XLV. Gen Süden! Gen Süden!


Der erste Reisetag.

Sonnabend, 1. Oktober.

Niels Holgersen saß auf dem Rücken des weißen Gänserichs und sauste hoch oben in den Wolken dahin. Einunddreißig Wildgänse flogen in wohlgeordneter Folge schnell gen Süden. Es rauschte in ihren Federn, und die vielen Flügel peitschten die Luft mit einem kreischenden Laut, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Akka von Kebnekajse flog an der Spitze, hinter ihr kamen Yksi und Kaksi, Kalme und Neljä, Viisi und Kuusi, der Gänserich Martin und Daunfein. Die sechs jungen Gössel, die sich im Herbst der Schar angeschlossen, hatten sie jetzt verlassen, um ihr Glück auf eigene Faust zu versuchen. Statt dessen hatten die alten Gänse zweiundzwanzig Gössel bei sich, die im Laufe des Sommers im Felsental herangewachsen waren. Elf davon flogen rechts und elf links, und sie gaben sich redliche Mühe, um denselben Abstand untereinander innezuhalten wie die großen Gänse.

Die armen Jungen hatten noch nie eine lange Reise gemacht, und im Anfang wurde es ihnen schwer, dem schnellen Flug zu folgen. »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!« riefen sie in jämmerlichem Ton. – »Was gibt’s?« fragte die Führergans. –»Unsere Flügel sind müde von dem vielen Bewegen! Unsere Flügel sind müde von dem vielen Bewegen!« schrien die Jungen. – »Je länger ihr weiterfliegt, um so besser wird es gehen!« antwortete die Führergans und flog auch nicht im geringsten langsamer, sondern ebenso schnell wie bisher. Und es schien wirklich, als solle sie recht bekommen, denn als die Gössel ein paar Stunden geflogen waren, klagten sie nicht mehr über Müdigkeit. Im Felstal waren sie aber gewöhnt gewesen, den ganzen Tag zu fressen, und so währte es denn nicht lange, bis sie sich nach Nahrung sehnten.

»Akka, Akka, Akka von Kebnekajse!« riefen die jungen Gänse mir kläglicher Stimme. – »Was gibt’s denn jetzt schon wieder?« fragte die Führergans. – »Wir sind so hungrig, daß wir nicht weiter fliegen können,« schrien die Jungen. »Wir sind so hungrig, daß wir nicht weiter fliegen können.« – »Wilde Gänse müssen es lernen, Luft zu essen und Wind zu trinken,« antwortete die Führergans und hielt nicht an, sondern setzte ihren Flug genau so fort wie bisher.

Es schien auch fast, als lernten die Jungen, von Luft und Wind zu leben, denn als sie eine Weile geflogen waren, klagten sie nicht mehr über Hunger. Die Schar der wilden Gänse war noch oben zwischen den Bergen, und die alten Gänse riefen mit lauter Stimme den Namen aller Berggipfel, an denen sie vorüberflogen, damit die Jungen lernen sollten, wie sie hießen. Aber als sie eine Zeitlang gerufen hatten: »Das ist Porsutjåkko, das ist Sarjektjåkko, das ist Sulitelma!« wurden die Jungen wieder ungeduldig.

»Akka, Akka, Akka!« riefen sie mit herzzerreißender Stimme. – »Was gibt’s denn?« fragte die Führergans. – »Wir haben keinen Platz für mehr Namen in unserm Kopf!« schrien die Jungen. »Wir haben keinen Platz für mehr Namen in unserm Kopf!« – »Je mehr in einen Kopf hineinkommt, um so besser Platz wird darin!« antwortete die Führergans und fuhr fort, die merkwürdigen Namen geradeso zu rufen wie bisher.

Niels Holgersen dachte bei sich, es sei wirklich an der Zeit, daß die Wildgänse gen Süden zögen, denn da war so viel Schnee gefallen, daß die Erde, so weit man sehen konnte, ganz weiß war. Es ließ sich auch nicht leugnen, daß es in der letzten Zeit im Felsental recht ungemütlich gewesen war. Regen und Sturm und dichter Nebel hatten unablässig miteinander abgewechselt, und klarte sich das Wetter ausnahmsweise einmal auf, so trat sofort Frost ein. Beeren und Pilze, von denen der Junge während des Sommers gelebt hatte, erfroren oder verfaulten, so daß er schließlich rohe Fische essen mußte, und das mochte er gar nicht gern. Die Tage waren kurz, und die langen Abende und der späte Tagesanbruch waren zu trübselig und langweilig für ihn gewesen, der nicht genau so lange schlafen konnte, wie die Sonne vom Himmel verschwunden war.

Jetzt hatten die Gössel endlich so große Flügel bekommen, daß die Reise gen Süden angetreten werden konnte, und der Junge war so froh darüber, daß er fortwährend lachte und sang, wie er auf dem Rücken des Gänserichs dahinflog. Aber nicht nur, weil es dunkel und kalt und mit der Nahrung karg bestellt gewesen, hatte er sich von Lappland fortgesehnt, nein, er hatte auch noch andere Gründe.

In den ersten Wochen, die er dort war, hatte er wahrlich kein Heimweh gehabt. Es war ihm, als sei er nie in einem so schönen Lande gewesen, und er hatte keine andere Sorgen, als achtzugeben, daß die Mückenschwärme ihn nicht ganz auffraßen. Der Junge hatte nicht viel Freude von dem Gänserich Martin, denn der große Weiße hatte keinen andern Gedanken, als für Daunfein zu sorgen, und wich keinen Schritt von ihr. Aber dann hatte er sich an die alte Akka und an den Adler Gorgo gehalten, und die drei hatten manch eine vergnügte Stunde miteinander verbracht. Sie nahmen ihn auf lange Flüge mit. Der Junge hatte auf dem Gipfel des schneebedeckten Kebnekajse gestanden und auf die Gletscher hinabgesehen, die sich unterhalb des steilen, weißen Bergkegels ausbreiteten, und er war auch auf vielen anderen hohen Bergspitzen gewesen, die nur selten der Fuß eines Menschen betreten hat. Akka zeigte ihm verborgene Täler mitten zwischen den Bergen und ließ ihn in Felsschluchten hineinlugen, wo die Wölfinnen ihre Jungen großzogen. Es versteht sich von selbst, daß er auch die Bekanntschaft der zahmen Renntiere machte, die in großen Herden am Ufer des schönen Torne Träsk weideten, und daß er unten am Stora Sjöfall gewesen war und den Bären, die dort in der Gegend wohnten, Grüße von ihren Verwandten im Bergdistrikt gebracht hatte. Wohin er auch kam, überall war das Land schön und herrlich. Er war auch von Herzen froh darüber, daß er es hatte sehen dürfen, aber er hatte gerade keine Lust, dort zu wohnen. Er konnte nicht umhin, Akka recht zu geben, wenn sie sagte, dies Land könnten die schwedischen Ansiedler verschonen und es den Bären, Wölfen, Renntieren, Wildgänsen und Bergvögeln überlassen und den Wanderratten und den Lappen, die dazu geschaffen sind, dort zu leben.

Eines Tages war Akka mit ihm nach einer der großen Grubenstädte geflogen, und da fand er den kleinen Mads von einem Sprengschuß zerschmettert an einer Grubenöffnung liegen. In den folgenden Tagen dachte der Junge an nichts weiter, als wie er dem armen Gänsemädchen Aase helfen könne, aber als sie dann ihren Vater gefunden hatte und er nichts mehr für sie zu tun brauchte, streifte er am liebsten in dem Felstal umher, und von nun an sehnte er sich nach dem Tage, wo er mit dem Gänserich Martin heimkehren und wieder ein Mensch werden würde. Er wollte doch gern so werden, daß das Gänsemädchen Aase wieder mit ihm zu sprechen wagte und ihm nicht die Tür gerade vor der Nase zuschlug.

Ja, er war wirklich selig, als es jetzt gen Süden ging. Er schwenkte die Mütze und rief Hurra, als er den ersten Tannenwald sah, und ebenso begrüßte er das erste graue Ansiedlerhaus, die erste Ziege, die erste Katze und die ersten Hühner. Er flog über prachtvolle Wasserfälle hin, und zu seiner Rechten sah er schöne Berge liegen, aber an all dergleichen war er jetzt so gewohnt, daß er sich kaum die Mühe machte, einen Blick darauf zu werfen. Etwas ganz anderes war es, als er gleich im Osten der Berge die Korickjocker Kapelle mit dem kleinen Pfarrhaus und dem kleinen Dorf liegen sah. Er fand das so schön, daß ihm Tränen in die Augen traten.

Während der ganzen Zeit trafen sie Zugvögel, die jetzt in weit größeren Scharen als im Frühling dahergeflogen kamen. ›Wo wollt ihr hin, Wildgänse?‹ riefen die Zugvögel. ›Wo wollt ihr hin?‹ – ›Wir wollen ins Ausland, ebenso wie ihr,‹ antworteten die Wildgänse. – ›Die Jungen sind ja noch nicht ordentlich flügge,‹ riefen die anderen. ›Die kommen niemals übers Meer mit so kleinen Flügeln!‹

Auch Lappen und Renntiere zogen nun geschäftig aus dem Gebirge herab. Sie kamen in guter Ordnung daher: ein Lappe ging an der Spitze des Zuges, dann kam die Herde mit den großen Renntieren in der ersten Reihe, darauf eine Reihe Lastrenntiere, die die Zelte und andere Habseligkeiten der Lappen trugen, und schließlich sieben bis acht Menschen. Als die Wildgänse die Renntiere erblickten, ließen sie sich hinabsinken und riefen: ›Schönen Dank für den Sommer! Schönen Dank für den Sommer!‹ – ›Glückliche Reise und auf Wiedersehn im nächsten Jahr!‹ antworteten die Renntiere.

Aber als die Bären die Wildgänse sahen, zeigten sie mit den Tatzen auf sie, damit die Jungen sie sehen sollten, und brummten: ›Seht euch die an! Sie sind so bange vor ein wenig Kälte, daß sie nicht wagen, den Winter über hierzubleiben!‹ Und die alten Wildgänse blieben ihnen die Antwort nicht schuldig, sondern sie riefen den Gösseln zu: ›Seht euch die an! Sie liegen lieber das halbe Jahr und schlafen, statt sich die Mühe zu machen gen Süden zu ziehen!‹

Unten in den Tannenwäldern saßen die jungen Auerhähne dicht zusammengekrochen, zerzaust und verfroren und sahen sehnsüchtig allen den großen Vogelscharen nach, die mit Jubel und Freude südwärts zogen. ›Wann kommt die Reihe an uns?‹ fragten sie die Auerhenne. ›Wann kommt die Reihe an uns?‹ – ›Ihr müßt daheim bleiben bei Mutter und Vater,‹ antwortete die Auerhenne. ›Ihr müßt daheim bleiben bei Mutter und Vater.‹

Auf dem Ostberge.

Dienstag, 4. Oktober.

Wer sich in Gebirgsgegenden aufgehalten hat, weiß, wie beschwerlich der Nebel sein kann, der dahergewälzt kommt und die Aussicht verhüllt, so daß man nichts von allen den schönen Bergen zu sehen bekommt, die ringsumher aufragen. Der Nebel kann einen mitten im Sommer überfallen, und im Herbst, kann man wohl sagen, ist es ganz unmöglich, ihm zu entgehen. Niels Holgersen hatte eigentlich immer gutes Wetter gehabt, solange er in Lappland gewesen war, kaum aber hatten die Wildgänse ausgerufen, daß sie jetzt nach Jämtland hineinflögen, als sich die Nebel so dicht um sie zusammenzogen, daß er nicht das geringste von dem Lande sehen konnte. Er reiste einen ganzen Tag darüber hin, ohne zu wissen, ob er in ein Gebirgsland oder in ein Flachland gekommen war.

Gegen Abend ließen sich die Wildgänse auf einem grünen Platz nieder, der nach allen Seiten sanft abfiel, da war es ihm denn klar, daß er sich auf dem Gipfel eines Hügels befand, aber ob dieser groß oder klein war, konnte er nicht erkennen. Er dachte, daß sie sich in einer bewohnten Gegend befinden müßten, denn es war ihm, als könne er sowohl Menschenstimmen als auch das Rasseln von Wagen unterscheiden, die auf einem Wege dahinrollten, aber ganz sicher war er seiner Sache nicht.

Er hätte schrecklich gern versucht, einen Hof zu finden, aber er fürchtete, sich im Nebel zu verirren, und so wagte er denn nicht, die Wildgänse zu verlassen. Alles tropfte von Nässe und Feuchtigkeit. An jedem Grashalm und an jedem kleinsten Kraut hingen kleine Tropfen, so daß er eine Regendusche bekam, sobald er sich nur rührte. »Dies ist ja nicht viel besser als da oben im Felstal,« dachte er.

Aber ein Paar Schritte wagte er denn doch zu gehen, und nun konnte er dicht vor sich ein Gebäude unterscheiden. Es war nicht gerade groß, wohl aber viele Stockwerke hoch, das Dach konnte er nicht sehen. Die Tür war verschlossen und das ganze Haus schien unbewohnt zu sein. Er begriff, daß es nur ein Aussichtsturm war, und daß es dort weder Essen noch Wärme für ihn gab. Er eilte aber trotzdem, so schnell er konnte, zu den Wildgänsen zurück. »Lieber Gänserich Martin,« sagte er, »nimm mich auf den Rücken und trage mich auf die Spitze des Turmes da drüben hinauf! Hier ist es so naß, daß ich nicht schlafen kann, aber da könnte ich vielleicht ein trockenes Plätzchen finden, wo ich schlafen könnte.«

Der Gänserich Martin war sogleich bereit, ihm zu helfen; er setzte ihn auf der Turmgalerie ab, und dort schlief der Junge in guter Ruhe, bis die Morgensonne ihn weckte.

Als er nun aber seine Augen aufschlug und sich umsah, konnte er anfangs nicht begreifen, was er sah und wo er sich befand. Er war einmal auf einem Jahrmarkt in einem Zelt gewesen und hatte ein großes Panorama gesehen, und nun war es ihm, als stünde er wieder mitten in so einem großen, runden Zelt, das eine feine, rote Decke hatte, während an den Wänden und am Fußboden eine ausgedehnte Landschaft gemalt war, mit großen Dörfern und Kirchen, Marktplätzen und Landstraßen, ja sogar mit einer Stadt. Es ward ihm ja bald klar, daß es sich nicht wirklich so verhielt, sondern daß er oben auf einem Aussichtsturm stand, den roten Morgenhimmel über sich und ein wirkliches Land ringsumher. Aber es war nun so lange her, seit er etwas anderes als öde Gegenden gesehen hatte, und da war es denn nicht zu verwundern, daß er das, was er jetzt sah, und was eine dicht bebaute Gegend war, für ein Gemälde hielt.

Auch noch etwas anderes bewirkte, daß der Junge alles, was er sah, für ein Gemälde hielt: es hatte nämlich nichts seine richtige Farbe. Der Aussichtsturm, auf dem er stand, war auf einem Berg erbaut, der Berg lag auf einer Insel und die Insel lag dicht an dem östlichen Ufer eines großen Sees. Aber dieser See war nicht grau, wie es Binnenseen sonst zu sein pflegen, sondern ein großer Teil seiner Fläche war ebenso rot wie der Morgenhimmel, und in den vielen, tiefen Buchten schimmerte das Wasser fast schwarz. Und dann war das Land rings um den See nicht grün, sondern es schimmerte hellgelb mit allen den Stoppelfeldern und dem gelben Birkenwald an den Ufern. Rings um das Gelbe aber zog sich ein breiter Gürtel aus schwarzem Nadelwald. Vielleicht weil der Laubwald innerhalb des dunklen Fichtenwaldes so hell erschien, meinte der Jung, noch nie einen so schwarzen Wald gesehen zu haben wie an diesem Morgen. Jenseits dieses Schwarzen sah man im Osten licht blauende Höhen, aber am ganzen westlichen Horizont entlang erstreckte sich ein langer, glänzender Bogen aus zackigen, verschieden gestalteten Bergen, die eine so feine und sanfte und strahlende Farbe hatten, daß er sie nicht rot und auch nicht weiß und auch nicht blau nennen konnte. Es gab gar keine Bezeichnung dafür.

Aber der Junge wandte den Blick ab von den Bergen und Nadelwäldern, um die nähere Umgebung besser in Augenschein zu nehmen. Rings um den See herum, in dem gelben Gürtel, konnte er allmählich ein rotes Dorf erkennen und eine weiße Kirche nach der anderen, und ganz im Osten, jenseits des schmalen Sundes, der die Insel von dem Festlande trennte, lag eine Stadt. Die streckte sich am Seeufer aus, dahinter stand ein Berg und beschützte sie, und ringsumher lag eine reiche und bevölkerte Gegend. »Die Stadt hat es wirklich verstanden, sich eine gute Lage zu schaffen,« dachte der Junge. »Ich möchte wohl wissen, wie sie heißt.«

Im selben Augenblick fuhr er heftig zusammen und sah sich um. Er war völlig von der Betrachtung der Gegend in Anspruch genommen gewesen und hatte nicht bemerkt, daß Menschen auf den Aussichtsturm gekommen waren.

Sie kamen jetzt die Treppe hinaufgelaufen. Der Junge hatte gerade noch Zeit, sich nach einem Versteck umzusehen, um sich dort zu verbergen, da waren sie auch schon oben.

Es war eine Schar junger Leute, die sich auf einer Fußwanderung befanden. Sie sprachen davon, daß sie ganz Jämtland durchstreift hatten und freuten sich nun, daß sie Östersund noch am vorhergehenden Abend erreicht hatten, und daß sie einen so schönen, klaren Morgen hatten, um die weite Aussicht vom Östberge hier auf dem Frösö genießen zu können. Von hier aus konnten sie über zwanzig Meilen nach allen Seiten sehen, und noch einen letzten Blick auf ihr liebes Jämtland werfen, ehe sie von dannen zogen. Sie zeigten einander die vielen Kirchen, die rings um den See lagen. »Dort unten haben wir Sunnek,« sagten sie, »und da liegt Marby und da drüben Hallen. Die Kirche hier im Norden ist die Bödöerkirche und die dort an der Eisenbahn die von Frösö.« Dann begannen sie, von den Bergen zu sprechen. Die zunächstgelegenen waren die Oviksfjelde. Darin waren sie sich alle einig. Aber dann waren sie sich nicht klar darüber, welches wohl der Klövsjöfjeld sei, und welcher Gipfel der Anarisfjeld sein könne, und wo der Vesterfjeld und der Almåsaberg und der Åreskutan lägen.

Während sie hierüber redeten, holte ein junges Mädchen eine Karte heraus, breitete sie auf ihrem Schoß aus und begann, sie zu studieren. Plötzlich sah sie auf. »Wenn ich Jämtland so auf der Karte sehe,« sagte sie, »so finde ich, daß es einem großen, stolzen Felsen gleicht. Ich denke mir immer, daß ich eines schönen Tages hören werde, Jämtland hat einstmals ganz aufrecht dagestanden und geradeswegs zum Himmel hinauf gezeigt.« – »Das müßte wahrlich ein riesiger Felsen sein,« meinte ein anderer und lachte sie aus. »Freilich, und darum ist er auch wohl umgefallen. Seht aber doch selbst einmal, gleicht Jämtland nicht einem richtigen Hochgebirge mit breitem Fuß und spitzem Gipfel?« – »Es paßt gar nicht schlecht für ein Gebirgsland, selbst auszusehen wie ein Felsen,« sagte einer von den jungen Leuten. »Aber obwohl ich andere Sagen von Jämtland gehört habe, so habe ich doch niemals …« – »Hast du Sagen von Jämtland gehört?« rief das junge Mädchen, und ließ ihm nicht einmal Zeit, den Satz zu vollenden. »Dann mußt du sie uns gleich erzählen. Das paßt nirgends besser als hier oben, wo man das ganze Land sehen kann.«

Alle stimmten darin überein, und der junge Mann ließ sich nicht lange nötigen, sondern begann sogleich:

Die Sage von Jämtland.

»Zu jenen Zeiten, als es noch Riesen in Jämtland gab, geschah es einmal, daß ein alter Bergriese auf dem Hof vor seinem Hause stand und seine Pferde striegelte. Während er hiermit beschäftigt war, sah er, daß die Pferde vor Angst zu zittern begannen. ›Was fehlt euch nur einmal, meine Pferde?‹ sagte der Riese und sah sich um; er wollte gern wissen, was die Pferde so erschreckt haben konnte. Es waren jedoch weder Wölfe noch Bären in der Nähe zu entdecken. Das einzige, was er sehen konnte, war ein Wandersmann, der lange nicht so groß und stark war, wie er selbst, der aber doch recht ansehnlich war und gute Kräfte zu haben schien. Er war im Begriff, die Leiter hinaufzuklettern, die zu der Berghütte des Riesen führte. Kaum hatte der alte Bergriese den Wandersmann erblickt, als er von Kopf zu Fuß zitterte, so wie die Pferde. Er ließ sich nicht die Zeit, seine Arbeit zu vollenden, sondern eilte in die gute Stube zu dem Riesenweib, das dasaß und Werg auf einer Handspindel spann.

›Was hast du nur?‹ fragte das Weib. ›Du bist ja so bleich wie ein Schneeberg.‹ – ›Sollte ich nicht bleich sein?‹ entgegnete der Riese. ›Da kommt ein Wandersmann unten vom Wege herauf, und ich bin ebenso sicher, daß es Asa-Thor ist, wie du mein Weib bist.‹ – ›Das ist gerade kein willkommener Besuch,‹ meinte das Weib. ›Kannst du seine Augen nicht verhexen, so daß er den ganzen Hof für einen Berg hält und an unserer Tür vorübergeht?‹ – ›Jetzt ist es zu spät, das Zaubermittel anzuwenden,‹ sagte der Riese. ›Ich kann hören, daß er die Pforte öffnet und den Hof betritt!‹ – ›Dann will ich dir raten, daß du dich verborgen hältst, so daß ich ihn allein in Empfang nehmen kann,‹ sagte das Riesenweib schnell. ›Ich will mein Bestes tun, daß er nicht so bald wiederkommt.‹

Der Riese fand, daß dies ein außerordentlich guter Vorschlag war. Er ging in die Kammer, während die Frau in der guten Stube auf der Frauenbank sitzen blieb und so ruhig spann, als ahne sie keine Gefahr.

Man muß nun wissen, daß es in jenen Zeiten in Jämtland ganz anders aussah als heutigen Tages. Das ganze Land war nichts weiter als eine einzige große, flache Hochebene, die so kahl und nackt dalag, daß nicht einmal Tannenwald darauf wachsen konnte. Da war kein See, kein Fluß, da gab es keine Felder, in denen der Pflug gehen konnte. Nicht einmal die Berge und Felsenmassen, die jetzt über das ganze Land zerstreut liegen, waren zu jenen Zeiten da; sie standen alle weit weg, drüben im Westen aufgestellt. Menschen konnten nirgends in dem großen Lande leben, aber die Riesen fühlten sich dort um so wohler. Es war wohl kaum ohne ihren Willen und ihr Zutun, daß das Land so öde und ungastlich dalag, und es hatte sicher seine guten Gründe, wenn der Bergriese so beunruhigt wurde, als er Asa-Thor auf sein Haus zukommen sah. Er wußte, daß die Asen denen nicht hold waren, die Kälte, Finsternis und Öde um sich verbreiteten und die Erde hinderte, reich und fruchtbar zu werden und sich mit menschlichen Wohnungen zu schmücken.

Das Riesenweib brauchte nicht lange zu warten, denn draußen vor dem Hause ertönten feste Schritte, und der Wanderer, den der Riese auf dem Wege gesehen hatte, riß die Tür auf und trat in die Stube. Der Fremde blieb nicht an der Tür stehen, wie die umherziehenden Leute zu tun pflegen, sondern er ging geradeswegs auf die Frau zu, die im Innern der Stube an der Giebelwand saß. Es begab sich aber so, daß, als er glaubte, er sei ein gutes Stück gegangen, er nicht weiter als ein paar Schritte von der Tür entfernt war und noch eine lange Strecke bis zu der Feuerstätte hatte, die mitten in der Stube lag. Er machte längere Schritte, aber als er eine Weile gegangen war, wollte es ihm scheinen, als seien das Riesenweib und die Feuerstätte noch weiter von ihm entfernt als bei seinem Eintritt in die Stube. Anfangs war ihm das Haus gar nicht groß vorgekommen. Erst als er endlich bis an die Feuerstätte gelangt war, wurde es ihm so recht klar, wie ansehnlich es war, denn da war er so müde, daß er sich auf seinen Stab stützen mußte, um auszuruhen. Als das Riesenweib sah, daß er stehen blieb, legte sie ihre Spindel hin, erhob sich von der Bank und war mit wenigen Schritten neben ihm. ›Wir Riesen lieben große Stuben,‹ sagte sie, ›und mein Mann klagt oft darüber, daß es hier so beengt ist. Aber ich kann wohl begreifen, daß es für jemand, der keine längeren Schritte machen kann als du, anstrengend ist, durch die Riesenstube zu gehen. Laß mich jetzt hören, wer du bist und was du von uns Riesen willst.‹ Es schien fast, als wolle der Wanderer eine heftige Antwort geben, aber augenscheinlich wollte er sich nicht mit einer Frau auf Streit einlassen, denn er erwiderte ganz ruhig: ›Mein Name ist Handfest, und ich bin ein Recke, der bei vielen Abenteuern mit dabei gewesen ist. Jetzt habe ich das ganze Jahr daheim auf meinem Hof gesessen, und ich hatte mich schon gefragt, ob da denn nie mehr etwas für mich zu tun sein würde, als ich die Menschen darüber reden hörte, daß ihr Riesen so schlecht für das Land hier oben sorgtet, daß niemand als ihr hier wohnen könnt. Ich bin nun gekommen, um mit deinem Mann über diese Sache zu reden und ihn zu fragen, ob er sich nicht darum kümmern will, daß hier bessere Ordnung geschafft wird.‹

›Mein Mann ist auf Jagd gegangen,‹ sagte das Riesenweib, ›und er muß dir selbst Antwort auf deine Frage geben, wenn er nach Hause kommt. Aber ich will dir doch sagen, daß wer mit solchen Fragen zu einem Bergriesen kommt, wahrlich ein größerer Mann sein sollte als du. Es wäre sicher am besten für deine Ehre, wenn du gleich wieder deiner Wege gingest, ohne mit dem Riesen zu reden.‹ – ›Nein, jetzt, wo ich einmal gekommen bin, will ich auch auf ihn warten,‹ sagte der Mann, der sich Handfest nannte. – ›Ich habe dir nach bestem Wissen geraten,‹ entgegnete die Frau des Hauses, ›du kannst jetzt tun, was du willst. Setze dich hier auf die Bank, dann will ich dir einen Willkommtrunk holen.‹

Das Riesenweib nahm nun ein gewaltiges Methorn und ging damit in den hintersten Winkel der Stube, wo das Metfaß lag. Auch das erschien dem Gast nicht besonders groß, aber als das Weib den Spund herauszog, stürzte der Met mit einem Brausen in das Methorn, als sei ein ganzer Wasserfall in die Stube gekommen. Das Horn war bald gefüllt, aber als nun das Weib den Spund wieder in die Tonne stecken wollte, gelang ihr das nicht. Der Met brauste mit großer Kraft heraus, riß ihr den Spund aus der Hand und strömte auf den Estrich. Das Riesenweib machte abermals einen Versuch, den Zapfen einzustecken, aber es mißlang ihr wieder. Da rief sie den Fremden zu Hilfe: ›Siehst du nicht, daß mir der Met ausläuft, Handfest? Komm doch her und steck den Spund in die Tonne hinein!‹ Der Gast eilte sofort zu Hilfe. Er nahm den Spund und versuchte, ihn in das Spundloch hineinzuzwingen, aber der Met riß ihn wieder heraus, schleuderte ihn weit weg und überschwemmte den Estrich.

Handfest versuchte es einmal über das andere, aber es wollte ihm nicht gelingen, und er warf den Spund weg. Der ganze Fußboden war jetzt voller Met, und damit man doch wenigstens in der Stube sein könne, zog der Fremde tiefe Furchen, in denen der Met fließen konnte. Er bildete Wege für den Met in den harten Felsengrund, so wie die Kinder im Frühling Wege für das Schneewasser in den Sand ziehen, und da und dort stampfte er mit dem Fuß tiefe Löcher, in denen sich die Flüssigkeit ansammeln konnte. Das Riesenweib stand währenddessen ruhig da und sah zu, und hätte der Gast zu ihr aufgesehen, würde er entdeckt haben, daß sie der Arbeit mit Staunen und Entsetzen zusah. Als er aber endlich fertig war, sagte sie spöttisch: ›Hab‘ Dank, Handfest! Ich sehe, du tust, was du kannst. Mein Mann hilft mir sonst, den Spund wieder hineinzustecken, aber man kann ja nicht verlangen, daß alle so stark sind, wie er. Wenn du nicht dazu imstande bist, meine ich, es wäre am besten, wenn du gleich deiner Wege gingest.‹

›Ich gehe nicht, ehe ich mein Anliegen vorgebracht habe,‹ sagte der Fremde, aber er sah beschämt und niedergeschlagen aus. – ›Dann setze dich auf die Bank da,‹ sagte das Weib, ›ich will den Kessel aufs Feuer setzen und dir eine Grütze kochen.‹

Das tat die Hausfrau. Als aber die Grütze fast fertig war, wandte sie sich nach dem Gast um. ›Ich sehe eben, daß ich fast kein Mehl mehr habe, so daß ich die Grütze nicht dick genug bekommen kann. Glaubst du, daß du Kräfte genug hast, die Mühle zu drehen, die neben dir steht? Nur ein paarmal herum. Es ist Korn zwischen den Steinen. Aber du mußt deine ganze Kraft dransetzen, denn die Mühle geht nicht leicht.‹

Der Gast ließ sich nicht lange bitten, sondern versuchte, die Handmühle zu drehen. Er fand nicht, daß sie besonders groß war, als er aber den Griff erfaßte und den Stein rund herum drehen wollte, ging sie schwer, daß er sie nicht bewegen konnte. Er mußte alle Kräfte anspannen und war doch nicht imstande, die Mühle mehr als einmal herumzudrehen.

Das Riesenweib sah ihm stumm und staunend zu, während er arbeitete. Als er aber die Mühle losließ, sagte sie: ›Ich bin ja freilich an bessere Hilfe von meinem Manne gewöhnt, wenn die Mühle schwer geht. Aber niemand kann von dir verlangen, daß du mehr tust als wozu deine Kräfte ausreichen. Kannst du jetzt aber nicht einsehen, daß es am besten für dich wäre, wenn du es vermiedest mit dem zusammenzutreffen, der so viel, wie er will, auf dieser Mühle mahlen kann?‹ – ›Ich glaube, daß ich trotzdem auf ihn warten will,‹ sagte Handfest ganz still und sanftmütig. – ›Ja, dann setze dich ruhig auf die Bank da, während ich dir ein gutes Bett bereite,‹ sagte das Riesenweib, ›denn du wirst wohl die Nacht hier bleiben müssen.‹

Sie richtete ein Bett mit vielen Kissen und Pfählen her und wünschte dem Gast gute Nacht. ›Ich fürchte, du wirst das Bett ziemlich hart finden,‹ sagte sie, ›aber mein Gatte liegt jede Nacht auf einem solchen Lager.‹

Als sich Handfest nun in dem Bett ausstrecken wollte, spürte er so viele Unebenheiten und Vertiefungen unter sich, daß an Schlaf nicht zu denken war; er drehte und wendete sich, konnte aber keine Ruhe finden. Schließlich warf er alle Kissen aus dem Bett, einen Pfühl hierhin und ein Federbett dahin, und dann schlief er ruhig bis zum Morgen.

Als die Sonne aber durch das Dach der Hütte schien, stand er auf und verließ das Haus der Riesen. Er ging über den Hofplatz und durch die Pforte, die er hinter sich schloß. Im selben Augenblick stand das Riesenweib neben ihm: ›Ich sehe, du hast die Absicht von dannen zu gehen, Handfest,‹ sagte sie. ›Das ist auch sicher das klügste, was du tun kannst.‹ – ›Wenn dein Mann in einem solchen Bett schlafen kann, wie du es mir für diese Nacht bereitet hast,‹ entgegnete Handfest mürrisch, ›so liegt mir nichts daran, mit ihm zusammenzutreffen. Er muß ein Mann von Eisen sein, den niemand zu überwinden vermag.‹

Das Riesenweib stand an die Pforte gelehnt da. ›Jetzt, wo du von meinem Hof herunter bist, Handfest,‹ sagte sie, ›will ich dir doch sagen, daß deine Reise zu uns Riesen hinauf nicht so ganz unehrenvoll gewesen ist, wie du selbst zu glauben scheinst. Es war nicht zu verwundern, daß du den Weg durch unsere Stube lang fandest, denn du mußtest über die ganze Hochebene, die Jämtland genannt wird, gehen. Auch war es nicht zu verwundern, daß es dir schwer wurde, den Spund in die Tonne zu stecken, denn all das Wasser, das aus den Schneebergen herabgebraust kommt, strömte dir entgegen. Und als du das Wasser über unsern Estrich hinleitetest, schufst du Furchen und Vertiefungen, die jetzt zu Flüssen und Seen geworden sind. Es war auch kein geringer Beweis von deiner Kraft, den du liefertest, als du die Mühle einmal herumdrehtest, denn zwischen den Steinen lag nicht Korn, sondern Kalkstein und Schiefer und mit der einen Drehung mahltest du so viel, daß die ganze Hochebene mit guter, fruchtbarer Erde bedeckt ist. Daß du nicht in dem Bett liegen konntest, das ich dir bereitet hatte, verwundert mich ebenfalls nicht, denn ich hatte dich auf große, eckige Berggipfel gebettet. Die hast du nun über das halbe Land hingeschleudert, und es mag wohl sein, daß dir die Menschen dafür nicht so dankbar sind wie für das andere, was du getan hast. Ich sage dir nun Lebewohl, und ich verspreche dir, daß mein Mann und ich von hier fortgehen werden, an einen Ort, wo du uns nicht so leicht besuchen kannst.‹

Der Wandersmann hörte dies alles mit wachsendem Zorn an, und als das Riesenweib geendet hatte, griff er nach einem Hammer, den er im Gürtel trug. Ehe er ihn aber noch erhoben hatte, war das Weib verschwunden und wo das Haus der Riesen gelegen hatte, sah man nichts als die graue Felsenwand. Zurückgeblieben aber waren die mächtigen Flüsse und Seen, denen er Platz auf der Hochebene geschaffen, sowie die fruchtbare Erde, die er gemahlen hatte. Zurückgeblieben waren auch die herrlichen Berge, die Sämtland seine Schönheit verleihen, und die allen, die sie besuchen, Kraft, Gesundheit, Freude, Mut und Lebenslust schenken. So glaube ich denn, daß von allen Taten Asa-Thors keine rühmenswerter ist als die, welche er in jener Nacht vollbrachte, als er Felsenmassen hinausschleuderte von den Frostvigbergen im Norden bis zu dem Helagsberg im Süden, von den Oviksbergen jenseits des Storsös bis zu den Sylarn an der Reichsgrenze.«

XXVIII. Der Dalelf

Freitag, 29. April.

An diesem Tage bekam Niels Holgersen das südliche Dalarna zu sehen. Die wilden Gänse lenkten ihren Flug über das gewaltige Grubenfeld von Grängesberg, über die großen Anlagen bei Ludvika, über das Eisenwerk von Ulvshytten und das alte, verlassene Werk von Grängshammar, bis ganz hinauf zu den Ebenen von Stora Tuna und dem Dalelf. Als Niels zu Anfang der Fahrt hinter jedem Bergrücken Fabrikschornsteine aufragen sah, meinte er, das Ganze sei wie in Vestmanland, aber als er über den großen Elf kam, sollte er etwas Neues kennen lernen. Es war der erste richtige Fluß, den der Junge sah, und es machte einen gewaltigen Eindruck auf ihn, diese große, breite Wassermasse durch das Land dahingleiten zu sehen.

Als die Wildgänse die Floßbrücke von Torsång erreicht hatten, machten sie Kehrt und flogen nach Nordwesten an dem Elf entlang, als wollten sie ihn zum Wegweiser benutzen. Der Junge saß da und sah auf die Ufer hinab, wo eine ganze Strecke lang ein Gebäude neben dem anderen lag. Er sah den großen Wasserfall bei Domnarfvet und Kvarnsveden und die großen Fabriken, die er zu treiben hatte. Er sah die Floßbrücken, die auf dem Elf ruhten, die Fähren, die er zu tragen hatte, die Balken, die er von dannen führte, die Eisenbahnen, die an ihm entlang liefen oder quer über ihn hinweg, und nach und nach wurde es ihm klar, was für ein großes und merkwürdiges Gewässer dies war.

Der Elf machte einen großen Bogen nach Norden. In der Krümmung war es öde und menschenleer, und die Wildgänse ließen sich auf einer Wiese nieder, um zu grasen. Der Junge lief von ihnen fort bis ganz an den Abhang, um den Elf zu betrachten, der in einem breiten Bett tief unter ihm dahinfloß. Eine Landstraße führte ganz an den Elf heran, und die Reisenden wurden auf einer Fähre übergesetzt. Das war etwas Neues für Niels, und es belustigte ihn es anzusehen, aber plötzlich wurde er von einer schrecklichen Müdigkeit befallen. »Ich muß ein wenig schlafen. Ich habe diese Nacht ja kaum ein Auge geschlossen,« dachte er, kroch in einen dichten Grasbüschel hinein, verbarg sich, so gut er konnte, unter Gras und Stroh und schlief ein. Er erwachte davon, daß er einige Menschen, die auf der Wiese saßen, sprechen hörte. Sie waren auf der Landstraße gekommen, konnten aber nicht über den Elf gesetzt werden, weil große Eisstücke stromabwärts schwammen und die Überfahrt hinderten. Während sie warteten, gingen sie auf die Wiese, setzten sich dort hin und redeten darüber, wie beschwerlich es doch mit dem Elf sei.

»Ich möchte wohl wissen, ob wir in diesem Jahr wieder eine solche Überschwemmung haben werden wie im vergangenen,« sagte ein Bauer. »Da ging der Elf daheim bei uns ganz bis an die Telephonstangen hinauf und nahm unsere ganze Floßbrücke mit fort.«

»Im vergangenen Jahr hat er in unserer Gegend keinen sonderlichen Schaden angerichtet,« sagte ein anderer, »aber das Jahr vorher nahm er mir eine ganze Scheune voll Heu weg.«

»Nie vergesse ich die Nacht, als er die große Brücke bei Domnarfvet zerstörte,« warf ein Eisenbahnarbeiter dazwischen. »In der Nacht hat niemand auf dem ganzen Werk ein Auge geschlossen.«

»Freilich richtet der Elf viel Schaden an,« sagte ein großer, stattlicher Mann, »aber wenn ich euch so schlecht von ihm reden höre, kann ich nicht umhin, an den Propst daheim zu denken. Es war ein Fest im Hause des Propstes und die Leute saßen da und beklagten sich über den Elf, genau so, wie ihr es jetzt tut, da aber wurde der Propst ganz zornig und sagte, er wolle uns eine Geschichte erzählen. Und als er geendet hatte, war da niemand, der auch nur ein böses Wort über den Dalelf hätte sagen können, und ich möchte wohl wissen, ob es euch nicht ebenso ergangen wäre, wenn ihr mit dabei gewesen wäret.«

Als die Wartenden das hörten, wollten sie alle wissen, was der Propst von dem Elf gesagt hatte, und der Bauer erzählte dann die Geschichte, so gut er sich ihrer entsinnen konnte.

»Oben an der norwegischen Grenze lag ein Bergsee. Dem entströmte ein Bach, der gleich von Anfang an trotzig und heftig war. So klein er war, wurde er doch Storaa, der große Bach, genannt, weil es so aussah, als könne etwas Tüchtiges aus ihm werden.

Gleich als er aus dem See herauskam, warf er einen Blick um sich; er wollte sehen, welche Richtung er am besten einschlagen solle; aber es war im Grunde kein ermunternder Anblick, der ihm da entgegentrat. Rechts, links und geradeaus war nichts zu sehen als waldbedeckte Bergrücken, die nach und nach in kahle Felswände übergingen und sich allmählich zu hohen Berggipfeln erhoben.

Der Storaa warf den Blick nach links. Dort hatte er den Langfjeld mit dem Djupgravstöt, Barrfröhågna und Storvätteshågna. Er sah gen Norden; dort hatte er den Näsfjeld, im Osten stand der Nipfjeld und im Süden der Städjan. Er war nahe daran zu denken, ob es nicht am klügsten sei, wieder in den See zurückzukehren. Aber dann fand er, daß er doch wenigstens einen Versuch machen müsse, den Weg zum Meer zu finden, und so machte er sich denn auf die Wanderschaft.

Es ist leicht zu verstehen, daß es ein hartes Stück Arbeit war, sich den Weg durch dies wilde Bergland zu bahnen. Lag ihm nichts weiter im Wege, so war da doch immer der Wald. Er mußte eine Fichte nach der anderen umreißen, um sich freien Lauf zu schaffen.

Am mächtigsten und stärksten war er im Frühling, wenn der erste Zufluß kam und ihn mit Schneewasser aus den Tannenwäldern speiste, und wenn dann der Zufluß aus den Bergen ihn mit Gebirgswasser füllte. Da sammelte er seine ganze Kraft und stürzte dahin, fegte Steine und Erde zur Seite und grub sich durch Sandrücken. Auch im Herbst konnte er eine tüchtige Arbeit schaffen, wenn ihn der Herbstregen gestärkt hatte.

Eines schönen Tages, als der Storaa wie gewöhnlich geschäftig dabei war, sich seinen Weg zu bahnen, hörte er plötzlich ein Bubbeln und Brausen rechts vor sich, weit weg im Walde. Er lauschte so eifrig, daß er fast stillstand. ›Was in aller Welt kann das sein?‹ fragte er sich.

Der Wald, der rings um ihn her stand, konnte sich nicht enthalten, sich ein wenig lustig über ihn zu machen. ›Du bildest dir wohl ein, daß du ganz allein auf der Welt bist,‹ sagte er. ›Aber ich kann dir erzählen, daß der, den du da brausen hörst, niemand anderes ist als der Gröfvelaa aus dem Gröfvelsee. Der hat sich gerade durch ein schönes Tal hindurchgegraben, und kommt wohl ebenso schnell wie du an das Meer.‹

Aber der Storaa hatte seinen eigenen Kopf, und als er diese Antwort erhielt, sagte er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen: ›Der Gröfvelaa ist nur ein armseliges Ding, das sich nicht allein helfen kann. Grüße ihn von mir und sage, der Storaa aus dem Vånsee sei auf dem Wege ans Meer, ich würde mich seiner gern annehmen und ihm weiterhelfen, wenn er sich mir anschließen will.‹

›Du bist ein tüchtiger Bursche, so klein du bist,‹ sagte der Wald. ›Ich will dem Gröfvelaa gern deinen Gruß überbringen, aber ich bin nicht sicher, daß er sich darüber freuen wird!‹

Am nächsten Tage stand der Wald da und sollte von dem Gröfvelaa grüßen und sagen, er habe so schwer zu kämpfen, daß er sich freue, Hilfe zu erhalten, er werde schon kommen und sich mit dem Storaa vereinen, sobald er könne.

Nun ging es natürlich noch schneller mit dem Storaa, und es währte nicht lange, bis er sich soweit vorwärts gearbeitet hatte, daß er einen langen, schmalen, schönen See erblickte, in dem sich der Idreberg und der Städjan widerspiegelten.

›Was ist denn das?‹ sagte er, und wieder war er nahe daran, vor Staunen still zu stehen. ›Ich habe mich doch nicht so töricht benommen, daß ich wieder nach dem Vånsee zurückgekommen bin?‹

Aber der Wald, der zu dieser Zeit überall zugegen war, antwortete sogleich: ›Nein, du bist nicht nach dem Vånsee zurückgekommen. Dies ist der Idresee, der mit Wasser aus dem Sönderelf angefüllt ist. Das ist ein tüchtiger Elf. Er ist eben damit fertig geworden, den See zu machen, und ist nun dabei, sich einen Ablauf aus ihm zu schaffen.‹

Als der Storaa das hörte, sagte er sofort zu dem Walde: ›Du, der du überall vordringst, willst du nicht den Sönderelf grüßen und ihm sagen, der Storaa aus dem Vånsee sei gekommen. Falls er mich durch den See laufen lassen will, werde ich zum Dank den Elf mit mir an das Meer hinausnehmen. Du kannst ihm sagen, er brauche sich keine Sorge zu machen, wie er vorwärtskommen soll, das werde ich schon einrichten.‹

›Ich will deinen Vorschlag gern überbringen,‹ sagte der Wald, ›aber ich glaube nicht, daß der Sönderelf darauf eingeht, denn er ist ebenso mächtig wie du.‹

Aber am nächsten Tage konnte der Wald erzählen, daß der Sönderelf ebenfalls ermüdet sei, sich seinen Weg allein zu bahnen, und daß er bereit sei, sich mit dem Storaa zu vereinen.

Der Bach lief nun durch den See und fuhr dann fort, mit dem Wald und den Bergen zu kämpfen, so wie bisher.

Eine Weile ging alles gut, aber dann kam er in ein Gebirgstal, das war so fest verschlossen, daß er keinen Ausweg zu finden vermochte. Der Storaa lag da und schäumte vor Wut, und als der Wald hörte, wie rasend er war, sagte er: ›Nun ist es doch wohl aus mit dir!‹

›Aus mit mir?‹ sagte der Storaa. ›Nein, ich bin nur eifrig beschäftigt mit einer Großtat. Ich will versuchen, ob ich nicht ebensogut wie der Sönderelf einen See machen kann.‹

Und dann begann er, den Särnasee zu füllen, und das war die Arbeit eines ganzen Sommers. Allmählich, als das Wasser im See stieg, wurde der Storaa höher in die Höhe gehoben, und schließlich brach er sich einen Ausweg nach Süden zu.

Als er glücklich aus der Klemme herausgekommen war, hörte er eines Tages ein mächtiges Sausen und Brausen links von sich. Ein so mächtiges Brausen hatte er noch nie im Walde gehört, und er fragte gleich, was das sei.

Der Wald war wie gewöhnlich sogleich mit der Antwort bei der Hand: ›Das ist der Fjäteelf‹ sagte er. ›Kannst du hören, wie er braust und schäumt? Er ist auf dem Wege zum Meer hinaus.‹

›Falls du so weit reichst, daß dich der Elf hören kann,‹ sagte der Storaa, ›so grüße, bitte, den armseligen Elf und sage, der Storaa aus dem Vånsee erbiete sich, ihn mit an das Meer hinauszunehmen, aber unter der Bedingung, daß er meinen Namen annimmt und sich gehorsam in mein Flußbett legt.‹

›Ich kann doch nicht glauben, daß der Fjäteelf es aufgeben wird, die Reise auf eigene Hand zu machen‹ sagte der Wald. Am nächsten Tage aber mußte er zugestehen, daß auch der Fjäteelf müde sei, sich seinen eigenen Weg zu graben, und daß er sich bereit erkläre, sich mit dem Storaa zu vereinen.

Nun ging es beständig vorwärts mit dem Storaa. Er war freilich nicht so groß, wie man hätte erwarten sollen, da er so viele Hilfskräfte zu sich gezogen hatte. Aber stolz war er. Er schritt fast in lauter Wasserfällen dahin und mit mächtigem Dröhnen rief er alles zu sich heran, was im Walde buddelte und brauste, wenn es auch nichts weiter war als ein Frühlingsbach.

Eines Tages hörte er weit, weit nach Westen zu etwas brausen. Und als er den Wald fragte, wer das sei, erhielt er die Antwort, es sei der Fuluelf, der Wasser von dem Fuluberg aufnähme und bereits eine lange und breite Rinne gegraben habe.

Sobald der Storelf das erfuhr, entsandte er seinen gewohnten Gruß, und der Wald übernahm es wie gewöhnlich, ihn auszurichten. Am nächsten Tage kam er mit der Antwort vom Fuluelf. ›Sage dem Storaa,‹ hatte der Elf geantwortet, ›daß ich seine Hilfe durchaus nicht wünsche. Es hätte sich besser für mich als für den Storaa geziemt, einen solchen Gruß zu senden, da ich der mächtigere von uns beiden bin, und ich sicher zuerst an das Meer gelangen werde.‹

Kaum hatte der Storaa den Bescheid erhalten, als er seine Antwort schon bereit hatte. ›Willst du dem Fuluelf sofort bestellen,‹ sagte er zu dem Wald, ›daß ich ihn zum Kampf herausfordere. Hält er sich für mächtiger als mich, so muß er es beweisen, indem er mit mir um die Wette läuft. Wer zuerst ans Meer kommt, hat gewonnen.‹

Als der Fuluelf diesen Gruß bekam, antwortete er:

›Ich habe nichts mit dem Storaa auszustehen, und ich wäre meinen Weg am liebsten in Ruhe und Frieden gewandert. Aber ich kann auf soviel Hilfe von dem Fuluberg rechnen, daß es feige von mir sein würde, wenn ich die Herausforderung nicht annehmen wollte.‹

Und so begannen die beiden Ströme ihren Wettlauf. Sie brausten mit noch größerer Eile als bisher dahin, und hatten weder Sommer noch Winter Ruhe.

Aber es schien, als sollte der Storaa bereuen, daß er so verwegen gewesen und den Fuluelf herausgefordert hatte, denn ihm trat ein Hindernis in den Weg, das nahe daran war, ihm zu mächtig zu werden. Es war ein Berg, der ihm im Wege lag, so daß er nur durch einen engen Spalt weitergelangen konnte. Er machte sich ganz dünn und ging in reißenden Wasserfällen vor, aber er mußte viele Jahre feilen und bohren, bis er den Spalt zu einer einigermaßen breiten Rinne erweitert hatte.

Während all der Zeit fragte der Storaa den Wald mindestens alle halbe Jahre einmal, wie es dem Fuluelf ergehe.

›Dem Elf geht es so gut, wie man es ihm nur wünschen kann,‹ sagte der Wald. ›Er hat sich jetzt mit dem Görelf vereint, der das Wasser aus den norwegischen Bergen aufnimmt.‹

Ein anderes Mal, als der Storaa nach dem Elf fragte, antwortete der Wald: ›Um den brauchst du nicht besorgt zu sein, der hat den ganzen Hormundsee mitgenommen.‹ Aber auf den Hormundsee hatte der Storaa selbst gerechnet; und als er nun hörte, daß der mit dem Fuluelf gegangen war, wurde er so wütend, daß er sich endlich durch ›Trängslet‹ Bahn brach und so wild und schäumend dahinstürzte, daß er mehr Wald und Erde mit fortriß, als nötig gewesen wäre. Es war gerade Frühling, und er überschwemmte die ganze Gegend zwischen dem Hyckeberg und dem Väsaberg, und ehe er sich wieder beruhigte, hatte er die Gegend geschaffen, die das Elftal heißt.

›Ich möchte wohl wissen, was der Fuluelf hierzu sagt?‹ fragte der Storaa den Wald.

Der Fuluelf hatte währenddessen Transtrand und Lima ausgegraben, aber nun hatte er ziemlich lange vor dem Limed gestanden und nach einem Ausweg gesucht, da er nicht wagte, sich den steilen Berg dort hinabzustürzen. Als er aber erfuhr, daß sich der Storaa seinen Weg durch Trängslet gebrochen und das Elftal ausgegraben hatte, konnte er nicht länger stillstehen. Und dann warf er sich den Limedfoß hinab.

Das war ein mächtiger Sprung, aber der Elf kam wohlbehalten unten an, und nun geriet er wirklich in Eile. Er grub Malung und Tärna aus, und es gelang ihm, den Vanaa zu überreden, sich mit ihm zu vereinen, obwohl der ganze vierzehn Meilen lang war und auf eigene Hand den ganzen Vänjansee ausgegraben hatte.

Von Zeit zu Zeit horte er ein mächtiges Brausen.

›Jetzt, glaube ich, kann ich hören, daß sich der Storaa ins Meer stürzt.‹ sagte er.

›Nein,‹ erwiderte der Wald, ›wohl ist es der Storaa, den du hörst, aber bis ans Meer ist er noch nicht gelangt. Nun hat er den Orsasee und den Skattung mitbekommen, daher ist er so übermütig geworden, daß er sich vorgenommen hat, den ganzen Siljan zu füllen.

Das war eine erfreuliche Nachricht für den Fuluelf. Der dachte, wenn sich der Storaa erst in das Siljantal verirrt hat, so wird er dort eingeschlossen sein wie in einem Gefängnis. Und dann würde er schon vor dem Storaa ans Meer hinausgelangen.

Nun konnte der Fuluelf die Sache also etwas ruhiger ansehen. Im Frühling verrichtete er sein härtestes Stück Arbeit. Da stieg er hoch über Baumwipfel und Sandrücken empor, und wo er vorgegangen war, hinterließ er ein geräumtes Tal. So ging sein Weg von Särna nach Nås und von Nås nach Floda. Von Floda kam er nach Gagnef. Hier befand sich bereits eine Ebene. Die Berge hatten sich soweit zurückgezogen, und der Fuluelf hatte so wenig Schwierigkeiten, vorwärts zu gelangen, daß er seine ganze bisherige Geschäftigkeit vergaß und sich spielend in allen möglichen Windungen und Biegungen dahinschlängelte, fast als sei er ein kleiner Bach gewesen.

Hatte aber der Fuluelf den Storaa vergessen, so hatte der Storaa den Fuluelf wahrlich nicht vergessen. Jeden Tag mühte er sich ab, den Siljansee zu füllen, um nach der einen oder der anderen Richtung aus ihm herauszukommen, aber er lag vor ihm wie ein unermeßlich großes Gefäß und schien sich niemals füllen lassen zu wollen. Zuweilen glaubte er, daß er gezwungen sein würde, den Gesundaberg selbst unter Wasser zu setzen, um aus seinem Gefängnis zu entkommen. Er versuchte bei Rättvik durchzubrechen, da aber stand der Lerdalsberg im Wege. Schließlich kam er unten bei Leksand heraus.

›Sage dem Fuluelf nichts davon, daß ich herausgekommen bin.‹ sagte der Storaa zu dem Wald, und der Wald versprach ihm zu schweigen.

Der Storaa nahm den Insjö im Vorbeifahren mit, und stolz und mächtig schritt er durch Gagnef.

Als der Storaa in die Nähe von Tejälgen in Gagnef kam, erblickte er einen Elf, der breit und prachtvoll daherkam mit hellem, schimmernden Wasser, und der Wälder und Sandrücken, die im Wege standen, so leicht beiseite schob, als sei es das reine Kinderspiel.

›Was für ein prachtvoller Elf ist denn das?‹ fragte der Storaa.

Aber nun traf es sich so, daß der Fuluelf genau nach demselben fragte: ›Was für ein Elf ist denn das, der da so stolz und mächtig einherkommt? Nie hätte ich geglaubt, daß ich einen Elf mit einer solchen Stärke und Macht durch das Land würde schreiten sehen!‹

Da sagte der Wald so laut, daß beide Flüsse es hören konnten: ›Da ihr nun beide, der Storaa und der Fuluelf gute Worte übereinander habt fallen lassen, so finde ich, euch dürfte nichts verhindern, euch miteinander zu vereinen und euch in Gemeinschaft euren Weg an das Meer zu bahnen.‹

Dieser Vorschlag schien den beiden Flüssen zu gefallen. Da war nur das eine Hindernis, daß keiner von beiden seinen eigenen Namen aufgeben und den des anderen annehmen wollte.

Es war kurz davor, daß nichts aus der Verbindung zwischen ihnen geworden wäre; da aber kam der Wald auf den Gedanken, den Vorschlag zu machen, daß sie einen neuen Namen annehmen sollten, der keinen von beiden gehörte.

Darauf gingen sie beide ein, und sie ernannten den Wald zum Namengeber. Der bestimmte nun, daß der Storaa seinen Namen ablegen und sich Östre Dalelf nennen sollte, und daß der Fuluelf den seinen ablegen und sich Vestre Dalelf nennen sollte. Wenn sie sich dann vereint hatten, sollten sie schlecht und recht Dalelf heißen.

Und nun, wo die beiden Flüsse sich vereinigt hatten, schritten sie mit einer Macht dahin, der nichts zu widerstehen vermochte. Sie ebneten den Erdboden in Store Tuna, so daß er glatt wurde wie ein Hofplatz. Sie stürzten den Wasserfall bei Kvarnsveden und Domnarsvek hinab, ohne sich zu besinnen. Als sie in die Nähe des Sees Runn kamen, sogen sie ihn ein und zwangen alle Gewässer in der Umgegend, sich mit ihnen zu vereinen. Dann zogen sie, ohne sonderlichem Widerstand zu begegnen, gen Osten an das Meer und breiteten sich zu ganzen Seen aus. Sie gewannen große Ehre und Ansehen bei Söderfors und ebenso bei Alvkarleby, und endlich gelangten sie ans Meer hinaus.

Als sie eben im Begriff waren, sich ins Meer zu stürzen, mußten sie an ihren langen Wettstreit und an alle die Mühe und Beschwerden denken, die sie gehabt hatten.

Sie fühlten sich jetzt alt und müde und konnten nicht begreifen, wie sie in ihrer Jugend so bereit zu Kampf und Wettstreit gewesen waren. Sie fragten sich selbst, welchen Zweck dies alles eigentlich gehabt hatte. Aber sie erhielten keine Antwort auf ihre Frage, denn der Wald war hoch oben im Lande stehengeblieben, und sie selbst konnten nicht in ihr Bett zurückkehren und sehen, wie die Menschen überall vorgedrungen waren, wo sie Bahn gebrochen hatten, wie ein Kirchspiel nach dem anderen längs den Seen des Östredalelf und in den Tälern des Vestredalelf emporgeschossen war. Wie es in der ganzen Landschaft nichts weiter gab als einsame Wälder und öde Berge, ausgenommen da, wo sie in ihrem gewaltigen Wettstreit vorgeschritten waren.«

XLVI. Die Sage vom Härjetal

Dienstag, 4. Oktober.

Niels Holgersen wurde unruhig, weil die Reisenden so lange auf dem Aussichtsturme blieben. Der Gänserich Martin konnte nicht kommen und ihn abholen, solange sie da waren, und er wußte ja, daß die Wildgänse Eile hatten, gen Süden zu ziehen. Mitten während der Geschichte war es ihm, als höre er Gänsegeschnatter und starke Flügelschläge, ganz so, als seien es die wilden Gänse, die davonflogen. Aber er wagte nicht, an die Rampe zu treten, um zu sehen, wie es sich verhielt.

Als die Gesellschaft endlich gegangen war, so daß sich der Junge aus seinem Versteck hervorwagen konnte, sah er unten an der Erde keine Wildgänse, und es kam kein Gänserich Martin, ihn zu holen. So laut er konnte, rief er: »Wo bist du? hier bin ich!« aber die Reisegefährten ließen sich nicht blicken. Es kam ihm auch nicht einen Augenblick in den Sinn, daß sie ihn verlassen hätten, aber er fürchtete, daß ihnen ein Unglück zugestoßen sei, und er stand da und überlegte, was er anfangen solle, um sie ausfindig zu machen, als sich der Rabe Bataki neben ihm niederließ.

Nie hatte der Junge gedacht, daß er Bataki jemals mit einem so freudigen Willkommen begrüßen würde, wie er es jetzt tat. »Lieber Bataki!« sagte er, »wie herrlich, daß du kommst! Du weißt vielleicht, wo der Gänserich Martin und die Wildgänse abgeblieben sind?« – »Ich komme gerade mit Grüßen von ihnen,« erwiderte der Rabe. »Akka sah einen Jäger hier auf dem Berge umherstreifen und wagte deshalb nicht, auf dich zu warten; sie ist vorausgeflogen. Setz‘ dich jetzt auf meinen Rücken, dann sollst du gleich bei deinen Freunden sein.«

Der Junge setzte sich schnell auf dem Rücken des Raben zurecht, und Bataki würde die Wildgänse bald eingeholt haben, wenn ihn nicht der Nebel daran gehindert hätte. Aber es war, als hätte die Morgensonne die Nebel zu neuem Leben erweckt. Kleine, leichte Nebelschleier stiegen plötzlich aus dem See, von den Feldern und aus dem Walde auf. Sie verdichteten sich und breiteten sich mit erstaunlicher Schnelligkeit aus, und bald war die Erde in weiße, wogende Nebel gehüllt.

Da oben, wo Bataki flog, war klare Luft und strahlender Sonnenschein, aber die Wildgänse waren offenbar unten zwischen den Nebelmassen, da es nicht möglich war, sie zu entdecken. Der Junge und der Rabe riefen und schrien, aber sie erhielten keine Antwort. »Das ist wirklich Pech!« sagte Bataki schließlich. »Aber wir wissen ja, daß sie gen Süden ziehen, und sobald es klar wird, werde ich sie schon finden.«

Der Junge war sehr betrübt, daß er gerade jetzt, wo sie sich auf der Reise befanden und der große Weiße allen möglichen Gefahren ausgesetzt sein konnte, von dem Gänserich Martin getrennt war. Aber als er ein paar Stunden in dieser Angst dagesessen hatte, sagte er sich, bisher sei ja noch kein Unglück geschehen, wozu sollte er sich da die Laune verderben lassen.

Im selben Augenblick hörte er unten auf der Erde einen Hahn krähen, und sofort lehnte er sich über den Rücken des Raben hinaus und rief: »Wie heißt das Land, über das ich dahinfliege?« – »Es heißt das Härjetal, das Härjetal, das Härjetal!« krähte der Hahn. – »Wie sieht es da unten bei euch aus?« fragte der Junge. »Berge im Westen und Wald im Osten, breites Tal durchs ganze Land!« krähte der Hahn. »Hab‘ Dank! Du gibst gute Antworten!« rief der Junge.

Als sie wieder eine Weile geflogen waren, hörte er unten im Nebel eine Krähe krächzen. »Was für Menschen wohnen hier im Lande?« rief er. – »Prächtige, gute Bauern,« antwortete die Krähe. »Prächtige, gute Bauern.« – »Was tun sie?« fragte der Junge. – »Sie treiben Viehzucht und roden den Wald aus,« schrie die Krähe. – »Hab‘ Dank! Du gibst gute Antworten!« rief der Junge.

Nach einer Weile hörte er, daß ein Mensch da unten im Nebel ging und sang. »Gibt es keine großen Städte hier im Lande?« fragte der Junge. – »Was … Was … Wer ruft da?« antwortete der Mensch. – »Gibt es keine großen Städte hier im Lande?« wiederholte der Junge. – »Ich will wissen, wer da ruft!« schrie der Mensch. – »Hab‘ ich mir’s nicht gedacht, daß ich keinen Bescheid bekommen würde, wenn ich einen Menschen fragte!« rief der Junge.

Es währte nicht lange, da verzog sich der Nebel ebenso schnell, wie er gekommen war, und der Junge sah nun, daß Bataki über ein breites Flußtal flog. Es war schön hier, mit hohen Bergen so wie in Sämtland, aber am Fuße der Berge war kein fruchtbares und dichtbebautes Land. Die Dörfer lagen weit voneinander entfernt, und die Felder waren klein. Bataki folgte dem Fluß in südlicher Richtung, bis sie in die Nähe eines Dorfes kamen. Dort ließ er sich auf einem Stoppelfelde nieder, und der Junge stieg ab.

»Hier auf dem Felde hat im Sommer Korn gestanden,« sagte Bataki. »Sieh dich um, ob du nicht etwas zu Essen findest!« Der Junge befolgte seinen Rat, und es währte nicht lange, bis er eine Ähre fand. Während er die Körner herausschälte und sie verzehrte, knüpfte Bataki ein Gespräch mit ihm an.

»Siehst du den großen, dunklen Berg, der da gerade im Süden aufragt?« fragte er. – »Freilich sehe ich den!« erwiderte der Junge.– »Er heißt Sonfjeldet,« fuhr der Rabe fort, »und du kannst mir glauben, es hat dort in alten Zeiten viele Wölfe gegeben.« – »Das muß eine gute Zufluchtsstätte für sie gewesen sein,« räumte der Junge ein. – »Es war schwer für die Bewohner des Tales, sich mit ihnen abzuplacken,« sagte Bataki. – »Weißt du nicht eine gute Geschichte von Wölfen, die du mir erzählen könntest?« fragte der Junge.

»Ich habe gehört, daß vor langer Zeit die Wölfe von Sonfjeldet einen Mann überfallen haben sollen, der Tonnen und Kübel verkaufte,« sagte Bataki. »Er war aus Hede, einem Dorf, das hier im Tal liegt, einige Meilen höher als wir uns befinden. Es war Winter, und die Wölfe jagten hinter ihm her, als er über das Eis des Ljusnan fuhr. Es mochten wohl an zehn Stück sein, und der Mann aus Hede hatte ein schlechtes Pferd, so war da nicht viel Hoffnung, daß er ihnen entkommen würde. Als der Mann die Wölfe heulen hörte und sah, was für eine große Schar es war, die Jagd auf ihn machte, verlor er den Kopf, und es kam ihm nicht einmal in den Sinn, daß er Kübel und Eimer und Wannen vom Wagen werfen könne, um die Last leichter zu machen. Er peitschte nur auf das Pferd los, und das lief auch, so schnell es nur laufen konnte. Aber der Mann sah bald, daß die Wölfe immer näher kamen. Es wohnten keine Menschen an dem Ufer des Sees, und es waren noch mehrere Meilen bis zu dem nächsten Hof. Allem Anschein nach war seine letzte Stunde gekommen, und er fühlte, wie er ganz starr vor Schrecken wurde.

Während er wie versteinert dasaß, sah er, daß sich etwas zwischen den Tannenzweigen rührte, die, um den Weg zu bezeichnen, auf dem Eis aufgehäuft waren. Und als er sah, wer da ging, war es ihm, als werde das Entsetzen, das ihn gepackt hatte, noch zehnmal größer.

Es waren keine Wölfe, die ihm entgegenkamen, sondern eine arme alte Frau. Sie hieß Finnen-Malene und streifte immer auf den Wegen und Steigen umher. Sie hinkte ein wenig und war buckelig, so daß er sie schon von weitem erkennen konnte. Die alte Frau ging geradeswegs auf die Wölfe zu. Wahrscheinlich hinderte der Schlitten sie, die Tiere zu sehen, und der Mann aus Heide war sich sofort klar darüber, daß, wenn er an ihr vorüberfuhr, ohne sie zu warnen, sie den wilden Tieren gerade in den Rachen lief, und während die Wölfe sie zerrissen, konnte er dann entkommen.

Sie ging langsam, auf ihren Stock gestützt; wenn er ihr nicht half, war sie rettungslos verloren. Aber selbst wenn er anhielt und sie aufforderte, sich auf den Boden des Schlittens zu setzen, war es deswegen durchaus nicht sicher, daß sie gerettet wurde. Nahm er sie in den Schlitten auf, so war die Gefahr, daß die Wölfe sie einholen würden, nur um so größer, und er und das Pferd mußten ihr Leben lassen. Ob es wohl richtig war, ein Leben zu opfern um zwei andere zu retten?

Das alles ging ihm in demselben Augenblick, als er die Alte sah, durch den Kopf. Und nicht genug damit, er hatte auch noch Zeit, darüber nachzudenken, wie es ihm hinterher ergehen würde, ob er es bereuen würde, daß er der Alten nicht geholfen hatte, und ob die Leute wohl erfahren würden, daß er ihr begegnet war und ihr nicht geholfen hatte.

Es war eine entsetzliche Versuchung, der er ausgesetzt war. ›Wenn ich ihr doch nie begegnet wäre!‹ sagte er zu sich selbst.

Im selben Augenblick brachen die Wölfe in ein wildes Geheul aus. Das Pferd zuckte zusammen, sauste in der wildesten Fahrt dahin und jagte an dem Bettelweib vorüber. Auch sie hatte die Wölfe heulen hören, und als der Mann aus Heide vorüberfuhr, konnte er sehen, daß sie wußte, was ihrer harrte. Sie stand still, der Mund öffnete sich zu einem Schrei, und sie streckte die Arme nach Hilfe aus, aber sie schrie weder, noch versuchte sie, auf den Schlitten hinaufzuspringen. Irgend etwas mußte sie gelähmt haben. ›Ich habe wohl wie ein Troll ausgesehen, als ich an ihr vorüberfuhr,‹ dachte der Mann.

Jetzt war er überzeugt, daß er entkommen würde, und er versuchte, sich darüber zu freuen. Statt dessen begann es aber in seiner Brust zu brennen und zu nagen. Er hatte noch nie zuvor etwas Unehrenhaftes getan und hatte nun ein Gefühl, als sei sein ganzes Leben zerstört. ›Mag es gehen, wie es will,‹ sagte er und hielt das Pferd an, ›ich kann sie nicht mit den Graubeinen allein lassen!‹

Nur mit großer Mühe gelang es ihm, das Pferd zu wenden, aber es ging schließlich, und bald hatte er die alte Frau eingeholt. ›Krieche schnell auf den Schlitten herauf,‹ sagte er in barschem Ton, denn er war ärgerlich auf sich selbst, weil er die Alte ihrem Schicksal hatte überlassen können. ›Was hast du hier auf dem Eise herumzurennen, du alte Hexe,‹ herrschte er sie an. ›Nun müssen der Rappe und ich beide deinetwegen unser Leben lassen!‹

Die Alte erwiderte kein Wort, aber der Mann aus Heide war nicht in der Stimmung, sie zu schonen. ›Der Rappe ist heute schon fünf Meilen gelaufen,‹ sagte er, ›er wird wohl bald müde werden, und die Last ist auch nicht leichter geworden, seit du hinzugekommen bist!‹

Die Schlittenkufen schurrten auf dem Eis, so daß es kreischte, aber trotzdem konnte er die Wölfe fauchen hören, und er war sich klar darüber, daß die Graubeine ihn nun eingeholt hatten. ›Jetzt ist es aus mit uns,‹ sagte er. ›Weder du noch ich hatten viel Freude davon, daß ich versuchte, dich zu retten, Finnen-Malene.‹

Bisher hatte die Alte geschwiegen, wie jemand, der gewöhnt ist, sich ausschelten zu lassen. Jetzt sprach sie ein paar Worte. ›Ich kann nicht begreifen, warum du die Tonnen und Kübel nicht herunterwirfst, um die Last zu erleichtern. Du kannst ja morgen wiederkommen und alles aufsammeln.‹

Der Mann aus Heide sah ein, daß dies ein vernünftiger Rat war und wunderte sich nur darüber, daß er selbst nicht eher daran gedacht hatte. Er ließ die Alte die Zügel halten, löste den Strick, der die Gefäße zusammenhielt, und warf sie vom Schlitten. Die Wölfe waren ganz dicht hinter ihnen drein. Aber nun machten sie halt, um zu untersuchen, was da auf das Eis geworfen wurde, und der Schlitten bekam wieder einen kleinen Vorsprung.

›Wenn das nicht hilft, so kannst du doch wohl begreifen, daß ich mich freiwillig den Wölfen hinwerfe, damit du entkommen kannst,‹ sagte die Alte. Gerade als sie das sagte, war der Mann im Begriff, einen großen, schweren Braubottich vom Schlitten herunterzuwerfen. Aber während er sich noch damit abmühte, hielt er plötzlich inne, als könne er sich nicht entschließen, das Gefäß hinunterzuwerfen. In Wirklichkeit aber waren seine Gedanken von etwas ganz anderem in Anspruch genommen. ›Ein Pferd und ein Mann, die gesund und stark sind, brauchen doch ein altes Weib um ihretwillen nicht von den Wölfen auffressen zu lassen,‹ dachte er. ›Es muß doch noch einen anderen Ausweg geben. Ja, es muß einen Ausweg geben. Das Schlimmste ist nur, daß ich ihn nicht finden kann.‹

Er machte sich wieder mit dem Braubottich zu schaffen, hielt dann aber wieder damit inne und brach in ein lautes Lachen aus.

Die Alte sah ihn erschreckt an und dachte, daß er verrückt geworden sei, aber der Mann aus Heide lachte über sich selbst, weil er bisher so dumm gewesen war. Nichts war ja einfacher, als sie alle drei zu retten. Er konnte nur nicht begreifen, daß ihm das nicht gleich eingefallen war.

›Höre jetzt gut zu, was ich dir sage, Malene,‹ begann er. ›Es war brav von dir, daß du dich den Wölfen freiwillig hinwerfen wolltest. Aber das tut nicht not, denn nun weiß ich, wie wir alle drei gerettet werden können, ohne unser Leben aufs Spiel zu setzen. Vergiß aber nicht, daß du, was ich auch tue, ruhig auf dem Schlitten sitzen bleibst und nach Linsäll hinabfährst. Dort weckst du die Leute und sagst ihnen, daß ich hier allein mit zehn Wölfen auf dem Eise bin, und bittest sie, zu kommen und mir zu helfen.‹

Der Mann wartete nun, bis die Wölfe ganz nahe an den Schlitten herangekommen waren, dann wälzte er den großen Bottich auf das Eis, sprang selbst hinterdrein und kroch darunter.

Es war ein mächtiges Gefäß, so groß, daß es einen ganzen Weihnachtsbräu fassen konnte. Die Wölfe sprangen daran in die Höhe, sie bissen in die Reifen und versuchten, den Bottich umzustürzen. Aber das Gefäß war zu groß und zu fest. Sie konnten des Mannes, der darunter lag, nicht habhaft werden.

Der Mann aus Heide wußte, daß er in Sicherheit war, und er lag da und lachte über die Wölfe. Bald aber wurde er ernsthaft. ›Wenn ich jemals wieder in Not kommen sollte,‹ fügte er, ›so will ich an diesen Braubottich denken. Ich will daran denken, daß ich weder mir selbst noch anderen Unrecht anzutun brauche. Es gibt immer einen dritten Ausweg, es handelt sich nur darum, ihn zu finden.‹«

Damit endete Bataki seine Erzählung. Aber Niels Holgersen hatte jetzt schon gemerkt, daß der Rabe niemals etwas erzählte, ohne eine ganz besondere Absicht damit zu haben, und je länger er ihm zuhörte, um so nachdenklicher wurde er. »Warum erzählst du mir eigentlich diese Geschichte?« fragte der Junge. – »Ach, sie fiel mir nur gerade ein, als ich hier stand und den Sonfjeld ansah,« sagte der Rabe.

Sie flogen nun weiter, den Ljusnan hinab, und als eine Stunde vergangen war, kamen sie an das Dorf Kolsätt, das hart an der Grenze von Helsingland liegt. Hier ließ sich der Rabe in der Nähe einer kleinen, niedrigen Hütte nieder, die keine Fenster, sondern nur eine Luke hatte. Aus dem Schornstein stieg ein Rauch auf, der mit Funken vermischt war, und aus dem Hause vernahm man starke Hammerschläge. »Wenn ich die Schmiede sehe,« sagte Bataki, »so muß ich unwillkürlich an etwas denken, was du wahrscheinlich nie gehört hast, nämlich daß es in alten Zeiten im Härjetal und namentlich in diesem Dorfe hier so gute Schmiede gegeben haben soll, daß man ihresgleichen im ganzen Lande nicht finden konnte.« – »Vielleicht kannst du mir auch von ihnen eine Geschichte erzählen,« meinte der Junge.

»Freilich, denn ich habe gehört, daß damals ein Schmied aus dem Härjetal zwei andere Meisterschmiede, einen aus Dalarna und einen aus Värmland, zu einem Wettstreit im Nagelschmieden herausgefordert hat. Die Herausforderung wurde angenommen, und die drei Schmiede trafen hier in Valfäst zusammen. Der Dalekarlier machte den Anfang. Er schmiedete ein Dutzend Nägel, die alle ausgezeichnet waren und nicht besser gemacht werden konnten. Nach ihm kam der Värmländer. Auch er schmiedete ein Dutzend Nägel, die ganz ausgezeichnet waren, und dazu kam noch, daß er nur halb soviel Zeit dazu gebrauchte wie der Dalekarlier. Als die Männer, die Schiedsrichter in dem Wettstreit sein sollten, das sahen, sagten sie zu dem Schmied aus dem Härjetal, er könne den Versuch, es besser als der Dalekarlier oder schneller als der Värmländer zu machen, nur gleich aufgeben. ›Nein, ich ergebe mich nicht. Es wird sich schon eine Art und Weise finden lassen, wie ich mich auszeichnen kann,‹ sagte der Mann aus dem Härjetal. Er legte das Eisen auf den Ambos, ohne es zuvor in die Esse zu legen, hämmerte es warm und schmiedete einen Nagel nach dem anderen, ohne weder Kohlen noch einen Blasebalg zu gebrauchen. Nie hatte man einen Schmied den Hammer mit größerer Meisterschaft führen sehen, und der Schmied aus dem Härjetal wurde als der beste im ganzen Lande erklärt.«

Bataki schwieg, aber der Junge wurde noch nachdenklicher. »Was bezweckst du eigentlich mit der Erzählung?« fragte er. – »Ach, die Geschichte fiel mir nur gerade ein, als ich die alte Schmiede sah,« antwortete der Rabe ganz gleichgültig.

Die beiden Reisenden stiegen nun wieder in die Luft empor, und der Rabe flog mit dem Knaben südwärts nach dem Kirchspiel Lillhärdal, das auf der Grenze von Dalarna liegt. Dort ließ er sich auf einem bewaldeten Hügel oben auf einem Bergrücken nieder. »Ob du wohl eigentlich weißt, auf was für einem Hügel du stehst?« fragte Bataki. Nein, der Junge mußte einräumen, daß er das nicht wußte. – »Es ist ein Grabhügel,« sagte Bataki. »Er ist über einem Mann errichtet, der Harjulf hieß, und der sich als erster hier im Härjetal niederließ und das Land zu bebauen begann.« – »Vielleicht kannst du auch von ihm eine Geschichte erzählen?« meinte der Junge.

»Ich habe nichts weiter von ihm gehört, als daß er wohl ein Norweger gewesen ist. Zuerst stand er im Dienst eines norwegischen Königs, aber mit dem entzweite er sich, so daß er landesflüchtig wurde. Dann zog er zu dem schwedischen König, der in Upsala wohnte und trat bei ihm in Dienst. Als aber eine Weile vergangen war, begehrte er die Schwester des Königs zum Gemahl, und als der König ihm eine so vornehme Braut nicht geben wollte, entfloh er mit ihr. Er hatte es nun dahin gebracht, daß er nicht in Norwegen und auch nicht in Schweden wohnen konnte, und ins Ausland konnte er nicht ziehen. ›Aber es muß wohl noch einen dritten Ausweg geben,‹ dachte er und zog mit seinen Dienern und seinen Schätzen gen Norden durch Dalarna, bis er an die großen, wilden Wälder kam, die sich nördlich von Dalarna ausbreiteten. Dort ließ er sich nieder, baute Häuser, machte den Wald urbar und wurde so der erste, der sich in dieser Gegend des Landes niederließ.«

Als Niels Holgersen diese Geschichte hörte, wurde er noch nachdenklicher als zuvor. »Was für einen Zweck hast du nur damit, mir dies alles zu erzählen?« sagte er noch einmal. Lange schwieg Bataki, drehte und wandte aber den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Da wir beide jetzt hier allein sind,« sagte er endlich, »so will ich die Gelegenheit benutzen und dich nach etwas fragen. Hast du jemals genauen Bescheid darüber erhalten, was der Kobold, der mit dir verhandelte, als Bedingung aufstellte, daß du wieder ein Mensch werden könntest?« – »Ich habe nie von einer anderen Bedingung gehört, als daß ich den weißen Gänserich wohlbehalten nach Lappland hinauf und wieder nach Schonen zurückbringen sollte.« – »Hab‘ ich mir’s doch gedacht!« rief Bataki aus. »Denn das letztemal, als wir uns sahen, nahmst du den Mund so voll und sagtest, es gäbe nichts Häßlicheres, als einen Freund, der sich auf uns verließ, im Stich zu lassen. Du solltest doch Akka einmal nach der Bedingung fragen. Du weißt, sie ist daheim bei euch gewesen und hat mit dem Kobold gesprochen.« – »Davon hat Akka nichts gesagt,« erwiderte der Junge. – »Sie hielt es vielleicht für dich für das beste, wenn du nicht wüßtest, wie die Worte des Kobolds lauteten. Sie will dir natürlich lieber helfen als dem Gänserich Martin.« – »Es ist doch sonderbar, Bataki, daß du mir das Herz immer so schwer und sorgenvoll machen mußt,« sagte der Junge. – »Wohl möglich, daß es den Anschein hat,« meinte der Rabe, »aber diesmal glaube ich wirklich, daß du mir dankbar sein mußt, denn ich will dir nur sagen, daß die Worte des Kobolds lauteten, du würdest nie wieder Mensch werden, wenn du den Gänserich Martin nicht nach Hause brächtest, so daß deine Mutter ihn auf die Schlachtbank legen kann.«

Niels Holgersen fuhr auf. »Das ist sicher nur eine boshafte Erfindung von dir!« rief er. – »Du kannst Akka ja selber fragen,« sagte Bataki. »Ich sehe sie da oben mit ihrer ganzen Schar kommen. Vergiß nun nicht, was ich dir heute erzählt habe! Es gibt immer einen Ausweg aus allen Schwierigkeiten, es handelt sich nur darum, ihn zu finden. Ich freue mich schon darauf zu sehen, wie es dir glücken wird!«

XLVII. Värmland und Dalsland

Mittwoch, 5. Oktober.

Am nächsten Tage, als die Wildgänse Rast machten und Akka ein wenig abseits von den anderen graste, benutzte Niels Holgersen die Gelegenheit, sie zu fragen, ob es wahr sei, was Batati gesagt hatte; und Akka konnte es nicht leugnen. Da nahm der Junge der Führergans das Versprechen ab, daß sie dem Gänserich Martin das Geheimnis niemals verraten wolle. Denn der große Weiße war so tapfer und edelmütig, daß der Junge fürchtete, es könne ein Unglück daraus entstehen, wenn er die Bedingung des Kobolds erfahre.

Nun saß der Junge traurig und stumm auf dem Rücken des Gänserichs, ließ den Kopf hängen und machte sich nichts daraus, sich umzusehen. Er hörte die Wildgänse den Jungen zurufen, jetzt flogen sie nach Dalarna hinein; jetzt konnten sie den Städjan oben im Norden sehen, jetzt flogen sie über den Osterdalelf, jetzt waren sie beim Hormundsee, und jetzt hatten sie die Talfirt des Vesterdalelfs unter sich. »Ich werde ja voraussichtlich mein ganzes Leben mit den Wildgänsen umherziehen müssen,« dachte er, »da bekomme ich mehr als genug von diesem Lande zu sehen«

Es ermunterte ihn nicht, daß die Wildgänse riefen, jetzt seien sie nach Värmland hineingekommen, und der Elf, dessen Lauf gen Süden sie folgten, sei der Klarelf. »Ich habe schon so viele Elfe gesehen,« dachte er, »ich brauche mir nicht die Mühe zu machen, noch einen anzusehen.«

Selbst wenn er mehr Lust gehabt hätte, Umschau zu halten, wäre nicht viel zu sehen gewesen, denn in dem nördlichen Värmland gibt es nichts weiter als große, einförmige Wälder, durch die sich der Klarelf schmal und schäumend hindurchschlängelt. Hier und da sieht man einen Kohlenmeiler, einen Brandfleck oder einige niedrige Häuser ohne Schornsteine, in denen Finnen wohnen. Aber der größte Teil des Waldes steht so unberührt, daß man glauben könnte, man sei hoch oben in Lappland.

Die Wildgänse ließen sich auf einem Kornacker mitten im Walde, nahe am Ufer des Klarelfs nieder, und während die Gänse dort in dem frischen, eben hervorsprossenden Winterroggen weideten, hörte der Junge Lachen und lautes Reden aus dem Walde herausschallen. Es waren sieben kräftige Männer, die, den Ränzel auf dem Rücken und die Axt über der Schulter, dahergegangen kamen. An diesem Tage hatte der Junge eine so unbeschreibliche Sehnsucht nach Menschen, daß er sich förmlich freute, als die sieben Arbeiter die Ränzel abnahmen und sich am Ufer des Elfs niederwarfen, um auszuruhen.

Der Mund stand ihnen keinen Augenblick still, und der Junge lag hinter einem Erdhaufen und freute sich darüber, Menschenstimmen zu hören. Er erfuhr bald, daß es Värmländer waren, auf dem Wege nach Norrland, wo sie Arbeit suchen wollten. Es waren fröhliche Menschen, und sie hatten viel zu erzählen, denn sie hatten in vielen verschiedenen Orten gearbeitet. Aber während sie nun dort saßen und plauderten, kam es, daß einer ganz zufällig sagte, er habe ja doch in allen Teilen von Schweden gearbeitet, nie aber habe er eine Gegend gesehen, die schöner sei wie die Nordmark da oben im westlichen Värmland, wo er zu Hause sei.

»Darin stimme ich mit dir überein, wenn du nur statt Nordmark Frytsdal sagen willst, wo ich meine Heimat habe,« fiel ihm einer von den anderen in die Rede. – »Ich bin aus dem Jösser Bezirk,« sagte ein dritter, »und ich kann euch die Versicherung geben, daß es dort noch viel schöner ist als in der Nordmark und im Fryksdal.«

Es stellte sich nun heraus, daß alle die sieben Männer aus verschiedenen Teilen von Värmland waren, und daß ein jeder seine Heimatsgegend für schöner und besser hielt als die der anderen. Sie gerieten in Streit darüber, und keiner von ihnen war imstande, die anderen zu überzeugen, daß er recht hatte. Es sah fast so aus, als sollten sie sich ernstlich entzweien. Da kam ein alter Mann mit langem, schwarzem Haar und kleinen, zwinkernden Augen vorüber, »Worüber zankt ihr euch denn hier, ihr Leute?« fragte er. »Ihr schreit ja so, daß man es durch den ganzen Wald hören kann.«

Einer der Värmländer wandte sich rasch an den Alten. »Du bist wohl ein Finne, da du hier so hoch oben im Walde umherwanderst?« – »Freilich bin ich ein Finne,« antwortete der Gefragte. – »Das trifft sich ja gut,« sagte der Mann, »Ich habe oft gehört, ihr Finnen hättet mehr Verstand als andere Menschen.« – »Ein guter Leumund ist besser als Gold,« entgegnete der Finne, – »Wir sitzen hier und streiten uns darüber, welcher Teil von Värmland der beste ist. Könntest du es nicht vielleicht übernehmen, den Streit zu schlichten, damit wir uns um dieser Sache willen nicht entzweien?« – »Ich will entscheiden, so gut ich kann,« sagte der Finne, »aber ihr müßt Geduld mit mir haben, denn erst muß ich euch eine alte Geschichte erzählen.«

»In alten Zeiten,« begann der Finne, indem er sich zu den Männern setzte, »sah all das Land, das nördlich vom Wenersee liegt, ganz schrecklich aus. Es war so voll von kahlen Hochebenen und steilen Bergen, daß es ganz unmöglich war, sich anzubauen und dort zu leben. Wege konnten nicht gebahnt werden und der Boden war nicht urbar zu machen. Aber das Land, das südlich vom Wenersee lag, war schon zu jenen Zeiten gut und fruchtbar, so wie es noch heutigen Tages ist.

Nun wohnte damals unten im Süden ein Riese, der sieben Söhne hatte. Alle Söhne waren kecke und starke Männer, aber sie hatten einen stolzen Sinn und es herrschte oft Unfriede unter ihnen, weil ein jeder von ihnen mehr sein wollte als die anderen.

Der Vater hatte das ewige Gezänke satt, und um der Sache ein Ende zu machen, rief er eines Tages die Söhne zu sich und fragte sie, ob sie gewillt seien, sich auf eine Probe einzulassen, damit er ergründen könne, wer von ihnen der Tüchtigste sei.

Das wollten die Söhne gern. Sie verlangten nichts Besseres.

›Dann wollen wir es folgendermaßen machen,‹ sagte der Vater. ›Ihr wißt, daß nördlich von dem kleinen Teich, den wir Wenersee nennen, eine Weide liegt, die voll von Erdhügeln und kleinen Steinen ist, so daß wir keinen Nutzen davon haben. Morgen soll ein jeder von euch seinen Pflug nehmen und dahinaufgehen und soviel umpflügen, wie in einem Tage möglich ist. Gegen Abend will ich denn kommen und sehen, wer von euch das beste Stück Arbeit geschafft hat.‹

Kaum war am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen, als die sieben Brüder auch schon mit Pferden und Pflügen bereitstanden. Es war wohl der Mühe wert, sie zu sehen, als sie auf Arbeit fuhren. Die Pferde waren gestriegelt, so daß sie glänzten, die Pflugmesser waren frisch geschliffen und das Eisen blitzte. Sie fuhren fast im Galopp vondannen, bis sie an den Wenersee kamen. Da bogen zweie von ihnen ab, der älteste aber fuhr gerade aus. ›Sollte ich vor so einer kleinen Wasserlache bange sein?‹ sagte er von dem Wenersee.

Als die anderen ihn gerade darauf losgehen sahen, wollten sie nicht hinter ihm zurückstehen. Sie setzten sich auf die Pflüge und trieben die Pferde ins Wasser hinein Es waren große Pferde, und es währte eine Weile, bis sie den Grund verloren hatten und schwimmen mußten. Die Pflüge trieben auf dem Wasser, aber es war nicht leicht, sich, darauf festzuhalten. Ein paar von den Söhnen ließen sich von den Pflügen schleppen, und ein paar mußten waten. Aber sie gelangten alle hinüber und machten sich sofort daran, die Weide umzupflügen, die nicht mehr und nicht weniger war als der Landstrich, den man später Värmland und Dalsland genannt hat. Der älteste von den Söhnen sollte die mittlere Furche pflügen. Die beiden nächstältesten stellten sich zu beiden Seiten von ihm auf, die beiden, die dann im Alter folgten, nahmen an der anderen Seite von diesen Platz, und die beiden jüngsten pflügten jeder seine Furche, der eine an dem westlichen Ende der Weide, der andere an dem östlichen.

Der älteste Bruder pflügte anfangs eine gerade und breite Furche, denn der Boden unten am Wenersee war ganz flach und leicht zu behandeln. Aber bald kam er an einen Stein, der so groß war, daß er nicht daran vorüber kommen konnte, sondern den Pflug darüber hinwegheben mußte. Dann stieß er die Pflugschar mit aller Macht in die Erde und schnitt eine breite und tiefe Furche. Aber bald darauf kam er an so harten Boden, daß er abermals gezwungen war, den Pflug zu heben. Dasselbe wiederholte sich noch einmal, und er ärgerte sich darüber, daß er die Furche nicht die ganze Strecke gleich breit und tief pflügen konnte. Schließlich wurde der Boden so steinhart, daß er sich begnügen mußte, ihn nur ganz leicht mit der Pflugschar zu ritzen. Auf die Weise gelangte er aber schließlich bis an die nördliche Grenze der Weide, und dort setzte er sich hin und wartete auf den Vater.

Der zweite von den Brüdern begann auch damit, eine breite und tiefe Furche zu pflügen, und er hatte das Glück, eine gute und flache Strecke zwischen den Erdhügeln zu finden, so daß er sie ohne Unterbrechung bis zu Ende führen konnte. Hin und wieder fuhr er an einer Schlucht entlang, und je weiter er gen Norden kam, um so mehr Bogen mußte er machen, um so schmaler wurde die Furche. Aber er war so gut im Gange, daß er nicht an der Grenze anhielt, sondern noch ein gutes Stück weiter pflügte, als er nötig hatte.

Auch dem dritten Bruder, der links von dem ältesten stand, erging es anfangs ganz gut. Es gelang ihm, eine Furche zu ziehen, die breiter als die der anderen war, bald aber stieß er auf so schlechten Boden, daß er nach Westen zu abbiegen mußte. Sobald wie möglich pflügte er wieder in nördlicher Richtung und pflügte breit und tief, mußte aber innehalten, noch ehe er die Grenze erreicht hatte. Er wollte nicht gern mitten auf dem Felde halten, deswegen wendete er die Pferde und bog nach einer anderen Richtung ab. Aber schon im nächsten Augenblick war er so eingeschlossen, daß er aufhören mußte. ›Diese Furche wird wohl die schlechteste werden,‹ dachte er und setzte sich auf den Pflug, um den Vater zu erwarten.

Es ist wohl nicht notwendig zu erzählen, wie es den anderen erging. Sie bewährten sich alle als Männer. Diejenigen, die in der Mitte pflügten, hatten harte Arbeit, aber diejenigen, die östlich und westlich von diesen gingen, hatten es noch schwerer, denn da war die Erde so voll von Steinen und Sümpfen, daß es unmöglich war, die Furchen gerade und gleichmäßig zu ziehen. Was nun die beiden Jüngsten betrifft, so konnten sie kaum etwas anderes tun, als ihren Pflug wieder und wieder zu wenden, aber trotzdem brachten sie ein gutes Stück Arbeit fertig.

Als der Abend hereinbrach, saßen die sieben Brüder müde und niedergeschlagen, ein jeder am Ende seiner Furche, da und warteten.

Da kam der Vater gegangen. Er kam zuerst zu dem, der am weitesten nach Westen zu gearbeitet hatte.

›Guten Abend!‹ sagte der Vater. ›Wie ist es mit der Arbeit gegangen?‹

›Nicht allzugut,‹ sagte der Sohn. ›Es war ein schwieriges Stück Land, das Ihr uns zu pflügen gegeben habt.‹ – ›Du kehrst dem Arbeitsfeld ja den Rücken,‹ sagte der Vater. ›Dreh dich einmal um, dann kannst du sehen, was du ausgerichtet hast! Es ist gar nicht so wenig, wie du glaubst.‹

Und als der Sohn sich umwandte, sah er, daß sich dort, wo er mit seinem Pflug gegangen war, herrliche Täler mit Seen und schönen, bewaldeten Berghängen gebildet hatten. Er war ein gutes Stück durch Dalsland und die Nordmark in Värmland hindurchgekommen und hatte den Laxsee und den Lelangen und den Großen See und die beiden Silarna durchgepflügt, so daß der Vater allen Grund hatte, mit ihm zufrieden zu sein.

›Jetzt wollen wir einmal hingehen und sehen, was die anderen geschafft haben,‹ sagte der Vater. Der nächste von den Söhnen, zu dem sie kamen – es war der fünfte in der Reihe – hatte den ganzen Jösser Bezirk und den Glasfjord umgepflügt. Der dritte Sohn hatte den Värmele gepflügt, der älteste das Frykstal und den Tryksee, der zweitälteste das Älftal mit dem Klarelf. Der vierte hatte harte Arbeit im Bergwerkdistrikt gehabt und hatte den Yegen und den Daglösee außer einer Menge anderer kleiner Seen gepflügt. Der sechste hatte eine gar wunderliche Furche gezogen. Zuerst hatte er den Platz für den großen See Skagern geschaffen, dann hatte er eine schmale Furche gepflügt, die der Leteelf ausfüllte, und schließlich war er über die Grenze gekommen und hatte die kleinen Seen in dem Westmanländischen Bergwerkdistrikt herausgegraben.

Als der Vater das Pflugland gesehen hatte, sagte er, soweit er es beurteilen könne, hätten sie alle ein so gutes Stück Arbeit vollbracht, daß er damit zufrieden sein könne. Jetzt sei das Land keine Wildnis mehr, jetzt könne man darin leben und es bebauen. Sie hätten viele fischreiche Seen und fruchtbare Täler geschaffen; Elfe und Bäche bildeten Wasserfälle, die Mühlen, Sägewerke und Schmieden treiben könnten. Auf den Bergrücken zwischen den Furchen sei Platz zu Wäldern, wo Holz gefällt und Kohlenbrennerei betrieben werden könne, und nun sei auch die Möglichkeit vorhanden, geebnete Wege zu den großen Erzlagern in dem Bergwerkdistrikt anzulegen.

Die Söhne freuten sich, als sie dies alles hörten, aber nun wollten sie auch gern wissen, wessen Furche die beste sei.

›In einem Pflugland, wie dies hier,‹ sagte der Vater ›ist es von größerer Bedeutung, daß alle Furchen gut zueinander passen, als daß die eine besser ist als die andere. Ich glaube, wer zu den großen, langen Seen in der Nordmark und im Dalsland kommt, wird einräumen, daß er selten etwas Schöneres gesehen hat. Aber wenn er hernach die lichten, fruchtbaren Gegenden rings um den Glafsfjord und den Värmlen sieht, wird er sich doch freuen. Und wenn er sich dann eine Weile in den offenen, betriebsamen, betauten Gegenden aufgehalten hat, wird es ihm ein Vergnügen sein, sie mit den langen, engen Tälern am Fryken und Klarelf zu vertauschen. Und sollte er auch dieser überdrüssig werden, so wird es ihn erfrischen, die verschieden geformten Seen im Bergwerkdistrikt anzutreffen, die sich dahinschlängeln und deren so viele sind, daß niemand alle die Namen behalten kann. Nach diesen Seen mit ihren zahlreichen Buchten und Landzungen wird ihm eine so große Wasserfläche wie die der Skagern sicher eine freudige Überraschung sein. Und nun will ich euch sagen, wie es mit den gepflügten Furchen, so geht es auch mit den Söhnen: Kein Vater freut sich, wenn der eine besser ist als die anderen. Kann er aber mit gleicher Freude seinen Blick von dem Jüngsten bis zu dem Ältesten schweifen lassen, so ist sein Herz voller Freude.«

XL. In Medelpad

Freitag, 17. Juni.

Am nächsten Morgen waren der Adler und Niels Holgersen in aller Frühe unterwegs, und Gorgo hoffte, daß er an diesem Tage weit nach Västerbotten hinaufkommen würde, aber da geschah es, daß er den Jungen zu sich selbst sagen hörte, in so einem Lande wie dies, über das er nun hinfliege, müsse es doch für Menschen unmöglich sein zu leben.

Das Land, das unter ihnen lag, war das südliche Medelpad, und sie sahen nicht das Geringste weiter als wilde Wälder. Sobald aber der Adler hörte, was Niels sagte, rief er sofort: »Hier oben ist der Wald der Äcker!«

Der Junge dachte darüber nach, welch großer Unterschied doch sei zwischen den hellen, gelben Roggenfeldern mit ihren weichen Halmen, die in einem Sommer in die Höhe schossen, und dem dunklen Nadelwald mit den harten Stämmen, die Jahre brauchten, ehe sie zur Ernte reiften. »Der muß eine gute Geduld haben, der sein Auskommen von so einem Acker haben will,« sagte er.

Mehr wurde nicht gesprochen, bis sie an einen Ort kamen, wo der Wald gefällt und die Erde nur mit Baumstümpfen und abgehauenen Zweigen bedeckt war. Als sie über dies Stoppelfeld hinflogen, hörte der Adler den Jungen zu sich selbst sagen, das sei doch eine schrecklich häßliche und armselige Gegend.

»Das ist ein Acker, der im letzten Winter gemäht wurde,« rief der Adler sofort.

Der Junge dachte daran, wie die Schnitter in seiner Heimat an den schönen, hellen Sommermorgen mit ihren Mähmaschinen hinausfuhren und in ganz kurzer Zeit ein Feld mähten. Aber der Waldacker wurde im Winter gemäht. Wenn der Schnee den Erdboden hoch bedeckte und die Kälte am strengsten war, zogen die Holzfäller in das Ödland hinaus. Es war ein hartes Stück Arbeit, nur einen einzigen Baum zu fällen, und um eine Waldstrecke, so groß wie diese, zu fällen, mußten sie sicher mehrere Wochen draußen im Walde gelegen haben. »Es müssen tüchtige Leute sein, die einen solchen Acker mähen können,« sagte er.

Nachdem der Adler ein paar Flügelschläge gemacht hatte, gewahrten sie eine kleine Hütte, die am Rande des gefällten Waldes lag. Sie war aus groben, unbehauenen Baumstämmen gebaut, hatte keine Fenster und als Tür nur ein paar lose Bretter. Das Dach war mit Baumrinde und Zweigen gedeckt gewesen, es war jetzt aber eingefallen, so daß der Junge sehen konnte, daß drinnen in der Hütte nur ein paar große Steine waren, die als Herd gedient hatten und einige breite, hölzerne Bänke. Als sie über die Hütte hinflogen, hörte der Adler den Jungen sich darüber wundern, wer wohl in einer so elenden Hütte gewohnt haben könne.

»Die Schnitter, die den Waldacker gemäht haben, sie haben hier gewohnt!« rief der Adler sogleich.

Der Junge dachte daran, wie die Schnitter daheim in seiner Gegend am Abend fröhlich und vergnügt von der Arbeit heimkehrten, und wie ihnen das Beste aufgetischt wurde, was seine Mutter in der Speisekammer hatte. Hier mußten sie sich nach der harten Arbeit in einer Hütte zur Ruhe legen, die schlechter war als ein Schuppen. Und was sie hier zu essen bekamen, das konnte er wirklich nicht begreifen. »Ich fürchte, für diese Schnitter werden keine Erntefeste gefeiert!« sagte er.

Etwas weiter hin sahen sie unter sich einen schrecklich schlechten Weg, der sich durch den Wald schlängelte. Er war schmal und schief, uneben und winklig, steinig und voller Löcher und an mehreren Stellen von Bächen durchschnitten. Als sie über den Waldweg hinflogen, hörte der Adler, daß sich der Junge darüber wunderte, was wohl auf einem solchen Wege gefahren sein könne.

»Auf diesem Wege ist die Ernte in Schober gefahren,« sagte der Adler.

Wieder konnte der Junge nicht umhin daran zu denken, welch munteres Leben es daheim war, wenn die großen, mit zwei starken Pferden bespannten Erntewagen, das Korn vom Felde nach Hause brachten. Der Knecht, der fuhr, saß kerzengerade oben auf dem Fuder. Die Pferde warfen sich stolz in die Brust, und die Kinder, die Erlaubnis bekommen hatten, auf das Fuder hinaufzuklettern, saßen da oben und schrien laut, halb fröhlich, halb ängstlich. Hier aber wurden schwere Baumstämme auf steilen Hügeln hinauf und hinunter gefahren. Die Pferde mußten sich wie gerädert fühlen, und der Kutscher war gewiß manch liebes Mal in heller Verzweiflung! »Ich fürchte, man hört nicht viel muntere Reden hier auf diesem Wege,« sagte der Junge.

Der Adler schwang sich mit mächtigen Flügelschlägen durch die Luft, und nach einer Weile langten sie am Ufer eines Elfs an.

Hier sahen sie einen Platz, der ganz mit Spänen, Holzstücken und Baumrinde bedeckt war. Der Adler hörte, wie sich der Junge darüber wunderte, daß es dort unten so unordentlich aussah.

»Hier hat die Ernte in Schobern gestanden,« rief der Adler.

Der Junge dachte daran, wie die Kornschober daheim in seiner Gegend dicht neben den Höfen errichtet wurden, als seien sie ihre beste Zier. Hier fuhr man die Ernte an ein einsames Flußufer hinab und ließ sie da liegen. »Ich möchte wohl wissen, ob wohl jemand hier in die Wildnis hinauskommt und seine Schober zählt und sie mit denen des Nachbars vergleicht!« sagte er.

Nach einer Weile kamen sie an den großen Elf Ljungan, der in einem breiten Tal floß. Und wie mit einem Schlage war alles so verwandelt, daß sie hätten glauben können, sie seien in ein anderes Land gekommen. Der Nadelwald war auf den steilen Hügeln oberhalb des Tals zurückgelassen, und die Abhänge waren mit weißstämmigen Birken und mit Pappeln bewachsen. Das Tal war so breit, daß sich der Elf an vielen Stellen zu einem See erweitern konnte. Die Ufer waren mit großen, stattlichen Höfen dicht bebaut. Als sie über das Tal hinflogen, hörte der Adler, wie sich der Junge darüber wunderte, daß die Wiesen und Felder, die da lagen, für eine so große Bevölkerung ausreichen konnten.

»Hier wohnen die Schnitter, die den Waldacker mähen,« sagte der Adler.

Der Junge dachte an die niedrigen Häuser und die eng zusammengebauten Höfe in Schonen. Hier wohnten die Bauern gleichsam auf Herrenhöfen. »Es scheint, als lohne sich die Arbeit im Walde gut,« sagte er.

Der Adler hatte beabsichtigt, nordwärts, quer über den Ljungan zu fliegen, aber als er eine Strecke über den Elf hinausgekommen war, hörte er, wie der Junge sich darüber wunderte, wer sich wohl der gefällten Baumstämme annehme, nachdem sie am Flußufer in Schobern aufgeschichtet waren. Da machte Gorgo kehrt und flog in östlicher Richtung den Fluß hinab. »Der Elf nimmt sich der Baumstämme an und führt sie nach der Mühle hinab,« sagte er.

Der Junge dachte daran, wie sorgfältig man daheim acht gab, daß auch nicht ein Korn verloren ging. Hier kamen nun die großen Mengen gefällter Baumstämme den Elf hinabgeschwommen, ohne daß jemand für sie sorgte. Er war überzeugt, daß nicht mehr als die Hälfte davon anlangte, wohin sie sollten. Einige schwammen mitten in der Stromfurche, und für die ging es ganz leicht, aber da waren andere, die am Ufer entlang trieben, und die stießen gegen Landzungen an, oder sie blieben in dem stehenden Wasser der Buchten liegen. In den Seen sammelten sich die Baumstämme zu solchen Mengen, daß sie die ganze Oberfläche bedeckten. Es sah so aus, als könnten sie da liegen und sich ausruhen, so lange sie wollten. An den Brücken stauten sie sich zuweilen, und in den Wasserfällen konnte es wohl geschehen, daß sie mitten durch brachen, in den Gießbächen gerieten sie zwischen den Steinen in die Klemme und türmten sich zu hohen, wackelnden Stapeln auf. »Ich möchte wohl wissen, wie lange diese Ernte gebraucht, um bis zur Mühle zu kommen,« sagte der Junge.

Der Adler flog langsam am Ljungan entlang. An vielen Stellen ruhte er auf den Flügeln, damit der Junge Zeit hatte zu sehen, wie die Erntearbeit hierzulande vor sich ging.

Als sie eine Strecke geflogen waren, kamen sie an einen Platz, wo die Flößer arbeiteten. Und der Adler hörte den Jungen zu sich selbst sagen, was das Wohl für Leute seien, die dort am Ufer entlang liefen.

»Die sorgen für das Getreide, das unterwegs aufgehalten ist,« rief der Adler.

Der Junge dachte daran, wie ruhig und still die Leute ihr Korn daheim zur Mühle fuhren. Hier mußten Männer mit langen Bootshaken in den Händen am Ufer entlang laufen, und nur mit Not und Mühe brachten sie die Baumstämme wieder flott. Sie wateten ins Wasser hinaus und sie wurden von Kopf zu Fuß naß. Sie sprangen von Stein zu Stein weit in die Gießbäche hinein, sie spazierten auf den schaukelnden Baumstämmen so ruhig umher, als bewegten sie sich auf ebener Erde. Es waren kühne und umsichtige Männer. »Wenn ich dies sehe, muß ich an die Schmiede im Bergwerkdistrikt denken, die mit dem Feuer umgingen, als könne es nicht den geringsten Schaden anrichten,« sagte der Junge. »Diese Flößer spielen mit dem Wasser, als seien sie Herren darüber. Es sieht so aus, als hätten sie es unterjocht, so daß es ihnen nichts mehr anzuhaben wagt.«

Nach einer Weile hatten sie sich der Mündung des Elf genähert, und vor ihnen lag der Bottnische Meerbusen. Gorgo flog jedoch nicht geradeaus, sondern in nördlicher Richtung am Ufer entlang. Er war noch nicht weit geflogen, als sie unter sich ein Sägewerk sahen, das so groß war wie eine kleine Stadt. Während der Adler darüber hin und her schwebte, hörte er den Jungen zu sich selbst sagen, daß das ein großer und prächtiger Ort sei.

»Hier siehst du die große Sägemühle, die Svartrik heißt,« sagte der Adler.

Niels Holgersen dachte an die Windmühlen in seiner Heimat, die so friedlich mitten im Grünen lagen und ihre Flügel ganz langsam bewegten. Diese Mühle, wo die Waldernte gemahlen werden sollte, lag dicht am Ufer. Auf der See davor schwammen eine Menge Baumstämme, die einer nach dem andern mit eisernen Ketten eine schräge Brücke hinauf und in ein Haus geschleppt wurden, das einer großen Scheune glich. Was da drinnen mit ihnen geschah, konnte Niels nicht sehen, aber er hörte ein lautes Klappern und Bullern, und auf der andern Seite des Hauses kamen kleine, mit weißen Brettern hochbeladene Wagen herausgerollt. Die Wagen liefen auf blanken Schienen nach dem Zimmerplatz, wo die Bretter zu Stapeln aufgeschichtet wurden, die Straßen bildeten, so wie die Häuser in einer Stadt. An einer Stelle wurden neue Stapel gebaut, an einer andern Stelle wurden die alten heruntergerissen, und die Bretter an Bord von ein paar großen Schiffen geschafft, die da lagen und auf Ladung warteten. Es wimmelte hier von Arbeitern, und hinter dem Zimmerplatz lagen die Häuser, in denen sie wohnten.

»Hier wird ja so gearbeitet, daß der ganze Wald in Medelpad schließlich zersägt werden wird!« sagte der Junge.

Der Adler bewegte die Flügel ein wenig, und bald sahen sie ein neues, großes Sägewerk, das mit Sägemühle, Zimmerplatz, Hafenmole und Arbeiterwohnungen dem ersten ganz ähnlich war.

»Hier siehst du noch eine von den großen Mühlen. Sie heißt Kubikenburg,« sagte der Adler.

»Ich sehe, der Wald gibt mehr Ertrag, als ich mir vorstellen konnte,« sagte Niels. »Aber mehr Holzmühlen gibt es doch wohl nicht?«

Der Adler bewegte leise die Flügel und flog an ein paar Sägewerken vorüber, bis sie an eine große Stadt gelangten. Als der Adler hörte, wie sich der Junge darüber wunderte, was für eine Stadt das wohl sein könne, rief er ihm zu: »Das ist Sundsvall. Das ist der Hauptplatz des Bezirks.«

Der Junge dachte an die Städte unten in Schonen, die so alt und ernsthaft und grau aussahen. Hier oben in dem kalten Norden lag Sundsvall ganz drinnen in einer schönen Bucht und sah so lustig und strahlend aus. Es lag etwas weit Vergnüglicheres über dieser Stadt, wenn man sie von oben sah, denn in der Mitte ragte eine Gruppe hoher, steinerner Häuser auf, so prächtig, daß sie kaum in Stockholm ihresgleichen haben konnten. Rings um die steinernen Häuser herum war ein leerer Raum, und dann kam ein Kranz von hölzernen Häusern, die so traulich und freundlich inmitten kleiner Gärten lagen, jedoch ganz genau zu wissen schienen, daß sie viel geringer waren als die steinernen Gebäude, so daß sie sich nicht in ihre Nähe hinwagen durften. »Dies ist wohl eine reiche und mächtige Stadt,« sagte Niels. »Es ist doch nicht möglich, daß der magere Waldboden dies alles hervorgebracht haben kann?«

Der Adler bewegte die Flügel und flog nach der Insel Alnö hinüber, die Sundsvall gerade gegenüber lag. Hier geriet der Junge ganz außer sich vor Verwunderung über alle die Sägewerke, die dort am Ufer entlang lagen, eins neben dem andern, und drüben auf dem Festlande lag auch Sägewerk neben Sägewerk; Zimmerplatz neben Zimmerplatz. Er zählte mindestens vierzig, aber er glaubte, daß es noch mehr seien. »Es ist doch sonderbar, daß es hier oben so aussehen kann,« sagte er. »So ein Leben und so eine Bewegung habe ich sonst nirgends auf der ganzen Reise gesehen. Unser Land ist doch ein wunderbares Land! Wohin ich auch komme, überall ist da etwas, wovon die Menschen leben können!«

XLI. Ein Morgen in Ångermanland.


Das Brot.

Sonnabend, 18. Juni.

Als der Adler am nächsten Morgen eine Strecke nach Ångermanland hineingekommen war, sagte er, heute sei er hungrig und müsse sich etwas zu fressen verschaffen. Er setzte Niels Holgersen auf einer mächtigen Tanne ab, die auf einem hohen Bergrücken stand, und flog davon.

Der Junge suchte sich einen guten Sitzplatz in einem gegabelten Ast und saß da und sah über Ångermanland hinab. Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne vergoldete die Baumwipfel, ein leiser Wind bewegte die Nadeln wie im Spiel und der lieblichste Duft stieg aus dem Walde auf. Eine prachtvolle Landschaft lag vor Niels ausgebreitet, und ihm selber war froh und sorglos zumute. Niemand, meinte er, könne es besser haben, als er.

Er hatte eine freie Aussicht nach allen Seiten. Das Land westlich von ihm war voller Felsgipfel und Bergkuppen, die höher und wilder wurden, je ferner sie lagen. Östlich von ihm waren auch Bergabhänge, aber sie senkten sich und wurden niedriger, bis das Land unten am Meer ganz flach wurde. Überall blinkten Bäche und Flüsse, die, so lange sie zwischen den Bergen flossen, einen gefährlichen Lauf hatten mit Gießbächen und Wasserfällen, sich aber breit und blank ausdehnten, sobald sie sich dem Meeresufer näherten. Auch den Bottnischen Meerbusen konnte er sehen. In der Nahe des Landes war er mit Inseln übersät und von Landzungen ausgezackt, weiter draußen aber lag er klar und dunkelblau da wie ein Sommerhimmel.

»Dies Land sieht aus wie ein Bach, wenn es eben geregnet hat und eine Menge kleiner Rinnsale zu ihm hinabgelaufen kommen und Furchen in den Boden graben, die sich winden und krümmen und schließlich zusammenlaufen,« dachte der Junge. »Und schön ist es hier. Ich entsinne mich noch, daß der alte Lappe auf Skansen immer sagte, der liebe Gott habe Schweden, als er es auf der Erde ausbreitete, auf den Kopf gestellt. Die anderen lachten über ihn, aber er behauptete, wenn sie nur gesehen hätten, wie schön es da oben im Norden sei, so würden sie schon begreifen, daß es nicht von Anfang an beabsichtigt gewesen sei, daß ein solches Land so abseits liegen sollte. Und ich glaube wirklich, darin hat er recht gehabt.« Als der Junge sich an der Landschaft satt gesehen hatte, nahm er den Ränzel vom Rücken, holte ein Stück feines Weißbrot heraus und begann zu essen. »Ich glaube, ich habe niemals so gutes Brot gekostet,« sagte er. »Und wieviel ich noch davon habe! Das kann noch für mehrere Tage ausreichen. Gestern um diese Zeit ahnte ich nicht, daß ich in den Besitz eines solchen Reichtums kommen würde.«

Während er aß und kaute, dachte er daran, auf welche Weise er das Brot bekommen hatte. »Es schmeckt mir gewiß so gut, weil ich es auf eine so schöne Weise bekommen habe.«

Schon am vorhergehenden Abend hatte der Königsadler Medelpad verlassen, und kaum war er über die Grenze von Ångermanland gekommen, als Niels Holgersen ein Tal und einen Fluß erblickte, die an Größe alles übertrafen, was er bisher an Ähnlichem gesehen hatte.

Das Tal lag so breit zwischen den Bergrücken, daß der Junge auf den Gedanken kam, ob es nicht in früheren Zeiten von einem anderen Fluß gegraben sei, der viel größer und breiter war als der Elf, der es jetzt durchströmte. Das Tal mußte, als es fertig war, auf irgendeine Weise mit Sand und Erde angefüllt sein, nicht ganz, aber doch ein gutes Stück an den Bergen hinauf. Und durch den losen Sand hindurch hatte sich dann ein anderer Elf, der jetzt durch das Tal lief, und der ebenfalls sehr breit und wasserreich war, eine tiefe Furche gegraben. Er hatte seine Ufer auf das prächtigste zugeschnitten, bald waren es weiche Abhänge, die so köstlich blühten, daß es ganz bis zu dem Jungen hinauf rot und blau und gelb schimmerte, bald stiegen die Teile des Ufers, die so hart waren, daß das Wasser sie nicht wegwaschen konnte, gleich steilen Mauern und Türmen vom Flußufer auf.

Dort oben in der Höhe, wo Niels Holgersen flog, glaubte er auf einmal in drei verschiedene Arten Welten hinabsehen zu können. Ganz unten in der Tiefe des Tales, wo der Elf floß, war die eine Welt. Da wurden Baumstämme geflößt, da gingen Dampfschiffe von einer Brücke zur anderen, da klapperten Sägewerke, da wurden große Frachtschiffe beladen, da wurde der Lachs gefangen, da wurde gerudert und gesegelt, da flogen eine Menge Schwalben von ihren Nestern am Flußufer hin und her.

Aber ein Stockwerk höher, sozusagen zur ebenen Erde, das sich ganz bis an den Rand der Berge erstreckte, da war eine andere Welt. Da lagen Höfe, Dörfer, Kirchen, da bestellten die Bauern ihre Äcker, da graste das Vieh, da grünten die Wiesen, da waren die Frauen in ihren kleinen Gemüsegärten beschäftigt, da schlängelten sich die Landstraßen, da brausten Eisenbahnzüge dahin.

Und dann, weit entfernt von diesem allen, hoch oben auf den waldbedeckten Bergkuppen, erblickte er eine dritte Welt. Da lag das Auerhahnweibchen auf seinen Eiern, da stand der Elch versteckt in dem tiefen Waldesdickicht, da lauerte der Luchs, da knabberte das Eichhörnchen, da dufteten die Tannen, da standen die Blaubeeren in Blüte, da schlug die Drossel ihre Triller.

Als Niels Holgersen das reiche Flußtal erblickte, fing er an, über Hunger zu klagen. Zwei Tage lang hatte er nichts zu essen bekommen, sagte er, und nun sei er ganz ausgehungert.

Gorgo konnte sich nicht darein finden, daß gesagt werden könne, der Junge habe es schlechter gehabt, als er mit ihm gereist sei, als bei den Wildgänsen, und er flog sogleich langsamer. »Warum hast du nicht früher davon gesagt?« fragte er. »Du sollst soviel zu essen haben, wie du nur willst. Du brauchst nicht zu hungern, wenn du einen Adler zum Reisekameraden hast.«

Gleich darauf gewahrte der Adler einen Bauern, der ganz unten am Ufer des Flusses ein Feld besäte. Das Korn war in einem Korb, der dem Mann vorn auf der Brust herabhing, und jedesmal, wenn der Korb leer war, holte er neues Saatkorn aus einem Sack, der am Ackerrain stand. Der Adler konnte sich wohl ausrechnen, daß der Sack voll von dem Besten war, was sich der Junge nur wünschen konnte, und er ließ sich hinabsinken.

Ehe aber der Adler noch den Boden erreicht hatte, entstand ein entsetzlicher Lärm rings um die beiden. Da kamen Krähen und Spatzen und Schwalben dahergeschossen und schrien ganz ohrenbetäubend, in dem Glauben, daß sich der Adler auf einen Vogel stürzen wolle. »Weg, weg, du Räuber! Weg, weg, du Vogelmörder!« riefen sie. Sie machten einen solchen Spektakel, daß der Bauer aufmerksam darauf wurde und herbeigelaufen kam. Da sah sich der Adler genötigt zu fliehen. Der Junge hatte nicht ein einziges Körnchen bekommen.

Es war ganz merkwürdig mit diesen kleinen Vögeln. Nicht genug, daß sie den Adler zwangen, zu fliehen, sie verfolgten ihn auch noch eine ganze Strecke das Tal entlang, und überall hörten die Leute ihr Geschrei, die Frauen kamen auf den Hofplatz hinaus und klatschten in die Hände, so daß es knallte wie Gewehrsalven, und die Männer kamen, die Büchse in der Hand, herbeigestürzt.

Und so erging es jedesmal, wenn sich der Adler auf die Erde herabsinken ließ. Der Junge hatte die Hoffnung, daß ihm der Adler Nahrung verschaffen könne, schon ganz aufgegeben. Er hatte nie gewußt, daß Gorgo so verhaßt und verabscheut war. Er war nahe daran, Mitleid mit ihm zu haben.

Nach einer Weile flogen sie über einen großen Bauerhof, wo die Hausfrau offenbar einen großen Backtag gehabt hatte. Sie hatte eine Platte mit frischgebackenem Weißbrot zum Abkühlen auf den Hofplatz gestellt, und stand selbst daneben und gab acht, daß weder der Hund noch die Katze kamen und die Brote stahlen.

Der Adler ließ sich auf den Hof hinab, aber er wagte nicht, sich gerade vor den Augen der Bäuerin niederzulassen. Er flog ratlos hin und her. Ein paarmal war er ganz dicht über dem Schornstein, flog aber wieder in die Höhe.

Aber dann gewahrte die Bäuerin den Adler. Sie erhob den Kopf und verfolgte ihn mit den Augen. »Wie sonderbar sich doch der Vogel gebärdet!« sagte sie. »Ich glaube, er will eins von meinen Weißbroten haben!«

Es war eine schöne Frau, groß und blond mit einem offenen und fröhlichen Gesicht. Sie lachte so herzlich, nahm ein Brot von der Platte und hielt es hoch über ihrem Kopf. »Wenn du das haben willst, so nimm es!« sagte sie.

Der Adler konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber er war sich doch gleich klar darüber, daß sie ihm das Brot schenken wollte. In sausender Fahrt schoß er herunter, schnappte nach dem Brot und hob sich wieder in die Luft empor.

Als der Junge den Adler das Brot ergreifen sah, traten ihm Tränen in die Augen. Teils weinte er aus Freude, weil er nun mehrere Tage nicht zu hungern brauchte, teils war er gerührt darüber, daß die Bäuerin dem wilden Raubvogel ihr Brot gegeben hatte.

Und während er nun hier in dem Tannenwipfel saß, konnte er, sobald er nur wollte, die große, blonde Frau vor sich sehen, wie sie da auf dem Hofplatz stand und das Brot in die Höhe hob.

Sie wußte sicher, daß der große Vogel ein Königsadler war, ein Räuber, den die Leute sonst mit scharfen Schüssen begrüßten, und sie sah wohl auch den wunderlichen Wechselbalg, den er auf dem Rücken trug, aber sie hatte sich nicht daran gekehrt, wer sie waren; sobald sie begriff, daß sie hungrig waren, teilte sie ihr gutes Brot mit ihnen.

»Wenn ich jemals wieder ein Mensch werde,« dachte der Junge, »so will ich hinaufreisen und sehen, daß ich die schöne Bäuerin an dem großen Elf finde, und dann will ich ihr danken, weil sie so gut gegen uns gewesen ist.«

Waldbrand

Während Niels Holgersen noch mit seinem Frühstück beschäftigt war, spürte er einen schwachen Brandgeruch, der von Norden kam. Er wendete sich gleich nach dieser Seite um und sah eine ganz dünne Rauchsäule wie einen weißen Nebel von einer bewaldeten Bergkuppe aufsteigen, nicht von der nächsten, sondern von der zweiten aus der dahinterliegenden Bergreihe. Es sah merkwürdig aus, dieser Rauch mitten in dem wilden Wald, aber es war ja möglich, daß dort eine Sennhütte lag, und daß die Sennerinnen ihren Morgenkaffee kochten.

Sonderbar war es doch, wie der Rauch zunahm und sich ausbreitete. Von einer Sennhütte konnte er nicht kommen, aber es waren vielleicht Köhler im Walde. Auf Skansen hatte er eine Köhlerhütte und einen Kohlenmeiler gesehen, und er hatte gehört, daß es etliche davon hier in diesen Wäldern gäbe. Aber sonst hatten die Köhler doch nur im Herbst und im Winter brennende Meiler.

Der Rauch nahm mit jedem Augenblick zu. Jetzt wogte er über die ganze Bergkuppe hin. Es war ja gar nicht möglich, daß ein Kohlenmeiler so viel Rauch geben konnte! Irgendwo mußte eine Feuersbrunst sein, denn eine Menge Vögel flogen auf und zogen nach der nächsten Bergkuppe hinüber. Habichte und Auerhähne und andere Vögel, die so klein waren, daß man sie unmöglich erkennen konnte, flohen vor dem Brande.

Die kleine, weiße Rauchsäule war zu einer schweren, weißen Wolke herangewachsen, die sich über den Rand der Bergkuppe wälzte und in das Tal hinabsenkte. Und aus der Wolke heraus flogen Funken und Rußflocken, und hin und wieder konnte man drinnen in dem Rauch auch eine rote Flamme sehen. Es mußte eine gewaltige Feuersbrunst da drüben ausgebrochen sein. Aber was in aller Welt brannte denn dort? Es konnte doch unmöglich ein großer Bauerhof im Walde versteckt liegen?

Aber es mußte auch mehr als ein Hof sein, was diese große Feuersbrunst verursachte. Jetzt kam nicht nur Rauch von der Bergkuppe herunter, sondern auch aus dem Tal, das er nicht sehen konnte, weil es von dem zunächstliegenden Bergrücken verdeckt wurde, stiegen große Rauchmassen auf. Es war nicht anders möglich, der Wald selbst mußte brennen.

Es ward dem Jungen schwer, den Gedanken in seinen Kopf hineinzubringen, daß der frische, grüne Wald brennen könne, aber es hing doch wohl so zusammen. Wenn der Wald aber wirklich brannte, da konnte das Feuer vielleicht auch zu ihm herüberkommen? Sehr wahrscheinlich war das ja nicht, aber es würde doch angenehm sein, wenn der Adler bald zurückkäme. Es war sicher am besten, hier wegzukommen. Schon allein der Brandgeruch, den er mit jedem Atemzuge einsaugen mußte, war unleidlich.

Welch ein entsetzliches Knattern und Krachen jetzt auf einmal! Es kam von der ihm zunächst liegenden Bergkuppe. Ganz oben stand dort eine Tanne, ebenso hoch wie die, auf der er saß. Sie war so hoch, daß sie über alle die andern Bäume herausragte. Eben noch stand sie errötend in der Morgensonne da, jetzt glühten auf einmal alle ihre Nadeln; das Feuer hatte sie erreicht. So schön war sie wohl nie zuvor gewesen, aber es war auch das letztemal, daß sie ihre Schönheit zeigen konnte. Sie war der erste Baum auf dieser Bergkuppe, der Feuer fing, und es war nicht zu begreifen, wie das Feuer bis zu ihr hatte gelangen können. War es auf roten Schwingen dahergeflogen, oder war es zischend am Boden entlang gekrochen wie eine Schlange? Das war nicht gut zu sagen, aber nun war es einmal da. Die ganze Tanne flammte auf wie ein Haufen Reisig.

So! Nun schlug weißer Rauch an verschiedenen Stellen der Kuppe durch. Der Waldbrand war Vogel und Schlange zugleich. Er konnte sich ein weites Stück durch die Luft schleudern, wie auch am Erdboden entlangkriechen. Er zündete den ganzen Wald auf einmal an.

Die Vögel flohen in wilder Hast. Gleich großen Rußflocken kamen sie aus dem Rauch herausgeflattert, flogen quer über das Tal und kamen nach dem Berg hinüber, auf dem der Junge saß. Ein Uhu setzte sich neben ihn in die Tanne, und gerade über ihm ließ sich ein Habicht auf einem Zweig nieder. Zu andern Zeiten wären es gefährliche Nachbarn gewesen, aber jetzt sahen sie ihn nicht einmal. Sie starrten nur in das Feuer und konnten wohl nicht begreifen, was da im Walde vor sich ging. Ein Marder kam auch in den Wipfel der Tanne hinaufgesprungen, stellte sich auf die äußerste Spitze eines Zweiges und sah mit seinen blanken Augen nach der brennenden Waldkuppe hinüber. Dicht neben dem Marder saß ein Eichhörnchen, aber die beiden schienen einander gar nicht zu sehen.

Jetzt wälzte sich das Feuer den Abhang hinunter ins Tal. Es fauchte und dröhnte wie ein brausender Sturm. Durch den Rauch hindurch konnte man die Flammen von Baum zu Baum fliegen sehen. Ehe eine Tanne in Brand geriet, wurde sie erst in einen dünnen Rauchschleier gehüllt, dann wurden alle Nadeln auf einmal rot, und dann begann es zu knistern und zu brennen.

Unten im Tal unter ihm floß ein kleiner Bach, dessen Ufer mit Erlen und kleinen Birken bekränzt war. Es sah aus, als wolle das Feuer hier haltmachen. Die Laubbäume gerieten nicht so schnell in Brand wie die Nadelbäume. Der Waldbrand blieb hier stehen wie vor einer Mauer, und konnte nicht weiterkommen. Er glühte und sprühte Funken und versuchte, nach dem Fichtenwald auf der andern Seite des Baches hinüber zu springen; aber es gelang ihm nicht.

Für eine Weile war das Feuer zum Stillstand gebracht, dann aber sprang eine lange Flamme nach der großen, abgestorbenen Fichte hinüber, die am Abhang wuchs, und sofort stand sie in hellen Flammen. Und damit war das Feuer über den Bach hinübergelangt. Die Hitze war so stark, daß jeder Baum am ganzen Abhang bereit war. Feuer zu fangen. Und mit Brausen und Bullern wie der heftigste Sturm und der wildeste Wasserfall flog der Waldbrand zur Bergkuppe hinauf.

Da flogen der Habicht und der Uhu davon, und der Marder schoß von dem Baum herunter. In wenigen Augenblicken würde das Feuer den Wipfel der Fichte erreicht haben. Der Junge mußte wohl auch sehen, daß er herunterkam. Aber es war nicht leicht, an dem hohen, geraden Stamm der Tanne herabzuklettern. Er hielt sich daran fest, so gut er konnte; ließ sich lange Strecken wie von einem Zweig zum andern gleiten und stürzte schließlich heftig zu Boden. Aber er hatte keine Zeit, um nachzufühlen, ob er sich verletzt hatte. Es galt jetzt zu entkommen. Gleich einem zischenden Blitz schlug das Feuer in die Fichte. Der Boden unter ihm war heiß und fing an zu rauchen. An der einen Seite neben ihm rannte ein Luchs, an der andern ringelte sich eine lange Kreuzotter und dicht neben der Kreuzotter gluckte eine Birkhenne, die mit ihren kleinen flaumigen Jungen davon eilte.

Als die Flüchtlinge den Abhang hinunter und in das Tal gekommen waren, stießen sie auf Leute, die ausgezogen waren, um das Feuer zu löschen. Sie waren wohl schon lange dagewesen, aber der Junge hatte so beharrlich nach der andern Richtung gestarrt, aus der das Feuer kam, daß er sie nicht bemerkt hatte. Auch hier unten in diesem Tal floß ein Bach, den ein breiter Rand von Laubbäumen umsäumte, und in diesem Schutz arbeiteten die Leute. Sie fällten die Nadelbäume, die den Erlen zunächst standen, schöpften Wasser aus dem Bach und gossen es auf den Erdboden und rissen Heidekraut und Maiblumen aus, damit sich das Feuer nicht durch das Gestrüpp seinen Weg bahnen sollte.

Auch sie dachten an nichts anderes als an den Waldbrand, der sich ihnen entgegenwälzte. Die fliehenden Tiere liefen ihnen zwischen den Beinen durch, aber sie sahen sie nicht. Sie schlugen nicht nach der Kreuzotter, sie suchten nicht die Birkhenne zu fangen, die dort am Bach mit den kleinen piepsenden Jungen hin und her lief, sie beachteten nicht einmal Däumling. Sie standen mit großen Fichtenzweigen da, die sie in den Bach getaucht hatten, und die sie offenbar als Waffen gegen das Feuer gebrauchen wollten. Es waren ihrer nicht gar viele. Es war ein merkwürdiger Anblick, wie sie so dastanden, um zu kämpfen, während alles andere flüchtete.

Als das Feuer mit Bullern und Dröhnen und unleidlicher Hitze und erstickendem Rauch den Abhang hinunterkam, bereit, über den Bach mit seiner Mauer aus Laubbäumen zu springen und nach dem andern Ufer hinüber zu gelangen, ohne auch nur haltzumachen, da wichen im ersten Augenblick die Menschen zurück, als könnten sie ihm keinen Einhalt gebieten. Aber sie flohen nicht weit; sie kehrten wieder um.

Mit gewaltiger Kraft stürmte der Waldbrand drauf los. Die Funken stürzten wie ein Feuerregen auf die Laubbäume nieder, die langen Flammen schlugen zischend aus dem Rauch heraus, als wenn der Wald sie auf der andern Seite einsöge.

Aber die Laubbäume hemmten das Feuer, und hinter ihnen arbeiteten die Menschen. Wo die Erde zu rauchen begann, holten sie Wasser in ihren Eimern und kühlten sie ab. Wenn ein Baum in Rauch eingehüllt wurde, griffen sie ihn mit eiligen Axtschlägen an, hieben ihn um und löschten die Flammen. Wo das Feuer im Heidekraut schwälte, schlugen sie es mit den nassen Fichtenzweigen nieder und erstickten es.

Der Rauch wurde so dicht, daß er alles einhüllte. Es war nicht zu sehen, wie es mit dem Kampf vorwärts ging, aber man konnte ja freilich wissen, daß er hart werden würde, und mehrmals war es nahe daran, daß der Brand sich weiter ausbreiten würde.

Aber endlich, nach einer Weile, nahm das heftige Knistern des Feuers ab, und der Rauch verteilte sich ein wenig. Da hatten die Laubbäume alle ihre Blätter verloren, die Erde unter ihnen war versengt, die Menschen waren schwarz von Rauch und in Feuer gebadet, aber dem Waldbrand war Einhalt getan. Er flammte nicht mehr. Weiß und weich glitt der Rauch am Boden hin, und eine Menge schwarzer Stangen tauchten daraus auf. Das war alles, was von dem prächtigen Wald übriggeblieben war.

Der Junge war auf einen Stein hinaufgeklettert, und dort hatte er gestanden und zugesehen, wie das Feuer gelöscht wurde. Aber jetzt, wo der Wald gerettet war, begann für ihn die Gefahr; der Uhu und der Habicht richteten auf einmal ihre Blicke auf ihn.

Da hörte er eine wohlbekannte Stimme seinen Namen rufen. Der Königsadler Gorgo kam durch den Wald heruntergesaust. Und bald schaukelte der Junge hoch oben in den Wolken, von jeder Gefahr erlöst.

XLII. Västerbotten und Lappland


Die fünf Kundschafter.

Als Niels Holgersen noch auf Skansen war, saß er einmal unter der Treppe, die nach dem Bollnäshause hinaufführte und hörte Klement und den alten Lappen von Norrland reden. Sie waren sich darin einig, daß es der beste Teil von ganz Schweden sei, aber Klement Larsson gab den Landschaften südlich vom Angermanelf den Vorzug, während der Lappe behauptete, daß die nördlich von diesem Fluß gelegenen die wichtigsten seien.

Wie sie so dasaßen und darüber sprachen, kam es heraus, daß Klement nie nördlicher als in Hernosand gewesen war, und da konnte sich denn der Lappe nicht anhalten, darüber zu lachen, daß er sich mit so großer Bestimmtheit über Gegenden äußerte, die er niemals gesehen hatte. »Ich muß dir wohl eine Geschichte erzählen, Klement, damit du Bescheid weißt, wie es in Västerbotten und in Lappland, in dem großen Sameland, aussieht, wo du noch niemals gewesen bist,« – »Das soll niemand von mir sagen, daß ich eine Geschichte nicht hätte hören wollen, ebenso wenig, wie man von dir sagen kann, daß du eine Tasse Kaffee ausgeschlagen hättest,« entgegnete Klement, und der alte Lappe begann, seine Geschichte zu erzählen.

»Einstmals, Klement, geschah es, daß die Vögel, die unten in Schweden, südlich von dem Sameland wohnten, fanden, daß es ihnen an Wohnraum gebrach, und da dachten sie daran, weiter nordwärts zu ziehen.

Sie versammelten sich und hielten Rat. Die Jungen und Eifrigen wollten sogleich umziehen, aber die Alten und Klugen setzten es durch, daß zuerst Kundschafter ausgesandt würden, um das fremde Land zu erforschen. ›Jedes von den fünf großen Vogelvölkern soll einen Kundschafter aussenden,‹ sagten die Klugen, ›damit wir erfahren können, ob wir da oben im Norden Brutplätze, Nahrung und Schlupfwinkel finden können‹.«

Die fünf großen Vogelvölker wählten sogleich fünf gute und kluge Vögel. Die Waldvögel wählten einen Auerhahn, die Vögel aus der Ebene eine Lerche, die Seevögel eine Fischmöwe, die Süßwasservögel eine Lumme und die Bergvögel einen Schneesperling.

Als diese fünf die Reise antreten wollten, sagte der Auerhahn, der der Größte und Gebieterischste war: ›Es sind große Länderstrecken, die vor uns liegen. Wenn wir zusammen reisen, so währt es lange, bis wir über all das Land hingeflogen sind, das wir erforschen sollen. Fliegt dahingegen ein jeder von uns für sich allein und untersucht seinen Teil des Landes, so kann unser Auftrag im Laufe von ein paar Tagen ausgeführt sein.«

Die vier andern Kundschafter fanden, daß dies ein guter Vorschlag war und richteten sich danach. Sie einigten sich dahin, daß der Auerhahn den mittleren Teil des Landes untersuchen sollte, die Lerche sollte ein Stück weiter östlich fliegen, und die Fischmöwe noch weiter gen Osten, da, wo das Land nach dem Meere zu abfällt. Die Lumme übernahm es, eine Strecke östlicher zu fliegen als der Auerhahn, und der Schneesperling sollte am allerweitesten nach Westen zu, an der Landesgrenze entlang fliegen.

In dieser Ordnung flogen die fünf Vögel gen Norden, soweit das Land reichte. Dann kehrten sie zurück und erzählten den versammelten Vögeln, was sie gesehen hatten.

Die Fischmöwe, die am Strande entlang geflogen war, ergriff zuerst das Wort.

›Es ist ein gutes Land da oben im Norden,‹ sagte sie, ›Es besteht aus nichts weiter als einer einzigen Reihe von Schären. Es wimmelt dort von fischreichen Sunden und bevölkerten Landzungen und Inseln. Die meisten von den Inseln sind unbewohnt, und die Seevögel werden dort Brutplätze in reicher Menge finden. Die Menschen treiben ein wenig Fischfang und Seefahrt in den Sunden, doch nicht so viel, daß es uns Vögel stören könnte. Wenn das Volk der Seevögel meinem Rate folgen will, sollte es unverzüglich gen Norden ziehen.‹

Nach der Fischmöwe sprach die Lerche, die das Land innerhalb der Küste untersucht hatte.

›Ich kann nicht begreifen, was die Möwe mit ihren Inseln und Landzungen meint,‹ sagte sie. ›Ich habe nichts weiter gesehen als große Felder und liebliche, blühende Wiesen. Nie im Leben habe ich ein Land gesehen, daß von so vielen, großen Flüssen durchschnitten ist. Es war eine Wonne, sie in all ihrer breiten Gewalt durch die flachen Ebenen so ruhig und gleichmäßig strömen zu sehen. An den Ufern der Flüsse liegen die Höfe so dicht wie die Häuser in einer Straße, und an den Mündungen der Elfe sind Städte, sonst aber ist das Land sehr spärlich bebaut. Wenn die Vögel der Ebene meinem Rat folgen wollen, so ziehen sie sogleich gen Norden.‹

Nach der Lerche kam der Auerhahn, der über den mittleren Teil des Landes hinweggeflogen war.

›Ich begreife weder, was die Lerche mit ihren Wiesen, noch was die Fischmöwe mit ihren Schären meint,‹ sagte er. ›Ich habe auf der ganzen Reise nichts anderes gesehen als Fichtenwälder und Tannenwälder. Eine Menge großer Moore, und viele brausende und reißende Elfe gibt es dort auch, aber alles, was nicht Moor oder Elf ist, das ist dunkler Tannenwald. Weder Felder noch menschliche Wohnungen habe ich gesehen. Wenn die Waldvögel meinem Rat folgen wollen, so ziehen sie sogleich nordwärts.‹

Nach dem Auerhahn berichtete die Lumme, die den Landstrich jenseits der Waldgegend untersucht hatte.

›Ich begreife nicht, was der Auerhahn mit seinen Wäldern meint, und ich begreife auch nicht, wo die Lerche und die Fischmöwe ihre Augen gehabt haben. Es ist fast kein Land dort oben; nichts als große Seen. Dunkelblaue Bergseen, von schönen Ufern umgeben, und hin und wieder wird der See zu einem brausenden Wasserfall. Ich habe an einigen dieser Seen Kirchen gesehen und große Dörfer, andre aber lagen einsam und friedlich da. Wenn die Süßwasservögel meinen Rat befolgen wollen, ziehen sie sogleich gen Norden.‹

Schließlich sprach der Schneesperling, der an der Landesgrenze entlang geflogen war.

›Ich begreife nicht, was die Lumme mit ihren Seen meint, und es ist mir auch unmöglich zu begreifen, was für ein Land der Auerhahn und die Lerche und die Fischmöwe gesehen haben,‹ sagte er.

›Ich fand ein großes Gebirgsland da oben im Norden. Ich habe keine Ebene angetroffen und auch keine großen Wälder, dahingegen einen Berggipfel nach dem andern, eine Felsenfläche nach der andern. Ich habe Eisfelder gesehen und Schnee und Gebirgsbäche mit Wasser so weiß wie Milch. Keine Felder, keine Wiesen erblickte mein Auge, nur große, mit Weiden, Zwergbirken und Renntiermoos bedeckte Flächen. Keine Haustiere, keine Bauern, keine Höfe traf ich hier an, dahingegen Lappen, Renntiere und Lappenzelte. Wenn die Gebirgsvögel meinem Rate folgen wollen, so ziehen sie unverzüglich gen Norden!‹

Nachdem die fünf Kundschafter also gesprochen hatten, schalten sie sich gegenseitig Lügen und waren schon im Begriff, einander in die Federn zu fahren und zu kämpfen, um die Wahrheit ihrer Worte zu beweisen, Aber die alten, klugen Vögel, die sie ausgesandt, hatten voll Freude gehört, was sie erzählten. Sie beruhigten die Kampflustigen.

›Streitet euch nicht,‹ sagten sie. ›Soviel haben wir aus euren Worten erfahren, daß da oben im Norden großes Gebirgsland und großes Seenland und großes Waldland und große Ebenen und große Schären sind. Das ist mehr als wir erwartet hatten. Nicht viele große Königreiche können sich rühmen, so viel in ihren Grenzen zu besitzen.«

Das wandernde Land.

Sonnabend, 18. Juni.

Jetzt, wo Niels Holgersen selbst über das Land hinflog, von dem der alte Lappe erzählt hatte, mußte er an diese Geschichte denken. Der Adler hatte ihm gesagt, daß der flache Küstenstrich, der unter ihnen ausgebreitet lag, Västerbotten sei, und daß die blauenden Bergkuppen weit hinten im Westen in Lappland lägen.

Schon allein das Bewußtsein, nach all der Angst, die er während des Waldbrandes ausgestanden hatte, wieder wohlbehalten auf Gorgos Rücken zu sitzen, war ein Glück, aber die Reise selbst war auch wunderbar schön. Am Morgen war Nordwind gewesen, aber jetzt hatte sich der Wind gedreht, so daß sie mit ihm flogen, und keinen Zug spürten. Der Flug war so gleichmäßig, daß es zuweilen schien, als stünden sie ganz still in der Luft. Der Junge hatte ein Gefühl, als schlage der Adler fortwährend mit den Flügeln, ohne vom Fleck zu kommen. Und doch war unter ihnen alles in Bewegung. Die ganze Erde, und alles darauf glitt langsam südwärts. Die Wälder, die Häuser, die Wiesen, die Zäune, die Elfe, die Städte, die Schäreninseln, die Sägewerke, alles war auf der Wanderschaft. Er überlegte, wohin das wohl alles wollte. War es müde geworden, so hoch oben im Norden zu wohnen, und wollte es südwärts ziehen?

Zwischen alledem, was sich bewegte und gen Süden zog, sah er nur eins, was still stand, und das war ein Eisenbahnzug. Er stand gerade unter ihnen, und es ging dem Zuge genau so wie Gorgo, er konnte nicht vom Fleck kommen. Die Lokomotive spie Rauch und Funken aus, bis oben hinauf zu dem Jungen konnte man hören, wie die Räder auf den Schienen rasselten, aber der Zug rührte sich nicht. Die Wälder glitten an ihm vorbei, die Bahnwärterhäuschen glitten daran vorüber, Schlagbäume und Telegraphenstangen glitten vorüber, aber der Zug stand still. Ein breiter Elf mit einer langen Brücke kam ihm entgegen, aber der Elf und die Brücke glitten ohne die geringste Schwierigkeit unter dem Zuge durch. Schließlich kam ein Bahnhof dahergelaufen. Der Stationsvorsteher stand mit seiner roten Fahne in der Hand auf dem Bahnsteig lind glitt ganz langsam an den Zug heran. Als er die kleine Fahne schwenkte, entsandte die Lokomotive einige Rauchwirbel in die Luft, die noch schwärzer waren als vorher, und pfiff jämmerlich, als wolle sie sich darüber beklagen, daß sie nicht vorwärtskommen könne. Aber im selben Augenblick fing sie an zu gehen. Ebenso wie der Bahnhof und all das andere glitt sie südwärts dahin, Der Junge sah, wie die Wagentüren geöffnet wurden und die Reisenden ausstiegen, während sich sowohl der Zug, als auch die Reisenden in südlicher Richtung weiter bewegten. Da aber wandte Niels Holgersen seine Augen von der Erde ab und versuchte geradeaus zu sehen. Er hatte ein Gefühl, als werde er ganz schwindlig, wenn er diesen wunderlichen Eisenbahnzug ansah.

Als jedoch der Junge eine Weile dagesessen und eine kleine weiße Wolke angestarrt hatte, wurde er auch davon müde und sah wieder hinunter. Noch immer war es, als wenn er und der Adler sich nicht bewegten, während alles andere südwärts sauste. Wie er da so auf dem Rücken des Adlers saß und zu seiner Unterhaltung nichts hatte als seine eigenen Gedanken, schien es ihm spaßhaft zu denken, wie es sein würde, wenn ganz Västerbotten in Bewegung geriet und gen Süden zog. Wenn nun das Feld, das gerade in diesem Augenblick unter ihm dahinglitt, und das wohl eben erst bestellt war, denn er konnte nicht einen einzigen grünen Halm darauf erblicken, – nach der Südebene in Schonen hinuntersauste, wo der Roggen um diese Zeit schon Ähren angesetzt hatte!

Die Tannenwälder sahen hier oben ganz anders aus. Die Bäume standen weit auseinander, die Zweige waren kurz, die Nadeln waren fast schwarz, viele Bäume waren an den Wipfeln verdorrt und sahen krank aus. Die Erde unter ihnen war mit alten Stämmen bedeckt, die wegzuschaffen sich niemand die Mühe gemacht hatte. Wenn nun ein solcher Wald so weit käme, daß er den Kolmården sehen konnte! Da würde er sich gewiß sehr ärmlich vorkommen.

Und der Garten, den er jetzt unter sich sah! Es waren schöne Bäume darin, aber weder Obstbäume noch edle Linden und Kastanien, nur Ebereschen und Birken. Es waren schöne Büsche darin, aber weder Goldregen noch Flieder, nur Faulbäume und Hollunder. Gemüsebeete waren auch da, aber sie waren noch nicht umgegraben und bepflanzt. Wenn nun so ein Küchengarten ganz nach einem Schloßgarten in Sörmland angefahren käme! Da würde er sicher von sich selbst denken, daß er nichts weiter sei als eine Einöde.

Oder die Wiese dort, die mit so vielen kleinen, grauen Scheunen bedeckt war, daß man glauben sollte, die halbe Erde sei zu Bauplätzen geworden! Wenn die nach der Ostgötaebene hinunter triebe, da würden alle Bäume dort unten wahrlich große Augen machen.

Aber wenn das große Moos, das nun unter ihm lag, ganz mit Fichten bewachsen wäre, die nicht steif und kerzengerade daständen wie in gewöhnlichen Wäldern, sondern buschige Zweige und üppige Kronen hätten und sich in anmutigen Gruppen auf dem schönsten Teppich aus Weißem Renntiermoos aufgestellt hätten, wenn dies Moos dann den Weg nach dem Ovedkloster-Park hinab einschlüge, da würde der prächtige Park schon einräumen müssen, daß er seinesgleichen gefunden habe.

Und wenn die hölzerne Kirche da unten unter ihm mit ihren mit rotem Holz bekleideten Wänden, mit dem buntbemalten Glockenturm und mit einer ganzen kleinen Stadt von grauen »Kirchenbuden« daneben an einer der gotländischen Kirchen mit ihren dicken Ziegelsteinmauern vorbeigesaust kämen! Die mußten einander wirklich viel zu erzählen haben.

Aber der Stolz und die Ehre der ganzen Landschaft waren die gewaltigen, finsteren Elfe mit ihren prächtigen Tälern voll von Höfen, ihren Unmengen von Bauholz, ihren Sägewerken, ihren Städten mit dem Gewimmel von Dampfschiffen an den Mündungen. Ließ sich so ein Elf unten im Lande blicken, so würden alle Bäche und Elfe südlich vom Dalelf vor Scham in die Erde versinken.

Und wenn so eine unermeßlich große Ebene, die so gut gelegen und so leicht zu bebauen war, vor den Augen der armen Bauern in Småland dahergeglitten käme! Da würden sie von ihren mageren Grundstücken und den kleinen, steinigen Äckern herbeigestürzt kommen, um sie zu roden und zu bestellen.

Etwas aber war da, woran diese Landschaft reicher war als alle anderen, nämlich an Licht. Die Kraniche schliefen stehend auf den Mooren, die Nacht mußte gekommen sein, aber das Licht war noch da. Die Sonne war noch nicht südwärts gewandert wie alles übrige. Dahingegen war sie nun so weit nach Norden gegangen, daß sie dastand und ihm gerade ins Gesicht schien. Und sie schien gar nicht die Absicht zu haben, über Nacht noch bis an den Horizont hinabzusinken. Wenn dies Licht und diese Sonne auf Vester Vemmenhög herabschienen! Das würde etwas für den Häusler Holger Nielssen und seine Frau sein, – ein Arbeitstag, der vierundzwanzig Stunden lang war!

Der Traum.

Sonntag, 19. Juni.

Niels Holgersen hob den Kopf und sah sich um, auf einmal ganz wach. Das war doch sonderbar! Hier lag er und hatte an einem Ort geschlafen, wo er nie zuvor gewesen war. Nein, er hatte noch nie das Tal gesehen, in dem er lag, und auch nie die Berge, die ihn umgaben. Er kannte nicht den runden See, der mitten in dem Tal lag und hatte nie im Leben solche armselige und verkrüppelte Birken gesehen wie die, unter denen er jetzt lag.

Und wo war der Adler? Er konnte ihn nirgends entdecken. Gorgo mußte ihn verlassen haben. Welch ein Abenteuer!

Der Junge legte sich wieder an die Erde nieder, schloß die Augen und versuchte sich darauf zu besinnen, wie alles gewesen war, ehe er einschlief.

Er erinnerte sich, daß es ihm die ganze Zeit, während er über den Västerbotten dahinflog, so gewesen war, als stünden er und der Adler da oben in der Luft ganz still auf demselben Fleck, während das Land unter ihnen gen Süden zog. Aber dann bog der Adler nach Nordwesten ab, sie bekamen den Wind von der Seite, er konnte wieder den Luftzug spüren, und im selben Augenblick stand das Land da unten still, und er fühlte, daß der Adler ihn mit Windeseile davontrug.

»Jetzt fliegen wir nach Lappland hinein!« sagte Gorgo, und der Junge beugte sich vor, um die Landschaft zu sehen, von der er so viel gehört hatte.

Er fühlte sich jedoch ziemlich enttäuscht, als er nichts weiter sah als große Wälder und weite Moore. Da war Wald und Moor und Moor und Wald bis ins Unendliche. Die große Einförmigkeit machte ihn schließlich so schläfrig, daß er nahe daran war, herunterzustürzen.

Da sagte er zu Gorgo, daß er es nicht länger aushalten könne, auf dem Adlerrücken zu sitzen, er müsse durchaus ein wenig schlafen. Gorgo ließ sich sofort auf die Erde herabsinken, und der Junge warf sich auf das Moos, dann aber packte ihn Gorgo mit den Fängen und schwang sich mit ihm in die Luft empor. »Schlafe du nur, Däumling!« rief er. »Mich hält der Sonnenschein wach, und ich will die Reise fortsetzen.«

Und obwohl der Junge höchst unbequem zwischen den Fängen des Adlers hing, schlief er wirklich ein und im Schlaf hatte er einen Traum.

Es war ihm, als sei er auf einer breiten Landstraße unten in dem südlichen Schweden und als laufe er so schnell, wie seine kleinen Beine ihn tragen konnten. Er war nicht allein, sondern eine Menge anderer zogen desselben Weges. Dicht neben ihm kamen die Roggenhalme mit schweren Ähren an der Spitze und mit Kornblumen vermischt dahermarschiert, die Apfelbäume keuchten schwer von Früchten und ihnen folgten Bohnen und Erbsen voller Schoten, große Büsche Margeriten und ein ganzes Gehege von Obststräuchern. Große Laubbäume, Eichen und Eschen und Linden, gingen in Ruhe und Gemächlichkeit mitten auf der Landstraße, stolz rauschten sie mit ihren Kronen und gingen niemand aus dem Wege. Zwischen seinen Beinen kamen die kleinen Pflanzen gelaufen: Erdbeeren, Anemonen, Löwenzahn, Klee und Vergißmeinnicht. Zuerst meinte er, daß es nur Pflanzen waren, die so des Weges dahinzogen, bald aber entdeckte er, daß sowohl Menschen als auch Tiere mit dabei waren. Die Insekten umsummten die dahineilenden Pflanzen, in den Gräben schwammen Fische, die Vögel saßen in den dahinwandernden Bäumen und sangen, zahme und wilde Tiere liefen um die Wette, und mitten zwischen all diesem Gewimmel gingen Menschen mit Spaten und Sensen, andere mit Äxten, wieder andere mit Flinten und einige mit Angelruten.

Der Zug bewegte sich munter und fröhlich, und das verwunderte ihn gar nicht, als er sah, wer ihn anführte. Es war niemand Geringeres als die Sonne selbst. Sie kam die Straße dahergerollt wie ein großer, schimmernder Kopf mit Haar aus vielfarbigen Strahlen und einem Gesicht, das vor Frohsinn und Güte strahlte. »Vorwärts!« rief sie ununterbrochen. »Niemand braucht bange zu sein, wenn ich dabei bin! Vorwärts! Vorwärts!«

»Ich möchte wohl wissen, wohin uns die Sonne führen will,« sagte der Junge vor sich hin. Aber der Roggenhalm, der neben ihm ging, hatte gehört, was er sagte, und antwortete sogleich: »Sie will uns nach Lappland führen, um gegen den großen Versteinerer zu kämpfen.«

Niels Holgersen sah bald, daß mehrere von den Fußgängern bedenklich wurden, ihre Schritte mäßigten und schließlich zurückblieben. Er sah, daß die große Buche stehen blieb, das Reh und der Weizen blieben am Grabenrand stehen und ebenso die Brombeerbüsche, die großen gelben Sumpfdotterblumen, die Kastanienbäume und die Rebhühner.

Er sah sich um, denn er wollte ergründen, warum so viele zurückblieben. Da gewahrte er, daß er sich nicht mehr in dem südlichen Schweden befand; die Wanderung war so schnell vor sich gegangen, daß sie schon in Svealand angelangt waren.

Hier oben begann die Eiche zurückzubleiben. Sie blieb ein wenig stehen, machte einige zögernde Schritte und stand dann ganz still. »Warum kommt die Eiche nicht mehr mit?« fragte der Junge. »Sie ist bange vor dem großen Versteinerer,« sagte eine hellgrüne junge Birke, die so keck und fröhlich dahinschritt, daß es eine Lust zu sehen war.

Aber obwohl viele zurückgeblieben waren, setzte doch noch eine große Schar frischen Mutes die Wanderung fort. Und der Sonnenkopf rollte die ganze Zeit vor dem Zuge her und rief: »Vorwärts! Vorwärts! Niemand braucht bange zu sein, solange ich dabei bin!«

Der Zug ging mit derselben Geschwindigkeit weiter. Bald war er oben in Norrland angelangt, aber jetzt half es nichts mehr, wieviel auch die Sonne bat und ermunterte. Der Apfelbaum wollte nicht weiter, auch der Kirschbaum nicht und der Hafer blieb stehen. Die Fischschwärme in den Gräben lichteten sich. Der Junge wandte sich an die Zurückbleibenden: »Warum wollt ihr nicht mit? Warum laßt ihr die Sonne im Stich?« fragte er. – »Wir wagen es nicht. Wir sind bange vor dem großen Versteinerer, der da oben in Lappland wohnt,« antworteten sie.

Bald hatte der Junge die Empfindung, als seien sie ganz hoch oben in Lappland angelangt, und hier wurden die wandernden Scharen beständig dünner. Der Roggen, die Gerste, die Erdbeere, die Blaubeere, die Erbsen, die Johannisbeerbüsche waren bis hierher mitgekommen. Das Elentier und die Kuh waren Seite an Seite gewandert, aber jetzt blieben sie alle zurück. Die Menschen gingen noch eine Strecke weiter mit, aber dann blieben auch sie stehen. Die Sonne würde fast ganz allein geblieben sein, wenn nicht neue Reisegenossen hinzugekommen wären. Weidensträuche und eine Menge anderes Gestrüpp schlossen sich dem Zuge an, ebenso Lappen und Renntiere, Bergeulen und Füchse und Schneehühner.

Jetzt hörte der Junge etwas, das ihnen entgegenkam. Es waren dies eine Menge Flüsse und Bäche, die mit gewaltigem Sausen und Brausen daherstürzten. »Warum habt ihr es so eilig?« fragte er.– »Sie fliehen vor dem großen Versteinerer, der hoch oben auf den Bergen wohnt,« antwortete das Schneehuhn.

Da sah Niels Holgersen auf einmal, daß sich vor ihnen eine hohe, finstere Mauer mit gezackter Mauerkrone auftürmte. Beim Anblick dieser Mauer schienen alle zurückzuweichen, schnell aber wendete die Sonne ihr strahlendes Antlitz der Mauer zu und goß ihr Licht darüber aus. Da stellte es sich heraus, daß keine Mauer ihnen im Wege stand, sondern daß sich die allerschönsten Berge vor ihnen erhoben, einer hinter dem anderen. Die Gipfel röteten sich im Sonnenschein, die Abhänge lagen hellblau mit goldenen Streifen da. »Vorwärts! Vorwärts! Keine Gefahr, solange ich dabei bin!« rief die Sonne und rollte an den steilen Bergwänden hinauf.

Aber auf dem Wege den Berg hinan wurde die Sonne von der tapferen jungen Birke, der starken Fichte und der standhaften Tanne verlassen. Hier verließen auch das Renntier, der Lappe und der Weidenbusch sie. Als sie schließlich den Gipfel des Berges erreicht hatte, war in ihrem Gefolge niemand mehr als der kleine Niels Holgersen.

Die Sonne rollte in eine Schlucht hinein, in der die Wände mit Eis bedeckt waren, und Niels Holgersen wollte ihr auch da hinein folgen, aber er kam nicht weiter als bis an den Eingang der Schlucht, denn da sah er etwas Fürchterliches. Ganz tief im Innersten der Schlucht saß ein alter Troll; sein Körper war aus Eis, sein Haar aus Eiszapfen und sein Mantel aus Schnee. Vor dem Troll lagen mehrere schwarze Wölfe, die sich aufrichteten und den Rachen aufsperrten, sobald die Sonne sich blicken ließ. Und aus dem einen Wolfsrachen stieg die bittere Kälte hervor, aus dem anderen kam der beißende Nordwind und aus dem dritten die schwarze Finsternis. »Da haben wir wohl den großen Versteinerer!« dachte der Junge. Er war sich klar darüber, daß er am besten tun würde, wenn er floh, aber er war so neugierig zu sehen, wie die Begegnung zwischen dem Troll und der Sonne ablaufen würde, daß er stehen blieb.

Der Troll rührte sich nicht, sondern starrte nur die Sonne mit seinem ekelhaften Eisgesicht an, und die Sonne stand ebenfalls still und lachte und strahlte nur. So ging es eine Weile weiter, und der Junge meinte hören zu können, daß der Troll zu seufzen und zu klagen begann. Der Schneemantel glitt zu Boden und die drei fürchterlichen Wölfe heulten nicht mehr so schrecklich. Plötzlich aber rief die Sonne: »Jetzt ist meine Zeit vorbei!« und rückwärts rollte sie aus der Schlucht heraus. Da ließ der Troll seine drei Wölfe los, und auf einmal kamen der Nordwind, die Kälte und die Finsternis aus der Schlucht herausgestürzt und machten Jagd auf die Sonne. »Weg mit ihr! Weg mit ihr!« rief der Troll. »Jagt sie so weg, daß sie nie wiederkommt! Wir wollen sie lehren, daß Lappland mir gehört!«

Aber als Niels Holgersen hörte, daß die Sonne aus Lappland verjagt werden sollte, erschrak er so, daß er mit einem Schrei erwachte.

Und als er sich wieder ein wenig besonnen hatte, sah er, daß er auf dem Grunde des großen Felsentals lag. Wo aber war Gorgo, und wie sollte er ausfindig machen, wo er selber war?

Er richtete sich auf und sah um sich. Da fiel sein Blick auf ein wunderliches Gebäude aus Fichtenzweigen, das auf einen Felsenabsatz stand. »Das ist gewiß so ein Adlerhorst, wie Gorgo …«

Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Statt dessen riß er seine Mütze vom Kopf, schwenkte sie in der Luft und schrie: »Hurra!« Er begriff jetzt, wohin ihn Gorgo geführt hatte. Hier war das Tal, in dem die Adler auf dem Felsenabsatz und die Wildgänse unten im Grunde wohnten. Er war am Ziel! Im nächsten Augenblick würde er den Gänserich Martin und Akka und alle die Reisekameraden wiedersehen.

Am Ziel.

Niels Holgersen ging ganz leise umher und suchte nach seinen Freunden. Tiefe Stille herrschte im ganzen Tal. Die Sonne war noch nicht über die Felswände hinaufgelangt, und der Junge sah, es war noch so früh am Tage, daß die Wildgänse noch nicht aufgewacht waren. Kaum hatte er einige Schritte gemacht, als er stehen blieb und lächelte, denn er sah etwas, das gar schön war. In einem kleinen Nest am Boden lag eine Wildgans und schlief, und neben ihr stand der Gänserich. Er schlief auch, aber offenbar hatte er sich so dicht neben sie gestellt, um gleich zur Hand zu sein, falls eine Gefahr im Anzug sein sollte.

Der Junge ging weiter, ohne sie zu stören, und lugte zwischen die kleinen Weidenbüsche hinein, die den Erdboden bedeckten. Es währte nicht lange, bis er ein neues Gänsepaar entdeckte. Es gehörte nicht zu seiner Schar: es waren fremde, aber er freute sich doch so sehr, daß er eine Melodie vor sich hinzusummen begann, nur weil er wilde Gänse angetroffen hatte.

Er guckte in ein neues Weidengestrüpp hinein, und dort sah er schließlich ein Paar, das er kannte. Es war ganz sicher Neljä, die auf Eiern lag, und der Gänserich, der neben ihr stand, war Kolme. Ja, so war es! Ein Irrtum war ausgeschlossen

Der Junge hatte die größte Lust, sie zu wecken, aber er ließ sie schlafen und ging weiter.

Im nächsten Gestrüpp sah er Viisi und Kuusi und nicht weit davon fand er Aksi und Kaksi. Sie schliefen alle vier, und der Junge ging vorüber, ohne sie zu wecken.

Als er in die Nähe des nächsten Gestrüppes kam, glaubte er etwas Weißes zwischen den Büschen hindurchschimmern zu sehen, und das Herz begann vor lauter Freude laut in seiner Brust zu klopfen. Ja, es war, wie er erwartet hatte. Da drinnen lag Daunfein noch so niedlich auf Eiern und neben ihr stand der weiße Gänserich. Der Junge glaubte, ihm sogar im Schlaf ansehen zu können, wie stolz er war, hier in den lappländischen Bergen zu stehen und Wache bei seiner Frau zu halten.

Aber auch den weißen Gänserich wollte Niels Holgersen nicht wecken, so ging er denn weiter.

Er mußte ziemlich lange suchen, bis er auf weitere Wildgänse stieß. Aber da entdeckte er auf einem kleinen Hügel etwas, das einem grauen Erdhaufen glich. Und als er an dem Fuß des Hügels angelangt war, sah er, daß der graue Erdhaufe nichts Geringeres war als Akka von Kebnekajse, die dort ganz wach stand und sich umsah, als halte sie Wache über das ganze Tal.

»Guten Tag, Mutter Akka,« sagte der Junge. »Wie schön, daß Ihr wach seid! Wartet, bitte, ein wenig, ehe Ihr die anderen weckt, denn ich möchte gern mit Euch allein sprechen.«

Die alte Führergans stürzte von dem Hügel herunter, zu dem Knaben hin. Zuerst packte sie ihn und schüttelte ihn, dann strich sie ihm mit dem Schnabel am ganzen Körper auf und nieder, und schließlich schüttelte sie ihn noch einmal. Sie sagte aber nichts, denn er hatte sie ja gebeten, die anderen nicht zu wecken.

Däumling küßte die alte Mutter Akke auf beide Wangen, und dann fing er an zu erzählen, wie er nach Skansen gebracht und dort gefangen gehalten war.

»Und nun kann ich Euch erzählen, daß Reineke Fuchs mit dem abgebissenen Ohr in dem Fuchsbau auf Skansen gefangen saß.« sagte der Junge. »Und obwohl er sehr häßlich gegen uns gewesen ist, konnte ich doch nicht umhin, Mitleid mit ihm zu haben. Da waren viele andere Füchse in dem großen Fuchsbau, und sie schienen sich ganz wohl da zu fühlen, aber Reineke saß immer so betrübt da und sehnte sich nach der Freiheit. Ich hatte viele gute Freunde da oben bekommen, und eines Tages hörte ich von dem Lappenbund, daß ein Mann nach Skansen gekommen sei, um Füchse zu kaufen. Er wäre von einer Insel weit draußen im Meer. Sie hatten alle Füchse auf seiner Insel ausgerottet, aber die Folge war, daß es dort jetzt nicht vor Ratten auszuhalten sei, daher wünschten sie nur die Füchse wieder zurück. Sobald ich das erfahren hatte, ging ich an Reinekes Käfig und sagte zu ihm: ›Reineke, morgen kommen Leute hier heraus, um ein paar Füchse zu holen. Verkriech‘ dich dann nicht, sondern sorge dafür, daß du gefangen wirst, dann hast du deine Freiheit wieder!‹ Und er befolgte meinen Rat, und nun läuft er frei auf der Insel herum. Was sagt Ihr dazu, Mutter Akka? War das nach Eurem Sinn gehandelt?«

»Wäre ich es selbst gewesen, so hätte ich es nicht besser machen können,« sagte die Führergans.

»Nur gut, daß Ihr mit mir zufrieden seid,« sagte Niels Holgersen. »Und dann ist da noch etwas, wonach ich Euch fragen muß. Eines Tages sah ich, daß der Adler Gorgo, derselbe, der mit dem Gänserich Martin kämpfte, als Gefangener nach Skansen geführt und in einen Adlerkäfig gesetzt wurde. Er sah jammervoll und elend aus, und manchmal dachte ich, ich müßte in das Stahldrahtdach über seinem Kopf ein Loch feilen und ihn hinausfliegen lassen. Aber dann dachte ich wieder, daß er ja ein gefährlicher Räuber und Vogelfresser ist. Ich wußte nicht, ob es richtig sei, so einen Missetäter herauszulassen, und ich dachte, daß es wohl am besten wäre, wenn ich ihn bleiben ließ, wo er war. Was sagt Ihr dazu, Mutter Akka! Habe ich richtig gedacht?«

»Nein, da hast du nicht richtig gedacht,« sagte Akka. »Man kann über die Adler denken, wie man will, aber sie sind stolzer und freiheitsliebender als andere Tiere, und es ist sehr unrecht, sie in Gefangenschaft zu halten. Weißt du, was ich dir vorschlagen will? Sobald du dich ausgeruht hast, reisen wir beide nach dem großen Vogelgefängnis hinunter und befreien Gorgo.«

»Diese Worte habe ich von Euch erwartet, Mutter Akka,« sagte der Junge. »Es gibt welche, die sagen, daß Ihr keine Liebe mehr für den hättet, den Ihr mit so großer Mühe aufgezogen habt, weil er so lebt, wie ein Adler leben muß. Aber jetzt höre ich, daß es nicht wahr ist. Nun will ich hingehen und sehen, ob der Gänserich Martin noch nicht aufgewacht ist, wollt Ihr dann inzwischen dem ein Wort des Dankes sagen, der mich zu Euch zurückgebracht hat, dann findet Ihr ihn wahrscheinlich oben auf dem Felsenabsatz, da wo Ihr einstmals einen hilflosen jungen Adler gefunden habt.«

XLIII. Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads


Die Krankheit.

In dem Jahr, wo Niels Holgersen mit den Wildgänsen umherflog, war viel die Rede von ein Paar Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, die durch das Land wanderten. Sie waren aus Smaaland, aus dem Bezirk Sunderbo, und sie hatten einmal mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einem kleinen Haus draußen auf einer großen Heide gewohnt. Als die Kinder noch ganz klein waren, kam einmal spät am Abend eine arme Frau und klopfte an und bat um Obdach. Obwohl die Stube kaum die Menschen fassen konnte, die dort wohnten, ließen sie sie ein, und die Mutter bereitete ihr ein Lager auf dem Fußboden. Die ganze Nacht hindurch lag sie da und hustete so arg, daß die Kinder meinten, das ganze Haus bebe, und am Morgen wurde sie so krank, daß sie nicht imstande war, ihre Wanderung fortzusetzen.

Der Mann und die Frau waren so gut gegen sie wie nur möglich. Sie gaben ihr ihr eigenes Bett und lagen selbst auf dem Fußboden, und der Mann ging zum Doktor und holte Tropfen für sie. Die ersten Tage war die Kranke wie von Sinnen und Verstand, tat nichts weiter als fordern und verlangen und hatte kein Wort des Dankes, nach und nach aber taute sie auf und wurde demütig und dankbar. Schließlich bat und bettelte sie fortwährend, sie möchten sie aus dem Hause hinaustragen auf die Heide, so daß sie da liegen und sterben könne. Als die Leute ihr hierin nicht ihren Willen tun wollten, erzählte sie ihnen, sie sei im letzten Jahr mit einer Zigeunertruppe umhergezogen. Sie selber stamme nicht von Zigeunern ab, sie sei die Tochter eines Hofbesitzers, aber sie sei von Hause weggelaufen und mit den Zigeunern umhergezogen. Und nun glaube sie, daß ein Zigeunerweib, das böse auf sie geworden war, ihr diese Krankheit geschickt habe. Aber nicht genug damit: die Zigeunerin habe ihr gedroht und gesagt, ebenso schlimm, wie es ihr selbst ergehe, solle es allen ergehen, die ihr Obdach gewährten und gut gegen sie seien. Daran glaube sie und deshalb bitte sie, daß man sie zum Hause hinausjagen und sich nicht um sie kümmern möge. Sie wolle kein Unglück über so gute Menschen bringen. Aber die Eltern hatten nicht getan, um was sie sie bat. Es ist nicht unmöglich, daß sie nicht ein wenig bange geworden waren, aber sie konnten es nicht übers Herz bringen, eine arme, totkranke Person zur Tür hinauszujagen.

Bald darauf starb sie und dann begann das Unglück. Bisher hatten sie dort im Häuschen nichts als Freude gekannt. Arm waren sie ja freilich, aber ganz verarmt waren sie denn doch nicht. Der Vater verfertigte Webekämme, und die Mutter und die Kinder halfen ihm bei der Arbeit. Der Vater schnitzte selbst die Kämme, und die Mutter und die große Schwester fügten sie zusammen. Die kleineren Kinder hobelten die Zähne und schnitzten sie zurecht. Sie arbeiteten vom Morgen bis zum Abend, aber sie waren immer fröhlich und guter Dinge, namentlich wenn der Vater von der Zeit erzählte, als er in fernen Ländern umhergewandert war und Webekämme verkauft hatte. Der Vater hatte einen köstlichen Humor und erzählte oft so lustig, daß die Mutter und alle Kinder sich beinahe krank lachten.

Die Zeit nach dem Tode der armen Frau erschien den Kindern wie ein böser Traum, Sie wußten nicht, ob sie kurz oder lang gewesen war; sie wußten nur noch, daß daheim ein Begräbnis dem andern gefolgt war. Ihre Geschwister starben und wurden zu Grabe getragen, eins nach dem andern. Sie hatten ja nicht mehr als vier Geschwister gehabt, folglich konnten es nicht mehr als vier Begräbnisse gewesen sein, aber den Kindern kam es so vor, als seien es viel mehr gewesen. Schließlich war es so still und drückend daheim in der Stube gewesen. Es war, als würde jeden Tag ein Begräbnis abgehalten.

Die Mutter hielt den Mut einigermaßen aufrecht, aber der Vater war wie umgewandelt. Er konnte weder mehr scherzen noch arbeiten, sondern saß vom Morgen bis zum Abend da, den Kopf in den Händen und grübelte.

Einmal – es war nach dem dritten Begräbnis – brach er in wilde, verzweifelte Worte aus, die die Kinder bange machten. Er könne nicht verstehen, sagte er, warum so ein Unglück über sie kommen müsse. Sie hatten ja doch ein gutes Werk getan, als sie der Kranken beistanden. War denn das Böse hier in der Welt mächtiger als das Gute? Die Mutter hatte versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, aber es war ihr nicht möglich, ihn ruhig und ergeben in sein Schicksal zu machen, so wie sie selbst es war.

Ein paar Tage später verloren sie den Vater. Aber er starb nicht; er ging davon. Es kam so, daß die älteste Schwester krank wurde, und die hatte der Vater immer am meisten geliebt. Und als er sah, daß auch sie sterben mußte, entfloh er dem ganzen Elend. Die Mutter sagte nur, es sei am besten für den Vater, daß er fort sei. Sie wäre bange, daß er sonst verrückt geworden wäre. Er grübele sich ja von Sinn und Verstand, indem er fortwährend darüber nachdachte, warum Gott es einem bösen Menschen erlauben könne, all dies Unglück über sie zu bringen.

Als der Vater auf und davon gegangen war, wurden sie sehr arm. Anfangs schickte er ihnen Geld, aber dann war es ihm wohl schlecht ergangen, und er schickte nichts mehr. Und an dem Tage, als die älteste Schwester begraben wurde, schloß die Mutter das Haus ab und verließ mit den beiden Kindern, die ihr noch geblieben waren, die Heimat. Sie ging nach Schonen, um Arbeit auf den Rübenfeldern zu suchen und bekam einen Platz in der Jordbergaer Zuckerfabrik. Die Mutter war eine tüchtige Arbeiterin und hatte ein munteres und offenes Wesen. Alle hatten sie gern. Viele wunderten sich, daß sie so ruhig sein konnte nach allem, was sie durchgemacht hatte. Aber sie war sehr stark und geduldig. Wenn jemand mit ihr über ihre beiden prächtigen Kinder sprach, sagte sie nur: »Die sterben auch bald.« Das sagte sie, ohne daß ihre Stimme zitterte und ohne daß ihr Tränen in die Augen traten. Sie hatte sich daran gewöhnt, nichts anderes mehr zu erwarten.

Aber es kam nicht so, wie sie erwartete. Statt dessen wurde sie selbst krank. Es ging schnell mit ihr, noch schneller als mit den kleinen Geschwistern. Sie war zu Anfang des Sommers nach Schonen gekommen, und als der Herbst kam, waren die Kinder allein.

Wahrend die Mutter krank lag, sagte sie oft zu den Kindern, sie sollten stets daran denken, daß sie niemals bereut habe, die kranke Frau bei sich aufzunehmen. Denn es sei nicht schwer zu sterben, wenn man recht gehandelt habe, sagte sie. Alle Menschen müßten sterben, dem könne man nicht entgehen. Aber man könne selbst darüber bestimmen, ob man mit einem guten Gewissen sterben wolle oder mit einem schlechten.

Ehe die Mutter starb, suchte sie noch ein wenig für die Kinder zu sorgen. Sie bat, daß die Kinder in der Kammer bleiben dürften, in der sie alle drei den Sommer über gewohnt hatten. Wenn die Kinder nur eine Stelle hätten, wo sie wohnen konnten, würden sie niemand zur Last fallen. Sie könnten sich selbst versorgen, das wisse sie. Die Kinder erhielten die Erlaubnis, die Kammer zu behalten, wenn sie dafür versprechen wollten, die Gänse zu hüten, denn es ist immer schwer, Kinder zu finden, die diese Arbeit übernehmen wollen. Es ging wirklich so, wie die Mutter gesagt hatte: sie versorgten sich selbst. Das kleine Mädchen konnte Brustzucker kochen, und der Junge konnte allerlei Spielzeug aus Holz anfertigen, das er ringsumher auf den Bauernhöfen verkaufte. Sie hatten Handelstalent, und es währte nicht lange, und da fingen sie an, bei den Bauern Butter und Eier zu kaufen, die sie dann an die Arbeiter in der Zuckerfabrik wieder verkauften. Sie waren so ordentlich und zuverlässig, daß man ihnen alles anvertrauen konnte, was es auch war. Das Mädchen war die Ältere, und mit dreizehn Jahren war sie schon so zuverlässig wie ein erwachsener Mensch. Sie war still und ernsthaft, der Junge aber war redselig und munter. Die Schwester pflegte von ihm zu sagen, er schnattere um die Wette mit den Gänsen draußen auf dem Felde.

Als die Kinder ein paar Jahre in Jordberga gewohnt hatten, wurde eines Abends in der Schule ein Vortrag gehalten. Der Vortrag war wohl im Grunde für Erwachsene bestimmt, aber die beiden smaaländer Kinder saßen auch unter den Zuhörern. Sie rechneten sich selbst nicht zu den Kindern, und kaum taten die Erwachsenen das. Der Redner sprach über die traurige Krankheit, die Tuberkulose, die alljährlich so viele Menschen in Schweden töte. Er sprach sehr klar und leicht verständlich, und die Kinder verstanden jedes Wort.

Nach dem Vortrag blieben sie draußen vor der Schule stehen und warteten. Als der Redner kam, gingen sie Hand in Hand feierlich auf ihn zu und baten, mit ihm reden zu dürfen.

Der Redner sah die beiden ja ein wenig verwundert an, die da mit runden und rotwangigen Kindergesichtern standen und mit einem Ernst redeten, der dreimal so alten Leuten angestanden haben würde. Er hörte sie aber sehr freundlich an.

Die Kinder erzählten, was sie daheim in ihrem Hause erlebt hatten, und sie fragten nun den Redner, ob er glaube, daß ihre Mutter und die Geschwister an der Krankheit gestorben seien, die er geschildert hatte. Es könne ja kaum eine andere Krankheit gewesen sein.

Aber wenn nun ihre Mutter und ihr Vater das gewußt hätten, was die Kinder heute abend gehört hatten, so hätten sie sich ja in acht nehmen können. Falls sie die Kleider der kranken Frau verbrannt und das Haus gründlich gescheuert und die Betten nicht mehr benutzt hätten, würden dann vielleicht noch alle die am Leben sein, um die die Kinder jetzt trauerten?

Der Redner sagte, eine bestimmte Antwort könne niemand darauf geben, aber es wäre höchstwahrscheinlich, daß keins von ihren Angehörigen hätte zu sterben brauchen, wenn sie es verstanden hätten, sich gegen die Krankheit zu schützen.

Nun besannen sich die Kinder ein wenig auf die nächste Frage, aber sie rührten sich nicht vom Fleck, denn das, worauf sie jetzt eine Antwort haben wollten, war das Allerwichtigste. War es denn nicht wahr, daß das Zigeunerweib die Krankheit über sie gebracht hatte, weil sie der geholfen hatten, auf die sie böse war? War es nicht etwas Besonderes, das niemand als nur sie getroffen hatte? – Nein, das war nicht der Fall, dessen konnte der Redner sie getrost versichern. Kein Mensch besaß die Macht, auf solche Weise Krankheit über einen andern zu bringen. Und sie wüßten ja doch, daß die Krankheit im ganzen Lande verbreitet sei. Sie habe ihren Besuch in fast allen Häusern abgestattet, wenn sie auch nicht überall so viele hingerafft habe wie bei ihnen.

Und dann bedankten sich die Kinder und gingen nach Hause. An diesem Abend sprachen sie noch lange miteinander.

Am nächsten Tage gingen sie hin und kündigten ihre Stelle. Sie könnten in diesem Jahr die Gänse nicht hüten, sie müßten anderswo hin. Wohin sie denn wollten? – Sie wollten sich aufmachen und ihren Vater suchen. Sie müßten ihm sagen, daß ihre Mutter und die Geschwister an einer gewöhnlichen Krankheit gestorben seien, und daß es nichts sei, was von bösen Menschen über sie gebracht worden war. Sie wären so froh darüber, daß sie das erfahren hatten. Und nun fanden sie, es sei ihre Pflicht, es, ihrem Vater zu erzählen, denn er grüble gewiß noch heutigen Tages darüber nach.

Zuerst gingen die Kinder nach ihrer alten Heimat auf der Heide bei Sunnerbo, und zu ihrer großen Verwunderung fanden sie das Haus in hellen Flammen stehen.

Dann gingen sie nach dem Pfarrhaus, und dort hörten sie, daß ein Mann, der bei der Eisenbahn angestellt war, ihren Vater bei Malmberget hoch oben in Lappland gesehen habt. Damals habe er in der Erzgrube gearbeitet, und das tue er vielleicht noch, aber ganz sicher sei es ja nicht. Als der Pfarrer hörte, daß die Kinder ausziehen wollten, um ihren Vater zu suchen, holte er eine Landkarte und zeigte ihnen, wie weit es bis Malmberget war, und riet ihnen von der Reise ab. Aber die Kinder sagten, es sei ganz notwendig, daß sie versuchten, ihren Vater zu finden. Er sei von Hause fortgegangen, weil er etwas glaubte, was nicht wahr sei. Nun müßten sie ihm sagen, daß er sich geirrt habe.

Die Kinder hatten ein wenig Geld mit ihrem Handel verdient, das wollten sie jedoch nicht ausgeben, um Fahrkarten dafür zu kaufen, sondern sie entschlossen sich, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen. Und das bereuten sie nicht. Sie hatten eine so wunderbar schöne Wanderung.

Ehe sie noch aus Smaaland herausgekommen waren, gingen sie eines Tages in einen Bauernhof hinein, um etwas zu essen zu kaufen. Die Bäuerin war munter und redselig. Sie fragte die Kinder, wer sie seien und woher sie kämen, und die Kinder erzählten ihr ihre ganze Geschichte. »Aber nein! Aber nein!« sagte die Frau mehrmals, während sie erzählten. Dann tischte sie ihnen viel gutes Essen auf, und sie durften durchaus nichts dafür bezahlen. Als sie aufstanden, um sich zu bedanken und weiterzugehen, fragte die Bäuerin, ob sie nicht im nächsten Dorf bei ihrem Bruder einkehren wollten, und sie sagte ihnen, wie er hieß und wo er wohnte. Ja, das wollten die Kinder natürlich gern. »Ihr müßt von mir grüßen und erzählen, was ihr erlebt habt,« sagte die Bäuerin.

Das taten die Kinder, und der Bruder nahm sie freundlich auf. Er fuhr sie nach einem Hof im nächsten Dorf, und auch dort ward ihnen eine gute Aufnahme zuteil. Jedesmal, wenn sie nun von einem Hof weggingen, hieß es immer: »Wenn ihr in diese oder jene Gegend kommt, so geht nur da oder dorthin und erzählt, was ihr erlebt habt.«

Auf den Höfen, wohin die Kinder gewiesen wurden, war immer jemand brustkrank. Und ohne daß sie selbst es wußten, wanderten nun diese beiden Kinder durch das Land und belehrten die Leute darüber, was für eine gefährliche Krankheit es war, die sich in die Familien eingeschlichen hatte, und wie sie sie am besten bekämpfen konnten.

In alter Zeit, als die Pest, die der schwarze Tod genannt wurde, das Land verheerte, sollen, wie man erzählt, ein Junge und ein Mädchen von einem Hof zum andern gegangen sein.

Der Junge hatte einen Rechen in der Hand, und wenn er vor ein Haus kam und dort harkte, so bedeutete das, daß viele dadrinnen sterben würden, aber nicht alle, denn die Zähne eines Rechens stehen weit von einander und nehmen nicht alles mit. Das Mädchen hatte einen Besen in der Hand, und kam sie und kehrte vor einer Tür, so bedeutete dies, daß alle, die hinter der Tür wohnten, sterben müßten, denn der Besen ist ein Gerät, das reinen Tisch macht.

War es nun nicht merkwürdig, daß in unsern Tagen zwei Kinder um einer schweren und gefährlichen Krankheit willen durch das Land ziehen mußten? Aber diese Kinder schreckten die Leute nicht mit Rechen und Besen; sie sagten im Gegenteil: »Ihr sollt euch nicht damit begnügen, nur den Hof zu harken und den Fußboden zu fegen. Ihr müßt auch den Schrubber und die Scheuerbürste und Seife gebrauchen. Wir müssen es rein vor unserer Tür und rein innerhalb derselben halten, und wir müssen selbst rein sein. Auf die Weise werden wir schließlich Herr über die Krankheit werden.«

Das Begräbnis des kleinen Mads.

Der kleine Mads war tot. Das erschien allen denen, die ihn noch vor ein paar Stunden frisch und fröhlich gesehen hatten, unglaublich. Und doch war es so. Der kleine Mads war tot und sollte begraben werden.

Der kleine Mads starb eines Morgens in der Frühe und niemand weiter als seine Schwester Aase war in der Stube und sah ihn sterben. »Hole niemand,« sagte der kleine Mads, als es zu Ende ging, und die Schwester tat, was er sagte. »Ich freue mich nur, daß ich nicht an der Krankheit sterbe, Aase,« sagte der kleine Mads. »Du nicht auch?« Und als Aase nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ich finde, es macht gar nichts, daß ich sterbe, wenn ich nur nicht auf dieselbe Weise sterben muß, wie die Mutter und die Geschwister. Wäre das geschehen, so, glaube ich, würde es dir nie gelungen sein, den Vater zu überzeugen, daß nur eine gewöhnliche Krankheit sie hingerafft hat, aber du sollst sehen, jetzt wird es schon gehen.«

Als alles vorüber war, saß Aase lange da und dachte darüber nach, was ihr Bruder, der kleine Mads, während er auf dieser Erde lebte, hatte durchmachen müssen. Es war ihr, als habe er alles Ungemach mit dem Mut eines Erwachsenen getragen. Sie dachte an seine letzten Worte. So tapfer war er immer gewesen. Und sie war sich ganz klar darüber, daß, wenn der kleine Mads nun in die Erde gesenkt werden würde, er mit denselben Ehren begraben werden müsse, wie ein erwachsener Mensch.

Sie sah sehr wohl ein, daß es schwer werden würde, dies durchzusetzen, aber sie wollte es doch so gern. Sie mußte ihr Äußerstes für den kleinen Mads tun.

Das Gänsemädchen Aase war zu jener Zeit hoch oben in Lappland bei dem großen Grubenfeld, das Malmberget genannt wird. Es war ein merkwürdiger Ort, aber es war vielleicht gerade gut für sie, so wie es war.

Ehe sie soweit gelangt waren, hatten sie und der kleine Mads große, endlose Waldgegenden durchwandert.

Mehrere Tage lang hatten sie weder Felder noch Höfe gesehen, nur kleine, elende Poststationen, bis sie auf einmal nach dem großen Dorf Gellivare gekommen waren. Es lag mit seiner Kirche und seinem Bahnhof, seinem Gerichtsgebäude, der Bank, der Apotheke und den Gasthäusern am Fuße eines hohen Berges, der noch jetzt zur Sommerzeit, als die Kinder dahergewandert kamen, mit Schneestreifen bedeckt war. Fast alle Häuser in Gellivare waren neu, aber sie waren gut und solide gebaut und wären nicht die Schneeflocken oben auf den Bergen gewesen und hätten die Birken nicht ganz kahl dagestanden, so würden die Kinder nicht daran gedacht haben, daß die Stadt hoch oben in Lappland lag. Und doch sollten sie nicht in Gellivare nach ihrem Vater suchen, sondern in Malmberget, das noch eine Strecke weiter nördlich lag, und dort sah es nicht so ordentlich aus.

Das kam daher, daß, obwohl die Leute schon lange gewußt hatten, daß in der Nähe von Gellivare viel Erz zu finden sei, man erst, als die Eisenbahn vor ein paar Jahren fertig geworden, dazu gekommen war, dies richtig auszubeuten. Da strömten mehrere tausend Menschen auf einmal da hinauf, und da war Arbeit genug für sie, aber keine Häuser; die mußten sie sich dann selbst schaffen, so gut sie konnten. Einige zimmerten sich Hütten aus unbehauenen Balken, andere wohnten in Schuppen, die sie sich aus Kisten und leeren Dynamitbehältern bauten, indem sie diese wie Ziegelsteine aufeinander legten. Jetzt hatte man allmählich eine ganze Menge ordentlicher Häuser gebaut, aber der ganze Ort sah trotzdem höchst wunderlich aus. Da waren große Viertel mit schönen, hellen Häusern, aber mitten dazwischen stieß man auf ungerodeten Waldboden mit Baumstümpfen und Steinen. Da waren große, schöne Villen für den Inspektor und die Ingenieure, und da waren niedrige, komische Hütten, die aus der ersten Zeit stehen geblieben waren. Da waren Eisenbahnen und elektrisches Licht und große Maschinenhäuser; man konnte mit der Straßenbahn durch einen mit Glühlichtern erleuchteten Tunnel tief in die Berge hineinfahren. Überall herrschte ein gewaltiges Treiben, und ein Zug nach dem anderen verließ erzbeladen den Bahnhof. Aber ringsumher lag noch das große Ödeland, wo kein Acker gepflügt und kein Haus gebaut wurde, wo nichts weiter war als Lappen, die mit ihren Renntieren umherzogen.

Nun saß Aase da und dachte darüber nach, daß das Leben hier ebenso war wie der Ort. Meistens ging es ja wohl ganz ordentlich und friedlich zu, aber sie hatte doch so mancherlei gesehen, was wild und sonderbar war. Sie hatte ein Gefühl, daß es hier vielleicht leichter sein würde, etwas durchzusetzen, was außerhalb des Gewöhnlichen lag, als an anderen Orten.

Sie dachte daran, wie es ihnen ergangen war, als sie nach Malmberget kamen und nach einem Arbeiter fragten, der Jon Assarsson hieß und zusammengewachsene Augenbrauen hatte. Diese zusammengewachsenen Augenbrauen waren das Auffallendste in dem Äußern des Vaters. Sie bewirkten, daß sich die Leute seiner leicht erinnerten. Die Kinder erfuhren auch, daß ihr Vater mehrere Jahre in Malmberget gearbeitet hatte, jetzt aber auf die Wanderschaft gegangen sei. Es geschah oft, daß er auf die Wanderschaft ging, wenn die Unruhe über ihn kam. Wohin er gegangen war, wußte niemand, aber sie waren alle fest überzeugt, daß er in einigen Wochen wiederkommen würde. Und da sie Jon Assarssons Kinder waren, könnten sie ja, während sie auf ihn warteten, gern in der Hütte wohnen, die er bewohnt hatte. Und dann holte einer den Haustürschlüssel hervor, der unter der Türschwelle lag und ließ die Kinder hinein. Niemand wunderte sich darüber, daß sie gekommen waren, und niemand schien sich darüber zu wundern, daß ihr Vater bisweilen in die Einöde ging. Hier oben waren sie wohl daran gewöhnt, daß jeder nach seinem eigenen Kopf handelte.

Aase war bald mit sich im reinen, wie sie das Begräbnis haben wollte. Am letzten Sonntag hatte sie gesehen, wie einer der Grubenaufseher beerdigt wurde. Er war von des Inspektors eigenen Pferden nach der Kirche in Gellivare gefahren worden, und ein langer Zug von Grubenarbeitern war dem Sarge gefolgt. Am Grabe hatte eine Musikkapelle gespielt und ein Singchor gesungen. Und nach dem Begräbnis wurden alle, die mit in der Kirche gewesen waren, zum Kaffee in die Schule geladen. Etwas Ähnliches wünschte das Gänsemädchen Aase für ihren kleinen Bruder Mads.

Sie hatte sich schon so lebhaft dahinein gedacht, daß sie beinahe den ganzen Leichenzug vor Augen sah, aber dann sank ihr Mut wieder, und sie sagte sich selbst, daß es wohl nicht so werden könne, wie sie es wünschte. Nicht weil es zu teuer geworden wäre. Sie hatten soviel Geld zusammengespart, sie und der kleine Mads, daß sie ihm ein so schönes Begräbnis bereiten konnte, wie sie es nur wünschen mochte. Die Schwierigkeit lag darin, daß erwachsene Menschen – das wußte sie – sich nie nach einem Kinde richten würden. Sie war nur ein Jahr älter als der kleine Mads, der so klein und schmächtig aussah, wie er da tot neben ihr lag. Und sie selber war ja auch nur ein Kind.

Die erste, mit der sie über das Begräbnis sprach, war die Krankenpflegerin. Schwester Hilma kam gleich nachdem der kleine Mads gestorben war, und schon ehe sie die Tür öffnete, wußte sie, daß es um diese Zeit vorbei sein mußte. Am vorhergehenden Nachmittag war der kleine Mads in der Nähe der Gruben umhergelaufen. Er war einem großen Luftschacht zu nahe gekommen, als gerade eine Sprengung vorgenommen wurde, und einige Steine hatten ihn getroffen. Er war ganz allein und blieb lange bewußtlos am Boden liegen, ohne daß jemand wußte, was geschehen war. Schließlich bekamen einige Männer, die unter dem Luftschacht arbeiteten, auf eine wunderliche Weise Kenntnis davon. Sie behaupteten, ein kleiner Wicht, der nicht viel größer als eine Spanne hoch gewesen, an den Rand der Grube gekommen sei und ihnen zugerufen habe, sie sollten dem kleinen Mads schleunigst zu Hilfe kommen, er liege oben vor der Grube und sei nahe daran, zu verbluten. Darauf wurde der kleine Mads nach Hause getragen und verbunden, aber es war schon zu spät. Er hatte einen so großen Blutverlust erlitten, daß er nicht mehr leben konnte.

Als die Krankenpflegerin ins Zimmer trat, dachte sie nicht so sehr an den kleinen Mads als an seine Schwester. »Was soll ich nur mit dem armen Kinde anfangen?« fragte sie sich, »Sie ist gewiß ganz untröstlich.«

Aber Schwester Hilma sah, daß Aase weder weinte noch klagte, sie half ihr ganz ruhig bei allem, was getan werden mußte. Die Krankenpflegerin wunderte sich sehr darüber, aber sie erhielt Aufklärung, als Aase mit ihr über das Begräbnis zu sprechen begann.

»Wenn man mit jemand, wie der kleine Mads, zusammengewesen ist,« sagte Aase, die sich gern ein wenig altklug und feierlich ausdrückte, »so muß man vor allem daran denken, wie man ihn ehren kann. Hinterher ist Zeit genug zum Trauern.«

Und dann bat sie die Krankenpflegerin, ihr behilflich zu sein, dem kleinen Mads ein ehrenvolles Begräbnis zu verschaffen. Niemand habe das mehr verdient als er.

Die Krankenpflegerin meinte, daß, wenn das arme, verlassene Kind darin Trost finden könne, dies nur ein Glück sei. Sie versprach ihr zu helfen, und das war eine große Sache für Aase. Jetzt war es ihr, als sei das Ziel fast erreicht, denn Schwester Hilma hatte viel zu sagen. In dem großen Grubenfeld, wo die Sprengschüsse jeden Tag ertönen, wußte ja jeder Arbeiter, daß er jeden Augenblick von einem Stein oder von einem herabstürzenden Felsblock getroffen werden könne, und darum wollten sich alle gern gut mit der Krankenschwester stellen.

Als daher Schwester Hilma und Aase bei den Grubenarbeitern herumgingen und baten, ob sie nicht am nächsten Sonntag dem kleinen Mads das letzte Geleite geben wollten, waren da nicht viele, die nein sagten. »Ja, wenn Schwester Hilma uns darum bittet, dann wollen wir es schon tun,« sagten sie.

Die Krankenpflegerin brachte auch die Sache mit dem Quartett von Blasinstrumenten, das am Grabe spielen sollte und mit dem kleinen Singechor glücklich in Ordnung. Dahingegen tat sie keine Schritte wegen des Schulhauses; da noch das schönste Sommerwetter war, wurde beschlossen, daß das Trauergefolge draußen im Freien Kaffee trinken sollte. Bänke und Tische sollten aus dem Goodtemplersaal geliehen werden und Tassen und Teller von den Kaufleuten. Einige Arbeiterfrauen, die in ihren Truhen allerlei Sachen hatten, die sie nicht benutzten, solange sie hier in der Einöde wohnten, holten der Schwester zuliebe ihre feinen Gedecke hervor, um sie auf den Kaffeetischen auszubreiten.

Dann wurden Zwieback und Kringel bei einem Bäcker in Boden bestellt und schwarz-weißes Konfekt bei einem Konditor in Luleå.

Es herrschte eine solche Aufregung aus Anlaß des Begräbnisses, das Aase für ihren kleinen Bruder veranstalten wollte, daß ganz Malmberget davon sprach. Und schließlich erfuhr auch der Inspektor, was im Schwange war.

Als er hörte, daß fünfzig Grubenarbeiter einen zwölfjährigen Knaben zu Grabe geleiten wollten, obwohl dieser, soviel er wußte, nur ein umherstreifender Betteljunge gewesen war, fand er, daß das der reine Wahnsinn sei. Und Gesang und Musik und Kaffeegesellschaft wollten sie haben, und das Grab sollte mit Grün bekleidet werden, und Konfekt aus Luleå! Er schickte sofort zu der Krankenpflegerin und bat sie, dies alles zu verhindern. »Es ist unrecht, ein armes Kind sein Geld so vergeuden zu lassen,« sagte er. »Es kann ja nicht angehen, daß sich erwachsene Menschen nach dem Einfall eines Kindes richten. Sie machen sich ja alle miteinander lächerlich!«

Der Inspektor war weder zornig noch heftig. Er sprach ganz ruhig und bat die Krankenpflegerin, den Gesang und die Musik und das lange Leichengefolge abzubestellen. Es würde ja genügen, wenn ein Dutzend Menschen den Jungen zu Grabe geleiteten. Und die Krankenpflegerin widersprach dem Inspektor mit keinem Wort, teils aus Respekt und teils weil sie selbst fühlte, daß er recht hatte. Es war zu viel Wesens von so einem Betteljungen machen! Aus Mitleid mit dem armen Mädchen war ihr Herz mit dem Verstand durchgegangen.

Von der Villa des Inspektors ging die Krankenpflegerin nach dem Barackenviertel, um Aase zu sagen, daß sie es nicht so ausrichten könne, wie sie es wünschte, aber sie tat das nicht leichten Herzens, denn niemand wußte besser als sie, was dies Begräbnis für das arme Kind bedeutete. Auf dem Wege begegnete sie ein paar Arbeiterfrauen und sprach mit ihnen über diese Schwierigkeiten. Sie sagten sofort, sie fänden, daß der Inspektor recht habe. Es sei ein Unsinn, so viel Aufhebens von einem Betteljungen zu machen. Natürlich tue ihnen das kleine Mädchen leid, aber es sei widersinnig, daß ein Kind auf diese Weise alles ordnen und einrichten wolle. Es wäre gut, daß aus dem Ganzen nichts würde.

Die Frauen gingen nach Hause und erzählten es weiter, und bald lief das Gerücht, daß aus dem großen Begräbnis für den kleinen Mads nichts werden könne, vom Barackenviertel bis zum Grubenschacht. Und alle stimmten darin überein, daß es das einzig Richtige sei.

In ganz Malmberget war wohl nur eine, die anderer Ansicht war, nämlich das Gänsemädchen Aase. Die Krankenpflegerin hatte wirklich einen harten Kampf mit ihr zu bestehen. Aase weinte weder, noch klagte sie, aber sie wollte sich nicht fügen. Sie sagte, sie habe den Inspektor nicht um Hilfe gebeten, folglich habe er auch nichts mit der Sache zu tun. Er könne ihr ja nicht verbieten, ihren Bruder so zu begraben, wie sie wollte.

Erst als mehrere von den Frauen bei ihr gewesen waren und ihr erklärt hatten, daß jetzt, wo der Inspektor nichts davon wissen wolle, niemand zum Begräbnis kommen werde, wurde es ihr klar, daß sie seine Erlaubnis haben mußte.

Sie saß einen Augenblick da und überlegte, dann stand sie plötzlich auf. »Wo willst du hin?« fragte die Krankenpflegerin. »Ich muß zu dem Inspektor gehen und selbst mit ihm reden,« erwiderte Aase. – »Du glaubst doch wohl nicht, daß er sich an das kehrt, was du sagst?« meinten die Frauen. – »Ich glaube, der kleine Mads will, daß ich zu ihm gehen soll,« antwortete Aase. »Der Inspektor hat wahrscheinlich nie gehört, was für ein Mensch er gewesen ist.«

Das Gänsemädchen Aase machte sich schnell fertig und war bald auf dem Wege zum Inspektor. Es erschien nun aber allen ganz unglaublich, daß ein Kind wie sie daran denken konnte, den Inspektor, den mächtigsten Mann in ganz Malmberget, von dem abzubringen, was er einmal als seinen Willen geäußert hatte. Und die Krankenpflegerin wie auch die andern Frauen konnten es sich nicht versagen, ihr aus der Entfernung zu folgen, um zu sehen, ob sie wirtlich den Mut hatte, zu ihm zu gehen.

Das Gänsemädchen Aase ging mitten auf dem Wege, und während sie so dahin schritt, lag etwas über ihr, das die Menschen veranlaßte, sich nach ihr umzusehen. Sie kam so ernsthaft und würdig dahergegangen, wie ein junges Mädchen, das an ihrem Konfirmationstag durch die Kirche schreitet. Auf dem Kopf hatte sie ein großes schwarzseidenes Tuch, ein Erbstück von ihrer Mutter, in der Rechten trug sie ein zusammengefaltetes Taschentuch und in der Linken einen Korb mit Spielzeug, das der kleine Mads verfertigt hatte.

Als die Kinder, die auf dem Wege spielten, sie kommen sahen, liefen sie hinter ihr drein und riefen: »Wo willst du hin, Aase? Wo willst du hin?« Aber Aase antwortete nicht. Sie hatte ihre Fragen nicht einmal gehört. Sie ging nur weiter. Und als die Kinder wieder und wieder fragten, und an ihrem Rock zerrten, packten die Frauen, die hinter ihr hergingen, die Kinder beim Arm und hielten sie zurück. – »Laßt sie gehen,« sagten sie. »Sie will zum Inspektor und bitten, ob sie nicht ein großes Begräbnis für ihren Bruder, den kleinen Mads veranstalten darf.« Da wurden auch die Kinder von Erstaunen ergriffen, daß sich Aase auf etwas so Verwegenes einlassen wollte, und eine kleine Schar von ihnen lief mit, um zu sehen, wie es ihr ergehen werde.

Dies trug sich gegen sechs Uhr nachmittags zu, als die Arbeit in den Gruben beendet war, und als Aase eine Strecke gegangen war, kamen mehrere hundert Arbeiter mit langen, hastigen Schritten des Weges daher. Sie pflegten sonst weder nach recht noch nach links zu sehen, wenn sie von der Arbeit kamen, als sie aber Aase begegneten, konnten einige von ihnen merken, daß hier etwas Besonderes vor sich ging, und sie fragten sie, was ihr fehle. Aase erwiderte kein Wort, aber die andern Kinder riefen laut durcheinander, wohin sie wollte. Da fanden auch einige von den Arbeitern, daß dies ein sehr mutiges Vorhaben für ein Kind sei, und sie gingen mit, um zu sehen, wie die Sache ablaufen würde.

Aase ging nach dem Kontorgebäude, wo der Inspektor um diese Zeit noch bei seiner Arbeit zu sitzen pflegte. Als sie in den Flur trat, öffnete sich eine Tür, und der Inspektor stand, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, vor ihr, auf dem Wege zu seiner Wohnung, um zu Mittag zu essen. »Mit wem willst du sprechen?« fragte er, als er das kleine Mädchen sah, das so feierlich daherkam mit dem seidnen Tuch um den Kopf und dem zusammengefalteten Taschentuch. »Ich möchte gern mit dem Herrn Inspektor selbst sprechen,« sagte Aase. – »Du willst mit mir sprechen? Ja, dann komm nur herein!« sagte der Inspektor und trat wieder in das Kontor. Er ließ die Tür offen stehen, denn es kam ihm nicht in den Sinn, daß das kleine Mädchen lange dableiben würde. So ging es zu, daß alle, die dem Gänsemädchen Aase gefolgt waren und nun in dem Flur und auf der Treppe standen, hörten, was im Kontor vor sich ging.

Als das Gänsemädchen Aase da hinein kam, richtete sie sich auf, schob ihr Kopftuch zurück und sah den Inspektor mit ihren runden Kinderaugen an, die einen so ernsten Blick hatten, daß es einem ins Herz schnitt. »Der kleine Mads ist tot,« sagte sie, und ihre Stimme bebte, so daß sie nicht weiter sprechen konnte. Aber nun wußte der Inspektor, wen er vor sich hatte. »Ach, du bist das kleine Mädchen, das das große Begräbnis veranstalten will,« sagte er freundlich. »Das darfst du wirklich nicht tun, mein Kind. Die Sache wird zu teuer für dich. Hätte ich nur früher davon gehört, so würde ich es gleich verhindert haben.«

Es zuckte in dem Gesicht des kleinen Mädchens, und der Inspektor glaubte, nun würde sie zu weinen anfangen, aber statt dessen sagte sie: »Ich möchte fragen, ob ich dem Herrn Inspektor ein wenig von dem kleinen Mads erzählen darf?«

»Ich habe eure Geschichte schon gehört,« sagte der Inspektor in seiner gewöhnlichen ruhigen, sanften Weise. »Du tust mir sehr leid, das kannst du mir glauben. Aber ich will nur dein Bestes.«

Da richtete sich das Gänsemädchen Aase noch straffer auf und fügte mit lauter, klarer Stimme: »Seit der kleine Mads neun Jahre alt war, hat er weder Vater noch Mutter gehabt und hat ganz für sich selbst sorgen müssen wie ein erwachsener Mensch. Er hat sich für zu gut gehalten, auch nur um eine Mahlzeit zu betteln, er wollte immer alles bezahlen. Er sagte, es schicke sich nicht für einen Mann zu betteln. Er ging auf dem Lande herum und kaufte Eier und Butter auf, und er war so gewiegt im Handeln wie ein alter Kaufmann. Er war nie fahrlässig und er steckte nie auch nur einen Pfennig beiseite, sondern brachte mir alles. Der kleine Mads nahm seine Arbeit mit, wenn er Gänse auf dem Felde hütete und war so fleißig, als wäre er ein erwachsener Mann. Die Bauern da unten m Schonen gaben dem kleinen Mads oft viel Geld mit, wenn er von einem Hof zum andern ging, denn sie wußten, daß sie sich auf ihn verlassen konnten wie auf sich selbst. Darum ist es nicht richtig zu sagen, daß der kleine Mads nur ein Kind gewesen sei, denn es gibt viele Erwachsene, die nicht –«

Der Inspektor stand da und sah zu Boden; keine Muskel in seinem Gesicht bewegte sich, und das Gänsemädchen Aase schwieg, denn sie glaubte, daß ihre Worte keinen Eindruck auf ihn machten. Daheim war es ihr gewesen, als hätte sie so viel von dem kleinen Mads zu sagen, aber jetzt erschien es ihr so gar wenig. Wie sollte sie dem Inspektor begreiflich machen, daß der kleine Mads es verdiente, mit denselben Ehren begraben zu werden wie ein Erwachsener?

»Und wenn ich doch das ganze Begräbnis selbst bezahlen will …« sagte Aase und dann schwieg sie wieder.

Da erhob der Inspektor den Kopf und sah dem Gänsemädchen Aase in die Augen. Er maß und wog sie, wie es der zu tun pflegt, der viele Menschen unter sich hat. Er dachte daran, was sie alles durchgemacht hatte, indem sie ihr Heim und die Eltern und Geschwister verlor; aber das hatte ihren Mut nicht gebrochen, und es würde sicher ein prächtiges Menschenkind aus ihr werden. Er wagte nicht, der Last, die sie zu tragen hatte, noch mehr hinzuzufügen, denn es könnte ja sein, daß dies der Strohhalm würde, unter dem sie zusammenbrach. Er begriff, welch Entschluß es sie gekostet hatte, zu ihm zu kommen, um mit ihm zu reden. Sie mußte diesen Bruder ja über alles in der Welt geliebt haben. Einer solchen Liebe durfte man nicht mit einem Abschlag begegnen.

»Es geschehe, wie du willst,« sagte der Inspektor.

XXXIX. Ein Tag in Hälsingeland


Ein großes, grünes Blatt.

Donnerstag, 16. Juni.

Am nächsten Tag flog Niels Holgersen über Hälsingeland. Mit lichtgrünen Schossen an den Nadelbäumen, frischbelaubten Birkengehölzen, jungem Gras auf den Wiesen und saftig sprossender Saat auf den Feldern lag es unter ihm. Es war ein hochgelegenes, bergiges Land, aber mitten hindurch zog sich ein offenes, helles Tal, und von diesem aus erstreckten sich nach beiden Seiten andere Täler, einige kurz und eng, andere breit und lang. »Dies Land werde ich wohl mit einem Blatt vergleichen müssen,« dachte Niels Holgersen, »denn es ist grün wie ein Blatt, und die Täler verzweigen sich ungefähr auf dieselbe Weise wie die Rippen in der Blattfläche.«

Von dem großen Haupttal zweigten sich zuerst zwei mächtige Seitentäler ab, eins nach Osten und eins nach Westen. Dann schickte es nur noch kleine Täler aus, bis es ziemlich hoch nach Norden kam. Dort streckte es wieder zwei starke Arme aus. Nun lief es noch ein gutes Stück länger hinauf, wurde dann aber immer schmäler und verlor sich schließlich in der Wildnis.

Mitten in dem großen Tal floß ein breiter, prächtiger Fluß, der sich an vielen Stellen zu Seen erweiterte. An dem Fluß entlang lagen Wiesen, die ganz mit kleinen, grauen Scheunen übersät waren, an diese Wiesen grenzten Äcker und an der Talgrenze, dort wo der Wald begann, lagen die Höfe. Sie waren groß und gut gebaut, und ein Hof lag neben dem andern in einer fast ununterbrochenen Reihe. Unten am Flußufer ragten Kirchen empor, und um diese scharten sich die Höfe zu großen Dörfern. Andere Häusergruppen lagen um die Bahnhöfe herum und bei den Sägewerken, die hier und da an Seen und Flüssen errichtet waren und die man an den Bretterstapeln, die sich rings um sie auftürmten, leicht erkennen konnte.

Die Seitentäler waren ebenso wie das mittlere Tal voll von Seen, Feldern, Dörfern und Höfen. Leicht und lächelnd glitten sie zwischen die dunklen Berge hinein, bis sie nach und nach von ihnen zusammengepreßt wurden und schließlich so schmal waren, daß sie nur noch für einen kleinen Bach Platz hatten.

Die Bergkuppen zwischen den Tälern waren mit Nadelwald bestanden. Der fand keinen ebenen Boden, in dem er wachsen konnte, eine Menge Felsblöcke lagen dort oben wild durcheinander, der Wald aber bedeckte das alles wie eine Pelzdecke, die über einen eckigen Körper gebreitet ist.

Es war ein schönes Land, wenn man so darauf hinab sah. Und der Junge bekam auch ein gut Teil davon zu sehen, denn der Adler spähte nach dem alten Spielmann Klement Larsson aus und flog suchend von Tal zu Tal.

Als der Morgen anbrach, entstand Leben und Bewegung auf den Höfen. Die Türen der Kuhställe, die dort in der Gegend groß und hoch waren, und einen Schornstein wie auch hohe, breite Fenster hatten, wurden weit geöffnet, und man ließ die Kühe hinaus. Es waren schöne, weiße, feingebaute und geschmeidige Tiere, sicher auf den Füßen und so munter, daß sie die lustigsten Sprünge machten. Die Kälber und die Schafe kamen auch heraus, und man konnte sehen, daß sie in allerbester Laune waren.

Mit jedem Augenblick, der verging, wurde es lebhafter auf den Hofplätzen. Ein paar junge Mägde mit Ranzen auf dem Rücken gingen zwischen dem Vieh umher. Ein Junge mit einem langen Stecken in der Hand hielt die Schafe zusammen. Ein kleiner Hund lief zwischen den Kühen herum und kläffte sie bissig an, sobald sie stoßen wollten. Der Bauer spannte ein Pferd vor einen Karren, und belud ihn mit Butterkübeln, Käseformen und allerlei Lebensmitteln. Alles sang und lachte. Menschen wie Tiere waren so vergnügt, als sei ein großer Festtag angebrochen.

Bald darauf waren sie alle miteinander auf dem Wege zu den Wäldern hinauf. Eine der Mägde ging voran und lockte das Vieh mit wohlklingenden Jodlern. Hinter ihr kamen die Kühe in langer Reihenfolge. Der Hirtenjunge und der Hirtenhund liefen hin und her, um acht zu geben, daß keins der Tiere vom Pfad abwich. Den Beschluß machten der Bauer und sein Knecht. Sie gingen neben dem Karren her, um ihn am Umfallen zu verhindern, denn der Weg, den sie verfolgten, war nur ein schmaler, steiniger Waldpfad.

Entweder ist es Sitte, daß die Bauern in Hälsingeland ihr Vieh an ein und demselben Tage in die Wälder hinaufschicken, oder es traf sich nur in diesem Jahr so. Soviel aber ist sicher, Niels Holgersen sah die fröhlichen Züge von Menschen und Vieh aus jedem Tal und aus jedem Haus herausziehen, in den öden Wald einbiegen und ihn mit Leben erfüllen. Aus der dunklen Tiefe der Wälder vernahm er den ganzen Tag das Jodeln der Sennerinnen und den Klang der Glocken. Die meisten hatten einen langen, beschwerlichen Weg vor sich, und der Junge sah, wie sie mühselig über sumpfige Moore zogen und Umwege machen mußten, um Windfälle zu umgehen, während die Karren oft gegen Steine stießen und mit allem, was darin war, umstürzten. Aber die Senner begegneten allen Schwierigkeiten mit fröhlichem Lachen und bester Laune.

Im Laufe des Nachmittags langte der Zug auf ausgerodeten Plätzen im Walde an, wo ein niedriger Kuhstall und kleine, graue Hütten standen. Als die Kühe auf den Platz zwischen den Hütten kamen, brüllten sie vergnügt, als erkennten sie den Ort wieder, und machten sich gleich daran, von dem grünen, saftigen Gras zu fressen. Unter Scherzen und fröhlichem Geplauder holten die Leute Wasser und Brennholz und trugen alles, was sie auf dem Karren mitgebracht hatten, in die größte der Hütten. Bald stieg Rauch aus dem Schornstein auf. Und dann setzten sich die Sennerinnen, der Hirtenjunge und die erwachsenen Männer rings um einen flachen Stein und hielten draußen im Freien ihre Mahlzeit.

Der Adler Gorgo war fest überzeugt, daß er Klement Larsson unten den Leuten finden würde, die sich auf dem Weg in den Wald befanden. Sobald er einen Sennerzug erblickte, ließ er sich hinabsinken und untersuchte ihn mit scharfem Auge. Aber es verging Stunde auf Stunde, ehe er ihn fand.

Nach vielem Hin- und Herfliegen kam der Adler gegen Abend in eine bergige und einsame Gegend, die östlich von dem großen Haupttal lag. Wieder sah er eine Sennhütte unter sich. Die Leute und das Vieh waren schon angekommen. Die Männer waren damit beschäftigt, Holz zu hauen, und die Mägde molken die Kühe.

»Sieh doch!« sagte Gorgo. »Ich glaube, jetzt haben wir den Mann!«

Er ließ sich hinab, und Niels sah zu seiner großen Verwunderung, daß der Adler recht hatte. Da stand wirklich der kleine Klement Larsson und spaltete Holz auf der Wiese.

Gorgo flog in den dichten Wald, eine Strecke vom Hause entfernt, hinab. »Jetzt habe ich ausgeführt, was ich übernommen hatte,« sagte er und machte eine stolze Bewegung mit dem Kopf. »Nun mußt du sehen, daß du mit dem Manne sprichst. Ich werde mich da oben in den dichten Tannenwipfel setzen und auf dich warten.«

Die Neujahrsnacht der Tiere.

Auf der Sennhütte war die Arbeit beendet und das Abendbrot gegessen, aber die Leute blieben noch sitzen und plauderten. Es war lange her, seit sie eine Sommernacht im Walde zugebracht hatten, und sie fanden, es sei ein Jammer, sich hinzulegen und zu schlafen. Es war so hell wie am lichten Tage, und die Sennerinnen waren mit ihrer Handarbeit beschäftigt, von Zeit zu Zeit aber sahen sie auf, schauten in den Wald hinein und lächelten still vor sich hin. »Ja, nun sind wir wieder hier,« sagten sie. Das Dorf mit all seiner Unruhe entschwand aus ihrer Erinnerung und der tiefe Friede des Waldes umfing sie. Wenn sie daheim auf dem Hof daran dachten, daß sie den ganzen Sommer hier oben im Walde allein zubringen müßten, konnten sie kaum begreifen, wie sie das aushalten sollten, sobald sie aber in die Sennhütte hinaufgekommen waren, fühlten sie, daß dies ihre allerbeste Zeit war.

Von den in der Nähe gelegenen Sennhütten waren einige junge Mädchen und Burschen zu Besuch gekommen, so war es denn eine ganz stattliche Anzahl, die sich in dem Gras vor den Hütten gelagert hatte, aber es wollte keine richtige Unterhaltung in Gang kommen. Die Burschen mußten am nächsten Tag wieder in das Dorf hinab, und die Sennerinnen gaben ihnen allerlei kleine Aufträge und schickten Grüße an die zu Hause Gebliebenen durch sie ins Tal hinab. Viel mehr wurde nicht geredet.

Da sah die Älteste der Sennerinnen von ihrer Arbeit auf und sagte munter: »So still braucht es hier auf der Alm doch heute abend nicht zuzugehen, denn wir haben doch zwei Männer unter uns, die sonst gern etwas erzählen. Der eine ist Klement Larsson, der hier neben mir sitzt, und der andere ist Bernhard von Sunnansee, der da drüben steht und nach dem Blackaasen hinaufsieht. Ich finde wirklich, wir sollten sie bitten, daß uns jeder eine Geschichte erzählt, und wer die schönste erzählt, der soll das Halstuch haben, an dem ich hier stricke.«

Dieser Vorschlag fand großen Beifall. Die beiden, die miteinander wetteifern sollten, machten natürlich anfangs Einwendungen, fügten sich jedoch bald. Klement schlug vor, daß Bernhard beginnen sollte, und dieser hatte nichts dagegen. Er kannte Klement Larsson kaum, ging aber von der Voraussetzung aus, daß dieser irgendeine alte Geschichte von Gespenstern und Kobolden zum besten geben würde, und da er wußte, daß die Leute dergleichen gern hörten, hielt er es für das klügste, auch so etwas zu wählen.

»Vor mehreren hundert Jahren,« begann er, »geschah es, daß ein Propst hier in Delsbo in einer Neujahrsnacht mitten durch den dichten Wald ritt. Er saß in seinem Pelz und mit einer Pelzmütze auf seinem Pferd und an dem Sattelknopf hing eine Tasche, in der er die Altargeräte, die Agende und seinen Talar gepackt hatte. Spät am Abend war er zu einem Kranken tief drinnen im Walde geholt worden, und er hatte bis in die Nacht hinein bei ihm gesessen und mit ihm gesprochen. Jetzt befand er sich endlich auf dem Heimwege, aber er fürchtete, daß er erst weit nach Mitternacht den Propsthof wieder erreichen würde.

Wenn er nun doch einmal die Nacht auf dem Pferderücken zubringen sollte, statt ruhig in seinem Bett zu liegen, so war er wenigstens froh, daß die Nacht nicht gar zu arg war. Es war mildes Wetter und stille Luft bei bedecktem Himmel. Der Vollmond stand groß und rund hinter den Wolken und leuchtete, wenn er selbst auch nicht zu sehen war. Wäre das bißchen Mondschein nicht gewesen, so hätte er den Weg nur schwer von dem Erdboden unterscheiden können, denn es lag kein Schnee und alles hatte dieselbe graubraune Farbe.

Der Propst ritt in dieser Nacht ein Pferd, auf das er große Stücke hielt. Es war sowohl kräftig als auch ausdauernd und fast so klug wie ein Mensch. So hatte der Propst zum Beispiel wiederholt bemerkt, daß das Pferd von jedem beliebigen Ort in dem weiten Kirchspiel sich wieder nach Hause zurückfinden konnte. Darauf verließ er sich so fest, daß er sich eigentlich nie mehr die Mühe machte, an den Weg zu denken, wenn er dies Pferd ritt. Und so kam er auch jetzt mit schlaff herabhängendem Zügel mitten durch die graue Nacht und den wilden Wald geritten, während seine Gedanken weitab schweiften.

Während der Propst so dasaß, dachte er an die Predigt, die er am nächsten Tage halten wollte, und noch an mancherlei anderes, und es währte ziemlich lange, bis es ihm einfiel, sich klar darüber zu werden, wie weit es noch bis nach Hause sei. Als er dann schließlich aufsah und gewahrte, daß ihn der Wald noch ebenso dicht umgab wie zu Anfang des Rittes, fing er allmählich an, sich zu verwundern. Er war jetzt so lange unterwegs gewesen, daß er meinte, er müsse den bebauten Teil des Kirchspiels bereits erreicht haben.

Delsbo sah damals nicht so aus, wie heutzutage. Die Kirche und der Propsthof und alle die großen Höfe und Dörfer lagen in dem nördlichen Teil des Kirchspiels um den Del herum, und im Süden gab es nichts als Berge und Wälder. Als der Propst sah, daß er sich noch in einer unbebauten Gegend befand, wußte er also, daß er in dem südlichen Teil des Kirchspiels war, und daß er, um nach Hause zu gelangen, nach Norden reiten mußte. Aber gerade das schien er nicht zu tun. Da waren weder Mond noch Sterne, nach denen er sich hätte richten können, aber er gehörte zu denen, die den Kompaß im Kopf haben, und er hatte das bestimmte Gefühl, daß er gen Süden oder vielleicht gen Osten reite.

Er war schon im Begriff, das Pferd zu wenden, aber dann besann er sich. Das Pferd war noch niemals irregegangen und tat es sicher auch jetzt nicht. Viel eher würde er selbst sich geirrt haben. Seine Gedanken waren ja weit abgeschweift, da hatte er des Weges wohl nicht geachtet. Er ließ das Pferd in der bisherigen Richtung weitergehen und versank bald wieder in seine Gedanken.

Gleich darauf aber traf ihn ein großer Zweig mit einer solchen Gewalt, daß er ihn fast vom Pferde gerissen hätte. Da sah er denn ein, daß er sich klar darüber werden müsse, wohin er geraten war.

Er guckte auf den Weg hinab und entdeckte, daß er über weichen Moorboden ritt, wo kein getretener Pfad zu entdecken war. Das Pferd ging aber ohne Zögern weiter. Doch so wie vorhin war der Propst auch jetzt überzeugt, daß er die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.

Diesmal entschloß er sich einzugreifen. Er griff fest in die Zügel, um das Tier zum Umkehren zu zwingen, und es gelang ihm auch, es auf den Weg zurückzutreiben. Kaum jedoch dort angelangt, benutzte das Pferd einen Richtpfad zwischen zwei Bäumen und lief geradeswegs wieder in den Wald hinein.

Der Propst war so fest überzeugt, daß die Richtung verkehrt war, wie man überhaupt nur von etwas überzeugt sein kann; da das Pferd aber so sicher zu sein schien, glaubte er, daß es jetzt vielleicht einen besseren Weg aufsuchen wolle, und so ließ er es denn laufen.

Das Pferd kam schnell vorwärts, obwohl es auf keinem Wege lief. Kam es an einen Bergabhang, so kletterte es geschickt wie eine Ziege hinauf, und wenn es dann wieder bergab ging, setzte es alle vier Füße dicht nebeneinander und rutschte die steile Bergwand hinab.

›Fände es doch nur bis zur Kirchzeit den Weg nach Hause,‹ dachte der Propst. ›Ich möchte wohl wissen, was meine Delsboer sagen würden, wenn ich nicht rechtzeitig in die Kirche käme.‹

Er hatte nicht lange Zeit, hierüber nachzudenken, denn plötzlich kam er an einen Ort, der ihm bekannt war. Es war ein kleiner, dunkler Waldsee, wo er im letzten Sommer gefischt hatte. Nun war er sich klar darüber, daß es sich wirklich so verhielt, wie er gefürchtet hatte. Er befand sich tief drinnen in den Wäldern, und das Pferd ging in südöstlicher Richtung weiter. Es schien, als sei es darauf versessen, ihn so weit wie möglich vom Pfarrhause wegzuführen.

Der Propst sprang augenblicklich aus dem Sattel. Er konnte sich nicht so von dem Pferd in die Wildnis tragen lassen. Er mußte nach Hause, und da das Pferd mit aller Macht irregehen wollte, beschloß er, zu Fuß zu gehen und das Pferd zu führen, bis sie auf bekannten Wegen angelangt waren. So wickelte er denn den Zügel um den Arm und trat die Wanderung an. Es war keine leichte Sache, in einem schweren Pelz durch den wilden Wald zu gehen, aber der Propst war ein starker und abgehärteter Mann, der sich vor nichts fürchtete.

Bald aber erschwerte ihm das Pferd von neuem die Wanderung. Es wollte ihm nicht folgen, sondern stemmte die Hufe fest gegen den Boden und sträubte sich.

Schließlich wurde der Propst zornig. Er pflegte sonst nie dies Pferd zu schlagen, darum wollte er auch jetzt nicht zu diesem Mittel greifen. Statt dessen warf er ihm die Zügel über den Hals und ging seiner Wege. ›Dann müssen wir uns hier wohl trennen‹, sagte er, ›da du deinen eigenen Weg gehen willst.‹

Kaum hatte er jedoch ein paar Schritte gemacht, als das Pferd hinter ihm dreinkam, ihn behutsam am Ärmel zupfte und ihn zurückzuhalten suchte. Der Propst wandte sich um und sah dem Pferd in die Augen, um zu erforschen, warum es sich so wunderlich gebärdete.

Später konnte der Propst nie recht begreifen, wie es möglich war, aber das steht fest, trotz der Dunkelheit konnte er das Gesicht des Pferdes ganz deutlich sehen und darin lesen, als sei es das Antlitz eines Menschen gewesen. Er konnte sehen, daß sich das Pferd in der fürchterlichsten Angst und Not befand. Es sah ihn mit einem zugleich flehenden und vorwurfsvollen Blick an. ›Ich habe dir gedient und dir Tag für Tag gehorcht,‹ schien es zu sagen, ›kannst du mir nicht diese eine Nacht folgen?‹

Der Propst wurde gerührt durch die Bitte, die er in den Augen des Tieres las. Es war klar, daß das Pferd in dieser Nacht in irgendeiner Weise seiner Hilfe bedurfte, und da er ein kühner und mutiger Mann war, beschloß er sofort, ihm zu folgen. Ohne zu zögern führte er das Pferd an einen Stein, um wieder aufzusteigen. ›Geh jetzt nur!‹ sagte er, ›ich will dich nicht verlassen, wenn du mich mithaben willst. Niemand soll dem Delsboer Propst nachsagen, daß er sich weigert, jemand zu folgen, der in Not ist.‹

Und fortan ließ er das Pferd laufen, wie es wollte, und dachte an nichts weiter, als sich im Sattel festzuhalten. Es wurde ein gefährlicher und anstrengender Ritt, und fast die ganze Zeit ging es bergauf. Der Wald war rings um ihn her so dicht, daß er kaum zwei Schritte weit sehen konnte, aber es schien ihm, als ritten sie einen sehr hohen Berg hinan. Das Pferd arbeitete sich die halsbrecherischsten Abhänge empor. Hätte der Propst selbst die Zügel geführt, so würde er es sich nicht im Traum haben einfallen lassen, ein Pferd einen solchen Weg bergan zu zwingen. ›Du hast doch wohl nicht die Absicht, dich auf den Blocksaas selbst hinaufzuwagen?‹ sagte der Propst zu dem Pferd und lachte. Er wußte, daß der Blacksaas dort in der Nahe lag, aber es war einer der höchsten Berge in Helsingeland.

Wie sie so weiterritten, merkte der Propst, daß er und das Pferd nicht die einzigen waren, die in dieser Nacht unterwegs waren. Er hörte Steine rollen und Zweige knacken. Es klang, als wenn sich große Tiere einen Weg durch den Wald bahnten. Er wußte, daß es dort in der Gegend von Wölfen wimmelte, und dachte, ob ihn das Pferd wohl zum Kampf gegen die wilden Tiere führen wolle.

Bergan ging es, beständig bergan, und je höher sie kamen, um so lichter wurde der Wald.

Endlich ritten sie an einem fast kahlen Bergrücken entlang, so daß der Propst nach allen Seiten um sich sehen konnte.

Er schaute über unermeßliche Strecken Landes hinaus, wo Felsklippen und Berggrate abwechselten, und die überall mit dunklen Wäldern bedeckt waren. Es war nicht leicht, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, bald aber konnte er nicht darüber in Zweifel sein, wo er sich befand.

›Ja, wahrlich,‹ dachte er, ›wahrlich, dies ist der Blacksaas, den ich hinanreite; es kann nicht anders sein. Nach Westen zu sehe ich den Järsüflack liegen und im Osten schimmert das Meer da draußen bei Agö. Nach Norden zu sehe ich auch etwas, das glitzert. Das ist gewiß der Del. Und hier tief unter mir sehe ich den weißen Schaumgischt des Niamfoß. Ja, ich bin auf den Blacksaas hinaufgekommen. Das ist wahrlich ein Abenteuer!‹

Als sie auf den Gipfel des Berges hinaufkamen, blieb das Pferd hinter einer buschigen Tanne stehen, als wenn es sich da verbergen wolle. Der Propst beugte sich vor und bog die Zweige auseinander, so daß er eine freie Aussicht hatte.

Der kahle, flache Gipfel des Berges lag vor ihm ausgebreitet, aber es war dort nicht öde und leer, so wie er es sich gedacht hatte. Mitten auf dem offenen Platz lag ein großer Felsblock, und ringsherum war eine große Schar von Tieren versammelt. Es wollte dem Propst scheinen, als seien sie dahingekommen, um eine Art Ting abzuhalten.

Dem großen Stein zunächst sah der Propst die Bären, stark und schwer gebaut, so daß sie pelzbekleideten Felsblöcken glichen. Sie hatten sich hingelegt und blinzelten ungeduldig mit ihren kleinen Augen. Man konnte deutlich sehen, daß sie eben aus dem Winterschlaf aufgestanden waren, um zum Ting zu gehen, und daß es ihnen schwer wurde, sich wach zu halten. Hinter ihnen saßen einige hundert Wölfe in dichten Reihen. Sie waren nicht schläfrig, sondern mitten in dem winterlichen Dunkel viel lebhafter als jemals im Sommer. Sie saßen auf den Hinterfüßen wie Hunde, peitschten den Boden mit dem Schwanz und schnappten nach Luft, während ihnen die Zunge lang zum Rachen heraushing. Hinter den Wölfen schlichen die Luchse herum, steifbeinig und ungeschlacht, gleich großen, mißgestalteten Katzen. Sie schienen den anderen Tieren gegenüber scheu zu sein und fauchten, wenn jemand in ihre Nähe kam. In der Reihe hinter den Luchsen sah man die Vielfraße, die ein Hundegesicht und einen Bärenpelz hatten. Sie fühlten sich nicht wohl auf dem Erdboden, sondern stampften ungeduldig mit ihren breiten Füßen und sehnten sich danach, in die Bäume hinaufzukommen. Und wiederum hinter diesen, auf dem ganzen freien Platz bis an den Waldessaum wimmelte es von Füchsen, Wieseln, Mardern, klein und niedlich von Gestalt, aber mit noch wilderen und blutdürstigeren Augen als die größeren Tiere.

Der Propst konnte alle diese Tiere ganz deutlich sehen, denn der ganze Platz war erhellt. Auf dem hohen Stein in der Mitte stand nämlich der König des Waldes und hielt eine Fichtenfackel in der Hand, die mit einer hohen, roten Flamme brannte. Der König des Waldes war so groß wie der höchste Baum im Walde, er trug einen Mantel aus Tannenzweigen, und seine Haare waren aus Tannenzapfen. Er stand ganz still, das Gesicht dem Walde zugewendet. Er spähte und lauschte.

Obwohl der Propst das Ganze deutlich sah, war er so erstaunt, daß er sich förmlich dagegen sträubte und seinen Augen nicht recht trauen wollte. ›Dies ist ja ganz unmöglich,‹ dachte er. ›Ich muß nicht recht bei Verstand sein. Ich bin zu lange in dem dunklen Walde umhergeritten. Meine Phantasie ist mit mir durchgegangen.‹

Trotzdem beobachtete er alles mit der größten Aufmerksamkeit und wartete in Spannung auf das, was er zu sehen bekommen würde und was sich hier ereignen sollte.

Es vergingen nur ein paar Minuten, da vernahm er vom Walde her das Klingeln einer kleinen Kuhglocke. Und gleich darauf hörte er von neuem das Geräusch von Schritten und von knackenden Zweigen, als bahne sich ein großes Rudel von Tieren den Weg durch die Wildnis.

Es war eine große Schar Haustiere, die dahergewandert kamen. Sie gingen in derselben Ordnung, wie wenn sie sich auf dem Wege zur Alm hinauf befänden. Zuerst kam die Glockenkuh, dann der Stier, darauf kamen die anderen Kühe, und den Beschluß machten das Jungvieh und die Kälber. Dann folgten die Schafe in einer dichten Herde, dann die Ziegen und zu allerletzt ein paar Pferde und Füllen. Der Hirtenhund ging neben der Herde, aber da war weder ein Hirtenjunge noch eine Sennerin bei dem Vieh.

Es schnitt dem Propst ins Herz, als er die zahmen Tiere so geradeswegs auf die Raubtiere zukommen sah. Er war schon im Begriff, sich ihnen in den Weg zu stellen und ihnen zuzurufen, daß sie innehalten sollten, aber er sah ja ein, daß es in keines Menschen Macht stand, die Schritte der Tiere in dieser Nacht zu hemmen, und so verhielt er sich denn ruhig.

Es war ganz klar, daß die zahmen Tiere sich vor dem ängstigten, dem sie entgegengingen. Sie sahen bange und unglücklich aus. Selbst die Glockenkuh kam mit hängendem Kopf und zögerndem Schritt daher. Die Ziegen hatten weder Lust zum Spielen noch zum Bocken. Die Pferde bemühten sich, mutig zu scheinen, aber sie zitterten am ganzen Leibe vor Angst. Am jammervollsten aber sah der Hirtenhund aus. Er hatte den Schwanz eingezogen und kroch beinahe am Boden hin.

Die Glockenkuh führte die Schar bis dicht an den Waldkönig, der auf dem Felsblock oben auf dem Gipfel des Berges stand. Sie ging rings um ihn herum, kehrte dann aber um, ohne daß nur eines der wilden Tiere sie angerührt hätte. Auf die gleiche Weise wanderte die ganze Herde unangetastet an den wilden Tieren vorüber.

Und der Propst sah, daß der Waldgeist, als das Vieh an ihm vorüberzog, bald über dem einen, bald über dem andern seine Fackel senkte und abwärts kehrte.

Jedesmal, wenn sich dies wiederholte, stimmten die Raubtiere ein lautes und freudiges Gebrüll an, namentlich wenn sich die Fackel über einer Kuh oder sonst einem größeren Tier gesenkt hatte; das Tier aber, das die Fackel über sich herabsinken sah, stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, als habe man ihm ein Messer in den Leib gepreßt, und die ganze Schar, zu der es gehörte, brach gleichfalls in ein Klagegeschrei aus.

Und plötzlich wurde es dem Propst klar, was er hier sah. Er hatte ja schon davon gehört, daß sich die Tiere in Delsbo in jeder Neujahrsnacht auf dem Blacksaasen versammelten, damit der Waldkönig die Haustiere bezeichnete, die im Laufe des Jahres die Beute der Raubtiere werden sollten. Er empfand das größte Mitleid mit dem armen Vieh, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, obwohl es ja keinen andern Herrn haben sollte als den Menschen.

Kaum war die erste Herde abgezogen, als abermals Kuhglocken unten vom Walde her ertönten, und der Viehbestand eines anderen Hofes den Berg hinaufgewandert kam. Sie kamen in derselben Ordnung daher wie der erste Zug und gingen auf den Waldkönig zu, der strenge und ernsthaft dastand und ein Tier nach dem andern als dem Tode verfallen bezeichnete. Und dieser Herde folgte ohne Aufenthalt eine Schar nach der andern. Einige davon waren so klein, daß sie nur aus einer einzigen Kuh und einigen Schafen bestanden, andere nur aus ein paar Ziegen. Diese kamen offenbar aus armen, kleinen Waldhütten, aber zum Waldkönig hin mußten sie alle, und er schonte keine von ihnen.

Der Propst dachte an die Bauern in Delsbo, die ihre Haustiere so lieb hatten. ›Wenn sie dies nur wüßten, würden sie es sicher nicht so weiter gehen lassen,‹ dachte er. ›Sie würden eher ihr eigenes Leben wagen, als ihr Vieh zwischen Bären und Wölfen gehen lassen, um sich ihr Todesurteil von dem Waldkönig zu holen.‹

Die letzte Schar, die daherkam, war das Vieh vom Pfarrhofe. Der Propst konnte schon von weitem die Glocke der Glockenkuh erkennen, und das tat das Pferd offenbar ebenfalls. Es zitterte an allen Gliedern und stand in Schweiß gebadet da. ›Ja, jetzt kommt also die Reihe an dich an dem Waldkönig vorüberzugehen und dir dein Urteil zu holen,‹ sagte der Propst zu dem Pferde. ›Fürchte dich aber nicht! Ich verstehe sehr wohl, warum du mich hierhergeführt hast, und ich werde dich nicht im Stich lassen.‹

Der schöne Viehbestand vom Pfarrhofe kam jetzt in einer langen Reihe aus dem Walde heraus und ging auf den Waldkönig und die wilden Tiere zu. Den Beschluß machte das Pferd, das seinen Herrn den Blacksaasen hinaufgetragen hatte. Der Propst stieg nicht ab, sondern blieb sitzen und ließ sich von dem Tier zu dem Waldkönig tragen.

Er hatte weder eine Flinte noch ein Messer, um sich zu verteidigen. Aber er hatte die Agende herausgeholt und drückte sie fest gegen seine Brust, als er sich nun auf den Kampf mit dem Zauberer einließ.

Zu Anfang schien es, als habe niemand ihn bemerkt. Ganz so wie die andere Herde wanderte auch das Vieh vom Pfarrhof an dem Waldkönig vorüber. Der Waldkönig ließ die Fackel auf keins der Tiere herabsinken. Erst als das kluge Pferd kam, machte er eine Bewegung, als wolle er es für den Tod kennzeichnen.

Im selben Augenblick aber hob der Propst die Agende in die Höhe, und der Fackelschein fiel auf das Kreuz, das den Einband des Buches zierte. Der Waldkönig stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, die Fackel entfiel seiner Hand und lag am Erdboden.

Die Flamme erlosch augenblicklich, und in dem plötzlichen Übergang von Licht und Dunkel konnte der Propst nichts sehen. Er hörte auch nichts. Rings um ihn her herrschte dasselbe tiefe Schweigen wie immer im Winter in der Wildnis.

Da teilten sich plötzlich die schweren Wolken, die den Himmel bedeckten, und durch den Riß trat der Vollmond und warf seine Strahlen auf die Erde herab. Und nun sah der Propst, daß er und das Pferd ganz allein auf dem Gipfel des Blacksaasen standen. Nicht ein einziges von den wilden Tieren war mehr da. Die Erde war zerstampft von den vielen Viehherden, die darüber hingewandert waren. Er selbst aber saß da, die Agende in den ausgestreckten Händen, und das Pferd, das ihn trug, zitterte und war in Schweiß gebadet.

Als der Propst wieder den Berg hinabgeritten war und auf seinem Hof anlangte, wußte er nicht recht, ob das, was er gesehen hatte, ein Traum gewesen war oder eine Vision oder Wirklichkeit. Daß es aber eine Mahnung für ihn war, an das arme Vieh zu denken, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, das verstand er. Und er predigte den Bauern von Delsbo so nachdrücklich, daß zu seiner Zeit alle Wölfe und Bären hier im Kirchspiel ausgerottet wurden, – wenn sie auch vielleicht zurückgekommen sein können, nachdem er heimgegangen war.«

Hier endete Bernhard seine Geschichte. Alle fanden, daß sie ausgezeichnet war, und es schien eine abgemachte Sache, daß er den Preis bekommen würde. Die meisten fanden, daß Klement zu bedauern sei, weil er den Wettstreit mit Bernhard aufnehmen sollte.

Klement aber begann unverzagt: »Eines Tages ging ich auf Skansen vor Stockholm und hatte Heimweh,« sagte er, und dann erzählte er von dem Männlein, das er freigekauft hatte, damit es nicht in einen Käfig gesperrt und wie ein wildes Tier zur Schau gestellt werden solle. Und er erzählte weiter, wie er kaum diese gute Tat getan hatte, als er auch schon dafür belohnt wurde. Er erzählte und erzählte, und das Staunen der Zuhörer wuchs beständig und als er schließlich bis zu dem königlichen Lakai und dem schönen Buch kam, ließen alle Sennerinnen ihre Arbeit in den Schoß sinken und starrten unbeweglich Klement an, der so merkwürdige Dinge erlebt hatte.

Sobald Klement geendet hatte, sagte die Sennerin, er solle das Halstuch haben. »Bernhard hat etwas erzählt, was ein anderer erlebt hat, Klement aber hat selbst ein wirkliches Abenteuer erlebt, und das scheint mir mehr zu sein,« sagte sie.

Darin stimmten sie alle mit ihr überein. Sie betrachteten Klement nun, wo sie erfahren hatten, daß er mit dem König geredet hatte, mit ganz andern Augen als bisher, und der kleine Spielmann wagte kaum zu zeigen, wie stolz er sich fühlte. Aber mitten in der großen Begeisterung fragte ihn plötzlich jemand, was er denn mit dem kleinen Wicht gemacht habe.

»Ich hatte keine Zeit, ihm den blauen Napf selbst hinzustellen,« sagte Klement. »Aber ich habe den alten Lappen gebeten, es zu tun. Was später aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.«

Kaum hatte Klement dies gesagt, als ein kleiner Tannenzapfen geflogen kam und ihn an die Nase traf. Er kam nicht aus den Bäumen, und er kam auch nicht von einem Menschen. Es war nicht zu begreifen, woher er kam.

»Ha, ha, Klement!« lachte die Sennerin. »Es scheint, daß die Männlein hören, was wir sprechen. Ihr hättet es gewiß nicht einem andern überlassen sollen, ihm das Essen in dem blauen Napf hinzustellen!«

XXVII. Das Eisenwerk

Donnerstag, 28. April.

Fast den ganzen Tag, als die Wildgänse über den Bergwerkdistrikt hinflogen, wehte ein starker Westwind, und sobald sie versuchten, gen Norden zu steuern, wurden sie gen Osten geworfen. Akka aber glaubte, daß Reineke in dem östlichen Teil des Landes umherlief. Aus diesem Grunde wollte sie nicht nach der Seite fliegen, sondern kehrte einmal über das andere um und kämpfte sich mühselig nach Westen zurück. Auf diese Weise kamen die wilden Gänse nur langsam vorwärts, und gegen Nachmittag waren sie noch nicht weitergekommen als bis an den Bergwerkdistrikt von Westmanland. Gegen Abend legte sich der Wind plötzlich, und die müden Reisenden faßten Hoffnung auf eine Stunde ruhigen Fluges vor Sonnenuntergang. Aber da kam ein heftiger Windstoß gefahren, der trieb die Gänse vor sich her wie Bälle, und Niels Holgersen, der ganz sorglos dasaß und von keiner Gefahr träumte, ward von dem Gänserücken gehoben und in den leeren Luftraum geschleudert.

Der Junge war so klein und so leicht, daß er in dem mächtigen Sturm nicht gleich auf die Erde fallen konnte, er flog noch eine Weile mit dem Wind weiter und sank dann langsam und flatternd hinab, wie ein Blatt, das vom Baume weht.

»Ach, das hat keine Not!« dachte der Junge noch während er fiel. »Ich sinke so langsam hinab, als wäre ich ein Stück Papier. Der Gänserich Martin wird sich schon beeilen und mich wieder aufsammeln.«

Das erste, was er tat, als er auf die Erde hinabkam, war die Mütze vom Kopf zu reißen und damit zu winken, damit der große, weiße Gänserich sehen sollte, wo er war. »Hier bin ich, wo bist du? Hier bin ich, wo bist du?« rief er und war ganz erstaunt, daß der Gänserich Martin noch nicht neben ihm war.

Aber der große Weiße war nicht zu sehen, und er sah auch die Schar der Wildgänse sich nicht vom Himmel abzeichnen. Sie war ganz verschwunden.

Er fand das ja freilich ein wenig sonderbar, aber er wurde nicht bange oder unruhig. Es fiel ihm auch nicht einen Augenblick ein, daß Akka oder Martin ihn im Stich lassen könnten. Der heftige Windstoß hatte sie wohl mitgenommen. Sobald sie imstande waren, zu wenden, würden sie schon zurückkommen und ihn holen.

Aber was war denn das? Wo in aller Welt war er hingeraten? Bisher hatte er nur dagestanden und nach den Gänsen zum Himmel emporgesehen, aber jetzt blickte er plötzlich um sich. Er war nicht auf die flache Erde hinabgefallen, sondern in eine tiefe, breite Bergschlucht, oder was es nun sein mochte. Es war ein Raum so groß wie eine Kirche, mit fast lotrechten Felsenwänden nach allen Seiten und ganz ohne Decke. An der Erde lagen einige große Felsblöcke und dazwischen wuchsen Moos und Preißelbeergrün und kleine, niedrige Birken. Hier und da an den Felswänden waren vorspringende Ecken, von denen zerbrochene Leitern herabhingen. Nach der einen Seite erschloß sich ein finsteres Gewölbe, das tief in den Berg hineinzuführen schien.

Der Junge war nicht umsonst einen ganzen Tag über den Bergwerkdistrikt dahingeflogen. Er begriff sofort, daß die große Schlucht dadurch entstanden war, daß man in früheren Zeiten an dieser Stelle Erz in dem Berge gebrochen hatte. »Aber ich muß sofort versuchen, ob ich nicht wieder auf die Erde hinaufklettern kann,« dachte er, »denn sonst fürchte ich, daß meine Reisegefährten mich nicht finden können.«

Er wollte eben an die Felswand gehen, als jemand kam und ihn von hinten packte, und er hörte eine grobe Stimme in sein Ohr brummen: »Was für einer bist du denn?«

Der Junge wandte sich schnell um, und im ersten Schrecken glaubte er, einem großen Felsblock gegenüberzustehen, der mit graubrauner Bartflechte bedeckt war; dann aber gewahrte er, daß der Felsblock breite Füße hatte, auf denen er gehen konnte, und einen Kopf und Augen und einen großen, brummenden Mund.

Er konnte kein Wort der Entgegnung hervorbringen, aber das schien das große Tier auch gar nicht zu erwarten. Er warf ihn um, rollte ihn mit der Pfote hin und her und beschnüffelte ihn. Es sah so aus, als wolle es ihn verschlingen, da aber kam es auf andere Gedanken und rief: »Murre und Brumme, kommt schnell, meine Kleinen! Hier ist was Leckeres für euch!«

Augenblicklich kamen zwei zottige Junge dahergestürzt, sie standen schlecht auf den Beinen und hatten ein weiches Fell so wie junge Hunde.

»Was habt Ihr da gefunden, Bärenmutter? Dürfen wir sehen, was es ist?«

»Also Bären sind es, unter die ich geraten bin,« dachte der Junge. »Dann fürchte ich, braucht sich Reineke Fuchs keine Mühe mehr zu geben, hinter mir drein zu jagen.«

Die Bärin schob den Jungen mit der Tatze den Kleinen hin, und eins von ihnen schnappte ihn weg und lief mit ihm davon. Aber es biß nicht hart zu, denn es war ausgelassen und wollte mit dem Däumling spielen, ehe es ihn tot biß. Das andere lief hinterdrein, um den Jungen zu ergattern, und kam so watschelnd und taumelnd daher, daß es dem mit dem Jungen gerade auf den Kopf fiel. Und so rollten sie über- und untereinander und rissen sich und bissen sich und brummten.

Währenddessen entkam der Junge, lief an die Felswand und begann hinaufzuklettern. Aber die beiden Bärenkinder kamen hinter ihm drein gestürzt, kletterten schnell und behende den Berg hinauf, holten ihn ein und warfen ihn auf das Moos hinab wie einen Ball. »Jetzt weiß ich, was eine arme kleine Maus empfindet, wenn sie in die Krallen der Katze geraten ist,« dachte der Junge.

Er versuchte mehrmals zu entschlüpfen. Er lief tief in den alten Grubengang hinein, verbarg sich hinter den Steinen und kletterte in die Birken hinauf, aber die Bärenkinder fanden ihn, wo er sich auch versteckte. Sobald sie ihn eingefangen hatten, ließen sie ihn wieder los, damit er ihnen wieder fortlaufen sollte, denn dann hatten sie das Vergnügen, ihn wieder einzufangen.

Schließlich wurde der Junge so müde und hatte das Ganze so satt, daß er sich an die Erde warf. »Lauf! Lauf!« riefen die Bärenkinder, »sonst fressen wir dich!« – »Meinetwegen!« sagte der Junge, »ich kann nicht mehr laufen.« Sofort stürzten die Kleinen zu der Bärenmutter. »Mutter, Mutter, er will nicht mehr spielen,« klagten sie. – »Ja, dann nehmt ihn und teilt ihn unter euch, aber ganz gerecht,« sagte die Bärenmutter. Als der Junge das hörte, wurde er so bange, daß er gleich wieder zu spielen anfing.

Als es Schlafenszeit war und die Bärin ihre Jungen rief, damit sie dicht an sie herankriechen und sich schlafen legen sollten, hatten sie sich so köstlich unterhalten, daß sie morgen dasselbe Spiel spielen wollten. Sie nahmen den Jungen zwischen sich und legten die Tatzen auf ihn, so daß er sich nicht rühren konnte, ohne sie zu wecken. Sie schliefen bald ein, und der Junge dachte, nach einer Weile wolle er versuchen, zu entschlüpfen. Aber nie in seinem Leben war so mit ihm herumgeworfen und getründelt und gejagt und gedreht worden, und er war so todmüde, daß er auch einschlief.

Ein wenig später kam der Bärenvater die Felswand hinabgeklettert. Der Junge erwachte davon, daß er Steine und Kies losriß, indem er sich in die alte Grube hinuntergleiten ließ. Der Junge wagte ja kaum, sich zu rühren, aber er drehte und wendete sich so, daß er den Bären sehen konnte. Es war ein mächtig großer, starkgliedriger Bär mit gewaltigen Tatzen, großen, schimmernd weißen Eckzähnen und kleinen, boshaften Augen. Der Junge konnte nichts dafür, daß es ihm kalt den Rücken hinablief, als er den alten König des Waldes erblickte.

»Es riecht hier nach Menschen!« sagte der Bärenvater, sobald er zu der Bärenmutter gelangt war, und dabei brummte er wie ein Gewitter.

»Wie kannst du nur auf solche Dummheiten verfallen!« sagte die Bärenmutter und blieb ruhig liegen, wo sie lag. »Es ist ja eine Verabredung, daß wir den Menschen kein Leid mehr zufügen wollen. Aber käme einer hier hinab, wo ich und die Kleinen hausen, so würde nicht so viel von ihm übrigbleiben, daß du es riechen könntest.«

Der Bärenvater legte sich neben die Bärenmutter, schien aber nicht ganz zufrieden mit der Antwort zu sein, denn er konnte es nicht lassen zu schnobern und zu wittern.

»Laß doch das alte Geschnober noch!« sagte die Bärenmutter. »Du solltest mich doch nachgerade genug kennen, um zu wissen, daß ich nichts, was Unheil anrichten kann, in die Nähe der Kleinen kommen lasse. Erzähle mir lieber, was du unternommen hast? Ich habe dich eine ganze Woche nicht gesehen.«

»Ich bin ausgewesen und habe mich nach einer neuen Wohnung umgesehen,« sagte der Bärenvater. »Zuerst ging ich nach Wärmland hinüber, um unsere Verwandten im Neuwald zu fragen, wie sie sich da im Lande befänden, aber die Mühe hätte ich mir sparen können. Sie waren alle fort. Da war auch nicht ein Bärenlager im ganzen Walde.«

»Ich glaube, die Menschen wollen die ganze Erde für sich haben,« sagte die Bärenmutter. »Wenn wir auch Menschen und Vieh in Ruhe lassen und nur von Preißelbeeren und Ameisen und Pflanzen leben, so werden sie uns doch nicht erlauben, im Walde zu bleiben. Ich möchte wohl wissen, wo wir hinziehen und sicher sein könnten, daß man uns wohnen ließe.« – »Hier in dieser Grube haben wir uns ja so viele Jahre wohlgefühlt,« sagte der Bärenvater, »aber ich kann mich nicht darin finden, hier zu wohnen, nachdem das große Bullerwerk ganz dicht neben uns gebaut ist. Ich bin jetzt zuletzt östlich vom Dalelf gewesen, nach Garpenberg zu, um mich dort umzusehen. Auch dort waren viele alte Grubenlöcher und andere gute Schlupfwinkel, und es schien mir, als wenn man da so ziemlich Ruhe vor Menschen haben würde …«

Während der Bärenvater das sagte, erhob er sich und schnoberte nach allen Seiten. »Es ist sonderbar, jedesmal, wenn ich von Menschen spreche, spüre ich wieder den Geruch,« sagte er.

»Sieh selbst nach, wenn du mir nicht glauben willst,« sagte die Bärenmutter. »Ich möchte wohl wissen, wo ein Mensch hier versteckt liegen sollte.«

Der Bär machte die Runde durch die Höhle und schnoberte. Schließlich legte er sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder neben die Bärenmutter. »Aber du glaubst natürlich nicht, daß auch andere als du Nase und Ohren haben.«

»Man kann nie vorsichtig genug mit so einer Nachbarschaft sein, wie wir sie haben,« sagte der Bärenvater ruhig. Aber dann fuhr er mit einem Gebrüll in die Höhe. Es traf sich so unglücklich, daß eins der Bärenkinder seine Tatze auf Niels Holgersens Gesicht gelegt hatte, so daß der arme Junge nicht atmen konnte, sondern niesen mußte. Jetzt war es der Bärenmutter nicht mehr möglich, den Bärenvater ruhig zu halten. Er warf die Kleinen nach rechts und nach links und gewahrte den Jungen, ehe er sich noch erhoben hatte.

Er würde ihn sofort verschlungen haben, wenn sich die Bärenmutter nicht ins Mittel gelegt hätte. »Rühr‘ ihn nicht an! Das ist das Spielzeug der Kinder!« sagte sie, »Sie haben sich den ganzen Abend so herrlich mit ihm belustigt, daß sie es nicht übers Herz bringen konnten, ihn zu fressen, sondern ihn zu morgen aufheben wollten.« Der Bär aber schob die Bärin beiseite. »Mische dich nicht in Dinge, für die du kein Verständnis hast,« brüllte er. »Kannst du denn nicht merken, daß es nach Menschen riecht? Den fresse ich sofort auf, sonst spielt er uns noch irgendeinen schlimmen Streich.«

Er öffnete schon den Rachen, nun aber hatte der Junge Zeit gehabt, sich zu besinnen, und er hatte in größter Eile seine Streichhölzer aus dem Ranzen geholt – sie waren das einzige Verteidigungsmittel, das er besaß. Er strich ein Streichholz an seinen Lederhosen an, und als es mit heller Flamme brannte, steckte er es dem Bären in den Rachen.

Der Bär schnob, als er den Schwefelgeruch in die Nase bekam, und dann erlosch die Flamme. Der Junge hatte ein neues Streichholz bereit, aber merkwürdigerweise wiederholte der Bärenvater seinen Angriff nicht.

»Kannst du viele von den kleinen, blauen Rosen anzünden?« fragte er.

»Ich kann so viele anzünden, daß sie dem ganzen Walde den Garaus machen könnten,« erwiderte der Junge, denn er glaubte, daß er auf die Weise dem Bären bangemachen könne.

»Könntest du vielleicht Haus und Gehöft anzünden?« sagte der Bärenvater.

»Ja, das ist eine Kleinigkeit für mich,« prahlte der Junge und hoffte, daß der Bärenvater Respekt vor ihm bekommen würde.

»Das ist gut,« sagte der Bärenvater. »Dann sollst du mir einen Dienst leisten. Nun freue ich mich wirklich, daß ich dich nicht aufgefressen habe.«

Dann nahm der Bär den Jungen ganz vorsichtig zwischen die Zähne und kletterte mit ihm aus der Höhle heraus. Das ging erstaunlich leicht und schnell, obwohl er so groß und schwer war. Oben angelangt, lief er sogleich in den Wald. Auch das ging sehr schnell. Es unterlag keinem Zweifel, daß der Bärenvater wie dazu geschaffen war, sich den Weg durch dichte Wälder zu bahnen. Sein schwerer Körper schoß durch das Dickicht wie ein Boot durch das Wasser.

Der Bärenvater lief weiter, bis er an einen Hügel am Waldessaum anlangte, von wo aus er das große Eisenwerk sehen konnte. Dort legte er sich nieder, stellte den Jungen vor sich hin und hielt ihn mit beiden Tatzen fest.

»Sieh dir nun das große Bullerwerk da unten an,« sagte er zu dem Jungen.

Das Eisenwerk lag mit seinen vielen hohen und großen Gebäuden am Ufer eines Wasserfalls. Hohe Schornsteine spien schwarze Rauchwolken aus, das Feuer aus den Schmelzöfen flammte, und aus allen Fenstern und Luken schimmerte Licht. Dadrinnen waren Hämmer und Walzwerke im Gange, und sie arbeiteten mit so großer Kraft, daß die Luft widerhallte von Lärm und Gebuller. Rings um das Fabrikgebäude selbst lagen mächtige Kohlenschuppen, große Haufen von Schlacken, Speicher, Bretterstapel und Gerätschaftshäuser. Ein wenig weiterhin stand eine lange Reihe von Arbeiterwohnungen, nette Villen, Schulen, Versammlungshäuser und Läden. Aber all das andere war still und schien zu schlafen. Der Junge sah gar nicht nach der Seite, er hatte nur Auge für das Eisenwerk. Die Erde rings um das Werk war schwarz, der Himmel wölbte sich herrlich dunkelblau über den Flammen aus dem Schmelzofen, der Gießbach glitt weißschäumend vorüber, und das Werk selbst stand da und sandte Licht und Rauch und Feuer und Funken in die Nacht hinaus. Nie hatte er etwas so Gewaltiges gesehen.

»Willst du nun auch behaupten, daß du eine so große Einrichtung anstecken kannst?« fragte der Bär.

Da stand nun der Junge eingeklemmt zwischen den Bärentatzen und glaubte, das Einzige, das ihn retten könne, sei, daß der Bär hohe Gedanken von seiner Macht und Tüchtigkeit bekam. »Es ist ganz einerlei, ob es groß oder klein ist,« sagte er deswegen. »Ich kann es trotzdem zum Brennen bringen.«

»Dann will ich dir etwas sagen,« erwiderte der Bären-Vater. »Meine Vorfahren haben in dieser Gegend gehaust, seit hier im Lande Wald zu wachsen begann, und ich habe Jagdgefilde und Grasfelder und Höhlen und Schlupfwinkel von ihnen geerbt und habe hier mein Lebelang in Ruhe und Frieden gewohnt. Zu Anfang wurde ich nicht viel von den Menschen gestört. Sie gingen in die Berge und hackten darin herum und sammelten ein wenig Erz heraus, und hier unten am Gießbach hatten sie ein Hammerwerk und einen Schmelzofen. Aber der Hammer bullerte nur ein paarmal am Tage, und in dem Schmelzofen war nur ein paar Monate hintereinander Feuer.

Darin konnte ich mich allenfalls finden. Aber jetzt in den letzten Jahren, seit sie dies Bullerwerk hier gebaut haben, das ununterbrochen Tag und Nacht lärmt, kann ich es hier nicht mehr aushalten. Früher wohnten hier nur ein Verwalter und einige Schmiede, aber jetzt ist es hier so voll von Menschen, daß ich nie sicher vor ihnen sein kann. Ich glaubte schon, ich müßte von hier fortziehen, aber nun habe ich einen besseren Ausweg gefunden.«

Der Junge dachte bei sich, welchen Ausweg der Bärenvater wohl gefunden haben könne, aber er hatte keine Zeit zu fragen, denn nun nahm ihn der Bärenvater wieder zwischen die Zähne und trottelte mit ihm den Hügel hinab. Der Junge konnte nichts sehen, aber aus dem zunehmenden Lärm begriff er, daß sie sich dem Eisenwerk näherten.

Der Bärenvater kannte das Eisenwerk gut. Er war in manch einer dunklen Nacht da umhergegangen, hatte beobachtet, was da vor sich ging und sich selbst gefragt, ob denn die Arbeit nie unterbrochen werden würde. Er hatte die Mauern mit den Tatzen untersucht und gewünscht, so stark zu sein, daß er das ganze Gebäude mit einem einzigen Schlag zu Boden schlagen könne.

Es war nicht leicht, ihn von der schwarzen Erde zu unterscheiden, und da er sich obendrein in dem Schatten der Mauern hielt, war keine besondere Gefahr vorhanden, daß er entdeckt werden würde. Jetzt ging er ohne Furcht zwischen die Werkstätten hinein und kletterte auf einen Schlackenhaufen. Hier richtete er sich auf den Hinterbeinen auf, nahm den Jungen zwischen die Vordertatzen und hob ihn in die Höhe. »Versuche, ob du in das Haus hineinsehen kannst!« sagte er.

Drinnen im Eisenwerk waren sie beim Bessemerblasen. Oben unter der Decke hing eine große, runde Kugel, die mit geschmolzenem Eisen gefüllt war; in die preßten sie einen starken Luftstrom hinein. Und als die Luft mit einem schrecklichen Lärm in die Eisenmasse hineindrang, stoben große Schwärme von Funken daraus heraus. Die Funken kamen in Bündeln, in Garben, in langen Trauben. Sie hatten viele verschiedene Farben, waren groß und klein, fuhren gegen eine Wand und flogen über den ganzen großen Raum hinaus. Der Bärenvater ließ den Jungen das prachtvolle Schauspiel ansehen, bis sie mit dem Blasen fertig waren, und der rote, fließende, schön schimmernde Strahl aus der runden Kugel in die Eimer hinabströmte. Der Junge fand das, was er sah, so schön, daß er ganz außer sich geriet und nahe daran war zu vergessen, daß er zwischen zwei Bärentatzen gefangen saß.

Der Bärenvater ließ den Jungen auch in das Walzwerk hineingucken. Ein Arbeiter war gerade dabei, ein kurzes und dickes Stück Eisen aus einem Ofen zu nehmen und es unter eine Walze zu legen. Als das Eisen wieder aus der Walze herauskam, war es lang und zusammengedrückt. Sogleich ergriff ein anderer Arbeiter es und legte es unter eine härtere Walze, die es noch länger und dünner machte. So ging es von Walze zu Walze, wurde gereckt und gestreckt und schlängelte sich schließlich als viele Ellen langer, rotglühender Faden am Fußboden entlang. Aber während das erste Stück Eisen gepreßt wurde, nahmen sie ein neues aus dem Ofen und legten es unter die Walzen, und wenn es ein wenig in Bewegung gekommen war, holten sie ein drittes. Unablässig schlängelten sich neue, rote Fäden gleich zischenden Schlangen am Boden entlang. Der Junge fand, daß es schön war, das Eisen zu sehen, noch schöner aber, die Arbeiter zu beobachten, die leicht und behende die glühenden Schlangen mit ihren Zangen packten und sie unter die Walzen zwangen. Es war für sie gleichsam ein Spiel, das siedende Eisen zu handhaben. »Das muß ich sagen, dies ist eine Arbeit für Männer,« dachte der Knabe.

Der Bär ließ ihn auch in den Schmelzofen hineinsehen und in die Stangeneisenschmiede, und der Junge staunte mehr und mehr, als er sah, wie die Schmiede Feuer und Glut handhabten. »Die Leute sind nicht bange vor Feuer und Hitze,« dachte er. Rußig und schwarz waren sie auch. Dem Jungen erschienen sie wie eine Art Feuermenschen, so wie sie das Eisen nach Belieben zu biegen und formen vermochten. Er konnte sich nicht denken, daß gewöhnliche Menschen eine solche Macht haben konnten.

»So arbeiten sie hier Tag für Tag und Nacht für Nacht,« sagte der Bärenvater und legte sich auf die Erde nieder. »Du kannst wohl begreifen, daß das nicht zum Aushalten ist. Ein Glück, daß ich dem Treiben jetzt ein Ende machen kann.«

»Könnt Ihr das?« fragte der Junge. »Wie wollt Ihr das nur machen?«

»Ich habe mir gedacht, daß du die Gebäude hier anstecken sollst,« sagte der Bärenvater. »Auf die Weise würde ich den ewigen Spektakel los werden und könnte in meiner Heimat wohnen bleiben.«

Dem Jungen lief es kalt wie Eis über den ganzen Körper. Darum also hatte der Bärenvater ihn hierhergebracht! »Wenn du das Bullerwerk ansteckst, verspreche ich dir, daß du dein Leben behalten sollst,« sagte der Bärenvater. »Tust du aber nicht, was ich will, so wird es bald mit dir aus sein.«

Die großen Werkstätten hatten starke Mauern, und der Junge dachte, der Bärenvater kann soviel befehlen, wie er wollte, es war ja ganz unmöglich, ihm zu gehorchen. Gleich darauf aber sah er, daß es am Ende doch nicht so ganz unmöglich sein würde. Dicht neben ihm lag ein Haufen Stroh und Hobelspäne, den er leicht anstecken konnte, neben den Spänen befand sich ein Bretterstapel, und der Bretterstapel stieß an den großen Kohlenschuppen. Der Kohlenschuppen aber ging ganz bis an die Werkstätten heran, und wenn der zu brennen anfing, würde das Feuer bald auf das Dach des Eisenwerks hinüberspringen. Das Feuer würde alles ergreifen, was es an Brennbarem gab. Die Mauern würden vor Hitze bersten und die Maschinen würden zerstört werden.

»Nun, willst du, oder willst du nicht?« fragte der Bärenvater.

Der Junge wußte recht gut, daß er gleich antworten müsse, er wolle nicht, aber er wußte auch, daß die Bärentatzen, die ihn umklammert hielten, ihn mit einer einzigen Bewegung totdrücken würden. So sagte er denn: »Ich bitte um Erlaubnis, mich einen Augenblick zu besinnen.«

»Nun ja, meinetwegen,« sagte der Bärenvater. »Aber ich will dir auch sagen, daß gerade das Eisen den Menschen eine solche Übermacht über uns Bären gegeben hat, daß ich auch aus dem Grunde der Arbeit hier ein Ende machen möchte.«

Der Junge dachte, er wolle die Bedenkzeit dazu benutzen, um auf irgendeine Weise zu entkommen, aber er war so bange, daß er seine Gedanken nicht zu zwingen vermochte, den Weg zu gehen, den er wollte, statt dessen mußte er daran denken, welch eine gute Hilfe das Eisen für die Menschen war. Sie brauchten Eisen zu allem. Eisen war in dem Pflug, der die Furchen auf dem Felde zog, in der Axt, die das Holz schlug, in der Sense, die das Korn mähte, in dem Messer, das zu allem möglichen benutzt werden konnte. Eisen war in dem Zaum, mit dem das Pferd gelenkt wurde, in dem Schloß, das die Tür verschloß, in den Nägeln, die die Möbel zusammenhielten, in den Platten, mit denen das Dach gedeckt war. Die Büchse, die die wilden Tiere ausgerottet hatte, war aus Eisen und ebenso die Hacke, die das Erz in den Gruben gebrochen hatte. Mit Eisen waren die Kriegsschiffe bekleidet, die er in Karlskrona gesehen hatte, auf Eisenschienen rollten die Lokomotiven durch das Land, aus Eisen war die Nadel, die den Rock nähte, die Schere, die die Schafe schur, der Kessel, in dem das Essen gekocht wurde. Groß und Klein, alles, was nützlich und unentbehrlich war, bestand aus Eisen. Der Bärenvater hatte ja recht, daß das Eisen den Menschen ihre Übermacht über die Bären gegeben hatte.

»Na, willst du nun, oder willst du nicht?« fragte der Bärenvater.

Der Junge fuhr aus seinen Gedanken auf. Hier stand er und dachte an ganz unnötige Dinge und hatte noch nicht ausfindig gemacht, wie er entkommen sollte. »Ihr müßt nicht so ungeduldig sein,« sagte er. »Es ist eine wichtige Sache für mich, und ich muß Zeit haben, sie mir zu überlegen.«

»Ja, dann überlege nur noch eine Weile,« entgegnete der Bärenvater. »Das will ich dir aber doch sagen, das Eisen ist schuld daran, daß die Menschen so viel klüger geworden sind als wir Bären, und allein aus dem Grunde will ich ihm den Garaus machen.«

Als der Junge diese neue Frist erhalten hatte, wollte er sie benutzen, um einen Rettungsplan zu ersinnen. Aber die Gedanken gingen in jener Nacht, wie sie wollten, und sie fingen wieder an, sich mit dem Eisen zu beschäftigen. Nach und nach wurde es ihm klar, wieviel die Menschen hatten denken und grübeln müssen, ehe sie ausfindig gemacht hatten, wie sie das Eisen aus dem Erz herausschmelzen konnten, und er sah deutlich die alten, schwarzen Schmiede vor sich, wie sie über die Esse gebeugt standen und darüber nachgrübelten, wie sie es am besten einrichten konnten. Vielleicht weil sie solange gegrübelt hatten, war der Verstand bei den Menschen gewachsen, bis sie es schließlich dahin brachten, so große Fabriken zu bauen. Es unterlag wohl keinem Zweifel, daß die Menschen dem Eisen mehr schuldeten als sie selbst ahnten.

»Nun, wie steht es?« fragte der Bärenvater. »Willst du, oder willst du nicht?«

Der Knabe zuckte zusammen. Hier stand er und dachte überflüssige Gedanken und wußte noch nicht, wie er es anfangen sollte zu entkommen. »Es ist nicht so leicht, sich zu entscheiden, wie Ihr glaubt,« sagte er. »Ihr müßt mir Bedenkzeit geben.«

»Ja, ein wenig will ich noch auf dich warten,« sagte der Bärenvater. »Aber dann erhältst du keinen Aufschub mehr. Du mußt wissen, das Eisen ist schuld daran, daß die Menschen hier im Bärenlande wohnen, da wirst du wohl verstehen, daß ich ihm gern zuleibe will.«

Der Junge wollte die letzte Frist benutzen, um einen Ausweg zu finden, aber so unruhig und verwirrt, wie er war, gingen die Gedanken ihre eigenen Wege, und nun beschäftigten sie sich mit alledem, was er gesehen hatte, während er über den Bergwerkdistrikt dahinflog. Wie wunderbar wer es doch, daß es draußen in der Wildnis so viel Leben und Bewegung, so viel Arbeit gab! Wie leer und öde würde es hier ohne das Eisen gewesen sein! Er dachte an dies Eisenwerk, das, seit es erbaut war, so vielen Menschen Arbeit geliefert hatte, und das jetzt so viele Häuser voller Menschen um sich geschart und Eisenbahnen und Telegraphendrähte an sich gezogen hatte, und das …

»Nun, wie steht es?« fragte der Bär. »Willst du, oder willst du nicht?«

Der Junge strich sich mit der Hand über die Stirn. Er hatte keinen Ausweg gefunden, soviel aber wußte er, dem Eisen wollte er nichts Böses zufügen, es war eine so gute Hilfe für reich und arm, es schaffte so vielen Menschen im Lande Brot.

»Ich will nicht,« sagte er.

Der Bärenvater klemmte die Tatzen ein wenig härter zusammen, ohne etwas zu sagen.

»Ihr werdet mich nie dazu bewegen, ein Eisenwerk zu zerstören.« sagte der Junge. »Denn das Eisen ist zu einem so großen Segen, daß es unrecht ist, sich daran zu vergreifen.«

»Dann erwartest du wohl auch nicht, daß ich dich am Leben lasse?« fragte der Bär.

»Nein, das erwarte ich nicht,« sagte der Junge und sah dem Bären gerade in die Augen.

Der Bärenvater klemmte die Tatzen noch ein wenig fester zusammen. Es tat so weh, daß dem Jungen Tränen in die Augen traten, aber er kniff den Mund zusammen und sagte kein Wort.

»Gut! Eins, zwei, dr…!« sagte der Bärenvater und hob langsam die eine Tatze, denn er hoffte bis zuletzt, daß der Junge sich ergeben werde.

Im selben Augenblick hörte der Junge etwas in der Nähe klirren, und er sah einen blanken Büchsenlauf ein paar Schritte von ihnen entfernt. Er wie auch der Bärenvater waren so von ihren eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, daß sie nicht beachtet hatten, wie ein Mensch ganz dicht an sie herangeschlichen war.

»Bärenvater!« rief der Junge, »hört Ihr nicht, daß jemand den Hahn eines Gewehrs spannt? Lauft! Sonst werdet Ihr totgeschossen!«

Der Bärenvater machte sich schleunigst aus dem Staube, hatte aber doch Zeit genug, den Jungen mitzunehmen. Ein paar Schüsse knallten, als er davonstürzte, und die Kugeln pfiffen ihm um die Ohren, aber er entkam glücklich.

Wie der Junge jetzt da hing und aus dem Rachen des Bären herausbaumelte, fiel es ihm ein, daß er sich wohl noch nie so töricht benommen hatte wie in dieser Nacht. Hätte er nur geschwiegen, so wäre der Bär erschossen, und er selbst wäre frei gewesen. Aber er hatte sich so daran gewöhnt, den Tieren zu helfen, daß er tat, ohne darüber nachzudenken.

Als der Bärenvater eine Strecke in den Wald hineingekommen war, blieb er stehen und setzte den Jungen an die Erde. »Hab‘ Dank, kleiner Mann,« sagte er. »Die Kugeln hätten sicher besser getroffen, wenn du nicht gewesen wärest. Und nun will ich dir dafür einen Dienst erweisen. Solltest du jemals wieder einem Bären begegnen, so sage ihm nur, was ich dir jetzt zuflüstere. Dann rührt er dich nicht an.«

Damit flüsterte der Bär dem Jungen ein paar Worte ins Ohr und eilte davon, denn er glaubte zu hören, daß die Hunde und Jäger ihn verfolgten.

Der Junge aber stand allein im Walde, frei und unbeschädigt, und konnte kaum begreifen, wie das möglich war.

*

Die Wildgänse waren den ganzen Abend hin und her geflogen, hatten gespäht und gerufen, ohne jedoch Däumeling finden zu können. Sie suchten noch lange, nachdem die Sonne untergegangen war, und als es schließlich so dunkel wurde, daß sie sich hinstellen und schlafen mußten, waren sie sehr mißmutig. Alle ohne Ausnahme glaubten sie, der Junge habe sich im Fall verletzt und läge nun tot im Unterholz, wo sie ihn nicht sehen konnten. Aber am nächsten Morgen, als die Sonne über die Berge guckte und die wilden Gänse weckte, lag der Junge wie gewöhnlich mitten zwischen ihnen und schlief, und er konnte sich des Lachens nicht enthalten, als er erwachte und sie vor Erstaunen schreien und gackern hörte.

Sie waren so neugierig zu erfahren, was sich mit ihm zugetragen hatte, daß sie nicht auf die Weide fliegen wollten, ehe er alles erzählt hatte, was ihm begegnet war. Schnell und munter erzählte der Junge sein ganzes Abenteuer mit den Bären, aber dann war es, als wolle er nicht mehr erzählen. »Wie ich zu euch zurückgekommen bin, das wißt ihr wohl schon?« sagte er. – »Nein, wir wissen nichts. Wir glaubten, du hättest dich totgefallen.« – »Das ist doch sonderbar,« sagte der Junge. »Ja, als der Bärenvater von mir ging, kletterte ich in eine Tanne und schlief ein. Aber beim ersten Tagesgrauen erwachte ich davon, daß ein Adler über mich dahinsauste, mich in seine Fänge nahm und mich entführte. Ich dachte natürlich, jetzt sei es aus mit mir. Aber er tat mir nichts, flog nur hierher und ließ mich mitten zwischen euch fallen.«

»Sagte er nicht, wer er sei?« fragte der große, weiße Gänserich.

»Er war verschwunden, ehe ich auch nur danke hatte sagen können. Ich glaubte, Mutter Akka habe ihn gesandt, um mich zu holen.«

»Das ist doch sonderbar!« sagte der weiße Gänserich. »Bist du auch sicher, daß es ein Adler war?«

»Nie in meinem Leben habe ich einen Adler gesehen,« antwortete der Junge. »Aber er war so groß, daß ich ihm keinen geringeren Namen geben kann.«

Der Gänserich Martin wandte sich nach den Wildgänsen um, er wollte hören, wie die hierüber dachten. Aber sie standen da und sahen in die Luft hinauf, und es sah so aus, als dächten sie an ganz andere Dinge. »Wir dürfen aber doch nicht ganz vergessen, heute zu frühstücken,« sagte Akka und erhob die Flügel zu schnellem Flug.