten Sie mir! Ich bin der Kapitän Dantes, ein guter und rechtschaffener Franzose, wenn auch irgend eines Verrats angeklagt; wohin führen Sie mich? Sprechen Sie, und auf Seemanns Wort, ich unterziehe mich meiner Pflicht und füge mich in mein Schicksal.

 

Der Gendarm kratzte sich hinter dem Ohr und schaute seinen Kameraden an. Dieser machte eine Bewegung, die etwa sagen wollte: Aber mein Befehl?

 

Der Befehl verbietet Ihnen nicht, mir mitzuteilen, was ich in zehn Minuten oder in einer Stunde erfahren werde. Nur ersparen Sie mir bis dahin Jahrhunderte der Ungewißheit. Ich frage Sie, als ob Sie mein Freund wären. Glauben Sie mir, ich will mich weder wehren, noch fliehen. Übrigens kann ich das auch gar nicht. Wohin führen Sie mich?

 

So schauen Sie um sich her!

 

Dantes stand auf und blickte natürlich zuerst in der Richtung, nach der das Fahrzeug sich bewegte. Da sah er hundert Klafter vor sich den schwarzen Felsen, auf dem sich das düstere Kastell If erhebt. Die seltsame, öde Form und der Gedanke an das Gefängnis daselbst, das ein furchtbarer Schrecken umschwebte und das seit dreihundert Jahren Marseille Stoff zu den unseligsten Überlieferungen bot, wirkten auf Dantes, wie auf den zum Tod Verurteilten der Anblick des Schafotts.

 

Oh! mein Gott! rief er, das Kastell If! Was sollen wir dort?

 

Der Gendarm lächelte.

 

Aber man fährt mich doch nicht dahin, um mich einzukerkern? rief Dantes. Das Kastell If ist ein Staatsgefängnis und nur für gefährliche politische Verbrecher bestimmt. Ich habe kein Verbrechen begangen. Gibt es dort Untersuchungsrichter, Beamte?

 

Soviel ich weiß, antwortete der Gendarm, findet man dort nur einen Gouverneur, Kerkermeister, eine Garnison und gute Mauern. Freund, spielen Sie nicht den Erstaunten; denn in der Tat, ich muß sonst glauben, Sie wollen meine Gefälligkeit dadurch belohnen, daß Sie meiner spotten.

 

Dantes drückte dem Gendarmen die Hand zum Zerquetschen.

 

Sie behaupten also, sagte er, man führe mich nach dem Kastell If, um mich einzukerkern?

 

Das ist sehr wahrscheinlich, erwiderte der Gendarm.

 

Ohne Untersuchung, ohne Förmlichkeiten?

 

Die Förmlichkeiten sind erfüllt, die Untersuchung ist fertig.

 

Also trotz des Versprechens des Herrn von Villefort?

 

Ich weiß nicht, ob Herr von Villefort Ihnen etwas versprochen hat, aber ich weiß, daß wir nach dem Kastell If fahren. Aber was machen Sie denn? Holla, Kameraden, herbei!

 

Mit einer Bewegung so schnell wie der Blitz, der jedoch das geübte Auge des Gendarmen zuvorgekommen war, hatte sich Dantes in das Meer stürzen wollen. Aber vier kräftige Fäuste hielten ihn in dem Augenblicke zurück, wo seine Füße den Boden des Schiffes verließen. Brüllend vor Wut fiel er in die Barke nieder.

 

Schön, rief der Gendarm, indem er ihm das Knie auf die Brust setzte, schön, so halten Sie Ihr Seemannswort! Man traue doch den freundlichen Leuten! Machen Sie nur noch die geringste Bewegung, mein lieber Freund, so jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf. Ich bin meinem ersten Befehle untreu gewesen, ich werde den zweiten wortgetreu befolgen.

 

Und er senkte seinen Karabiner gegen Dantes, der das Ende des Laufes an seiner Schläfe fühlte. Einen Augenblick hatte er wirklich den Gedanken, die verbotene Bewegung zu machen und so dein entsetzlichen Unglück, das ihn plötzlich mit seinen Geierkrallen gepackt hatte, ein Ende zu bereiten. Aber gerade weil dieses Unglück so unerwartet gekommen war, dachte Dantes, es könnte nicht lange währen. Dann erinnerte er sich wieder der Versprechungen des Herrn von Villefort, und endlich kam ihm der Tod auf dem Boden eines Fahrzeugs von der Hand eines Gendarmen häßlich, ekelhaft vor. – Er fiel also nieder auf den Grund der Barke, stieß ein Geheul der Wut aus und zernagte sich wie ein Wahnsinniger die Hände.

 

Beinahe in demselben Augenblicke erschütterte ein heftiger Stoß das Schiff. Einer von den Ruderern sprang auf den Felsen, den das Vorderteil der Barke berührt hatte. Ein Seil ächzte, sich um einen Block abwindend, und Dantes erkannte, daß man angelangt war und das Schiff anband.

 

Seine Wächter, die ihn zugleich am Arme und am Kragen hielten, nötigten ihn aufzustehen, zwangen ihn ans Land zu steigen und zogen ihn zu den Stufen, die nach dem Tore der Zitadelle führen. Dantes leistete übrigens keinen Widerstand. Sein langsamer Gang war eher die Folge von Willenlosigkeit, als von Widerstreben. Er war betäubt und schwankte wie ein Betrunkener; er sah abermals Soldaten, er fühlte Stufen, die ihn nötigten, seine Füße aufzuheben, er bemerkte, daß er unter einen Torweg kam und daß das Tor sich hinter ihm schloß, aber dies alles nahm er nur unwillkürlich wahr wie durch einen Nebel, ohne etwas Bestimmtes zu unterscheiden. Er sah sogar das Meer nicht mehr, denn es faßte ihn der ungeheure Schmerz der Gefangenen, die das furchtbare Gefühl übermannt, daß sie gegen ihre Umgebung völlig ohnmächtig sind.

 

 

Einen Augenblick wurde ein Halt gemacht, während dessen er seinen Geist zusammenzufassen suchte. Er befand sich in einem viereckigen, von vier hohen Mauern gebildeten Hofe. Man hörte den langsamen, regelmäßigen Tritt der Schildwachen und sah den Lauf ihrer Flinten funkeln. Hier wartete man ungefähr zehn Minuten. Überzeugt, daß Dantes nicht mehr entfliehen konnte, hatten ihn die Gendarmen losgelassen.

 

Geh, sagten die Gendarmen, Dantes fortschiebend. Der Gefangene folgte seinem Führer, der ihn nun in ein unterirdisches Gemach geleitete, dessen nackte, feuchte Wände von Tränen geschwängert zu sein schienen. Eine Art von Lampe auf einem Schemel, deren Docht in stinkendem Fett schwamm, beleuchtete die glänzenden Mauern dieses abscheulichen Aufenthaltes und zeigte Dantes seinen Führer, einen schlecht gekleideten, gemein aussehenden Gefangenwärter.

 

Das ist Ihr Zimmer für diese Nacht, sagte er, es ist schon spät, und der Herr Gouverneur hat sich bereits zu Bett gelegt. Wenn er morgen erwacht und von den Sie betreffenden Befehlen Kenntnis genommen hat, wird er Ihnen vielleicht eine andere Wohnung anweisen. Inzwischen finden Sie hier Brot, Wasser in diesem Kruge und Stroh in einem Winkel da unten. Das ist alles, was ein Gefangener wünschen kann.

 

Und ehe Dantes daran dachte, seinen Mund zu einer Antwort zu öffnen, ehe er bemerkte, wohin der Kerkerknecht dieses Brot gelegt hatte, hatte der Gefangenwärter die Lampe genommen und, indem er die Tür schloß, den bläulichen Widerschein entzogen, der ihm, wie bei dem Schimmer eines Blitzes, die feuchten Wände seines Gefängnisses gezeigt hatte.

 

Er befand sich nun allein in der Finsternis und in einer Stille, so stumm und so düster, wie diese Gewölbe, deren eisige Kälte er auf seine glühende Stirn sich herabsenken fühlte.

 

Als die ersten Strahlen des Morgens etwas Klarheit in diese Höhle gebracht hatten, kam der Gefangenwärter mit dem Befehle zurück, den Gefangenen zu lassen, wo er war. Dantes hatte den Platz nicht verändert. Eine eiserne Hand schien ihn an die Stelle genagelt zu haben, auf der er am Abend zuvor gestanden hatte. Die ganze Nacht hatte er so, stehend und ohne einen Augenblick zu schlafen, zugebracht. Der Gefangenwärter näherte sich ihm, ging um ihn herum, aber Dantes schien ihn nicht zu sehen. Er schlug ihm auf die Schulter; Dantes bebte und schüttelte den Kopf.

 

Haben Sie denn nicht geschlafen? fragte der Gefangenwärter.

 

Ich weiß es nicht, antwortete Dantes.

 

Der Gefangenwärter schaute ihn erstaunt an. Haben Sie keinen Hunger? fuhr er fort.

 

Ich weiß es nicht, antwortete Dantes abermals.

 

Wünschen Sie etwas?

 

Ich wünsche den Gouverneur zu sehen.

 

Der Gefangenwärter zuckte die Achseln und entfernte sich. Dantes folgte ihm mit den Augen und streckte die Hände nach der halb geöffneten Tür aus, aber die Tür schloß sich wieder. Dann schien sich seine Brust in einem langen Schluchzen zu zerreißen. Seine Tränen, von denen seine Augenlider anschwollen, flossen reichlich. Er warf sich mit der Stirn auf die Erde, betete lange, durchlief in seinem Geiste sein ganzes vergangenes Leben und fragte sich, welches Verbrechen er, noch so jung, begangen hätte, das eine so grausame Bestrafung verdiente. So ging der Tag hin. Kaum aß er einige Bissen Brot und trank ein paar Tropfen Wasser. Bald saß er in Gedanken versunken, bald lief er im Gefängnis umher wie ein wildes Tier, das in einem eisernen Käfig eingeschlossen ist.

 

Ein Gedanke besonders ließ ihn immer wieder auffahren, daß er nämlich während der Überfahrt zehnmal imstande gewesen wäre, sich ins Meer zu werfen, bei seiner Geschicklichkeit im Schwimmen unter dem Wasser zu verschwinden, seinen Wächtern zu entgehen, die Küste zu erreichen, zu fliehen, sich in irgend einer verlassenen Bucht zu verbergen, ein genuesisches oder katalanisches Schiff zu erwarten, Italien oder Spanien zu erreichen und von dort aus Mercedes zu schreiben, sie möge zu ihm kommen. Wegen seines Fortkommens brauchte er nirgends besorgt zu sein; gute Seeleute sind überall gesucht. Er sprach Italienisch wie ein Toskaner, Spanisch wie ein Kind Altkastiliens. Er hätte frei und glücklich mit Mercedes und seinem Vater gelebt, denn sein Vater wäre ihm auch nachgefolgt, während er nun als Gefangener im Kastell If eingeschlossen war und nicht wußte, was aus seinem Vater, was aus Mercedes wurde, und dies alles, weil er an Villeforts Wort geglaubt hatte. Dantes wälzte sich wütend und wie wahnsinnig auf dem frischen Stroh, das ihm der Gefangenwärter gebracht hatte.

 

Am andern Tage erschien dieser zu derselben Stunde.

 

Nun, sagte er, sind Sie heute vernünftiger als gestern?

 

Dantes antwortete nicht.

 

Auf, sagte der Gefangenwärter, Mut gefaßt! Wünschen Sie etwas, worüber ich zu verfügen habe, so sagen Sie es.

 

Ich wünsche den Gouverneur zu sprechen.

 

Ei, erwiderte der Gefangenwärter ungeduldig, ich sage Ihnen, das ist ganz unmöglich. Nach der Vorschrift des Gefängnisses ist eine solche Bitte den Gefangenen nicht gestattet.

 

Und was ist denn hier erlaubt? fragte Dantes.

 

Eine bessere Kost gegen Bezahlung, ein Spaziergang und zuweilen Bücher.

 

Ich brauche keine Bücher, ich habe keine Lust spazieren zu gehen und finde meine Nahrung gut. Ich will also nur eines: den Gouverneur sehen.

 

Wenn Sie mich dadurch ärgern, daß Sie beständig dasselbe wiederholen, sagte der Gefangenwärter, so bringe ich Ihnen nichts mehr zu essen.

 

Gut, erwiderte Dantes, wenn du mir nichts mehr zu essen bringst, so sterbe ich Hungers.

 

Der Ton, in dem Dantes diese Worte sprach, bewies dem Schließer, daß sein Gefangener den Tod herbeisehnte. Da nun jeder Gefangene seinem Wärter täglich ungefähr zehn Sous einträgt, so dachte der Schließer an den Verlust, den für ihn ein solcher Todesfall bedeutete, und er versetzte freundlicher: Hören Sie mich! Was Sie wünschen ist unmöglich, verlangen Sie es also nicht mehr von mir, denn es gibt kein Beispiel, daß der Gouverneur in das Zimmer eines Gefangenen auf dessen Bitte gekommen wäre. Seien Sie nur vernünftig, und man wird Ihnen den Spaziergang erlauben, dann ist es möglich, daß der Gouverneur einmal, während Sie spazieren gehen, vorüberkommt. Sie können ihn hierbei anreden, und wenn er antworten will, ist das seine Sache.

 

Aber, wie lange kann ich warten, bis dieser Zufall eintritt? sagte Dantes.

 

Bei Gott! einen Monat, drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, jenachdem.

 

Das ist zu lange, erwiderte Dantes, ich will ihn sogleich sehen.

 

Erschöpfen Sie sich nicht in einem einzigen, unmöglichen Wunsche, sagte der Gefangenwärter, oder Sie sind, ehe vierzehn Tage vergehen, ein Narr.

 

Ha, du glaubst! rief Dantes.

 

Ja, ein Narr; so fängt die Narrheit immer an; wir haben hier ein Beispiel davon. Der Abbé, der vor Ihnen dieses Zimmer bewohnte, wurde verrückt und bot immer wieder dem Gouverneur eine Million für seine Freilassung an.

 

Wann hat er dieses Zimmer verlassen? – Vor zwei Jahren. – Hat man ihn in Freiheit gesetzt? – Nein, man hat ihn in einen Kerker gebracht.

 

Höre, sagte Dantes, ich bin kein Abbé, ich bin kein Narr. Vielleicht werde ich es; zu dieser Stunde aber habe ich leider noch meinen Verstand und will dir einen andern Vorschlag machen: Ich werde dir keine Million bieten, denn ich könnte sie dir nicht geben; aber ich biete dir hundert Taler, wenn du das erstemal, wo du nach Marseille gehst, dich zu den Kataloniern begeben und einem jungen Mädchen, namens Mercedes, nur zwei Zeilen geben willst.

 

Wenn ich diesen Brief überbrächte, und man entdeckte es, würde ich meine Stelle verlieren, die tausend Livres jährlich einträgt, abgesehen von dem Kostgelde. Sie sehen also, daß ich ein großer Tor wäre, wenn ich tausend Livres wagen wollte, um dreihundert zu gewinnen.

 

Nun, so höre und behalte es wohl in deinem Gedächtnis: Wenn du dich weigerst, den Gouverneur davon in Kenntnis zu setzen, daß ich ihn zu sprechen wünsche, wenn du dich weigerst, Mercedes zwei Zeilen zu bringen, oder wenigstens sie davon zu benachrichtigen, daß ich hier bin, so erwarte ich dich eines Tages hinter der Tür und zerschmettere dir in dem Augenblicke, wo du eintrittst, den Schädel mit diesem Schemel!

 

Drohungen! rief der Kerkermeister, einen Schritt zurückweichend und sich in Verteidigungsstand setzend; offenbar ist es in Ihrem Kopfe nicht richtig. Der Abbé hat angefangen wie Sie, und in drei Tagen sind Sie ein Narr, daß man Sie binden muß. Zum Glücke gibt es noch Kerker im Kastell If.

 

Dantes nahm den Schemel und schwang ihn um seinen Kopf.

 

Gut, gut, rief der Kerkermeister, gut, da Sie durchaus wollen, so wird man den Gouverneur benachrichtigen.

 

Dann ist es recht, sagte Dantes, stellte seinen Schemel auf den Boden und setzte sich darauf, den Kopf senkend mit starren Augen, als ob er wirklich wahnsinnig würde.

 

Der Gefangenwärter entfernte sich und kehrte einen Augenblick nachher mit vier Soldaten und einem Korporal zurück.

 

Auf Befehl des Gouverneurs, sagte er, bringt den Gefangenen ein Stockwerk tiefer, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.

 

Die vier Soldaten ergriffen Dantes, der in eine Art von Stumpfsinn verfiel und ihnen ohne Widerstand folgte. Man ließ ihn fünfzehn Stufen hinabsteigen und öffnete eine Tür, durch die er eintrat.

 

Er hat recht, murmelte er, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.

 

 

Die Tür schloß sich wieder, und Dantes ging mit ausgestreckten Händen vorwärts, bis er die Mauer fühlte. Dann setzte er sich in eine Ecke und blieb unbeweglich, während seine Augen, sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnend, die Gegenstände zu unterscheiden anfingen. Der Gefangenwärter hatte recht, es fehlte nicht mehr viel, und Dantes wurde ein Narr.

 

Der Verlobungsabend.

 

Der Verlobungsabend.

 

Herr von Villefort war nach Dantes‘ Verhör wieder zu seinem unterbrochenen Verlobungsmahl zurückgekehrt, hatte die zahlreichen Fragen seiner Braut und ihrer Verwandten nur kurz und ausweichend beantwortet und verabschiedete sich schleunigst von der erstaunten Familie, um sofort mit Extrapost eine – wie er sagte – für seine Zukunft ungemein wichtige Dienstreise nach Paris anzutreten.

 

Als er eben den Wagen besteigen wollte, erblickte er aber eine Gestalt, die unbeweglich seiner harrte. Es war die schöne Katalonierin, die, da sie keine Nachricht von Edmond erhielt, bei Einbruch der Nacht sich selbst nach der Ursache der Verhaftung ihres Geliebten erkundigen wollte. Als Villefort sich näherte, entfernte sie sich von der Mauer, an die sie sich gelehnt hatte, und versperrte ihm den Weg. Da der Staatsanwalt Dantes von seiner Braut hatte sprechen hören, brauchte sie sich nicht zu nennen, um von ihm erkannt zu werden. Er war erstaunt über ihre Schönheit und Würde, und als sie ihn fragte, was aus ihrem Geliebten geworden sei, hatte er die Empfindung, als wäre er der Angeklagte und sie der Richter.

 

Der Mann, von dem Sie sprechen, sagte er, ist ein großer Verbrecher, und ich kann nichts für ihn tun, Fräulein.

 

Mercedes schluchzte, und als Villefort an ihr vorüberzugehen versuchte, hielt sie ihn zum zweiten Male zurück.

 

Aber sagen Sie mir wenigstens, wo er ist, fragte sie, ich will mich nur erkundigen, ob er lebt oder ob er tot ist.

 

Ich weiß es nicht, er gehört mir nicht mehr an.

 

Von dem rührenden Blicke und der flehenden Haltung bewegt, schob er Mercedes zurück, bestieg den Wagen und schloß eiligst die Tür, als wollte er den Schmerz, den man ihm brachte, draußen lassen. Doch der Schmerz läßt sich nicht so zurückstoßen, und es entstand im Grunde dieses kranken Herzens der erste Keim zu einem tödlichen Geschwür. Der Unschuldige, den er seinem Ehrgeize opferte, und der für seinen schuldigen Vater büßen mußte, erschien ihm bleich und drohend, seiner ebenfalls bleichen Braut die Hand reichend; und mit ihm kamen die Gewissensbisse, nicht die, welche den Kranken wie rasend aufspringen lassen, sondern der dumpfe, schmerzliche Klang, der in gewissen Augenblicken das Herz berührt und es mit der Erinnerung an eine vergangene Handlung peinigt … eine Pein, deren nagende Qualen eine wunde Stelle schaffen, die bis zum Tode immer empfindlicher wird.

 

Da trat in der Seele dieses Mannes noch einmal ein Augenblick des Zögerns ein. Schon mehrmals hatte er, und zwar mit dem ausschließlichen Bewußtsein eines juristischen Kampfes mit dem Angeklagten, den Tod der Angeschuldigten gefordert. Die Hinrichtung dieser Angeschuldigten, die seiner überwältigenden, Richter und Geschworene hinreißenden Beredsamkeit zuzuschreiben war, hatte nicht einmal eine Wolke auf seiner Stirn zurückgelassen, denn diese Angeklagten waren Schuldige, oder Villefort hielt sie wenigstens dafür. Aber diesmal war es etwas ganz anderes; er hatte die lebenslängliche Gefängnisstrafe auf einen Unschuldigen herabgerufen, dem er nicht nur seine Freiheit, sondern auch sein verdientes Glück zerstörte: diesmal war er nicht Richter, sondern Henker.

 

Wenn in diesem Augenblick Renées sanfte Stimme an sein Ohr geklungen hätte, um Gnade zu erbitten, wenn die schöne Mercedes eingetreten wäre und zu ihm gesagt hätte: Im Namen Gottes, der uns sieht und richtet, geben Sie mir meinen Bräutigam wieder! – ja dann würde diese Stirn, die sich schon halb unter dem moralischen Drange beugte, sich gänzlich gebeugt haben, und er hätte ohne Zweifel mit eisigen Händen, trotz allem, was daraus für ihn entspringen konnte, den Befehl unterzeichnet, Dantes in Freiheit zu setzen. Aber keine Stimme lispelte in der Stille, und der unglückliche Dantes blieb verurteilt.

 

Die arme Mercedes hatte an der Ecke der Rue de la Loge Fernand wiedergefunden, der ihr gefolgt war. Sie kehrte zu den Kataloniern zurück und warf sich in Verzweiflung auf ihr Bett. Vor diesem Bett kniete Fernand nieder, und er drückte ihre eisige Hand, ohne daß Mercedes daran dachte, sie zurückzuziehen. Er bedeckte sie mit brennenden Küssen, die Mercedes nicht einmal fühlte.

 

So brachte sie die Nacht hin. Die Lampe erlosch, als kein Öl mehr darin war. Sie bemerkte ebensowenig die Dunkelheit, als sie das Licht wahrgenommen hatte, und der Tag kehrte zurück, ohne daß sie ihn sah. Der Schmerz hatte eine Binde um ihre Augen gelegt, die sie nur Edmond sehen ließ.

 

Ah! Ihr seid hier, sagte sie endlich, nach Fernand sich wendend.

 

Seit gestern habe ich Euch nicht verlassen, antwortete Fernand mit einem schmerzlichen Seufzer. –

 

Herr Morel hielt sich nicht für geschlagen; er erfuhr, daß man Dantes infolge eines Verhörs ins Gefängnis gebracht hatte; da lief er zu allen seinen Freunden, besuchte die Personen in Marseille, die Einfluß haben konnten; aber bereits hatte sich das Gerücht verbreitet, der junge Mann sei als bonapartistischer Agent verhaftet worden, und da selbst die Verwegensten damals noch jeden Versuch Napoleons, den Thron sofort wiederzubesteigen, als wahnsinnigen Traum betrachteten, so fand er nur Kälte, Furcht, Weigerung. Er kehrte voll Verzweiflung nach Hause zurück und gestand sich, die Lage der Dinge sei sehr ernst und niemand vermöge etwas zu tun.

 

Caderousse war äußerst unruhig und von den peinlichsten Gefühlen gequält; statt wie Herr Morel sich zu rühren und etwas zu Dantes‘ Gunsten zu versuchen, für den er übrigens nichts zu tun imstande war, schloß er sich mit zwei Flaschen Wein ein und trachtete danach, in diesen seine Unruhe zu ersäufen.

 

Danglars allein fühlte weder Qual noch Unruhe; er empfand sogar Freude, denn er hatte sich an einem Feinde gerächt und seinen Platz an Bord des Pharao gesichert, den er zu verlieren befürchtete; er gehörte zu den berechnenden Menschen, die mit einer Feder hinter dem Ohre und einem Tintenfasse an der Stelle des Herzens geboren werden. Alles war für ihn in dieser Welt Subtraktion oder Multiplikation, und eine Zahl erschien ihm viel kostbarer, als ein Mensch, wenn diese Zahl die Summe seines eigenen Guthabens vermehrte, die dieser Mensch vermindern konnte.

 

Dantes‘ Vater starb beinahe vor Schmerz und Unruhe.

 

Die Katalonier.

 

Die Katalonier.

 

Hundert Schritte von der Laube, wo die beiden Freunde den sprudelnden Lamalgue-Wein tranken, erhob sich hinter einem nackten, sonnigen Hügel die kleine Ansiedlung der Katalonier. Eines Tages wanderte eine Anzahl Katalonier aus dem Mutterland aus und landete hier, wo sie sich noch heute befindet. Man wußte nicht, woher sie kam, und kannte nicht einmal ihre Sprache. Einer von den Führern, der Provençalisch verstand, bat die Gemeinde Marseille, ihnen dieses nackte, unfruchtbare Vorgebirge zu geben, auf das sie ihre Schiffe gezogen hatten. Die Bitte wurde gewährt, und drei Monate nachher erhob sich um ihre fünfzehn Fahrzeuge ein kleines Dorf. Seit drei bis vier Jahrhunderten sind sie ihrem Vorgebirge treu geblieben, ohne sich mit der Bevölkerung von Marseille zu vermischen, denn sie heirateten unter sich und behielten Sitten, Tracht und Sprache ihres Mutterlandes bei.

 

In einer der einfachen Hütten stand ein junges Mädchen mit rabenschwarzen Haaren und Augen an der Wand. Ihre bis an den Ellbogen entblößten Arme, die zwar gebräunt, aber schön geformt waren, bebten wie von fieberhafter Ungeduld, und sie stampfte mit ihrem geschmeidigen, schön gebogenen Fuße auf die Erde, so daß die reine, stolze, kühne Form ihres mit einem baumwollenen Strumpf bekleideten Beines ein wenig sichtbar wurde.

 

Drei Schritte von ihr saß auf einem Stuhle ein großer etwa zwanzigjähriger Bursche und betrachtete sie mit einer Miene, in der sich Unruhe und Trotz bekämpften. Seine Augen sahen fragend und verlangend aus, aber der feste, entschiedene Blick des jungen Mädchens beherrschte den Jüngling.

 

Wie steht’s, Mercedes, sagte der junge Mann, Ostern naht; ist’s da nicht Zeit, Hochzeit zu machen? Antwortet mir!

 

Ich habe Euch hundertmal geantwortet, Fernand, und Ihr müßt in der Tat Euer eigener Feind sein, daß Ihr mich noch einmal fragt!

 

Wiederholt es, ich bitte Euch, noch einmal, daß ich es endlich glauben kann! Sagt mir zum hundertstenmale, daß Ihr eine Liebe ausschlagt, die Eure Mutter billigte! Macht mir’s begreiflich, daß Ihr mit meinem Glücke Euer Spiel treibt, daß mein Leben und mein Tod nichts für Euch sind. Ach, mein Gott, zehn Jahre lang habe ich geträumt. Euer Gatte zu werden, und soll nun diese Hoffnung verlieren, die der einzige Zweck meines Lebens war!

 

Ich bin es wenigstens nicht gewesen, die Euch in dieser Hoffnung ermutigt hat, Fernand, antwortete Mercedes. Ihr könnt mir in dieser Hinsicht nichts vorwerfen. Stets sagte ich Euch: Ich liebe Euch wie meinen Bruder, fordert aber nie mehr von mir, denn mein Herz gehört einem andern. Das habe ich Euch immer gesagt, Fernand.

 

Ich weiß es wohl, Mercedes, antwortete der junge Mann. Ja, Ihr habt mir gegenüber das grausame Verdienst der Offenherzigkeit. Aber vergeßt Ihr, daß bei den Kataloniern das heilige Gesetz besteht, sich nur untereinander zu heiraten?

 

Ihr täuscht Euch, Fernand, das ist kein Gesetz, es ist eine Gewohnheit und nichts weiter. Führt diese Gewohnheit nicht zu Euren Gunsten an! Ihr seid zur Aushebung vorgemerkt; jeden Augenblick könnt Ihr zur Fahne einberufen werden. Seid Ihr aber Soldat, was sollte dann aus mir werden, dem verlassenen, vermögenslosen Mädchen, das als einzige Habe nur eine baufällige Hütte besitzt, in der ein paar abgenutzte Netze hängen … die elende Erbschaft von meinem Vater und meiner Mutter? Seit sie im vorigen Jahre starb, lebe ich fast nur von der öffentlichen Wohltätigkeit. Zuweilen tut Ihr, als wäre ich Euch nützlich, um das Recht zu haben, Euren Fischfang mit mir zu teilen. Ich nehme es an, Fernand, weil Ihr mein Vetter seid, weil wir miteinander erzogen worden sind, und mehr noch, weil es Euch zu viel Kummer machen würde, wenn ich es ausschlüge; aber ich fühle wohl, daß der Fisch ein Almosen ist.

 

Wenn Ihr aber, die arme und verlassene Mercedes, mir besser gefallt als die Tochter des stolzesten Reeders und des reichsten Bankiers von Marseille? Was braucht ein Mann aus dem Volk wie ich? Ein ehrliches Weib, eine gute Wirtschafterin. Und wo kann ich da etwas Besseres finden, als Ihr seid?

 

Fernand, antwortete Mercedes, den Kopf schüttelnd, man ist eine schlechte Wirtschafterin und kann nicht dafür stehen, daß man eine ehrliche Frau bleibt, wenn man einen andern Mann liebt, als seinen Gatten. Begnügt Euch mit meiner Freundschaft, denn ich wiederhole Euch, das ist alles, was ich Euch versprechen kann, und ich verspreche nur, was ich halten kann.

 

Ja, ich begreife, sagte Fernand, Ihr ertragt geduldig Eure Armut, aber Ihr habt Furcht vor der meinen. Nun wohl, Mercedes, von Euch geliebt, werde ich mich aufzuschwingen suchen. Ihr bringt mir Glück, und ich werde reich. Ich kann mein Fischergewerbe ausdehnen, ich kann als Kommis in ein Kontor eintreten, ich kann sogar Kaufmann werden!

 

Ihr könnt das alles nicht, Fernand, Ihr seid als Soldat vorgemerkt, und wenn Ihr noch hier weilt, so ist dies nur der Fall, weil gegenwärtig kein Krieg geführt wird. Bleibt also Fischer und – begnügt Euch mit meiner Freundschaft, da ich Euch nichts anderes geben kann.

 

Oh, Mercedes, Ihr seid nur so grausam und hart gegen mich, weil Ihr einen andern erwartet; aber der ist vielleicht unbeständig wie das Meer.

 

Fernand, rief Mercedes, ich hielt Euch für gut, aber ich täuschte mich! Ihr habt ein schlechtes Herz, daß Ihr mit Eurer Eifersucht den Zorn des Himmels herabruft. Nun wohl, ich bekenne es offen: Ich erwarte und liebe den, welchen Ihr meint.

 

Der junge Katalonier machte eine wütende Gebärde.

 

Ich verstehe Euch, Fernand, Ihr werdet Euch dafür rächen, daß ich Euch nicht liebe, Ihr werdet Euer katalonisches Messer mit seinem Dolche kreuzen! Wohin wird Euch das führen? Dahin, daß Ihr meine Freundschaft verliert, wenn Ihr besiegt werdet; daß Ihr meine Freundschaft in Haß verwandelt, wenn Ihr Sieger seid. Glaubt mir, Streit mit einem Manne suchen, ist ein schlechtes Mittel, der Frau zu gefallen, die diesen Mann liebt. Nein, Fernand, Ihr werdet Euch nicht so durch Eure schlimmen Gedanken hinreißen lassen. Da Ihr mich nicht als Frau besitzen könnt, so werdet Ihr Euch begnügen, mich zur Freundin und zur Schwester zu haben. Und überdies, fügte sie mit unruhigen, tränenfeuchten Augen hinzu, Ihr habt soeben gesagt, das Meer sei treulos. Schon seit vier Monaten ist er abgereist, und seit vier Monaten habe ich viele Stürme gezählt.

 

Fernand blieb unempfindlich. Er suchte nicht die Tränen zu trocknen, die über Mercedes‘ Wangen herabrollten, und dennoch hätte er für jede ihrer Tränen einen Becher seines Blutes gegeben; aber diese Tränen flossen nicht für ihn. Er stand auf, ging in der Hütte umher, kehrte zurück, blieb mit düsterem Auge und geballten Fäusten vor Mercedes stehen und sagte: Laßt hören, Mercedes, noch einmal, antwortet: Steht Euer Entschluß fest?

 

Ich liebe Edmond Dantes, antwortete kalt das junge Mädchen, und kein anderer als Edmond soll mein Gatte werden.

 

Und Ihr werdet ihn immer lieben?

 

Solange ich lebe.

 

Fernand ließ ganz entmutigt das Haupt sinken und stieß einen Seufzer aus. Dann, plötzlich die Stirn wieder erhebend, rief er: Aber wenn er tot ist?

 

Wenn er tot ist, sterbe ich.

 

Aber wenn er Euch vergißt?

 

Mercedes! rief eine freudige Stimme vor dem Hause, Mercedes!

 

Ah, rief das junge Mädchen, vor Entzücken errötend und ausspringend, Ihr seht, daß er mich nicht vergessen hat, denn er ist da!

 

Eilig lief sie zur Tür, öffnete sie und rief mit jubelndem Tone: Herein, Edmond, hier bin ich!

 

Fernand wich bleich und bebend zurück, wie ein Reisender in den Tropen, der sich plötzlich einer giftigen Schlange mit gähnendem Rachen gegenüber sieht, stieß an seinen Stuhl und sank zitternd darauf nieder.

 

Edmond und Mercedes lagen einander in den Armen. Die glühende Sonne von Marseille drang durch die Öffnung der Tür herein und übergoß sie mit einer Woge von Licht. Anfangs sahen sie nichts von dem, was sie umgab. Ein unermeßliches Glück erhob sie über die Welt, und sie sprachen nur in abgebrochenen Worten, wie sie sowohl der lebhaftesten Freude wie nicht minder dem quälenden Schmerze zum Ausdruck dienen können.

 

Plötzlich erblickte Edmond Fernands düsteres Antlitz, das bleich und drohend aus dem Schatten hervortrat. Durch eine Bewegung, von der er sich vielleicht selbst nicht Rechenschaft gab, fuhr der junge Katalonier mit der Hand an das Messer, das in seinem Gürtel stak.

 

Ah! um Vergebung, sagte Dantes, ebenfalls die Stirn faltend, ich hatte nicht bemerkt, daß wir zu dritt sind! Sich sodann an Mercedes wendend, fragte er: Wer ist dieser Herr?

 

Dieser Herr wird dein bester Freund sein, Dantes, denn es ist auch mein Freund; es ist mein Vetter, es ist mein Bruder, es ist Fernand, der Mann, den ich nach dir, Edmond, am meisten in der Welt liebe. Erkennst du Fernand nicht wieder?

 

Ah, gewiß! sagte Edmond, und ohne Mercedes zu verlassen, deren Hand er in der seinigen hielt, reichte er mit einer herzlichen Bewegung seine andere Hand dem Katalonier.

 

Aber Fernand, weit entfernt, diese freundschaftliche Gebärde zu erwidern, blieb stumm und unbeweglich wie eine Statue. Da ließ Edmond seinen forschenden Blick über die bewegte, zitternde Mercedes und dann über den düsteren, drohenden Fernand gleiten, und dieser eine Blick sagte ihm alles. – Der Zorn stieg ihm zu Kopfe.

 

Als ich mit so großer Eile zu Euch lief, Mercedes, wußte ich nicht, daß ich einen Feind hier finden würde, sagte er.

 

Einen Feind! rief Mercedes, mit einem zornigen Blicke auf ihren Vetter; einen Feind bei mir, sagst du, Edmond? Wenn ich das glaubte, so nähme ich dich beim Arme, ginge nach Marseille und würde dieses Haus verlassen, um nie mehr dahin zurückzukehren.

 

Fernands Auge schleuderte einen Blitz.

 

Und wenn dir ein Unglück widerführe, Edmond, fügte sie mit eisiger Stimme hinzu, die Fernand bewies, daß sie in der Tiefe seiner finsteren Gedanken gelesen hatte, wenn dir ein Unglück widerführe, so stiege ich auf das Kap Morgion und stürzte mich über die Felsen hinab.

 

Fernand wurde furchtbar bleich.

 

Aber du hast dich getäuscht, Edmond, fuhr sie fort, du hast keinen Feind hier, denn hier sehe ich nur Fernand, meinen Bruder, der dir die Hand wie ein ergebener Freund drücken wird.

 

Und bei diesen Worten heftete Mercedes ihren gebieterischen Blick auf den Katalonier, der, von diesem Blicke wie bezaubert, sich langsam Edmond näherte und ihm die Hand reichte. Aber kaum hatte er die Hand berührt, als er fühlte, daß er etwas getan, das über seine Kräfte ging, und aus dem Hause stürzte.

 

Oh! rief er, wie ein Wahnsinniger fortrennend und mit den Händen in seinen Haaren wühlend, wer wird mich von diesem Menschen befreien! Wehe mir! wehe mir!

 

He, Katalonier! he, Fernand! wohin läufst du? rief eine Stimme.

 

Der junge Mann blieb stehen, schaute umher und sah Caderousse, der mit Danglars unter einer Laube an einem Tische saß.

 

He! sagte Caderousse, warum kommst du nicht zu uns? Hast du so große Eile, daß du nicht einmal deinen Freunden einen guten Morgen wünschen kannst?

 

Fernand schaute die Männer mit einfältiger Miene an und antwortete nicht.

 

Er scheint ganz verblüfft, sagte Danglars leise und stieß dabei Caderousse mit dem Knie. Sollten wir uns getäuscht haben und keinen Bundesgenossen in ihm finden?

 

Verdammt! Wollen doch sehen! erwiderte Caderousse und fügte, zu dem jungen Mann gewendet, hinzu: Nun, Katalonier, willst du nicht kommen?

 

Fernand trocknete den Schweiß von seiner Stirn und trat langsam unter die schattige Laube, deren Frische seinem erhitzten Körper wohlzutun schien.

 

Guten Morgen, sagte er, Ihr habt mich gerufen, nicht wahr? Und dabei ließ er sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.

 

Ich rief dich, weil du wie ein Narr liefst, und weil ich befürchtete, du könntest dich ins Meer stürzen, erwiderte lachend Caderousse. Was zum Teufel, wenn man Freunde hat, so muß man ihnen nicht nur ein Glas Wein anbieten, sondern sie auch verhindern, drei oder vier Pinten Wasser zu schlucken.

 

Fernand stieß einen Seufzer aus, der einem Schluchzen ähnlich klang, und ließ seinen Kopf auf seine Fäuste sinken, die er kreuzweise auf den Tisch gelegt hatte.

 

Wie geht’s, Fernand? Soll ich dir was sagen, versetzte Caderousse mit plumper Offenheit, du siehst aus wie ein aus dem Felde geschlagener Liebhaber.

 

Und er begleitete diesen Spaß mit schwerfälligem Lachen.

 

Bah! sagte Danglars, ein junger Mann von diesem Schnitte kann unmöglich in der Liebe unglücklich sein. Du scherzest, Caderousse.

 

Oh nein, erwiderte dieser, höre nur, wie er seufzt. Ruhig, Fernand, fügte Caderousse hinzu, die Nase hochgehalten und geantwortet! Es ist nicht liebenswürdig. Freunden nicht zu antworten, die sich nach unsrer Gesundheit erkundigen.

 

Meine Gesundheit ist gut, antwortete Fernand, seine Fäuste krampfhaft zusammenziehend, aber ohne den Kopf zu heben.

 

Oh, siehst du, Danglars, sagte Caderousse und machte dabei seinem Freunde aus einem Augenwinkel ein Zeichen, das ist die Sache: Fernand, den du hier siehst, ein guter, braver Katalonier, einer der besten Fischer von Marseille, ist in ein schönes Mädchen, namens Mercedes, verliebt. Doch leider scheint das junge Mädchen seinerseits in den Sekond des Pharao verliebt zu sein. Und da der Pharao heute in den Hafen eingelaufen ist, so verstehst du …

 

Nein, ich verstehe nicht, erwiderte Danglars.

 

Der arme Fernand wird seinen Abschied bekommen haben, fuhr Caderousse fort.

 

Wohl und was ist dabei? sagte Fernand, das Haupt erhebend, und schaute Caderousse wie ein Mensch an, der einen sucht, auf den er seinen Zorn fallen lassen kann. Mercedes hängt von niemand ab, nicht wahr? Es steht ihr frei, zu lieben, wen sie will!

 

Ah! wenn du es so nimmst, entgegnete Caderousse, so ist es etwas anderes. Ich hielt dich für einen Katalonier, und man hat mir gesagt, die Katalonier wären nicht die Männer, die sich von andern ausstechen lassen; man sagte mir weiter, Fernand sei besonders furchtbar in seiner Rache.

 

Fernand lächelte mitleidig und erwiderte: Ein Verliebter ist nie furchtbar.

 

Armer Junge! versetzte Danglars, der sich den Anschein gab, als beklagte er den jungen Mann aus der Tiefe seines Herzens. Was willst du? Er war nicht darauf gefaßt, Dantes so plötzlich zurückkommen zu sehen. Er hielt ihn vielleicht für tot, für ungetreu, wer weiß? Man ist in solchen Fällen um so empfindlicher, je unerwarteter sie eintreten.

 

In jedem Fall, sagte Caderousse, auf den der Wein seine Wirkung auszuüben anfing, ist Fernand nicht der einzige, den Dantes‘ glückliche Ankunft ärgert! Nicht wahr, Danglars?

 

Du sprichst die Wahrheit, und ich glaube fast, behaupten zu können, daß ihm dies Unglück bringen wird.

 

Doch gleichviel, versetzte Caderousse, goß Fernand ein Glas Wein ein und füllte zum zehntenmale sein eigenes Glas, während Danglars nur an dem seinigen genippt hatte, gleichviel, inzwischen heiratet er Mercedes, die schöne Mercedes; er kommt wenigstens deshalb zurück.

 

Während dieser Worte betrachtete Danglars mit durchdringendem Blick den jungen Mann, auf dessen Herz Caderousses Worte wie geschmolzenes Blei fielen.

 

Und wann soll die Hochzeit sein? fragte er.

 

Oh! so weit ist’s noch nicht, murmelte Fernand.

 

Nein, aber es wird bald so weit sein, entgegnete Caderousse; so gewiß, als Dantes Kapitän sein wird, nicht wahr, Danglars?

 

Danglars bebte bei diesem unerwarteten Streiche und wandte sich zu Caderousse, um auf dessen Gesicht zu lesen, ob ihm der Stich mit Vorbedacht versetzt worden sei. Aber er sah nichts, als den Neid aus dem infolge der Trunkenheit bereits albern aussehenden Gesichte.

 

Nun gut, sagte er, die Gläser wieder füllend, trinken wir also auf die Gesundheit des Kapitäns Edmond Dantes, des Gatten der schönen Katalonierin!

 

Caderousse setzte mit einer schweren Hand sein Glas an den Mund und leerte es auf einen Zug. Fernand nahm das seinige und schleuderte es auf die Erde.

 

He, he, he! rief Caderousse, was erblicke ich da oben auf dem Hügel in der Richtung der Katalonier! Sieh doch, Fernand, du hast ein besseres Gesicht, als ich. Ich glaube, ich fange an, doppelt zu sehen, und du weißt, der Wein ist ein Verräter. Man sollte glauben, es seien zwei Liebende, die Hand in Hand nebeneinander gehen. Gott vergebe mir! Sie vermuten nicht, daß wir sie sehen, und umarmen sich sogar.

 

Danglars folgte lauernd allen schmerzlichen Bewegungen in Fernands sich sichtlich entstellendem Gesichte.

 

Oho, Dantes! oho, schönes Mädchen! rief jetzt Caderousse, kommt doch mal her und sagt uns, wann die Hochzeit sein wird.

 

Willst du wohl schweigen, sagte Danglars, der sich den Anschein gab, als wollte er Caderousse zurückhalten, der sich mit der Halsstarrigkeit eines Trunkenen aus der Laube hervorneigte. Mach, daß du nicht von der Bank fällst, und laß die Verliebten sich ruhig lieben! Sieh Herrn Fernand an, und nimm dir ein Beispiel an ihm! Er ist vernünftig.

 

Vielleicht wäre Fernand, außer sich und von Danglars ausgestachelt wie der Stier durch die Bandilleros, hinausgestürzt, denn er hatte sich bereits erhoben und schien sich auf seinen Nebenbuhler stürzen zu wollen; aber lachend und mutig erhob Mercedes ihr schönes Haupt und ließ ihren klaren Blick strahlen. Da erinnerte sich Fernand ihrer Drohung, sich den Tod zu geben, wenn Edmond umkäme, und er fiel völlig entmutigt auf seinen Stuhl zurück.

 

Danglars schaute achselzuckend die beiden andern an und murmelte: Was soll man mit solchen Einfaltspinseln machen? Was nützt mir der blöde Neid, der sich im Weine statt in Galle berauscht, und die kindische Verliebtheit, die sich, statt zu handeln, in Klagen und Winseln verzehrt? – Der Anmaßende wird triumphieren, wenn ich nicht die Karten mische, fügte er mit düsterm Lächeln hinzu.

 

Holla, schrie Cadcrousse, sich halb aufrichtend und mit den Fäusten auf den Tisch stützend, holla, Edmond! Siehst du die Freunde nicht, oder bist du bereits zu stolz, um mit ihnen zu sprechen?

 

Nein, mein lieber Caderousse, antwortete Dantes, ich bin nicht zu stolz, ich bin glücklich, und das Glück blendet, glaube ich, noch mehr als der Stolz.

 

Das lasse ich mir gefallen; das ist eine Erklärung, sagte Caderousse. Ei, guten Morgen, Frau Dantes.

 

Mercedes grüßte ernst und erwiderte: Das ist noch nicht mein Name, und in meinem Lande sagt man, es bringe Unglück, wenn man ein Mädchen mit dem Namen ihres Bräutigams anredet, ehe dieser ihr Gatte geworden ist; ich bitte Sie also, nennen Sie mich Mercedes.

 

Die Hochzeit soll also ungesäumt stattfinden, Herr Dantes? fragte Danglars und begrüßte das junge Paar.

 

Sobald als möglich, Herr Danglars. Heute die Verträge bei meinem Vater, und spätestens übermorgen das Hochzeitsmahl hier in der Reserve. Die Freunde werden sich hoffentlich einfinden; das heißt, Sie sind eingeladen, Herr Danglars, und du ebenfalls, Caderousse.

 

Und Fernand? versetzte Caderousse mit einem ekelhaften Gelächter; Fernand auch?

 

Der Bruder meiner Frau ist mein Bruder, und wir könnten es nur mit tiefem Bedauern sehen, Mercedes und ich, wenn er sich in einem solchen Augenblicke von uns fernhielte.

 

Fernand öffnete den Mund, um zu antworten; aber seine Stimme versagte, und er vermochte nicht ein Wort hervorzubringen.

 

Heute Vertrag, übermorgen Hochzeit! Teufel, Sie sind sehr eilig, Kapitän! Was! wir haben Zeit; der Pharao geht nicht vor drei Monaten in See.

 

Man soll das Glück nie versäumen, Herr Danglars, und wenn man lange gelitten hat, scheut man sich, an das Glück zu glauben. Es ist jedoch diesmal nicht die Selbstsucht, die mich treibt; ich muß nach Paris reisen.

 

Ah, wirklich, nach Paris, und Sie kommen zum erstenmal dahin, Dantes? – Ja.

 

Sie haben Geschäfte dort?

 

Nicht für meine Rechnung; es ist ein letzter Auftrag von unserm armen Kapitän Leclère, den ich zu erfüllen habe. Seien Sie übrigens unbesorgt, ich werde mir nur so viel Zeit nehmen, als ich zur Hin- und Herreise brauche.

 

Ja, ja, ich verstehe, sagte Danglars laut; dann fügte er leise hinzu: Nach Paris, ohne Zweifel, um den Brief, den ihm der Großmarschall gegeben hat, an seine Adresse abzuliefern. Bei Gott, dieser Brief bringt mich auf einen vortrefflichen Gedanken. Ha, Dantes, mein Freund! Du stehst in der Liste des Pharao noch nicht unter Nr. 1.

 

Dann rief er dem sich bereits entfernenden Edmond zu: Glückliche Reise!

 

Ich danke, antwortete Edmond, drehte den Kopf um und begleitete diese Bewegung mit einer freundschaftlichen Gebärde. Hieraus setzten die Liebenden ihren Weg fort, ruhig und freudig, wie zwei über die Maßen Glückliche.

 

Das Komplott.

 

Das Komplott.

 

Danglars folgte Edmond und Mercedes mit den Augen, bis sie an einer Ecke des Forts Saint-Nicolas verschwanden. Dann bemerkte er, daß Fernand bleich und zitternd auf seinen Stuhl gesunken war, während Caderousse die Worte eines Trinkliedes stammelte.

 

Ah! mein lieber Herr, sagte Danglars zu Fernand, das ist eine Heirat, die mir nicht alle Leute glücklich zu machen scheint.

 

Sie bringt mich in Verzweiflung, erwiderte Fernand.

 

Sie liebten also Mercedes?

 

Solange wir uns kennen, habe ich sie stets geliebt.

 

Und Sie reißen sich die Haare aus, statt etwas dagegen zu unternehmen? Zum Teufel, ich glaubte nicht, daß die Leute Ihrer Nation so handelten!

 

Was soll ich tun? fragte Fernand.

 

Was weiß ich! Geht es mich an? Ich bin nicht in Fräulein Mercedes verliebt, denk‘ ich, sondern Sie. Suchet, so werdet ihr finden, sagt das Evangelium.

 

Ich wollte den Menschen erdolchen; aber sie sagte mir, wenn ihrem Bräutigam ein Unglück widerführe, so würde sie sich töten.

 

Dummkopf! murmelte Danglars, sie mag sich umbringen oder nicht, wenn nur Dantes nicht Kapitän wird.

 

Und ehe Mercedes stirbt, versetzte Fernand mit dem Tone unerschütterlicher Entschlossenheit, würde ich mir selbst den Tod geben.

 

Das nenne ich Liebe, sagte Caderousse mit einer immer mehr weinschweren Zunge, oder ich verstehe mich nicht darauf.

 

Sie scheinen mir ein braver Bursche zu sein, sagte Danglars, und der Teufel soll mich holen, ich wüßte etwas, Ihre Pein zu enden, denn …

 

Was meinen Sie? sagte Fernand, begierig, weiteres zu hören.

 

Was sagte ich? Ich weiß es nicht mehr! Durch diesen Trunkenbold von Caderousse habe ich den Faden meiner Gedanken verloren. Caderousse hatte den letzten Vers eines damals sehr beliebten Liedes zu singen angefangen:

 

Alle Sünder trinken Wasser,

Wie die Sündflut uns beweist …

 

Sie sagten, mein Herr, versetzte Fernand, Sie wüßten etwas, meine Pein zu enden; dann fügten Sie hinzu …

 

 

Ja, denn es genügt dazu, scheint mir, daß Dantes nicht die heiratet, die Sie lieben, und die Heirat kann, denke ich, wohl unterbleiben, ohne daß Dantes stirbt.

 

Der Tod allein wird sie trennen, erwiderte Fernand.

 

Sie urteilen wie eine Schnecke, mein Freund, sagte Caderousse, und Danglars hier, der ein feiner Bursche, ein Schlaukopf, ein wahrer Grieche ist, wird Ihnen beweisen, daß Sie unrecht haben. Beweise es ihm, Danglars, ich habe mich für dich verbürgt. Sage ihm, es sei nicht nötig, daß Dantes sterbe, Überdies wär‘ es schade, wenn Dantes stürbe, er ist ein guter Kerl … ich liebe ihn … auf Dantes‘ Gesundheit!

 

Fernand erhob sich ungeduldig.

 

Lassen Sie ihn schwatzen, versetzte Danglars, den jungen Mann zurückhaltend. Übrigens, so betrunken er auch ist, so redet er doch die Wahrheit. Die Abwesenheit trennt ebensogut, wie der Tod. Denken Sie sich, es wären zwischen Edmond und Mercedes die Mauern eines Gefängnisses, so würden sie fürs erste nicht minder getrennt sein, als wenn ein Grabstein zwischen ihnen läge.

 

Ja, aber aus dem Gefängnis kommt man zurück, sagte Caderousse, der sich mit den Trümmern seines Verstandes an das Gespräch festklammerte, und wenn man draußen ist und Edmond Dantes heißt, so rächt man sich.

 

Gleichviel, murmelte Fernand.

 

Warum sollte man auch Dantes in ein Gefängnis stecken? Er hat weder geraubt noch gemordet, versetzte Caderousse und leerte abermals ein Glas Wein.

 

Danglars verfolgte in den trüben Augen des Schneiders die Fortschritte der Trunkenheit und sagte sodann zu Fernand: Begreifen Sie nun, daß es nicht nötig wäre, ihn zu töten?

 

Nein, gewiß nicht, hätte man ein Mittel, Dantes festnehmen zu lassen. Aber, besitzen Sie dieses Mittel?

 

Wenn man gut suchte, erwiderte Danglars, könnte man wohl eins finden. Doch zum Teufel, wozu menge ich mich drein? Was geht’s mich an?

 

Ich weiß nicht, ob es Sie angeht, sagte Fernand und faßte ihn am Arme; aber ich weiß, daß Sie irgend einen besonderen Grund zum Haß gegen Dantes haben. Wer selbst haßt, täuscht sich nicht in den Gefühlen der andern.

 

Ich, einen Grund, Dantes zu hassen? Keinen, auf mein Wort. Ich sah Sie unglücklich, und Ihr Unglück erregte meine Teilnahme, das ist alles. Aber, wenn Sie glauben, ich handle für meine eigene Rechnung, Gott befohlen, lieber Freund! Ziehen Sie sich nur aus der Klemme, wie Sie können …

 

Und Danglars stellte sich, als wollte er weggehen.

 

Nein, sagte Fernand, ihn zurückhaltend, bleiben Sie! Es liegt mir am Ende wenig dran, ob Sie Dantes grollen oder nicht. Ich hasse ihn und gestehe es laut. Finden Sie das Mittel, so führe ich es aus, vorausgesetzt, daß es nicht sein Tod ist, denn Mercedes hat gesagt, sie würde sich umbringen, wenn man Dantes tötete. Also her das Mittel – schnell das Mittel!

 

Ja, versetzte Danglars. Die Franzosen sind hierin den Spaniern überlegen. Die Spanier bedenken und erwägen, die Franzosen erfinden. Kellner, eine Feder, Tinte und Papier!

 

Wenn man bedenkt, sagte Caderousse und ließ seine Hand auf das Papier fallen, das der Kellner gebracht hatte, daß hier etwas ist, womit man einen Menschen sicherer verderben kann, als wenn man ihm an der Ecke eines Waldes auflauerte, um ihn zu ermorden! Ich habe immer mehr Furcht vor einer Feder, einer Flasche Tinte und einem Blatt Papier gehabt, als vor einem Degen oder einer Pistole.

 

Der Bursche ist noch nicht so betrunken, wie er aussieht. Schenken Sie ihm ein, Fernand!

 

Fernand füllte Caderousses Glas.

 

Also, ich sagte Ihnen, fuhr Danglars fort, als er sah, daß der letzte Rest von Caderousses Vernunft in dem neuen Glase Wein vollends zu verschwinden anfing, wenn z. B. nach einer Reise, wie sie Dantes gemacht hat, wobei er die Insel Elba berührte, ihn jemand bei dem Staatsanwalt als bonapartistischen Agenten anzeigte …

 

Ich würde ihn anzeigen, sagte lebhaft der junge Mann.

 

Ja, aber dann läßt man Sie Ihre Erklärung unterschreiben. Man stellt Sie dem, den Sie angezeigt haben, gegenüber. Zwar liefere ich Ihnen, was Sie zur Unterstützung Ihrer Anklage brauchen; aber Dantes kann nicht ewig im Gefängnisse bleiben; eines Tages verläßt er es, und dann wehe dem, der ihn hineingebracht hat.

 

Oh! davor ist mir nicht bange, sagte Fernand, er soll nur kommen, Streit mit mir anzufangen.

 

Ja, und Mercedes, die Sie schon haßt, wenn Sie nur das Unglück haben, die Haut ihres geliebten Edmond zu ritzen?

 

Das ist richtig, versetzte Fernand.

 

Nein, nein, sagte Danglars, wenn man sich zu dergleichen entschlösse, so wäre es besser, ganz einfach, wie ich dies eben tue, mit der linken Hand, damit die Schrift nicht erkannt wird, eine kleine Denunziation zu schreiben.

 

Und Danglars schrieb zugleich mit der linken Hand in einer Schrift, die keine Ähnlichkeit mit seiner gewöhnlichen Handschrift hatte, folgende Zeilen, die er Fernand übergab:

 

»Der Herr Staatsanwalt wird von einem Freunde des Thrones und der Religion benachrichtigt, daß Edmond Dantes, Sekond des Schiffes Pharao, heute morgen von Smyrna angelangt ist, nachdem er Neapel und Porto Ferrajo auf Elba berührt hat, von Murat einen Brief für den Usurpator und von dem Usurpator einen Brief für das bonapartistische Komitee in Paris übernommen hat. Den Beweis für sein Verbrechen wird man erlangen, wenn man ihn verhaftet; denn man findet diesen Brief entweder bei ihm oder bei seinem Vater oder in seiner Kajüte an Bord des Pharao.«

 

So ist Ihre Rache vernünftig, fuhr Danglars fort, denn sie kann auf keine Weise auf Sie zurückfallen, und die Sache macht sich ganz von selbst. Man darf diesen Brief nur noch adressieren. Dann wäre alles abgemacht.

 

Und Danglars schrieb die Adresse.

 

Ja, alles wäre abgemacht, rief Caderousse, der mit einer letzten Anstrengung seines Geistes dem Vorlesen gefolgt war und noch dunkel begriff, was für unselige Folgen eine solche Anzeige nach sich ziehen könnte. Ja, alles wäre abgemacht; aber das Ganze wäre eine Schändlichkeit. Und er streckte den Arm aus, um den Brief zu nehmen. Danglars aber stieß das Papier beiseite und erwiderte: Was ich sage und hier mache, geschieht doch nur im Scherz, und es würde mir vor allem leid tun, wenn Dantes, dem guten Dantes etwas widerführe. Seht selbst … und er zerknitterte den Brief und warf ihn in eine Ecke der Laube.

 

So ist es gut, sagte Caderousse, Dantes ist mein Freund, und ich will nicht, daß man ihm Böses zufüge.

 

Wer zum Teufel denkt daran, ihm Böses zuzufügen? Ich nicht, Fernand auch nicht, sagte Danglars, stand auf und sah dabei den jungen Mann an, der sitzen geblieben war, aber beständig nach dem in die Ecke geworfenen verräterischen Papier schielte.

 

Dann Wein her, sagte Caderousse. Ich will auf die Gesundheit von Edmond und der schönen Mercedes trinken.

 

Nein, für heute haben wir genug, es ist Zeit, nach Hause zu kommen. Gib mir den Arm und laß uns gehen, sagte Danglars und zog Caderousse in der Richtung von Marseille mit sich fort.

 

Als er aber zwanzig Schritte gemacht hatte, wandte er sich um und sah, daß sich Fernand auf das Papier stürzte, es sogleich in die Tasche steckte und sich dann eiligst aus der Laube entfernte.

 

Gut, gut, murmelte Danglars, die Sache ist im Gange, und man darf ihr nur ihren Lauf lassen.

 

Nummer 34 und Nummer 27.

Nummer 34 und Nummer 27.


Dantes durchlief alle Stufen des Unglücks, welche den im Kerker der Vergessenheit überantworteten Gefangenen bevorstehen.


Die erste Stufe war der Stolz, eine Folge der Hoffnung und eines unschuldigen Gewissens. Dann fing er an, an seiner Unschuld zu zweifeln, was die Ansichten des Gouverneurs, sein Geist sei zerrüttet, einigermaßen rechtfertigte. Endlich sank er von der Höhe seines Stolzes herab; er flehte noch nicht zu Gott, aber zu den Menschen. Der Unglückliche, der mit dem Herrn anfangen sollte, gelangt erst dazu, auf ihn zu hoffen, wenn er alle andern Hoffnungen erschöpft hat.


Dantes flehte also, man möchte ihn aus seinem Kerker ziehen und ihn in einen andern bringen, und wäre er auch noch finsterer und tiefer. Eine Veränderung, ganz gleich was für eine, war doch immer eine Veränderung und sollte ihm wenigstens für ein paar Tage Zerstreuung verschaffen. Er bat um einen Spaziergang, um Luft, Bücher, Instrumente. Nichts wurde ihm gewährt. Trotzdem fuhr er fort zu flehen. Er hatte sich daran gewöhnt, mit seinem neuen Gefangenenwärter zu sprechen, obgleich dieser womöglich noch stummer war, als der vorhergehende; aber mit einem Menschen zu sprechen, wenn auch mit einem stummen, war für den Armen schon ein Vergnügen; er redete, um den Ton seiner eigenen Stimme zu hören. Er hatte auch versucht, zu sprechen, wenn er allein war, aber dann fürchtete er sich vor sich selbst.


Eines Tages ersuchte er sogar den Kerkermeister, er möge dem Gouverneur seine Bitte um einen Gefährten vortragen, und wäre es auch der verrückte Abbé, von dem er hatte sprechen hören; man schlug ihm seine Bitte ab.


Nachdem Dantes vergeblich alle menschlichen Hilfsmittel erschöpft hatte, kehrte er, wie es nicht anders sein konnte, zu Gott zurück. Er erinnerte sich der Gebete, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, und fand in ihnen einen ihm früher unbekannten Sinn; er betete aber nicht mit Inbrunst, sondern mit Leidenschaft. Wenn er laut betete, erschrak er auch nicht mehr über seine Worte, sondern er geriet in Entzückung; er sah Gott bei jedem Worte erscheinen, das er aussprach. Alle Handlungen seines bescheidenen Lebens bezog er auf den Willen dieses mächtigen Gottes, entnahm sich Lehren daraus und stellte sich Aufgaben, die er erfüllen wollte, und am Ende jedes Gebetes schlich sich der eigennützige Wunsch ein, den die Menschen viel öfter an ihre Mitmenschen, als an Gott zu richten Gelegenheit haben: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!


Trotz seiner heißen Gebete blieb Dantes gefangen.


Nun verdüsterte sich sein Geist, und die Wolke vor seinen Augen wurde immer schwerer. Dantes war ein einfacher Mensch ohne Erziehung und ohne größeres Wissen, das ihm in seiner Einsamkeit hätte Trost und Unterhaltung bieten können. Auf seine schwärmerisch-religiöse Aufregung folgte die Wut. Er schleuderte Gotteslästerungen um sich, vor denen der Kerkermeister vor Abscheu zurückwich. Er raste mit seinem Leibe gegen die Mauern des Gefängnisses, er griff in voller Wut nach allem, was ihn umgab, bei dem geringsten Ärger, den ein Sandkorn, ein Strohhalm, ein Windhauch in ihm erregte. Dann erinnerte er sich des denunzierenden Briefes, den er gesehen, den ihm Villefort gezeigt, den er berührt hatte, und jeder Buchstabe kam wie ein züngelndes Feuer aus der Mauer hervor. Er sagte sich, es sei der Haß der Menschen und nicht die Rache Gottes, die ihn in diesen Abgrund gestürzt. Er überlieferte diese unbekannten Menschen allen Strafen, die seine glühende Einbildungskraft zu ersinnen vermochte, und fand, daß die furchtbarsten noch zu leicht und besonders zu kurz für sie wären; denn nach den Strafen kam der Tod, und der Tod war, wenn nicht die Ruhe, doch wenigstens die Unempfindlichkeit, die ihr gleicht.


Dadurch, daß er sich in Beziehung auf seine Feinde immer wieder sagte, die Ruhe sei im Tode, und der, welcher grausam bestrafen wolle, bedürfe anderer Mittel, als des Todes, verfiel er auf Selbstmordgedanken. Wehe dem, der auf dem Abhang des Unglücks bei diesen unseligen Gedanken stille steht! Wird man von ihnen einmal recht gepackt, so ist alles vorbei, und jeder Versuch, den er unternimmt, reißt den Unglücklichen nur noch mehr in die Arme des Todes.


Sobald dieser Gedanke in dem Geiste des jungen Mannes gekeimt hatte, wurde er sanfter, freundlicher, er fügte sich besser in sein hartes Bett und in sein schwarzes Brot, aß weniger, schlief nicht mehr und fand diesen Rest des Daseins, den er ja, wann er wollte, von sich zu werfen vermochte, fast erträglich. Es gab zwei Mittel zu sterben. Das eine war einfach: er durfte nur sein Taschentuch an eine Fensterstange binden und sich daran hängen; das andere bestand darin, daß er sich stellte, als äße er, und sich doch Hungers sterben ließ. Das erste widerstrebte Dantes. Er war im Abscheu vor den Seeräubern aufgewachsen, vor diesen Menschen, die man an den Raen aufhängt; das Hängen war für ihn eine Art von entehrender Strafe, die er nicht an sich selbst vollziehen wollte. Er wählte also das zweite Mittel und begann die Ausführung noch an demselben Tage.


Es waren nun beinahe vier Jahre hingegangen. Am Ende des zweiten hatte Dantes die Tage zu zählen aufgehört und von neuem die Kenntnis der Zeit verloren. Er hatte sich gesagt: Ich will sterben, und die Todesart gewählt; er hatte sich die Tat fest vorgenommen und aus Furcht, er könnte von seinem Entschlusse abgehen, sich selbst einen Eid geleistet, so zu sterben. Wenn man mir mein Frühstück und mein Abendbrot bringt, sagte er sich, so werfe ich die Speisen zum Fenster hinaus, und man wird glauben, ich habe sie verzehrt.


Er tat, wie er es sich gelobt hatte. Zweimal des Tages warf er durch die kleine, vergitterte Öffnung, die ihn nur den Himmel erschauen ließ, die Speisen, anfangs heiter, dann mit Überlegung und endlich mit Bedauern. Die Lebensmittel, die ihn einst angewidert hatten, ließ jetzt der scharfzähnige Hunger seinem Auge appetitlich und seiner Nase köstlich erscheinen. Zuweilen hielt er eine Stunde lang die Platte, auf der sie lagen, in der Hand, das Auge starr auf ein Stück faules Fleisch, auf den übelriechenden Fisch und auf das schwarze, schimmelige Brot richtend. Es waren die letzten Instinkte des Lebens, die noch in ihm kämpften und seinen Entschluß wankend machten. Dann erschien ihm sein Kerker nicht mehr so düster und sein Zustand minder verzweiflungsvoll. Er war noch jung, er mußte erst fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt sein, es blieben ihm noch fünfzig Jahre zu leben übrig, das heißt, zweimal so viel, als er bereits gelebt hatte. Welche Ereignisse konnten während dieses unermeßlichen Zeitraumes die Türen sprengen, die Mauern des Kastells If umstürzen und ihm die Freiheit wiedergeben! Dann näherte er seine Zähne dem Mahle, das er, ein freiwilliger Tantalus, selbst von seinem Munde entfernte. Doch er erinnerte sich seines Schwures, und seine edle Natur schrak zu sehr davor zurück, sich selbst verachten zu müssen, als daß sie diesen Schwur verletzt hätte. Er zerstörte also streng und unbarmherzig das wenige Leben, das ihm noch übrig blieb, und es erschien ein Tag, wo er nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen, um das Abendbrot, das man ihm brachte, durch das Luftloch zu werfen.


Am andern Tage sah er nichts mehr, und auch sein Gehör war schon merklich schwächer geworden. Der Kerkermeister glaubte an eine ernste Krankheit; Edmond hoffte auf einen nahen Tod. So verlief der Tag. Edmond fühlte, daß eine Art Erstarrung, die ihm ein gewisses Wohlbehagen bereitete, sich seiner bemächtigte. Die Zuckungen seines Magens hatten sich gemildert. Wenn er die Augen schloß, sah er eine Anzahl glänzender Punkte, Irrlichtern gleich, über die Wände tanzen. Es war die Dämmerung des unbekannten Landes, das man den Tod nennt.


Plötzlich vernahm er abends 9 Uhr ein dumpfes Geräusch an der Wand, an der er lag. – Ratten und ähnliche Tiere hatten in seinem Kerker so oft Lärm gemacht, daß Edmond allmählich in seinem Schlaf durch solche Kleinigkeiten nicht mehr gestört wurde. Aber dieser Lärm war so stark und so eigentümlich, daß er sich erhob, um besser zu hören.


Es war ein Kratzen, das von einer ungeheuren Kralle, einem mächtigen Zahn, oder vom Druck irgend eines Werkzeuges auf die Steine herzurühren schien.


Trotz seines geschwächten Zustandes wurde der junge Mann durch den beständig den Geist des Gefangenen beschäftigenden Gedanken an die Freiheit heftig bewegt. Da aber dieses Geräusch gerade in dem Augenblick laut wurde, wo alles Geräusch für ihn aufhören sollte, so schien es ihm, als wollte sich Gott endlich barmherzig gegen seine Leiden zeigen und ihm durch dieses Geräusch verkündigen, er solle am Rande des Grabes, an dem bereits sein Fuß wankte, still stehen. Wer konnte wissen, ob nicht einer von seinen Freunden, eines von den geliebten Wesen, an die er so oft gedacht hatte, sich in diesem Augenblicke mit ihm beschäftigte und die Entfernung, die sie voneinander trennte, aufzuheben suchte?


Aber nein, er täuschte sich ohne Zweifel und wurde von einem Traume verführt, wie sie die Pforte des Todes umschweben.


Jedoch das Geräusch hörte nicht auf; es dauerte ungefähr drei Stunden; dann vernahm Edmond eine Art von Rollen, und nun verstummte das Geräusch, um erst nach einigen Stunden wieder näher und näher zu ertönen. Schon war sein Interesse für diese sonderbaren Töne, die auf ihn Beziehung zu haben schienen, erwacht, da plötzlich trat der Gefangenwärter ein.


Seit den acht Tagen, da er zu sterben beschlossen hatte, hatte Edmond mit diesem Menschen kein Wort gesprochen. Er antwortete ihm nicht, wenn er ihn fragte, von welcher Krankheit er befallen sei, und wandte sich nach der Mauer um, wenn er zu aufmerksam betrachtet wurde. Aber heute fürchtete er, der Wärter könnte das dumpfe Geräusch vernehmen, sich darüber beunruhigen, ihm ein Ende bereiten und so irgend eine Hoffnung zerstören, die schon in der Vorstellung Dantes‘ letzte Augenblicke verschönerte.


Er erhob sich daher in seinem Bette und begann, seine Stimme möglichst verstärkend, über alle möglichen Gegenstände zu sprechen, über die schlechten Speisen, die man ihm brachte, über die Kälte, die er in seinem Kerker leiden müsse; er murrte und brummte und ermüdete die Geduld des Wärters, der gerade an diesem Tage sich für den Gefangenen Fleischbrühe und ein weißes Brot erbeten hatte. Zum Glücke glaubte er, Dantes rede im Fieber; er stellte die Speisen auf den schlechten, wackligen Tisch und entfernte sich.


Nun fing Edmond wieder an, freudig zu horchen. Das Geräusch wurde so deutlich, daß er es jetzt ohne die geringste Anstrengung hören konnte.


Es unterliegt keinem Zweifel mehr, sagte er zu sich selbst, da dieses Geräusch fortdauert, obgleich es bereits Tag ist, so muß es ein unglücklicher Gefangener wie ich sein, der an seiner Befreiung arbeitet. Oh! wenn ich bei ihm wäre, wie wollte ich ihn unterstützen!


Dann schwand plötzlich wieder die Hoffnung in seinem Gehirn, das an das Unglück gewöhnt war und nur schwer an etwas Freudiges glauben konnte. Er kam auf den Gedanken, das Geräusch werde durch Arbeiter verursacht, die der Gouverneur irgend eine Mauerarbeit machen lasse.


Er konnte sich hiervon leicht überzeugen; aber wie sollte er eine Frage wagen? Er konnte allerdings warten, bis sein Kerkermeister wiederkäme, konnte ihn das Geräusch hören lassen und seine Miene beobachten, wenn er es hörte. Aber hieß das nicht die kostbarsten Interessen für einen kurzen Genuß verraten? Edmond fand nur ein Mittel, scharfe Überlegung und klares Urteil wiederzugewinnen: er wandte seine Augen nach der noch rauchenden Fleischbrühe, die der Gefangenwärter auf den Tisch gestellt hatte, ging wankend hin, setzte die Tasse an den Mund und schlürfte den Trank mit einem unbeschreiblichen Gefühle des Wohlbehagens.


Dann besaß er den Mut, sich fürs erste hiermit genügen zu lassen; er erinnerte sich, gehört zu haben, daß unglückliche Schiffbrüchige, die man vor Hunger entkräftet gefunden hatte, daran gestorben waren, daß sie zu gierig Speisen verschlangen. Er setzte daher das Brot, das er bereits zum Munde führte, auf den Tisch und legte sich wieder nieder. Bald fühlte er, daß der Tag in sein Gehirn zurückkehrte; er konnte wieder denken und seine Gedanken ordnen.


Dann sagte er zu sich selbst: Man muß die Probe machen, aber ohne jemand zu gefährden. Ist der, dessen Geräusch ich vernehme, ein gewöhnlicher Arbeiter, so brauche ich nur an die Mauer zu schlagen, und er wird sogleich seine Tätigkeit einstellen und zu erraten suchen, wer der Schlagende ist, und in welcher Absicht er schlägt. Da aber seine Arbeit befohlen ist, so wird er sie bald wieder fortsetzen. Ist er jedoch ein Gefangener, so wird ihn der Lärm erschrecken. Er wird befürchten, entdeckt zu werden, seine Arbeit aufgeben und erst am Abend, wenn er alles schlafend glaubt, von neuem beginnen.


Sogleich erhob sich Edmond zum zweitenmal. Diesmal wankten seine Beine nicht mehr, und seine Augen waren nicht mehr geblendet. Er ging in eine Ecke seines Gefängnisses, machte einen durch die Feuchtigkeit unterhöhlten Stein los und schlug gerade an der Stelle, wo das Geräusch am deutlichsten war, an die Mauer.


Er klopfte dreimal. – Schon beim ersten Schlage hörte das Geräusch wie durch einen Zauber auf. Edmond horchte mit aller Anstrengung. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, kein neues Geräusch ließ sich vernehmen. Voll Hoffnung aß Edmond einige Bissen von seinem Brot, trank ein paar Schluck Wasser, und bei der vorzüglichen Körperbeschaffenheit, mit der ihn die Natur begabt halte, befand er sich beinahe wieder wie zuvor.


Der Tag verging, die Stille dauerte fort. Die Nacht kam, ohne daß das Geräusch wieder begonnen hatte.


Es ist ein Gefangener, sagte Edmond mit unbeschreiblicher Freude zu sich selbst. Von dieser Zeit an erhellte sich sein Geist, und die Lust zum Leben erwachte mit voller Kraft. Die Nacht ging vorüber, ohne daß sich das geringste vernehmen ließ. Edmond schloß aber in dieser Nacht die Augen nicht.


Der Tag erschien, und der Gefangenwärter brachte die gewöhnlichen Lebensmittel. Edmond hatte die vorigen bereits verschlungen; er verschlang auch diese, horchte unablässig auf das Geräusch, das nicht wieder kam, fürchtete, es könnte für immer aufgehört haben, legte fünf bis sechs Meilen in seinem Kerker zurück, rüttelte zwei Stunden lang an den eisernen Stangen seines Luftloches und gab seinen Gliedern dadurch die längst entbehrte Geschmeidigkeit und Stärke wieder. In den Zwischenräumen dieser fieberhaften Tätigkeit horchte er, ob das Geräusch nicht wiederkehrte, und er ärgerte sich über die Klugheit des Gefangenen, der nicht vermuten konnte, daß er in seinem Befreiungswerke von einem andern Gefangenen gestört worden sei, der wenigstens ebenso große Eile hatte, frei zu werden, wie er selbst.


Es vergingen drei Tage, zweiundsiebzig tödliche Stunden, Minute um Minute abgezählt.


Endlich, eines Abends, als der Wärter seinen letzten Besuch gemacht hatte, als Dantes zum hundertstenmal sein Ohr an die Wand hielt, schien es ihm, als ob eine unmerkliche Erschütterung dumpf in seinem Kopfe, den er an die schweigenden Steine gelegt hatte, wiederklinge.


Er wich zurück, um sein erregtes Gehirn ins Gleichgewicht zu bringen. Dann machte er einige Schritte im Zimmer und hielt nun erst wieder sein Ohr an denselben Ort. Es unterlag keinem Zweifel mehr, es ging etwas auf der anderen Seite vor. Der Gefangene hatte die Gefahr erkannt und, um seine Arbeit sicherer fortzusetzen, statt eines Meißels ein Hebeisen genommen.


Durch diese Entdeckung ermutigt, beschloß Edmond, dem unbekannten Arbeiter zu Hilfe zu kommen. Er fing damit an, daß er sein Bett wegrückte, hinter dem ihm das Befreiungswerk ausgeführt zu werden schien; dann suchte er einen Gegenstand, mit dem er die Wand aufritzen, den feuchten Mörtel herausbrechen und einen Stein losmachen könnte. – Nichts zeigte sich seinem Auge. Er besaß weder ein Messer, noch irgend ein anderes schneidendes Instrument. Eisen war nur an seinen Fensterstangen vorhanden, und er hatte sich oft genug überzeugt, daß sie zu fest eingelötet waren, um sich lösen zu lassen.


Das ganze Gerät seines Zimmers bestand aus einem Bett, einem Stuhle, einem Tische, einem Eimer und einem Kruge. An dem Bett waren wohl eiserne Bänder, aber sie waren durch Schrauben am Holz befestigt. Man hätte einen Schraubenzieher haben müssen, um sie loszumachen. An dem Tische und dem Stuhle war nichts. Am Eimer fehlte der Henkel. Es gab für Dantes nur noch ein Mittel: seinen Krug zu zerbrechen und mit einem Scherben sich an die Arbeit zu machen. Er ließ seinen Krug auf den Boden fallen, daß er in Stücke zerbrach. Dantes wählte einige spitzige Scherben, verbarg sie in seinem Strohsack und ließ die andern auf der Erde liegen. Das Zerbrechen des Kruges war eine so nahe liegende Möglichkeit, daß es keinen Argwohn erregen konnte.


Edmond hatte die ganze Nacht zum Arbeiten; doch in der Dunkelheit ging es schlecht vorwärts, denn er mußte tastend arbeiten, und er fühlte bald, daß sich sein schwaches Werkzeug an dem Sandstein abstumpfte, der härter war, als das Instrument. Er stieß also sein Bett wieder zurück und wartete den Tag ab. Mit der Hoffnung war auch die Geduld zurückgekehrt. Die ganze Nacht hindurch hörte und horchte er auf den unbekannten Gräber, der sein unterirdisches Werk fortsetzte.


Der Tag erschien, und der Wärter trat ein. Dantes erzählte ihm, er habe am Abend zuvor aus dem Kruge getrunken; er sei seinen Händen entschlüpft, auf den Boden gefallen und zerbrochen. Der Wärter ging brummend fort, um einen neuen zu holen, ohne daß er sich nur die Mühe gab, die Stücke des alten zusammenzulesen und mitzunehmen.


Dantes hörte mit unsäglicher Freude das Klirren des Schlosses, dessen Zuschließen ihm früher das Herz zusammenschnürte. Er vernahm, wie die Schritte sich nach und nach entfernten. Sobald das Geräusch völlig erloschen war, sprang er nach seinem Lager, das er von seiner Stelle rückte, und beim Scheine des schwachen Tageslichts, das in seinen Kerker drang, konnte er sehen, welche nutzlose Arbeit er in der Nacht vorher getan hatte, er hatte nämlich den Stein selbst angegriffen statt den Kalk ringsum. Dieser Kalk war durch die Feuchtigkeit zerreibbar geworden. Dantes sah mit freudigem Herzklopfen, daß er sich in Bruchstücken ablöste, und nach Verlauf einer halben Stunde hatte er ungefähr eine Handvoll losgemacht. Ein Mathematiker hätte berechnen können, daß man mittels zweijähriger Arbeit, vorausgesetzt, man stieß auf keinen Felsen, sich auf diese Weise einen Gang von zwei Quadratfuß und von zwanzig Fuß Tiefe zu graben im stande gewesen wäre.


Der Gefangene machte es sich nun zum Vorwurf, daß er die vielen abgelaufenen Stunden, die er in der Hoffnung, im Gebete und in der Verzweiflung verloren, nicht zu dieser Arbeit verwendet hatte. In den sechs Jahren, die er ungefähr in diesem Kerker eingeschlossen war … welche Arbeit hätte er nicht, so langsam sie auch vor sich ging, vollendet! – Dieser Gedanke verlieh ihm neuen Eifer.


In drei Tagen gelang es ihm mit unerhörter Vorsicht, allen Mörtel wegzuschaffen und den Stein bloßzulegen. Die Wand war von Bruchsteinen gemacht, in die man, um ihr mehr Festigkeit zu geben, von Zeit zu Zeit einen behauenen Stein eingefügt hatte. Er hatte gerade an einem von den behauenen Steinen gearbeitet, und es handelte sich nun darum, ihn in seiner Lage zu erschüttern. Dantes versuchte es mit seinen Nägeln, aber seine Nägel waren hierfür ungenügend. Die in die Zwischenräume geschobenen Scherben zerbrachen aber, sobald sich Dantes ihrer als Hebel bedienen wollte. Nach einer Stunde fruchtloser Versuche erhob er sich mit Angstschweiß auf der Stirn.


Sollte er schon am Anfange seiner Arbeit gehemmt werden, und mußte er träge und unnütz warten, bis sein Nachbar, der ebenfalls müde werden konnte, alles getan hatte?


Der Gefangenwärter brachte Dantes‘ Suppe jeden Tag in einer blechernen Kasserolle. Diese Kasserolle enthielt seine Suppe und die eines zweiten Gefangenen, denn Dantes hatte bemerkt, daß dieselbe entweder ganz voll oder halb leer war, je nachdem der Schließer die Verteilung der Lebensmittel bei ihm oder seinem Gefährten anfing. Die Kasserolle hatte einen eisernen Stiel. Nach diesem Stiele trachtete Dantes, er hätte ihn, wenn es sein mußte, mit zehn Jahren seines Lebens bezahlt. Der Gefangenwärter goß den Inhalt der Kasserolle auf Dantes‘ Teller.


Am Abend stellte Dantes seinen Teller halbwegs zwischen Tür und Tisch auf den Boden. Als der Wärter eintrat, setzte er den Fuß auf den Teller und zerbrach ihn in tausend Stücke. Diesmal war nichts gegen Dantes zu sagen. Er hatte unrecht, seinen Teller auf dem Boden zu lassen; aber von dem Wärter war es unvorsichtig gewesen, nicht vor seine Füße zu schauen. Der letztere brummte, dann schaute er sich nach einem Gegenstand um, in den er die Suppe gießen könnte; Dantes‘ Mobiliar beschränkte sich auf diesen einzigen Teller, und es gab keine Wahl.


Lassen Sie die Kasserolle hier, sagte Dantes, Sie können sie wieder mitnehmen, wenn Sie morgen mein Frühstück bringen.


Dieser Rat schmeichelte der Trägheit des Gefangenwärters. Er hatte nicht nötig, hinaufzusteigen, wieder herabzusteigen und abermals hinaufzusteigen. Er ließ die Kasserolle zurück. Dantes bebte vor Freude. Diesmal verschlang er rasch seine Suppe und das Fleisch, das darin lag. Nachdem er eine Stunde gewartet hatte, um sicher zu sein, der Gefangenwärter würde nicht andern Sinnes werden, rückte er sein Bett auf die Seite, nahm seine Kasserolle, schob den Stiel zwischen den bloßgelegten Stein und die benachbarten Bruchsteine und fing an, sich desselben als Hebel zu bedienen. Nach Verlauf einer Stunde war wirklich der Stein aus der Mauer gezogen, in der er eine Aushöhlung von mehr als anderthalb Fuß im Durchmesser ließ.


Dantes sammelte sorgfältig allen Kalk, trug ihn in die Ecken seines Gefängnisses, kratzte die graue Erde mit einem von den Bruchstücken seines Kruges auf und bedeckte den Kalk damit.


Da er diese Nacht benutzen wollte, in der ihm der Zufall, oder vielmehr sein erfinderischer Geist ein so kostbares Werkzeug in die Hände gab, so fuhr er mit aller Anstrengung zu graben fort. Bei Tagesanbruch setzte er den Stein wieder in sein Loch, stieß sein Bett an die Wand und legte sich nieder.


Sein Frühstück bestand aus einem Stück Brot. Der Gefangenwärter trat ein und legte das Brot auf den Tisch.


Wie, Sie bringen mir keinen andern Teller? sagte Dantes.


Nein, sagte der Schließer, bei Ihnen wird alles zerbrochen, Sie haben den Krug zertrümmert und sind schuld, daß ich Ihren Teller in Stücke trat. Wenn alle Gefangenen so viel Schaden anrichten würden, könnte es die Regierung nicht mehr bezahlen. Sie behalten die Kasserolle hier und bekommen die Suppe hinein; dann werden Sie wohl das Geschirr nicht mehr zerbrechen.


Dantes schlug die Augen zum Himmel auf und faltete seine Hände auf dem Bette. Dieses ihm überlassene Stück Eisen erzeugte in seinem Herzen ein Gefühl der Dankbarkeit, wie es in seinem früheren Leben die größten Güter, die ihm zugeflossen waren, niemals erzeugt hatten. Nur war es ihm nicht entgangen, daß, seitdem er zu arbeiten begonnen, der andere Gefangene nicht mehr arbeitete. Ganz gleich, das war kein Grund, von dem Unternehmen abzustehen. Kam sein Nachbar nicht zu ihm, so ging er zum Nachbar. Er arbeitete den ganzen Tag ohne Unterlaß. Am Abend hatte er mit Hilfe seines neuen Werkzeuges mehr als zehn Hände voll Trümmer von Bruchsteinen und Mörtel aus der Mauer gezogen.


Als die Stunde des Besuches kam, richtete er, so gut er konnte, den gebogenen Stiel der Kasserolle wieder gerade und stellte das Gefäß an seinen gewöhnlichen Platz. Der Schließer schüttete die vorgeschriebene Ration hinein; dann entfernte er sich wieder. Diesmal wollte Dantes sich vergewissern, ob sein Nachbar wirklich seine Arbeit eingestellt hätte. Er horchte. Alles blieb still, wie während der drei Tage, wo die Arbeiten unterbrochen worden waren. Dantes seufzte. Sein Nachbar mißtraute ihm offenbar. Er ließ sich jedoch nicht entmutigen und setzte seine Arbeit die ganze Nacht fort; doch nach zwei bis drei Stunden stieß er auf ein Hindernis. Das Eisen faßte nicht mehr, sondern glitt aus; Dantes berührte das Hemmnis mit seinen Händen und bemerkte, daß es ein Balken war, der das mühsam ausgegrabene Loch gänzlich versperrte, so daß er darüber oder darunter graben mußte. An ein solches Hindernis hatte der unglückliche junge Mann nicht gedacht.


Oh! mein Gott, mein Gott! Ich habe dich doch so sehr gebeten, daß ich hoffte, du würdest mich erhören! Mein Gott, der du mir die Freiheit des Lebens, der du mir die Ruhe des Todes genommen, der du mich zum Dasein zurückgerufen hast, mein Gott! habe Mitleid mit mir und laß mich nicht in Verzweiflung sterben! rief Dantes erregt aus.


Wer spricht zugleich von Gott und von Verzweiflung? ließ sich eine Stimme vernehmen, die unter der Erde hervorzukommen schien und wie ein Grabeston zu dem jungen Mann drang.


Edmond fühlte, wie sich die Haare auf seinem Haupte sträubten, und wich auf den Knien zurück.


Ah! murmelte er, ich höre einen Menschen sprechen.


Seit vier oder fünf Jahren hatte Edmond nur die Stimme seines Kerkermeisters gehört, und für den Gefangenen ist der Kerkermeister kein Mensch. Er ist eine lebende Tür, ein Riegel von Fleisch.


Im Namen des Himmels! rief Dantes, Sie, der Sie gesprochen haben, sprechen Sie weiter, obgleich Ihre Stimme mich erschreckt hat. Wer sind Sie?


Wer sind Sie selbst? fragte die Stimme.


Ein unglücklicher Gefangener, versetzte Dantes.


Ihr Name? – Edmond Dantes. – Wie lange sind Sie hier? – Seit dem 28. Februar 1815. – Ihr Verbrechen? – Ich bin unschuldig. – Wessen klagt man Sie an? – Für die Rückkehr des Kaisers konspiriert zu haben.


Wie? Für die Rückkehr des Kaisers? Der Kaiser ist also nicht mehr auf dem Throne?


Er hat in Fontainebleu im Jahre 1814 entsagt und ist auf die Insel Elba verbannt worden. Aber wie lange sind Sie denn hier, daß Sie dies nicht wissen?


Seit 1811.


Dantes bebte; dieser Mann war vier Jahre länger im Gefängnis, als er.


Es ist gut, graben Sie nicht mehr! versetzte die Stimme schnell sprechend. Sagen Sie mir nur, auf welcher Höhe sich die Aushöhlung befindet, die Sie gemacht haben.


Dem Boden gleich. – Wie ist sie verborgen? – Hinter meinem Bette. – Wohin geht Ihr Zimmer? – Nach einem Gange, der nach dem Hofe mündet. – Ach! murmelte die Stimme.


Oh! mein Gott, was gibt es denn? rief Dantes.


Ich habe mich getäuscht, die Unvollkommenheit meiner Zeichnungen hat mich betrogen, der Mangel eines Kompasses hat mich zu Grunde gerichtet; eine Linie des Irrtums auf meinem Plane bedeutet fünfzehn Fuß in der Wirklichkeit, und ich hielt die Mauer, die Sie durchhöhlen, für die der Zitadelle.


Aber dann wären Sie an das Meer gekommen!


Das wollte ich, ich warf mich in die See, ich erreichte schwimmend eine von den Inseln, die das Kastell If umgeben, oder auch die Küste, und ich war gerettet.


Hätten Sie so weit schwimmen können?


Gott würde mir die Kraft verliehen haben; doch nun ist alles verloren. – Alles?


Ja. Stopfen Sie Ihr Loch wieder vorsichtig zu, arbeiten Sie nicht mehr, bekümmern Sie sich um nichts mehr, und erwarten Sie Kunde von mir.


Sagen Sie mir doch wenigstens, wer Sie sind. Ich bin … ich bin Nummer 27.


Sie mißtrauen mir also? fragte Dantes.


Edmond glaubte, ein bitteres Lachen zu hören. Oh! ich bin ein guter Christ! rief er, denn er fühlte instinktartig, daß der andere ihn verlassen wollte; ich schwöre Ihnen, daß ich mich eher töten lasse, als daß Ihre Henker, die zugleich die meinen sind, durch mich einen Schatten der Wahrheit zu sehen bekommen. Doch im Namen des Himmels, berauben Sie mich nicht Ihrer Gegenwart, berauben Sie mich nicht Ihrer Stimme, oder ich schwöre Ihnen, denn meine Kräfte gehen zu Ende, ich zerschmettere mir den Schädel an der Wand, und Sie haben sich meinen Tod vorzuwerfen.


Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.


Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit, seitdem ich hier bin, nicht messen können. Ich weiß nur, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.


Noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahre; in diesem Alter ist man noch kein Verräter, murmelte die Stimme.


Oh! nein! Ich schwöre es Ihnen, wiederholte Dantes. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es, ich lasse mich eher in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verrate.


Sie haben wohl daran getan, mit mir zu sprechen, Sie haben wohl daran getan, mich zu bitten; denn ich war im Begriff, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu entfernen. Aber Ihr Alter beruhigt mich; ich werde wieder zu Ihnen kommen, warten Sie auf mich!


Wann?


Ich muß alles erwägen und werde Ihnen ein Zeichen geben.


Doch Sie verlassen mich nicht? Ich muß nicht allein bleiben? Sie kommen zu mir, oder Sie erlauben mir, zu Ihnen zu gehen. Wir fliehen miteinander, und wenn wir nicht fliehen können, so sprechen wir, Sie von Menschen, die Sie lieben, und ich von Menschen, die ich liebe. Sie müssen irgend jemand lieben?


Ich bin allein auf der Welt.


Dann lieben Sie mich! Sind Sie jung, so werde ich Ihr Kamerad; sind Sie alt, so bin ich Ihr Sohn. Ich habe einen Vater, der siebzig Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt. Ich liebte nur ihn und ein junges Mädchen, namens Mercedes. Mein Vater hat mich nicht vergessen, dessen bin ich sicher; aber sie, Gott weiß, ob sie noch an mich denkt. Ich werde Sie lieben, wie ich meinen Vater liebte.


Es ist gut, erwiderte der Gefangene, morgen!


Diese Worte wurden mit einem Tone ausgesprochen, der Dantes überzeugte. Mehr verlangte er nicht; er stand auf, traf dieselben Vorsichtsmaßregeln in Bezug auf die Mauertrümmer, wie er sie früher getroffen hatte, und stieß sein Bett wieder an die Wand.


Von diesem Augenblick an überließ sich Dantes ganz und gar seinem Glück. Er hoffte sicher, nicht mehr allein zu sein, er hoffte sogar, vielleicht frei zu werden. Im schlimmsten Falle hatte er, wenn er Gefangener blieb, einen Gefährten. Geteilte Gefangenschaft aber ist nur halbe Gefangenschaft. Den ganzen Tag ging Dantes freudigen Herzens in seinem Kerker auf und ab. Er setzte sich auf sein Bett und preßte seine Brust mit der Hand. Bei dem geringsten Geräusch, das er im Gang vernahm, sprang er nach der Tür. Ein paarmal stieg ihm die Furcht zu Kopf, man könnte ihn von diesem Manne trennen, den er nicht kannte und doch schon wie einen Freund liebte. Dann war er entschlossen; in dem Augenblick, wo der Kerkermeister sein Bett wegrückte und sich bückte, um die Öffnung zu untersuchen, wollte er ihm mit dem Boden seines Kruges den Schädel einschlagen. Man verurteilte ihn dann zum Tode, das wußte er wohl; mußte er aber nicht vor Zorn und Verzweiflung in dem Augenblick sterben, wo ihn dieses wunderbare Geräusch dem Leben zurückgegeben hatte?



Am Abend kam der Wärter. Dantes lag auf seinem Bette; es kam ihm vor, als bewachte er so die unvollendete Öffnung besser. Ohne Zweifel betrachtete er den ungelegenen Besuch mit sonderbaren Augen, denn dieser sagte: Wie, sollten Sie wieder ein Narr werden?


Dantes antwortete nicht, er fürchtete, die Aufregung seiner Stimme könnte ihn verraten, und der Mann entfernte sich, den Kopf schüttelnd.


Als die Nacht eingetreten war, glaubte Dantes, sein Nachbar würde die Stille und Dunkelheit benutzen, um das Gespräch wieder mit ihm anzuknüpfen. Aber er täuschte sich, die Nacht verlief, ohne daß irgend ein Geräusch seiner fieberhaften Erwartung entsprach. Am andern Tage aber, nach dem Morgenbesuche und nachdem er sein Bett von der Wand entfernt hatte, hörte er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen. Er stürzte auf die Knie.


Sind Sie es? sprach er; ich bin hier.


Ist Ihr Kerkermeister fort? fragte die Stimme.


Ja, antwortete Dantes, und er wird erst am Abend wiederkommen. Wir haben zehn Stunden für uns.


Ich kann also ans Werk gehen? sprach die Stimme.


Oh, ja, ja, ohne Zögern, auf der Stelle, ich bitte Sie!


Sogleich schien der Teil der Erde, auf den Dantes, halb in der Öffnung verborgen, seine Hände stützte, unter ihm zu weichen. Er warf sich zurück, während eine Masse von Erde und abgelösten Steinen in ein Loch stürzte, das sich unter der von ihm bewerkstelligten Öffnung ausgehöhlt hatte. Dann sah er im Hintergrunde dieses finstern Lochs, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, der ziemlich behend aus der Höhlung hervorkam.