Kindersand

Das Schönste für Kinder ist Sand.
Ihn gibt’s immer reichlich.
Er rinnt unvergleichlich
Zärtlich durch die Hand.

Weil man seine Nase behält,
Wenn man auf ihn fällt,
Ist er so weich.
Kinderfinger fühlen,
Wenn sie in ihm wühlen,
Nichts und das Himmelreich.

Denn kein Kind lacht
Über gemahlene Macht.

[Kinder weinen]

Ringelnatz ebook

Kinder weinen.
Narren warten.
Dumme wissen.
Kleine meinen.
Weise gehen in den Garten.

Ringelnatz ebook

Kinder, spielt mit einer Zwirnsrolle!

Gewaltigen Erfolg erzielt,
Wer eine große Rolle spielt.

Im Leben spielt zum Beispiel so
Ganz große Rolle: der Popo.

Denkt nach, dann könnt ihr zwischen Zeilen
Auch mit geschlossenen Augen lesen,
Daß Onkel Ringelnatz bisweilen
Ein herzbetrunkenes Kind gewesen.

Ringelnatz ebook

Das Hexenkind

Das junge Ding hieß Ilse Watt.
Sie ward im Waisenhaus erzogen.
Dort galt sie für verstockt, verlogen,
Weil sie kein Wort gesprochen hat
Und weil man ihr es sehr verdachte,
Daß sie schon früh, wenn sie erwachte,
Ganz leise vor sich hinlachte.

Man nannte sie, weil ihr Betragen
So seltsam war, das Hexenkind.
Allüberall ward sie gescholten.
Doch wagte niemand, sie zu schlagen.
Denn sie war von Geburt her blind.

Die Ilse hat für frech gegolten,
Weil sie, wenn man zu Bett sie brachte,
Noch leise vor sich hinlachte.

In ihrem Bettchen blaß und matt
Lag sterbend eines Tags die kranke
Und stille, blinde Ilse Watt,
Lächelte wie aus andern Welten
Und sprach zu einer Angestellten,
Die ihr das Haar gestreichelt hat,
Ganz laut und glücklich noch »Ich danke.«

Kleine Lügen

Kleine Lügen und auch kleine
Kinder haben kurze Beine.

*

Das ABC ist äußerst wichtig.
Im Telefonbuch steht es richtig.

*

Der Klapperstorch hat krumme Beine.
Die Kinder werfen ihn mit Steine.
Aber Kinder bringt er keine.

*

Der Spanier lebt in fernen Zonen
Für die, die weitab davon wohnen.

Ringelnatz ebook

Und der Osterhase legt
(Bald sehr eitel, bald bewegt)
Rührei oder Spiegelei.
Schauerlich stöhnt er dabei.

*

Sechs Beine hat der Elefant.
Er wird auch Mißgeburt genannt.

Ringelnatz ebook

XXXIII. Die Sage von Uppland

Donnerstag, 5. Mai.

Am nächsten Tage hatte der Regen aufgehört, aber der Sturm wütete noch den ganzen Vormittag, und die Überschwemmung breitete sich immer weiter aus. Gleich nach Mittag aber kam ein Umschlag. Auf einmal wurde es das herrlichste Wetter, warm und still und lieblich.

Niels Holgersen lag seelenvergnügt in einem großen Büschel herrlicher, blühender Dotterblumen und starrte zum Himmel empor, als auf einem kleinen Pfad, der am See entlang lief, zwei kleine Schulkinder mit ihren Büchern und Butterbrotdosen daherkamen. Sie gingen langsam und sahen sehr betrübt aus. Als sie gerade vor dem Jungen angelangt waren, setzten sie sich auf ein paar Steine und fingen an, von ihrem Kummer zu reden.

»Mutter wird sehr böse werden, wenn sie hört, daß wir heute wieder unsere Schulaufgaben nicht gekonnt haben,« sagte das eine der Kinder. – »Ja, und Vater auch!« sagte das andere, und von ihrem Kummer überwältigt, brachen sie in Weinen aus.

Der Junge lag da und dachte darüber nach, ob er nicht etwas tun könne, um sie zu trösten, als eine krummgebeugte, alte Frau mit einem, milden und guten Gesicht den Steig entlang kam und vor ihnen stehenblieb.

»Weswegen weint ihr, Kinderchen?« fragte die Alte, und dann erzählten die Kleinen, sie hätten ihre Schulaufgaben nicht gekonnt, und schämten sich nun so sehr, daß sie gar nicht nach Hause gehen wollten.

»Was kann denn nur so schwer sein, daß ihr es nicht lernen konntet?« fragte die Alte, und die Kinder erzählten, sie hätten ganz Uppland aufgehabt.

»Ja, es ist vielleicht nicht so ganz leicht, das nach einem Buch zu lernen,« sagte die alte Frau, »aber nun sollt ihr hören, was mir meine Mutter einmal von dem Land erzählt hat. Ich bin nie zur Schule gegangen, daher habe ich nie mehr davon zu wissen bekommen, aber das, was mir Mutter erzählte, habe ich mein ganzes Leben lang nicht wieder vergessen.«

»Seht, meine Mutter,« begann die Alte und setzte sich zu den Kindern auf die Steine, »die sagte, Uppland sei in alten Zeiten die ärmste und unbedeutendste von allen Landschaften in Schweden gewesen. Sie bestand nur aus magerem Lehmboden, der mit kleinen, niedrigen Steinhügeln übersät war, und deren gibt es noch heute etliche in der Landschaft, wenn auch wir, die wir hier unten am Mälar wohnen, nicht viel davon sehen.

Nun ja, wovon es kam, weiß ich nicht, das aber ist sicher, es sah hier armselig und betrüblich aus. Uppland fand, daß es von den anderen Landschaften wie ein Ausgestoßener behandelt wurde, und das bekommt man mit der Zeit satt. Eines schönen Tages wurde es des ganzen Elends so überdrüssig, daß es den Sack auf den Rücken und den Stab in die Hand nahm und sich auf den Bettelgang zu denen begab, die besser gestellt waren.

Zuerst ging Uppland gen Süden, bis ganz nach Schoonen hinab, und als es dahin kam, beklagte es sich über seine Armut und bat um Land. ›Man weiß wirklich nicht, was man allen denen geben soll, die kommen und betteln,‹ sagte Schoonen. ›Laß mich aber einmal sehen, ich habe gerade ein paar Mergelgruben aufgegraben. Hast du Verwendung für ein paar Grassoden, so kannst du dir einige von denen nehmen, die ich an den Rand geworfen habe.‹

Uppland bedankte sich und nahm die Gabe an und ging dann weiter nach Westgotland. Dort beklagte es sich auch darüber, daß es so arm sei und bat um Land. ›Erdboden kann ich dir nicht geben,‹ sagte Westgotland, ›ich gönne einem Bettler nicht das kleinste Krümchen von meinen fetten Feldern. Hast du aber Verwendung für einen von diesen kleinen Bächen, die über die Ebene hinlaufen, so nimm ihn meinetwegen.‹

Uppland bedankte sich und nahm das Geschenk und bog nun nach Halland ab. Dort beklagte es sich wieder darüber, daß es so arm sei und bat um Erde. ›Ich bin nicht reicher als du,‹ sagte Halland, ›daher habe ich keinen Grund, dir etwas zu geben. Meinst du aber, daß es der Mühe wert ist, so kannst du gern einige Steinhügel von der Erde abbrechen und sie mitnehmen.‹

Uppland bedankte sich und nahm die Gabe an und eilte dann nach Bohuslän. Dort erhielt es Erlaubnis, so viele kleine kahle Schären in seinen Sack zu stecken, wie es Lust hatte. ›Sie sehen gerade nicht nach viel aus, aber sie sind gut als Schutz gegen den Wind,‹ sagte Bohuslän. ›Du kannst schon Nutzen davon haben, da du an der See wohnst, so wie ich.‹

Uppland nahm mit Dankbarkeit alles an, was es bekam und sagte zu nichts nein, obwohl es fast überall das bekam, was die anderen am besten entbehren zu können meinten. Wärmland warf ihm ein Stück Berg zu. Westmanland gab ihm eine Reihe von seinen Bergrücken. Ostgotland schenkte ihm ein Stück von dem wilden Kolmården, und Småland stopfte ihm fast den ganzen Sack voll von Mooren und Steinen und Heidehügeln.

Sörmland wollte ihm nichts geben als ein paar Mälarfjorde, und Dalarna meinte auch, daß es nichts von seinem Erdboden abgeben könne, fragte aber, ob Uppland mit einem Stück von dem Dalelf fürliebnehmen wolle.

Schließlich erhielt es von Närke einige von den flachen Wiesen bei Hjälmaren, und da hatte es seinen Sack so voll, daß es nicht weiterzugehen brauchte. Als Uppland wieder daheim anlangte und all das zusammen sammelte, was es bekommen hatte, konnte es ja nicht umhin, zu finden, daß es ein schrecklicher Haufe Gerümpel sei, mit dem es zurückkehrte, und es seufzte und ging mit sich zu Rate, was es machen solle, um etwas aus allen den Gaben herauszubekommen.

Ein Jahr nach dem anderen ging dahin, und Uppland blieb daheim und ordnete seine Sachen, und schließlich hatte es alles so, wie es wollte.

Zu jener Zeit begann man in Schweden darüber zu reden, wo der König wohnen und wo man die Hauptstadt bauen solle, und alle Landschaften kamen zusammen, um darüber zu beraten. Es war klar, daß eine jede den König für sich haben wollte, und sie stritten lange hin und her. ›Ich finde, der König muß in der Landschaft wohnen, die die klügste und tüchtigste ist,‹ sagte Uppland, und alle fanden, daß es ein guter Rat war. So trennten sie sich denn mit dem Beschluß, daß die Landschaft, die beweisen könne, daß sie die klügste und tüchtigste sei, den König und die Hauptstadt bei sich aufnehmen solle.

Kaum waren alle Landschaften wieder nach Hause gekommen, als eine Einladung von Uppland kam, zu einem Fest zu ihm zu kommen. ›Was kann das armselige Land uns nur bieten?‹ sagten die Landschaften, aber sie kamen alle miteinander.

Als sie kamen, waren sie sehr erstaunt über das, was sie sahen. Da lag Uppland, im Innern des Landes ganz bebaut mit großen Höfen, an den Küsten mit Städten, während alle Gewässer, die es umgaben, voll von Schiffen waren.

›Es ist eine Schande, umherzugehen und zu betteln, wenn es einem so gut geht,‹ sagten die anderen Landschaften.

›Ich habe euch zu mir eingeladen, um euch für eure Gaben zu danken,‹ entgegnete Uppland. ›Denn denen habe ich es zu verdanken, daß ich mich habe durchschlagen können.‹

›Das erste, was ich tat, als ich nach Hause kam,‹ fuhr es fort, ‹war, daß ich den Dalelf in mein Land leitete, und ich richtete es so ein, daß er zwei große Wasserfälle bilden mußte, einen bei Süderson und einen bei Alkarleby. Südlich von dem Elf, bei Dannemora, legte ich den Berg hin, den ich von Wärmland bekommen hatte, und da entdeckte ich, daß Wärmland nicht ordentlich nachgesehen hatte, was es weggab, denn der Berg bestand aus dem besten Eisenerz. Ringsumher pflanzte ich den Wald, den ich von Östergotland bekommen hatte, und da sich nun am gleichen Fleck Erz und Wald zum Kohlenbrennen wie auch Wasserkraft befanden, so war es ja eine gegebene Sache, daß hier reiche Bergwerke entstehen würden.

Als ich es nun nach Norden zu so gut eingerichtet hatte, stellte ich die Bergrücken aus Westmannland auf, aber ich reckte und streckte sie, so daß sie ganz bis an den Mälar reichten und Landzungen und Inseln bildeten, die sich mit Grün bekleideten und so schön sind wie Gärten. Die Fjorde aber, die mir Sörmland gab, zog ich tief ins Land hinein, so daß es für Schiffe erschlossen wurde und in Verkehr mit der Welt kommen konnte.

Als ich nach Norden und nach Süden zu alles fertig hatte, ging ich nach der Ostküste hinüber, und nun sammelte ich alle die kahlen Schären und Steinhügel und Heiden und unfruchtbaren Felder, die ihr mir gegeben hattet, und warf sie ins Meer hinaus. Und daraus entstanden alle meine Werder und Inseln, die mir zu so großem Nutzen für die Fischerei und Schiffahrt geworden sind, und die ich für meinen wichtigsten Besitz halte.

Dann hatte ich nichts weiter von den Gaben übrig als die Grassoden, die ich von Schoonen erhalten hatte, und die breitete ich mitten im Lande aus, und sie wurden zu der fruchtbaren Vaksalaebene. Und den trägen Bach, den ich von Westgotland erhalten hatte, den leitete ich durch die Ebene, damit diese eine gute Verbindung mit den Mälarfjorden haben sollte.‹

Jetzt begriffen die anderen Landschaften, wie das Ganze zugegangen war, und obwohl sie ein wenig ärgerlich waren, konnten sie doch nicht umhin, zuzugeben, daß es seine Sache gut gemacht hatte. ›Du hast mit geringen Mitteln viel ausgerichtet,‹ sagten alle Landschaften. ›Du bist in der Tat die klügste und tüchtigste von uns.‹

›Habt Dank für die Worte,‹ entgegnete Uppland. ›Wenn ihr das sagt, so bin ich ja die Landschaft, die den König und die Hauptstadt bei sich aufnehmen soll.‹

Die anderen Landschaften wurden ein wenig ärgerlich, aber ein Wort ist ein Wort, und dabei blieb es.

Und Uppland bekam den König und die Hauptstadt, und es wurde die erste von allen Landschaften, und das war nicht mehr als billig, denn Klugheit und Tüchtigkeit ist das, was noch heutzutage Bettler zu Fürsten macht.«

XXXIV. In Upsala


Der Student.

Donnerstag, 5. Mai.

Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen durch das Land reiste, war in Upsala ein prächtiger junger Student. Er wohnte in einer kleinen Dachkammer und war so sparsam, daß die Leute sagten, er lebe von fast gar nichts. Seine Studien betrieb er mit Lust und Liebe, so daß er schneller damit fertig wurde, als irgendeiner von den anderen. Aber deswegen war er durchaus kein Bücherwurm oder Duckmäuser; er konnte sehr wohl mit den Kameraden lustig sein. Er war gerade so, wie ein Student sein soll. Er hatte keine Fehler, wenn man es nicht etwa einen Fehler nennen will, daß er infolge all seines Glücks ein wenig verwöhnt war. Aber das kann dem Besten passieren. Das Glück ist nicht so leicht zu ertragen, namentlich nicht in der Jugend.

In einer Morgenstunde, gerade als der Student erwacht war, lag er da und dachte darüber nach, wie gut er es doch habe. »Alle Menschen haben mich gern, Kameraden wie auch Lehrer,« sagte er zu sich selbst. »Und so vorzüglich, wie es mir mit meinem Studium gegangen ist! Heute soll ich zum letztenmal zum Tentamen, und dann bin ich bald fertig. Und wenn ich nur rechtzeitig fertig werde, so bekomme ich eine Stellung mit gutem Gehalt. Es ist merkwürdig, was für ein Glück ich gehabt habe. Aber ich tue ja auch meine Pflicht, da ist es ja ganz natürlich, daß es mir gut geht.«

Die Studenten in Upsala sitzen nicht zusammen in Schulstuben und lernen wie Schulkinder, sie sitzen jeder für sich in seinem Zimmer und studieren. Wenn sie mit einem Fach fertig sind, gehen sie zu ihren Professoren und werden in dem ganzen Fach auf einmal überhört. So eine Überhörung heißt ein Tentamen, und das, zu dem der Student an diesem Tage gehen sollte, war gerade das Letzte und Allerschwerste.

Sobald er sich angekleidet und Kaffee getrunken hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, um einen letzten Blick in seine Bücher zu werfen. »Ich glaube eigentlich, es ist ganz überflüssig, so gut wie ich vorbereitet bin,« dachte der Student, »aber es wird wohl am besten sein, wenn ich so lange wie möglich büffle, dann brauche ich mir wenigstens keine Vorwürfe zu machen.«

Er hatte kaum einen Augenblick gelesen, als es an seine Tür pochte, und ein Student mit einem dicken Buch unterm Arm bei ihm eintrat. Es war dies ein Student von ganz anderer Art wie der, der dort am Schreibtisch saß. Er war verschämt und schüchtern und sah abgearbeitet und ärmlich aus. Es war einer von denen, die sich auf Bücher verstehen, aber auch auf nichts weiter. Es hieß, daß er sehr gelehrt sei, aber er war so scheu und ängstlich, daß er sich nie zu einem Tentamen hatte entschließen können. Alle glaubten, er werde »ewiger Student« werden, ein Jahr nach dem anderen in Upsala bleiben und studieren und studieren, es aber nie zu etwas bringen.

Er kam nun, um den Kameraden zu bitten, ein Buch zu lesen, das er geschrieben hatte. Es war nicht gedruckt, sondern nur mit der Hand geschrieben. »Du würdest mir einen großen Gefallen tun,« sagte er, »wenn du dir dies hier ein wenig ansehen und mir sagen wolltest, ob es taugt.«

Der Student, dem das Glück stets lächelte, dachte bei sich: »Ist es nicht, wie ich vorhin sagte, daß mich alle gern haben? Hier kommt nun dieser Sonderling, der sich nicht hat überwinden können, seine Arbeit irgend jemand zu zeigen, und bittet mich, sie zu beurteilen.«

Er versprach, die Handschrift so schnell wie möglich zu lesen, und der andere legte das Buch auf den Schreibtisch neben ihn. »Du mußt gut acht darauf geben,« sagte er, »ich habe fünf Jahre daran gearbeitet, und wenn es abhanden käme, kann ich es nicht noch einmal machen.« – »Solange es bei mir ist, wird ihm nichts zustoßen,« sagte der Student. Und dann ging der andere.

Der Student nahm das dicke Buch zur Hand. »Ich möchte doch wissen, was der da zusammengeschmiert hat,« sagte er. »Ach so, die Geschichte der Stadt Upsala! Das klingt ja gar nicht übel!«

Nun liebte dieser Student Upsala über alle anderen Städte, und er war neugierig zu lesen, was der alte Student über die Stadt geschrieben hatte. »Wenn ich mir die Sache recht überlege, kann ich seine Geschichte ebensogut jetzt gleich lesen,« murmelte er. »Es hat ja doch keinen Zweck, hier noch im letzten Augenblick zu sitzen und zu büffeln. Deswegen geht es auch nicht besser, wenn man zum Professor kommt.«

Der Student las und erhob die Augen nicht von den Blättern bis er zum letzten gekommen war. Als er geendet hatte, war er sehr vergnügt. »Das muß ich sagen, dies ist ja eine ganz kolossale Gelehrsamkeit!« sagte er. »Wenn dies Buch erscheint, ist sein Glück gemacht. Wie ich mich darauf freue, ihm zu erzählen, wie gut sein Buch ist!«

Er sammelte alle die losen Blätter zusammen, aus denen die Handschrift bestand, und legte sie auf dem Tisch zurecht. Während er damit beschäftigt war, hörte er die Uhr schlagen.

»Nun wird es wohl Zeit, daß ich zum Professor gehe,« sagte er und beeilte sich, seinen schwarzen Anzug zu holen, der in einer Kammer oben auf dem Boden hing. Aber wie es so oft zu gehen pflegt, wenn man es eilig hat, waren Schloß und Schlüssel neckisch, und es währte eine geraume Zeit, bis er zurückkam.

Als er in die Tür kam, stieß er einen Schrei aus. In der Eile hatte er die Tür offen stehen lassen, als er ging, und das Fenster, an dem der Schreibtisch stand, war auch offen. Es war Zug entstanden, und nun sah der Student die losen Blätter der Handschrift zum Fenster hinauswirbeln. Mit einem Satz war er am Schreibtisch und legte die Hand auf die Papiere, aber da waren nicht mehr viele zu retten. Nur zehn oder zwölf Blatter lagen noch da. All das andere tanzte mit dem Wind über Höfe und Dächer hin.

Der Student lehnte sich zum Fenster hinaus und sah den Papieren nach. Auf dem Dach vor dem Mansardenfenster saß ein schwarzer Vogel und sah ihn mit höhnischer Überlegenheit an. »Ist das nicht ein Rabe?« dachte der Student. »Man sagt ja, daß Raben Unglück verkünden.« Er sah, daß noch einige von den Papieren ringsumher auf den Dächern lagen, und er hätte sicher einen Teil des Verlorenen retten können, wenn er nicht an sein Tentamen hätte denken müssen. Aber er fand, daß er vor allen Dingen an seine eigenen Angelegenheiten denken müsse. »Es handelt sich ja um meine ganze Zukunft,« dachte er.

Er kleidete sich schnell an und ging zu dem Professor. Während der ganzen Zeit beschäftigten sich seine Gedanken mit der verlorenen Handschrift. »Das ist eine schlimme Geschichte,« dachte er. »Es war geradezu ein Unglück, daß ich es so eilig hatte.«

Der Professor begann mit dem Überhören, aber der Student konnte seine Gedanken nicht von der Handschrift losreißen. »Was sagte doch der arme Bursche?« dachte er. »Sagte er nicht, daß er fünf Jahre an dem Buch gearbeitet habe und nicht die Kraft besitze, es noch einmal zu schreiben? Ich weiß nicht, woher ich den Mut nehmen soll, um ihm zu erzählen, daß sie weg ist.«

Er war so von dem Geschehenen in Anspruch genommen und so unglücklich darüber, daß er seine Gedanken nicht zu sammeln vermochte. Alle seine Kenntnisse waren wie weggeblasen. Er hörte nicht, wonach ihn der Professor fragte und ahnte nicht, was er selbst antwortete. Der Professor war ganz entsetzt über eine solche Unwissenheit und konnte nicht anders als ihn durchfallen lassen.

Als der Student wieder auf die Straße hinauskam, war er sehr unglücklich. »Jetzt habe ich meine Anstellung verscherzt,« dachte er, »und daran ist der alte Bursche schuld. Warum mußte er auch gerade heute mit seiner Handschrift kommen! Aber so geht es, wenn man gefällig ist.«

Im selben Augenblick sah der Student den, an den er eben dachte, auf sich zukommen. Er wollte ihm nicht erzählen, daß die Handschrift verloren war, ehe er den Versuch gemacht hatte, sie wieder zu erlangen, deswegen machte er Miene, an ihm vorüberzugehen, ohne etwas zu sagen. Aber der andere ging da so bekümmert und unruhig und dachte an nichts weiter, als was der Student über sein Buch sagen werde, und als er ihn mit einem unfreundlichen Nicken vorübereilen sah, wurde er grenzenlos bange. Er packte den Studenten beim Arm und fragte, ob er schon ein wenig in dem Buch gelesen habe. »Ich bin zum Tentamen gewesen,« sagte der Student und wollte schnell weitergehen. Aber der andere glaubte, daß er ihn meiden wolle, um ihm nicht sagen zu müssen, daß ihm das Buch nicht gefalle. Er hatte ein Gefühl, als wenn ihm das Herz brechen solle bei dem Gedanken, daß das Werk, an dem er fünf lange Jahre gearbeitet hatte, nichts taugte, und in seinem großen Schmerz sagte er zu dem Studenten: »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe! Wenn das Buch nichts taugt, will ich es nicht mehr sehen. Lies es so schnell du kannst, und sage mir, was du darüber denkst. Taugt es aber nicht, so kannst du es gern verbrennen. Dann will ich es nicht mehr sehen.«

Er ging schnell seiner Wege. Der Student sah ihm nach, als wolle er ihn zurückrufen, besann sich aber und ging nach Hause.

Dort beeilte er sich, seine Werktagskleider anzuziehen und lief dann hinaus, um nach der Handschrift zu suchen. Er suchte in den Straßen, auf den Plätzen und in den Anlagen. Er ging in die Höfe, ja, er wanderte sogar ganz aufs Land hinaus, aber er fand nicht ein einziges Blatt.

Als er ein paar Stunden herumgelaufen war, wurde er so hungrig, daß er Verlangen nach Mittagessen empfand. Aber da, wo er zu Mittag zu essen pflegte, traf er den alten Studenten wieder, der ihm gleich entgegenkam, um etwas über das Buch zu hören. »Ich komme heute abend zu dir, um mit dir zu reden,« sagte der Student ziemlich abweisend. Er wollte nicht eingestehen, daß die Arbeit weg war, ehe er ganz sicher war, daß sie nicht wieder zu finden sei. Der andere wurde ganz blaß. »Vergiß nur ja nicht, daß du es vernichten sollst, wenn es nicht taugt,« sagte er und ging seiner Wege und war nun ganz sicher, daß das Buch dem Studenten nicht gefallen habe.

Der Student eilte wieder in die Stadt hinaus und suchte unermüdlich, bis es dunkel wurde, ohne aber das geringste zu finden. Auf dem Heimwege begegnete er ein paar Kameraden: »Wo hast du dich herumgetrieben, da du nicht zum Frühlingsfest gekommen bist?« – »Ach, ist heute Frühlingsfest gewesen?« sagte der Student. »Das hatte ich ganz vergessen.«

Während er dastand und mit den Kameraden sprach, kam ein junges Mädchen, das er gern hatte, vorüber. Sie sah ihn nicht an, sondern sprach mit einem anderen Studenten, dem sie unendlich freundlich zulächelte. Da entsann sich der Student, daß er sie gebeten hatte, zum Frühlingsfest zu kommen, damit er sie dort treffen könne, und nun war er selber nicht gekommen. Was mußte sie doch von ihm denken!

Er fühlte einen Stich in seinem Herzen und wollte ihr nacheilen, aber da sagte der eine von seinen Freunden: »Mit Steenberg, dem ewigen Studenten, steht es offenbar sehr schlecht. Er ist heute abend krank geworden.« – »Es ist doch wohl nichts Gefährliches?« fragte der Student schnell. – »Es ist etwas mit dem Herzen. Es war ein schlimmer Anfall, den er hatte, und der kann sich jeden Augenblick wiederholen. Der Doktor meint, daß er irgendeinen Kummer hat, der ihn bedrückt. Es kann nur besser werden, wenn dieser Kummer von ihm genommen wird.«

Kurz darauf trat der Student in das Zimmer des ewigen Studenten. Er lag bleich und matt in seinem Bett und war noch kaum wieder bei Besinnung nach dem schlimmen Anfall.

»Ich komme, um mit dir über dein Buch zu reden,« sagte der Student. »Es ist eine vorzügliche Arbeit, kann ich dir sagen. Ich habe selten etwas so Gutes gelesen,«

Der ewige Student richtete sich im Bett auf und starrte den Studenten an. »Warum warst du denn heute nachmittag so sonderbar?«

»Ich war schlechter Laune, weil ich durchs Tentamen gefallen bin. Ich ahnte nicht, daß du dir soviel aus meiner Meinung machst. Ich habe soviel Freude von deinem Buch gehabt.«

Der Kranke sah ihn forschend an, und es wurde ihm mehr und mehr klar, daß ihm der Student etwas verbergen wollte. »Das sagst du nur, weil du gehört hast, daß ich krank bin, nun willst du mich trösten.« – »Keineswegs. Es ist eine ausgezeichnete Arbeit, das versichere ich dich.« – »Hast du sie wirklich nicht vernichtet, wie ich dich bat?« – »Ich bin doch nicht verrückt!« – »So hole sie! Zeige mir, daß du sie nicht vernichtet hast, dann will ich dir glauben!« sagte der Kranke und sank in die Kissen zurück. Er war so schwach und matt, daß der Student glaubte, der Anfall werde sich wiederholen.

Es war ein fürchterlicher Augenblick für den Studenten. Er nahm die Hände des Kranken zwischen die seinen, erzählte ihm, daß seine Handschrift zum Fenster hinausgeweht sei und sagte, wie unglücklich er den ganzen Tag gewesen war, weil er ihm einen so großen Schaden zugefügt hatte.

Als er schwieg, nahm der Kranke seine Hand und streichelte sie. »Du bist gut gegen mich, wirklich gut. Gib dir aber keine Mühe, Geschichten zu erfinden, um mich zu schonen. Ich verstehe ja, daß du getan hast, wie ich dir sagte: du hast die Handschrift verbrannt, weil sie nichts taugte, und du willst es nun nicht eingestehen. Du glaubst, ich könne das nicht ertragen!«

Der Student versicherte ihm hoch und heilig, daß er die Wahrheit rede, der andere aber beharrte bei seiner Ansicht und wollte ihm nicht glauben.

»Könntest du mir die Handschrift zurückgeben, so würde ich dir glauben,« sagte er.

Er wurde immer elender, und der Student sah sich schließlich gezwungen, fortzugehen, um seinen Zustand nicht noch zu verschlimmern.

Als er zu Hause anlangte, befiel ihn eine solche Schwermut und Müdigkeit, daß er sich kaum aufrecht halten konnte. Er machte Tee und ging dann zu Bett. Während er die Decke über sich zog, dachte er daran, wie glücklich er am Morgen gewesen war. Jetzt war für ihn selber viel in die Brüche gegangen, aber das konnte er ja ertragen. »Das Schlimmste ist, daß ich nie im Leben werde vergessen können, daß ich einen Menschen ins Unglück gebracht habe,« sagte er.

Er glaubte, daß er in dieser Nacht kein Auge werde schließen können. Aber wunderbarerweise schlief er ein, sobald er den Kopf auf das Kissen gelegt hatte. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, die Lampe auszulöschen, die auf dem Nachttisch neben seinem Bett brannte.

Das Frühlingsfest

Nun aber wollte es der Zufall, daß, als der Student sich schlafen legte, ein kleiner Bursche mit gelber Lederhose, grüner Weste und weißer Zipfelmütze auf dem Dach vor seinem Mansardenfenster stand und dachte, wenn er an Stelle dessen wäre, der jetzt da drinnen in seinem Bett lag, so würde er sehr glücklich sein.

Daß Niels Holgersen, der noch vor ein paar Stunden in einem Büschel gelber Sumpfdotterblumen am Ekelsundsvik gelegen und gefaulenzt hatte, sich jetzt in Upsala befand, daran war der Rabe Bataki schuld; er hatte Niels zu dem Abenteuer verlockt.

Der Junge selber hatte es sich am allerwenigsten träumen lassen. Er lag in dem Blumenbüschel und starrte zum Himmel empor, als er Bataki oben zwischen den davonziehenden Wolken fliegen sah. Der Junge wollte sich am liebsten vor ihm verstecken, aber Bataki hatte ihn schon gesehen, und einen Augenblick später stand er mitten zwischen den Dotterblumen und sprach so, als seien er und der Junge die besten Freunde von der Welt.

So finster und feierlich Bataki auch aussah, Niels konnte doch merken, daß er einen Schelm im Auge hatte. Er hatte ein Gefühl, als wenn der Rabe gekommen sei, um sich lustig über ihn zu machen, und er hatte beschlossen, sich an nichts zu kehren, was er auch zu ihm sagen werde.

Der Rabe begann nun damit, zu sagen, er fände, er schulde Däumling einen Ersatz dafür, daß er ihm nicht erzählen könne, wo das Bruderteil war, und deswegen sei er nun gekommen, um ihm ein anderes Geheimnis anzuvertrauen. Bataki wisse nämlich, wie jemand, der so verwandelt worden war, wie er, wieder zum Menschen werden könne.

Der Rabe hatte ganz fest geglaubt, daß der Junge sofort anbeißen würde, wenn er ihm einen solchen Köder auswarf. Statt dessen aber antwortete Niels sehr abweisend, daß er wisse, er könne wieder Mensch werden, wenn er den weißen Gänserich erst glücklich nach Lappland hinauf und dann nach Schoonen zurückbringen könne.

»Du weißt, es ist keine Kleinigkeit, einen Gänserich glücklich durch das Land zu bringen,« sagte Bataki. »Es könnte nicht schaden, wenn du noch einen anderen Ausweg wüßtest, für den Fall, daß dir dies mißlingen sollte. Machst du dir aber nichts daraus, es zu wissen, so werde ich schon meinen Mund halten.« Und dann antwortete der Junge, er habe nichts dagegen, daß ihm Bataki das Geheimnis erzähle.

»Das will ich auch tun,« sagte Bataki, »aber erst im rechten Augenblick. Setz‘ dich auf meinen Rücken und gehe mit mir auf eine Reise, dann wollen wir sehen, ob sich nicht eine passende Gelegenheit bietet!« Da wurde der Junge wieder bedenklich, denn er wußte nie, wie er mit Bataki dran war. »Du wagst wohl nicht, dich mir anzuvertrauen,« sagte der Rabe. Niels konnte es aber nicht ertragen zu hören, daß es irgend etwas geben sollte, wovor er bange war, und im nächsten Augenblick saß er auf dem Rücken des Raben.

Dann flog der Rabe mit ihm nach Upsala. Auf einem Dach setzte er ihn ab, bat ihn, sich umzusehen und fragte ihn dann, was er wohl glaube, wer in dieser Stadt regiere.

Der Junge sah über die Stadt hinaus. Sie war ziemlich groß und lag entzückend mitten in einer großen, gut bebauten Ebene. Da waren viele Häuser, die ansehnlich und vornehm aussahen, und oben auf einem Hügel lag ein stattlich gebautes Schloß mit zwei schweren Türmen.

»Da wohnen vielleicht der König und seine Mannen?« fragte er.

»Das ist gar nicht übel erraten,« antwortete der Rabe. »In alten Zeiten hat der König hier seinen Sitz gehabt. Aber nun ist es vorbei mit der Herrlichkeit.«

Der Junge sah sich noch einmal um, und da bemerkte er vor allen Dingen den großen Dom, der in der Abendsonne dalag mit seinen drei hohen, glitzernden Türmen, seinen stattlichen Portalen und den reich geschmückten Mauern. »Vielleicht wohnt hier ein Bischof mit seinen Geistlichen?« fragte er.

»Das ist gar nicht übel erraten,« sagte Bataki. »Hier haben einstmals Erzbischöfe gewohnt, die so mächtig waren wie Könige, und noch heutigen Tages wohnt hier ein Erzbischof, aber der regiert hier jetzt nicht.«

»Dann weiß ich nicht, was ich raten soll,« sagte der Junge.

»Die Gelehrsamkeit wohnt und regiert hier in der Stadt,« sagte der Rabe, »und die großen Gebäude, die du überall siehst, sind ihr und ihren Leuten zu Ehren errichtet.«

Das wollte Niels kaum glauben. »Komm du nur mit, dann wirst du schon sehen!« sagte der Rabe und sie flogen hin und besahen die großen Häuser. An verschiedenen Stellen standen die Fenster offen. Der Junge konnte hier und da hineingucken, und er sah, daß der Rabe recht hatte.

Bataki zeigte ihm die große Bibliothek, die vom Keller bis zum Boden voller Bücher war. Er führte ihn nach dem stolzen Universitätsgebäude und zeigte ihm die prächtigen Vorlesungssäle. Er flog an dem alten Gebäude vorüber, das Gustavianum heißt, und durch die Fenster sah der Junge ausgestopfte Tiere. Sie flogen über die großen Treibhäuser mit den vielen fremdländischen Pflanzen, und sie guckten auf das Observatorium hinab, wo das große Fernrohr zum Himmel hinauf gerichtet stand.

Sie schwebten auch an vielen Fenstern vorüber und sahen alte Herren mit einer Brille auf der Nase. Die saßen und schrieben oder lasen in Zimmern, deren Wände ganz mit Büchern bedeckt waren, und sie flogen an Mansardenstübchen vorüber, wo die Studenten, so lang sie waren, auf ihren Sofas lagen und über dicken Büchern schwitzten.

Schließlich ließ sich der Rabe auf einem Dach nieder. »Kannst du nun sehen, daß das, was ich sagte, wahr ist? Die Gelehrsamkeit herrscht hier in der Stadt!« Und der Junge mußte einräumen, daß er recht hatte. »Wäre ich nicht ein Rabe,« fuhr Bataki fort, »sondern ein Mensch, so wie du, so würde ich mich hier niederlassen. Ich würde tagaus, tagein in einer solchen Stube voller Bücher sitzen und alles lernen, was darin steht. Hättest du nicht auch Lust dazu?« – »Nein, ich glaube, ich möchte lieber mit den Wildgänsen reisen,« antwortete der Junge. – »Möchtest du nicht einer von denen werden, die Krankheiten heilen können?« fragte der Rabe. – »Ach ja, vielleicht.« – »Möchtest du nicht einer von denen werden, die alles wissen, was sich in der Welt zugetragen hat, die alle Sprachen sprechen und sagen können, was für Bahnen Sonne und Mond und Sterne am Himmel beschreiben?« sagte der Rabe. – »Freilich, das könnte ja ganz erbaulich sein.« – »Hättest du nicht Lust, den Unterschied von Gut und Böse, Recht und Unrecht kennen zu lernen?« – »Das könnte ja ganz nützlich sein,« sagte der Junge, »das habe ich oft bemerkt.« – »Und hättest du nicht Lust, zu studieren und Geistlicher zu werden und daheim in der Kirche zu predigen?« – »Vater und Mutter würden sich schrecklich freuen, wenn ich es soweit brächte,« antwortete der Junge.

Auf die Weise machte der Rabe Niels begreiflich, daß die Menschen, die in Upsala wohnen und studieren konnten, glücklich seien, aber bisher hatte Däumling noch nicht gewünscht, einer von ihnen zu sein.

Dann traf es sich aber, daß das große Fest zu Ehren des Frühlings, das alljährlich in Upsala gefeiert wurde, gerade an diesem Abend stattfand. Es hatte eigentlich am ersten Mai stattfinden sollen, aber da goß es in Strömen vom Himmel herab, und das Fest ward auf einen anderen Tag verschoben.

Und so ging es zu, daß Niels Holgersen die Studenten zu sehen bekam, als sie nach dem Botanischen Garten hinauszogen, wo das Fest gefeiert werden sollte. Sie kamen in einem großen, breiten Zug daher mit weißen Mützen auf dem Kopf und die ganze Straße war wie ein dunkler Fluß voll weißer Wasserrosen. Vor dem Zuge her wurden weiße, goldgestickte Fahnen getragen, und während des ganzen Marsches sangen sie Frühlingslieder. Niels hatte die Empfindung, als sängen sie nicht selbst, als begleite der Gesang sie, über ihren Köpfen hinschwebend. Ihm war es, als sängen nicht die Studenten zu Ehren des Frühlings, sondern als sitze der Frühling irgendwo verborgen und singe den Studenten etwas vor. Er hatte nie eine Ahnung davon gehabt, daß Menschengesang so klingen könne. Es war wie ein Sausen in Tannenwipfeln, wie Klang von Stahl, wie der Gesang wilder Schwäne am Strande.

Als die Studenten in den Garten kamen, wo die Rasenplätze mit dem ersten, feinen, hellgrünen Gras bedeckt waren, und die Blätter der Bäume im Begriff standen, die Knospen zu sprengen, stellten sie sich vor einer Rednertribüne auf, die ein alter Mann bestieg, um eine Ansprache an sie zu halten.

Die Rednertribüne war auf der Treppe vor den großen Treibhäusern errichtet, und der Rabe setzte den Jungen auf das Dach des Treibhauses. Da saß er in guter Ruhe und sah und hörte. Der alte Mann auf der Rednertribüne sagte, das beste im Leben sei, jung zu sein und seine Jugendjahre in Upsala zu verbringen. Er sprach von der guten, friedlichen Arbeit bei den Büchern und der reichen, lichten Jugendfreude, die nirgends so genossen werden könne wie in dem großen Kameradenkreis. Das mache die Arbeit so vergnüglich, ließe die Sorgen so leicht vergessen, mache die Hoffnung so licht.

Der Junge saß da und sah auf die Studenten herab, die in einem Halbkreis um die Rednertribüne standen, und ihm ging das Verständnis dafür auf, daß es nichts Schöneres gebe, als zu diesem Kreis zu gehören. Das war ein Glück und eine große Ehre. Jeder einzelne wurde zu etwas mehr, als er sonst gewesen sein würde, wenn er zu einer solchen Schar gehörte.

Nach der Rede wurde wieder gesungen, und auf den Gesang folgten von neuem Reden.

Der Junge hatte nie eine Ahnung oder einen Begriff davon gehabt, daß man Worte so zusammensetzen konnte, daß sie Macht erhielten, zu rühren und erfreuen und begeistern, so wie diese.

Niels hatte hauptsächlich die Studenten angesehen, aber er bemerkte doch, daß sie nicht die einzigen im Garten waren. Da waren auch junge Mädchen in hellen Kleidern und feinen Frühlingshüten, sowie viele andere Leute. Aber es erging ihnen wie dem Jungen, es schien, als seien sie nur gekommen, um die Studenten zu sehen.

Hin und wieder entstand eine Pause zwischen den Reden und dem Gesang, und da zerstreute sich die Schar über den ganzen Garten. Bald aber stand ein neuer Redner auf der Tribüne, und sogleich scharten sich die Zuhörer wieder um ihn. Und so ging es weiter, bis die Nacht hereinbrach.

Als das Ganze vorbei war, atmete der Junge tief auf und rieb seine Augen, als erwache er aus dem Schlaf. Er war in einem Lande gewesen, das er noch nie besucht hatte. Alle diese Menschen, die sich des Lebens freuten und der Zukunft siegesstolz entgegensahen, verbreiteten Heiterkeit und Freude um sich wie einen Ansteckungsstoff, und der Junge war ebenso wie sie im Reiche der Freude gewesen. Aber als die Töne des letzten Liedes hinstarben, fühlte der Junge, wie trübselig sein eigenes Leben war, und er konnte sich nach dem eben Erlebten kaum überwinden, zu seinen Reisekameraden zurückzukehren.

Der Rabe hatte neben dem Jungen gesessen, und nun flüsterte er ihm ins Ohr: »Jetzt will ich dir erzählen, Däumling, wie du wieder Mensch werden kannst. Du mußt warten, bis du jemand triffst, der dir sagt, daß er gern an deiner Stelle sein und mit den Wildgänsen reisen wolle. Dann mußt du den Augenblick ergreifen und zu ihm sagen: …« Und nun lehrte Bataki den Jungen einige Wörter, die so kräftig und gefährlich waren, daß man sie nicht laut sagen, sondern nur flüstern konnte, bis die Zeit kam, wo man sie allen Ernstes gebrauchen sollte. »Ja, mehr gehört nicht dazu, daß du wieder Mensch werden kannst,« sagte Bataki schließlich.

»Nein, das will ich schon glauben,« entgegnete der Junge, »denn ich treffe natürlich niemals jemand, der sich an meine Stelle wünschen würde.«

»Ach, das ist doch nicht so unmöglich,« meinte der Rabe, und dann flog er mit dem Jungen in die Stadt und setzte ihn vor einem Mansardenfenster auf das Dach. In der Stube brannte eine Lampe, das Fenster war nur angelehnt, und Niels stand lange da und dachte, wie glücklich der Student sein müsse, der da drinnen lag und schlief.

Die Probe.

Der Student fuhr aus dem Schlaf auf und sah, daß die Lampe auf dem Nachttisch stand und brannte. »Ach, da habe ich vergessen, die Lampe auszulöschen,« dachte er und richtete sich auf dem Ellbogen auf, um sie herunterzuschrauben. Ehe er sie aber noch ausgelöscht hatte, gewahrte er, daß sich auf dem Schreibtisch etwas bewegte.

Die Stube war ganz klein. Es war nicht weit von dem Bett bis zum Tisch, und er konnte deutlich alle die Bücher, Papiere, Schreibsachen und Photographien sehen, die den Tisch bedeckten. Den Spirituskocher und das Teebrett hatte er ebenfalls stehen lassen, und die sah er auch. Das Merkwürdigste aber war, daß er ebenso deutlich wie all das andere einen kleinen Knirps sah, der über die Butterdose gebeugt stand und im Begriff war, sich ein Butterbrot zu streichen.

Der Student hatte an diesem Tage soviel erlebt, daß er fast gleichgültig dagegen war, was ihm begegnete. Er war weder verwundert noch bange, fand es aber ganz natürlich, daß der kleine Mann hereingekommen war und sich einen Bissen Brot holte.

Er legte sich hin, ohne die Lampe auszulöschen und lag mit halbgeschlossenen Augen da und sah dem Kleinen zu. Der hatte sich jetzt auf einen Briefbeschwerer gesetzt und saß da so seelenvergnügt und tat sich an den Überresten von dem Abendbrot des Studenten zugute. Man konnte sehr wohl merken, daß er die Mahlzeit so sehr wie möglich in die Länge zog. Er saß mit gen Himmel erhobenen Augen da und schmatzte zwischen jedem Mundvoll mit der Zunge. Die trockenen Brotscheiben und die alte Käserinde waren offenbar ein seltener Leckerbissen für ihn.

Der Student wollte ihn nicht stören, solange er aß, als es aber schien, als könne er nicht mehr, redete er ihn an.

»Hallo, du!« sagte er. »Was für einer bist denn du?«

Der Junge zuckte zusammen und lief nach dem Fenster, als er aber sah, daß der Student ruhig in seinem Bett liegen blieb und ihm nicht nachlief, hielt er inne. »Ich bin Niels Holgersen aus Wester-Vemmenhög,« sagte er, »und ich bin ein Mensch so wie du, aber ich bin in einen Kobold verwandelt, und seit der Zeit reise ich mit den Wildgänsen herum.«

»Das ist doch eine merkwürdige Geschichte,« sagte der Student und begann, Niels zu fragen und auszuforschen, bis er Bescheid über fast alles erhalten, was der Junge, seit er von Hause wegreiste, erlebt hatte.

»Du hast es, weiß Gott, gut,« sagte der Student. »Wer an deiner Stelle wäre und alle Sorgen hinter sich lassen könnte!«

Der Rabe stand draußen vor dem Fenster, und als der Student diese Worte sagte, klopfte er mit dem Schnabel an die Fensterscheibe. Der Junge verstand wohl, daß er ihn daran erinnern wollte, die Gelegenheit zu benutzen, falls der Student das rechte Wort sagen sollte. »Du brauchst mir nicht einzubilden, daß du mit mir tauschen würdest,« sagte der Junge. »Wer Student ist, kann sich doch nichts Besseres wünschen!«

»Dasselbe dachte ich noch heute morgen, als ich erwachte,« sagte der Student. »Aber du sollst nur wissen, was mir heute zugestoßen ist. Für mich ist alles aus. Es wäre wirklich das beste für mich, wenn ich mit den Wildgänsen auf und davon gehen könnte.«

Wieder hörte Niels Bataki gegen die Fensterscheibe klopfen; ihm selber wurde ganz schwindlig, und er bekam Herzklopfen, denn es sah ja fast so aus, als wolle der Student die richtigen Worte sagen.

»Ich habe dir erzählt, wie es mit mir steht,« sagte er zu dem Studenten. »Erzähle du mir nun, wie es mit dir steht!« Und der Student schien froh zu sein, daß er jemand hatte, dem er sich anvertrauen konnte, und er erzählte ganz ehrlich, was ihm heute begegnet war. »Das andere ist schließlich einerlei,« sagte der Student, als er geendet hatte. »Was ich aber nicht ertragen kann, ist der Gedanke, daß ich einen Kameraden ins Unglück gestürzt habe. Es wäre viel besser für mich, wenn ich in deinen Kleidern steckte und mit den Wildgänsen herumreiste.«

Bataki klopfte eifrig an die Fensterscheibe, aber der Junge saß lange still und stumm da und starrte vor sich nieder.

»Warte ein wenig! Du sollst gleich von mir hören,« sagte er mit leiser Stimme zu dem Studenten, und dann ging er zögernden Schrittes über den Schreibtisch und zum Fenster hinaus. Gerade als er auf das Dach hinauskam, ging die Sonne auf, und Upsala lag da, gebadet im Licht der Morgenröte. Es blinkte und blitzte von allen Zinnen und Türmen, und wieder mußte der Junge sich sagen, daß dies eine wahre Stadt der Freude sei.

»Was hattest du nur einmal?« sagte der Rabe. »Jetzt hast du die Gelegenheit, ein Mensch zu werden, verpaßt.«

»Ich habe keine Lust, mit dem Studenten zu tauschen,« sagte der Junge. »Ich würde ja nur Unannehmlichkeiten wegen der weggewehten Papiere bekommen.«

»Um die Papiere brauchst du dich nicht zu beunruhigen,« sagte der Rabe. »Die kann ich zur Stelle schaffen.«

»Ich zweifle nicht daran, daß du das kannst,« sagte der Junge, »aber ich bin nicht sicher, daß du es tun wirst. Die Sache muß ich erst im reinen haben.«

Bataki entgegnete kein Wort. Er breitete nur seine Flügel aus, flog davon und kam mit einigen Papierblättern zurück. So flog er nun eine ganze Weile hin und her, so fleißig wie eine Schwalbe, wenn sie Lehm für ihr Nest zusammenträgt, und brachte dem Jungen ein Stück Papier nachdem anderen. »So, nun glaube ich fest, daß du es alles beisammen hast,« sagte er schließlich und setzte sich ganz atemlos auf das Fensterbrett.

»Hab‘ vielen Dank!« sagte der Junge. »Nun gehe ich zu dem Studenten hinein und rede mit ihm.« Im selben Augenblick warf Bataki einen Blick in das Zimmer und sah den Studenten dastehen und die Papiere glätten und ordnen. »Du bist doch das größte Rindvieh, das mir jemals vorgekommen ist,« fuhr Bataki auf den Jungen ein. »Hast du dem Studenten die Handschrift gegeben? Dann kannst du dir den Weg zu ihm hinein sparen. Jetzt wird er nie im Leben wieder sagen, daß er gern an deiner Stelle sein möchte.«

Der Junge stand auch da und starrte den Studenten an; der war so froh, daß er im bloßen Hemd in seinem kleinen Zimmer herumtanzte. Dann wandte er sich an den Raben. »Ich verstehe sehr wohl, Bataki, daß du mich auf die Probe stellen wolltest,« sagte er. »Du glaubtest wohl, daß, wenn ich selbst es nur gut haben könnte, ich den Gänserich Martin auf dieser beschwerlichen Reise sich selbst überlassen würde. Aber als der Student seine Geschichte erzählte, mußte ich daran denken, wie häßlich es sei, einen Kameraden im Stich zu lassen, und das wollte ich denn doch nicht tun.«

Bataki kraute sich mit dem Fuß im Nacken und sah fast verlegen aus. Er wußte nichts hierauf zu erwidern, sondern flog mit dem Jungen zurück geradeswegs zu den Gänsen.

XXXV. Daunenfein


Die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.

Freitag, 6. Mai.

Niemand konnte sanfter und süßer sein als die kleine graue Gans Daunenfein. Alle die wilden Gänse hatten sie lieb, und der weiße Gänserich hätte gern sein Leben für sie gelassen. Wenn Daunenfein um etwas bat, konnte nicht einmal Akka nein sagen. Sobald Daunenfein an den Mälarsee kam, erkannte sie die Gegend wieder. Da draußen lag das Meer mit den vielen Schären, und da wohnten ihre Eltern und Geschwister auf einer kleinen Insel. Sie bat die Wildgänse mit nach ihrem Heim zu fliegen, ehe sie weiter nordwärts reisten, damit sie ihrer Familie zeigen könne, daß sie noch am Leben sei. Das würde eine so große Freude für sie sein.

Akka sagte ganz offen, sie fände, Daunenfeins Eltern und Geschwister seien keineswegs liebevoll gewesen, damals, als sie sie auf Öland zurückließen. Aber darin wollte ihnen Daunenfein nicht recht geben. »Was sollten sie wohl anderes tun, als sie sahen, daß ich nicht fliegen konnte?« sagte sie. »Sie konnten doch meinetwegen nicht auf Öland zurückbleiben!«

Um die Wildgänse zu bewegen, die Reise zu machen, begann Daunenfein von ihrem Heim draußen in den Schären zu erzählen. Es war eine Felseninsel. Wenn man sie in der Ferne sah, konnte sie aussehen, als sei da nichts weiter als Steine, kam man aber dahin, so entdeckte man das schönste Gras in Schluchten und Felsspalten. Und nach besseren Brutplätzen, als die in den Felsschluchten oder zwischen den Weidenbüschen dort, konnte man lange suchen. Das beste von allem aber war der alte Fischer, der da draußen wohnte. Daunenfein hatte gehört, daß er in seinen jungen Tagen ein eifriger Jäger gewesen war, der immer draußen zwischen den Schären lag und Vögel schoß. Aber jetzt in seinem Alter, wo seine Frau tot war und die Kinder die Heimat verlassen hatten, so daß er allein im Nest zurückgeblieben war, hatte er angefangen, die Vögel draußen auf seiner Schäre zu beschützen. Er gab nie einen Schuß auf sie ab und erlaubte auch nicht, daß andere es taten. Er ging von einem Vogelnest zum anderen, und wenn die Weibchen brüteten, holte er ihnen Futter. Niemand war bange vor ihm. Daunenfein war gar manches Mal in seiner Hütte gewesen und mit Brotkrumen gefüttert worden. Weil nun aber der Fischer so gut gegen die Vögel war, zogen sie in so großen Scharen nach der Schäre hinaus, daß es dort bald mit dem Platz knapp wurde. Kam man im Frühling zu spät dorthin, so konnte es vorkommen, daß alle Brutplätze besetzt waren. Deswegen hatten Daunenfeins Eltern und Geschwister von ihr fortreisen müssen.

Daunenfein bettelte so lange, bis sie ihren Willen bekam, obwohl die Wildgänse sehr wohl wußten, daß sie sich verspätet hatten und lieber geradeswegs gen Norden reisen sollten. Aber so ein Ausflug nach den Schären brauchte die Reise ja nur um einen einzigen Tag zu verzögern.

Sie brachen eines Morgens auf, nachdem sie sich mit einer guten Mahlzeit gestärkt hatten, und flogen gen Osten über den Mälar. Der Junge war sich nicht klar darüber, wohin sie nun kamen, aber er beobachtete, daß je weiter sie nach Osten kamen, es um so lebhafter auf dem See wurde, und die Küste um so dichter bebaut war.

Schwerbeladene Prähme und Schuten, Boote und Fischkutter waren auf dem Wege gen Osten, und eine Menge schöner, weißer Dampfer kamen ihnen entgegen oder fuhren an ihnen vorüber. Drinnen an Land liefen alle Landstraßen und Eisenbahnschienen demselben Ziel zu. Da draußen im Osten mußte irgendein Ort sein, dem sie alle jetzt in der frühen Morgenstunde zustrebten.

Auf einer der Inseln sah der Junge ein großes, weißes Schloß und ein wenig östlich davor begannen Villen die Ufer zu bedecken. Zu Anfang lagen längere Zwischenräume zwischen den einzelnen Häusern, nach und nach aber wurden sie dichter, und schließlich stand da am ganzen Ufer entlang eine Villa neben der anderen. Es waren Gebäude allerlei Art. Hier lag ein Schloß und da eine Hütte. Hier erhob sich ein langer Herrenhof und dort eine Villa mit vielen kleinen Türmen. Einige waren von Gärten umgeben, die meisten aber lagen ohne Gärten in dem Laubwald, der das Ufer umkränzte. Aber wie verschieden sie auch waren, etwas war ihnen allen eigen, sie waren nicht einfach und ernsthaft und alltäglich wie andere Häuser, sondern mit schönen, starken Farben, grün und blau und weiß und rot gemalt, wie Puppenhäuser.

Der Junge saß da und sah hinab auf die lustigen Villen am See, als Daunenfein einen Schrei ausstieß. »Jetzt weiß ich, wo wir sind! Dort liegt die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.«

Da sah Niels hinaus, konnte aber anfänglich nichts sehen als helle Dächer und Dämpfe, die über dem Wasser wogten. Bald aber konnte er hohe Türme unterscheiden und hier und da ein Haus mit vielen Fenstern. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, während die Nebel hierhin und dahin trieben. Aber er sah keinen Strand. Es schien alles auf dem Wasser zu ruhen.

Als sich der Junge der Stadt näherte, sah er die lustigen Puppenhäuser drinnen am Lande nicht mehr. Statt dessen waren die Ufer mit rußigen Fabrikgebäuden bedeckt. Hinter hohen Bretterzäunen dehnten sich große Kohlenhaufen und Holzstapel aus, und an schwarzen, schmutzigen Brücken lagen schwerfällige Frachtdampfer. Über das Ganze aber breiteten sich die schimmernden durchsichtigen Dächer aus, und sie bewirkten, daß alles so groß und gewaltig und fremd aussah, daß es fast schön wurde.

Die Wildgänse flogen an Fabriken und Frachtdampfern vorüber und näherten sich den nebelumhüllten Türmen. Da sanken plötzlich alle Dächer bis zum Wasser hinab, mit Ausnahme von einigen leichten, dünnen, fein rosenfarbenen, die über ihren Köpfen schwebten. Die anderen lagen da und wogten über Land und Wasser. Sie verbargen vollständig den Grundwall der Häuser und die unteren Teile, während man die obersten Stockwerke, die Dächer, Türme, Giebel und Frontispize deutlich sehen konnte. Einige Häuser erschienen dadurch so hoch, daß man an den Turm von Babel denken mußte. Der Junge konnte ja begreifen, daß sie auf Hügeln und Höhenzügen erbaut waren, aber die sah er nicht, er sah nur die Gebäude, die über den Dächern schwebten. Die Dächer waren schimmernd weiß, und die Häuser lagen schwarz und finster da, denn die Sonne stand im Osten und beschien sie nicht.

Niels begriff, daß er über eine große Stadt dahinschwebte, denn überall sah er Dächer und Türme aus dem Nebel aufragen. Zuweilen entstand eine Öffnung in den wogenden Nebeln, und er sah hinab in einen rinnenden, brausenden Strom, konnte aber nirgends Land erblicken. Es war alles schön zu sehen, doch fühlte er sich fast beklemmt, wie dies der Fall ist, wenn man Dingen begegnet, die man nicht versteht.

Sobald er die Stadt hinter sich hatte, war die Erde nicht mehr von Nebeln verhüllt; man konnte wieder deutlich den Strand, das Wasser und die Inseln unterscheiden. Da wandte er sich um, in der Hoffnung, die Stadt jetzt besser sehen zu können, aber das gelang ihm nicht. Sie sah jetzt nur noch verzauberter aus. Der Sonnenschein färbte die Dächer, so daß sie ganz fein rosenfarben, blau und gelb dahinschwebten. Die Häuser waren so weiß, als seien sie aus Licht gebaut, während Fenster und Türme wie Feuer lohten. Und alles floß auf dem Wasser zusammen, so wie vorhin.

Die Wildgänse flogen geradeswegs gen Osten. Anfangs sah es fast so aus, wie am Mälar. Zuerst flogen sie über Fabriken und Werkstätten. Dann sah man eine ganze Weile keine Villen am Ufer. Es wimmelte von Dampfern und Segelschiffen, aber jetzt kamen sie aus dem Osten und gingen nach Westen, in die Stadt hinein.

Sie flogen weiter, und statt der schmalen Mälarbuchten und der kleinen Inseln breiteten sich eine weitere Wasserfläche und größere Inseln unter ihnen aus. Das Festland wich zurück, bald war es nicht mehr zu sehen. Der Pflanzenwuchs wurde spärlicher, die Laubbäume seltener, die Föhren gewannen die Übermacht. Die Villen hörten ganz auf, und statt ihrer sah man Bauerhäuser und Fischerhütten.

Sie flogen noch weiter, und jetzt waren da keine von den großen, bewohnten Inseln mehr, nur eine Unendlichkeit von kleinen Schären waren über das Wasser ausgestreut. Das Land dämmte keine Buchten mehr ein. Groß und unbegrenzt lag das Meer vor ihnen.

Hier draußen ließen sich die Wildgänse auf einer Felsinsel nieder, und als sie festen Boden unter den Füßen hatten, wandte sich der Junge an Daunenfein: »Was für eine große Stadt war es, über die wir dahinflogen?« fragte er. »Ich weiß nicht, wie sie bei den Menschen heißt,« sagte Daunenfein. »Wir Graugänse nennen sie die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.«

Die Schwestern.

Daunenfein hatte zwei Schwestern, Flügelschön und Goldauge. Es waren starke und kluge Vögel, aber ihr Federkleid war nicht so weich und glänzend wie Daunenfeins, und ihr Sinn war nicht so sanft und milde. Schon als sie noch kleine, gelbe Gössel waren, hatten Eltern und Verwandte, ja sogar der alte Fischer, sie deutlich fühlen lassen, daß sie Daunenfein lieber hatten als sie, und deswegen hatten die beiden die Schwestern immer gehaßt. Als die Wildgänse auf der Schäre landeten, weideten Flügelschön und Goldauge auf einem kleinen grünen Fleck in der Nähe des Strandes. Sie erblickten die Ankömmlinge sofort.

»Siehst du die prächtigen Wildgänse, die sich hier auf der Insel niederlassen, Schwester Goldauge?« fragte Flügelschön. »Selten habe ich Vögel mit einer so stolzen Haltung gesehen. Und sieh nur, sie haben einen weißen Gänserich unter sich! Sahest du je einen so schönen Vogel? Man sollte fast glauben, es sei ein Schwan.«

Goldauge stimmte der Schwester bei, daß es sicher sehr vornehme Gäste waren, die hier auf der Insel landeten. Plötzlich aber unterbrach sie sich selbst und rief: »Schwester Flügelschön, Schwester Flügelschön! Siehst du nicht, wen sie mit sich führen?«

Im selben Augenblick gewahrte auch Flügelschön Daunenfein und war so erstaunt, daß sie lange mit offenem Schnabel dastand und unaufhörlich zischte. »Das kann sie doch unmöglich sein! Wie sollte sie in Verbindung mit solchen Leuten kommen? Wir haben sie doch dem Hungertode auf Öland überlassen!«

»Das schlimmste ist, daß sie uns sicher bei Vater und Mutter verklatschen und erzählen wird, daß wir sie so gestoßen haben, bis ihr Flügel aus dem Gelenk aussetzte,« sagte Goldauge. »Du sollst sehen, die Sache endet damit, daß wir von der Schäre vertrieben werden.«

»Ja, es kommt nichts weiter als Verdruß dabei heraus, daß diese verhätschelte Göre heimkehrt,« sagte Flügelschön. »Ich glaube, es wird das klügste sein, wenn wir so tun, als seien wir ungeheuer erfreut, daß sie zurückgekommen ist. Sie ist so dumm, am Ende hat sie gar nicht einmal gemerkt, daß wir sie absichtlich gestoßen haben.« Während Flügelschön und Goldauge so sprachen, standen die Wildgänse unten am Strande und ordneten ihre Federn nach der Reise. Dann wanderten sie in einer langen Reihe die Felsklippen hinauf, bis an die Schlucht, wo, wie Daunenfein wußte, ihre Eltern zu wohnen pflegten.

Daunenfeins Eltern waren vorzügliche Leute. Sie hatten länger auf der Insel gewohnt als alle die anderen, und sie pflegten allen neuen Bewohnern mit Rat und Hilfe beizustehen. Auch sie hatten die wilden Gänse kommen sehen, doch hatten sie Daunenfein nicht in der Schar erkannt. »Es ist doch sonderbar, wilde Gänse hier auf unserer Schäre an Land gehen zu sehen,« sagte der graue Gänserich. »Es ist eine prächtige Schar. Das kann man gleich am Fluge sehen. Aber es wird nicht leicht sein, einen Brutplatz für so viele zu finden.« – »Bis jetzt ist es hier doch noch nicht so überfüllt, daß wir nicht alle, die kommen, aufnehmen könnten,« sagte seine Frau. Sie war sanft und milde von Gemüt, so wie Daunenfein.

Als Akka dahergegangen kam, gingen Daunenfeins Eltern ihr entgegen und wollten sie gerade auf der Insel willkommen heißen, als Daunenfein von ihrem Platz ganz hinten im Zuge aufflog und sich mitten zwischen den Eltern niederließ. »Vater! Mutter! Ich bin es ja! Kennt ihr denn Daunenfein nicht mehr?« rief sie. Anfänglich wollten die Alten ihren eigenen Augen kaum trauen, dann aber erkannten sie die Tochter und waren natürlich unendlich erfreut.

Während die Wildgänse und der Gänserich Martin und Daunenfein durcheinander schnatterten, um zu erzählen, wie Daunenfein gerettet wurde, kamen Flügelschön und Goldauge gelaufen. Schon von weitem riefen sie willkommen und stellten sich so erfreut, Daunenfein wiederzusehen, daß diese ganz gerührt wurde.

Die wilden Gänse fühlten sich wohl auf der Insel, und es wurde beschlossen, daß sie erst am nächsten Morgen weiterreisen sollten. Bald nach ihrer Ankunft fragten die Schwestern Daunenfein, ob sie nicht Lust habe, mitzukommen und zu sehen, wo sie ihre Nester bauen wollten. Sie ging sogleich mit und sah, daß sie gute, geschützte Brutplätze gewählt hatten. »Wo willst du dich denn jetzt niederlassen, Daunenfein?« fragten sie. – »Ich?« erwiderte Daunenfein, »Ich habe gar nicht die Absicht, mich hier auf der Schäre niederzulassen. Ich fliege mit den Wildgänsen nach Lappland.« – »Das ist doch traurig, daß du uns verlassen willst,« sagten die Schwestern. – »Ich würde gern bei euch und den Eltern bleiben,« entgegnete Daunenfein. »Aber ich versprach dem großen, weißen …« – »Was?« rief Flügelschön. »Sollst du den schönen Gänserich haben? Das ist doch …« Aber Goldauge gab ihr eifrige Winke, und sie sagte nichts mehr.

Den ganzen Vormittag steckten die bösen Schwestern die Köpfe zusammen. Sie waren ganz außer sich darüber, daß Daunenfein einen so feinen Freier hatte. Sie hatten selbst Freier, aber das waren nur ganz gewöhnliche graue Gänse, und jetzt, wo sie den Gänserich Martin gesehen hatten, fanden sie ihre Freier so häßlich und gewöhnlich, daß sie nichts mehr von ihnen wissen wollten. »Ich glaube, ich ärgere mich noch tot,« sagte Goldauge. »Wärest du es wenigstens noch gewesen, die ihn haben soll, Schwester Flügelschön!« – »Ich wollte, er wäre tot, dann brauchten wir doch nicht den ganzen Sommer daran zu denken, daß Daunenfein einen weißen Gänserich bekommen hat,« sagte Flügelschön.

Die Schwestern setzten aber ihr freundliches Benehmen gegen Daunenfein fort, und am Nachmittag nahm Goldauge sie mit, damit sie den sehen sollte, mit dem die Schwester sich zu verheiraten gedachte. »Er ist nicht so schön wie der, den du haben sollst,« sagte Goldauge, »dafür aber kann man sicher sein, daß er der ist, der er ist.« – »Was meinst du damit, Goldauge?« fragte Daunenfein. Goldauge wollte anfänglich nicht mit der Sprache heraus, schließlich aber entfuhr es ihr, daß Flügelschön und sie darüber geredet hätten, ob es mit dem weißen Gänserich wohl seine Richtigkeit habe. »Wir haben noch nie gesehen, daß eine weiße Gans mit den Wildgänsen fliegt,« sagte die Schwester, »und wir haben gedacht, ob er wohl verhext ist.« – »Seid ihr verrückt? Er ist ja ein zahmer Gänserich,« sagte Daunenfein gekränkt. – »Er hat einen bei sich, der verhext ist, da kann er ebenso gut selbst verhext sein. Bist du nicht bange, daß er am Ende eine schwarze Scharbe ist?«

Sie verlieh ihren Worten den nötigen Nachdruck und machte die arme Daunenfein ganz ängstlich, »Du weißt ja gar nicht, was du sagst,« entgegnete die kleine graue Gans. »Du willst mich nur bange machen.« – »Ich will dein Bestes, Daunenfein,« sagte Goldauge. »Ich kann mir nichts Schlimmeres denken, als dich mit einer schwarzen Scharbe wegfliegen zu sehen. Aber nun will ich dir etwas sagen: Versuche, ihn dazu zu bringen, daß er einige von den Wurzeln frißt, die ich hier gesammelt habe. Ist er verhext, so wird sich das sofort zeigen. Ist er es nicht, so bleibt er, was er ist.«

Niels Holgersen saß mitten zwischen den Gänsen und lauschte Akkas und des alten Gänserichs Unterhaltung, als Daunenfein geflogen kam. »Däumling! Däumling!« rief sie, »Martin liegt im Sterben, und ich habe ihn getötet!« – »Laß mich auf deinem Rücken sitzen, Daunenfein, und bringe mich zu ihm!« rief der Junge. Sie flogen davon und Akka und die Wildgänse folgten ihnen. Als sie zu dem Gänserich kamen, lag der an der Erde. Er konnte nichts sagen, er schnappte nur nach Luft. »Kitzle ihn unter der Kehle und klopfe ihn auf den Rücken!« sagte Akka. Das tat der Junge, und im selben Augenblick hustete der große Weiße eine lange Wurzel heraus, die sich ihm im Halse festgesetzt hatte. »Hast du davon gefressen?« fragte Akka und zeigte auf einige Wurzeln, die an der Erde lagen. »Ja,« antwortete der Gänserich. – »Dann ist es ein Glück, daß sie dir im Halse stecken blieben,« sagte Akka. »Sie sind giftig. Hättest du sie heruntergeschluckt, so wärest du unfehlbar gestorben.« – »Daunenfein hat mich gebeten, sie zu essen,« sagte der Gänserich. – »Ich habe sie von meiner Schwester bekommen,« entgegnete Daunenfein und erzählte das Ganze. – »Du mußt dich vor deinen Schwestern in acht nehmen, Daunenfein,« warnte Akka, »denn sie haben es sicher nicht gut mit dir im Sinne.«

Daunenfeins Gemüt war aber so beschaffen, daß sie niemand etwas Böses zutrauen konnte, und als Flügelschön nach einer Weile kam und ihr ihren Liebsten zeigen wollte, ging sie sogleich mit. »Ja, er ist nicht so schön wie der, den du bekommst, aber viel tapferer und verwegener.« – »Woher weißt du das?« fragte Daunenfein. – »Hier ist in letzter Zeit großer Jammer unter den Möwen und Enten auf der Schäre gewesen, denn jeden Morgen bei Tagesgrauen kommt ein fremder Raubvogel und holt sich eine von ihnen.« – »Was für ein Vogel ist das?« fragte Daunenfein. – »Das wissen wir nicht,« sagte die Schwester. »Wir haben nie einen seiner Art hier auf der Schäre gesehen, und das merkwürdige ist. daß er nie eine von uns Gänsen anfällt. Aber nun hat mein Liebster sich vorgenommen, morgen mit ihm zu kämpfen und ihn zu vertreiben.« – »Möchte es ihm doch gelingen!« sagte Daunenfein. – »Ich bin bange, daß die Sache nicht gut abläuft,« entgegnete die Schwester. »Wäre mein Gänserich nur so groß und stark wie der deine, so könnte ich doch etwas Hoffnung haben.« – »Möchtest du gern, daß ich den Gänserich Martin bitte, gegen den fremden Vogel zu gehen?« fragte Daunenfein. – »Ja, das möchte ich allerdings gern,« sagte Flügelschön. »Einen größeren Gefallen könntest du mir nicht erweisen.«

Am nächsten Morgen war der Gänserich vor der Sonne wach, stellte sich oben auf die höchste Spitze der Schäre und spähte nach allen Seiten. Bald sah er einen großen, dunklen Vogel von Westen herkommen. Die Flügel waren unendlich lang, und es gehörte nicht viel dazu, um zu begreifen, daß es ein Adler war.

Der Gänserich war auf keinen gefährlicheren Feind als auf eine Eule gefaßt gewesen, und nun sah er ein, daß er wohl kaum mit dem Leben davon kommen würde. Aber es fiel ihm auch nicht einen Augenblick ein, daß es ein Unding war, sich auf einen Kampf mit einem Vogel einzulassen, der so viel stärker war als er.

Der Adler schoß auf eine Möwe nieder und schlug die Fänge in sie. Ehe er wieder aufsteigen konnte, kam der Gänserich Martin gefahren. »Laß sie los! rief er. »Und komm nie wieder hierher, sonst kriegst du es mit mir zu tun!« – »Was für ein Tollkopf bist denn du?« fragte der Adler. »Ein Glück für dich, daß es nicht meine Gewohnheit ist, mit Gänsen zu kämpfen. Sonst würde es bald aus sein mit dir!«

Der Gänserich Martin glaubte, daß sich der Adler zu gut halte, mit ihm zu kämpfen und fuhr auf ihn ein, biß ihn in die Kehle und schlug ihn mit den Flügeln. Darin konnte sich der Adler natürlich nicht finden, er schlug wieder, doch nicht mit voller Kraft.

Der Junge lag und schlief an derselben Stelle wie Akka und die Wildgänse, als er Daunenfein rufen hörte: »Däumling! Däumling! Der Gänserich Martin ist kurz davor, von einem Adler zerrissen zu werden!« – »Laß mich auf deinem Rücken sitzen, Daunenfein und bringe mich zu ihm!« sagte der Junge.

Als er zur Stelle kam, war der Gänserich Martin blutig und übel zugerichtet, aber noch im vollen Kampf. Der Junge konnte nicht mit dem Adler kämpfen, und da war nichts weiter zu machen, als bessere Hilfe zu schaffen. »Auf und davon, Daunenfein!« rief er. »Hole Mutter Akka und die Wildgänse!« In demselben Augenblick, als er das sagte, hielt der Adler auf zu kämpfen. »Wer spricht da von Akka?« fragte er. Und als er nun Däumling erblickte und die Wildgänse gackern hörte, hob er die Schwingen. »Sage Akka, ich hätte nicht gedacht, sie oder irgend jemand von ihrer Schar hier draußen auf dem Meere zu treffen!« sagte er und entschwand in schönem und schnellem Flug. – »Das war ja der Adler, der mich einmal zu den Wildgänsen zurücktrug,« sagte der Junge und sah ihm verwundert nach.

Die Wildgänse hatten die Absicht, rechtzeitig von der Schäre fortzuziehen, vorher aber wollten sie doch ein wenig weiden. Während sie umhergingen und fraßen, kam eine Bergente zu Daunenfein heran. »Ich soll von deinen Schwestern grüßen,« sagte sie. »Sie wagen nicht, sich unter den Wildgänsen sehen zu lassen, aber sie baten mich, dich daran zu erinnern, daß du die Schäre nicht verlassen dürftest, ehe du den alten Fischer besucht hast.« – »Das ist ja wahr,« sagte Daunenfein, aber sie war so bange geworden, daß sie nicht allein dahin zu gehen wagte. Sie bat den Gänserich und Däumling, sie nach der Hütte zu begleiten.

Dort stand die Tür offen. Daunenfein ging hinein, während die beiden anderen draußen blieben. Gleich darauf hörten sie Akka das Signal zum Aufbruch geben, und sie riefen Daunenfein. Die Graugans kam aus der Hütte heraus und flog mit den Wildgänsen von der Klippe fort.

Sie waren ein gutes Stück in die Schären hinausgekommen, als Niels verwundert die Graugans betrachtete, die mit ihnen gekommen war. Daunenfein flog sonst so leicht und lautlos. Diese aber arbeitete sich mit schwerem, brausendem Flügelschlag vorwärts. »Kehre um, Akka!« rief er sofort. »Da ist eine fremde in der Schar! Wir haben Flügelschön mitbekommen!«

Kaum hatte er das gesagt, als die Graugans einen so häßlichen und wütenden Schrei ausstieß, daß niemand daran zweifeln konnte, wer sie war. Akka und die anderen wandten sich nach ihr um, sie aber floh nicht sofort. Statt dessen stürzte sie auf den großen Weißen los, packte Däumling und flog mit ihm im Schnabel davon.

Nun folgte eine hitzige Jagd über den Schären. Flügelschön flog schnell, aber die Wildgänse waren ihr hart auf den Fersen, und sie hatte nicht die geringste Aussicht zu entkommen.

Plötzlich sahen sie einen feinen, weißen Rauch unten vom Meer aufsteigen, und der Knall eines Schusses ertönte. In ihrem Eifer hatten sie nicht bemerkt, daß sie gerade über einem Boot waren, in dem ein Fischer saß.

Niemand wurde jedoch von dem Schuß getroffen, aber gerade mitten über dem Boot öffnete Flügelschön den Schnabel und ließ Däumling ins Wasser fallen.

LIII. Bei Holger Nielsens

Dienstag, 8. November.

Es war einer von diesen nebeligen, trüben Tagen. Die Wildgänse hatten auf den großen Feldern bei der Sturuper Kirche geweidet und hielten gerade Mittagsrast, als Akka zu Niels Holgersen geflogen kam. »Es scheint, daß wir jetzt eine Weile stilles Wetter bekommen werden,« sagte sie, »und ich denke, wir fliegen morgen über die Ostsee.« – »Ach so!« sagte der Junge kurz, denn der Hals war ihm wie zugeschnürt, so daß er nicht sprechen konnte. Er hatte ja noch immer gehofft, daß er von dem Zauberbann erlöst werden würde, während er in Schonen war.

»Jetzt sind wir ziemlich nahe bei Vestervemmenhög,« sagte Akka, »und ich denke mir, du hast vielleicht Lust einmal zu Hause einzugucken. Es wird ja eine ganze Weile währen, bis du wieder jemand von den Deinen zu sehen bekommst.« – »Es wird wohl das beste sein, wenn ich das unterlasse,« sagte der Junge, aber man konnte es seiner Stimme anhören, daß er sich über den Vorschlag freute. – »Wenn der Gänserich bei uns bleibt, kann ja kein Unglück geschehen,« fuhr Akka fort. »Ich meine, du mußt wissen, wie es daheim bei dir aussieht. Vielleicht kannst du den Deinen auf irgendeine Weise helfen, selbst wenn du nicht wieder ein Mensch wirst.« – »Ja, darin habt Ihr recht, Mutter Akka. Daran hätte ich selbst denken sollen,« sagte der Junge und wurde ganz eifrig.

Einen Augenblick später befanden sich der Junge und die Führergans auf dem Wege zu Holger Nielsens, und es währte nicht lange, bis sich Akka hinter der steinernen Mauer niederließ, die die Häuslerstelle einschloß.

»Es ist doch sonderbar, wie unverändert alles ist,« sagte der Junge und kroch schleunigst auf die Mauer hinauf und sah sich um. »Es ist mir, als sei es gestern gewesen, als ich hier saß und euch in der Luft daherfliegen sah.«

»Ich möchte wohl wissen, ob dein Vater eine Büchse hat?« fragte Akka plötzlich. – »Das sollte ich meinen!« antwortete der Junge. »Um der Büchse wegen bin ich ja an jenem Sonntag zu Hause geblieben, statt in die Kirche zu gehen.« – »Dann wage ich nicht, hier zu stehen und auf dich zu warten,« sagte Akka. »Es wird am besten sein, wenn du morgen früh bei Smygehuk wieder zu uns stößt, dann kannst du die Nacht über zu Hause bleiben.« – »Ach nein, fliegt noch nicht fort, Mutter Akka!« rief der Junge und sprang schnell vom Zaun herunter. Er wußte nicht, woher es kam, aber er hatte gleichsam eine Ahnung, daß ihm oder den Wildgänsen etwas zustoßen könne, so daß sie einander nie wiedersehen würden. »Ihr könnt ja wohl sehen, wie betrübt ich bin, daß ich meine rechte Gestalt nie wieder bekommen soll,« fuhr er fort. »Aber ich will Euch doch sagen, ich bereue es nicht, daß ich im Frühling mit Euch geflogen bin. Nein, lieber will ich nie wieder ein Mensch werden, als diese Reise entbehren.« Akka sog ein paarmal Luft ein, ehe sie antwortete: »Da ist etwas, worüber ich schon lange mit dir habe reden wollen, aber wenn du doch nicht zu deinen Eltern zurückkehren wolltest, meinte ich, es habe keine Eile. Aber es kann ja nie schaden, daß wir darüber reden.« – »Ihr wißt, daß es nichts auf der Welt gibt, was ich nicht für Euch tun würde,« sagte der Junge. – »Wenn du etwas Gutes bei uns gelernt hast, Däumling, so findest du am Ende nicht mehr, daß die Menschen allein die Erde besitzen sollen,« sagte die Führergans feierlich. »Bedenke, ihr habt ein großes Land, da könntet ihr uns armen Tieren sehr wohl ein paar kahle Schären und einige sumpfige Seen und Moore und einige öde Felsen und entlegene Wälder überlassen, wo wir in Frieden leben könnten! Alle die Jahre, die ich gelebt habe, bin ich gejagt und verfolgt gewesen. Es wäre herrlich, zu wissen, daß es auch für einen Vogel, wie ich es bin, eine Freistatt gäbe.«

»Ich würde wahrlich glücklich sein, wenn ich Euch dazu hätte verhelfen können,« sagte der Junge, »doch ich werde wohl niemals zu Macht unter den Menschen gelangen.« – »Aber wir stehen ja hier und sprechen, als wenn wir uns nie wiedersehen sollten,« sagte Akka, »und morgen früh treffen wir uns doch! Jetzt fliege ich zu meiner Schar zurück.« Sie hob die Flügel, kam aber wieder zurück, strich ein paarmal mit dem Schnabel an Däumling auf und nieder und flog dann schließlich davon.

Es war heller Tag, aber auf dem Hofe war kein Mensch zu sehen, so konnte der Junge gehen, wohin er wollte. Er eilte nach dem Kuhstall, denn er wußte, daß er bei den Kühen am besten Auskunft erhalten konnte. Es sah traurig aus dadrinnen. Im Frühling waren da drei prächtige Kühe gewesen, aber nun stand nur noch eine einzige da. Es war Mairose und man konnte ihr ansehen, daß sie sich nach ihren Kameraden sehnte. Sie ließ den Kopf hängen und hatte kaum ein Hälmchen von dem Futter angerührt, das vor ihr lag.

»Guten Tag, Mairose!« sagte der Junge und sprang ohne Angst zu ihr in den Stand hinein. »Wie geht es Vater und Mutter? Was machen die Katze und die Gänse und die Hühner, und wo hast du Stern und Goldlilie gelassen?«

Als Mairose die Stimme des Jungen hörte, fuhr sie zusammen, und es sah so aus, als habe sie Lust, mit den Hörnern nach ihm zu stoßen. Aber sie war nicht mehr so hitzig wie früher, sondern ließ sich Zeit, Niels Holgersen zu betrachten, ehe sie ihn auf die Hörner nahm. Er war noch ebenso klein wie bei seiner Abreise, und er hatte denselben Anzug an wie bei seiner Abreise, aber er sah trotzdem ganz anders aus. Der Niels Holgersen, der im Frühling von dannen gezogen war, hatte einen schweren und langsamen Gang, seine Stimme war träge und seine Augen waren schläfrig, der Niels Holgersen aber, der wiederkam, war leicht und geschmeidig, flink in seiner Rede, und hatte ein Paar Augen, die leuchteten und glänzten. Seine Haltung war so keck, daß man unwillkürlich Respekt vor ihm bekommen mußte, so klein er war. Und obwohl er selbst nicht gerade glücklich aussah, wurde man froh, wenn man ihn nur ansah.

»Muh!« brüllte Mairose. »Sie haben ja freilich gesagt, er wäre anders geworden, aber ich wollte es nicht glauben. Willkommen daheim, Niels Holgersen, willkommen daheim! Dies ist die erste frohe Stunde, die ich seit langen Zeiten gehabt habe!« – »Hab‘ Dank, Mairose!« sagte der Junge, froh überrascht durch den freundlichen Empfang. »Erzähle mir jetzt, wie es Vater und Mutter geht!«

»Die haben nur Sorgen und Unglück gehabt, seit du davongegangen bist,« sagte Mairose. »Das Allerschlimmste war das teure Pferd, das den ganzen Sommer hier gestanden und nichts weiter getan hat als fressen. Dein Vater kann sich nicht entschließen, es zu erschießen, und verkaufen kann er es nicht. Das Pferd ist schuld daran, daß Stern und Goldlilie verkauft werden mußten.«

Der Junge wollte eigentlich etwas ganz anderes wissen, aber er scheute sich, geradeheraus zu fragen. Deswegen sagte er: »Mutter war wohl nicht sehr ärgerlich, als sie sah, daß der Gänserich Martin davonflog?«

»Ich glaube, sie hätte sich die Sache mit dem Gänserich nicht so zu Herzen genommen, wenn sie gewußt hätte, wie es kam, daß er davonflog. Jetzt trauert sie Tag und Nacht darüber, daß ihr eigener Sohn sich von Hause fortgeschlichen und den Gänserich mitgenommen hat.«

»Sie glaubt also, daß ich den Gänserich gestohlen habe?« fragte der Junge. – »Was sollte sie sonst wohl glauben?« – »Vater und Mutter glauben wohl, daß ich mich diesen Sommer wie ein Landstreicher umhergetrieben habe?« – »Sie denken, daß es schlimm mit dir steht,« antwortete Mairose. »Und sie haben über dich getrauert, wie man trauert, wenn man das Liebste verliert, was man besitzt.«

Als der Junge dies hörte, ging er schnell aus dem Kuhstall und begab sich in den Pferdestall. Der war klein aber zierlich. Man konnte deutlich sehen, daß Holger Nielsen sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, um ihn so einzurichten, daß das neuangekommene Pferd sich wohl dort fühlen sollte. Und da stand ein wunderschönes Pferd, das förmlich von Wohlsein glänzte.

»Willkommen im Stall!« sagte der Junge. »Ich habe gehört, daß hier ein krankes Pferd sein soll, aber das kannst du doch nicht sein, so frisch und gesund, wie du aussiehst!« Das Pferd wandte den Kopf um und sah den Jungen aufmerksam an. »Bist du der Sohn des Hauses?« fragte es. »Von dem habe ich soviel Schlimmes gehört. Aber du siehst so gut aus, daß, wenn ich nicht wüßte, er sei in ein Heinzelmännchen verwandelt, ich nie geglaubt hätte, daß du es seiest.« – »Ich weiß sehr wohl, daß ich hier zu Hause einen schlechten Ruf hinterlassen habe,« sagte der Junge. »Meine eigene Mutter glaubt, daß ich mich als Dieb weggeschlichen habe, aber das ist jetzt einerlei, denn ich bleibe nicht lange zu Hause. Ehe ich gehe, möchte ich aber doch gern wissen, was dir eigentlich fehlt.«

»Schade, daß du nicht hier bleibst,« sagte das Pferd, »denn ich bin überzeugt, du und ich, wir wären gute Freunde geworden. Mir fehlt nichts weiter, als daß ich mir etwas in den Fuß hineingetreten habe, eine Messerspitze oder was es sonst sein mag. Das sitzt so gut verborgen, daß der Doktor es nicht hat finden können, aber es sticht und sticht, so daß ich fast nicht auftreten kann. Wenn du Holger Nielsen nur erzählen wolltest, was mir fehlt, so glaube ich, daß er mir leicht helfen könnte. Ich möchte so gern für mein Futter arbeiten. Ich schäme mich so, daß ich dastehe und fresse, ohne das Geringste zu leisten.«

»Gut, daß du keine eigentliche Krankheit hast,« sagte der Junge. »Ich will sehen, ob ich nicht dafür sorgen kann, daß du kuriert wirst. Es tut dir wohl nicht weh, wenn ich mit meinem Messer etwas in deinen Huf ritze?«

Niels Holgersen war gerade mit dem Pferd fertig geworden, als er draußen auf dem Hof Stimmen vernahm. Er öffnete die Stalltür ein klein wenig und sah hinaus. Es waren sein Vater und seine Mutter, die von der Landstraße her auf das Haus zukamen. Man konnte ihnen ansehen, daß sie von Sorgen niedergedrückt waren. Seine Mutter hatte viel mehr Runzeln bekommen, als sie früher gehabt hatte, und das Haar des Vaters war grau geworden. Die Mutter redete dem Vater zu, sich Geld von seinem Bruder zu leihen. »Nein, ich will nicht noch mehr Geld leihen,« sagte der Vater, gerade als sie am Stall vorübergingen. »Schulden sind das Schlimmste von allem. Dann müssen wir lieber das Haus verkaufen.« – »Ich hätte auch nichts dagegen, daß wir uns von dem Hause trennten, wenn es nicht des Jungen wegen wäre. Aber was soll er anfangen, wenn er eines Tages arm und elend, wie er natürlich ist, zurückkehrt, und wir dann nicht hier sind?« – »Ja, darin hast du recht,« sagte der Vater, »wir müßten dann die Leute, die hier nach uns wohnen, bitten, sich seiner anzunehmen und ihm zu sagen, daß wir ihn erwarten. Er soll kein böses Wort von uns hören, wie er auch sein mag. Nicht wahr, Mutter!« – »Ach nein, nein! Hätte ich ihn nur wieder daheim, so daß ich wüßte, er triebe sich nicht hungrig und frierend auf der Landstraße herum, dann könnte alles andere einerlei sein.«

Als sein Vater und seine Mutter das gesagt hatten, gingen sie ins Haus, und Niels konnte nichts mehr von ihrer Unterhaltung hören. Er war sehr glücklich und tief gerührt, als er hörte, daß sie ihn so lieb hatten, obwohl sie glaubten, er sei ganz vor die Hunde gegangen. Am liebsten wäre er gleich zu ihnen gelaufen. »Aber wenn sie mich so sehen, wie ich jetzt bin, würden sie vielleicht noch betrübter werden,« dachte er.

Während er noch dastand und überlegte, hielt ein Wagen am Zaun. Der Junge hätte beinahe laut aufgeschrien vor Überraschung; denn niemand anders als das Gänsemädchen Aase und ihr Vater stiegen aus und kamen auf den Hof gegangen. Hand in Hand schritten sie dem Hause zu; sie kamen so still und ernsthaft daher, aber ein schöner Schimmer von Glück strahlte aus ihren Augen. Als sie ungefähr mitten auf dem Hofe waren, hielt Aase ihren Vater zurück und sagte zu ihm: »Vergiß nun auch nicht, Vater, daß du kein Wort von dem Holzschuh oder den Gänsen oder dem kleinen Wicht sagst, der Niels Holgersen so ähnlich sah, daß, wenn er es nicht selbst gewesen ist, es einer sein muß, der etwas mit ihm zu schaffen hat.« – »Nein,« sagte Jon Assarson, »nein, ich sage natürlich nichts weiter, als daß ihr Sohn dir mehrmals große Hilfe geleistet hat, als du umherwandertest und nach mir suchtest, und daß wir gekommen sind, um zu fragen, ob wir ihnen dafür nicht auch einen Dienst erweisen können, jetzt, wo ich ein wohlhabender Mann geworden bin und mehr habe, als ich gebrauchen kann, seit ich die Grube da oben fand.« – »Ja, ich weiß sehr wohl, daß du dich gut ausdrücken kannst,« sagte Aase. »Ich meinte ja auch nur, daß du dies nicht sagen solltest.«

Sie gingen ins Haus, und der Junge hätte schrecklich gern gehört, worüber sie da drinnen sprachen, aber er hatte nicht den Mut, sich auf den Hofplatz hinauszuwagen. Es währte nicht lange, da kamen die beiden wieder heraus, und da begleiteten der Vater und die Mutter sie bis an die Gitterpforte. Es war merkwürdig zu sehen, wie froh die beiden jetzt waren. Sie sahen so aus, als hätten sie neues Leben bekommen.

Als die Gäste wieder fortgefahren waren, blieben der Vater und die Mutter an der Pforte stehen und sahen ihnen nach. »Jetzt will ich auch nicht mehr traurig sein,« sagte die Mutter, »jetzt, wo ich soviel Gutes von Niels gehört habe.« – »Viel haben sie eigentlich nicht von ihm erzählt,« sagte der Vater nachdenklich. – »War es nicht schon genug, daß sie einzig und allein hergereist kamen, um uns zu helfen, nur weil unser Niels ihnen große Dienste geleistet hatte? Ich finde übrigens, du hättest ihr Anerbieten annehmen sollen, Vater.« – »Nein, Mutter, ich will von niemand Geld annehmen, weder als Geschenk noch als Darlehn. Erst will ich meine Schulden abbezahlen, und dann wollen wir versuchen, uns wieder emporzuarbeiten. Wir sind ja doch noch nicht so uralt, Mutter!« Der Vater lachte so herzlich, als er das sagte. »Ich glaube wahrhaftig, du findest es ergötzlich, den Hof zu verkaufen, in den wir soviel Arbeit hineingesteckt haben,« sagte die Mutter. – »Ach, du weißt ja recht gut, weswegen ich lache, Mutter,« entgegnete der Vater. »Was mich so bedrückt hat, daß ich zu nichts mehr zu gebrauchen war, das war ja, daß ich glaubte, der Junge sei vor die Hunde gegangen. Aber jetzt, wo ich weiß, daß er lebt und sich gut geschickt hat, jetzt sollst du sehen, daß Holger Nielsen noch was wert ist!«

Die Mutter ging ins Haus hinein, aber Niels Holgersen versteckte sich schleunigst in eine Ecke, denn der Vater kam in den Stall, um nach dem Pferd zu sehen. Er ging zu ihm in den Stand hinein und hob, wie er es zu tun pflegte, den kranken Fuß in die Höhe, um zu sehen, ob er nicht entdecken könne, was ihm fehlte. »Aber was ist denn das?« fragte der Vater, denn er sah, daß einige Buchstaben in den Huf hineingeritzt waren. »Nimm das Eisen von dem Huf ab!« las er. Verwundert und fragend sah er sich nach allen Seiten um. Schließlich besah und befühlte er die untere Seite des Hufes. »Ich glaube wahrhaftig, daß etwas Scharfes darin sitzt,« murmelte er nach einer Weile.

Während der Vater mit dem Pferde beschäftigt war und der Junge in einer Ecke des Stalles versteckt saß, kam noch mehr Besuch auf den Hof. Als nämlich der Gänserich Martin gesehen hatte, daß er sich so in der Nähe seiner alten Heimat befand, war es ihm unmöglich, der Lust zu widerstehen, seinen früheren Kameraden auf dem Hofe Frau und Kinder zu zeigen; und ohne weitere Umstände zu machen, nahm er Daunfein und die jungen Gänse mit und flog dahin.

Es war kein Mensch draußen auf dem Hofe bei Holger Nielsen, als der Gänserich geflogen kam; so konnte er sich denn ganz ruhig niederlassen und Daunfein zeigen, wie herrlich er es gehabt hatte, als er noch eine zahme Gans war. Als sie den ganzen Hofplatz besichtigt hatten, entdeckte er, daß die Tür zum Kuhstall offen stand. »Guck einen Augenblick hier herein,« sagte er, »dann kannst du sehen, wo ich in alten Zeiten gewohnt habe! Das war etwas anderes, als sich in Teichen und Sümpfen aufzuhalten, so wie wir es jetzt tun.«

Der Gänserich stand auf der Schwelle und sah in den Kuhstall hinein. »Hier ist kein Mensch,« sagte er. »Komm nur, Daunfein, dann sollst du die Gänsebucht sehen! Du brauchst nicht bange zu sein, da ist nicht die geringste Gefahr!«

Und dann gingen der Gänserich, Daunfein und alle sechs Jungen in die Gänsebucht hinein, um zu sehen, in welchem Glanz und welcher Herrlichkeit der große Weiße gelebt hatte, ehe er sich den Wildgänsen anschloß.

»Ja, seht, so hatten wir es hier! Da war mein Platz, und da stand der Futtertrog, der immer mit Hafer und Wasser gefüllt war,« sagte der Gänserich. »Wartet einmal, da ist auch jetzt Fressen!« Und damit lief er an den Trog und begann Hafer zu verschlingen.

Aber Daunfein war unruhig. »Laß uns lieber wieder gehen,« sagte sie. – »Ach, nur noch ein paar Körner!« entgegnete der Gänserich. Im selben Augenblick stieß er einen Schrei aus und eilte auf den Ausgang zu. Aber es war zu spät. Die Tür fiel ins Schloß, Holger Nielsens Frau stand draußen und hakte die Krampe zu, und dann waren sie eingesperrt!

Holger Nielsen hatte ein spitzes Stück Eisen aus dem Huf des Pferdes gezogen und stand nun sehr vergnügt da und streichelte das Tier, als seine Frau in den Stall gestürzt kam. »Komm einmal her, dann sollst du sehen, was für einen Fang ich gemacht habe!« sagte sie. – »Nein, noch einen Augenblick, Mutter, und sieh erst einmal hierher!« sagte der Mann. »Jetzt habe ich entdeckt, was dem Pferd gefehlt hat.« – »Ich glaube, jetzt hat sich das Glück gewendet und kehrt wieder zu uns zurück,« sagte die Frau. »Denk dir nur, der große Gänserich, der im Frühling verschwand, muß mit den Wildgänsen geflogen sein. Er ist zurückgekommen und hat sieben Wildgänse mitgebracht. Sie gingen in die Gänsebucht hinein, und ich habe sie da alle eingesperrt.« – »Das ist doch sonderbar!« sagte Holger Nielsen. »Weißt du aber, was das beste bei dem Ganzen ist, Mutter? Wir brauchen nun nicht mehr zu glauben, daß unser Junge den Gänserich mitgenommen hat, als er weglief.« – »Ja, da hast du recht, Vater. Aber nun will ich dir etwas sagen, Vater: Ich glaube, ich muß die Gänse gleich heute abend schlachten. In ein paar Tagen ist der Martinstag, und wir müssen uns beeilen, wenn wir sie noch in die Stadt bringen wollen,« – »Ich finde eigentlich, es ist unrecht, den Gänserich zu schlachten, da er doch mit einer so großen Schar zu uns zurückgekehrt ist,« sagte Holger Nielsen. – »Wenn die Zeiten besser wären, würde ich ihn gern am Leben lassen, aber da wir ja selbst von hier fort müssen, können wir die Gänse doch nicht behalten.« – »Darin hast du freilich recht.« – »Komm, und hilf mir, sie ins Haus hineinzutragen,« sagte die Mutter.

Sie gingen aus dem Stall hinaus, und einen Augenblick später sah der Junge seinen Vater mit Daunfein unter dem einen Arm und dem Gänserich Martin unter dem andern zusammen mit der Mutter ins Haus gehen. Der Gänserich rief: »Däumling! Komm und hilf mir!« wie er zu tun pflegte, wenn er in Gefahr war, obwohl er ja gar nicht wissen konnte, daß der Junge in der Nähe war.

Niels Holgersen hörte ihn sehr wohl, aber er blieb trotzdem in der Stalltür stehen. Wenn er zögerte, so geschah das nicht, weil er wußte, daß es gut für ihn war, wenn der Gänserich auf die Schlachtbank gelegt würde – daran dachte er in diesem Augenblick nicht einmal. Sollte er aber den Gänserich retten, so mußte er sich vor seinem Vater und seiner Mutter sehen lassen, und dazu konnte er sich nicht entschließen. »Sie haben es schon schwer genug!« dachte er. »Soll ich ihnen wirklich auch noch diesen Kummer bereiten?«

Als sich aber die Tür hinter dem Gänserich schloß, kam Leben in den Jungen. Er stürzte über den Hofplatz, sprang auf die eichene Schwelle vor der Haustür und lief auf den Flur. Hier zog er nach alter Gewohnheit die Holzschuhe aus und näherte sich der Stubentür. Aber er hatte noch immer einen solchen Widerwillen dagegen, sich seinen Eltern zu zeigen, daß er nicht imstande war, die Hand zu erheben, um anzuklopfen. »Bedenke doch, es handelt sich um den Gänserich Martin,« dachte er, »um ihn, der dein bester Freund war, seit du hier das letztenmal standest!« Und im selben Augenblick erlebte er wieder alles, was er und der Gänserich auf gefrorenen Seen und stürmischen Meeren und zwischen wütenden Raubtieren durchgemacht hatten. Sein Herz schwoll vor Dankbarkeit und Liebe, und er überwand sich und klopfte an die Tür.

»Ist da jemand, der herein will?« fragte der Vater, indem er die Tür öffnete.

»Mutter! du darfst der Gans nichts tun!« rief der Junge, und im selben Augenblick stießen der Gänserich und Daunfein einen Freudenschrei aus; sie waren auf einer Bank festgebunden, aber er konnte doch hören, daß sie noch am Leben waren.

Aber auch die Mutter stieß einen Freudenschrei aus. »Nein, wie groß und schön du geworden bist!« rief sie aus.

Der Junge war nicht in die Stube hineingegangen, er war auf der Schwelle stehengeblieben wie jemand, der nicht sicher ist, welcher Empfang ihm zuteil werden wird. »Gott sei Lob und Dank, daß ich dich wieder habe!« sagte die Mutter. »Komm herein! Komm herein!« – »Sei herzlich willkommen!« sagte der Vater, er konnte kein Wort weiter herausbringen.

Der Junge aber blieb auf der Türschwelle stehen. Er konnte nicht begreifen, daß sie sich über ihn freuten, so wie er aussah. Aber dann kam die Mutter zu ihm, schlang die Arme um ihn und führte ihn in die Stube hinein und da konnte er merken, wie alles zusammenhing. »Vater! Mutter!« rief er. »Ich bin groß! Ich bin wieder ein Mensch!«

LIV. Der Abschied von den Wildgänsen

Mittwoch, 9. November.

Am nächsten Morgen war Niels Holgersen vor Tagesgrauen auf und ging an den Strand hinab. Ehe es noch richtig hell war, stand er eine Strecke östlich von dem Fischerdorf Smyge am Ufer. Er war ganz allein. Er war in der Gänsebucht bei dem Gänserich Martin gewesen und hatte einen Versuch gemacht, ihn zu wecken. Aber der große Weiße wollte sich nicht von der Stelle rühren. Er sagte kein Wort, steckte nur den Kopf unter den Flügel und setzte sich wieder zum Schlafen zurecht.

Es sah so aus, als sollte es ein schöner, heller Tag werden. Es war fast so schönes Wetter wie an jenem Frühlingstag, als die Wildgänse über Schonen geflogen kamen. Das Meer lag still und regungslos da. Kein Lüftchen rührte sich, und der Junge dachte, welch eine schöne Reise die Wildgänse haben würden.

Er selbst ging noch wie im Traum. Bald fühlte er sich als Heinzelmännchen, bald als Mensch. Wenn er eine steinerne Umfriedigung am Wege sah, wagte er kaum weiterzugehen, ehe er sich nicht überzeugt hatte, daß dahinter kein Raubtier auf der Lauer lag. Und gleich darauf lachte er über sich selbst und freute sich, daß er wieder groß und stark war, und daß er vor nichts bange zu sein brauchte.

Als er an den Strand hinabkam, stellte er sich, so groß er war, unten am Wasser auf, damit die Wildgänse ihn sehen sollten. Es war ein großer Reisetag. Unaufhörlich ertönten Lockrufe aus der Luft. Er lächelte vor sich hin, wenn er daran dachte, daß er ja der einzige war, der verstand, was die Vögel einander zuriefen.

Jetzt kamen auch Wildgänse geflogen. Eine große Schar nach der anderen. »Wenn es nur nicht meine Gänse sind, die wegfliegen, ohne mir Lebewohl zu sagen!« dachte er. Er wollte ihnen so gern erzählen, wie das Ganze zugegangen, und ihnen zeigen, daß er wieder ein Mensch geworden war.

Da kam eine Schar, die schneller flog und lauter schrie als die anderen, und etwas in seinem Innern sagte ihm, daß dies seine Schar sei. Aber er war dessen nicht so sicher, wie er es am vorhergehenden Tage gewesen wäre.

Die Schar flog jetzt langsamer, sie flog an der Küste hin und der. Da wußte der Junge, daß es seine Schar war. Er konnte nur nicht begreifen, warum die Wildgänse sich nicht neben ihm niederließen. Es war doch unmöglich, daß sie ihn da, wo er stand, nicht gesehen haben sollten.

Der Junge versuchte einen Lockton auszustoßen, der sie zu ihm hinabrufen konnte. Aber was war das nur? Die Zunge wollte nicht. Er konnte den richtigen Laut nicht hervorbringen. Er hörte Akka oben in der Luft rufen, er verstand aber nicht, was sie sagte. »Was ist das nur? Haben die Wildgänse ihre Sprache verändert?« dachte er.

Er winkte ihnen mit seiner Mütze zu, und er lief am Strande entlang und rief: »Hier bin ich, wo bist du?«

Aber das schien sie nur zu beängstigen. Sie hoben die Flügel und flogen übers Meer hinaus. Da wurde ihm die Sache endlich klar! Sie wußten nicht, daß er ein Mensch war. Sie konnten ihn nicht erkennen!

Und er konnte sie nicht zu sich rufen, weil ein Mensch die Sprache der Vögel nicht sprechen kann. Er konnte sie nicht sprechen, und er konnte sie auch nicht verstehen.

Obwohl Niels Holgersen so glücklich war, aus seinem Zauberbann erlöst zu sein, fand er es doch bitter, so von seinen guten Kameraden getrennt zu sein. Er setzte sich in den Sand und hielt die Hände vor das Gesicht. Was konnte es nützen, ihnen nachzusehen?

Nach einer Weile aber hörte er Flügelrauschen. Es war der alten Mutter Akka schwer geworden, vom Däumling zu reisen, und sie kehrte noch einmal zurück. Und jetzt, wo der Junge still dasaß, wagte sie es, näher an ihn heranzufliegen. Und auf einmal war es, als seien ihr die Augen dafür aufgetan, wer er war. Sie ließ sich neben ihm auf der Landzunge nieder.

Der Junge stieß einen Freudenschrei aus und schlang die Arme um die alte Mutter Akka. Die anderen Wildgänse strichen mit den Schnäbeln an ihm auf und nieder und drängten sich um ihn. Sie klagten und schnatterten und wünschten ihm auf alle mögliche Weise Glück, und er sprach auch mit ihnen und dankte ihnen für die wunderbare Reise, die er in ihrer Gesellschaft gemacht hatte. Aber auf einmal wurden die Wildgänse so merkwürdig still, als wollten sie sagen: »Ach, er ist ja ein Mensch! Er versteht uns nicht; wir verstehen ihn nicht!«

Da stand der Junge auf und trat an Akka heran. Er liebkoste und streichelte sie. Dasselbe tat er Yksi und Kaksi und Neljä, Viisi und Kuusi, allen den alten, die von Anfang an dabeigewesen waren.

Dann ging er den Strand hinauf, landeinwärts, denn er wußte ja, daß der Schmerz der Vögel niemals lange währt, und er wollte sich am liebsten von ihnen trennen, solange sie noch betrübt darüber waren, daß sie ihn verloren hatten.

Als er das feste Land erreicht hatte, wandte er sich um und sah den vielen Vogelscharen nach, die über das Meer dahinflogen. Alle riefen sie ihre Locktöne, nur eine einzige Schar Wildgänse flog ganz stumm ihres Weges, solange er ihnen mit den Augen folgen konnte.

Aber der Zug war regelmäßig und wohlgeordnet, die Geschwindigkeit war groß und die Flügelschläge waren stark und kräftig. Und der Junge empfand eine solche Sehnsucht nach den Davonziehenden, daß er nicht weit davon entfernt war zu wünschen, er wäre wieder der Däumling und könne mit einer Schar Wildgänse über Meer und Land dahinfliegen.

Ende.