XXIX. Das Bruderteil


Die alte Grubenstadt.

Freitag, 29. April.

Nirgends in Schweden hielt sich der Rabe Bataki so gern auf wie in Falun. Sobald man im Frühling die schwarze Erde wieder sehen konnte, reiste er da hinauf und blieb viele Wochen in der Nähe der alten Grubenstadt.

Falun liegt in einer Talsenkung, die von einem kurzen Bach durchströmt wird. Am nördlichen Ende des Tales liegt ein schöner, klarer kleiner See mit grünen, hineingeschnittenen Ufern, der Varpan heißt. Am südlichen Ende liegt eine seeähnliche Bucht des Runn, die niedriges, trübes Wasser und häßliche, sumpfige, mit allem möglichen Abfall übersäte Ufer hat; die heißt Tisken. Östlich von dem Tal erstreckt sich ein schöner Höhenzug, auf dessen Gipfel ein prachtvoller Föhrenwald und laubreiche Birken wachsen, und dessen ganze Abhänge mit schattigen Gärten bedeckt sind. Westlich von der Stadt zieht sich ebenfalls ein Bergrücken hin, der ist ganz oben nur mit spärlichem Tannenwald bewachsen, und der ganze Abhang ist kahl und ohne Bäume und Gras, ganz wie eine Wüste. Das einzige, was die Erde bedeckt, sind große, runde Steinblöcke, die überall zerstreut liegen.

Die Stadt Falun, die in der Talsenkung zu beiden Seiten des Baches liegt, sieht so aus, als habe sie Gestalt nach dem Erdboden angenommen, auf dem sie gebaut ist. Auf der grünen Seite des Tals liegen alle die Gebäude, die ein zierliches oder ansehnliches Äußere haben. Da liegen zwei Kirchen, das Rathaus, die Wohnung des Landeshauptmanns, das Bergwerkkontor, zwei Banken, die Hotels, die vielen Schulen, das Krankenhaus und alle die schönen Villen und Häuser. Auf der schwarzen Seite dahingegen liegen Straße auf und Straße ab kleine, rotgemalte, einstöckige Häuser, lange, trübselige Bretterzäune und große, schwere Fabrikgebäude. Und jenseits der Straßen, mitten in der großen Steinwüste, liegt die Grube von Falun mit Grubenwinde und Kränen und Pumpenwerken, mit altmodischen Gebäuden, die auf dem untergrabenen Erdboden stehen und einzustürzen drohen, mit großen, steilen Schlackenbergen und langen Reihen von Schmelzöfen ringsumher.

Bataki pflegte nie einen Blick auf den östlichen Teil der Stadt zu werfen und auch nie auf den schönen See Varpan. Um so inniger aber liebte er den westlichen Teil und den kleinen See Tisken.

Der Rabe liebte alles, was geheimnisvoll war, alles, was ihm Gelegenheit gab, zu grübeln und zu sinnen und seine Gedanken in Bewegung zu setzen, und auf der schwarzen Seite der Stadt fand er das zur Genüge. So war es ein großes Vergnügen für ihn gewesen, den Versuch zu machen, zu ergründen, warum diese alte, rote, hölzerne Stadt nicht abgebrannt war so wie alle die anderen roten, hölzernen Städte im Lande. Ebenso hatte er sich selbst gefragt, wie lange die dem Einsturz nahen Häuser am Rande der Grube wohl noch stehenbleiben konnten. Er hatte über die mächtige Öffnung in der Erde, mitten auf dem Grubenfeld nachgegrübelt und war ganz bis auf ihren Grund hinabgeflogen, um zu untersuchen, wie dieser ungeheure, leere Raum entstanden sein mochte. Er war in Erstaunen geraten über die hohen Schlackenhaufen, die rings um diese Öffnung und die Grubengebäude lagen und sie wie Mauern umgaben. Er hatte versucht, ausfindig zu machen, was die kleine Signalglocke, die das ganze Jahr hindurch kurze, unheimliche Glockenschläge mit bestimmten Zwischenräumen schlägt, zu bedeuten hatte, und zuerst und zuletzt hatte er darüber nachgesonnen, wie es wohl unter der Erde aussah, da, wo man seit vielen hundert Jahren Kupfererz gebrochen hatte, und wo die Erde so voll von Gängen war wie ein Ameisenhaufen. Als es Bataki endlich gelungen war, sich einigermaßen Klarheit über dies alles zu verschaffen, schwebte er über der unheimlichen Steinwüste hin, um darüber nachzudenken, warum kein Gras zwischen den großen Steinen wuchs, oder auch er flog nach dem Tisken hinab. Dieser See erschien ihm der wunderbarste, den er jemals gesehen hatte. Wie konnte es zugehen, daß er ganz ohne Fische war, und daß sein Wasser zuweilen, wenn der Sturm es aufpeitschte, ganz rot wurde? Das war um so wunderbarer, als ein großer Grubenbach, der aus dem See entsprang, schimmernd gelbes Wasser hatte. Er grübelte über die Ruinen der zerstörten Gebäude nach, die noch am Ufer lagen, und über das kleine Gehöft Tiskmöllen, das von grünen Gärten umgeben und im Schatten großer Bäume zwischen der öden Steinwüste und dem merkwürdigen See lag.

In dem Jahr, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen durch das Land zog, lag am Ufer des Tisken, eine Strecke vor der Stadt, ein altes Haus, das die Schwefelsiederei genannt wurde, weil dort in jedem zweiten Jahr ein paar Monate Schwefel gekocht wurde. Es war ein verfallenes Haus, das einstmals rot gewesen, allmählich aber graubraun geworden war. Es hatte keine Fenster, sondern nur eine Reihe Luken mit schwarzen Läden davor, und es stand fast immer fest verschlossen. Niemals hatte Bataki einen Blick in dies Haus werfen können, und deswegen grübelte er über nichts soviel nach. Er hüpfte auf dem Dach herum, in der Hoffnung ein Loch zu finden, durch das er hineingucken konnte, und er saß oft oben auf dem hohen Schornstein und guckte in die schwarze Öffnung hinein.

Eines Tages erging es Bataki sehr übel. Ein starker Sturm hatte gehaust und eine Luke in der alten Schwefelsiederei aufgeweht. Bataki hatte die Gelegenheit benutzt und war in die Luke hineingeflogen, um sich im Hause umzusehen. Aber kaum war er hineingelangt, als die Luke hinter ihm zugeschlagen wurde, so daß er eingeschlossen war. Er hoffte, der Wind könne die Luke wieder aufwehen, aber es schien gar nicht, als wenn er die Absicht habe.

Durch die Ritzen in den Wänden fiel eine Menge Licht, und Bataki hatte wenigstens das Vergnügen, zu erfahren, wie es da drinnen aussah. Da war nichts weiter als ein großer Ofen mit einigen eingemauerten Kesseln und daran sah er sich bald satt. Aber als er wieder hinaus wollte, erwies sich das noch immer als unmöglich. Der Wind wollte die Luke nicht wieder aufwehen. Auch nicht eine einzige Tür oder Luke stand offen. Der Rabe war ganz einfach im Gefängnis.

Bataki begann um Hilfe zu schreien und schrie den ganzen Tag. Es gibt gewiß kein Tier, das einen so unaufhörlichen Lärm machen kann wie die Raben, und bald verlautete es in der Umgegend, daß er gefangen sei. Der graugestreifte Kater aus Tiskmöllen war der erste, der von dem Unglück hörte. Er erzählte es den Hühnern, und die riefen es den vorüberfliegenden Vögeln zu. Bald wußten alle Dohlen und Tauben und Krähen und Spatzen in ganz Falun, was geschehen war. Sie flogen sofort nach der alten Schwefelsiederei, um die Sache näher zu untersuchen. Sie hatten großes Mitleid mit dem Raben, niemand aber konnte ausfindig machen, was zu tun sei, um ihm zu helfen.

Plötzlich aber rief Bataki mit seiner scharfen, bissigen Stimme: »Schweigt alle still da draußen und hört mich an! Da ihr sagt, daß ihr mir gerne helfen wollt, so fliegt aus und sucht die alte Wildgans Akka von Krebnekajse und ihre Schar. Ich vermute, sie sind zu dieser Jahreszeit in Dalarna. Erzählt Akka, wie es mit mir steht. Ich glaube, die einzige, die mir helfen kann, ist sie und ihre Schar.«

Die Brieftaube Agar, die der beste Sendbote im Lande war, traf die Wildgänse am Ufer des Dalelfs, und als es dunkelte, kamen sie und Akka und ließen sich auf dem Dach der Schwefelsiederei nieder. Däumeling saß auf Akkas Rücken, aber die anderen Reisekameraden waren auf einem Werder im Runn zurückgeblieben, da Akka meinte, sie würden mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften, falls sie mit nach Falun kämen.

Als sich Akka mit Bataki beraten hatte, nahm sie Däumeling auf den Rücken und flog mit ihm nach einem Gehöft, das ganz in der Nähe der Schwefelsiederei lag. Sie flog ganz langsam über den Garten und die Birkenhaine, die den kleinen Hof umgaben, und sie wie auch der Junge starrten auf die Erde nieder. Es war leicht zu sehen, daß hier Kinder waren, die im Freien spielten, und es währte auch nicht lange, bis sie fanden, was sie suchten. In einem kleinen munteren Bach klapperten eine Menge kleiner Mühlenwerke, und in der Nähe davon fand der Junge ein Stemmeisen. Auf zwei Böcken lag ein halbfertiges Kanu, und daneben entdeckte er einen kleinen Knäuel Bindfaden.

Mit diesen Gegenständen flogen sie nach der Schwefelsiederei zurück. Der Junge befestigte den Bindfaden am Schornstein, ließ es in das tiefe Loch hineinfallen und enterte daran hinab. Als er Bataki guten Tag gesagt hatte, der ihm mit vielen hübschen Worten dankte, daß er gekommen war, machte er sich daran, mit dem Stemmeisen ein Loch in die Wand zu schlagen.

Es waren keine dicken Wände in der Schwefelsiederei, aber mit jedem Hieb schlug der Junge nicht mehr los als einen Span, der so klein und dünn war, daß eine Maus ihn ebensogut mit ihren Vorderzähnen hätte abnagen können. Es war klar, daß er die ganze Nacht werde arbeiten müssen und vielleicht noch länger, ehe er das Loch so groß gemacht hatte, daß der Rabe hindurchschlüpfen konnte.

Bataki hatte eine solche Sehnsucht, hinauszukommen, daß er nicht schlafen konnte, sondern neben Däumeling saß, der arbeitete. Anfangs war der Junge sehr fleißig, als aber eine kleine Weile vergangen war, bemerkte der Rabe, daß die Schläge in immer größeren Zwischenräumen kamen, und schließlich hörten sie ganz auf.

»Du bist gewiß müde,« sagte der Rabe. »Du kannst es vielleicht nicht mehr aushalten, weiter zu arbeiten?« – »Nein, müde bin ich nicht,« sagte der Junge und begann von neuem mit dem Eisen zu arbeiten, »aber ich weiß wirklich nicht, wie lange es her ist, seit ich eine Nacht ordentlich geschlafen habe. Ich weiß nicht, wie ich mich wachhalten soll.«

Nun ging ihm die Arbeit eine Weile schnell von der Hand, dann aber fielen die Schläge langsamer und langsamer. Der Rabe weckte den Jungen abermals, aber er sah bald ein, daß wenn er nichts ersinnen konnte, womit er den Jungen wach zu halten vermochte, er nicht nur diese Nacht, sondern auch den ganzen nächsten Tag bleiben mußte, wo er war.

»Vielleicht geht dir die Arbeit besser von der Hand, wenn ich dir eine Geschichte erzähle,« sagte er. – »Das ist ja nicht unmöglich,« erwiderte der Junge, aber im selben Augenblick gähnte er und war so schläfrig, daß er kaum das Werkzeug zu halten vermochte.

Die Geschichte von der Faluner Grube.

»Ich will dir etwas sagen, Däumeling,« begann Bataki, »ich habe lange auf der Erde gelebt. Ich habe gute und böse Tage kennen gelernt, und mehrmals ist es geschehen, daß mich die Menschen gefangen gehalten haben. Dadurch habe ich nicht nur gelernt, ihre Sprache zu verstehen, sondern ich habe auch viel von ihrer Gelehrsamkeit aufgeschnappt. Ich kann wohl sagen, daß es im ganzen Lande keinen Vogel gibt, der mit deinen Stammverwandten so gut Bescheid weiß wie ich.

Einmal saß ich viele Jahre hintereinander im Käfig bei einem Bergmeister hier in Falun, und in seinem Hause hörte ich das, was ich dir nun erzählen will.

Vor vielen, vielen Jahren wohnte hier in Dalarna ein Riese, der hatte zwei Töchter. Als der Riese alt wurde und fühlte, daß er sterben sollte, rief er die Töchter zu sich, um seinen Besitz zwischen sie zu teilen.

Sein größter Reichtum bestand in einigen Bergen voller Kupfer, und die wollte er seinen Töchtern geben. ›Ehe ich euch aber dies Erbe hinterlasse,‹ sagte er, ›müßt ihr mir geloben, daß, falls ein Fremder eure Kupferberge entdecken sollte, ihr ihn totschlagen wollt, ehe er irgend jemand seinen Fund zeigen kann.‹ Die älteste von den Töchtern des Riesen war wild und grausam, und sie versprach, ohne Besinnen, dem Vater zu gehorchen. Die andere hatte einen sanfteren Sinn, und der Vater sah, daß sie überlegte, ehe sie ihr Versprechen gab. Daher hinterließ er ihr nur ein Drittel des Erbes, während die ältere genau doppelt soviel bekam wie sie. ›Auf dich kann ich mich verlassen, als seiest du ein Mann,‹ sagte der Riese, ›und darum sollst du das Bruderteil haben.‹

Bald darauf starb der alte Riese, und lange Zeit hielten die beiden Töchter ihr Versprechen ganz gewissenhaft. Es geschah, daß mehr als ein armer Holzhauer oder Jäger das Kupfererz erblickte, das an mehreren Stellen oben auf der Oberfläche des Berges lag, aber kaum war er nach Hause gekommen und hatte erzählt, was er gesehen, als ihn ein Unglück traf. Entweder stürzte eine ausgegangene Tanne auf ihn herab, oder auch er wurde unter einem Bergrutsch begraben. Er fand nie Zeit, irgend jemand zu zeigen, wo der Schatz in der Wildnis zu finden war.

Zu jener Zeit war es Sitte im Lande, daß alle Bauern im Sommer ihr Vieh tief in die Wälder hinein auf die Weide trieben. Die Hirtenmädchen gingen mit, um zu melken und Butter und Käse zu bereiten. Um den Hirten und dem Vieh eine Zufluchtsstätte in der Wildnis zu schaffen, rodeten die Bauern einen kleinen Fleck im Walde und bauten dort kleine Häuser, die sie Sennhütten nannten. Nun geschah es, daß ein Bauer, der am Dalelf in der Torsånger Gemeinde wohnte, seine Sennhütte an dem See Runn hatte, wo die Erde so steinig war, daß niemand versucht hatte, sie zu bebauen. Einmal im Herbst zog der Bauer mit ein Paar Lastpferden nach der Sennhütte hinauf, um behilflich zu sein, das Vieh, die Butterkübel und die Käse nach Hause zu schaffen. Als er die Herde zählte, entdeckte er, daß einer der Böcke an den Hörnern ganz rot war. ›Was für Hörner sind das, die der Ziegenbock Kåre hat?‹ fragte der Bauer die Sennerin. – ›Das weiß ich nicht,‹ antwortete das Mädchen. ›Er ist den ganzen Sommer jeden Abend mit den roten Hörnern heimgekommen. Er findet wohl, daß das hübsch ist.‹ – ›Meinst du?‹ fragte der Bauer. – ›Der Bock hat seinen eigenen Kopf, und ich kann die roten Hörner scheuern, soviel ich will, er läuft gleich hin und macht sie wieder rot.‹ – ›Scheure du die rote Farbe nur noch einmal ab,‹ sagte der Bauer, ›dann will ich sehen, wie er das anstellt.‹

Kaum waren dem Ziegenbock die Hörner gescheuert, als er schleunigst in den Wald lief. Der Bauer folgte ihm, und als er den Bock einholte, stand der und rieb die Hörner gegen ein paar Steine, die rot waren. Der Bauer nahm die Steine in die Hand und roch daran. Er glaubte bestimmt, daß das, was er gefunden hatte, Erz sei.

Wie er noch dastand und in Gedanken versunken war, kam ein Felsblock dicht neben ihm den Abhang hinabgerollt. Der Bauer sprang zur Seite und rettete sein Leben, der Ziegenbock Kåre aber geriet unter den Felsblock und wurde getötet. Als der Bauer den Abhang hinaufsah, erblickte er ein großes, starkes Riesenweib, das im Begriff war, noch einen Felsblock auf ihn herabzuwälzen, ›Was fällt dir ein!‹ rief der Bauer. ›Ich habe weder dir noch deiner Sippe je ein Leid getan.‹ – ›Nein, das weiß ich wohl,‹ erwiderte das Riesenweib. ›Aber ich muß dich totschlagen, weil du meinen Kupferberg entdeckt hast.‹ Diese Worte sagte sie mit trauriger Stimme, als wenn sie ihn sehr gegen ihren Willen töten müsse, und das machte dem Bauer Mut, sich in eine Unterhaltung mit ihr einzulassen. Dann erzählte sie ihm von dem alten Riesen und dem Versprechen, das sie gegeben, und von der Schwester, die das Bruderteil bekommen hatte. ›Ich habe es so herzlich satt, alle diese armen, unglücklichen Menschen zu töten, die meinen Kupferberg entdecken,‹ sagte sie, ›daß ich wollte, ich hätte die Erbschaft niemals angetreten. Aber was ich versprochen habe, muß ich halten!‹ Und dann begann sie wieder, einen Felsblock loszubrechen. ›Übereile dich nicht,‹ sagte der Bauer, ›Du brauchst mich um des Versprechens willen nicht zu töten. Ich habe ja das Kupfer nicht gefunden, sondern der Ziegenbock, und den hast du schon totgeschlagen.‹ – ›Glaubst du, daß ich mich damit begnügen kann?‹ fragte das Riesenweib ein wenig unschlüssig. – ›Ja, das glaube ich ganz bestimmt!‹ antwortete der Bauer. ›Du hast dein Versprechen so treu gehalten, wie es nur irgend jemand verlangen kann.‹ Und er sprach so vernünftig mit ihr, daß sie ihn am Leben ließ.

Der Bauer zog nun zu allererst mit den Kühen heim. Dann ging er in das Bergdistrikt hinab und mietete Knechte, die sich auf Bergwerksarbeit verstanden. Die halfen ihm, an der Stelle, wo der Ziegenbock sein Leben gelassen hatte, eine Grube brechen. Anfangs fürchtete er, totgeschlagen zu werden, aber das Riesenweib hatte es offenbar satt, ihren Kupferberg zu bewachen. Sie fügte ihm nie ein Leid zu.

Die Erzader, die der Bauer entdeckt hatte, reichte ganz bis an die Oberfläche des Berges, so daß es weder mühselig noch schwer war, das Erz zu brechen. Er und die Knechte holten Brennholz aus dem Walde, errichteten große Scheiterhaufen auf dem Erzberge und zündeten sie an. Da wurde der Fels von der Hitze gesprengt, so daß sie zu dem Erz gelangen konnten. Dann ließen sie die Erzstücke durch ein Feuer nach dem anderen gehen, bis sie das reine Kupfer gewannen und die Schlacken ganz ausgeschieden wurden.

In alten Zeiten verwendeten die Leute fast noch mehr Kupfer zum täglichen Gebrauch als heutzutage. Es war eine begehrte und nützliche Ware, und der Bauer, dem die Grube gehörte, wurde bald steinreich. Er baute sich ein großes prachtvolles Haus in der Nähe der Grube und nannte es Kåreerbe nach dem Ziegenbock. Wenn er zur Kirche nach Torsång ritt, war sein Pferd mit Silber beschlagen, und als seine Tochter Hochzeit feierte, ließ er Bier aus zwanzig Tonnen Malz brauen und zehn große Ochsen am Spieß braten.

Aber eines Abends geschah es, daß vier schneidige Kerle mit der Bergmannshacke auf dem Rücken nach Kåreerbe gewandert kamen. Sie wurden gut empfangen wie alle anderen, aber als der Bauer fragte, ob sie bei ihm arbeiten wollten, sagten sie rein heraus nein. ›Wir wollen auf eigene Rechnung Erz brechen.‹ – ›Ihr wißt doch, daß der Erzberg mir gehört?‹ entgegnete der Bauer. – ›Es ist nicht unsere Absicht, Erz in Eurer Grube zu brechen.‹ sagten die Fremden. ›Der Berg ist groß, und was offen und uneingefriedigt in der Wildnis liegt, können wir mit gleich gutem Recht wie du nehmen.‹

Mehr wurde nicht über die Sache geredet, und der Bauer erwies den Neuangekommenen nach wie vor Gastfreundschaft. Früh am nächsten Morgen gingen sie auf Arbeit, fanden eine Strecke weiter entfernt Kupfererz und begannen, es zu brechen. Als sie einige Tage gearbeitet hatten, kam der Bauer zu ihnen hinaus. ›Es ist viel Erz hier im Berge,‹ sagte er. – ›Ja, es gehört die Arbeit von vielen Menschen dazu, bis dieser Schatz gehoben ist,‹ erwiderte einer von den Fremden. – ›Das weiß ich wohl,‹ sagte der Bauer, ›aber ich finde doch, ihr solltet mir Steuern von dem Erz entrichten, das ihr brecht, da es doch mein Verdienst ist, daß hier im Berge gearbeitet werden kann.‹ – ‹Wir verstehen nicht, was du sagst,‹ entgegneten die Männer. – ›Ja, ich habe den Berg durch meine Klugheit ausgelöst,‹ sagte der Bauer und erzählte ihnen von den beiden Riesenweibern und von dem Bruderteil.

Die Männer hörten sehr aufmerksam zu, aber worauf es ihnen in der Erzählung ankam, war etwas ganz anderes, als der Bauer erwartet hatte. ›Ist es sicher, daß das andere Riesenweib schlimmer ist, als die Riesin, die du getroffen hast?‹ fragten sie. – ›Ich glaube nicht, daß sie euch schonen würde,‹ sagte der Bauer. Damit verließen sie ihn, aber er verlor sie nicht aus den Augen, und nach einer Weile sah er, daß sie mit der Arbeit innehielten und in den Wald gingen.

Als die Leute in Kåreerbe an jenem Tage beim Abendbrot saßen, hörten sie ein schreckliches Wolfsgeheul aus dem Walde. Und zwischen dem Heulen der wilden Tiere ertönte Menschengeschrei. Der Bauer stand sofort vom Tische auf, aber die Knechte schienen nicht Lust zu haben, ihn zu begleiten. ›Es ist diesem Diebespack ganz recht, daß es von den Wölfen zerrissen wird,‹ sagten die Leute. – ›Wir müssen denen helfen, die in Not sind,‹ entgegnete der Bauer und ging mit allen seinen fünfzig Knechten in den Wald hinaus.

Sie gewahrten sofort ein schrecklich großes Rudel von Wölfen, die an ihrer Beute rissen und zerrten. Die Knechte trieben sie in die Flucht und fanden dann vier menschliche Körper an der Erde, die so übel zugerichtet waren, daß sie sie nicht erkannt haben würden, wenn da nicht vier Grubenhacken neben ihnen gelegen hätten.

Danach blieb der Kupferberg bis an den Tod des Bauern im Besitz eines Mannes. Dann übernahmen die Söhne ihn. Sie arbeiteten zusammen in der Grube, aber all das Erz, das sie im Laufe eines Jahres gefördert hatten, legten sie in Haufen, warfen das Los darum und schmolzen dann ein jeder in seinem Ofen das Kupfer heraus. Sie wurden alle mächtige Bergleute und bauten sich große, ansehnliche Häuser. Und nach ihnen übernahmen ihre Erben die Arbeit, sie erschlossen neue Grubenschächte und brachen noch mehr Erz. Jahr für Jahr nahm die Grube an Umfang zu, und immer mehr Bergleute erhielten Anteil daran. Einige wohnten ganz in der Nähe, andere hatten ihre Häuser und Schmelzöfen ringsumher in der Gegend. Es entstanden eine Menge Dörfer, und die Gegend erhielt den Namen Stora Kopparbergs Bergslag.

Nun muß man wissen, daß es bald ein Ende hatte mit dem Erz, das so lag, daß man es von oben brechen konnte, wie man Steine in einem Steinbruch bricht. Die Grubenarbeiter mußten das Erz tief unter der Erde suchen. Durch enge Schächte und lange, gewundene Gänge mußten sie sich in das dunkle Innere der Erde hineinarbeiten, um ihren Holzhaufen anzuzünden und den Berg zu sprengen. Es ist immer eine mühselige und schwere Arbeit, Steine zu brechen, dazu kam aber noch die Plage, die ihnen der Rauch verursachte, der nicht ins Freie hinausgelangen konnte, und die Mühe, auf steilen Leitern das Erz an die Oberfläche der Erde zu fördern. Und je weiter in die Tiefe hinab sie kamen, um so gefährlicher wurde die Arbeit. Oft brachen große Ströme brausend in die Grube ein, oft geschah es, daß die Decke des Grubenganges auf die Arbeiter herabstürzte. Dies bewirkte, daß die Arbeit in der großen Grube so gefürchtet wurde, daß niemand gutwillig daran ging. Da bot man zum Tode verurteilten Verbrechern und Leuten, die geächtet im Walde herumstreiften, Vergebung für ihre Schuld an, wenn sie Grubenarbeiter in Falun werden wollten.

Lange Jahre hatte niemand daran gedacht, nach dem Bruderteil zu suchen. Aber unter den gesetzlosen Männern, die nach dem großen Kupferberg kamen, waren mehrere, die größeren Wert auf Abenteuer legten als auf ihr Leben, und sie durchstreiften die Gegend, in der Hoffnung, es zu finden.

Wie es allen den Suchenden erging, das weiß niemand, aber wir haben eine Erzählung von zwei Grubenarbeitern, die eines Abends spät zu ihrem Herrn heimkehrten und erzählten, sie hätten eine große Erzader im Walde gefunden. Sie hatten den Weg dahin bezeichnet, und am nächsten Tage wollten sie ihrem Herrn den Fund zeigen. Aber der nächste Tag war ein Sonntag, und der Herr wollte an dem Tage nicht in den Wald gehen und nach Erz suchen, statt dessen ging er mit seinem ganzen Hausstand zur Kirche. Es war im Winter, und sie gingen über den See Barpan zur Kirche. Auf dem Hinwege ging alles gut, auf dem Heimwege aber fielen die beiden Knechte in eine Wake und ertranken. Da mußten die Leute wieder an die alte Sage von dem Bruderteil denken, und sie sagten, es sei gewiß das, was die Knechte gefunden hatten.

Um die Schwierigkeiten in der Grube zu überwinden, kamen die Bergleute auf den Gedanken, Ausländer, die der Grubenarbeit kundig waren, ins Land zu berufen, und diese ausländischen Meister lehrten sie, Grubenwinden zu bauen, die das Wasser herauspumpten und das Erz heraufwanden. Die Fremden schenkten der Sage von den Riesenweibern keinen rechten Glauben, aber sie fanden es höchst wahrscheinlich, daß sich irgendwo in der Nähe eine mächtige Erzader befand, und sie suchten eifrig danach. Und eines Abends kam ein deutscher Grubenvogt in das Wirtshaus zur Grube und erzählte, er habe das Bruderteil gefunden. Aber der Gedanke an die großen Reichtümer, die ihm jetzt zufallen würden, machte ihn ganz wild und verwirrt. Er veranstaltete noch am selben Abend ein großes Gastmahl, trank und tanzte und würfelte; schließlich geriet er in Streit und Prügelei, und einer seiner Zechgenossen jagte ihm ein Messer in den Leib.

In den großen Kupferberg wurde immer soviel Erz gegraben, daß die Grube für die reichste Kupfergrube in aller Welt Ländern galt. Nicht nur die nächste Umgegend zog Vorteil aus ihren großen Reichtümern, sondern die Schätze, die man dort förderte, wurden in schwerer Zeit zu einer großen Hilfe für das Land Schweden. Die Grube war schuld daran, daß die ganze Stadt Falun gebaut wurde, und man betrachtete die Grube als so merkwürdig und von so hohem Nutzen, daß alle Könige nach Falun reisten, um sie zu sehen, und sie nannten sie Schwedens Glück und die Schatzkammer des Svea-Reiches.

Wenn man bedenkt, wie große Reichtümer die alte Grube ans Tageslicht gefördert hatte, kann man sich nicht wundern, daß diejenigen, die glaubten, daß sich ganz in der Nähe ein doppelt so großer Kupferschatz befinde, sich darüber grämen mußten, daß sie seiner nicht habhaft werden konnten. Viele setzten ihr Leben aufs Spiel, um danach zu suchen, erreichten aber nichts dadurch.

Einer der letzten, die den Schatz sahen, war ein junger Bergmann aus Falun aus guter, reicher Familie. Er verliebte sich in ein schönes Bauermädchen aus Leksand und ging hin, um sie zu freien, aber sie lehnte es ab, ihn zu heiraten, weil sie nicht in Falun wohnen wollte, wo der Rauch aus Röstöfen und Schmelzhütten so schwer drückend über der Stadt lag, daß ihr schon ganz unheimlich zumute wurde, wenn sie nur daran dachte.

Der Bergmann liebte sie glühend, und als er heimkehrte, war er tief betrübt. Er hatte sein ganzes Leben in Falun gewohnt, und es war ihm niemals eingefallen, daß es schwer sein könne, dort zu wohnen. Aber als er sich jetzt der Stadt näherte, erschrak er. Aus der großen Grubenöffnung, aus den Hunderten von Röstöfen rings um sie herum stieg der dicke, erstickende Schwefelrauch auf und hüllte die ganze Stadt in Nebel. Der Rauch hinderte die Pflanzen zu gedeihen, so daß die Erde in weitem Umkreis kahl und nackend dalag. Die Schmelzhütten, in denen das Feuer glühte, und die von schwarzen Schlackenhaufen umgeben waren, sah er überall, nicht nur in der Stadt und ihrer nächsten Umgebung, sondern über die ganze Gegend zerstreut. Sie lagen bei Grycksbro, bei Bengtsarc, bei Bjerggaarden, bei Stennässek, bei Kovsnäs, in Vita und ganz weit hin bis Aspeboda. Er sah ein, daß wer gewohnt war, am blanken Siljen, im Sonnenschein und zwischen grünen Bäumen zu leben, hier nicht gedeihen konnte.

Der Anblick der Stadt machte ihm das Herz noch schwerer, als es schon im voraus war. Er hatte keine Lust, gleich nach Hause zu gehen, sondern bog vom Wege ab und ging in den Wald hinein. Da wanderte er den ganzen Tag umher, ohne acht zu geben, wohin er kam.

Als es abend wurde, erblickte er plötzlich einen Berg, der wie Gold schimmerte. Als er genauer zusah, entdeckte er eine mächtige Ader aus Kupfererz. Anfänglich freute er sich über seine Entdeckung, aber dann fiel ihm ein, daß dies vielleicht das Bruderteil sei, das so viele ins Verderben gestürzt hatte, und da wurde er bange. ›Heute bin ich wirklich vom Unglück verfolgt,‹ sagte er. ›Vielleicht wird es mir nun das Leben kosten, daß ich diesen Reichtum gefunden habe.‹ Er kehrte sofort um und begab sich auf den Heimweg. Als er eine Strecke gegangen war, begegnete ihm eine große, starke Frau. Sie glich einer gebieterischen Bergmannsgattin, aber er konnte sich nicht entsinnen, sie je zuvor gesehen zu hüben.

›Ich möchte wohl wissen, was du im Walde gemacht hast!‹ sagte die Frau. ›Ich habe dich den ganzen Tag hier umherstreifen sehen.‹ – ›Ich habe mich nach einem Bauplatz umgesehen,‹ sagte der Bergmann,›denn das Mädchen, das ich lieb habe, will nicht in Falun wohnen.‹ – ›Ist es nicht deine Absicht, Erz in dem Kupferberg zu brechen, den du vorhin gefunden hast?‹ fragte sie weiter. ›Nein,‹ sagte der Bergmann, ›ich bin gezwungen, den Bergbau aufzugeben, sonst kann ich die nicht bekommen, die ich lieb habe.‹ – ›Ja, bleibe du nur dabei,‹ sagte die Frau, ›dann wird dir kein Leid geschehen.‹

Mit diesen Worten verließ sie ihn. Er aber beeilte sich, das zur Wahrheit zu machen, was er notgedrungen gesagt hatte. Er gab den Bergbau auf und baute sich einen Hof weit von Falun entfernt. Und dann hatte die, die er lieb hatte, nichts dagegen, zu ihm zu ziehen.«

Hiermit endete der Rabe seine Geschichte. Der Junge hatte sich wirklich die ganze Zeit wachgehalten, aber er hatte das Werkzeug nicht sonderlich fleißig gebraucht.

»Und wie ging es denn später?« fragte er, als der Rabe zu sprechen aufhörte. »Ja, seit der Zeit ging es mit dem Kupferwerk zurück. Die Stadt Falun ist ja noch da, aber alle die alten Schmelzöfen sind weg. Die ganze Gegend ist übersät mit alten Bergmannshöfen, aber die Bewohner sind gezwungen, Landleute oder Waldbesitzer zu werden. In der Grube Falun ist fast kein Erz mehr. Es ist wirklich dringender denn je nötig, daß man das Bruderteil findet.«

»Ich möchte wohl wissen, ob jener Bergmann der letzte war, der es gesehen hat,« sagte der Junge.

»Sobald du ein Loch in die Wand gehauen und mich hinausgelassen hast, will ich dir erzählen, wer es zuletzt gesehen hat,« sagte Bataki.

Das versetzte dem Jungen einen Anstoß und sofort ging er eifriger an die Arbeit. Es war ihm, als habe Bataki es in einem wunderlichen, bedeutungsvollen Ton gesagt. Es klang fast, als wenn er dem Jungen zu verstehen geben wollte, daß er, der Rabe, den großen Kupferberg gesehen habe. Sollte es eine Bedeutung haben, daß er ihm die Geschichte erzählt hatte?

»Du bist gewiß viel hier in der Gegend umhergereist,« sagte der Junge, um Klarheit über die Sache zu erlangen. »Du hast sicher allerlei gefunden, wenn du hier so über die Wälder und Berge dahingeschwebt bist.«

»Ja, ich könnte dir merkwürdige Dinge zeigen, sobald du mit deiner Arbeit fertig bist,« antwortete der Rabe.

Der Junge begann so eifrig zu hauen, daß die Späne um ihn herumflogen. Jetzt war er ganz sicher, daß der Rabe das Bruderteil gefunden hatte. »Es ist wirklich ein Jammer, daß ein Rabe wie du keine Freude von dem Reichtum haben kann, den du gefunden hast,« sagte er.

»Ich will nicht mehr über die Sache reden, bis ich sehe, daß du ein Loch in die Wand hauen und mir hinaus helfen kannst,« sagte der Rabe.

Der Junge arbeitete, so daß das Eisen brennend heiß wurde. Batakis Worte waren nicht mißzuverstehen. Der Rabe konnte ja nicht selbst Erz brechen, und daher war es gewiß seine Absicht, Niels Holgersen die Entdeckung zu überlassen. Das war ja das Wahrscheinlichste wie auch das Vernünftigste. Aber wenn er nun das Geheimnis erfuhr, so wollte er, sobald er wieder Mensch wurde, hierher zurückkehren und den großen Schatz heben. Und wenn er Geld genug verdient hatte, wollte er ganz Vestre Vemmenhöy kaufen und dort ein Schloß, so groß wie Vittskövle erbauen, und dann wollte er eines Tages dem Häusler Holger Nielsen und seiner Frau eine Einladung senden, zu kommen, und das Schloß zu besehen. Und wenn sie dann dahergegangen kamen, wollte er auf der Treppe stehen und sagen: »Bitte schön! Tretet näher und tut, als wenn ihr zu Hause seid!« Und sie erkannten ihn natürlich nicht und wunderten sich, was für ein feiner Herr das sein könne, der sie eingeladen hatte. »Möchtet ihr nicht gern in so einem Hause wohnen?« wollte er dann sagen. – »Ja, natürlich, aber das ist nichts für uns,« würden sie antworten. »Freilich ist es etwas für euch; ihr sollt ja dies Gute haben als Zahlung für den weißen Gänserich, der euch im vergangenen Jahr weggeflogen ist,« würde er dann sagen. – Der Junge gebrauchte das Eisen schneller und schneller. Das nächste, wozu er sein Geld gebrauchen würde, war, ein neues Haus auf der Heide in Sunnerbo für das Gänsemädchen Aase und den kleinen Mads zu bauen. Viel schöner und größer als das alte, natürlich. Und dann würde er den ganzen Tåkern kaufen und ihn den Enten geben, und dann …

»Jetzt muß ich sagen, daß es dir schnell von der Hand geht,« sagte der Rabe. »Ich glaube, das Loch ist schon groß genug.«

Es gelang dem Raben wirklich, sich hindurchzuklemmen. Der Junge folgte ihm und sah Bataki in einer Entfernung von wenigen Schritten auf einem Stein sitzen.

»Nun will ich mein Versprechen dir gegenüber einlösen, Däumling,« sagte Bataki sehr feierlich, »indem ich dir erzähle, daß ich das Bruderteil gesehen habe. Aber ich will dir nicht raten, danach zu suchen, denn es hat mir jahrelange Arbeit gekostet, ehe ich es entdeckte.«

»Ich glaubte, du wolltest mir erzählen, wo es ist, als Lohn dafür, daß ich dich aus der Gefangenschaft befreit habe,« sagte der Junge.

»Du mußt sehr schläfrig gewesen sein, wahrend ich von dem Bruderteil erzählte,« sagte Bataki. »Sonst hättest du dir keine solche Hoffnungen machen können. Hast du denn nicht beachtet, daß alle, die etwas darüber aussagten, wo das Bruderteil zu finden sei, ins Unglück gerieten? Nein, mein Freund, Bataki hat lange genug auf der Erde gelebt, um zu lernen, daß man seinen Mund halten muß.«

Damit erhob er die Flügel und flog davon.

Akka stand dicht bei der Schwefelsiederei auf dem Felde, aber es währte ziemlich lange, bis der Junge rief, daß sie kommen und ihn holen solle. Er war mißmutig und niedergeschlagen, weil er um die großen Reichtümer betrogen war. Er fand, er habe gar keinen Grund, fröhlich zu sein. »Ich glaube, die Geschichte mit den Riesenweibern ist nicht wahr,« sagte er zu sich selbst, »und ich glaube auch nicht an die Wölfe und an die Waken, aber ich glaube, wenn arme Grubenarbeiter die große Erzader mitten in dem wilden Walde fanden, so wurden sie so verwirrt vor Freude, daß sie sie hinterher nicht wiederfinden konnten. Und ich glaube, die Enttäuschung ist so schwer für sie gewesen, daß sie das Leben nicht zu ertragen vermochten. So, glaube ich, verhält sich die Sache.«

XXX. Der Walpurgisabend

Es gibt einen Tag im Jahre, auf den sich alle Kinder in Dalarna fast ebensosehr freuen als auf den Weihnachtsabend, und das ist die Walpurgisnacht, wo sie Feuer im Freien abbrennen dürfen.

Viele Wochen vorher denken Knaben und Mädchen an nichts weiter, als Feuerung für die Walpurgisfeuer zu sammeln. Sie gehen in den Wald hinaus und suchen trockne Reiser und Tannenzapfen, sie sammeln bei dem Tischler Späne und bei dem Holzhauer Holzstückchen und Baumrinde und Holzknorren. Sie gehen jeden Tag zum Kaufmann und betteln um alte Kisten, und ist einer unter ihnen so glücklich gewesen, eine leere Teertonne zu ergattern, so versteckt er sie wie seinen größten Schatz und wagt nicht eher damit zum Vorschein zu kommen, als im letzten Augenblick, kurz ehe die Feuer angezündet werden sollen. Die dünnen Reiser, die man als Stütze für Erbsen und Bohnen benutzt, sind sehr begehrt, ebenso alle alten, umgewehten Zaunpfähle, alle zerbrochenen Gerätschaften und alle Heureiter, die draußen auf dem Felde vergessen sind.

Wenn der große Abend kommt, haben die Kinder in jedem Dorf einen großen Haufen Zweige und Reiser und alle möglichen brennbaren Gegenstände bereitgelegt, entweder auf einem Hügel oder auch unten am Ufer eines Sees. In einzelnen Dörfern ist nicht zu einem einzelnen Reisigfeuer zusammengetragen, sondern es erheben sich zwei, ja oft drei große Holzhaufen. Es kann ja vorkommen, daß sich die Knaben und Mädchen nicht beim Reisigsammeln haben einen können, oder auch die Kinder, die in dem südlichen Ende des Dorfes wohnen, wollen das Feuer bei sich haben, und darauf können die, die am nördlichen Ende wohnen, nicht eingehen, und dann müssen sie jedes ihr eigenes Feuer haben.

Die Holzstöße sind in der Regel schon rechtzeitig am Nachmittag fertig, und dann gehen alle Kinder mit Streichhölzern in der Tasche herum und warten darauf, daß es dunkel werden soll. Es ist um diese Jahreszeit so schrecklich lange hell in Dalarna. Um acht Uhr fängt es kaum an zu schummern. Es ist kalt und ungemütlich, draußen herumzugehen und zu warten, denn es ist noch halbwegs Winter. Auf allen Rodeäckern und offenen Feldern ist der Schnee getaut, und mitten am Tage, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, fühlt er sich ganz warm an, aber im Walde liegen noch große Schneeschanzen, das Eis bedeckt die Seen und des Nachts sind oft viele Grad Kälte. Daher kann es auch geschehen, daß hier und da ein Feuer angezündet wird, ehe es richtig dunkel ist. Aber nur die kleinsten und ungeduldigsten Kinder übereilen sich so. Die Großen warten, bis es so dunkel ist, daß sich die Feuer ordentlich ausnehmen können.

Dann kommt endlich der rechte Augenblick. Jeder, der auch nur an einzelnes kleines Reis zu dem Holzstoß beigetragen hat, ist zur Stelle, und der älteste von den Knaben zündet ein Bündel Stroh an und schiebt es unter den Reiserhaufen. Sofort fängt das Feuer an zu arbeiten; es knittert und sprüht in dem Holz, die dünnsten Zweige werden feuerrot, der Rauch kommt wogend daher, schwarz und drohend. Und schließlich schlägt die Flamme aus der Spitze des Reisighaufens empor, hoch und klar, hebt sich plötzlich viele Ellen hoch in die Höhe, so daß man sie in der ganzen Gegend sehen kann.

Wenn die Feuer eine Weile gebrannt haben, kommen die Erwachsenen und die Alten, um sie sich anzusehen. Aber die Feuer sind nicht nur schön und strahlend, sie verbreiten auch eine lebhafte Wärme, und es lockt sie, sich auf Steine und Grasbüschel ringsumher zu setzen. Da sitzen sie und starren in die Flammen hinein, bis es jemand von ihnen einfällt, daß man doch jetzt, wo man ein so herrliches Feuer hat, ein wenig Kaffee kochen kann. Während der Kaffeekessel singt, kann es wohl geschehen, daß der eine oder der andere eine Geschichte zu erzählen beginnt, und wenn der erste fertig ist, setzt gleich ein anderer fort.

Die Erwachsenen denken hauptsächlich an den Kaffee und die Geschichten, die Kinder denken daran, das Feuer zu hellem Brennen zu bringen und es lange zu unterhalten. Es ist dem Frühling schrecklich schwer geworden, das Eis aufzubrechen und den Schnee zu schmelzen. Es wäre schön, wenn sie ihm ein wenig mit ihrem Feuer helfen könnten. Sonst kann der Frühling unmöglich rechtzeitig den Frost aus der Erde entfernen und das Knospentreiben der Bäume fördern.

*

Die Wildgänse hatten sich auf das Eis des Siljan gestellt, um zu schlafen, und da es von Norden her arg zog, sah sich der Junge gezwungen, unter den Flügel des weißen Gänserichs zu kriechen. Aber er hatte noch nicht lange dagelegen, als er durch den Knall eines Büchsenschusses geweckt wurde. Sofort ließ er sich auf die Erde gleiten und sah sich erschreckt um.

Draußen auf dem Eise, da, wo die Gänse lagen, war es ganz still. Wieviel er auch guckte und spähte, konnte er keinen Jäger sehen. Als er aber nach dem Lande hinübersah, erblickte er etwas so Merkwürdiges, daß er glaubte, es sei eine Art Spuk, den er sah, etwas Ähnliches wie Vineta oder der Gespenstergarten bei Stora Djulö.

Am Nachmittag waren die Wildgänse mehrmals über den großen See hin und her geflogen, ehe sie sich entschließen konnten, wo sie sich niederlassen wollten. Und im Fluge hatten sie ihm die großen Kirchen und Dörfer gezeigt, die am Ufer lagen. Er hatte Leksand, Rättvik, Mora, dir Söllerö gesehen. Die Kirchdörfer waren so groß wie kleine Städte, und er hatte sich darüber gewundert, daß es hier im Norden so stark bebaut war. Er fand die ganze Gegend viel heller und freundlicher, als er es sich vorgestellt hatte, und er hatte nichts Unheimliches oder Gefahrdrohendes gesehen.

Aber nun, in der dunklen Nacht, flammte an diesen kleinen Ufern ein großer Kranz von hohen Feuern auf. Er sah sie in Mora, an dem nördlichen Ende des Sees leuchten und auf dem Gipfel des Söllerö, in Vikarbyen, auf den Bergen oberhalb Sjurberg, auf der Kirchlandzunge bei Nättvik und weiter auf Odder und Höje, ganz nach Leksand hinab. Er konnte über hundert Feuer zählen, und es war ihm ganz unmöglich, zu begreifen, wo die hergekommen waren, wenn da nicht Zauberei oder Spuk mit im Spiel war.

Die Wildgänse waren auch bei dem Schuß erwacht, aber sobald Akka einen Blick auf das Ufer geworfen hatte, sagte sie: »Das sind die Menschenkinder, die spielen.« Und sofort steckten sie und die anderen Gänse den Kopf unter den Flügel und schliefen wieder ein.

Aber der Junge stand da und sah die Feuer an, die das Ufer gleich einer langen Reihe goldener Kleinodien schmückten. Licht und Wärme lockten ihn ebenso stark, wie sie eine kleine Mücke anziehen, und er hatte die größte Lust, näher heranzugehen, aber er wußte nicht, ob er es wagen könne, die Gänse zu verlassen. Er hörte einen Schuß nach dem anderen, und da er nun begriffen hatte, daß keine Gefahr im Anzug war, lockte ihn auch das. Es schien, als wären sie so munter dort bei den Feuern, daß es für sie nicht genug war, zu lachen und zu rufen, sie mußten auch noch die Flinten zu Hilfe nehmen und schießen. Und dort bei einem Feuer, das auf einem Berge brannte, schossen sie Raketen ab. Sie hatten da ein großes Feuer, und es lag hoch oben, aber das genügte ihnen nicht. Es sollte noch schöner sein. Bis ganz hinauf in den Wolken des Himmels sollte es zu sehen sein, wie fröhlich sie waren.

Der Junge näherte sich ganz langsam dem Ufer, aber da drang Gesang bis zu ihm hinaus. Jetzt begann er auf das Land zu zu laufen. Er mußte wirklich mit dabei sein!

Ganz am Ende der Rättviker Bucht geht eine ungeheuer lange Dampferbrücke in das Wasser hinaus, und an der äußersten Spitze dieser Brücke stand eine Schar Sänger und sang in der späten Nachtstunde über den See hinaus. Es war, als glaubten sie, daß der Frühling so wie die wilden Gänse draußen auf dem Eis des Siljans schlafe, und als wollten sie ihn wecken.

Die Sänger begannen mit: »Ich weiß ein Land im hohen Norden«, und dann folgte: »Gar schön ist der Lenz, wenn die Erde sich freut!« darauf: »Nach Tuna geht der Marsch«, »Mannheit, Mut und freie Männer«, und schließlich: »In Dalarna wohnten, in Dalarna wohnt«. Es waren alles Lieder, die von Dalarna handelten. Auf der Dampferbrücke brannte kein Feuer, und die Sänger konnten sich nicht weit umsehen. Aber mit den Tönen stieg das Bild ihres Landes vor ihnen und vor allen, die sie hörten, klarer und schöner auf, als wenn es heller, lichter Tag gewesen wäre. Es war gleichsam, als wollten sie den Frühling rühren: »Sieh doch nur, welch schönes Land da liegt und auf dich wartet! Willst du uns denn nicht zu Hilfe kommen? Willst du den Winter wirklich noch lange seinen Druck auf diese schönen Gegenden legen lassen?«

So lange der Gesang währte, stand Niels Holgersen da und lauschte, als er aber verstummte, eilte er an Land. Ganz am Ende der Bucht war das Eis aufgetaut, aber da waren viele Sandbänke, so daß er doch glücklich nach einem Feuer hinüber gelangte, das am Ufer selbst lag. Mit großer Vorsicht schlich er so nahe heran, daß er die Menschen sehen konnte, die um das Feuer saßen und standen; er konnte sogar hören, was sie sagten. Und wieder mußte er sich verwundern, was es wohl sein könne, das er sah, und er fragte sich, ob es wohl etwas anderes sei als eine Vision. Nie zuvor hatte er Menschen so gekleidet gesehen. Die Frauen hatten schwarze spitze Mützen auf dem Kopf, sie trugen kleine, weiße Pelzjacken, rosa Tücher um den Hals, grünseidene Taillen und schwarze Röcke, deren Vorderbahn mit weißen, roten, grünen und schwarzen Streifen quer durchzogen war. Die Männer hatten runde, niedrige Hüte, blaue Röcke mit rotumrandeten Säumen, gelbe Lederhosen, die bis an die Knie reichten und mittels roter, mit Quasten verzierter Strumpfbänder befestigt waren. Er wußte nicht, ob die Kleidung allein schuld daran war, aber er fand, die Leute hier sahen ganz anders aus als anderswo, viel vornehmer und stattlicher. Er hörte, daß sie miteinander sprachen, aber lange konnte er nichts verstehen. Er mußte an die feinen Trachten denken, die seine Mutter in ihrer Truhe hatte, und die niemand seit undenklichen Zeiten mehr hatte tragen wollen, und ihm kam der Gedanke, ob dies nicht etwa Leute aus der Vergangenheit seien, die in den letzten hundert Jahren nicht lebend auf der Erde gewandelt waren. Aber das war nur so ein Gedanke, der ihm durch den Kopf flog und gleich wieder weghuschte, denn er sah sehr wohl, daß es lebende Menschen waren, die er hier vor sich hatte. Die Sache war die, daß die Bevölkerung um den Siljansee in Sprache und Kleidung und im Wesen mehr von entschwundenen Zeiten bewahrt haben, als die Bewohner anderer Gegenden. Daher war er auf solche Gedanken gekommen.

Der Junge bemerkte sofort, daß die Leute, die um das Feuer saßen, von alten Zeiten redeten. Sie erzählten, wie es ihnen in ihren jungen Jahren ergangen war, als sie lange Wege nach anderen Landschaften wandern mußten, um denen daheim durch ihre Arbeit Brot zu verschaffen. Er hörte mehrere Erzählungen, aber am besten entsann er sich später dessen, was eine alte Frau erlebt hatte.

Moor-Kirstens Geschichte.

»Vater und Mutter hatten einen kleinen Hof in Ostbürka, aber wir waren viele Geschwister, und die Zeiten waren schwer, so sah ich mich denn mit sechzehn Jahren genötigt, von Hause fortzugehen. Wir zogen von dannen, zwanzig junge Leute aus Rättvik. Es war im Jahre 1845, am 16. April, als ich zum ersten Mal nach Stockholm ging. In meinem Beutel hatte ich einige Brote, ein Kalbsvorderblatt und ein wenig Käse. Die ganze Reisekasse betrug vierundzwanzig Schilling. Die anderen Vorräte, die ich mitbekommen, hatte ich in den ledernen Sack gelegt, den ich mit einem Arbeitsanzug auf einem Bauernwagen vorausgeschickt hatte.

So gingen wir denn alle zwanzig den Weg nach Falun. Wir pflegten fünf, sechs Meilen am Tage zurückzulegen, und wir erreichten Stockholm nach sieben Tagen. Das war etwas anderes, als sich in den Zug zu setzen, wie es die Mädchen heutzutage tun, und in acht, neun Stunden so überaus bequem dahinzufahren.

Als wir in Kopenhagen einzogen, riefen die Leute einander zu: ›Seht, da kommt das Dal-Regiment.‹ Es klang auch so, als käme ein ganzes Regiment dahermarschiert, wenn wir auf unseren Schuhen mit den hohen Absätzen, in die der Schuster nicht weniger als fünfzehn große Nägel hineingeschlagen hatte, die Straße entlang gingen. Es geschah nicht selten, daß mehrere von uns strauchelten und fielen, weil wir nicht daran gewöhnt waren, auf den spitzen Pflastersteinen zu gehen.

Wir zogen in das Dal-Wirtshaus ›das weiße Roß‹, das auf Södermalen in der Stora Badstugata lag. Die Leute aus Mora wohnten in derselben Straße in einem Wirtshaus, das ›Store Krone‹ hieß. Nun handelte es sich ja darum, schleunigst Arbeit zu bekommen, denn von den vierundzwanzig Schillingen, die ich von Hause mitgenommen hatte, waren nicht mehr als achtzehn übrig. Eins von den anderen Mädchen sagte, ich solle zu einem Rittmeister gehen, der bei Hornstutt wohne, und nach Arbeit fragen. Dort blieb ich vier Tage; ich sollte in seinem Garten graben und pflanzen. Vierundzwanzig Schilling erhielt ich als Tagelohn; für Essen mußte ich selbst sorgen. Ich bekam nicht viel zu essen, aber die kleinen Mädchen meiner Herrschaft, die sahen, wie ärmlich es mit mir bestellt war, liefen in die Küche und baten um Essen für mich, so daß ich mich doch satt essen konnte.

Dann kam ich zu einer Frau in der Norrlandsgata. Dort bekam ich eine elende Kammer, und die Mäuse nahmen meine Mütze und mein Halstuch weg und nagten ein Loch in meinen ledernen Beutel, so daß ich ihn mit einem alten Stiefelschaft flicken mußte, den ich mir verschaffte. Da hatte ich nicht mehr als vierzehn Tage Arbeit, und dann mußte ich mit zwei Talern in der Tasche wieder nach Hause gehen.

Ich ging über Leksand heim und lag ein paar Tage in einem Dorf, das Ronnäs hieß. Ich entsinne mich noch, daß die Leute dort Suppe aus Hafermehl kochten, das sie mit Spreu und Kleie zusammen mahlten. Sie hatten nichts weiter, und das mußte in den Tagen der Hungersnot heruntergleiten.

Ja, das Jahr war gerade nicht zum Prahlen, aber die nächsten Jahre mußte ich noch mehr Widerwärtigkeiten erdulden. Ich war ja gezwungen, wieder von Hause zu gehen, denn sonst hätten die daheim nichts zu leben gehabt. Ich ging zusammen mit zwei Mädchen nach Hudiksvall, und es waren fünfunddreißig Meilen bis dahin. Den ganzen Weg mußten wir mit dem Ledersack auf dem Rücken gehen, denn diesmal hatten wir keinen Wagen, mit dem wir ihn hätten schicken können. Wir hatten gehofft, Gartenarbeit bekommen zu können, aber als wir dahin kamen, lag überall hoher Schnee, so daß keine derartige Arbeit zu finden war. Dann ging ich aufs Land in die Bauerhöfe hinein und bat so eindringlich, man möge mir etwas zu tun geben. Ach, herrjemine, wie hungrig und müde war ich schließlich, bis ich an einen Hof kam, wo ich bleiben und für acht Schilling den Tag Wolle kratzen durfte! Aber späterhin im Frühling bekam ich Arbeit in den Gärten in der Stadt, und da blieb ich bis zum ersten Juli. Dann aber befiel mich ein solches Heimweh, daß ich mich auf den Weg nach Rättvik machte. Ich war ja erst siebzehn Jahre alt, müßt ihr bedenken. Meine Schuhe hatte ich durchgelaufen, so daß ich die fünfunddreißig Meilen auf bloßen Füßen gehen mußte. Und doch war ich von Herzen froh, denn nun hatte ich fünfzehn Reichstaler zusammengespart, und für meine kleinen Geschwister brachte ich einige harte Weizenzwiebacke und eine Tüte mit geschlagenem Zucker mit, den ich aufgespart hatte. Denn wenn mir jemand Kaffee mit zwei Stück Zucker dazu gegeben, hatte ich immer das eine aufgehoben.

Hier sitzet nun ihr, Mädchen, und wißt nicht, wie sehr ihr Gott zu danken habt, daß er uns bessere Zeiten gegeben. Denn damals war es nicht anders, als daß das eine Hungerjahr das andere ablöste. Alle jungen Leute in Dalarna mußten von Hause fort, um Geld zu verdienen. Das nächste Jahr – 1847 – ging ich wieder nach Stockholm und bekam Arbeit in dem großen Hornsbuger Garten. Wir waren mehrere Mädchen aus Dalarna, und nun bekamen wir etwas höheren Tagelohn, aber sparen mußten wir trotzdem. In den Gärten sammelten wir alte Nägel und Knochen und verkauften sie an den Lumpenhändler, und für das Geld kauften wir eine Art steinharten Zwieback, den sie in der Militärbäckerei für die Soldaten buken. Ende Juli ging ich wieder nach Hause, um bei der Ernte zu helfen. Diesmal hatte ich dreißig Taler zusammengespart.

Im nächsten Jahr mußte ich wieder hinaus, um Geld zu verdienen. Da kam ich auf den Stallmeisterhof in der Nähe von Stockholm. In jenem Sommer war Feldmanöver auf dem Lagårdsgärd und der Marketender schickte mich hin, um die Aufwartung in einer Küche zu übernehmen, die er in einem großen Rüstwagen eingerichtet hatte. Und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, so vergesse ich niemals den Tag, als ich da draußen im Lager vor König Oskar dem Ersten auf dem Hirtenhorn blasen mußte. Und er schickte mir einen ganzen Speziestaler als Belohnung.

Dann war ich mehrere Sommer hintereinander Fährmädchen auf Brunsviken und ruderte zwischen Albano und Haga. Das war meine beste Zeit. Wir hatten ein Hirtenhorn im Boot, und manchmal nahmen die Fahrgäste selbst die Ruder, damit wir ihnen etwas vorblasen konnten. Wenn dann im Herbst das Rudern aufhörte, ging ich durch Uppland hinauf und half auf den Bauerhöfen beim Dreschen. Gegen Weihnacht pflegte ich mit hundert Reichstalern nach Hause zu kommen. Und dann hatte ich Saat beim Dreschen verdient, die holte Vater, sobald Schlittenbahn war. Ja, seht ihr, wenn ich und meine Schwestern nicht mit unserem Geld gekommen wären, so hätten die zu Hause nichts zu leben gehabt. Denn das Korn, das wir selbst bauten, war meistens verbraucht, wenn ich nach Hause kam, und Kartoffeln bauten die Leute damals nur wenig. So mußten sie denn Korn beim Kaufmann kaufen, und wenn der Roggen die Tonne vierzig Reichstaler kostete und der Hafer vierundzwanzig, so sollte man wohl sparen! Ich entsinne mich noch, daß wir mehrmals eine Kuh für eine Tonne Hafer hergaben. In jenen Zeiten buken wir Haferbrot mit feingehacktem Stroh zwischen dem Mehl. Es war nicht leicht, solch Strohbrot herunterzubekommen, das könnt ihr mir glauben. Man mußte zwischen dem Bissen Wasser trinken, damit es nur glitt.

So fuhr ich fort, hin und her zu gehen bis zu dem Jahr, als ich heiratete, und das war 1856. Seht, Jon und ich waren in Stockholm gute Freunde geworden. Und jedes Jahr, wenn ich heimzog, war ich gleichsam ein wenig bedrückt, daß die Stockholmer Mädchen seine Gedanken von mir wenden könnten. Sie nannten ihn ›den schönen Ton vom Moor‹, ›den schönen Dalekarlier‹, das wußte ich. Aber es war kein Falsch in seinem Herzen, und als er Geld genug zusammengespart hatte, machten wir Hochzeit.

Dann war da einige Jahre lang eitel Freude und keine Sorge. Aber das währte nicht lange. 1863 starb Jon, und ich stand allein da mit fünf kleinen Kindern. Aber es ging uns eigentlich nicht schlecht, denn jetzt waren bessere Zeiten in Dalarna. Da waren reichlich Kartoffeln, und da war reichlich Korn. Es war ein großer Unterschied gegen früher. Ich bestellte selbst das bißchen Land, das ich geerbt hatte, und ich hatte mein eigenes Haus. So verging ein Jahr nach dem anderen, und die Kinder wuchsen heran. Sie sind gut gestellt, alle die von ihnen am Leben sind. Gott sei dank! Sie können sich keinen rechten Begriff davon machen, wie knapp es die Leute in Dalarna hatten, als ihre Mutter jung war.«

Die Alte schwieg. Während sie erzählte, war das Feuer heruntergebrannt, und alle erhoben sich und sagten, es sei an der Zeit, nach Hause zu gehen. Der Junge kehrte auf das Eis zurück, um nach seinen Reisegefährten zu suchen, aber wie er so allein in der Finsternis dahinlief, klang ihm ein Vers in den Ohren, den er vor kurzem auf der Brücke hatte singen hören: »In Dalarna wohnte, in Dalarna wohnt bei Armut auch Treue und Ehre …« Dann kam etwas, dessen er sich nicht mehr zu entsinnen vermochte, aber den Schluß des Liedes wußte er noch: »Sie mischten mit Rinde nicht selten ihr Brot, doch mächtigen Herren ward Hilfe in Not bei den armen Männern in Dalarna.«

Der Junge hatte nicht alles vergessen, was er von den Stures und von Gustav Wasa gehört hatte, er hatte nie begreifen können, warum die gerade Hilfe bei den Dalekarliern suchten, aber jetzt verstand er es. Denn in einem Land, wo es solche Frauen gab, wie die Alte da oben am Feuer, mußten die Männer ja ganz unbezwinglich sein.

XXXI. Bei den Kirchen

Sonntag, 1. Mai.

Als der Junge am nächsten Morgen erwachte und sich auf das Eis hinabgleiten ließ, konnte er sich eines Lachens nicht erwehren. In der Nacht war eine Menge Schnee gefallen, und es schneite noch immer weiter. Die ganze Luft war voll weißer Flocken, die so groß waren, daß man, ehe sie fielen, gut hätte glauben können, es seien die Flügel erfrorener Schmetterlinge. Auf dem See lag der Schnee mehr als zollhoch, die Ufer waren weiß, und die Wildgänse waren so beschneit, daß sie aussahen wie kleine Schneewehen.

Von Zeit zu Zeit bewegten sich Akka oder Yksi oder Kaksi ein wenig, aber wenn sie sahen, daß es noch immer schneite, steckten sie schnell den Kopf wieder unter die Flügel. Sie fanden wohl, daß sie in einem solchen Wetter nichts Besseres tun konnten als schlafen, und darin mußte der Junge ihnen recht geben.

Einige Stunden später erwachte er von dem Läuten der Rättviker Kirchenglocken. Jetzt hatte das Schneewetter aufgehört, aber es wehte scharf aus Norden, und draußen auf dem See war es schneidend kalt. Er freute sich, als die Wildgänse endlich den Schnee abschüttelten und dem Lande zuflogen, um sich Fressen zu verschaffen.

An jenem Tage war Konfirmation in der Rättviker Kirche, und die Konfirmanden, die rechtzeitig gekommen waren, standen in kleinen Gruppen vor der Kirche und sprachen miteinander. Sie trugen alle die Tracht der Gegend, und ihre Kleider waren so neu und bunt, daß sie förmlich schimmerten. »Liebe Mutter Akka, fliege hier ein wenig langsamer,« sagte der Junge, als die Wildgänse geflogen kamen, »damit ich die jungen Leute sehen kann!« Die Führergans fand scheinbar, daß das ein billiges Verlangen war, denn sie ließ sich so tief hinab, wie sie nur konnte, und flog dreimal um die Kirche herum. Es ist nicht leicht zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber als Niels Holgersen die Knaben und die Mädchen von da oben erblickte, meinte er, nie eine Schar prächtigerer junger Menschenkinder gesehen zu haben. »Ich glaube nicht, daß es feinere Prinzen und Prinzessinnen im Schloß des Königs gibt,« sagte er zu sich selbst.

Es war ziemlich viel Schnee gefallen. In Rättvik bedeckte er alle Felder, und Akka war nicht imstande, auch nur eine Stelle zu entdecken, wo sie sich niederlassen konnte. Da besann sie sich nicht lange, sondern flog südwärts, nach Leksand hinab.

In Leksand waren, wie gewöhnlich im Frühling, die meisten der jungen Leute fortgegangen, um Arbeit zu suchen. Es waren kaum andere daheim im Dorf als die Alten, und als die Wildgänse geflogen kamen, wanderte eine lange Reihe alter Frauen durch die stattliche Birkenallee, die zur Kirche hinauf führt. Sie kamen dahergegangen auf der weißen Erde zwischen den weißstämmigen Birken in schneeweißen Schaffelljacken, weißen Pelzkleidern, gelben oder schwarz und weiß gestreiften Schürzen und mit weißen Mützen, die das weiße Haar fest umschlossen.

»Liebe Mutter Akka,« sagte der Junge, »fliege hier ein wenig langsamer, damit ich mir die alten Leute ansehen kann!« Die Führergans fand scheinbar, daß das ein billiges Verlangen war, denn sie ließ sich so tief hinab, wie sie es nur wagen konnte, und flog dreimal über der Birkenallee hin und her. Es ist nicht leicht zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber der Junge meinte, nie alte Frauen gesehen zu haben, die so klug und milde aussahen. »Diese alten Frauen sehen so aus, als wenn sie Könige zu Söhnen und Königinnen zu Töchtern hätten,« sagte der Junge zu sich selbst.

Aber in Leksand war es nicht besser als in Rättvik. Überall lag hoher Schnee, und Akka sah keinen anderen Ausweg, als die Reise südwärts bis nach Gagnef fortzusetzen.

In Gagaef hatte an jenem Tage vor dem Gottesdienst eine Beerdigung stattgefunden. Der Leichenzug war spät zur Kirche gekommen, und hinterher war das Begräbnis in die Länge gezogen. Als die Wildgänse geflogen kamen, waren noch nicht alle in die Kirche gegangen; verschiedene Frauen gingen noch auf dem Kirchhof herum und sahen nach ihren Gräbern. Sie hatten grüne Taillen an mit roten Ärmeln, und auf dem Kopf hatten sie bunte Tücher mit farbigen Fransen.

»Liebe Mutter Akka, fliege hier ein wenig langsamer,« sagte der Junge, und die Wildgans fand scheinbar, daß das ein billiges Verlangen war, denn sie ließ sich so tief nieder, wie sie es nur wagen konnte, und flog dreimal über den Kirchhof hin und her. Es ist schwer zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber als der Junge die Frauen von dort oben durch die Bäume des Kirchhofes sah, fand er, daß sie den schönsten Blumen glichen. »Sie sehen alle zusammen so aus, als wären sie auf einem Beet in des Königs eigenem Garten gewachsen,« dachte er.

Aber auch in Gagnef war nicht ein einziger Fleck, der frei von Schnee war, und die Wildgänse wußten keinen besseren Rat, als weiter gen Süden nach Floda zu fliegen.

In Floda saßen die Leute in der Kirche, als die Wildgänse geflogen kamen, aber es sollte an dem Tage eine Hochzeit stattfinden, sobald der Gottesdienst beendet war, und die Hochzeitsgesellschaft stand draußen auf dem Kirchenhügel aufgestellt. Die Braut trug eine Goldkrone über dem ausgekämmten Haar und war so mit Schmucksachen und Blumen und bunten Bändern behängt, daß einem die Augen förmlich weh taten, wenn man sie ansah. Der Bräutigam ging in einem langen, blauen Rock, in Kniehosen und roter Mütze umher. Die Bauermädchen hatten Kleider an, die an der Taille wie auch rings um den Rock mit Rosen und Tulpen bestickt waren. Die Eltern und Nachbarn folgten im Zuge in ihren bunten Trachten.

»Liebe Mutter Akka, fliege hier ein wenig langsamer,« bat der Junge, und die Führergans ließ sich so tief hinab, wie sie es nur wagen konnte, und flog dreimal über dem Kirchenhügel hin und her. Es ist schwer zu sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, aber so wie der Junge sie von hier oben sah, meinte er, eine so liebliche Braut und einen so stolzen Bräutigam und ein so prächtiges Brautgefolge könne es nirgends anders geben. »Ich möchte wohl wissen, ob der König und die Königin in ihrem hohen Schloß feiner sind,« dachte er bei sich selbst.

Aber hier in Floda fanden die Wildgänse endlich schneefreie Felder, so daß sie nicht weiter zu fliegen brauchten, um Futter zu suchen.

XXXII. Die Überschwemmung

1.-4. Mai.

Mehrere Tage lang raste ein fürchterliches Wetter in der Gegend nördlich von dem Mälarsee. Der Himmel war ganz bedeckt, der Wind heulte, und der Regen strömte herab. Menschen wie auch Tiere wußten, daß das mit dazu gehört, wenn es Frühling werden soll, aber trotzdem fanden sie, daß es kaum zu ertragen sei.

Als es einen Tag geregnet hatte, fingen die Schneemassen im Tannenwalde allen Ernstes an zu schmelzen, und in die Frühlingsbäche kam Fahrt. Alle Wasserlachen auf den Höfen, das stillstehende Wasser in den Gräben, das Wasser, das zwischen den Grasbüscheln im Moor und Sumpf hervorquoll, geriet alles in Bewegung und suchte einen Weg nach den Bächen hinauszufinden, um mit ins Meer hinausgenommen zu werden.

Die Bäche liefen, so schnell sie konnten, nach den Mälarflüssen hinab, und die Flüsse taten ihr bestes, um dem Mälar Wassermassen zuzuführen. Aber dann warfen alle die kleinen Seen in Uppland und im Bergwerkdistrikt an einem Tage die Eisdecke ab, so daß die Flüsse sich mit Eisschollen anfüllten und plötzlich bis an ihre Ufer stiegen. Und so groß wie die Flüsse nun geworden waren, stürzten sie sich in den Mälarsee, und es währte nicht lange, bis soviel Wasser dahinein gelaufen war, daß er auf keine Weise mehr aufnehmen konnte. Der Strom unten am Auslauf wurde stark, aber der Nörrström ist ein enges Fahrwasser, und er konnte das Wasser nicht so schnell, wie es nötig war, hindurchlassen. Obendrein raste ein östlicher Sturm, so daß die Wellen des Meeres in starker Brandung gegen das Land getrieben wurden und sich gegen den Strom stemmten, der süßes Wasser in die Ostsee führen wollte. Da nun die Flüsse dem Mälar unaufhörlich neues Wasser zuführten, und der Strom nicht imstande war, es fortzuführen, blieb dem großen See nichts weiter übrig, als über seine Ufer zu treten.

Er stieg sehr langsam, ganz als sei er unwillig, seinen schönen Ufern Schaden zuzufügen. Da diese aber fast überall niedrig sind und schwach abfallen, währte es nicht lange, bis das Wasser viele Ellen weit ins Land hineingelangt war, und mehr gehörte nicht dazu, um die größte Verwirrung anzurichten.

Der Mälar ist etwas ganz für sich. Er besteht aus lauter engen Föhrden, Buchten und Sunden; nirgends breitet er sich zu großen, sturmgepeitschten Flächen aus, es ist, als sei er nur zu Vergnügungsreisen und Lustfahrten und fröhlichen Fischzügen geschaffen. Und er hat so viele schöne, bewaldete Inseln, Werder und Landzungen: nirgends zeigt er uns kahle, nackte, windzerzauste Ufer; es ist, als habe er sich nie gedacht, daß sie etwas anderes tragen sollten als Lustschlösser, Landhäuser, Herrenhöfe und Vergnügungsorte. Aber vielleicht gerade weil er sich in der Regel so sanft und freundlich zeigt, entsteht so ein Spektakel, wenn er hin und wieder einmal im Frühling sein lächelndes Gesicht ablegt und zeigt, daß er allen Ernstes gefährlich sein kann.

Da es nun so schien, als wolle er eine Überschwemmung veranstalten, wurden alle Boote und Prähme, die den Winter über an Land gezogen waren, in größter Eile gedichtet und geteert, um so schnell wie möglich in den See gesetzt zu werden. Die Waschbrücken wurden an Land gezogen, und die Brücken auf der Landstraße wurden ausgebessert. Die Bahnwärter, die die Aufsicht über die Eisenbahnstrecken am See entlang hatten, gingen ununterbrochen auf den Schienen hin und her und wagten weder Tag noch Nacht zu schlafen.

Bauern, die Heu oder dürres Laub auf den flachen Werdern in Scheunen aufbewahrt halten, beeilten sich, es an Land zu schaffen. Die Fischer nahmen ihre Reusen und Netze herein, damit sie nicht von der Überschwemmung weggespült werden sollten. An den Fährstellen wimmelte es von Reisenden: alle, die ausreisen oder nach Hause wollten, beeilten sich, solange sie noch sicher sein konnten, daß die Überfahrt nicht unterbrochen war.

In der Nähe von Stockholm, wo am Ufer ein Landhaus neben dem anderen liegt, war die Geschäftigkeit am größten. Die meisten Villen lagen freilich so hoch oben an Land, daß für sie keine Gefahr vorhanden war, aber bei jeder Villa war ja eine Badebrücke und ein Badehaus, und die mußten in Sicherheit gebracht werden.

Doch nicht nur die Menschen wurden unruhig, wenn der Mälar anfing, über seine Ufer zu treten. Die Enten, die ihre Eier zwischen das Gesträuch am Strande gelegt hatten, die Wasserratten und die Spitzmäuse, die am Ufer wohnten und kleine hilflose Junge im Nest hatten, waren in großer Not. Selbst die stolzen Schwäne wurden ängstlich, daß ihre Nester und Eier zerstört werden könnten.

Und das waren keine unnötigen Sorgen, denn mit jeder Stunde, die verging, stieg der Mälar.

Den Weiden und Erlen, die am Uferrande wuchsen, ging das Wasser schon hoch an den Stämmen hinauf. In die Gärten war das Wasser eingedrungen und wühlte in den Gemüsebeeten auf seine eigene Weise herum, und auf den Roggenfeldern, die so lagen, daß es dahinzugelangen konnte, richtete es großen Schaden an.

Mehrere Tage lang fuhr der See fort zu steigen. Die flachen Wiesen rings um Gripsholm standen unter Wasser, so daß das große Schloß nicht nur durch einen schmalen Graben, sondern durch breite Sunde vom Lande getrennt war. In Strängnäs wurde die schöne Strandpromenade in einen brausenden Fluß verwandelt, und in Vestnås bereitete man sich darauf vor, in Booten durch die Straßen zu fahren. Ein paar Elchen, die auf einem Werder im Mälar überwintert hatten, war ihr Wohnort unter Wasser gesetzt, und sie kamen an Land geschwommen. Ganze Holzlager, Unmengen von Planken und Brettern, eine Masse Braukübel und Wassertonnen waren ins Treiben geraten, und überall waren Leute auf ihren Booten aus um zu bergen.

In dieser beschwerlichen Zeit schlich Reineke Fuchs eines Tages in einem Birkenhain herum, der eine Strecke nördlich vom Mälar lag. Wie gewöhnlich dachte er an die Wildgänse und an Däumling und sann darüber nach, wie er es anstellen sollte, sie zu finden, denn er hatte ihre Spur ganz verloren.

Als er so recht mutlos war, erblickte er die Sendtaube Agar, die auf einem Birkenzweig saß. »Gut, daß ich dich treffe,« sagte Reineke. »Du kannst mir vielleicht sagen, wo Akka von Kebnekajse und ihre Schar sich augenblicklich aufhalten.« – »Es ist ja nicht unmöglich, daß ich weiß, wo sie sind,« erwiderte Agar, »aber ich habe durchaus nicht die Absicht, es dir zu sagen.« – »Es ist auch schließlich einerlei,« entgegnete Reineke, »wenn du ihnen nur einen Gruß überbringen willst, den ich für sie habe. Du weißt, wie schlimm es in diesen Tagen am Mälar aussieht. Da ist eine große Überschwemmung, und das große Schwanenvolk, das in Hjälstaviken wohnt, ist in größter Gefahr, daß seine Nester und Eier zerstört werden. Aber der Schwanenkönig Tagklar hat von dem Männlein gehört, das mit den Wildgänsen reist und das für alles Rat weiß, und er hat mich hierher gesandt, um Akka zu fragen, ob sie nicht mit Däumling hierher nach Hjälstaviken kommen will.«

»Den Gruß kann ich ja überbringen,« sagte Agar. »Aber ich begreife freilich nicht, wie der kleine Knirps den Schwänen sollte helfen können.« – »Das weiß ich auch nicht,« sagte Reineke, »aber er übernimmt ja alles mögliche.« – »Es wundert mich auch, daß Tagklar seinen Gruß an die Gänse durch einen Fuchs entsendet,« wandte Agar ein. – »Du hast ganz recht, wir sind ja sonst Feinde,« sagte Reineke mit sanfter Stimme. »Aber wenn die Not so groß ist, muß man einander helfen. Trotzdem ist es wohl besser, wenn du Akka nicht erzählst, daß du den Gruß durch einen Fuchs erhalten hast, denn sie ist mir gegenüber ein wenig mißtrauisch.«

Die Schwäne in Hjälstaviken

Die sicherste Zufluchtsstätte für Schwimmvögel am ganzen Mälar ist Hjälstaviken, der innerste Teil der Ekolsundbucht, die wiederum eine Erweiterung des Norra Björkofjordsist, der nächstgrößten von den langen Fären, die der Mälar nach Uppland hinein sendet.

Hjälstaviken hat flache Ufer, niedriges Wasser und eine Menge Röhricht, ganz so wie der Tåkere. Die Bucht ist lange nicht so groß wie der berühmte Vogelsee, aber trotzdem ist sie eine gute Heimstätte für Vögel, weil sie seit vielen Jahren für unverletzlich gilt. Sie ist nämlich der Aufenthaltsort für ein großes Schwanenvolk, und der Besitzer der alten Königsburg Ekolsund, die in der Nähe liegt, hat alle Jagd auf der Bucht verboten, damit die Schwäne nicht gestört und geängstigt werden.

Sobald Akka Nachricht erhalten hatte, daß das Schwanenvolk ihrer Hilfe bedürfe, eilte sie nach Hjälstaviken. Sie langte mit ihrer Schar eines Abends dort an und sah sofort, daß ein großes Unglück geschehen war. Die großen Schwanennester waren losgerissen und trieben in dem starken Sturm auf der Bucht. Einige waren schon auseinandergefallen, ein paar waren umgestürzt, und die Eier, die darin gewesen waren, lagen auf dem Grunde des Sees und schimmerten durch das Wasser.

Als sich Akka in der Bucht niederließ, waren alle Vögel, die dort wohnten, am östlichen Ufer versammelt, wo sie im besten gegen den Wind geschützt waren. Obwohl sie sehr durch die Überschwemmung gelitten hatten, waren sie viel zu stolz, um ihre Betrübnis zu zeigen. »Es hat keinen Zweck zu trauern,« sagten sie. »Hier sind reichlich Röhrichtfasern und Stengel. Wir können uns bald neue Nester bauen.« Keins von ihnen hatte es sich träumen lassen, Fremde um Hilfe zu rufen, auch hatte niemand eine Ahnung davon, daß Reineke nach den Wildgänsen geschickt hatte.

Da waren mehrere hundert Schwäne, und sie hatten sich nach Rang und Stellung hingelegt; die jüngsten und unerfahrensten zu äußerst im Kreise, die alten und klugen mehr in der Mitte. Ganz im Innersten lagen Tagklar, der Schwanenkönig und Schneefried, die Schwanenkönigin, die älter waren als alle die anderen, so daß die meisten von dem Schwanenvolk ihre Kinder und Kindeskinder waren.

Tagklar und Schneefried konnten von den Tagen erzählen, wo Schwäne ihres Stammes nicht irgendwo in Schweden wild lebten, sondern nur in zahmem Zustand auf Schloßgräben und Teichen gefunden wurden. Aber dann waren ein Paar Schwäne der Gefangenschaft entronnen und hatten sich in Hjälstaviken niedergelassen, und von den beiden stammten alle die Schwäne ab, die dort wohnten. Jetzt nisteten in vielen der Mälarbuchten wilde Schwane ebenso wie auf dem Tåkern und dem Hornbörgasee. Alle diese Ansiedler waren von Hjälstaviken gekommen, und die Schwäne, die dort wohnten, waren sehr stolz darauf, daß ihr Geschlecht sich so von See zu See ausbreitete.

Die Wildgänse hatten sich zufällig an dem westlichen Ufer niedergelassen; als Akka aber sah, wo die Schwäne lagen, schwamm sie sogleich auf sie zu. Sie war selbst sehr erstaunt, daß sie nach ihr geschickt hatten, aber sie betrachtete es als eine Ehre und wollte keinen Augenblick vergeuden, wenn es sich darum handelte, ihnen zu helfen.

Als Akka in die Nähe der Schwäne kam, hielt sie mit dem Schwimmen inne, um zu sehen, ob die Gänse, die ihr folgten, in gerader Linie und mit gleich großen Zwischenräumen hinter ihr drein schwammen. »Schwimmt jetzt schnell und hübsch!« sagte sie. »Starrt die Schwäne nicht an, als wenn ihr nie etwas Schönes gesehen hättet, und kümmert euch nicht darum, was sie zu euch sagen!«

Es war nicht das erstemal, daß Akka die alten Schwanenherrschaften besuchte, und sie hatten sie immer mit der Aufmerksamkeit aufgenommen, auf die ein so weitbereister und angesehener Vogel Anspruch erheben konnte. Aber sie mochte nicht zwischen alle die Schwäne hineinschwimmen, die rings um sie herumlagen. Sie fühlte sich nie so klein und so grau, als wenn sie zwischen die Schwäne kam, und es konnte wohl geschehen, daß der eine oder der andere von ihnen ein paar Worte fallen ließ von gewissen Leuten, die grau und häßlich waren. Das klügste aber war, so zu tun, als höre man es nicht, und schnell weiter zu eilen.

Diesmal hatte es den Anschein, als wenn alles ungewöhnlich gut gehen sollte. Die Schwäne glitten ganz still zur Seite, und die wilden Gänse schwammen gleichsam durch eine Straße, mit den großen, weißschimmernden Vögeln zu beiden Seiten. Es war sehr hübsch zu sehen, wie sie dalagen und die Flügel wie Segel ausspannten, um einen guten Eindruck auf die Fremden zu machen. Sie machten nicht eine einzige Bemerkung, und Akka war ganz erstaunt. »Tagklar hat früher von ihren Ungezogenheiten gehört und ihnen gesagt, daß sie sich wie gebildete Tiere benehmen sollen,« dachte die Führergans.

Aber als die Schwäne sich so recht bemühten, gute Lebensart zu zeigen, erblickten sie den weißen Gänserich, der in der langen Reihe der Gänse als der letzte geschwommen kam. Da ging ein Brausen der Verwunderung und der Empörung durch die Schar, und mit einem Schlage war es vorbei mit dem feinen Wesen.

»Was ist das?« rief einer von ihnen. »Wollen die wilden Gänse jetzt weiße Federn haben?«

»Sie bilden sich doch wohl nicht ein, daß sie deswegen Schwäne werden!« schrien sie von allen Seiten.

Sie riefen alle durcheinander mit ihren klangvollen, starken Stimmen. Es war nicht möglich, ihnen zu erklären, daß es eine zahme Gans sei, die mit den Wildgänsen gekommen war.

»Das ist wohl der Gänsekönig selbst, der da kommt,« spotteten sie.

»Ist das eine bodenlose Unverschämtheit!«

»Es ist ja gar keine Gans, es ist nur eine zahme Ente!«

Der große Weiße gedachte Akkas Befehl, sich nicht an das zu kehren, was sie zu hören bekämen. Er schwieg ganz still und schwamm so schnell er konnte, aber es half ihm nichts; die Schwäne wurden immer zudringlicher. »Was für eine Kröte hat er da auf dem Rücken?« fragte einer. »Sie glauben wohl, wir können nicht sehen, daß es eine Kröte ist, weil sie wie ein Mensch gekleidet ist.«

Die Schwäne, die bisher in einer so hübschen Ordnung dagelegen hatten, schwammen nun in der wildesten Verwirrung bunt durcheinander. Alle drängten sich vor, um die weiße Wildgans zu sehen.

»So ein weißer Gänserich sollte sich schämen, sich vor uns Schwänen sehen zu lassen.«

»Er ist, weiß Gott, ebenso grau wie die anderen. Er hat sich nur auf einem Bauernhof in einen Milchkübel getaucht.«

Akka war gerade bis zu Tagklar gelangt und wollte ihn eben fragen, womit sie ihm helfen könne, als er auf die Erregung aufmerksam wurde, die unter dem Schwanenvolk entstanden war. »Was ist denn da los? Habe ich nicht befohlen, daß sie höflich gegen Fremde sein sollen?« sagte er und sah sehr unzufrieden aus.

Schneefried, die Schwanenkönigin, schwamm hin, um ihre Leute in Ordnung zu halten, und Tagklar wandte sich wieder an Akku. Da kam Schneefried zurück und sah sehr erregt aus. »Kannst du sie nicht zum Schweigen bringen?« rief ihr der Schwanenkönig entgegen.– »Da ist eine weiße Wildgans,« erwiderte Schneefried. »Das ist doch wirklich ein Skandal. Es wundert mich nicht, daß sie empört sind.«

»Eine weiße Wildgans?« sagte Tagklar. »Das ist zu arg. Das gibt es ja gar nicht! Du mußt dich geirrt haben!«

Das Gedränge um den Gänserich Martin wurde immer größer, und die anderen Wildgänse versuchten, zu ihm hin zu schwimmen, aber sie wurden hin und her gepufft und konnten nicht an ihn heran gelangen.

Der alte Schwanenkönig, der der stärkste von ihnen allen war, setzte sich jetzt schnell in Bewegung, schob alle die anderen zur Seite und bahnte sich einen Weg zu dem Weißen. Aber als er sah, daß da wirklich eine weiße Gans auf dem Wasser lag, wurde er ebenso zornig wie alle die anderen. Er fauchte vor Wut, ging geradeswegs auf den Gänserich Martin los und riß ihm ein paar Federn aus. »Ich will dich lehren, du Wildgans, so aufgeputzt zu uns Schwänen zu kommen!« sagte er.

»Flieg‘, Gänserich Martin, flieg‘!« rief Akka, denn sie sah ein, daß die Schwäne dem großen Weißen jede Feder ausrupfen würden. Und »flieg‘! flieg‘!« rief auch Däumling. Aber der Gänserich lag so zwischen den Schwänen eingeklemmt, daß er keinen Platz bekommen konnte, um die Flügel zu heben. Und von allen Seiten streckten die Schwäne ihre starken Schnäbel vor, um ihm die Federn auszurupfen.

Der Gänserich Martin verteidigte sich nach besten Kräften, er biß und schlug, und die anderen Wildgänse gingen auf die Schwäne los. Aber es war klar, wie das Ende hätte ausfallen müssen, wenn sie nicht ganz unerwartet Hilfe bekommen hätten.

Da war ein Rotschwänzchen, das hatte gesehen, daß die Wildgänse zwischen den Schwänen in die Klemme geraten waren, und es stieß sofort den scharfen Warnungsschrei aus, dessen sich die kleinen Vögel bedienen, wenn es gilt, einen Habicht oder einen Falken in die Flucht zu schlagen. Und kaum war der Ruf dreimal ertönt, als alle die kleinen Vögel der ganzen Umgegend auf blitzschnellen Schwingen in einem großen, lärmenden Schwarm nach Hjälstaviken hinabschossen.

Und diese armen, schwachen Kleinen warfen sich über die Schwäne. Sie kreischten ihnen in die Ohren, sie versperrten ihnen die Aussicht mit ihren Flügeln, sie machten sie ganz verwirrt mit ihrem Flattern, sie brachten sie ganz außer sich, indem sie riefen: »Schämt euch, ihr Schwäne! Schämt euch, schämt euch, ihr Schwäne!«

Der Überfall der kleinen Vögel währte nur wenige Augenblicke, aber als sie fort waren und die Schwäne wieder zur Besinnung kamen, da sahen sie, daß die Wildgänse sich davon gemacht hatten und auf die andere Seite der Bucht hinübergeflogen waren.

Der neue Kettenhund

Bei den Schwänen war wenigstens das Gute, daß sie sich zu stolz fühlten, hinter den Wildgänsen drein zu jagen, sobald sie sahen, daß sie entkommen waren. So konnte sich denn Akka mit ihrer Schar in aller Ruhe und Gemütlichkeit auf einer Röhrichtinsel hinstellen und schlafen.

Niels Holgersen war jedoch zu hungrig, um zu schlafen. »Ich muß sehen, in ein Haus zu gelangen, um etwas Essen zu bekommen,« dachte er.

In den Tagen, wo so viel Verschiedenes auf dem See herumtrieb, war es nicht schwer für so einen wie Niels Holgersen ein Beförderungsmittel zu finden. Er besann sich nicht lange, sprang auf ein Stück Brett, das zwischen das Röhricht hineingetrieben war, fischte einen kleinen Stock auf und machte sich daran, sein Fahrzeug durch das seichte Wasser an das Ufer hinüber zu stängeln.

Kaum war er an Land gekommen, als er neben sich im Wasser ein Plätschern hörte. Er blieb stehen, ohne sich zu rühren und sah ein Schwanenweibchen, das wenige Ellen von ihm in ihrem großen Nest lag und schlief, gleich darauf aber sah er einen Fuchs, der ein paar Schritt ins Wasser hinausgegangen war, um sich nach dem Schwanennest zu schleichen. »Hallo! Hallo! Steh auf! Steh auf!« rief der Junge und schlug mit seinem Stock ins Wasser. Das Schwanenweibchen richtete sich auf, doch nicht schneller, als daß sich der Fuchs hätte auf das Weibchen stürzen können, falls er es gewollt hatte. Aber das gab er auf und stürmte auf den Jungen zu.

Der Junge sah den Fuchs kommen und eilte ins Land hinein. Vor ihm lagen ausgedehnte, flache Wiesen. Da war auch nicht ein Baum, in den er hätte hinaufklettern, nicht ein Loch, in dem er sich hatte verbergen können. Niels war ein guter Läufer, aber es war klar, daß er es in bezug auf Schnelligkeit nicht mit einem Fuchs aufnehmen konnte, wenn dieser frei und ledig war und nichts zu schleppen hatte.

Eine Strecke von dem See entfernt lagen einige kleine Häuslereien, wo Licht in den Fenstern war. Der Junge lief natürlich nach dieser Seite, aber er mußte sich selbst sagen, ehe er die Häuser erreichte, konnte ihn der Fuchs mehr als einmal eingeholt haben.

Einmal war der Fuchs so nahe, daß er glaubte, seines Fanges sicher zu sein, da aber lief der Junge hurtig nach der Seite und kehrte wieder an die Bucht zurück. Diese Wendung kostete dem Fuchs Zeit, und ehe er den Jungen abermals eingeholt hatte, war dieser auf ein Paar Männer zugeeilt, die den ganzen Tag draußen auf dem See gewesen waren, um herumtreibendes Gut zu bergen, und die sich nun auf dem Heimwege befanden.

Die Männer waren erschöpft und müde. Sie hatten weder den Jungen noch Reineke gesehen, obwohl beide an ihnen vorübergelaufen waren. Der Junge hatte auch keine Lust, sie anzureden und sie um Hilfe zu bitten, er begnügte sich, dicht an sie heranzuschleichen. »Der Fuchs kann sich doch nicht ganz bis an die Menschen heranwagen,« dachte er.

Bald aber hörte er den Fuchs heranschleichen. Er wagte sich ganz bis an die Männer heran, denn er verließ sich darauf, daß sie ihn für einen Hund halten würden. »Was für ein Hund ist das, der sich hinter uns herschleicht,« sagte auch ganz richtig einer der Männer. »Er ist so nahe, als wenn er uns beißen wollte.« Der andere stand still und sah sich um. »Weg mit dir!« sagte er und stieß mit dem Fuß nach dem Fuchs, so daß der auf die andere Seite des Weges flog. Nun hielt sich der Fuchs in einer Entfernung von ein paar Schritten, aber er folgte ihnen nach wie vor.

Die beiden Männer waren bald bei den Häusern angelangt und gingen in eines derselben hinein. Der Junge hatte die Absicht gehabt, mit ihnen hineinzuschlüpfen; aber als er im Beischlag angelangt war, sah er einen prächtigen, langhaarigen Kettenhund aus seiner Hütte herausstürzen, um seinen Herrn zu empfangen. Da änderte der Junge seinen Entschluß und blieb draußen.

»Du, Kettenhund!« sagte der Junge leise, sobald die Männer die Tür geschlossen hatten. »Willst du mir nicht über Nacht helfen, einen Fuchs zu fangen?«

Der Kettenhund sah nicht gut, und heftig und wütend war er, weil er so lange angebunden gestanden hatte. »Soll ich einen Fuchs fangen?« bellte er böse. »Was für einer bist denn du, der du hierher kommst und mich zum besten halten willst? Komm du nur so nahe heran, daß ich dich fassen kann, da will ich dich schon lehren, Scherz mit mir zu treiben.«

»Du glaubst doch nicht, daß ich bange bin, dir nahe zu kommen?« sagte der Junge und lief an den Hund heran. Als der ihn sah, erstaunte er so, daß er kein Wort zu sagen vermochte.

»Ich bin es, den sie Däumling nennen, und der mit den Wildgänsen reist,« sagte der Junge. »Hast du nicht von mir reden hören?« – »Die Spatzen haben ja freilich manchmal von dir gezwitschert,« sagte der Hund. »Du hast ja große Dinge ausgerichtet, wenn man bedenkt, wie klein du bist!« – »Bisher ist es mir immer gut ergangen,« sagte der Junge, »aber nun sieht es so aus, als wenn mein Ende nahte, falls du mir nicht helfen willst. Ich habe einen Fuchs auf den Fersen. Er steht dort hinter der Ecke und lauert auf mich.« – »Ja, weiß Gott, ich kann ihn wittern,« sagte der Kettenhund. »Mit dem wollen wir bald fertig werden.« Und der Kettenhund sprang hinaus, soweit die Kette es zuließ und bellte und klaffte eine gehörige Zeit.

»Jetzt, glaube ich, kommt er diese Nacht nicht wieder,« sagte der Kettenhund. – »Es gehört mehr als ein Gebell dazu, um dem Fuchs bange zu machen,« sagte der Junge. »Er wird gleich wieder hier sein, und das ist das allerbeste, denn ich habe mir vorgenommen, daß du ihn gefangen nehmen sollst.« – »Fängst du nun schon wieder an, dich lustig über mich zu machen?« sagte der Hund, – »Komm du nur in deine Hütte hinein, damit uns der Fuchs nicht hören kann,« erwiderte der Junge. »Dann will ich dir sagen, wie du es machen mußt.«

Der Junge und der Hund krochen in die Hundehütte und lagen da und flüsterten.

Nach einer Weile steckte der Fuchs die Schnauze um die Ecke, und da alles still war, schlich er auf den Hof. Er konnte den Jungen bis an das Hundehaus wittern und setzte sich in passender Entfernung hin, um darüber nachzudenken, wie er ihn herauslocken könne.

Plötzlich steckte der Kettenhund den Kopf heraus und knurrte ihn an. »Mach‘, daß du wegkommst! Sonst komm ich und hol‘ dich!« – »Ich bleibe hier sitzen, solange ich will!« sagte der Fuchs. – »Mach‘, daß du wegkommst!« sagte der Hund noch einmal in drohendem Ton. »Sonst hast du über Nacht zum letztenmal gejagt.« Aber der Fuchs lachte ihm gerade ins Gesicht und rührte sich nicht vom Fleck. »Ich weiß ja, wie weit deine Kette reicht!« sagte er. – »Ich habe dich zweimal gewarnt,« sagte der Hund und kam aus dem Hundehaus gefahren. »Nun kannst du die Folgen hinnehmen.«

Im selben Augenblick warf er sich mit einem langen Sprung über den Fuchs und erreichte ihn ohne die geringste Schwierigkeit, denn er war los. Der Junge hatte sein Halsband aufgemacht.

Es folgte ein Kampf von wenigen Augenblicken, aber er war bald beendet. Der Hund stand als Sieger da. Der Fuchs lag am Boden und wagte sich nicht zu rühren. »Ja, lieg du nur still,« sagte der Hund. »Sonst beiße ich dich tot.« Er packte den Fuchs im Nacken und schleppte ihn in das Hundehaus, und da kam der Junge mit der Kette und legte ihm das Halsband zweimal um den Hals und schnallte es so fest, daß er sicher gebunden war. Und während der ganzen Zeit mußte der Fuchs stilliegen und wagte nicht, sich zu rühren.

»So, Reineke Fuchs, ich hoffe, du wirst ein guter Kettenhund werden,« sagte Niels, als er fertig war.

LI. Ein großer Herrenhof


Der alte Herr und der junge Herr.

Vor einigen Jahren lebte in einem Kirchspiel in Westgötland eine prächtige, liebe kleine Volksschullehrerin. Sie unterrichtete nicht nur vorzüglich, sondern sie verstand es auch, Ordnung zu halten, und die Kinder hatten sie so lieb, daß sie niemals zur Schule kamen, ohne ihre Aufgaben gelernt zu haben. Auch die Eltern schätzten sie sehr. Es gab nur einen einzigen Menschen, der nicht wußte, was sie wert war, und das war sie selbst. Sie glaubte, daß alle anderen klüger und tüchtiger seien als sie, und sie grämte sich darüber, daß sie nicht so werden konnte wie sie.

Als die Lehrerin einige Jahre an der Schule angestellt gewesen war, machte ihr die Schulbehörde den Vorschlag, einen Kursus in dem Nääser Seminar für Handfertigkeit durchzumachen, damit sie künftig die Kinder nicht nur lehren könne mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen zu arbeiten. Niemand kann sich vorstellen, wie überrascht sie war, als sie diese Aufforderung erhielt. Nääs lag nicht weit von ihrer Schule entfernt. Sie war gar manches Mal an dem schönen, stattlichen Gebäude vorübergegangen, und sie hatte über den Handfertigkeitskursus, der auf dem alten Herrenhof abgehalten wurde, viele Lobreden gehört. Dort kamen Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Lande zusammen, um ihre Hände gebrauchen zu lernen, ja sogar aus dem Auslande kamen Leute dorthin. Sie wußte im voraus, wie entsetzlich verzagt sie sich unter so vielen ausgezeichneten Menschen fühlen würde. Das stand ihr so schwer bevor, daß sie nicht wußte, wie sie es ertragen sollte.

Sie wagte jedoch nicht, der Schulbehörde eine abschlägige Antwort zu geben, sondern reichte ihr Gesuch ein. Sie wurde als Schülerin angenommen, und an einem schönen Juniabend, an dem Tage bevor der Sommerkursus beginnen sollte, packte sie ihre Habseligleiten in eine kleine Reisetasche und wanderte nach Nääs. Und wie oft sie auch unterwegs stehen blieb und sich weit weg wünschte, sie gelangte doch schließlich an ihr Ziel.

Auf Nääs war Leben und Bewegung. Allen Teilnehmern des Kursus, die, jeder aus seiner Richtung, eintrafen, mußten in den Häusern und Villen, die zu dem großen Besitz gehörten, Zimmer angewiesen werden. Allen war ein wenig wunderlich zumute in den ungewohnten Umgebungen, aber die kleine Lehrerin glaubte wie gewöhnlich, daß nur sie allein sich töricht und ungeschickt benehme. Sie hatte sich in eine solche Angst hineingeredet, daß sie weder hören noch sehen konnte. Es war auch sehr schwer, was sie alles durchmachen mußte. Man wies ihr ein Zimmer in einer schönen Villa an, in dem sie mit ein paar jungen Mädchen wohnen sollte, die sie gar nicht kannte, und sie mußte mit siebzig fremden Menschen zusammen essen. An ihrer einen Seite saß ein kleiner Herr, der ganz gelb im Gesicht war, und von dem es hieß, daß er aus Japan sei, und an der anderen Seite hatte sie einen Schullehrer aus Jockmock hoch oben in Lappland. Und gleich von Anfang an herrschten Lachen und Fröhlichkeit an den langen Tischen! Alle schwatzten und machten Bekanntschaften. Sie war die einzige, die nicht den Mut hatte, etwas zu sagen.

Am nächsten Morgen ging es an die Arbeit. Der Tag begann hier wie in allen Schulen mit Morgengebet und Gesang; dann sprach der Vorsteher des Seminars einige Worte über Handfertigkeit und gab einige kurze Verhaltungsmaßregeln, und dann, ohne daß sie eigentlich wußte, wie es zugegangen war, stand sie an einer Hobelbank, ein Stück Holz in der einen und ein Messer in der anderen Hand, während ein alter Handfertigkeitslehrer ihr zeigte, wie sie einen Blumenstab schnitzen müsse. Eine solche Arbeit hatte sie noch nie versucht. Sie kannte die Handgriffe nicht, und war obendrein in diesem Augenblick so verwirrt, daß sie nichts verstehen konnte. Als der Lehrer weitergegangen war, legte sie das Messer und das Holz auf die Hobelbank nieder und starrte in die Luft hinein.

Ringsumher im Saal standen Hobelbänke, und an allen sah sie Menschen, die mit frischem Mut an die Arbeit gingen. Ein paar von ihnen, die schon ein wenig bewandert in der Kunst waren, kamen zu ihr, um ihr zu helfen. Aber sie war nicht fähig, ihrer Anleitung zu folgen. Sie stand da und dachte nur daran, daß nun alle die vielen Leute sähen, wie ungeschickt sie sich benahm, und das machte sie so unglücklich, daß sie wie gelähmt war.

Dann kam die Frühstückszeit, und nach dem Frühstück wurde wieder gearbeitet. Zuerst hielt der Vorsteher einen Vortrag, dann folgte eine Turnstunde, und darauf begann der Handfertigkeitsunterricht von neuem. Hierauf wurde Mittagspause gemacht. Das Mittagsessen mit nachfolgendem Kaffee nahm man in dem großen, hellen Versammlungssaal ein, und der Nachmittag war dann wieder dem Handfertigkeitsunterricht gewidmet. Singübungen und Spiele im Freien machten den Beschluß des Tages. Die Lehrerin war den ganzen, langen Tag in Bewegung, war mit den anderen zusammen, fühlte sich aber immer noch ebenso unglücklich.

Wenn sie später an die ersten in Nääs verlebten Tage zurückdachte, war es ihr, als sei sie in einem Nebel umhergegangen. Alles war dunkel und verschleiert gewesen, und sie hatte nichts von alledem, was um sie her vorging, gesehen oder verstanden. Dieser Zustand währte zwei Tage, aber am Abend des zweiten Tages fing es plötzlich an, hell um sie zu werden.

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, begann ein alter Volksschullehrer, der schon mehrmals auf Nääs gewesen war, einigen neuen Schülern zu erzählen, wie das Handfertigkeitsseminar entstanden war, und da sie ganz in der Nähe saß, hatte sie notgedrungen zuhören müssen.

Er erzählte, Nääs sei ein sehr altes Gut, aber es sei nie etwas anderes gewesen als ein schöner, großer Herrenhof, wie so viele andere, bis der alte Herr, dem es jetzt gehörte, dort ansässig geworden war. Er war ein reicher Mann, und die ersten Jahre, die er dort wohnte, hatte er dazu verwendet, das Schloß und den Park zu verschönern und die Wohnungen seiner Untergebenen zu verbessern.

Aber dann starb seine Frau, und da er keine Kinder hatte, fühlte er sich gar manches Mal einsam auf dem großen Gut. So überredete er denn einen jungen Neffen, den er sehr lieb hatte, zu ihm zu kommen und bei ihm auf Nääs zu wohnen.

Ursprünglich war man von der Voraussetzung ausgegangen, daß der junge Herr sich an der Bewirtschaftung des Gutes beteiligen solle, als er aber aus diesem Anlaß bei den Leuten auf dem Gute umherging und sah, wie sie in den ärmlichen Hütten lebten, kamen ihm ganz wunderliche Gedanken. Er beobachtete, daß in den meisten Häusern weder die Männer noch die Kinder, ja selbst nicht einmal die Frauen, sich während der langen Winterabende mit Handarbeit beschäftigten. In früheren Zeiten waren die Leute gezwungen gewesen, die Hände fleißig zu rühren, um Kleider und Hausgerät und Werkzeuge anzufertigen; aber jetzt konnte man ja alle diese schönen Dinge kaufen, und deswegen hatten sie diese Arbeiten eingestellt. Und dem jungen Herrn wollte es nun scheinen, daß in den Häusern, wo man die Arbeiten im Hause eingestellt hatte, auch die Gemütlichkeit und der Wohlstand ihrer Wege gegangen waren.

Ausnahmsweise konnte er wohl einmal in ein Haus kommen, wo der Mann Tische und Stühle zusammenzimmerte, und die Frau webte, und es war über jeden Zweifel erhaben, daß die Leute dort nicht nur wohlhabender, sondern auch glücklicher waren als die in den anderen Häusern.

Er sprach mit seinem Oheim hierüber, und der alte Herr sah ein, daß es ein großes Glück sein würde, wenn die Leute sich in müßigen Stunden mit Handarbeit beschäftigen wollten. Aber um so weit zu gelangen, war es offenbar notwendig, daß sie von Kindheit an ihre Hände gebrauchen lernten. Die beiden Herren kamen zu der Erkenntnis, daß sie zu der Förderung ihrer Sache nichts Besseres tun könnten, als eine Handfertigkeitsschule für Kinder zu errichten. Sie sollten dort lernen, einfache Gegenstände aus Holz anzufertigen, denn diese Art Arbeit würde, nach Ansicht der beiden Herren, allen am leichtesten werden. Sie waren überzeugt, daß, wer einmal gelernt hatte, das Messer gut zu gebrauchen, auch lernen würde, den großen Schmiedehammer und den kleinen Schusterhammer zu führen. Wer aber nicht von Jugend auf seine Hand an Arbeit gewöhnt hatte, würde vielleicht niemals auf den Gedanken kommen, daß er in der Hand ein Werkzeug besaß, das mehr wert ist als alle anderen.

So hatten sie denn auf Nääs angefangen, Kinder in Handfertigkeit zu unterrichten, und sie sahen bald, daß es nützlich und gut für die Kleinen war, und wünschten nun, daß alle Kinder in Schweden einen solchen Unterricht erhalten möchten.

Aber wie ließ sich das machen? Es wuchsen ja Hunderttausende von Kindern in Schweden auf. Man konnte sie doch nicht alle nach Nääs kommen lassen, um ihnen Handfertigkeitsunterricht zu geben. Das war ganz unmöglich.

Da kam der junge Herr mit einem neuen Vorschlag. Wie, wenn man, statt die Kinder zu unterrichten, ein Handfertigkeitsseminar für ihre Lehrer einrichtete? Wie, wenn die Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Lande nach Nääs kämen, dort Handfertigkeit erlernten und dann nachher mit allen den Kindern, die sie in ihren Schulen hatten, Handfertigkeit trieben? Aus die Weise würde es vielleicht gelingen, daß die Hände aller Kinder in Schweden ebenso geübt würden wie ihr Gehirn.

Als dieser Gedanke erst einmal in ihnen wachgerufen war, konnten die beiden Herren ihn gar nicht wieder loswerden, sondern suchten ihn zur Ausführung zu bringen.

Sie halfen einander getreulich. Der alte Herr ließ Arbeitssäle, ein Versammlungshaus und einen Turnsaal bauen und sorgte für die Wohnung und Verpflegung aller, die die Schule besuchten. Der junge Herr wurde Vorsteher des Seminars. Er machte den Plan für den Unterricht, leitete die Arbeit und hielt Vorträge. Und nicht genug damit. Er lebte beständig mit den Schülern zusammen, machte sich mit den Verhältnissen jedes einzelnen bekannt und wurde ihnen ein aufrichtiger und treuer Freund.

Und wie viele Schüler strömten nicht gleich von Anfang an herbei! In jedem Jahr wurden vier Kurse abgehalten, und zu allen meldeten sich mehr Schüler, als aufgenommen werden konnten Auch im Ausland wurde die Schule bald bekannt, und Lehrer und Lehrerinnen aus aller Herren Länder kamen nach Nääs, um zu lernen, wie sie es anfangen mußten, um die Hand zu erziehen, Kein Ort in Schweden war so bekannt im Auslande wie Nääs, und kein Schwede hatte ringsumher auf der ganzen Welt so viele Freunde wie der Vorsteher des Nääser Handfertigkeitsseminars.

Die kleine, schüchterne Lehrerin saß da und hörte dies alles an, und je mehr sie hörte, um so lichter ward es um sie her. Sie hatte bisher gar nicht gewußt, warum die Handfertigkeitsschule auf Nääs war, sie hatte nicht gewußt, daß sie von zwei Männern ins Leben gerufen war, die ihrem Lande nützen wollten, sie hatte keine Ahnung davon gehabt, daß diese alles opferten, was sie opfern konnten, um ihren Mitmenschen zu helfen, besser und glücklicher zu werden.

Wenn sie nun an die große Güte und Nächstenliebe dachte, die dem allen zugrunde lag, ergriff sie das so sehr, daß sie nahe daran war, zu weinen. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Am nächsten Tage ging sie in einer ganz anderen Gemütsverfassung an die Arbeit. Wenn das alles aus Güte gegeben wurde, mußte sie es ja auf ganz andere Weise hinnehmen als bisher. Sie vergaß, an sich selbst zu denken, und ging ganz auf in ihrer Arbeit und dem großen Ziel, das dadurch erreicht werden sollte. Und von dem Augenblick an machte sie ihre Sache ausgezeichnet, denn alles Lernen wurde ihr leicht, sobald ihre Schüchternheit sie nicht lähmte.

Jetzt, wo ihr die Schuppen von den Augen gefallen waren, sah sie überall die große, wunderbare Güte. Sie sah, wie sorgfältig alles für die Besucher des Seminars geordnet war. Die Teilnehmer des Kursus erhielten weit mehr als nur den Unterricht in Handfertigkeit, Der Vorsteher hielt ihnen Vorträge über Erziehung, sie turnten miteinander, gründeten einen Gesangverein und kamen fast jeden Abend zu Vorlesungen und musikalischen Aufführungen zusammen. Und außerdem waren da Bücher, Badehäuser und Klaviere, alles zu ihrer Verfügung. Der Zweck des Ganzen war, daß sich alle glücklich und wohl befinden und fröhlich sein sollten.

Allmählich wurde es ihr klar, wie unschätzbar es war, die schönen Tage des Sommers auf einem großen schwedischen Herrenhof verbringen zu dürfen. Das Schloß, in dem der alte Herr wohnte, lag auf einem Hügel, der fast von allen Seiten von einem See umgeben und nur durch eine schöne steinerne Brücke mit dem Lande verbunden war. Sie hatte nie etwas so Schönes gesehen wie die Blumengruppen auf der Terrasse vor dem Schloß, wie die alten Eichen im Park, wie den Weg am See entlang, wo die Bäume über das Wasser hinabhingen, oder wie den Aussichtspavillon auf der Felsenklippe über dem See. Die Schulgebäude lagen dem Schloß gerade gegenüber auf grünen schattigen Wiesen, aber es stand ihr frei, im Schloßpark zu lustwandeln, sooft sie Zeit und Lust hatte. Es war ihr, als habe sie nie gewußt, wie schön der Sommer sei, bis sie ihn an einem so herrlichen Ort verbringen durfte.

Nicht daß eine große Veränderung mit ihr vorgegangen wäre. Mutig und selbstbewußt wurde sie nicht, aber sie fühlte sich froh und glücklich. Sie wurde förmlich durchwärmt von all dieser Güte. Sie konnte sich ja nicht unglücklich fühlen an einem Ort, wo alle es gut mit ihr meinten und ihr zu helfen bemüht waren. Als der Kursus beendet war und die Schüler Nääs verlassen sollten, war sie ganz neidisch auf alle, die dem alten und dem jungen Herrn richtig zu danken und mit schönen Worten das auszudrücken vermochten, was sie fühlten. Soweit würde sie es nie bringen.

Sie kehrte heim und nahm die Arbeit an der Schule wieder auf und tat es mit ebensoviel Freude wie bisher. Sie wohnte nicht weiter von Nääs entfernt, als daß sie da hinübergehen konnte, wenn sie einen Nachmittag frei hatte, und das tat sie in der ersten Zeit auch ziemlich oft. Aber da waren immer neue Kurse, neue Gesichter, ihre Schüchternheit stellte sich wieder ein, und sie wurde ein immer seltenerer Gast in der Handfertigkeitsschule. Aber die Zeit, die sie selbst als Schülerin auf Nääs zugebracht, lebte in ihrer Erinnerung immer als das beste, was sie erlebt hatte.

An einem Frühlingstage hörte sie, daß der alte Herr auf Nääs gestorben sei. Da dachte sie an den schönen Sommer, den sie auf seinem Gut hatte verweilen dürfen, und es betrübte sie, daß sie sich nie so recht bei ihm bedankt hatte. Er hatte sicher Danksagungen genug von hoch und niedrig erhalten, aber sie würde sich glücklicher gefühlt haben, wenn sie ihm mit ein paar Worten erzählt hätte, wieviel er für sie getan hatte.

Auf Nääs wurde der Unterricht auf dieselbe Weise fortgesetzt, wie vor dem Tode des alten Herrn. Er hatte nämlich der Schule das ganze schöne Gut geschenkt und sein Neffe blieb auch fernerhin Vorsteher und leitete das ganze Unternehmen. Jedesmal, wenn die Lehrerin nach Nääs kam, war da etwas Neues zu sehen. Jetzt war da nicht nur der Handfertigkeitskursus, sondern der Vorsteher wollte auch gern die alten Gebräuche und die alten Volksvergnügungen wieder ins Leben rufen, und er errichtete daher einen Kursus für Singspiele und viele andere Arten von Spielen. In einer Hinsicht aber blieb alles beim alten: so wie früher durchwärmte auch jetzt die Güte alle Menschen, sie fühlten, wie alles so geordnet und eingerichtet war, daß sie sich freuen und nicht nur Kenntnisse einheimsen, sondern auch Arbeitsfreudigkeit mit heimnehmen sollten, wenn sie zu den kleinen Schulkindern ringsumher im Lande zurückkehrten.

Nur wenige Jahre nach dem Tode des alten Herrn hörte die Vorsteherin eines Sonntags, als sie die Kirche besuchte, daß der Vorsteher auf Nääs erkrankt sei. Sie wußte, daß er in der letzten Zeit wiederholt an Herzschwäche gelitten hatte, aber sie hatte nicht geglaubt, daß er in Lebensgefahr schwebe. Und das, hieß es, sei diesmal der Fall.

Von dem Augenblick an, als sie dies hörte, konnte sie an nichts anderes denken, als daß nun vielleicht auch der Vorsteher so wie der alte Herr sterben würde, ehe es ihr möglich gewesen war, ihm zu danken. Und sie überlegte hin und her, was sie nur tun solle, damit ihr Dank zu ihm gelangen könne.

Am Sonntagnachmittag ging die Lehrerin zu allen Nachbarn und fragte, ob die Kinder sie nach Nääs begleiten dürften. Sie habe gehört, daß der Vorsteher krank sei, und sie glaube, es werde ihn freuen, wenn die Kinder ihm ein paar Lieder sängen. Es sei ja freilich schon ein wenig spät am Tage, aber der Mondschein sei an diesen Abende so hell und klar, daß man wohl nach Nääs hinauswandern könne. Die Lehrerin hatte ein Gefühl, daß sie noch an diesem Abend dahinaus müsse. Sie fürchtete, daß es am nächsten Tage zu spät sein könne.

Die Sage von Westgötland.

Sonntag, 9. Oktober.

Die Wildgänse hatten Bohuslän verlassen und standen in dem westlichen Teil von Westgötland in einem Teich und schliefen. Der kleine Niels Holgersen war, um im Trockenen zu sein, auf den Rand eines Grabens hinaufgekrochen, der quer über die sumpfige Wiese lief. Er war gerade im Begriff, sich einen Platz zum Schlafen zu suchen, als er eine kleine Schar Menschen die Landstraße daherkommen sah. Es war eine junge Lehrerin mit einem Dutzend Kinder um sich. Sie kamen in einem dichten Haufen gegangen, die Lehrerin in der Mitte und die Kinder rings um sie her. Sie plauderten so munter und vertraulich, daß der Junge Lust bekam, eine Strecke Weges mit ihnen zu laufen und zu hören, was sie miteinander sprachen.

Die Sache machte keine Schwierigkeiten, denn wenn er sich am Rande des Weges im Schatten hielt, war es fast unmöglich, ihn zu sehen. Und wo fünfzehn Menschen auf einem Wege entlang gingen, da war ein solcher Lärm von Fußtritten, daß niemand den Kies unter seinen kleinen Holzschuhen knirschen hören konnte.

Um die Kinder auf der Wanderung in guter Laune zu halten, hatte die Lehrerin ihnen alte Sagen erzählt. Sie war gerade mit einer Sage fertig, als der Junge sich der Schar anschloß, aber die Kinder baten sie sofort, noch eine zu erzählen. »Habt ihr die Sage von dem alten Riesen in Westgötland gehört, der nach einer Insel hoch oben im nördlichen Eismeer zog?« fragte die Lehrerin. Nein, die hatten die Kinder nicht gehört, und so begann denn die Lehrerin:

Es geschah einmal, daß ein Schiff in einer dunklen und stürmischen Nacht hoch oben im nördlichen Eismeer an einer kleinen Schäre scheiterte. Das Schiff zerschellte an den Klippen, und von der ganzen Besatzung retteten sich nur zwei Mann an Land. Dort standen sie auf der Schäre, klatschnaß und von Kälte erstarrt, und sie freuten sich natürlich sehr, als sie ein großes Feuer am Ufer flammen sahen. Sie eilten auf das Feuer zu, ohne an eine Gefahr zu denken. Erst als sie ganz dicht herangekommen waren, sahen sie, daß dort am Feuer ein schrecklich alter Riese saß, so groß und grobknochig, daß sie nicht darüber in Zweifel sein konnten, daß sie hier einem Mann aus dem Riesengeschlecht gegenüberstanden.

Sie blieben stehen und überlegten, aber der Nordwind fuhr mit fürchterlicher Kälte heulend über die Schäre hin. Sie würden bald erfroren sein, wenn sie sich nicht an dem Feuer des Riesen erwärmen durften, und so beschlossen sie denn, sich zu ihm hin zu wagen.

»Guten Abend, Vater,« sagte der Ältere von ihnen, »wollt Ihr zwei schiffbrüchigen Seeleuten erlauben, sich an Eurem Feuer zu wärmen?« Der Riese fuhr aus seinen Gedanken auf, und richtete sich halbwegs auf und zog sein Schwert aus der Scheide. »Was für Kerle seid ihr denn?« fragte er, denn er war alt und sah schlecht und wußte nicht, was für Wesen es waren, die ihn angeredet hatten.

»Wir sind beide aus Westgötland, wenn Ihr das wissen wollt,« antwortete der Ältere von den beiden Seeleuten. »Unser Schiff ist hier draußen im Meer untergegangen, und wir haben das Ufer verfroren und halbnackt erreicht.«

»Ich pflege sonst keine Menschen hier auf meiner Schäre zu dulden, aber wenn ihr aus Westgötland seid, so ist das eine andere Sache,« sagte der Riese und steckte sein Schwert wieder in die Scheide. »Dann dürft ihr euch hier niedersetzen und erwärmen, denn ich bin selbst aus Westgötland und habe viele Jahre in dem großen Hünengrab bei Skalunda gewohnt.«

Die Seeleute setzten sich nun auf ein paar Steine. Sie wagten nicht, mit dem Riesen zu sprechen, sondern saßen still da und starrten ihn an. Und je länger sie ihn betrachteten, um so größer, schien es ihnen, wurde er, und um so kleiner und schwächer wurden sie selbst.

»Meine Augen sind nicht mehr so gut, wie sie gewesen sind,« sagte der Riese, »kaum, daß ich euch erkennen kann. Sonst könnte es mich wohl belustigen, zu sehen, wie ein Westgote heutzutage aussieht. Einer von euch reiche mir aber wenigstens die Hand, damit ich fühlen kann, ob da noch warmes Blut in Schweden ist.«

Die Männer sahen erst die Fäuste des Riesen und dann ihre eigenen Hände an. Keiner von beiden hatte Lust, seinen Händedruck kennenzulernen. Dann aber erblickten sie eine eiserne Stange, mit der der Riese das Feuer zu schüren pflegte; sie war im Feuer liegengeblieben und an dem einen Ende glühend rot. Mit vereinten Kräften hoben sie die Stange auf und hielten sie dem Riesen hin. Er umfaßte die Stange und preßte sie so, daß das Eisen ihm zwischen den Fingern herablief. »Ja, ich kann merken, daß es noch warmes Blut in Schweden gibt,« sagte er ganz vergnügt zu den verblüfften Seeleuten.

Dann wurde es wieder still um das Feuer, aber diese Begegnung mit seinen Landsleuten führte die Gedanken des Riesen nach Westgötland zurück. Eine Erinnerung nach der anderen tauchte in ihm auf.

»Ich möchte wohl wissen, was aus dem Skalundaer Hünengrab geworden ist?« fragte er die Seeleute.

Keiner von den Männern wußte etwas von dem Hünengrab, nach dem der Riese fragte. »Es wird wohl sehr eingefallen sein,« meinte der eine zögernd. Er hatte ein Gefühl, als könne man einem solchen Frager keine Antwort schuldig bleiben. – »Freilich, freilich, das dachte ich mir wohl,« sagte der Riese und nickte zustimmend. »Es war ja nicht anders zu erwarten, denn den Hügel trugen meine Frau und meine Tochter einmal in einer frühen Morgenstunde in ihren Schürzen zusammen.«

Wieder saß er da und grübelte und suchte Erinnerungen wachzurufen. Er hatte ja nicht gerade kürzlich in Westgötland gewohnt, und es währte eine ganze Weile, bis er tief genug in seine Erinnerungen eindringen konnte.

»Aber Kinnekulle und Billingen und die anderen kleinen Berge, die über die große Ebene zerstreut lagen, die stehen doch wohl noch?« fragte der Riese. – »Ja, die stehen noch,« antwortete der Westgöte, und um dem Riesen zu zeigen, daß er merkte, er habe es mit einem tüchtigen Mann zu tun, fügte er hinzu: »Ihr habt vielleicht diese Berge aufbauen helfen?«

»Ach, das gerade nicht,« erwiderte der Riese, »aber ich kann dir erzählen, daß du es meinem Vater zu verdanken hast, wenn die Berge da stehen. Als ich noch ein kleiner Knirps war, gab es in Westgötland keine große Ebene, sondern da, wo sich jetzt die Ebene ausbreitet, lag ein Bergland, das sich vom Wetternsee bis zum Götaelf erstreckte. Aber dann hatten einige Elfe sich vorgenommen, das Gebirge zu zerbröckeln und es an den Wenernsee hinabzutragen. Es waren keine richtigen Granitberge, sie bestanden hauptsächlich aus Kalkstein und Schiefer, daher wurde es den Elfen leicht, damit fertig zu werden. Ich entsinne mich noch, wie sie ihre Flußbetten und Täler breiter und breiter machten, und schließlich erweiterten sie sie zu Ebenen. Mein Vater und ich gingen zuweilen aus und sahen der Arbeit der Elfe zu, und der Vater war gar nicht so recht damit einverstanden, daß sie das ganze Gebirge zerstörten. ›Sie könnten uns doch wenigstens ein paar Ruhestätten übriglassen!‹ sagte er, und im selben Augenblick zog er seine steinernen Schuhe aus und stellte den einen der Länge nach gen Westen und den anderen der Länge nach gen Osten auf. Seinen steinernen Hut legte er auf eine Bergkuppe am Wenernsee, meinen steinernen Hut schleuderte er weiter nach Süden zu, und seine steinerne Keule warf er in derselben Richtung von sich. Was wir sonst an gutem, hartem Stein bei uns hatten, legte er an verschiedenen Stellen nieder. Und dann ereignete es sich, daß die Flüsse fast das ganze Gebirge wegspülten. Aber die Stellen, die mein Vater mit seinen steinernen Sachen bedeckt hatte, wagten sie nicht anzurühren; die blieben stehen. Da wo mein Vater seinen einen Schuh hingesetzt hatte, blieb der Halleberg unter dem Absatz und der Hunneberg unter der Sohle stehen. Unter dem anderen Schuh war Billingen versteckt. Des Vaters Hut hatte Kinnekulle bewehrt, unter meiner Mütze lag der Mösseberg und unter der Keule der Alleberg. Alle die anderen kleinen Berge auf der Westgötaebene wurden Vater zuliebe ebenfalls verschont, und ich möchte wohl wissen, ob es jetzt in Westgötland noch viele Männer gibt, vor denen die Leute so großen Respekt haben, wie vor ihm.«

»Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten,« sagte der Seemann. »Aber ich will doch sagen, wenn Elfe und Riesen zu ihrer Zeit so mächtig gewesen sind, so bekomme ich gleichsam größere Achtung vor den Menschen, denn jetzt haben sie sich doch zu Herren über Berge und Ebenen gemacht.«

Der Riese rümpfte die Nase ein wenig. Er schien nicht gerade sehr zufrieden mit der Antwort zu sein, aber er nahm die Unterhaltung bald wieder auf. »Wie steht es denn jetzt mit dem Trolhätta?« fragte er. – »Der braust und donnert, wie er es immer getan hat,« sagte der Seemann. »Ihr seid vielleicht mit dabeigewesen, als der große Wasserfall in Gang gesetzt wurde, so wie Ihr geholfen habt, die Westgötaberge zu erhalten?« – »Ach, das gerade nicht,« erwiderte der Riese. »Aber ich erinnere mich noch, daß meine Brüder und ich, als wir kleine Knirpse waren, ihn als Rutschbahn zu benutzen pflegten. Wir stellten uns auf einen Balken, und dann ging es den Gullöfall, den Toppöfall und die anderen drei Fälle hinab. Wir kamen so rasch dahergesaust, daß wir kurz davor waren, ganz in das Meer hineinzurutschen. Ich möchte wohl wissen, ob es heutzutage in Westgötland noch irgend jemand gibt, der sich auf diese Weise belustigt.« – »Das ist nicht gut zu wissen,« sagte der Seemann. »Aber ich finde fast, es ist eine noch weit wunderbarere Leistung, daß wir Menschen imstande gewesen sind, einen Kanal an den Wasserfällen entlang zu bauen, so daß wir nicht nur den Trolhätta hinabfahren können, so wie Ihr es in Euren jungen Jahren tatet, sondern daß wir ihn auch in Booten und auf Dampfschiffen hinauffahren.«

»Es ist merkwürdig, das zu hören,« entgegnete der Riese, und es schien, als habe die Antwort ihn ein wenig verstimmt. »Kannst du mir nun auch sagen, wie es mit der Gegend am Bejörsee steht, die sie Hungerland nannten?« – »Ja, die hat uns viel Kummer gemacht,« sagte der Westgöte. »Es ist vielleicht Euer Verdienst, daß sie so mager und trostlos daliegt?« – Ach, das gerade nicht,« antwortete der Riese. »Zu meiner Zeit wuchs an der Stelle ein prächtiger Wald. Aber da geschah es, daß eine meiner Töchter Hochzeit machte und wir viel Holz nötig hatten, um den Backofen zu heizen. Da nahm ich ein langes Tau, schlang es um den ganzen Wald im Hungerland, riß ihn mit einem einzigen Ruck aus und trug ihn nach Hause. Ich möchte wohl wissen, ob es heutzutage jemand gibt, der einen solchen Wald auf einmal ausreißen kann?« – »Die Frage wage ich nicht zu beantworten,« sagte der Westgöte. »Eins aber weiß ich, in meiner Jugend lag das Hungerland kahl und unfruchtbar da, und jetzt haben die Bewohner die ganze Fläche mit Wald bepflanzt. Das nenne ich auch eine männliche Tat!«

»Aber da unten in dem südlichen Westgötland, da kann wohl kein Mensch sein Auskommen finden?« meinte der Riese. – »Habt Ihr auch geholfen, das Land einzurichten?« fragte der Westgöte. – »Nicht gerade das,« sagte der Riese, »aber ich entsinne mich, daß, als wir Riesenkinder dort unsere Herden hüteten, wir uns viele steinerne Häuser bauten und durch alle die Steine, die wir umherwarfen, den Boden so unbestellbar machten, daß es mich deucht, es müsse schwer sein, die Erde dort in der Gegend zu bearbeiten.«

»Das ist freilich wahr, es lohnt sich nicht sonderlich, dort Ackerbau zu betreiben,« sagte der Westgöte, »aber die Bevölkerung hat sich auf die Weberei und die Herstellung von Holzwaren gelegt, und ich sollte meinen, es zeugt von größerer Tüchtigkeit, sein Auskommen in einer so ärmlichen Gegend zu finden, als bei der Zerstörung des Bodens behilflich zu sein.«

»Jetzt habe ich nur noch eine Frage an euch zu richten,« sagte der Riese. »Wie habt ihr euch unten an der Küste eingerichtet, da, wo der Götaelf sich ins Meer ergießt?« – »Habt Ihr auch da die Hand mit im Spiel gehabt?« fragte der Seemann. – »Das nicht gerade,« erwiderte der Riese. »Aber ich entsinne mich, daß wir oft an den Strand hinabgingen, uns einen Walfisch heranlockten und auf seinem Rücken durch die Fjorde und Schären ritten. Ich möchte wohl wissen, ob ihr jemand kennt, der noch heute so etwas tut?« – »Die Frage will ich unbeantwortet lassen,« antwortete der Seemann. »Aber ich halte es für eine ebenso große Tat, daß wir Menschen unten an der Mündung des Potaelfs eine Stadt gebaut haben, von der Schiffe nach allen Meeren der Welt ausgehen.« Darauf erwiderte der Riese nichts, und der Seemann, der selbst in Gotenborg beheimatet war, begann nun, ihm die reiche Handelsstadt mit ihrem großen Hafen, mit ihren Brücken und Kanälen und den langen, schnurgeraden Straßen zu beschreiben; er erzählte, es wohnten dort so viele tüchtige unternehmende Kaufleute und kühne Seeleute, daß es nicht ausgeschlossen sei, daß sie Gotenborg zu der hervorragendsten Stadt des Nordens machen könnten.

Bei jeder neuen Antwort, die der Riese erhielt, wurden die Runzeln auf seiner Stirn tiefer und tiefer. Es war leicht zu sehen, wie mißvergnügt er darüber war, daß sich die Menschen zu Herren über die Natur gemacht hatten. »Ich merke, es hat sich vieles in Westgötland verändert,« sagte er, »und ich würde gern einmal wieder dahinunterkommen und dies und jenes in Ordnung bringen.« – Als der Seemann das hörte, erschrak er. Er glaubte nicht, daß der Riese in guter Absicht nach Westgötland kommen würde, aber er wagte natürlich nicht, sich das merken zu lassen. – »Ihr dürft überzeugt sein, daß man Euch mit offenen Armen empfangen würde,« sagte er. »Wir wollen alle Kirchenglocken Euch zu Ehren läuten lassen.« – »Es gibt also noch Kirchenglocken in Westgötland?« fragte der Riese und sah ein wenig bedenklich aus. »Sind denn die großen Klingelwerke in Husaby, Skara und Varnhelm noch nicht in Stücke geläutet?« – »Nein, sie sind noch immer da, und sie haben seit Eurer Zeit viele Schwestern bekommen. Es gibt jetzt keinen Ort in Westgötland, wo man keine Kirchenglocken hört,« – »Ja, dann muß ich wohl lieber bleiben, wo ich bin,« sagte der Riese, »denn die Glocken sind schuld daran, daß ich aus der Heimat wegzog.«

Dann versank er in Gedanken, bald aber wandte er sich wieder an die Seeleute: »Nun könnt ihr euch ganz ruhig am Feuer niederlegen und schlafen,« sagte er. »Morgen früh werde ich dafür sorgen, daß ein Schiff hier vorüberfährt, das euch aufnimmt und in eure Heimat zurückbringt. Aber für die Gastfreundschaft, die ich euch erwiesen habe, fordere ich von euch nur die Gefälligkeit, daß ihr, sobald ihr nach Hause kommt, zu dem besten Mann in ganz Westgötland geht, und ihm diesen Ring gebt. Grüßt ihn von mir und sagt ihm, wenn er den an seinen Finger steckt, wird er noch viel mehr werden, als er jetzt ist.«

Sobald die Seeleute nach Hause gekommen waren, gingen sie zu dem besten Mann in Westgötland und gaben ihm den Ring. Aber der war zu klug, um ihn gleich an den Finger zu stecken. Statt dessen hängte er ihn an eine kleine Eiche, die auf seinem Hofe stand. Und sofort begann die Eiche so gewaltig zu wachsen, daß alle es sehen konnten. Sie trieb neue Schößlinge und sandte Zweige nach allen Richtungen aus, der Stamm wurde dicker und die Rinde immer härter. Der Baum bekam neue Blätter und warf sie wieder ab, setzte Blüten und Früchte an und wurde in kurzer Zeit so groß, daß niemand eine gewaltigere Eiche gesehen hatte. Aber kaum war sie ausgewachsen, als sie ebenso schnell zu verwelken begann. Die Zweige fielen ab, der Stamm wurde hohl, und der Baum verfaulte, so daß bald nichts weiter von ihm übrig war als ein Stumpf.

Da nahm der beste Mann in Westgötland den Ring und warf ihn weit weg. »Dies Geschenk des Riesen hat die Macht, daß es einem Mann große Kräfte verleihen und ihn für kurze Zeit hervorragender machen kann als alle anderen,« sagte er. »Aber es wird ihn veranlassen, sich zu überheben, so daß es mit seiner Tüchtigkeit und seinem Glück bald ein Ende hat. Ich will nichts mit dem Ring zu schaffen haben, und ich will nur hoffen, daß niemand ihn findet, denn er ist uns nicht in guter Absicht gesandt.«

Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß jemand den Ring gefunden hat. Sooft sich ein guter Mensch über seine Kräfte anstrengt, Nutzen zu schaffen, kann man nicht umhin, daran zu denken, ob er nicht etwa den Ring gefunden hat, und ob es nicht dieser Ring ist, der ihn zwingt, so zu wirken, daß er sich vor der Zeit aufreibt und sein Werk unvollendet hinterlassen muß.

Der Gesang.

Die kleine Lehrerin war die ganze Zeit, während sie erzählte, schnell die Landstraße entlang gewandert, und als sie ihre Geschichte beendet hatte, sah sie, daß sie fast am Ziel angelangt war. Sie konnte schon die großen Wirtschaftsgebäude sehen, die wie alle anderen Häuser dort auf dem Gut im Schatten schöner Bäume lagen. Und noch ehe sie daran vorübergekommen war, sah sie das Schloß hoch oben auf der Terrasse hervorschimmern.

Bis zu diesem Augenblick war sie glücklich über ihren Plan gewesen und hatte keinerlei Bedenken gehabt, aber jetzt, wo sie den Hof sah, begann ihr Mut zu sinken. Den Fall gesetzt, daß ihr Vorhaben ganz verkehrt war! Sie war ja so gering und unbedeutend, da war wohl niemand, der sich um ihre Dankbarkeit kümmerte! Vielleicht würden sie nur über sie lachen, wenn sie in später Abendstunde mit ihren Schulkindern dahergewandert kam. Sie sangen ja auch gar nicht so schön, daß sich jemand etwas daraus machen konnte.

Sie begann langsamer zu gehen, und als sie an die Treppe kam, die zu der Schloßterrasse hinaufführte, bog sie vom Wege ab und ging die Stufen hinauf. Sie wußte sehr wohl, daß das große Schloß seit dem Tode des alten Herrn leer stand. Sie ging nur da hinauf, um in Ruhe zu überlegen, ob sie weitergehen oder umkehren sollte. Als sie auf die Terrasse hinaufkam und das Schloß sah, das schimmernd weiß im Mondschein dalag, als sie die Hecken und die Blumengruppen und die Balustrade mit den Urnen und die stattliche Treppe erblickte, wurde sie immer kleinmütiger. Es erschien ihr alles so prachtvoll und vornehm, daß sie einsah, hier hatte sie nichts zu tun. »Komm mir nicht zu nahe!« schien ihr das feine, weiße Schloß zu sagen, »Du wirst dir doch nicht einbilden, daß du und deine Schulkinder dem, der gewohnt ist, in einem solchen Schloß zu wohnen, Freude zu bereiten vermögen?« Um diese Unschlüssigkeit, die sie mehr und mehr beschlich, in die Flucht zu jagen, erzählte die Lehrerin nun ihren Schulkindern alles von dem alten und dem jungen Herrn, so wie sie es gehört hatte, als sie Schülerin auf Näas gewesen war. Und das machte ihr ein wenig mehr Mut. Es war ja doch wirklich wahr, daß das Schloß und das ganze Gut dem Handfertigkeitsseminar geschenkt worden war. Es war geschenkt worden, damit Lehrer und Lehrerinnen eine glückliche Zeit auf einem schönen Herrenhof verleben und danach ihren Schulkindern Kenntnisse und Freude mit heimbringen sollten. Aber diejenigen, die einer Schule ein solches Geschenk gemacht, hatten doch dadurch bewiesen, daß sie die Schullehrer zu schätzen wußten. Sie hatten hier offen bekannt, daß sie die Erziehung der schwedischen Kinder für wichtiger hielten als alles andere. Und hier durfte sie, die junge Lehrerin, sich am allerwenigsten mutlos und verzagt fühlen.

Diese Gedanken trösteten sie ein wenig, und sie beschloß, ihren Plan nun doch auszuführen. Und um ihren Mut zu stärken, ging sie in den Park hinab, der den Abhang zwischen dem Schloßhügel und dem See bedeckte. Als sie unter den schönen Bäumen dahinschritt, die so finster und geheimnisvoll im Mondschein dastanden, erwachten viele frohe Erinnerungen in ihr. Sie erzählte den Kindern, wie es zu ihrer Zeit auf Nääs gewesen war, und wie glücklich sie sich als Schülerin hier gefühlt hatte, wo sie jeden Tag in dem schönen Park lustwandeln durfte. Sie erzählte von Festen und von Spiel und Arbeit, vor allem aber erzählte sie von der großen Güte, die ihr und so vielen anderen diesen stolzen Herrenhof erschlossen hatte. Auf diese Weise hielt sie ihren Mut aufrecht, und sie gelangte durch den Park und über die alte steinerne Brücke und erreichte die Wiese unten am See, wo die Villa des Vorstehers mitten zwischen den Schulgebäuden lag.

Dicht an der Brücke lag der grüne Spielplatz, und als sie daran vorüberkam, beschrieb sie den Kindern, wie schön es hier an den Sommerabenden war, wenn die Rasenfläche von hellgekleideten Menschen wimmelte und Singspiele und Ballspiele einander ablösten. Sie zeigte den Kindern das »Freundesheim«, in dem der Versammlungssaal war, die Villen, in denen sich die Unterrichtsäle und der Turnsaal befanden. Sie ging schnell und sprach unaufhörlich, als wolle sie sich keine Zeit lassen, ängstlich zu warten. Als sie aber schließlich so weit gekommen war, daß sie die Villa des Vorstehers sehen konnte, blieb sie plötzlich stehen.

»Wißt ihr was, Kinder, ich glaube, wir gehen nicht weiter,« sagte sie. »Ich habe bisher nicht daran gedacht, aber der Vorsteher ist vielleicht so krank, daß wir ihn durch unsern Gesang stören könnten. Es wäre ja schrecklich, wenn wir ihn noch kränker machten.«

Der kleine Niels Holgersen war die ganze Zeit mit dabei gewesen und hatte alles gehört, was die Lehrerin erzählte. Er wußte also, daß sie ausgegangen waren, um jemand, der da drüben in der Villa krank lag, etwas vorzusingen, und er begriff jetzt, daß aus dem Gesang nichts werden würde, weil sie fürchteten, den Kranken zu stören und zu beunruhigen.

»Es ist doch schade, daß sie wieder von dannen gehen, ohne zu singen,« dachte er. »Es wäre ja die leichteste Sache von der Welt, zu erfahren, ob der Kranke wirklich zu schwach ist, um ein wenig Gesang hören zu können. Warum geht die Lehrerin nicht nach der Villa und erkundigt sich?«

Aber auf diesen Gedanken schien die Lehrerin gar nicht zu kommen; sie kehrte im Gegenteil um und ging schweigend heimwärts. Die Schulkinder erhoben ein paar Einwendungen, aber sie brachte sie zum Schweigen. »Nein, nein,« sagte sie. »Es war dumm von mir, daß ich hierher gehen und singen wollte, jetzt, wo es schon dunkel geworden ist. Wir könnten leicht stören.«

Da meinte Niels Holgersen, wenn kein anderer es tun wollte, so müßte er zu erfahren suchen, ob der Kranke wirklich zu schwach war, um ein wenig Gesang zu hören. Er entfernte sich von den andern und lief nach dem Hause hinüber. Vor der Villa hielt ein Wagen, und neben den Pferden stand ein alter Kutscher und wartete. Der Knabe war kaum bis an den Eingang des Hauses gelangt, als die Tür aufging und ein Mädchen mit einem Teebrett heraustrat. »Sie werden wohl noch ein wenig auf den Herrn Doktor warten müssen, Larsson,« sagte sie. »Da hat mir die gnädige Frau gesagt, ich sollte Ihnen etwas Warmes bringen.«

»Wie geht es denn dem Herrn?« fragte der Kutscher.

»Er hat keine Schmerzen mehr, aber es ist, als wenn das Herz still steht. Der Herr Vorsteher hat schon eine ganze Stunde dagelegen, ohne sich zu rühren. Wir wissen kaum, ob er noch lebt oder schon tot ist?«

»Hat der Doktor gesagt, daß da keine Hoffnung mehr ist?«

»Man muß auf alles gefaßt sein, Larsson, ja, man muß auf alles gefaßt sein. Es ist, als lausche der Herr Vorsteher nach etwas. Wenn ein Ruf an ihn von oben kommt, so ist er bereit.«

Niels Holgersen lief schnell den Weg entlang, um die Lehrerin und die Kinder einzuholen. Er dachte daran, wie es gewesen war, als sein Großvater starb. Der war Seemann gewesen, und als er in den letzten Zügen lag, hatte er gebeten, man möchte das Fenster öffnen, damit er noch einmal den Wind brausen höre. Und wenn nun der Kranke hier es so über alles geliebt hatte, von Jugend umgeben zu sein, und ihren Liedern und Spielen zuzuhören …?

Die Lehrerin ging unschlüssig die Allee hinab. Jetzt, wo sie sich von Nääs entfernte, empfand sie ein Verlangen, umzukehren, und als sie vorhin auf dem Wege dahin gewesen, war sie auch kurz davor gewesen, wieder umzukehren. Sie war noch immer gleich unschlüssig und unsicher.

Sie sprach nicht mehr mit den Kindern, sondern ging ganz stumm dahin. In der Allee, durch die sie ging, war der Schatten so tief, daß sie nichts sehen konnte. Es war ihr, höre sie eine Menge Menschen und Stimmen um sich her. Es war ihr, als erklängen angstvolle Rufe von tausend verschiedenen Seiten. »Wir sind soweit weg, alle wir andern!« sagten die Stimmen. »Aber du bist ganz nahe. Geh‘ hin und singe du, was wir alle fühlen.«

Und sie dachte an den einen und den andern, dem der Vorsteher geholfen und dessen er sich angenommen hatte. Es war übermenschlich, wie er sich angestrengt hatte, allen, die in Not waren, zu helfen. »Geh‘ hin und singe ihm etwas vor!« flüsterte es ringsum sie her. »Laß ihn nicht sterben, ohne einen letzten Gruß von seiner Schule zu empfangen! Denk‘ nicht daran, daß du gering und unbedeutend bist! Denk‘ an die große Schar, die hinter dir steht! Laß ihn, ehe er von uns geht, verstehen, wie innig wir alle ihn lieben!«

Die Lehrerin ging immer langsamer. Da hörte sie etwas, was nicht nur Stimmen und mahnende Rufe in ihrer eigenen Seele war, sondern was aus der äußeren Welt um sie herkam. Es war keine gewöhnliche menschliche Stimme. Es war wie das Zwitschern eines Vogels oder das Zirpen eines Heimchens. Aber es rief trotzdem ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.

Und mehr gehörte nicht dazu, um ihr Mut zu machen, ihr Vorhaben auszuführen. – – –

Die Lehrerin und die Kinder hatten ein paar Lieder vor dem Fenster des Vorstehers gesungen. Sie fand selbst, daß ihr Gesang so wunderbar schön geklungen hatte in dieser Abendstunde. Es war, als hätten unbekannte Stimmen mitgesungen. Der ganze Raum war gleichsam von Tönen und Lauten angefüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, dann hatten ihre Stimmen einen Klang und eine Kraft erhalten, die sie sonst nicht besessen hatten.

Da tat sich plötzlich die Tür auf, und jemand kam schnell heraus. »Jetzt kommen sie, um mir zu sagen, daß ich nicht mehr singen soll,« dachte die Lehrerin. »Wenn ich ihm nur nicht geschadet habe!«

Aber das war nicht der Fall. Es war die Bitte, sie möchte ins Haus hineinkommen und etwas ausruhen und dann noch ein paar Lieder singen. Da drinnen kam ihr der Doktor entgegen. »Die Gefahr ist für diesmal vorüber,« sagte er. »Er lag besinnungslos da, und das Herz schlug schwächer und schwächer. Aber als Sie zu singen begannen, war es, als erhalte er einen Gruß von allen denen, die seiner Hilfe bedürfen. Er fühlte, daß für ihn die Zeit, Ruhe zu suchen, noch nicht gekommen sei. Singen Sie ihm noch etwas vor! Singen Sie und freuen Sie sich, denn ich glaube, Ihr Gesang hat ihn ins Leben zurückgerufen! Jetzt dürfen wir uns vielleicht Hoffnung machen, ihn noch ein paar Jahre zu behalten.«

LII. Die Reise nach Bemmenhög

Donnerstag, 3. November.

Eines Tages zu Anfang November flogen die Wildgänse über Hallandsås nach Schonen hinein. Mehrere Wochen hindurch hatten sie sich auf den großen Ebenen um Falköping aufgehalten, und da sich noch andere Scharen Wildgänse dort niedergelassen hatten, war es eine vergnügliche Zeit gewesen mit vielen Unterhaltungen zwischen den alten Vögeln und viel Wettstreit in allerlei Leibesübungen zwischen den jungen.

Niels Holgersen seinerseits war nicht erfreut über den langen Aufenthalt in Westgötland. Er gab sich Mühe, den Mut aufrechtzuhalten, aber es wurde ihm schwer, sich mit seinem Schicksal auszusöhnen. »Hätte ich nur erst Schonen glücklich hinter mir und wäre im Ausland!« dachte er, »dann wüßte ich, daß ich nichts mehr zu hoffen hätte, und dann würde ich mich wohl beruhigen.«

Endlich an einem frühen Morgen brachen die Wildgänse auf und flogen über Halland hinab. Anfangs spürte der Junge gar keine Lust, auf die Landschaft hinabzusehen. Er meinte, da sei ja nichts Neues zu entdecken. Der östliche Teil war bergig mit großen Heideflächen, die an Småland erinnerten, und weiter nach Westen zu war das Land mit runden, kahlen Bergen bedeckt und von Buchten zerschnitten, ungefähr wie in Bohuslän.

Als die Wildgänse aber die Reise südwärts, an dem schmalen Küstenstrich entlang, fortsetzten, beugte sich der Junge weit über den Hals des Gänserichs vor und verwandte keinen Blick mehr von der Erde. Er sah, wie die Berge spärlicher wurden und die Ebene sich ausbreitete. Und er sah auch, daß die Küste nicht mehr so von Buchten zerschnitten war. Die Schären draußen vor dem Ufer lagen immer mehr vereinzelt, bis sie schließlich ganz verschwanden, und das weite, offne Meer bis dicht ans Festland heranreichte.

Und dann hörte der Wald auf. Höher nordwärts hatte der Junge ja viele schöne Ebenen gesehen, aber sie waren alle von Wäldern umrahmt gewesen. Überall war Wald. Es war, als wenn das Land eigentlich den Bäumen gehörte, und das bebaute Land lag wie große gerodete Plätze im Walde. Und auf allen Ebenen standen Baumgruppen und kleine Haine, wie um zu zeigen, daß der Wald jeden Augenblick kommen und das Land wieder wegnehmen könne.

Hier aber war es anders. Hier hatte die Ebene die Übermacht. Sie erstreckte sich ganz bis an den Horizont. Da waren große gepflanzte Wälder, aber kein wildgewachsener Wald. Doch gerade, daß das Land so offen dalag, ein Acker neben dem andern, bewirkte, daß es den Jungen an Schonen erinnerte. Der offne Strand mit dem weißen Sand und den Tanghaufen kam ihm auch so bekannt vor. Ihm wurde so fröhlich und ängstlich zugleich ums Herz, als er das sah. »Jetzt kann ich nicht mehr weit von meiner Heimat entfernt sein,« dachte er.

Die Landschaft veränderte sich jedoch wieder. Aus Westgötland und Småland kamen Bäche herabgebraust und unterbrachen die Einförmigkeit der Ebene. Seen, Moore und Heideflächen und Flugsand versperrten den Äckern den Weg, diese aber breiteten sich trotzdem beständig weiter aus, bis sich der Hallandås unten an den Grenzen von Schonen mit seinen schönen Schluchten und Tälern erhob.

Schon mehrmals auf der Reise hatten die jungen Gänse die Alten in der Schar gefragt: »Wie sieht es im Ausland aus? Wie sieht es im Ausland aus?« »Wartet nur, wartet nur! Ihr sollt es bald erfahren!« sagten die Alten, die schon viele Male das Land auf und ab geflogen waren.

Als die jungen Gänse Wärmlands lange Bergrücken und die blanken Seen dazwischen oder die Felsklippen von Bohuslän oder die schönen Hügel in Westgötland sahen, wunderten sie sich und fragten: »Sieht die ganze Welt so aus?«

»Wartet nur, wartet nur! Das werdet ihr bald erfahren!« antworteten die Alten.

Als die Wildgänse über den Hallandås geflogen und eine gute Strecke nach Schonen hineingekommen waren, rief Akka: »Guckt jetzt hinunter! Seht euch um! So sieht es im Ausland aus!«

Sie flogen gerade über den Sönderås hin. Der ganze lange Höhenzug war mit Buchenwäldern bedeckt, und in den Wäldern lagen schöne Schlösser mit hohen Türmen. Zwischen den Bäumen ästen Rehe und auf den Waldebenen spielten Hasen. Jagdhörner klangen aus den Wäldern, das scharfe Gekläff der Meute drang bis zu der fliegenden Schar hinauf. Breite Wege schlängelten sich durch den Wald und auf ihnen kamen Herren und Damen in glänzenden Wagen gefahren oder auf prächtigen Pferden geritten. Unterhalb des Bergrückens breitete sich der Ringsee aus mit dem alten Bosjökloster auf einer schmalen Landzunge. Die Skäralider Schlucht durchschnitt den Bergrücken, in ihrem Grunde floß ein Bach, und die Felswände waren mit Sträuchern und mit Bäumen bedeckt.

»Sieht es so im Auslande aus? Sieht es so im Auslande aus?« fragten die jungen Gänse. – »So sieht es überall aus, wo waldbedeckte Bergrücken sind,« rief Akka, »aber das ist nicht sehr oft der Fall. Wartet nur, dann werdet ihr sehen, wie es dort gewöhnlich aussieht.«

Akka führte die Wildgänse weiter gen Süden, nach der großen Schonenschen Ebene. Die lag da mit breiten Äckern, mit Rübenfeldern, auf denen die Arbeiter in langen Reihen beschäftigt waren, mit niedrigen, weißgetünchten, aneinandergebauten Höfen, mit unzähligen kleinen, weißen Kirchen, mit häßlichen, grauen Zuckerfabriken, und um die Bahnstationen herum mit Dörfern, die einen kleinstädtischen Anstrich hatten. Da waren Torfmoore mit langen Reihen von Torfschobern, Steinkohlengruben mit großen Kohlenhaufen. Die Landstraßen liefen zwischen zwei Reihen gestutzter Weidenbäume hin, die Eisenbahnen kreuzten einander und bildeten ein dichtes Netz über die Ebene. Kleine, buchenumkränzte Waldseen glitzerten hier und dort, und an einem jeden lag ein prächtiger Herrenhof.

»Guckt jetzt hinunter! Seht euch gut um!« rief die Führergans. »So sieht es im Ausland aus, von der Küste der Ostsee bis ganz hinab zu den hohen Bergen, und weiter als bis dahin sind wir nie gereist.«

Als die jungen Gänse die Ebene gesehen hatten, flog die ganze Schar bis an die Küste des Öresunds. Sumpfige Wiesen fielen sanft nach dem Wasser zu ab, und lange Wälle aus schwarzem Tang lagen am Strande angeschwemmt. An einigen Stellen war das Ufer hoch und an andern war nichts als Flugsand, der sich zu Dünen und Sandbänken auftürmte. Die Fischerdörfer lagen am Ufer, eine lange Reihe gleichmäßig gebauter und gleich großer, ziegelgedeckter, kleiner Häuser mit einem kleinen Leuchtturm draußen auf dem Wellenbrecher und mit Trockenplätzen voll brauner Netze.

»Guckt jetzt hinunter! seht euch gut um!« sagte Akka, »So sieht es im Ausland an den Küsten aus!«

Schließlich flog die Führergans auch nach ein paar Städten. Die lagen da unten mit Unmengen von schlanken Fabrikschornsteinen, mit Straßen zwischen hohen, rauchgeschwärzten Häusern, mit schönen Parks und Spazierwegen, mit Häfen voller Schiffe, mit alten Festungswerken und Schlössern und mit uralten Kirchen.

»So sehen die Städte im Ausland aus, nur daß sie viel größer sind!« sagte die Führergans. »Aber diese können auch wohl wachsen, so wie ihr!«

Nachdem Akka so umhergeflogen war, ließ sie sich in einem Moor im Vemmenhöger Bezirk nieder. Und der Junge konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, daß sie heute nur deshalb in Schonen herumgeflogen war, um ihm zu zeigen, daß er ein Land habe, das sich wohl mit einem jeden im Ausland messen konnte. Aber das hätte sie wirklich nicht nötig gehabt. Der Junge dachte gar nicht daran, ob das Land reich oder arm war. Von dem Augenblick an, wo er die ersten Weidenhecken und das erste niedrige Fachwerkhaus gesehen hatte, brannte ihm das Herz vor Heimweh.

XLVIII. Ein kleiner Herrenhof

Donnerstag, 6. Oktober.

Die Wildgänse flogen an dem Klarelf entlang, bis sie zu der großen Fabrik bei Munkefors kamen. Dann bogen sie nach Westen, dem Frydstal zu, ab. Ehe sie noch den Frykensee erreicht hatten, begann es zu dunkeln, und sie ließen sich auf einem flachen Moor eben in einem Bergwald nieder. Das Moor war ein vorzügliches Nachtquartier für Wildgänse, aber Niels Holgersen fand, daß es kalt und ungemütlich war, und er hätte gern einen besseren Platz zum Schlafen gehabt. Während sie noch hoch oben in der Luft gewesen waren, hatte er am Fuß des Bergrückens einige Höfe liegen sehen, und nun beeilte er sich, sie aufzusuchen.

Der Weg war länger, als er geglaubt hatte, und er war mehrmals nahe daran, wieder umzukehren. Aber endlich wurde der Wald lichter, und er kam auf eine Landstraße, die am Waldessaume entlang lief. Von der Straße führte eine schöne Birkenallee nach einem Herrenhofe, und er lenkte sogleich seine Schritte dahin.

Zuerst kam er auf einen Hofplatz, der von langen, roten Wirtschaftsgebäuden umgeben und so groß war wie ein Marktplatz. Als er ihn durchschritten hatte, kam er auf einen zweiten Hof, und dort sah er das Wohnhaus mit einem Seitenflügel, und davor einen Kiesweg und einen großen Rasen; hinter dem Hause aber lag ein Garten voller Bäume. Das Wohnhaus selbst war klein und unansehnlich, der Rasen aber war von einer Reihe mächtiger Ebereschen umkränzt, die so dicht nebeneinander standen, daß sie eine förmliche Wand bildeten, und dem Jungen war es, als sei er in einen prächtigen, gewölbten Saal gekommen. Über dem Ganzen wölbte sich ein blaßblauer Himmel; die Ebereschen waren gelb mit großen, roten Beerenbüscheln, das Gras war noch grün, aber das starke, klare Nordlicht warf einen solchen Glanz darauf, daß es so weiß wie Silber schimmerte.

Kein Mensch war zu sehen, so konnte der Junge frei umhergehen, wo er wollte, und als er in den Garten kam, entdeckte er etwas, das ihn sofort in gute Laune versetzte. Er war auf eine kleine Eberesche geklettert, um sich ein paar Beeren zu pflücken, ehe er aber noch einen Büschel abgebrochen hatte, gewahrte er einen Faulbaum, der ebenfalls voller Früchte stand. Schnell ließ er sich von der Eberesche herabgleiten und kletterte auf den Faulbaum hinauf, kaum aber saß er dort, als er einen Johannisbeerbusch erblickte, an dem noch lange, rote Trauben hingen. Und nun sah er, daß der ganze Garten voll von Stachelbeeren, Himbeeren und Hagebutten war. Im Küchengarten standen Rüben und Kohlrabi in Hülle und Fülle, alle Büsche waren voller Beeren, jede Pflanze trug Samen, und die Grashalme hatten kleine Ähren voller Körner. Und dort auf dem Gang – er hatte sich doch nicht geirrt? – nein, da lag wirklich ein großer, roter, schimmernder Apfel!

Der Junge setzte sich auf die Rasenkante und machte sich daran, mit seinem Messer kleine Stücke von dem Apfel abzuschneiden. »Wenn man nur immer so leicht zu einer guten Mahlzeit kommen könnte wie hier auf dem Hofe, dann wäre es nicht gar so schlimm, ein Heinzelmännchen zu sein,« dachte er.

Während er dasaß und aß, überlegte er, und schließlich fragte er sich selbst, ob es nicht vielleicht das beste wäre, wenn er gleich hier bliebe und die Wildgänse allein gen Süden ziehen ließe. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dem Gänserich Martin erklären soll, daß ich nicht nach Hause reisen kann,« dachte er. »Es wäre gewiß besser, wenn ich mich ganz von ihm trennte. Ich könnte es ja machen wie die Eichhörnchen, könnte mir einen Wintervorrat sammeln, daß ich nicht zu verhungern brauchte, und ein warmes Eckchen im Kuhstall oder im Pferdestall würde ich schon finden, damit ich nicht zu erfrieren brauchte!«

Wie er so dasaß und darüber nachdachte, hörte er ein leichtes Rauschen über seinem Kopf, und im nächsten Augenblick stand etwas neben ihm, das einem kleinen Birkenstumpf glich. Der Stumpf drehte und wendete sich, und zwei helle Punkte an dem oberen Ende schimmerten wie ein Paar glühende Kohlen. Es sah so aus wie der schrecklichste Zauberspuk, aber der Junge entdeckte sogleich, daß der Stumpf einen gekrümmten Schnabel hatte und ein Paar schwarze Federkränze um die glühenden Augen, und da beruhigte er sich wieder.

»Wie angenehm, ein lebendes Wesen zu treffen,« sagte er. »Vielleicht könnten Sie, Frau Nachteule, mir erzählen, wie dieser Ort heißt, und was für Leute hier wohnen?«

Die Nachteule hatte an diesem Abend wie an allen vorhergehenden Abenden auf einer Sprosse der großen Leiter gesessen, die an das Dach gelehnt stand und hatte auf die Kiesgänge und Rasenplätze herniedergelugt, um nach Mäusen auszuspähen. Aber zu ihrer Verwunderung hatte sich nicht einmal der Schwanz einer Maus blicken lassen. Statt dessen sah sie etwas, was einem Menschen glich, wenngleich es viel kleiner war, sich im Garten bewegen. »Da haben wir wohl den, der die Mäuse wegscheucht,« dachte die Nachteule. »Was für ein Wesen mag das nur sein?«

»Es ist kein Eichhörnchen, und ein junges Kätzchen ist es auch nicht, und auch kein Wiesel,« dachte sie weiter. »Ich sollte doch denken, daß ein Vogel, der so lange wie ich auf einem alten Herrenhof gewohnt hat, alles kennen sollte, was es auf der Welt gibt. Aber dies hier geht über meinen Verstand.«

Und sie starrte unverwandt auf das Ding nieder, das sich dort unten auf dem Kiesgang bewegte, bis ihre Augen glühten. Schließlich siegte doch die Neugier, und sie flog auf die Erde hinab, um den Fremden näher in Augenschein zu nehmen

Als Niels Holgersen zu sprechen begann, beugte sich die Eule vor und betrachtete ihn genau. »Er hat weder Klauen noch Stacheln,« dachte sie, »aber wer kann wissen, ob er nicht einen Giftzahn hat oder eine andere Waffe, die noch gefährlicher ist? Es wird wohl das beste sein, wenn ich versuche, erst ein wenig Näheres über ihn zu erfahren, ehe ich mich mit ihm einlasse.«

»Der Herrenhof heißt Mårbacka,« erwiderte die Eule, »und hier haben in alten Zeiten gute Menschen gewohnt. Aber was für einer bist denn du?« – »Ich gehe mit dem Gedanken um, hierher zu ziehen,« sagte der Junge, ohne die Frage der Eule geradezu zu beantworten. »Glaubst du, daß sich das machen ließe?« – »Ach ja, es ist übrigens jetzt nicht weit her mit dem Hof, im Vergleich zu dem, was er früher gewesen ist,« entgegnete die Eule, »aber es läßt sich hier ja immerhin leben. Es kommt freilich darauf an, wovon du zu leben beabsichtigst. Denkst du daran, dich auf die Mäusejagd zu legen?« – »Nein, Gott soll mich bewahren!« sagte der Junge. »Die Gefahr ist wohl größer, daß mich die Mäuse auffressen, als daß ich ihnen Schaden zufüge.«

»Ob er wohl wirklich so wenig gefährlich sein sollte, wie er sagt?« dachte die Nachteule. »Ich will doch lieber einen Versuch machen.« Sie schwang sich in die Luft empor, und einen Augenblick später hatte sie die Krallen in Niels Holgersens Schulter geschlagen und hackte nach seinen Augen. Niels hielt eine Hand vor die Augen und suchte sich mit der anderen zu befreien. Gleichzeitig schrie er aus Leibeskräften um Hilfe. Er merkte, daß er sich wirklich in Lebensgefahr befand, und er sagte zu sich selbst, daß es diesmal sicher mit ihm aus sein würde.

*

Aber nun muß ich erzählen, wie merkwürdig es sich traf, daß gerade in demselben Jahr, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen reiste, in Schweden eine Schriftstellerin war, die ein Buch über ihre Heimat schreiben sollte. Es sollte so ein Buch sein, das die Kinder in den Schulen lesen konnten. Hierüber hatte sie nun von Weihnacht bis zum Herbst nachgedacht, aber sie hatte noch nicht eine einzige Zeile von dem Buch geschrieben, und schließlich war sie des Ganzen so überdrüssig gewesen, daß sie zu sich selbst sagte: »Hierzu bist du nicht zu gebrauchen, setze dich lieber hin und dichte Geschichten und Märchen, wie du es sonst getan hast, und laß jemand anders dies Buch schreiben, denn es soll lehrreich und ernsthaft sein, und es darf kein unwahres Wort darin stehen!«

Sie war eigentlich entschlossen, ihr Vorhaben aufzugeben, aber sie hatte sich so darauf gefreut, etwas Schönes über Schweden zu schreiben, daß es ihr schwer wurde, den Gedanken ganz aufzugeben. Schließlich kam es ihr in den Sinn, daß sie vielleicht deswegen nicht mit der Arbeit zustande kommen könne, weil sie in einer Stadt saß und nichts weiter vor sich sah als Straßen und Mauern. Wenn sie aufs Land hinausreiste, wo sie Wälder und Felder sehen könne, würde es vielleicht besser gehen.

Sie stammte aus Värmland und war sich ganz klar darüber, daß sie das Buch mit dieser Landschaft beginnen lassen wollte. Und vor allen Dingen wollte sie von dem Hof erzählen, auf dem sie herangewachsen war. Es war ein altmodischer Herrenhof, der weltabgeschieden dalag, und auf dem sich viele altertümliche Sitten erhalten hatten. Sie dachte, es würde die Kinder amüsieren, von den vielen verschiedenen Beschäftigungen zu hören, die einander im Laufe des Jahres ablösten. Sie wollte ihnen erzählen, wie Weihnacht und Neujahr und Ostern und das Johannisfest in ihrem Hause gefeiert worden war, was für Möbel und Hausgerät sie gehabt hatten, und wie es in Küche und Vorratskammer, auf der Tenne und in der Scheune, im Stall und in der Backstube ausgesehen hatte. Aber als sie sich dann anschickte, darüber zu schreiben, wollte die Feder nicht vom Fleck. Sie konnte nicht begreifen, woher es kam, aber es war nun einmal so.

Es stand ja freilich im Geiste alles so deutlich vor ihr, als lebe sie noch mitten dazwischen. Aber sie sagte sich selbst, wenn sie nun doch einmal aufs Land reisen wolle, so könne sie ebensogut nach dem alten Hof hinausfahren und sich dort noch einmal umsehen, ehe sie darüber schrieb. Sie war seit vielen Jahren nicht dort gewesen, und eine Veranlassung, dahin zu reisen, war ihr willkommen. Im Grunde hatte sie immer Heimweh nach dem Heim ihrer Kindheit, wo sie auch sein mochte. Sie sah sehr wohl ein, daß es andere Orte gab, die schöner und auch besser waren, aber nirgends fand sie den Frieden und die Traulichkeit, die stets auf dem alten Herrenhof gewaltet hatte.

Es war indessen nicht so ganz leicht für sie, in die alte Heimat zu reisen, wie man hatte glauben sollen, denn der Hof war an Leute verkauft, die sie nicht kannte. Sie zweifelte freilich nicht daran, daß man sie freundlich aufnehmen würde, aber sie kam ja nicht nach dem alten Heim, um da zu sitzen und mit fremden Leuten zu schwatzen, sondern um sich so recht in das zu vertiefen, wie es in alten Zeiten gewesen war. Deswegen richtete sie es so ein, daß sie eines Abends spät dort eintraf, als die Arbeit beendet und das Gesinde schon ins Haus gegangen war.

Sie hätte nie gedacht, daß es so wunderlich sein könne, nach Hause zu kommen. Während sie im Wagen saß und sich auf dem Wege nach dem alten Hof befand, hatte sie ein Gefühl, als werde sie mit jeder Minute jünger und jünger, und bald war sie nicht mehr eine alte Person, deren Haar zu ergrauen begann, sondern ein kleines Mädchen mit kurzen Röcken und einem langen flachsblonden Zopf, der ihr auf dem Rücken hinabfiel. Wie sie so dahinfuhr und jedes Gehöft, an dem sie vorüberfuhr, wieder erkannte, war es ihr, als müsse alles daheim wieder ganz so werden wie in alten Zeiten. Der Vater und die Mutter und die Geschwister würden auf der Treppe stehen und sie empfangen, und die alte Haushälterin würde ans Fenster laufen, um zu sehen, wer da gefahren kam, und Nero und Freya und noch ein paar andere Hunde würden herbeistürzen und an ihr emporspringen.

Je mehr sie sich dem Hofe näherte, um so fröhlicher wurde sie. Es war Herbst und eine geschäftige Zeit mit einer Menge Arbeit stand bevor, aber gerade diese verschiedenen Arbeiten bewirkten, daß es daheim nie langweilig oder einförmig wurde. Auf dem Wege dahin hatte sie gesehen, daß die Leute dabei waren, Kartoffeln aufzunehmen, und das würden sie jetzt daheim wohl auch tun. Dann mußten zuerst Kartoffeln gerieben und Kartoffelmehl gemacht werden. Es war ein milder Herbst gewesen. Sie hätte gern gewußt, ob die Ernte aus dem Garten schon eingebracht war. Der Kohl stand jedenfalls noch draußen. Ob wohl der Hopfen schon gepflückt war, und ob man schon alle Äpfel abgenommen hatte?

Wenn sie nur nicht gerade beim großen Hausputz waren! Denn der Herbstmarkt stand vor der Tür. Zum Jahrmarkt mußte das ganze Haus blitzblank sein, der wurde als großes Fest angesehen, namentlich von dem Gesinde. Es war auch wirklich ein Vergnügen, am Abend vor dem Markt in die Küche hinauszukommen und den frisch gescheuerten, mit Wacholderzweigen bestreuten Fußboden zu sehen und die frisch getünchten Wände und das blanke Kupfergerät oben unter der Decke.

Aber wenn der Jahrmarkt vorüber war, kehrte noch keine Ruhe ein. Dann mußte ja der Flachs gebrochen werden. Der Flachs hatte während der Hundstage zum Trocknen auf einer Wiese ausgebreitet gelegen. Jetzt wurde er in die alte Backstube geschafft, und der große Backstubenofen wurde geheizt, damit der Flachs dörren sollte. Und wenn er dürre genug war, wurde eines Tages zu allen Nachbarfrauen geschickt. Sie setzten sich vor die Backstube und machten sich daran, den Flachs zu brechen. Sie schlugen mit Hecheln darauf los, um die feinen, weißen Fasern aus dem dürren Stroh herauszulösen. Die Frauen wurden bei der Arbeit ganz grau von Staub. Ihr Haar und ihre Kleider saßen voll von Spreu, aber sie waren trotzdem vergnügt. Den ganzen Tag lärmten die Hecheln und die Münder standen keinen Augenblick still. Wenn man in die Nähe der alten Backstube kam, klang es, als hause ein gewaltiger Sturm dadrinnen.

Nach dem Flachshecheln kamen die große Hartbrotbackerei, die Schafschur und der Umzugtag des Gesindes an die Reihe. Im November standen dann arbeitsreiche Schlachttage bevor, wo Fleisch eingesalzen wurde, wo man Blutwurst stopfte, Blutbrot buk und Lichte goß. Die Nähterin, die die eigengewebten, wollenen Kleider nähte, pflegte auch um diese Zeit zu kommen, und es waren ein paar fröhliche Wochen, wenn alle Dienstmädchen im Hause zusammen saßen und nähten. Der Schuster, der die Schuhe für den ganzen Hausstand anfertigte, saß zur selben Zeit drüben in der Knechtstube und arbeitete, und man war’s nie müde, ihm zuzusehen, wie er das Leder zuschnitt und versohlte und Flicken aufsetzte und Ringe in die Schnürlöcher einschlug.

Aber die größte Geschäftigkeit kam doch um Weihnachten. Der Luzientag, an dem das Stubenmädchen in weißem Kleide mit brennenden Lichtern im Haar umherging und das ganze Haus um fünf Uhr des Morgens zum Kaffee einlud, war gleichsam das Zeichen, daß man in den nächsten vierzehn Tagen nicht auf viel Schlaf würde rechnen können. Jetzt mußte Weihnachtsbier gebraut und Fische ausgelaugt und die Weihnachtsbäckerei und das Weihnachtsreinemachen vorgenommen werden.

Sie stand in ihren Erinnerungen mitten zwischen dem Backen, umgeben von Honigkuchen und Pfeffernüssen, als der Kutscher bei der Einfahrt in die Allee die Pferde anhielt, wie sie ihn gebeten hatte. Sie fuhr wie aus einem Traum in die Höhe. Ihr war ganz unheimlich zumute, wie sie am späten Abend ganz allein dasaß; eben hatte sie sich noch von allen ihren Lieben umgeben geglaubt. Als sie aus dem Wagen stieg und die Allee hinaufging, um unbemerkt in ihr altes Heim zu gelangen, empfand sie so bitter den Unterschied zwischen ehedem und jetzt, daß sie die größte Lust hatte, wieder umzukehren. »Was kann es nützen, daß ich hierher komme? Es kann hier ja doch nicht so sein wie in alten Zeiten,« dachte sie.

Aber da sie nun soweit gekommen war, meinte sie, den Hof müsse sie sich doch einmal ansehen, und sie ging weiter, obwohl ihr mit jedem Schritt schwerer ums Herz wurde.

Sie hatte gehört, der Hof solle sehr verfallen und verändert sein, und das war er auch wirklich. Aber jetzt am Abend konnte sie das nicht sehen. Sie fand im Gegenteil, daß alles noch so war wie einst. Hier lag der Teich, der in ihrer Kindheit voller Karaudschen gewesen war, die niemand fischen durfte, weil ihr Vater wollte, daß die Karaudschen hier in Frieden leben sollten. Da war der Seitenflügel mit der Gesindestube und der Vorratskammer und der Stall mit der Vesperglocke auf dem einen Flügel und der Windfahne auf dem anderen. Und der Hofplatz vor dem Wohnhause war noch immer ein eingeschlossener Raum ohne Aussicht nach irgendeiner Seite, ganz wie zu ihres Vaters Zeiten, denn er konnte es nicht übers Herz bringen, auch nur einen Busch weghauen zu lassen.

Sie war im Schatten unter dem großen Ahorn an der Einfahrt zu dem Hofe stehen geblieben und nun sah sie sich um. Und wie sie dastand, geschah das Merkwürdige, daß eine Schar Tauben geflogen kam und sich neben ihr niederließ.

Sie konnte kaum glauben, daß es wirkliche Vögel waren, denn Tauben pflegen nie nach Sonnenuntergang auszufliegen. Der helle Mondschein mußte sie wohl geweckt haben. Sie hatten offenbar geglaubt, daß es schon Tag sei und waren aus dem Taubenschlag herausgeflogen, aber dann waren sie verwirrt geworden und hatten sich nicht wieder heimfinden können. Als sie nun einen Menschen erblickten, flogen sie zu ihm hin, als wollten sie ihn um Hilfe bitten.

Zu Lebzeiten ihrer Eltern waren immer eine Menge Tauben auf dem Hof gewesen, denn die Tauben hatten auch zu den Tieren gehört, die ihr Vater unter seinen besonderen Schutz genommen hatte. Wenn nur die Rede davon war, eine Taube zu schlachten, wurde er schlechter Laune. Sie freute sich herzlich darüber, daß die schönen Vögel kamen und sie in der alten Heimat begrüßten. Wer weiß, vielleicht waren die Tauben zur Nachtzeit ausgeflogen, um ihr zu zeigen, daß sie die gute Heimstätte nicht vergessen hatten, die sie einst hier gehabt.

Oder hatte vielleicht der Vater seine Vögel mit einem Gruß zu ihr geschickt, damit sie sich nicht so ungemütlich und verlassen fühlen sollte, wenn sie in ihr ehemaliges Heim kam?

Während sie hierüber nachdachte, wurde die Sehnsucht nach alten Zeiten so stark in ihr, daß ihr Tränen in die Augen traten. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie auf dem Hofe geführt hatten. Sie hatten Arbeitswochen gehabt, aber auch Festzeiten, sie hatten den Tag hindurch viel zu tun gehabt, aber des Abends hatten sie um die Lampe versammelt gesessen und Tegner und Runeberg, Frau Lenngren und Frederika Bremer gelesen. Sie hatten Korn gebaut, aber auch Rosen und Jasmin gepflanzt; sie hatten Flachs gesponnen, aber beim Spinnen hatten sie Volkslieder gesungen. Sie hatten sich mit Weltgeschichte und Grammatik abgequält, aber sie hatten auch Komödie gespielt und Verse gedichtet; sie hatten am Feuerherd gestanden und Essen gekocht, aber sie hatten auch Klavier und Flöte und Gitarre und Violine spielen gelernt. Sie hatten in einem Garten Kohl und Rüben und Erbsen und Bohnen gepflanzt, aber sie hatten auch noch einen anderen Garten gehabt, der voller Äpfel und Birnen und allen möglichen Beeren gewesen war. Sie hatten einsam gelebt, aber gerade deswegen hatten sie in Märchen und Sagen gelebt. Sie hatten eigengemachte Stoffe getragen, aber daher hatten sie auch sorgenfrei und unabhängig leben können.

»Nirgends auf der Welt verstehen sie es, ein so gutes Leben zu führen wie auf so einem kleinen Herrenhof in meiner Jugend,« dachte sie. »Da war Arbeit zu seiner Zeit und Vergnügen zu seiner Zeit und Freude zu allen Zeiten. Wie gern würde ich doch hierher zurückkehren!« sagte sie. »Jetzt, wo ich den Hof gesehen habe, ist es schwer, wieder wegzureisen.«

Und dann wandte sie sich an die Taubenschar und sagte zu den Vögeln, indem sie über sich selbst lachte, während sie es sagte: »Wollt ihr nicht zu meinem Vater zurückfliegen und ihm sagen, daß ich Heimweh habe? Jetzt bin ich lange genug an fremden Orten umhergereist. Fragt ihn doch, ob er nicht dafür sorgen will, daß ich bald wieder in die Heimat zurückziehen kann!«

Kaum waren die Worte gesprochen, als der ganze Taubenschwarm sich in die Luft emporschwang und davonflog. Sie versuchte, den Vögeln mit den Augen zu folgen, sie verschwanden aber sofort. Es war als habe der ganze weiße Schwarm sich in der mondhellen Luft aufgelöst.

Kaum waren die Tauben verschwunden, als sie laute Schreie aus dem Garten vernahm, und als sie eiligst dahinlief, sah sie etwas sehr Merkwürdiges. Da stand ein einzig kleiner Knirps, kaum eine Spanne groß, und kämpfte mit einer Nachteule. Anfangs war sie so überrascht, daß sie sich kaum rühren konnte. Als aber der Kleine immer jammervoller schrie, legte sie sich rasch ins Mittel und trennte die Kämpfenden. Die Eule schwang sich auf einen Baum, aber das Männlein blieb auf dem Kiesweg stehen, ohne sich zu verstecken oder davonzulaufen. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe!« sagte er. »Aber es war dumm, daß Sie die Eule fortfliegen ließen. Ich kann nicht wegkommen, denn sie sitzt da oben auf dem Baum und lauert mir auf!«

»Freilich, das war gedankenlos von mir, daß ich sie wegfliegen ließ. Kann ich dich aber nicht dahin begleiten, wo du zu Hause bist?« sagte sie, die Märchen zu dichten pflegte, und nun nicht wenig erstaunt war, so unvermutet mit einem der Männlein in Unterhaltung gekommen zu sein. Aber eigentlich war sie gar nicht einmal so erstaunt. Es war, als habe sie die ganze Zeit, während sie hier im Mondschein vor ihrer alten Heimat auf und nieder gegangen war, erwartet, daß sie etwas Merkwürdiges erleben würde.

»Eigentlich hatte ich gedacht, die Nacht hier auf dem Hofe zu bleiben,« sagte der Kleine. »Wenn Sie mir nur einen sichern Platz zum Schlafen zeigen könnten, würde ich nicht vor Tagesanbruch nach dem Walde zurückkehren.« – »Soll ich dir einen Platz zum Schlafen zeigen«? Wohnst du denn nicht hier?« – »Ich kann mir denken, daß Sie mich für ein Heinzelmännchen halten!« sagte das Männlein jetzt. »Aber ich bin ein Mensch, so wie Sie; ich bin nur von einem Heinzelmännchen verwandelt worden.« – »Das ist doch das Sonderbarste, was ich je im Leben gehört habe. Kannst du mir nicht erzählen, wie sich das zugetragen hat?«

Niels Holgersen hatte nichts dagegen, seine Abenteuer zu erzählen, und seine Zuhörerin wurde, je weiter die Erzählung fortschritt, immer erstaunter und erfreuter. »Nein, welch ein Glück, daß ich hier jemand treffe, der auf einem Gänserücken durch ganz Schweden gereist ist!« dachte sie. »Alles, was er da erzählt, kann ich ja in mein Buch schreiben. Jetzt brauche ich mir deswegen keine Sorge mehr zu machen. Es war wirklich gut, daß ich nach Hause gereist bin! Wenn ich bedenke, daß die Hilfe da war, sobald ich nach dem alten Hof kam!« sagte sie zu sich selbst.

Im selben Augenblick durchzuckte sie ein Gedanke, den zu Ende zu denken sie kaum den Mut hatte. Sie hatte ihrem Vater durch die Tauben sagen lassen, daß sie Heimweh nach dem alten Hause habe, und gleich darauf war die Hilfe für das gekommen, worüber sie schon so lange nachgegrübelt hatte. Konnte das die Antwort ihres Vaters auf ihre Bitte sein?

XLIX. Das Gold auf der Schäre


Auf dem Wege nach dem Meer.

Freitag, 7. Oktober.

Die Wildgänse waren, seit sie ihre Herbstreise angetreten hatten, beständig geradeswegs gen Süden geflogen; aber als sie Fryksdalen verließen, schlugen sie eine andere Richtung ein und flogen über das westliche Värmland und Dalsland auf Bohuslän zu. Das wurde eine vergnügliche Reise. Die jungen Gänse hatten nun so gute Übung im Fliegen bekommen, daß sie nicht mehr über Müdigkeit klagten, und Niels Holgersen gewann allmählich seine gute Laune wieder. Er war froh, daß er mit einem Menschen gesprochen hatte, denn es hatte ihn aufgemuntert, daß die Schriftstellerin zu ihm gesagt hatte, wenn er nur so wie bisher fortfahre, gut gegen alle zu sein, könne es ihm nicht schlecht ergehen. Wie er seine rechte Gestalt wieder erlangen würde, das konnte sie ihm nicht sagen, aber sie hatte ihm einen guten Teil von seiner alten Hoffnung und seinem Vertrauen wiedergegeben und das bewirkte sicher, daß er jetzt ausfindig gemacht hatte, wie er den großen Weißen von der Rückkehr in die Heimat abhalten konnte.

»Weißt du was, Gänserich Martin,« sagte er, während sie hoch oben in der Luft dahinflogen, »es wird doch gewiß recht langweilig für uns, wenn wir den ganzen Winter zu Hause bleiben sollen, jetzt, wo wir eine solche Reise mitgemacht haben. Ich überlege gerade, ob wir nicht mit den Wildgänsen ins Ausland reisen sollten.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein,« sagte der Gänserich und erschrak sehr, denn jetzt, wo er gezeigt hatte, daß er imstande war, mit den Wildgänsen ganz bis nach Lappland hinaufzufliegen, hatte er nichts mehr dagegen, sich wieder in der Gänsebucht in Niels Holgersens Kuhstall zur Ruhe zu setzen.

Der Junge saß eine Weile schweigend da und sah auf Värmland hinab, wo alle Birkenwälder und Haine und Gärten in herbstlich gelben und roten Farben prangten, und wo die langen Seen dunkelblau zwischen den gelben Ufern lagen. »Ich glaube, ich habe die Erde noch nie so schön unter uns liegen sehen wie heute,« sagte er. »Die Seen sind rein lichtblaue Seide, und die Ufer wie breite goldene Bänder. Findest du nicht auch, daß es ein Jammer wäre, wenn wir uns in Vester Vemmenhög niederließen und nicht noch mehr von der Welt zu sehen bekämen?«

»Ich glaubte, du wolltest nach Hause zu deinem Vater und deiner Mutter und ihnen zeigen, was für ein tüchtiger Junge du geworden bist,« entgegnete der Gänserich. Den ganzen Sommer hindurch hatte er davon geträumt, welch stolzer Augenblick es sein würde, wenn er sich vor Holger Nielsens Haus auf dem Hofplatz niederlassen und den Gänsen und den Hühnern und den Kühen und der Katze und Mutter Nielsen selbst seine Daunenfein und die sechs Jungen zeigen würde! Daher war er nicht sonderlich froh über den Vorschlag des Jungen.

Die Wildgänse hielten an diesem Tage mehrmals längere Rast, denn überall fanden sie so herrliche Stoppelfelder, daß sie sich kaum entschließen konnten, sie zu verlassen, und so erreichten sie Dalsland erst um Sonnenuntergang. Sie flogen über den nordwestlichen Teil der Landschaft, und da war es noch schöner als in Värmland. Es war da so voller Seen, daß das Land wie kleine spitze Hügel dazwischen lag. Der Boden war nicht zum Kornbau geeignet, um so besser aber gediehen die Bäume, und die steilen Talwände lagen wie wunderschöne Gärten da. In der Luft oder im Wasser mußte irgend etwas sein, was das Sonnenlicht festhielt, nachdem die Sonne schon hinter den Bergrücken hinabgesunken war. Goldige Streifen schimmerten über dem dunklen, blanken Wasserspiegel und über der Erde zitterte ein heller, rosenroter Schein, aus dem gelblichweiße Birken, hellrote Eschen und rotgelbe Vogelbeerbäume aufragten.

»Findest du nicht auch, Gänserich Martin, daß es langweilig sein wird, wenn wir nie wieder etwas so Schönes zu sehen bekommen?« fragte der Junge. – »Ich mag lieber die fetten, flachen Felder in Schonen sehen als diese mageren Waldhügel,« antwortete der Gänserich. »Aber du kannst dir doch denken, daß, wenn du die Reise durchaus fortsetzen willst, ich mich nicht von dir trennen werde.« – »Die Antwort habe ich von dir erwartet,« sagte der Junge, und man konnte es seiner Stimme deutlich anhören, daß ihm ein schwerer Stein vom Herzen fiel.

Als sie dann über Bohuslän dahinflogen, sah der Junge, daß die Hochebenen zusammenhängender wurden; die Täler lagen da wie schmale Schluchten, die in den Grund der Berge gesprengt waren, und die langen Seen auf dem Talboden waren so schwarz, als kämen sie aus der Tiefe der Erde. Auch dies war eine herrliche Landschaft, und so wie der Junge sie jetzt sah, bald mit einem kleinen Sonnenstreif darüber, bald im Schatten liegend, fand er, daß sie etwas Wildes und Eigentümliches hatte. Er wußte nicht, woher es kam, aber es fiel ihm ein, daß hier in alten Zeiten starke und tapfere Recken gelebt haben mußten, die viele gefährliche und kühne Abenteuer in diesen geheimnisvollen Gegenden ausgeführt hatten. Die alte Lust, etwas Merkwürdiges zu erleben, erwachte in ihm. »Es ist nicht unmöglich, daß mir die Spannung, jeden, oder doch jeden zweiten Tag in Lebensgefahr zu schweben, fehlen wird,« dachte er. »Es ist gewiß am besten, wenn ich damit zufrieden bin, wie es nun einmal ist.«

Davon sagte er jedoch nichts zu dem großen Weißen, denn die Gänse flogen mit der größten Geschwindigkeit, die ihnen möglich war, über Bohuslän dahin, und der Gänserich war so außer Atem, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Die Sonne stand unten am Horizont, und hin und wieder verschwand sie hinter einer Bergspitze, aber die Wildgänse flogen so schnell, daß sie sie immer von neuem wiedersahen.

Endlich gewahrten sie im Westen einen blanken Streifen, der mit jedem Flügelschlag wuchs und breiter wurde. Es war das Meer, das milchweiß dalag, mit rosenroten und himmelblauen Streifen, und als sie an den Klippen am Strande vorüberflogen, erblickten sie abermals die Sonne, die jetzt groß und rot am Himmelsrand hing, bereit in die Wellen hinabzutauchen.

Aber als der Junge das freie, unendliche Meer sah und die rote Abendsonne, die mit einem so milden Glanz schimmerte, daß er gerade in sie hineinsehen konnte, da zogen Friede und Sicherheit in seine Seele ein. »Es hat gar keinen Zweck, betrübt zu sein, Niels Holgersen,« sagte die Sonne. »Es ist herrlich, auf der Welt zu leben, für Große wie für Kleine. Es ist auch gut, frei und frank zu sein und den ganzen Himmelsraum zum Tummelplatz zu haben.«

Das Geschenk der Wildgänse.

Die Wildgänse hatten sich zum Schlafen auf eine kleine Schäre vor Fjällbacka gestellt. Aber als Mitternacht nahte, und der Mond schon am Himmel stand, rieb sich die alte Akka den Schlaf aus den Augen und ging hin, um Iksi und Kaksi, Kalme und Nälja, Biisi und Kuusi zu wecken. Zuletzt stieß sie auch Däumling mit dem Schnabel, so daß er erwachte. »Was gibt’s, Mutter Akka?« fragte er und fuhr ganz erschreckt in die Höhe. »Nichts Besonderes!« antwortete die Führergans. »Nichts weiter, als daß wir sieben Alten aus der Schar diese Nacht eine Strecke übers Meer hinausfliegen wollen, und da wollte ich dich fragen, ob du nicht Lust hast, mitzukommen.«

Der Junge begriff sofort, daß Akka nicht mit einem solchen Vorschlag gekommen wäre, falls nicht etwas Besonderes vorgelegen hätte, und er setzte sich sofort auf ihren Rücken. Sie nahmen den Kurs in gerader Richtung nach Westen. Zuerst flogen sie über eine Reihe großer und kleiner Inseln, die nahe an der Küste lagen, dann über eine breite Strecke offenen Wassers, und schließlich erreichten sie die große Väderöer Inselgruppe, die ganz draußen am offenen Meer liegt. Alle Inseln waren niedrig und voller Klippen, und im Mondlicht konnte man deutlich sehen, daß sie an der Westseite von den Wellen blankgeschliffen waren. Einige davon waren ziemlich groß und auf ihnen unterschied der Junge ein paar Häuser. Akka suchte eine der kleinsten Schären auf und ließ sich dort nieder. Diese ganze Insel bestand nur aus einer unebenen Felsplatte mit einem breiten Spalt in der Mitte, in den das Meer seinen Strandsand und Muscheln hineingespült hatte.

Als Niels Holgersen von dem Rücken der Gans herunterstieg, sah er dicht neben sich etwas, das einem hohen, spitzen Stein glich. Aber fast im selben Augenblick merkte er, daß es ein großer Raubvogel war, der die Schäre zum Nachtquartier gewählt hatte. Er hatte jedoch kaum Zeit, sich darüber zu wundern, daß sich die Wildgänse so unvorsichtig neben einem gefährlichen Feind niedergelassen hatten, als der Vogel schon mit einem langen Sprung zu ihnen hinkam und er den Adler Gorgo erkannte.

Es stellte sich heraus, daß Akka und Gorgo sich hier draußen ein Stelldichein gegeben hatten. Sie waren beide nicht erstaunt, einander zu sehen, »Das war gut gemacht, Gorgo!« sagte Akka. »Ich hatte eigentlich nicht geglaubt, daß du vor uns am verabredeten Ort eintreffen könntest. Hast du lange gewartet?« – »Ich bin gestern abend gekommen,« antwortete Gorgo. »Aber ich fürchte, das einzige, weswegen du mich loben kannst, ist, daß ich so gut auf euch achtgegeben habe. Mit dem Auftrag, den du mir gegeben hast, sieht es nicht gut aus.« – »Ich bin überzeugt, Gorgo, daß du mehr ausgerichtet hast, als du dir merken lassen willst,« sagte Akka. »Ehe du aber erzählst, was dir auf der Reise begegnet ist, möchte ich Däumling bitten, mir beim Suchen von etwas, was hier auf der Schäre versteckt liegt, zu helfen.«

Niels Holgersen hatte dagestanden und einige schöne Schneckenhäuser betrachtet, aber als Akka seinen Namen nannte, sah er auf. »Du hast dich gewiß gewundert, Däumeling, warum wir nicht den geraden Kurs innegehalten haben, sondern hier auf das Kattegat hinausgeflogen sind,« sagte Akka. – »Ich fand das allerdings ein wenig sonderbar,« antwortete der Junge. »Aber ich weiß ja, daß Ihr triftige Gründe für alles habt, was Ihr tut.« – »Du hast einen guten Glauben an mich,« entgegnete Akka, »aber ich fürchte fast, daß du ihn jetzt einbüßt, denn es ist höchst wahrscheinlich, daß bei dieser Reise nichts herauskommen wird.«

»Vor vielen Jahren,« fuhr Akka fort, »wurden ich und ein paar von den Alten in unserer Schar auf einer Frühjahrsreise vom Sturm überfallen und auf diese Schäre verschlagen. Als wir sahen, daß wir nur das offne Meer vor uns hatten, fürchteten wir, so weit hinausgetrieben zu werden, daß wir uns nie wieder an Land zurückfinden würden. Deswegen legten wir uns auf die Wellen nieder. Der Sturm zwang uns, mehrere Tage zwischen diesen kahlen Klippen zu verweilen. Wir litten großen Hunger, und eines Tages gingen wir in dieser Rinne auf die Schäre hinauf und suchten nach Futter. Wir fanden keinen einzigen Grashalm, aber wir sahen ein paar Säcke, die fest zugebunden und halb vom Sand begraben waren. Wir hofften, daß Korn in den Säcken sein würde und bissen und zerrten daran, bis wir ein Loch in den Stoff gerissen hatten. Aber es war kein Korn, was herausströmte, es waren lauter glänzende Goldstücke. Dafür hatten wir Wildgänse keine Verwendung, und wir ließen sie liegen, wo sie lagen. Alle diese Jahre haben wir gar nicht an unseren Fund gedacht, aber jetzt im Herbst hat sich etwas zugetragen, was das Gold für uns begehrenswert macht. Wir wissen sehr wohl, es ist unwahrscheinlich, daß wir den Schatz hier noch finden, aber wir sind trotzdem hier herübergeflogen und bitten dich jetzt, einmal nachzusehen, wie sich die Sache verhält.«

Der Junge sprang in die Felsenspalte hinein, nahm in jede Hand eine Muschelschale und machte sich daran, den Sand beiseite zu werfen. Säcke fand er nicht, aber als er ein ziemlich tiefes Loch gegraben hatte, hörte er ein Klirren wie ein Metall und sah, daß da eine Goldmünze lag. Er tastete mit den Händen umher, fühlte, daß viele runde Münzen im Sand lagen, und eilte schnell zu Akka zurück. »Die Säcke sind vermodert und zerfallen,« sagte er, »so daß das Gold ringsumher im Sande zerstreut liegt, aber das Gold ist offenbar noch alles da.« »Das ist gut,« sagte Akka. »Fülle nun das Loch wieder zu und glätte den Sand, damit niemand sehen kann, daß daran gerührt worden ist.«

Der Junge tat, wie sie ihn geheißen, als er dann aber wieder auf die Klippe hinauf kam, sah er zu seiner Überraschung, daß sich Akka an die Spitze der sechs Wildgänse gestellt hatte, und daß sie alle mit größter Feierlichkeit auf ihn zumarschiert kamen. Sie machten vor ihm halt, verneigten sich vielmals mit dem Halse und sahen so vornehm aus, daß er unwillkürlich die Mütze abnahm und sich vor ihnen verbeugte.

»Wir haben dir etwas zu sagen,« begann Akka. »Alle wir Alten haben zueinander gesagt, wenn du, Däumeling, bei Menschen in Dienst gestanden und ihnen so große Hilfe geleistet hättest wie uns, so würden sie sich sicherlich nicht von dir trennen, ohne dir einen guten Lohn zu geben.« – »Nicht ich habe euch geholfen, sondern ihr habt euch meiner angenommen,« entgegnete Däumeling. – »Wir meinen auch,« fuhr Akka fort, »daß, wenn ein Mensch uns auf der ganzen Reise begleitet hat, er nicht ebenso arm von uns gehen sollte, wie er gekommen ist.« – »Ich weiß, daß das, was ich in diesem Jahr bei euch gelernt habe, mehr wert ist als Geld und Gut,« sagte der Junge.

»Da nun diese Goldstücke so viele Jahre hier in der Felsenspalte liegen geblieben sind, kann man wohl annehmen, daß sie niemand mehr gehören,« fuhr die Führergans fort, »und ich meine nun, du könntest sie an dich nehmen.« – »Habt Ihr selbst denn keine Verwendung für den Schatz, Mutter Akka?« fragte der Junge.

»Ja, wir haben Verwendung dafür: wir wollen dir einen solchen Lohn zahlen, daß dein Vater und deine Mutter sehen können, du hast bei ordentlichen Leuten als Gänsejunge gedient.«

Da wandte sich der Junge halb um, warf einen Blick auf das Meer hinaus und sah dann Akka in die blanken Augen. »Es wundert mich, Mutter Akka, daß Ihr mich aus Eurem Dienst entlaßt und mir meinen Lohn gebt, ehe ich gekündigt habe,« sagte er. – »Solange wir Wildgänse in Schweden sind, glaube ich wohl, daß du bei uns bleiben wirst,« entgegnete Akka. »Aber ich wollte dir doch zeigen, wo der Schatz zu finden ist, jetzt, wo wir ihn erreichen konnten, ohne einen zu großen Umweg zu machen.« – »Es ist trotzdem so, wie ich sage. Ihr wollt mich los sein, ehe ich selbst Lust dazu habe,« sagte Däumeling. »Nach der langen Zeit, die wir so gut miteinander gelebt haben, meine ich, wäre es doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich Euch auch ins Ausland begleiten dürfte.«

Als der Junge dies sagte, streckten Akka und die anderen ihre Hälse gerade in die Höhe und standen eine Weile da und sogen mit halbgeöffnetem Schnabel die Luft ein. »Das ist etwas, woran ich gar nicht gedacht habe,« sagte Akka, als sie sich wieder gefaßt hatte. »Aber ehe du einen Beschluß hierüber faßt, wird es wohl am besten sein, wenn wir hören, was Gorgo zu erzählen hat. Ich will dir nämlich sagen, daß, ehe wir Lappland verließen, Gorgo und ich uns darüber einigten, daß er in deine Heimat, nach Schonen, fliegen und versuchen sollte, bessere Bedingungen für dich zu erwirken.«

»Ja, so verhält es sich,« sagte Gorgo. »Aber wie ich dir bereits mitteilte, habe ich kein Glück damit gehabt. Es war nicht schwer, Holger Nielsens Haus zu finden, und nachdem ich ein paar Stunden über dem Hofe hin und her geschwebt war, gewahrte ich den Kobold, der zwischen den Gebäuden umherschlich. Ich stieß sogleich nieder und flog mit ihm auf ein Feld, wo wir ungestört miteinander reden konnten. Ich sagte ihm, daß mich Akka von Kebnekajse geschickt habe, um zu fragen, ob er Niels Holgersen nicht bessere Bedingungen verschaffen könne«. »Ich wollte ich könnte es,« antwortete er mir, »denn ich habe gehört, daß er sich auf der Reise gut geschickt hat. Aber es steht nicht in meiner Macht.« – Da wurde ich zornig und sagte, ich würde mich nicht für zu gut halten, ihm die Augen auszuhacken, wenn er nicht nachgäbe. »Du kannst mit mir machen, was du willst,« erwiderte er. »Aber mit Niels Holgersen muß es so bleiben, wie ich gesagt habe. Aber du kannst ihn ja grüßen und ihm sagen, er täte am besten, wenn er bald mit seinem Gänserich nach Hause käme, denn hier stehen die Sachen schlecht. Holger Nielsen hat für einen Bruder, zu dem er großes Vertrauen hatte, gut gesagt, und das Geld hat er bezahlen müssen. Mit geborgtem Geld hat er ein Pferd gekauft, aber das Pferd hat von dem ersten Tage an, wo er damit fuhr, gelahmt, und seit der Zeit hat er keinen Nutzen davon gehabt. Ja, erzähle Niels Holgersen nur, daß seine Eltern schon zwei Kühe haben verkaufen müssen, und daß sie, wenn sie nicht von irgendeiner Seite Hilfe bekommen, von Haus und Hof gehen müssen.«

Als der Junge das hörte, runzelte er die Stirn, und seine Hände ballten sich, so daß die Knöchel ganz weiß wurden. »Es ist grausam von dem Kobold,« sagte er, »mir eine solche Bedingung zu stellen, daß ich nicht nach Hause kommen und meinen Eltern helfen kann. Aber es soll ihm nicht gelingen, einen treulosen Freund aus mir zu machen, Vater und Mutter sind redliche Leute, und ich weiß, daß sie lieber meine Hilfe entbehren, als daß ich mit einem schlechten Gewissen zu ihnen heimkehre.«

L. Silber im Meer

Sonnabend, 8.Oktober.

Das Meer ist, wie wir alle wissen, wild und anmaßend, und der Teil von Schweden, der seinen Angriffen ausgesetzt ist, war deshalb schon seit langen Zeiten durch eine lange, breite steinerne Mauer geschützt, die Bohuslän heißt.

Die Mauer ist so breit, daß sie das ganze Land zwischen Dalsland und dem Meer bedeckt, aber sie ist nicht gerade hoch, wie das bei steinernen Deichen und Wellenbrechern der Fall zu sein pflegt. Sie ist aus mächtigen Felsblöcken erbaut, und stellenweise liegen ganze, lange Bergrücken darin. Es würde auch keinen Zweck haben, mit kleinen Steinen bauen zu wollen, wo es sich darum handelt, einen Schutzwall gegen das Meer zu errichten, der vom Iddefjord bis zum Götaelf reichen soll.

Dergleichen große Bauwerke führen wir ja heutzutage nicht mehr aus, und die Mauer ist zweifelsohne sehr alt. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß sie von der Zeit tüchtig mitgenommen ist. Die großen Felsblöcke liegen nicht mehr so dicht nebeneinander, wie das wahrscheinlich zu Anfang der Fall gewesen ist. Es haben sich so breite und tiefe Spalten dazwischen gebildet, daß darin Raum für Häuser und Felder ist. Aber die Felsblöcke liegen doch nicht weiter voneinander entfernt, als daß man deutlich sehen kann, sie haben einstmals zu derselben Mauer gehört.

Nach dem Lande zu ist diese große Mauer am besten erhalten. Dort zieht sie sich lange Strecken ganz und ununterbrochen hin. In der Mitte laufen lange, tiefe Risse mit Seen auf dem Grunde hinab, und nach der Küste zu ist sie so verfallen, daß jeder einzelne Steinblock wie ein kleiner Berg für sich daliegt.

Erst wenn man die große Mauer unten von der Küste her sieht, versteht man so recht, daß sie da, wo sie steht, nicht nur zu ihrem Vergnügen steht. Wie stark sie auch von Anfang an gewesen sein mag, an sechs bis sieben Stellen ist das Meer durchgebrochen und hat Fjorde hineingeschnitten, die mehrere Meilen lang sind.

Der äußerste Teil der Mauer steht obendrein unter Wasser, so daß nur der obere Teil der Felsblöcke sichtbar ist. Auf diese Weise sind eine Menge großer und kleiner Inseln entstanden, die Schärengruppen bilden, und diese wehren die ärgsten Angriffe des Sturmes und des Meeres ab.

Nun könnte man vielleicht glauben, daß eine Landschaft, die eigentlich nur aus einer großen steinernen Mauer besteht, ganz unfruchtbar sein muß, so daß kein Mensch dort Lebensunterhalt finden kann. Aber damit ist es nun doch nicht so gar schlimm bestellt, denn wenn auch die Felsen und Hochebenen in Bohuslän nackt und kahl sind, so hat sich doch gute und fruchtbare Erde in allen Spalten angesammelt, und es läßt sich dort vorzüglich Ackerbau betreiben, obgleich die Felder nicht sehr groß sind. Der Winter ist hier an der Küste in der Regel auch nicht so kalt wie im Innern des Landes, und an Stellen, die gegen den Wind geschützt sind, gedeihen gegen Kälte empfindliche Bäume und andere Pflanzen, die sonst kaum so hoch nördlich wie Schonen zu wachsen pflegen.

Man darf auch nicht vergessen, daß Bohuslän an der Grenze des großen Gemeindeangers liegt, der allen Menschen auf der Erde Gemeingut ist. Die Bohusläner können Wege benutzen, die sie weder zu bauen noch instand zu halten brauchen. Sie können Herden einfangen, die sie weder zu bewachen noch zu hüten haben, und ihre Beförderungsmittel werden von Zugtieren gezogen, denen sie weder Futter noch Stallraum zu geben brauchen. Daher sind sie nicht so abhängig von Ackerbau und Viehzucht wie andere. Sie fürchten sich nicht, sich auf sturmumbrausten Schären niederzulegen, wo kein Grashalm wächst, wo kaum Raum für ein Kartoffelfeld ist, denn sie wissen, daß das große, reiche Meer ihnen alles geben kann, was sie nötig haben.

Wohl ist es wahr, daß das Meer reich ist, aber nicht weniger wahr ist es, daß es seine Schwierigkeit hat, sich mit ihm zu befassen. Wer Ertrag aus dem Meer haben will, muß alle seine Fjorde und Buchten, alle seine Untiefen und Strömungen kennen, er muß so ungefähr mit jedem Stein auf dem Grunde des Meeres Bescheid wissen. Er muß sein Boot in Sturm und Nebel führen und seinen Weg in der schwärzesten Nacht finden können. Er muß es verstehen, die Zeichen in der Luft zu deuten, die böses Wetter verkünden, und er muß Kälte und Nässe vertragen können. Er muß wissen, wo die Fische ihren Zug haben, und wo der Hummer kriecht, und er muß schwere Netze bedienen und sein Garn auch bei unruhiger See auswerfen können. Vor allem aber muß er ein mutiges Herz in der Brust haben, so daß er es für nichts achtet, daß er im Kampf gegen das Meer tagaus, tagein sein Leben aufs Spiel setzt.

An dem Morgen, als die Wildgänse über Bohuslän hinabflogen, war es still zwischen den Schären. Sie sahen mehrere kleine Fischerdörfer, aber es war kein Leben in den engen Gassen, niemand ging in den kleinen, zierlich gestrichenen Häusern ein und aus. Die braunen Fischernetze hingen in guter Ruhe auf dem Trockenplatz, die schweren, grünen oder blauen Fischerboote lagen mit aufgerollten Segeln am Strande entlang. Keine Frauen waren an den langen Tischen beschäftigt, wo man Dorsche und Heilbutten auszunehmen pflegte.

Die Wildgänse flogen auch über mehrere Lotsenstationen hin. Die Wände des Lotsenhauses waren schwarz und weiß gestrichen. Der Signalmast stand daneben, und der Lotsenkutter lag an der Brücke vertäut. Ringsumher war alles still, kein Dampfer war in Sicht, der in dem engen Fahrwasser Hilfe gebrauchte.

Die kleinen Küstenstädte, über die die Wildgänse hinflogen, hatten ihre großen Badehäuser geschlossen, ihre Flaggen eingezogen und Läden vor die Fenster der feinen Sommerhäuser gesetzt. Da war niemand zu sehen außer ein paar alten Schiffskapitänen, die auf den Brücken hin und her gingen und sehnsuchtsvoll auf das Meer hinausstarrten.

Drinnen in den Fjorden auf dem Festlande sowie auf der Ostseite der Inseln sahen die Wildgänse einige Bauernhöfe, und dort lag das zum Hause gehörige Boot still an der Brücke. Der Bauer und seine Knechte nahmen Kartoffeln auf oder sahen nach, ob die Bohnen, die an hohen Holzgestellen hingen, hinreichend getrocknet waren.

In den großen Steinbrüchen und auf den Bootwerften waren viele Arbeiter. Sie handhabten ihre Vorhämmer und Äxte flink genug, aber wieder und wieder wandten sie den Kopf dem Meere zu, als hofften sie auf eine Unterbrechung.

Und die Schärenvögel waren ebenso ruhig wie die Menschen. Ein paar Scharben, die an einer steilen Felswand gesessen und geschlafen hatten, verließen eine nach der anderen die schmalen Felsvorsprünge und flogen in langsamem Flug nach ihren Fischplätzen. Die Möwen waren vom Meer hereingekommen und spazierten an Land, ganz wie Krähen.

Plötzlich aber veränderte sich alles. Auf einmal flog ein Schwarm Möwen von einem Acker auf und sauste mit einer solchen Geschwindigkeit südwärts, daß die Wildgänse kaum Zeit hatten zu fragen, wohin sie wollten, und die Möwen sich auch nicht Zeit ließen zu antworten. Die Scharben kamen vom Wasser herauf und folgten den Möwen in schwerfälligem Flug. Delphine schossen gleich langen, schwarzen Spindeln durch das Wasser, und eine Schar Seehunde ließ sich von einer flachen Schäre ins Wasser gleiten und zog gen Süden.

»Was ist denn los? Was ist denn los?« fragten die Wildgänse und bekamen schließlich Antwort von einer Eisente. »Der Hering ist nach Marstrand gekommen! Der Hering ist nach Marstrand gekommen!«

Aber nicht nur die Vögel und Seetiere gerieten in Bewegung, auch die Menschen hatten jetzt offenbar Nachricht erhalten, daß sich die ersten großen Heringschwärme zwischen den Schären gezeigt hatten. Die Leute liefen auf den glatten Steinen der Fischerdörfer geschäftig durcheinander. Die Fischerboote wurden bereit gemacht. Vorsichtig brachte man die langen Heringnetze an Bord. Die Frauen verstauten den Proviant und die Ölkleider in die Boote. Die Männer kamen in einer solchen Hast aus den Häusern, daß sie erst auf der Straße den Rock anzogen. Bald waren alle Sunde voll brauner und grauer Segel, und muntere Zurufe und Fragen flogen zwischen den Booten hin und her. Junge Mädchen waren auf die Klippen hinter den Häusern geklettert und winkten den Davonziehenden zu. Die Lotsen standen da und hielten Ausguck und waren so fest überzeugt, daß man bald nach ihnen schicken werde, daß sie schon die langen Seestiefel angezogen und den Kutter klar gemacht hatten. Aus den Fjorden heraus kamen kleine Dampfer mit leeren Tonnen und Kisten beladen. Die Bauern warfen die Kartoffelhacke hin, und die Bootbauer verließen die Werft. Die alten Schiffskapitäne mit den wettergebräunten Gesichtern konnten nicht daheimbleiben, sie fuhren mit den Dampfern südwärts, um den Heringfang wenigstens mit anzusehen. Es währte nicht lange, bis die Wildgänse Marstrand erreichten. Die Heringschwärme kamen von Westen und gingen, am Leuchtturm auf der Hafenschäre vorbei, dem Lande zu. In dem breiten Fjord zwischen der Insel Marstrand und den Pater-Noster-Schären kamen die Fischerboote immer zu dreien dahergesegelt. Wo die See dunkel war und sich in kleinen, kurzen Wellen kräuselte, da war der Hering. Das wußten die Fischer, und da legten sie vorsichtig die langen Netze aus, sammelten sie zu einem Rundkreis, schnürten sie unten am Boden zusammen, so daß der Hering wie in einem ungeheuren Sack lag; dann zogen und schnürten sie die Netze noch mehr zusammen, so daß der Raum enger und enger wurde und das Netz schließlich, mit glitzernden Fischen gefüllt, herausgezogen werden konnte.

Einige Bootbesatzungen waren schon so weit mit dem Fischfang gediehen, daß sie ihre Boote bis an die Reeling voller Heringe hatten. Die Fischer standen bis an die Knie in Heringen und glitzerten von Heringschuppen vom Südwester bis an den unteren Rand ihres gelben Ölrockes.

Und dann waren da neuangekommene Fischergruppen, die umherfuhren und loteten und nach Heringen suchten, und andere, die mit großer Mühe das Netz ausgelegt hatten, es aber leer wieder herauszogen. Wenn die Boote voll waren, fuhren einige von den Fischern nach den großen Dampfern hinaus, die auf dem Fjord lagen, und verkauften ihren Fang, andere segelten nach Marstrand hinein und löschten den Fang am Kai. Dort waren die Heringweiber schon in voller Arbeit an den langen Tischen; die Heringe wurden in Tonnen und Kisten gepackt, und die ganze Straße war voll von Heringschuppen.

Ja, hier herrschte Leben und Bewegung. Die Menschen waren ganz aus dem Häuschen vor Freude über all dies Silber, das sie aus den Wellen des Meeres schöpften, und die Wildgänse flogen viele Male rund herum um die Insel Marstrand, damit der Junge alles recht genau sehen sollte.

Bald aber bat er sie, weiterzufliegen. Er sagte nicht, warum er dort weg wollte, aber es war vielleicht nicht so schwer zu erraten. Da waren viele schöne und stolze Leute unter den Fischern. Mehrere von ihnen waren stattliche Männer mit kühnen Gesichtern unter dem Südwester, und sie sahen so verwegen und keck aus, wie jeder frische Junge wünscht, selbst auszusehen, wenn er einmal erwachsen ist. Es war wohl nicht gerade erfreulich für jemand, der nie viel größer werden konnte wie ein Hering, dazusitzen und solche Prachtkerle zu betrachten.

XLIV. Bei den Lappen

Die Beerdigung war vorüber. Alle Gäste des Gänsemädchens Aase waren gegangen, und sie saß allein in der kleinen Hütte, die ihrem Vater gehört hatte. Sie hatte die Tür abgeschlossen, um Ruhe zu haben und an ihren Bruder denken zu können. Sie dachte an alles, was der kleine Mads gesagt und getan hatte, an eins nach dem andern, und das war so viel, daß sie vergaß zu Bett zu gehen und nicht nur den ganzen Abend, sondern bis spät in die Nacht sitzen blieb. Je mehr sie an den Bruder dachte, um so klarer wurde es ihr, wie schwer es sein würde, ohne ihn zu leben, und schließlich legte sie den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich. »Was soll aus mir werden, wenn ich den kleinen Mads nicht mehr habe,« schluchzte sie.

Es war, wie gesagt, spät in der Nacht, und das Gänsemädchen Aase hatte einen anstrengenden Tag gehabt, da war es denn nicht verwunderlich, daß der Schlaf sie übermannte, sobald sie den Kopf senkte. Und es war ja auch nicht verwunderlich, daß sie von dem träumte, an den sie fortwährend gedacht hatte. Es war ihr, als komme der kleine Mads leibhaftig zu ihr ins Zimmer herein. »Aase, jetzt mußt du dich aufmachen und versuchen, unsern Vater zu finden,« sagte er. – »Wie kann ich das nur, ich weiß ja nicht einmal, wo ich ihn suchen soll,« schien sie zu antworten. – »Darüber sollst du dir keine Sorgen machen,« entgegnete der kleine Mads frisch und fröhlich, wie es eine Art war. »Ich will dir schon jemand schicken, der dir helfen kann.«

Während das Gänsemädchen Aase träumte, daß der kleine Mads dies sagte, klopfte es an ihre Kammertür. Es war ein wirkliches Klopfen und nicht etwas, was sie träumte. Aber sie war in dem Maße von ihrem Traum befangen, daß sie nicht zu unterscheiden vermochte, was Wirklichkeit war und was Einbildung, und als sie hinging, um die Tür zu öffnen, dachte sie: ›Nun kommt ganz sicher der Helfer, den der kleine Mads mir zu schicken versprochen hat.‹

Hätte nun Schwester Hilma oder irgendein anderer richtiger Mensch auf der Schwelle gestanden, als das Gänsemädchen Aase die Tür öffnete, so würde sie gleich gemerkt haben, daß der Traum aus war, aber es war kein Mensch. Der geklopft hatte, war ein kleiner Wicht, nicht viel größer als eine Spanne hoch. Obgleich es spät in der Nacht war, war es doch noch so hell wie am Tage, und Aase sah sogleich, daß es derselbe kleine Bursche war, den sie und der kleine Mads, während sie das Land durchwanderten, ein paarmal getroffen hatten. Damals war sie bange vor ihm, und das würde sie auch jetzt gewesen sein falls sie richtig wach gewesen wäre. Aber sie hatte ein Gefühl, als träume sie noch, und darum blieb sie ruhig stehen. ›Dacht‘ ich mir’s doch, daß es der sei, den der kleine Mads mir schicken wollte, der mir behilflich sein sollte, den Vater zu finden,‹ dachte sie.

Und darin hatte sie nicht unrecht, denn der kleine Kerl kam gerade, um mit ihr über ihren Vater zu sprechen. Als er sah, daß sie nicht bange vor ihm war, erzählte er ihr mit wenigen Worten, wo der Vater zu finden sei, wie auch, was sie tun müsse, um zu ihm zu gelangen.

Aber während er sprach, erwachte das Gänsemädchen Aase allmählich zu vollem Bewußtsein, und als er geendet hatte, war sie ganz wach. Und da erschrak sie so darüber, daß sie hier stand und mit einem sprach, der nicht ihrer Welt angehörte, daß sie kein Wort über ihre Lippen zu bringen vermochte, nicht einmal einen Dank. Im Gegenteil, sie lief schnell in die Stube hinein und schlug die Tür hart hinter sich zu. Es war ihr freilich, als könne sie sehen, daß das Gesicht des Kleinen einen sehr betrübten Ausdruck annahm, als sie das tat; aber sie konnte nicht anders. Sie war ganz außer sich vor Entsetzen und kroch schnell in das Bett und zog die Decke über den Kopf.

Aber obwohl sie so bange vor dem Kleinen geworden war, begriff sie doch, daß er nur ihr Bestes gewollt hatte, und am nächsten Tage beeilte sie sich, das zu tun, wozu er ihr geraten hatte.

Auf dem linken Ufer des Luossojaure, eines kleinen Sees, der noch viele Meilen nördlicher liegt als Malmberget, war ein kleines Lappenlager. An dem südlichen Ende des Sees ragt ein mächtiger Bergkegel auf, der Kirunavåra heißt und der, wie man erzählte, aus lauter Eisenerz bestehen soll. Auf der nordöstlichen Seite lag ein anderer Berg, der Luossovåra hieß, und das war auch ein reicher Eisenberg. Man war jetzt im Begriff, eine Eisenbahn von Gellivare zu diesen Bergen hinauf zu führen, und in der Nähe von Kirunavåra wurden ein Bahnhof, ein Hotel und eine Menge Wohnungen für die Ingenieure und Arbeiter gebaut, die hier wohnen würden, wenn der Gewinn des Erzes erst ordentlich in Gang gekommen war. Es war dies eine ganze Stadt mit hübschen und gemütlichen Häusern, die dort hoch oben entstand, und zwar in einer Gegend, die so weit nördlich gelegen war, daß die kleinen, verkrüppelten Birken, die den Erdboden bedeckten, erst nach dem Hochsommer ihre Blätter aus den Knospen entfalten konnten.

Westlich von dem See lag das Land frei und offen, und da hatten, wie gesagt, ein paar Lappenfamilien ihr Lager aufgeschlagen. Sie waren vor einem Monat hierhergekommen und hatten nicht viel Zeit gebraucht, um ihre Wohnung in Ordnung zu bringen. Sie hatten weder Felsen sprengen noch zu mauern brauchen, um guten und ebenen Baugrund zu schaffen, sondern sobald sie einen trockenen und guten Platz in der Nähe des Sees gefunden, hatten sie nichts weiter zu tun gebraucht, als ein wenig Weidengestrüpp wegzuhauen und einige Erdhügel zu ebnen, um den Bauplatz herzurichten. Auch hatten sie nicht lange gezimmert und gehämmert, um feste Wände aus Balken herzustellen, und sie hatten sich keine Mühe damit gemacht, das Dach aufzurichten und es gut zu decken, oder die Wände inwendig mit Brettern zu bekleiden und Fenster einzusetzen; ja, nicht einmal um Türen und Schlösser hatten sie sich bekümmert. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als die Zeltpfähle tüchtig fest in den Boden zu rammen und Leinwand darüber zu hängen, dann war ihr Haus so gut wie fertig. Auch mit dem Hineinschaffen der Möbel hatten sie sich keine großen Umstände gemacht. Das Wichtigste war, einige Felle und Tannenzweige auf dem Boden auszubreiten und den großen Kessel, in dem sie ihr Renntierfleisch kochten, an einer eisernen Kette aufzuhängen, die oben an den Zeltstangen befestigt wurde.

Die Ansiedler auf der östlichen Seite des Sees, die sich aus Leibeskräften damit abmühten, ihre Häuser fertig zu schaffen, ehe der strenge Winter hereinbrach, wunderten sich über die Lappen, die seit vielen, vielen Hunderten von Jahren hier in dem kalten Norden umhergestreift waren, ohne daran zu denken, daß man andern Schutz gegen Sturm und Kälte haben könne, als ein paar dünne Zeltwände. Und die Lappen wunderten sich über die Ansiedler, die sich alle diese schwere und mühselige Arbeit machten, da zum Leben doch nichts weiter nötig war als der Besitz von einigen Renntieren und einem Zelt.

Eines Nachmittags im Juli regnete es dort oben am Luossojaure ganz fürchterlich, und die Lappen, die sich sonst zur Sommerzeit nicht viel innerhalb ihrer Zeltwände aufhielten, waren alle miteinander in eins der Zelte gekrochen und kauerten dort um das Feuer und tranken Kaffee.

Während sie da saßen und noch so vergnüglich bei der Kaffeetasse plauderten, kam ein Boot von der Kirunaerseite herübergerudert und legte bei dem Lappenlager an. In dem Boot saßen ein Arbeiter und ein kleines Mädchen, das wohl dreizehn bis vierzehn Jahre alt sein mochte; sie stiegen bei dem Lager aus. Die Hunde fuhren mit heftigem Gebell auf sie ein, und einer der Lappen steckte den Kopf zur Zeltöffnung heraus, um zu sehen, was es gäbe. Er war sehr erfreut, als er den Arbeiter sah, denn der war ein guter Freund der Lappen, ein munterer und redseliger Mann, der die Sprache der Lappen sprechen konnte. Der Lappe rief ihm gleich zu, er solle ins Zelt hineinkommen. »Du kommst wie gerufen, Söderberg,« rief er. »Der Kaffeekessel hängt über dem Feuer; bei diesem Regenwetter kann doch niemand etwas anfangen. Komm herein und erzähle uns etwas Neues.«

Der Arbeiter kroch zu den Lappen hinein, und mit viel Mühe, aber unter lustigem Scherzen und Lachen, gelang es, für ihn und das kleine Mädchen Platz in dem Zelt zu schaffen, das schon ganz voll von Menschen war. Der Mann begann sofort lappländisch mit seinen Wirten zu sprechen. Währenddessen saß das Mädchen, das mit ihm gekommen war, und das nichts von der Unterhaltung verstand, ganz stumm da und betrachtete erstaunt den Kochtopf und den Kaffeekessel, das Feuer und den Rauch, die Lappen und die Lappenfrauen, die Kinder und die Hunde, die Wände und den Fußboden, die Kaffeetassen und die Tabakpfeifen, die bunten Kleider und die geschnitzten Gerätschaften.

Aber auf einmal hielt sie mit ihrer Untersuchung inne und schlug die Augen nieder, denn sie merkte, daß alle im Zelt sie ansahen. Söderberg mußte etwas von ihr erzählt haben, denn sowohl die Lappen als auch die Lappenfrauen nahmen ihre kurzen Tabakpfeifen aus dem Munde und starrten sie an. Der ihr zunächstsitzende Lappe klopfte ihr auf die Schulter und sagte auf schwedisch: »Gut! Gut!« Eine Lappenfrau schenkte eine große Tasse Kaffee ein, die ihr mit vieler Mühe hinübergereicht wurde, und ein Lappenjunge in ihrem Alter kroch zu ihr hinüber. Da blieb er liegen und glotzte sie an.

Sie erriet, daß Söderberg den Lappen erzählt haben mußte, wie sie das große Begräbnis für ihren Bruder, den kleinen Mads veranstaltet hatte, aber sie saß da und wünschte, daß er nicht so viel von ihr erzählen möge, sondern die Lappen fragen wollte, ob sie nichts von ihrem Vater wüßten. Der kleine Wicht hatte gesagt, daß er sich bei den Lappen aufhalte, die ihr Lager westlich vom Luossojaure aufgeschlagen hätten, und da hatte sie um Erlaubnis gebeten, mit einem Kieszug da hinauf zu fahren – denn richtige Züge gingen noch nicht auf der Bahn – um nach ihrem Vater suchen zu kommen. Alle, die Aufseher wie auch die Arbeiter taten ihr Bestes, um ihr zu helfen, und in Kiruna hatte ein Ingenieur Söderberg, der Lappisch sprechen konnte, mit ihr über den See geschickt, um sich nach dem Vater zu erkundigen.

Sie hatte gehofft, daß sie ihn treffen würde, sobald sie hier ankäme, und sie hatte ein Gesicht nach dem andern im Zelt angesehen, konnte aber gar nicht in Zweifel sein, daß sie alle dem Lappenvolk angehörten. Der Vater war nicht unter ihnen.

Sie sah, daß die Lappen und Söderberg immer ernsthafter wurden, je länger sie miteinander redeten, und die Lappen schüttelten die Köpfe und klopften sich an die Stirn, als sprächen sie von jemand, der nicht ganz bei Verstand sei. Da wurde sie so unruhig, daß sie es nicht länger aushalten konnte, still zu sitzen und zu warten, und sie fragte Söderberg, was die Lappen von ihrem Vater wüßten.

»Sie sagen, er ist fortgegangen, um zu fischen,« antwortete der Arbeiter. »Sie wissen nicht, ob er heute abend noch ins Lager zurückkommt, aber sobald das Wetter ein wenig besser wird, will einer von ihnen ausgehen und nach ihm suchen.«

Dann wandte er sich wieder an die Lappen und sprach eifrig mit ihnen weiter. Er wollte offenbar nicht, daß Aase noch mehr Fragen über ihren Vater an ihn richtete.

*

Am nächsten Morgen war schönes Wetter. Ola Serka selbst, der vornehmste unter den Lappen, hatte gesagt, er wolle ausgehen und nach Aases Vater suchen. Aber er beeilte sich nicht; er kauerte vor dem Zelte, dachte an Jon Assarson und überlegte, wie er ihm die Nachricht beibringen sollte, daß seine Tochter gekommen war, um ihn zu suchen. Es handelte sich nämlich darum, dies so zu bewerkstelligen, daß Jon Assarson nicht erschrak und entfloh, denn er war ein sonderbarer Mann, den der Anblick von Kindern bange machte. Er pflegte zu sagen, ihn befielen so trübe Gedanken, wenn er sie sähe, und das könne er nicht ertragen.

Während Ola Serka hierüber nachdachte, saßen das Gänsemädchen Aase und Aslak, der Lappenjunge, der am vorhergehenden Abend vor ihr gelegen und sie angeglotzt hatte, auf dem freien Platz vor dem Zelt und plauderten miteinander. Aslak war zur Schule gegangen und konnte Schwedisch sprechen. Er erzählte Aase von dem Leben der Lappen und versicherte sie, daß sie besser dran seien als alle andern Menschen. Aase fand, daß ihr Leben schrecklich sei, und das sagte sie. »Du weißt nicht, was du sprichst,« sagte Aslak. »Bleibe nur eine Woche bei uns, und du wirst sehen, daß wir das glücklichste Volk auf der ganzen Erde sind.«

»Wenn ich noch eine Woche hierbleibe, so fürchte ich, daß ich von all dem Rauch da drinnen im Zelt erstickt werde,« sagte Aase. – »So darfst du nicht reden,« sagte der Lappenjunge. »Du weißt nichts von uns. Ich will dir eine Geschichte erzählen, daraus kannst du sehen, daß du immer lieber bei uns sein wirst, je länger du hier bist.«

Und dann begann Aslak, Aase von der Zeit zu erzählen, wo die große Krankheit, die man den schwarzen Tod nannte, durch das Land ging. Er wußte nicht, ob sie hier oben in dem richtigen Lappland, wo sie sich jetzt befanden, gewütet hatte, aber in Jämtland hatte sie so arg gehaust, daß alle Lappen, die dort im Gebirge und in den Wäldern wohnten, bis auf einen Jungen von fünfzehn Jahren gestorben waren, und von den Schweden, die in der Flußtälern wohnten, blieb auch nur ein Mädchen am Leben, das ebenfalls fünfzehn Jahre alt war.

»Der Junge und das Mädchen waren einen ganzen Winter in dem öden Lande umhergewandert, um nach Menschen zu suchen, und als der Frühling kam, stießen sie endlich aufeinander,« erzählte Aslak weiter. »Da bat das schwedische Mädchen den Lappenjungen, mit ihr südwärts zu ziehen, damit sie zu Leuten ihres eigenen Stammes kämen. Sie wolle nicht in Jämtland bleiben, wo alles ausgestorben war. ›Ich will dich führen, wohin du willst,‹ sagte der Junge, ›aber nicht vor dem Winter. Jetzt ist es Frühling, und du weißt, daß wir, die wir zu dem Lappenvolk gehören, dahin gehen müssen, wohin unsere Rentiere uns führen.‹

Das schwedische Mädchen war das Kind reicher Eltern. Sie war daran gewöhnt, unter einem Dach zu wohnen, in einem Bett zu schlafen und an einem Tisch zu essen. Sie hatte die armen Gebirgsbewohner immer verachtet und meinte, daß die, so da unter offenem Himmel wohnten, sehr unglücklich sein müßten. Aber sie fürchtete sich, in ihr Heim zurückzukehren, wo nichts war als tote Menschen. ›Ja, dann laß mich aber mit dir auf die Berge hinaufziehen,‹ sagte sie zu dem Jungen, ›dann brauche ich doch nicht hier allein umherzuwandern, ohne je eine menschliche Stimme zu hören.‹ Darauf ging der Junge gern ein, und so kam es, daß das Mädchen die Renntiere auf ihrer Wanderung ins Gebirge begleitete. Die Herde sehnte sich nach den guten Bergweiden und legte an jedem Tage eine lange Strecke zurück. Da war keine Zeit, ein Zelt aufzuschlagen. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich auf den Schnee zu werfen und ein wenig zu ruhen, während die Renntiere Rast machten, um zu weiden. Die Tiere fühlten den Südwind durch ihren Pelz wehen; sie wußten, daß er im Laufe weniger Tage den Schnee von den Berghängen wegfegen würde. Das Mädchen und der Junge mußten ihnen durch schmelzenden Schnee und über brechendes Eis nacheilen. Als sie endlich so hoch ins Gebirge hinaufgekommen waren, daß der Nadelwald aufhörte, und die verkrüppelten Birken begannen, rasteten sie einige Wochen und warteten, daß der Schnee auf den obersten Berghalden schmelzen sollte; dann zogen sie da hinauf. Das Mädchen jammerte, keuchte und stöhnte und sagte wieder und wieder, sie sei müde, sie müsse umkehren und wieder ins Tal hinabsteigen, aber sie ging trotzdem lieber mit als daß sie allein blieb, ohne eine Menschenseele, mit der sie ein Wort sprechen konnte.

Als sie die Gebirgsebene erreicht hatten, schlug der Junge auf einem schönen, grünen Platz, der zu einem Gebirgsbach sanft abfiel, ein Zelt für das Mädchen auf. Am Abend fing er die Renntierkühe mit einer Wurfleine ein, molk sie und gab ihr Renntiermilch zu trinken. Er fand auch ein wenig Renntierkäse und getrocknetes Renntierfleisch, das seine Leute, als sie im vorigen Sommer dort lagerten, oben auf dem Berge versteckt hatten. Aber das Mädchen jammerte immer und war nie zufrieden. Sie wollte weder Renntierkäse noch getrocknetes Renntierfleisch essen, auch wollte sie keine Renntiermilch trinken. Sie konnte sich nicht darin finden, im Zelt zu kauern oder im Freien mit ein paar Zweigen unter sich und nur mit einem Renntierfell bedeckt, zu schlafen. Aber der Sohn des Gebirgsvolks lachte nur über all ihr Gejammer und fuhr fort, gut gegen sie zu sein.

Nach Verlauf einiger Tage kam das Mädchen zu dem Jungen, als er dasaß und die Renntiere molk und bat, ob sie ihm nicht helfen dürfe. Sie übernahm es auch, Feuer unter dem Kessel anzuzünden, wenn Renntierfleisch gekocht werden sollte, Wasser zu tragen und Käse zu machen. Nun kam bald eine schöne Zeit, das Wetter war warm, und es war leicht, Essen zu beschaffen. Sie gingen zusammen aus und legten Vogelschlingen, fischten Lachsforellen in den Bächen und pflückten Multebeeren in den Mooren.

Als der Sommer vorüber war, zogen sie so tief vom Gebirge herab, daß sie die Grenze zwischen Nadel- und Laubwald erreichten. Dort schlugen sie wieder ihr Lager auf. Es war jetzt Schlachtzeit, und sie mußten jeden Tag hart arbeiten, aber es war auch eine gute Zeit, denn sie konnten sich noch bessere Nahrung verschaffen als im Sommer. Als der Schnee kam und das Eis anfing, die Seen zu bedecken, zogen sie weiter ostwärts in den dichten Tannenwald hinab. Sobald sie ihr Zelt errichtet hatten, begannen sie mit den Winterarbeiten. Der Junge lehrte das Mädchen, Fäden aus Renntiersehnen zu drehen, die Felle zu bereiten, Kleider und Schuhe daraus zu nähen, Kämme und allerlei Gerät aus dem Geweih der Renntiere anzufertigen, auf Schneeschuhen zu laufen und im Renntierschlitten zu fahren. Als der dunkle Winter vergangen war und die Sonne wieder warm zu scheinen anfing, sagte der Junge zu dem Mädchen, jetzt wolle er sie nach dem Süden begleiten, damit sie ihr Volk und ihren eigenen Stamm finden könne. Da sah ihn das Mädchen verwundert an: »Warum willst du mich wegschicken?« fragte sie. »Sehnst du dich danach, mit deinen Renntieren allein zu sein?« – »Ich dachte, du sehntest dich fort,« sagte der Junge. – »Ich habe nun fast ein Jahr das Leben des Lappenvolkes gelebt,« erwiderte das Mädchen. »Ich kann nicht mehr zu meinem Volk zurückkehren und in engen Wohnungen leben, nachdem ich frei in den Bergen und Wäldern umhergewandelt bin. Jage mich nicht weg, laß mich hier bleiben, denn euer Leben ist besser als das unsere.«

Und das Mädchen blieb ihr ganzes Leben lang bei dem Jungen und sehnte sich nie wieder nach ihrem Volk und dem Leben in den Tälern. »Und wenn du, Aase, nur einen Monat hier bleiben wolltest, so würdest du dich auch nie mehr von uns trennen wollen.«

Mit diesen Worten schloß der Lappenjunge Aslak seine Erzählung, und im selben Augenblick nahm sein Vater, Ola Serka, die Pfeife aus dem Mund und erhob sich. Der alte Ola verstand mehr Schwedisch, als er zugeben wollte, und er hatte die Worte des Sohnes verstanden. Und während er ihnen lauschte, war es ihm plötzlich klar geworden, wie er es machen müsse, um Jon Assarson mitzuteilen, daß seine Tochter gekommen sei, um ihn zu suchen.

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Ola Serka ging an den Luossojaure hinab und wanderte am Ufer entlang, bis er einen Mann antraf, der auf einem Stein saß und angelte. Der Fischer hatte graues Haar und seine Haltung war gebückt. Die Augen sahen müde aus, und es lag etwas Schlaffes und Hilfloses über seiner ganzen Erscheinung; er sah aus wie jemand, der versucht hat, etwas zu tragen, das zu schwer für ihn war, oder etwas zu ergründen, was zu schwierig war, und der nun gebrochen ist und mißmutig, weil ihm das nicht gelungen ist.

»Du hast scheinbar Glück bei deinem Fischfang gehabt, Jon, da du die ganze Nacht hier gesessen und geangelt hast,« sagte der Bergbewohner auf Lappländisch, indem er herantrat.

Der andere fuhr zusammen und sah auf. Der Köder an seiner Angel war weg, und es lag nicht ein einziger Fisch neben ihm. Er befestigte schnell einen neuen Köder an dem Angelhaken und warf die Leine wieder aus. Ola Serka hatte sich indessen neben ihn gesetzt.

»Ich möchte gern mit dir über etwas reden,« begann er. »Du weißt, daß ich eine Tochter hatte, die im vergangenen Jahr gestorben ist, und wir haben sie seither immer vermißt.« – »Ja, das weiß ich,« erwiderte der Fischer kurz, als sei es ihm unangenehm, an ein verstorbenes Kind erinnert zu werden. Er sprach gut Lappländisch. – »Aber es hat keinen Zweck, das Leben zu vertrauern,« fuhr der Lappe fort. – »Nein, das hat wohl keinen Zweck.« – »Und nun habe ich gedacht, ich wollte ein anderes Kind annehmen. Meinst du nicht auch, daß das klug wäre?« – »Es kommt darauf an, was für ein Kind es ist, Ola,«

»Ich will dir erzählen, was ich von dem Mädchen weiß, Jon!« sagte Ola, und dann erzählte er dem Fischer, zur Hochsommerzeit seien ein paar fremde Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu Fuß nach Malmberget gekommen, um ihren Vater zu suchen, und als sie hörten, daß der Vater abwesend sei, seien sie dageblieben, um auf ihn zu warten. Aber während sie sich dort aufhielten, sei der Junge bei einer Minensprengung ums Leben gekommen, und da habe das Mädchen durchaus gewollt, daß ein großes Begräbnis ihm zu Ehren veranstaltet werde. Darauf beschrieb Ola sehr schön, wie das arme Mädchen alle Menschen bewogen habe, ihr zu helfen, und wie sie zum Inspektor gegangen war, um mit ihm zu reden.

»Ist dies das Mädchen, das du zu dir nehmen willst, Ola?« fragte der Fischer. –»Ja,« sagte der Lappe. »Als wir von ihr hörten, mußten wir alle miteinander weinen, und wir waren uns alle darin einig, daß, wer eine so gute Schwester gewesen, auch eine gute Tochter sein müsse, und wir wünschten, daß sie zu uns kommen möge.« – Der andere saß eine Weile stumm da. Es war klar, daß er die Unterhaltung nur fortsetzte, um seinem Freund, dem Lappen, eine Freude zu bereiten.

»Es ist wohl von deinem eigenen Stamm, dies Mädchen?« – »Nein, es gehört nicht zum Lappenvolk.« – »Dann ist sie aber doch wohl eine Tochter von Ansiedlern, so daß sie an das Leben hier im Norden gewöhnt ist?« – »Nein, sie stammt weit her aus dem Süden,« sagte Ola und sah dabei aus, als habe das gar nichts mit der Sache zu tun. Aber nun wurde der Fischer eifriger. »Dann glaube ich nicht, daß du sie zu dir nehmen solltest,« sagte er. »Sie kann es gewiß nicht vertragen, zur Winterzeit in einem Lappenzelt zu wohnen, wenn sie nicht von Geburt an daran gewöhnt ist.« – »Sie bekommt gute Eltern und gute Geschwister im Lappenzelt,« fuhr Ola Serka beharrlich fort. »Es ist schlimmer allein zu sein, als zu frieren.«

Aber es schien so, als wenn der Fischer immer eifriger würde, die Sache zu verhindern. Es war, als könne er sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß ein Kind, das schwedische Eltern hatte, unter den Lappen aufgenommen werden sollte. »Du sagtest doch, sie hatte einen Vater in Malmberget?« – »Er ist tot,« sagte der Lappe kurz. – »Bist du dessen auch ganz sicher, Ola?« – »Da braucht man doch nicht mehr zu fragen!« entgegnete der Lappe verächtlich. »Das ist doch ganz selbstverständlich. Das Mädchen und ihr Bruder hätten doch nicht nötig gehabt, allein durch das Land zu wandern, wenn ihr Vater noch am Leben gewesen wäre! Sollten zwei kleine Kinder gezwungen sein, sich selbst zu versorgen, wenn sie einen Vater hätten? Sollte das kleine Mädchen es nötig gehabt haben, selbst zu dem Inspektor zu gehen und mit ihm zu reden, wenn ihr Vater noch gelebt hätte? Meinst du, sie würde jetzt auch nur einen Augenblick verlassen sein, jetzt, wo ganz Lappland davon spricht, was für ein tüchtiges kleines Mädchen sie ist, wenn ihr Vater nicht tot wäre?«

Der Mann mit den müden Augen wandte sich nach dem Lappen um. »Wie heißt sie, Ola?« fragte er. Der Lappe dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß es nicht mehr. Aber ich will sie fragen.« – »Du willst sie fragen? Ist sie denn schon hier?« – »Ja, sie ist da oben im Zelt.« – »Wie, Ola, hast du sie schon zu dir genommen ehe du noch weißt, was ihr Vater dazu sagen wird?« – »Ich brauche mich doch nicht an ihren Vater zu kehren. Ist er nicht tot, dann will er jedenfalls nichts von seinem Kinde wissen. Er kann ja nur froh sein, daß sich ein anderer ihrer annehmen will.«

Der Fischer warf seine Angelrute hin und richtete sich auf. Es war Bewegung in ihn gekommen, als sei das Leben von neuem in ihm erwacht. »Der Vater ist wohl nicht so wie andere Menschen,« fuhr der Lappe fort. »Er ist vielleicht einer von denen, die von finsteren Gedanken verfolgt werden, so daß sie es bei keiner Arbeit aushalten können. Ist das ein Vater, den es sich verlohnt zu haben? Das Mädchen selbst glaubt, daß er lebt, aber ich sage, er muß tot sein.«

Während Ola dies sagte, stand der Fischer auf und ging am See entlang. »Wo willst du hin?« fragte der Lappe. – »Ich will mir deine Pflegetochter ansehen, Ola!« – »Das ist gut.« sagte der Lappe. »Komm nur und sieh sie dir an! Ich glaube, du wirst finden, daß ich eine gute Tochter bekomme.«

Der Schwede ging so schnell, daß der alte Ola kaum Schritt mit ihm halten konnte. Als sie eine Strecke zurückgelegt hatten, sagte Ola zu seinem Kameraden: »Jetzt fällt mir ein, daß sie Aase Jonsdatter heißt, die Kleine, die ich zu mir nehmen will.« Der andere beschleunigte nur seine Schritte, und der alte Ola war so froh, daß er gern laut gejubelt hätte. Als sie soweit gekommen waren, daß sie die Zelte sehen konnten, sagte Ola noch ein paar Worte: »Sie ist hierher gekommen, um ihren Vater zu suchen, nicht um meine Pflegetochter zu werden; findet sie ihn aber nicht, so will ich sie gern in meinem Zelt behalten.« Der andere eilte nur mit noch größerer Hast vorwärts. »Dacht‘ ich mir’s doch, daß er erschrecken würde, wenn er hörte, daß ich seine Tochter unter die Lappen aufnehmen wollte!« sagte Ola vor sich hin.

Als der Mann aus Kiruna, der Aase nach dem Lappenlager hinübergerudert hatte späterhin am Tage wieder zurückruderte, hatte er zwei Menschen in seinem Boot, die dicht nebeneinander saßen und sich so fest an der Hand hielten, als ob sie sich nie wieder trennen wollten. Es waren Jon Assarson und seine Tochter. Sie sahen beide ganz anders aus als vor ein paar Stunden. Jon Assarson machte längst nicht mehr einen so müden und gebeugten Eindruck, und seine Augen waren klar und gut, als habe er nun eine Antwort auf das bekommen, was ihn solange bekümmert hatte; und das Gänsemädchen Aase sah nicht mehr mit dem altklugen, vorsichtigen Blick um sich, der ihr bisher eigen gewesen war. Sie hatte jetzt jemand, auf den sie sich stützen, auf den sie sich verlassen konnte, und es sah so aus, als sei sie auf dem Wege, wieder ein Kind zu werden.