XXXVII. Der Adler Gorgo


Im Felsental.

Hoch oben im lappländischen Gebirge, auf einem Felsenvorsprung, der über eine schroffe Bergwand hinausragte, lag ein alter Adlerhorst. Das Nest bestand aus Tannenzweigen, die schichtenweise quer übereinandergelegt waren. Jahr für Jahr war es erweitert und erhöht worden und lag nun dort auf seinem Felsgesims mehrere Ellen breit und fast so hoch wie eine Lappenhütte.

Der Grat, auf dem das Adlernest lag, türmte sich über einem ziemlich großen Tal auf, das im Sommer von einer Schar Wildgänse bewohnt wurde. Das Tal war ein ausgezeichneter Zufluchtsort für sie. Es lag so gut versteckt zwischen den Bergen, daß nur vereinzelte Leute davon wußten, selbst von den Lappen kamen nur wenige dorthin. Mitten im Tal lag ein kleiner, runder See, der reichlich Nahrung für die jungen Gänse lieferte, und an den Ufern, die voll von Erderhöhungen waren und an denen niedriges Weidengestrüpp und verkrüppelte Birken wuchsen, gab es die besten Brutplätze, die sich die Gänse nur wünschen konnten.

Seit undenklichen Zeiten hatten Adler dort oben auf dem Felsgrat gewohnt und Wildgänse unten im Tal. Jedes Jahr raubten die Adler einige von den Wildgänsen, sie hüteten sich jedoch, so viele zu rauben, daß die Wildgänse aus dem Tal verscheucht worden wären. Die Wildgänse ihrerseits hatten auch keinen geringen Nutzen von den Adlern. Räuber waren sie freilich, aber sie hielten andere Räuber fern.

Einige Jahre vor der Zeit, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen umherreiste, stand die alte Führergans Akka von Kebnekajse eines Morgens unten in dem Felsental und sah zu dem Adlerhorst hinauf. Die Adler pflegten kurz nach Sonnenuntergang auf die Jagd hinauszuziehen, und in allen den Sommern, die Akka in dem Tal gewohnt hatte, war sie jeden Morgen auf dem Posten gewesen und hatte acht gegeben, ob die Adler im Tale bleiben würden, um dort zu jagen, oder ob sie nach anderen Jagdgefilden hinausflogen.

Sie brauchte nicht lange zu warten, bis die beiden stattlichen Vögel die Felsplatte verließen. Schön, aber schreckeinflößend schwebten sie in die Luft hinaus. Sie schlugen die Richtung nach dem Flachlande ein, und Akka atmete erleichtert auf.

Die alte Führergans war jetzt zu alt, um Eier zu legen und Junge auszubrüten, und sie pflegte sich im Sommer die Zeit damit zu vertreiben, daß sie von einem Gänsenest zum anderen ging und Ratschläge in bezug auf das Ausbrüten und Aufziehen der Jungen erteilte. Sie hielt außerdem Ausguck nach den Adlern wie auch nach den Bergfüchsen, den Eulen und allen den anderen Feinden, die möglicherweise den Wildgänsen und ihrer Brut nachstellen konnten.

Um die Mittagszeit spähte Akka abermals nach den Adlern aus. Das hatte sie nun alle die Sommer, die sie dort im Tal gewohnt hatte, jeden Tag getan. Sie konnte es ihrem Fluge immer gleich ansehen, ob sie eine gute Jagd gehabt hatten, und dann fühlte sie sich in bezug auf ihr Volk beruhigt. Heute aber sah sie die Adler nicht zurückkehren. »Ich muß alt und stumpfsinnig geworden sein,« dachte sie, nachdem sie eine Weile gewartet hatte. »Jetzt müssen die Adler doch längst nach Hause gekommen sein.«

Am Nachmittag lugte sie wieder zu der Felswand hinauf und erwartete, die Adler auf dem schroffen Vorsprung sitzen zu sehen, wo sie ihre Nachmittagsruhe zu halten pflegten; und am Abend, um die Zeit, wo sie ihr Bad im Bergsee zu nehmen pflegten, spähte sie wieder nach ihnen aus, aber es gelang ihr nicht, sie zu entdecken. Wieder jammerte sie, daß sie alt werde. Sie war es so gewohnt, daß die Adler auf dem Felsgrat über ihr hausten, daher konnte sie es sich gar nicht denken, daß sie nicht wieder zurückgekehrt sein sollten.

Am nächsten Morgen war Akka rechtzeitig wach, um nach den Adlern auszulugen. Aber auch jetzt gewahrte sie sie nicht. Dahingegen vernahm sie in der Morgenstille einen Schrei, der wütend und klagend zugleich klang und aus dem Adlerhorst zu kommen schien. »Ob da oben im Adlernest wirklich ein Unglück geschehen sein sollte?« dachte sie. Sie breitete die Flügel aus und stieg so hoch, daß sie in das Adlernest hineinsehen konnte.

Da oben entdeckte sie nichts von dem Adlerpaar. In dem ganzen Nest war nur ein halbnacktes Junges, das da lag und nach Nahrung schrie.

Akka senkte sich langsam und zögernd zu dem Adlerhorst hinab. Es war ein unheimlicher Ort! Man konnte gleich sehen, was für Räuber da hausten. In dem Nest und auf der Felsenplatte lagen gebleichte Knochen, blutige Federn, Hasenköpfe, Vogelschnäbel und mit Federn bekleidete Schneehühnerfüße. Auch der junge Adler, der mitten in allen diesen Überbleibseln lag, sah widerlich aus mit seinem großen, weit aufgesperrten Schnabel, seinem plumpen, flaumigen Körper und seinen unfertigen Flügeln.

Schließlich überwand Akka ihr Grauen und ließ sich auf den Rand des Nestes nieder, sah sich dabei aber unruhig nach allen Seiten um, denn sie erwartete jeden Augenblick, die alten Adler heimkehren zu sehen.

»Gut, daß endlich jemand kommt!« rief der junge Adler. »Schaff‘ mir gleich was zu essen!«

»Na, na, so große Eile hat es wohl nicht!« sagte Akka. »Erzähle mir erst, wo dein Vater und deine Mutter sind!«

»Ja, wenn ich das nur wüßte! Sie sind gestern morgen fortgeflogen und haben mir als einzige Nahrung für die Zeit ihrer Abwesenheit nur eine Wanderratte dagelassen. Daß die längst verzehrt ist, kannst du dir doch wohl denken. Es ist unverschämt von Mutter, mich so liegen und hungern zu lassen.«

Nun begriff Akka, daß die alten Adler wirklich erschossen sein mußten, und sie dachte bei sich, wenn sie das Junge jetzt verhungern ließe, so würde sie in Zukunft die ganze Räuberbande los sein. Aber sie konnte sich doch nicht entschließen, so ein verlassenes Junges elendiglich umkommen zu lassen, wenn es in ihrer Macht stand, ihm zu helfen.

»Was sitzt du da und glotzt?« fragte der junge Adler. »Hörst du nicht, daß ich was zu fressen haben will?«

Akka breitete die Flügel aus und flog nach dem kleinen See unten im Talgrund hinab. Nach einer Weile kehrte sie mit einer Lachsforelle im Schnabel nach dem Adlerhorst zurück.

Der junge Adler geriet ganz außer sich vor Wut, als sie ihm den Fisch ins Nest legte. »Glaubst du, daß ich so was fresse?« schrie er, stieß den Fisch beiseite und hieb mit seinem scharfen Schnabel nach Akka. »Schaff‘ mir ein Schneehuhn oder eine Wanderratte, hörst du!«

Aber nun streckte Akka den Kopf vor und zwickte den jungen Adler gehörig in die Nackenhaut, »Daß du es weißt,« sagte die Alte, »wenn ich dir in Zukunft Futter verschaffen soll, so mußt du zufrieden sein mit dem, was ich dir geben kann. Dein Vater und deine Mutter sind tot, von denen kannst du also keine Hilfe mehr erwarten; wenn du aber Lust hast, hier zu liegen und zu verhungern, während du auf Schneehühner und Wanderratten wartest, so soll es mir recht sein!«

Nachdem Akka das gesagt hatte, flog sie gleich davon und ließ sich erst nach einer ganzen Weile wieder bei dem Adlerhorst sehen. Da hatte der junge Adler den Fisch verzehrt, und als Akka ihm einen neuen Fisch hinlegte, verschlang er ihn sofort, obwohl man es ihm gut anmerken konnte, daß er ihn ganz abscheulich fand.

Es wurde ein schweres Stück Arbeit für Akka. Die alten Adler ließen sich nie wieder blicken, und sie mußte nun allein dem Jungen alle die Nahrung beschaffen, die es nötig hatte. Sie brachte ihm Fische und Frösche, und diese Kost schien ihm nicht schlecht zu bekommen, denn es wurde groß und kräftig. Bald vergaß es seine Eltern, die Adler, und glaubte, daß Akka seine rechte Mutter sei. Akka ihrerseits liebte das Junge wie ihr eigenes Kind. Sie erteilte ihm eine gute Erziehung und gab sich Mühe, ihm seinen wilden Sinn und seinen Hochmut abzugewöhnen.

Nachdem ein paar Wochen vergangen waren, merkte Akka, daß die Zeit kam, wo sie mausere und folglich nicht imstande sein würde, nach dem Horst hinaufzufliegen. Da konnte sie dem jungen Adler während eines ganzen Monats kein Fressen hinaufbringen und er mußte elendiglich verhungern.

»Hör‘ einmal, Gorgo,« sagte Akka eines Tages zu dem jungen Adler. »Jetzt kann ich nicht mehr mit Fischen zu dir hinaufkommen. Es handelt sich nun darum, ob du den Mut hast, dich ins Tal hinunterzuwagen, so daß ich dir auch ferner Nahrung verschaffen kann. Du mußt jetzt wählen, ob du hier oben verhungern oder dich ins Tal hinunterwerfen willst, freilich kann dich das auch dein Leben kosten.«

Ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, stieg der junge Adler auf den Rand des Nestes. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, die Entfernung mit dem Blick zu messen, sondern breitete die kleinen Flügel aus und flog hinunter. Er überschlug sich ein paarmal in der Luft, wußte aber doch seine Flügel so geschickt zu benutzen, daß er einigermaßen unbeschädigt unten im Tale anlangte.

Hier verbrachte nun Gorgo seinen Sommer zusammen mit den kleinen Gösseln und ward ihnen bald ein guter Kamerad. Da er sich selbst für ein Gössel hielt, gab er sich alle Mühe, so zu leben wie sie, und wenn sie in den See hinausschwammen, watete er hinter ihnen her, bis er nahe daran war zu ertrinken. Er schämte sich ganz schrecklich, daß er nicht schwimmen lernen konnte, und er ging zu Akka und beklagte sich. »Warum kann ich nicht ebensogut schwimmen lernen wie die anderen?« fragte er, – »Du hast zu krumme Zehen und zu große Klauen bekommen, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber darum brauchst du dich nicht zu grämen, du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden.«

Die Flügel des jungen Adlers wurden bald so groß, daß sie ihn tragen konnten, aber es währte doch noch bis zum Herbst, wo die jungen Gänse fliegen lernen sollten, ehe es ihm einfiel, daß er die Flügel zum Fliegen gebrauchen konnte. Aber dann kam eine stolze Zeit für ihn, denn bei diesen Übungen war er bald der erste. Seine Gefährten blieben nie länger oben in der Luft, als sie mußten, während er sich fast den ganzen Tag dort aufhielt und sich in der Kunst des Fliegens übte. Noch war es ihm nicht klar geworden, daß er von anderer Art war als die jungen Gänse, aber er konnte nicht umhin mancherlei zu bemerken, was ihn erstaunte, und er kam immer wieder mit Fragen zu Akka. »Warum laufen die Schneehühner und Wanderratten davon, sobald sich mein Schatten über dem Felsen zeigt?« fragte er. »Vor den anderen jungen Gänsen sind sie doch nicht so bange.« – »Deine Flügel sind zu groß geworden, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Das jagt den kleinen Tieren Furcht ein. Gräme dich aber deswegen nicht, du wirst doch ein tüchtiger Vogel werden!«

Nachdem der Adler Fliegen gelernt hatte, übte er sich auch, Fische und Frösche zu fangen, bald begann er aber auch darüber nachzugrübeln. »Woher kommt es, daß ich von Fischen und Fröschen lebe?« fragte er. »Das tut ja keins von meinen Geschwistern.« – »Das kommt daher, weil ich dir keine andere Nahrung bringen konnte, als du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber deswegen brauchst du dich nicht zu grämen! Du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden!«

Als die Wildgänse ihre Herbstreise antraten, flog Gorgo mit ihrer Schar. Er betrachtete sich beständig als zu ihnen gehörig. Aber die Luft war voll von Vögeln, die sich auf dem Wege nach Süden befanden, und es entstand eine große Bewegung unter ihnen, als Akka mit einem Adler in ihrem Gefolge erschien. Scharen von Neugierigen umkreisten fortwährend das Volk der Wildgänse und gaben ihre Verwunderung kund. Akka bat sie, zu schweigen, aber es war unmöglich, so viele böse Zungen im Zaum zu halten. »Warum nennen sie mich einen Adler?« fragte Gorgo wieder und wieder. Er fühlte sich tief beleidigt. »Können sie denn nicht sehen, daß ich eine Wildgans bin? Ich bin kein Vogelräuber, der seinesgleichen auffrißt! Wie kommen sie nur einmal auf den Einfall, mir einen so häßlichen Namen zu geben?«

Eines Tages flogen sie über einen Bauerhof hin, wo eine Menge Hühner auf dem Misthaufen scharrten. »Ein Adler! Ein Adler!« riefen alle Hühner und liefen davon, um Schutz zu suchen. Gorgo aber, der von den Adlern immer als von wilden Bösewichtern hatte reden hören, vermochte seinen Zorn nicht zu meistern. Er faltete die Flügel zusammen, stieß mit Blitzesgeschwindigkeit hinunter und schlug die Fänge in eins von den Hühnern. »Ich will dich lehren, daß ich kein Adler bin!« rief er wütend und hieb mit dem Schnabel auf sein Opfer ein.

Im selben Augenblick hörte er Akka hoch oben aus der Luft nach ihm rufen; er gehorchte sofort und flog hinauf. Die alte Wildgans kam ihm entgegengeflogen und erteilte ihm eine Züchtigung, »Was fällt dir ein?« rief sie, während sie mit dem Schnabel nach ihm schlug. »Hattest du etwa die Absicht, das arme Huhn zu zerreißen? Du solltest dich schämen!« Als aber der Adler die Züchtigung, ohne sich zu wehren, hinnahm, erhob sich unter den großen Vogelscharen ringsumher ein Sturm von Hohn und spöttischen Bemerkungen. Der Adler hörte es und wandte sich mit einem zornigen Blick gegen Akka, wie wenn er sie anfallen wolle. Aber er änderte schnell sein Vorhaben, warf sich mit starkem Flügelschlag in die Luft hinaus, stieg so hoch empor, daß kein Ruf ihn erreichen konnte, und segelte da oben umher, so lange die Wildgänse ihn noch sehen konnten.

Drei Tage später erschien er wieder in der Schar der Wildgänse.

»Jetzt weiß ich, wer ich bin,« sagte er zu Akka. »Und wenn ich ein Adler bin, so muß ich auch leben, wie es sich für einen Adler geziemt, aber deswegen, meine ich, können wir doch gute Freunde bleiben. Dich oder eine aus deiner Schar werde ich niemals angreifen.«

Aber Akka hatte ihren ganzen Stolz darin gesetzt, daß es ihr gelingen würde, einen Adler zu einem frommen und friedlichen Vogel zu erziehen, und sie konnte sich nicht darin finden, daß er auf seine eigene Art leben wollte. »Glaubst du, daß ich Freundschaft mit einem Vogelräuber halten werde?« sagte sie. »Lebe so, wie ich es dich gelehrt habe, dann darfst du, wie bisher, mit unserer Schar fliegen.«

Sie waren beide stolz und unbeugsam, und keines von beiden wollte nachgeben. So endete es denn damit, daß Akka dem Adler verbot, sich in ihrer Nähe blicken zu lassen, ja, sie war so böse auf ihn, daß niemand es wagte, in ihrer Gegenwart seinen Namen zu nennen.

Seit dieser Stunde zog Gorgo im Lande umher, einsam und von allen gescheut, wie es große Räuber sind. Ihm war oft finster zu Sinn, und sicherlich sehnte er sich gar manches Mal nach der Zeit zurück, wo er sich für eine Wildgans gehalten und mit den munteren jungen Gösseln gespielt hatte. Unter den Tieren erlangte er einen großen Ruf wegen seines Mutes und seiner Kühnheit. Sie pflegten zu sagen, er fürchte sich vor niemand außer vor seiner Pflegemutter, Akka. Sie wußten auch von ihm zu erzählen, daß er sich nie an einer Wildgans vergriffen habe.

In Gefangenschaft.

Gorgo war erst drei Jahre alt und hatte noch nicht daran gedacht, sich eine Frau zu nehmen und einen Hausstand zu begründen, als er eines Tages von einem Jäger gefangen und nach dem Freiluftmuseum Skansen verkauft wurde. Dort waren bereits zwei Adler. Sie wurden in einem Käfig aus eisernen Stangen und Stahldraht gefangen gehalten. Dieser Käfig stand im Freien und war so groß, daß man darin ein paar Bäume hatte pflanzen und einen ziemlich hohen Hügel aus Steinen errichten können, damit die Adler sich dort heimisch fühlen sollten. Trotz alledem aber gediehen die Vögel nicht. Sie saßen fast den ganzen Tag regungslos auf demselben Fleck. Ihr schönes, dunkles Federkleid war zerzaust und glanzlos, und ihre Augen starrten mit hoffnungslosem Sehnen in die Luft hinaus.

In der ersten Woche, nachdem Gorgo in die Gefangenschaft geraten war, fühlte er sich noch kräftig und lebendig, allmählich aber befiel ihn eine dumpfe Schlaffheit. Er blieb still auf demselben Fleck sitzen wie die anderen Adler, starrte in die Luft hinaus, ohne etwas zu sehen und wußte nichts davon, daß die Tage vergingen.

Eines Morgens, als Gorgo wie gewöhnlich in seinem Halbschlaf da saß, hörte er, daß ihn jemand außerhalb des Käfigs anrief. Er war so stumpfsinnig, daß er sich kaum entschließen konnte, die Augen dahin zu wenden, woher der Laut kam. »Wer ruft mich?« fragte er. – »Aber, Gorgo, kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin es ja, Däumling, der mit den Wildgänsen flog.« – »Ist Akka auch gefangen?« fragte Gorgo in einem Ton, als strenge er sich an, nach einem langen Schlaf seine Gedanken zu sammeln. – »Nein, Akka und der weiße Gänserich und die ganze Schar fliegen jetzt wahrscheinlich wohlbehalten oben in Lappland herum,« antwortete der Junge. »Nur ich bin hier gefangen.«

Während der Junge sprach, sah er, daß Gorgo den Blick von ihm abwandte und in die Luft hinausstarrte so wie vorher. »Königsadler!« rief der Junge. »Ich habe nicht vergessen, daß du mich einmal zu den Wildgänsen zurückgetragen und daß du das Leben des weißen Gänserichs geschont hast. Sage mir doch, ob ich dir nicht auf irgendeine Weise helfen kann!« Gorgo erhob kaum den Kopf. »Störe mich nicht, Däumling!« sagte er. »Ich sitze hier und träume, daß ich frei oben in der Luft umherschwebe. Ich mache mir nichts daraus, zu erwachen.« – »Du solltest dich ein wenig bewegen und achtgeben, was um dich her vorgeht,« ermahnte der Junge, »sonst, fürchte ich, wirst du bald ebenso elendig aussehen wie die anderen Adler.« – »Ich wollte, ich wäre schon so wie die. Sie gehen so völlig in ihren Träumen auf, daß sie nichts mehr stören kann,« sagte Gorgo.

Als die Nacht anbrach und alle Adler schliefen, vernahm man ein leises Kratzen an dem Stahldrahtnetz, das den Käfig überdachte. Die beiden alten, stumpfsinnigen Gefangenen ließen sich nicht durch das Geräusch stören, Gorgo aber erwachte. »Wer ist da? Wer ist da oben auf dem Dach?« fragte er.

»Ich bin es, Gorgo, – Däumling!« antwortete der Junge. »Ich sitze hier und feile den Draht durch, damit du hinausfliegen kannst.«

Der Adler hob den Kopf und konnte in der hellen Nacht sehen, wie der Junge dasaß und an dem Netz feilte, das über den Käfig gespannt war. Einen Augenblick huschte ein Schimmer von Hoffnung über sein Gesicht, gleich aber gewann die Hoffnungslosigkeit wieder die Überhand. »Ich bin ein großer Vogel, Däumling,« sagte er. »Wie glaubst du nur, daß du so viele Maschen durchfeilen kannst, daß ich entweichen könnte? Es ist am besten, wenn du aufhörst und mich in Frieden läßt.« – »Schlafe du nur weiter und kümmere dich nicht um mich!« erwiderte der Junge. »Ich werde weder heute nacht noch morgen nacht fertig, aber ich will trotzdem versuchen, dich zu befreien, denn hier gehst du ja ganz zugrunde.«

Gorgo schlief wieder ein, aber als er am nächsten Morgen erwachte, sah er gleich, daß eine Menge Maschen durchgefeilt waren. An dem Tage fühlte er sich gar nicht so schläfrig wie an den vorhergehenden Tagen. Er schlug mit den Flügeln und hüpfte auf den Ästen der Bäume umher, um die Steifheit aus den Gliedern zu vertreiben.

Eines Morgens in aller Frühe, gerade als das erste Morgenlicht am Himmel angezündet wurde, weckte Däumling den Adler. »Versuche jetzt einmal, Gorgo!« sagte er.

Der Adler sah in die Höhe. Däumling hatte wirklich so viele Maschen durchgefeilt, daß ein großes Loch in dem Stahldrahtnetz entstanden war. Gorgo schlug mit den Flügeln und schwang sich empor. Ein paarmal mißlang der Versuch und er fiel in den Käfig zurück, schließlich aber gelangte er glücklich ins Freie.

In stolzem Flug stieg er hoch über die Wolken empor. Der kleine Däumling saß da und sah ihm mit wehmütiger Miene nach und wünschte, daß jemand käme und ihm die Freiheit schenkte.

Niels Holgersen war jetzt ganz heimisch auf Skansen. Er hatte Bekanntschaft mit allen Tieren gemacht, die da waren, und hatte viele Freunde unter ihnen. Und er mußte ja einräumen, daß hier viel zu sehen und zu lernen war, so daß es ihm nicht schwer wurde, sich die Zeit zu vertreiben. Trotzdem wanderten seine Gedanken jeden Tag voll Sehnsucht hinaus zu dem Gänserich Martin und den anderen Reisegefährten. »Wäre ich nur nicht durch mein Versprechen gebunden,« dachte er, »so würde ich schon einen Vogel finden, der mich zu den Wildgänsen trüge!«

Es mag vielleicht wunderlich erscheinen, daß Klement Larsson dem Jungen seine Freiheit nicht wiedergegeben hatte, aber man muß bedenken, wie verwirrt der kleine Spielmann war, als er Skansen verließ. An dem Morgen, an dem er abreiste, hatte er allerdings daran gedacht, dem Jungen sein Essen in einem blauen Napf hinzustellen, unglücklicherweise konnte er aber keinen solchen finden. Dann kamen alle die Leute von Skansen, die Lappen, die Dalekarlier, die Zimmerleute und die Gärtner, um ihm Lebewohl zu sagen, und da hatte er keine Zeit mehr gehabt, einen blauen Napf zu beschaffen. Die Stunde zur Abreise kam heran und schließlich wußte er keinen anderen Ausweg, als einen der Lappen zu bitten, ihm behilflich zu sein. »Du mußt nämlich wissen,« sagte Klement, »hier auf Skanien wohnt eins von den ›Männlein‹, und dem pflege ich jeden Morgen Essen hinzustellen. Hier hast du ein paar Groschen; willst du mir den Gefallen tun, einen blauen Napf dafür zu kaufen und ihn morgen früh mit etwas Grütze und Milch unter die Treppe der Bollnäshütte stellen?« Der Lappe machte ein erstauntes Gesicht, aber Klement hatte keine Zeit, ihm die Sache näher zu erklären, denn er mußte nach dem Bahnhof.

Der Lappe ging auch wirklich in die Stadt, um den Napf zu laufen, da er aber keinen blauen finden konnte, der ihm für den Zweck passend erschien, kaufte er einen weißen, und darin stellte er gewissenhaft jeden Morgen Milch und Grütze hin.

So kam es denn, daß Niels Holgersen nicht von seinem Versprechen entbunden wurde. Er wußte, daß Klement fort war, aber er selbst durfte nicht weggehen.

In dieser Nacht sehnte er sich noch mehr als sonst nach der Freiheit, und das kam daher, daß jetzt allen Ernstes Sommer geworden war. Auf der Reise hatte er oft sehr unter Sturm und Regen gelitten, und in der ersten Zeit auf Skansen hatte er oft gedacht, es sei am Ende gar nicht so übel, daß die Reise unterbrochen war, denn er würde gewiß erfroren sein, falls er im Mai mit nach Lappland hinaufgekommen wäre. Jetzt aber war die Luft warm, die Erde war mit frischem Grün bedeckt, Birken und Pappeln trugen ein seidenweiches Blättergewand, die Kirschbäume, ja alle möglichen Obstbäume standen mit Blüten übersät da, die Stachelbeerbüsche hatten schon ganz kleine grüne Beeren, die Eichen wickelten mit großer Vorsicht ihre Blätter aus, Erbsen, Kohl und Bohnen wuchsen üppig auf den Gemüsebeeten. »Jetzt ist es gewiß auch da oben in Lappland gut und warm,« dachte der Junge. »In einer so schönen Morgenstunde wie heute möchte ich wohl auf Gänserich Martins Rücken sitzen. Es muß herrlich sein, jetzt in der warmen, stillen Luft umherzureiten und auf die Erde hinabzusehen, die nun mit grünem Gras und bunten Blumen geschmückt da liegt.«

Er saß da und dachte an dies alles, als der Adler plötzlich aus der Luft herunterstieß und sich neben ihn auf das Dach des Käfigs niederließ. »Ich wollte nur meine Flügel einmal versuchen, um zu sehen, ob sie auch noch taugten,« sagte Gorgo. »Du hast doch nicht geglaubt, daß ich dich hier in der Gefangenschaft zurücklassen wollte? Setz‘ dich jetzt auf meinen Rücken, dann will ich dich zu deinen Reisegefährten zurückbringen.«

»Nein, das ist unmöglich,« sagte der Junge. »Ich habe mein Wort gegeben, daß ich hier bleiben wolle, bis man mich freigibt,«

»Was für Dummheiten sind das?« entgegnete Gorgo. »Erst hat man dich gegen deinen Willen hierhergebracht, und dann hat man dich gezwungen, hier zu bleiben! Du kannst doch begreifen, daß man so ein Versprechen nicht zu halten braucht!« – »Das muß ich aber doch tun,« sagte der Junge. »Hab‘ Dank, daß du es so gut mit nur meinst, aber helfen kannst du mir nicht.«

»Kann ich dir nicht helfen?« erwiderte Gorgo. »Das will ich dir bald beweisen.« Und im selben Augenblick packte er Niels Holgersen mit seinen großen Fängen, schwang sich mit ihm zu den Wolken empor und verschwand in nördlicher Richtung.

XXXVIII. Über Gästrikland dahin


Der kostbare Gürtel.

Mittwoch, 15. Juli.

Ohne Aufenthalt flog der Adler nordwärts, bis er ein gutes Stück über Stockholm hinausgekommen war. Dort ließ er sich auf einen Hügel hinab und lockerte den Griff, mit dem er den Jungen hielt.

Aber kaum fühlte sich dieser frei, als er, so schnell er nur konnte, nach der Stadt zurücklief.

Da machte der Adler einen langen Sprung, holte Niels ein und legte seine Klaue auf ihn. »Ist es deine Absicht, wieder in dein Gefängnis zurückzukehren?« fragte er. – »Was geht das dich an? Ich kann doch wohl gehen, wohin ich will, ohne dich um Erlaubnis zu fragen,« sagte der Junge und versuchte zu entschlüpfen. Da packte ihn der Adler fest und sicher mit seinen starken Fängen, hob die Flügel und flog wieder nordwärts.

Nun flog der Adler mit dem Jungen über ganz Uppland hin und machte nicht eher halt, als bis er an einen großen Wasserfall bei Älvkarleby kam. Er ließ sich auf einem Stein nieder, der gerade unter dem brausenden Wasserfall lag, und ließ dann seinen Gefangenen wieder los.

Niels erkannte sogleich, daß es ganz unmöglich war, dem Adler hier zu entkommen. Von oben her kam die weiße Schaumwand auf sie herabgestürzt, und rings um sie brauste der Elf. Er war sehr erbost, daß er auf diese Weise gezwungen wurde, wortbrüchig zu werden. Er wandte dem Adler den Rücken zu und wollte kein Wort mit ihm reden.

Aber jetzt, wo der Adler den Jungen an eine Stelle niedergesetzt hatte, wo er ihm nicht entweichen konnte, erzählte er ihm, daß er von Akka von Kebbnekajse aufgezogen worden sei, daß aber jetzt Feindschaft zwischen ihm und seiner Pflegemutter herrsche. »Und nun verstehst du wohl, Däumling, weshalb ich dich zu den Wildgänsen zurückbringen will,« sagte er schließlich. »Ich habe sagen hören, du stündest in hoher Gunst bei Akka, und nun wollte ich dich bitten, den Frieden zwischen uns beiden zu vermitteln.«

Sobald der Junge begriff, daß ihn der Adler nicht nur aus Eigensinn fortgetragen hatte, wurde er wieder freundlich gegen ihn. »Ich würde dir gern in dieser Angelegenheit helfen,« sagte er, »aber ich bin ja durch mein Versprechen gebunden.« Und nun erzählte er seinerseits dem Adler, wie er in die Gefangenschaft geraten war, und daß Klement Larsson Skansen verlassen hatte, ohne ihm seine Freiheit zu schenken.

Aber der Adler wollte seine Pläne nicht aufgeben. »Hör‘ einmal, was ich dir sagen werde, Däumling!« begann er. »Meine Flügel können dich tragen, wohin du willst, und meine Augen können erspähen, was du auch suchst. Erzähle mir, wie der Mann aussah, der dir das Versprechen abgenommen hat, und ich will ihn aufsuchen und dich zu ihm bringen! Dann ist es deine Sache, daß du ihn dazu bringst, dich freizugeben!«

Niels Holgersen fand, daß dieser Vorschlag gut war. »Man kann merken, daß du in Akka einen guten Vogel als Pflegemutter gehabt hast, Gorgo,« sagte er. Dann beschrieb er Klement Larsson ganz genau und fügte hinzu, er habe auf Skansen gehört, der kleine Spielmann sei aus Hälsingeland.

»Gut, dann suchen wir ganz Hälsingeland ab von Lingbo bis zum Mellansee, vom Storberg bis Hornsland,« sagte der Adler. »Morgen, noch bevor es Abend ist, sollst du mit dem Mann reden.« – »Jetzt versprichst du gewiß mehr, als du halten kannst,« meinte der Junge. – »Ich wäre ein schlechter Adler, wenn ich das nicht vermöchte,« entgegnete Gorgo.

Als Gorgo und Däumling von Älvkarleby aufbrachen, waren sie gute Freunde, und Niels setzte sich nun zum Reiten auf dem Rücken des Adlers zurecht. Auf diese Weise hatte er wieder Gelegenheit, etwas von den Gegenden zu sehen, über die sie dahinflogen. Solange der Adler ihn in seiner Klaue gepackt hatte, war ihm das unmöglich gewesen. Es war eigentlich ein Glück für ihn gewesen, daß er nicht gewußt hatte, wo er war, denn wenn ihm jemand erzählt hätte, daß er an jenem Tage über so schöne Orte wie die Uppsalaer Hügel, die große Österbyer Fabrik, die Grube von Dannemora und das alte Schloß Örbyhus hingeflogen war, so würde er sich gewiß sehr gegrämt haben, daß er von allem diesen nichts zu sehen bekommen hatte.

Der Adler trug ihn nun in schnellem Flug über Gästrikland hin. In dem südlichen Teil war nicht viel zu sehen, was seinen Blick hätte fesseln können. Dort breitete sich eine Ebene aus, die fast überall mit Tannenwäldern bestanden war. Aber weiter nach Norden zu zog sich quer durch das Land von der Dalagrenze bis an die botnische Bucht ein schöner Landstrich mit bewaldeten Hügeln, blanken Seen und brausenden Flüssen. Hier lagen dichtbevölkerte Kirchspiele rings um ihre weißen Kirchen herum, Landstraßen und Eisenbahnen kreuzten sich, grüne Bäume umgaben traulich die Häuser und blühende Gärten sandten liebliche Düfte bis hoch in die Luft hinauf.

An den Ufern der Flüsse lagen mehrere große Eisenhämmer, wie sie Niels im Bergwerkdistrikt gesehen hatte, in ungefähr gleichen Zwischenräumen in einer Reihe bis zum Meer hin. Dort aber breitete eine große Stadt ihre weißen Häusermassen aus. Nördlich von dieser dichtbevölkerten Gegend setzten die dunklen Wälder wieder ein; hier war jedoch das Land nicht flach, es erhob sich zu Hügeln und fiel in Tälern ab gleich einem aufgeregten Meer.

»Dies Land hat einen Rock aus Tannen und eine Jacke aus Feldsteinen,« dachte der Junge bei sich. »Um die Taille aber trägt es einen Gürtel, der an Kostbarkeit seinesgleichen nicht hat, denn er ist mit blauenden Seen und blumigen Hügeln bestickt, die großen Eisenhämmer schmücken ihn wie eine Reihe edler Steine, und als Schnalle dient ihm eine Stadt mit Schlössern und Kirchen und großen Häusergruppen.«

Als die Reisenden eine Strecke in die nördliche Waldgegend hineingelangt waren, ließ sich Gorgo oben auf dem Gipfel eines kahlen Felsens nieder, und sobald der Junge von seinem Rücken heruntergesprungen war, sagte der Adler: »Hier im Walde gibt es Wild, und ich glaube, ich kann die Gefangenschaft nicht vergessen, und mich so recht frei fühlen, ehe ich nicht einmal wieder auf Jagd gewesen bin. Du wirst wohl nicht bange, wenn ich fortfliege?« – »Nein, das glaube ich nicht,« sagte der Junge. – »Du kannst herumlaufen, so viel du willst, aber um Sonnenuntergang mußt du wieder hier sein,« sagte der Adler und flog davon.

Niels Holgersen fühlte sich recht einsam und verlassen, als er da auf einem Stein saß und über die kahlen Felsen und die großen Wälder, die ihn umgaben, hinschaute. Aber er hatte noch nicht lange dagesessen, als er von unten aus dem Walde Gesang vernahm und etwas Helles erblickte, das sich zwischen den Bäumen bewegte. Er war sich bald klar darüber, daß es eine blau-gelbe Fahne war, und aus dem Gesang und den fröhlichen Stimmen schloß er, daß die Fahne an der Spitze eines Zuges von Menschen getragen wurde, es währte jedoch lange, ehe er sehen konnte, was für eine Art von Zug es war. Die Fahne wurde auf gewundenen Wegen getragen, und er saß da und war sehr gespannt, welchen Weg sie und die Leute, die ihr folgten, einschlagen würden. Er konnte sich doch nicht denken, daß sie auf die häßliche, öde Bergebene, auf der er saß, hinaufkommen würden. Aber das taten sie dennoch. Jetzt tauchte die Fahne am Waldsaum auf und hinter ihr drein flutete ein Gewimmel von Menschen, denen sie den Weg gewiesen hatte. Auf dem ganzen Berge entstand Leben und Bewegung, und an diesem Tage hatte der Junge so viel zu sehen, daß er sich keinen Augenblick langweilte.

Der große Tag des Waldes

Auf dem breiten Gebirgsrücken, auf dem Gorgo Däumling zurückgelassen, hatte vor ungefähr zehn Jahren ein Waldbrand gewütet. Die verkohlten Bäume waren gefällt und weggefahren worden, und da, wo der große Brandplatz an den frischen Wald stieß, fing es schon wieder an zu grünen. Der größte Teil des Felsens aber lag unheimlich öde und kahl da. Schwarze Baumstümpfe waren zwischen den Steinen stehen geblieben als Zeugen dafür, daß einst ein großer und prächtiger Wald hier gestanden hatte, aber keine jungen Schößlinge sproßten aus dem Brandplatz hervor.

Die Leute wunderten sich darüber, daß es so lange dauerte, bis sich der Berg wieder mit Wald bekleidete, aber sie dachten nicht daran, daß es dem Erdboden, gerade als der Waldbrand wütete, nach einer langen Dürre an Feuchtigkeit gefehlt hatte. Daher waren nicht nur alle Bäume verbrannt, und alles was auf dem Waldboden wuchs: Heidekraut und Maiblumen und Moos und Preißelbeerengestrüpp verschwunden, sondern auch die schwarze Fruchterde, die den Felsengrund bedeckte, war nach dem Brande trocken und lose wie Asche geworden. Jeder Windhauch, der kam, wirbelte sie in die Luft auf, und da der Berg durch seine Lage, dem Wind sehr ausgesetzt war, wurde eine Felsplatte nach der andern reingefegt. Das Regenwasser trug natürlich dazu bei, die Erde wegzuschwemmen, und nachdem nun Wind und Wasser sich zehn Jahre lang redlich bemüht hatten, den Berg reinzufegen, sah er so kahl aus, daß man im Grunde denken mußte, er würde bis an den letzten Tag der Welt so öde da liegen.

Aber eines Tages zu Anfang des Sommers versammelten sich alle Kinder aus dem Kirchspiel, in dem der abgebrannte Berg lag, vor einer der Schulen. Jedes Kind trug eine Hacke oder einen Spaten auf der Schulter und ein Päckchen Butterbrot in der Hand. Sobald alle versammelt waren, zogen sie in einem langen Zuge nach dem Wald hinauf. Die Fahne wurde vorausgetragen, Lehrer und Lehrerinnen gingen nebenher, und den Beschluß machten ein Paar Waldwärter und ein Pferd, das eine Fuhre kleiner Tannen und Tannensamen zog.

Dieser Zug hielt in keinem der Birkenwälder, die dem Dorf zunächst lagen, nein, es ging hoch oben in den Wald hinauf, auf alten Sennpfaden, und die Füchse steckten die Köpfe aus ihrem Bau heraus und fanden, daß dies doch wunderliche Senner seien. Der Zug zog vorüber an alten Köhlerplätzen, wo ehedem in jedem Herbst Meiler errichtet waren, und die Kreuzschnabel wendeten den krummen Schnabel dem Zuge zu und konnten nicht begreifen, was für Köhler das waren, die da in den Wald eindrangen.

Dann kam der Zug endlich nach der großen, abgesengten Bergebene. Da lagen die Steine ganz nackt ohne die feinen Lineenranken, die sie einstmals bedeckt hatten, und die Felsplatten waren ihres schönen, silberweißen Mooses und der feinen, niedlichen Renntierflechten entkleidet. An den schwarzen Wassertümpeln, die sich in Felsspalten und Vertiefungen angesammelt hatten, wuchsen weder Kallablätter noch Sauerklee. In den kleinen Fleckchen Erde, die noch zwischen den Steinen und den Rissen zurückgeblieben waren, standen keine Farrenkräuter, keine Sternblumen, keine weißen Pyrolas, nirgends etwas von all dem Grünen und Roten und Weichen und Sanften und Feinen, das sonst den Waldboden bedeckt.

Es war, als husche plötzlich ein heller Schimmer über die graue Hochebene, als alle die Kinder aus den umliegenden Dörfern sich darüber ergossen. Das war doch wieder etwas Fröhliches und Feines, Frisches und Rosiges, etwas Junges, das im Wachsen begriffen war. Vielleicht konnten sie der armen, verlassenen Gegend wieder etwas Leben schenken!

Als die Kinder ausgeruht und gegessen hatten, griffen sie nach Hacken und Spaten und begannen zu arbeiten. Der Waldwärter zeigte ihnen, wie sie es machen mußten, und dann steckten sie ein kleines Pflänzchen nach dem andern in alle die kleinen Fleckchen Erde, die sie entdecken konnten.

Während die Kinder pflanzten, schwatzten sie ganz altklug miteinander darüber, wie die kleinen Pflanzen, die sie in die Erde hineinsteckten, das Erdreich festhalten würden, so daß es nicht weggeweht werden könne. Und nicht genug damit, denn es würde sich auch neue Fruchterde unter den Bäumen bilden. Und dahinein fiel dann der Same, und in wenigen Jahren würden sie hier, wo jetzt nichts war als kahles Felsgestein, Himbeeren und Heidelbeeren pflücken können. Und die kleinen Pflanzen, die sie hier einsetzten, würden so nach und nach zu großen Bäumen werden. Man konnte vielleicht einstmals große Häuser und stolze Schiffe daraus bauen.

Wären aber die Kinder nicht jetzt auf den Berg hinaufgekommen und hätten gepflanzt, so lange noch ein wenig Erde in den Felsspalten lag, so hätten der Wind und das Wasser jede Möglichkeit zerstört, und es würde nie wieder ein Wald auf dem Berge gewachsen sein.

»Ja, es war wirklich Zeit, daß wir heraufgekommen sind,« sagten die Kinder. »Es war die höchste Zeit!« Und sie kamen sich ungeheuer wichtig vor.

Während die Kinder oben auf dem Berge arbeiteten, waren Vater und Mutter daheim, und als eine Weile vergangen war, sehnten sie sich danach zu erfahren, wie es den Kindern wohl gehen möge. Es war ja natürlich nur Unsinn, daß Kinder einen Wald pflanzen sollten, aber es konnte doch auf alle Fälle ganz lustig sein zu sehen, wie es damit ging. Und siehe da, auf einmal waren Vater und Mutter auf dem Wege zum Walde hinauf. Als sie auf den Sennpfad kamen, begegneten sie mehreren von ihren Nachbarn. »Wollt‘ ihr zum Brandplatz hinauf?« – »Ja, dahin wollen wir.« – »Und euch nach den Kindern umsehen?« – »Ja, wir wollen einmal sehen, was sie treiben.« – »Es wird natürlich nichts als Spielerei sein!« – »Viele Bäume werden sie doch nicht pflanzen können!« – »Wir haben den Kaffeekessel mitgenommen, damit sie etwas Warmes bekommen können, sonst müßten sie ja den ganzen Tag von trockner Kost leben.«

So kamen denn Vater und Mutter auf den Berg hinauf, und zuerst dachten sie an nichts weiter, als wie hübsch es doch aussah mit allen den roten Wangen auf dem grauen Berge. Aber dann beobachteten sie, wie die Kinder arbeiteten, wie einige die Pflanzen hineinsetzten, während andere Furchen zogen und Samen säten, und wieder andere das Heidekraut herausrissen, damit es die jungen Bäumchen nicht ersticken sollte. Und sie sahen, daß die Kinder es ernsthaft mit der Arbeit nahmen, und so eifrig waren, daß sie kaum Zeit hatten, aufzusehen.

Der Vater stand eine Weile da und sah zu, dann fing auch er an, Heidekraut herauszureißen. Nur zum Scherz, natürlich! Die Kinder waren die Lehrmeister, denn jetzt kannten sie die Kunst, und sie mußten Vater und Mutter zeigen, wie sie es zu machen hatten.

Es endete damit, daß alle Erwachsenen, die gekommen waren, um nach den Kindern zu sehen, teil an der Arbeit nahmen. Nun wurde es natürlich noch lustiger als vorher. Und es währte nicht lange, da bekamen die Kinder noch mehr Hilfe.

Sie brauchten mehr Gerätschaften da oben, und ein paar Jungen mit langen Beinen wurden in das Dorf hinabgeschickt, um Hacken und Spaten zu holen. Als sie an den Häusern vorbeirannten, kamen die Leute, die daheim saßen, heraus und fragten: »Was ist da los? Ist ein Unglück geschehen?« – »Nein, nein, aber das ganze Dorf ist da oben auf dem Brandplatze und pflanzt Wald!« – »Wenn das ganze Dorf dort da oben ist, dann wollen wir auch nicht daheimbleiben!«

So strömten sie denn alle zusammen nach dem abgesengten Berg hinauf. Anfänglich standen sie nur da und sahen zu, dann aber konnten sie es nicht lassen, sich an der Arbeit zu beteiligen. Denn es kann ja vergnüglich sein im Frühling, auf das Feld zu gehen und die Saat auszustreuen und daran zu denken, wie sie nun aus dem Boden aufsprossen wird, aber dies hier war doch noch viel verlockender.

Aus dieser Saat sollten nicht nur schwache Halme emporsprossen, sondern starke Bäume mit hohen Stämmen und mächtigen Zweigen. Hier rief man nicht nur die Ernte eines Sommers hervor, sondern Wachstum für viele Jahre. Es handelte sich darum, Insektengesumm und Drosselgesang und Auerhahnbalzen und zahlloses Leben auf dem öden Brandplatze wachzurufen. Und außerdem war es gleichsam ein Denkmal, das man für die kommenden Geschlechter errichtete. Man hätte ihnen einen kahlen, nackten Berg als Erbe hinterlassen können, statt dessen erhielten sie nun einen stolzen Wald. Und wenn die Nachkommen das einst erkannten, dann würden sie verstehen, daß ihre Vorfahren gute und kluge Leute gewesen waren, und sie würden mit Ehrfurcht und Dankbarkeit ihrer gedenken.

XXXIX. Ein Tag in Hälsingeland


Ein großes, grünes Blatt.

Donnerstag, 16. Juni.

Am nächsten Tag flog Niels Holgersen über Hälsingeland. Mit lichtgrünen Schossen an den Nadelbäumen, frischbelaubten Birkengehölzen, jungem Gras auf den Wiesen und saftig sprossender Saat auf den Feldern lag es unter ihm. Es war ein hochgelegenes, bergiges Land, aber mitten hindurch zog sich ein offenes, helles Tal, und von diesem aus erstreckten sich nach beiden Seiten andere Täler, einige kurz und eng, andere breit und lang. »Dies Land werde ich wohl mit einem Blatt vergleichen müssen,« dachte Niels Holgersen, »denn es ist grün wie ein Blatt, und die Täler verzweigen sich ungefähr auf dieselbe Weise wie die Rippen in der Blattfläche.«

Von dem großen Haupttal zweigten sich zuerst zwei mächtige Seitentäler ab, eins nach Osten und eins nach Westen. Dann schickte es nur noch kleine Täler aus, bis es ziemlich hoch nach Norden kam. Dort streckte es wieder zwei starke Arme aus. Nun lief es noch ein gutes Stück länger hinauf, wurde dann aber immer schmäler und verlor sich schließlich in der Wildnis.

Mitten in dem großen Tal floß ein breiter, prächtiger Fluß, der sich an vielen Stellen zu Seen erweiterte. An dem Fluß entlang lagen Wiesen, die ganz mit kleinen, grauen Scheunen übersät waren, an diese Wiesen grenzten Äcker und an der Talgrenze, dort wo der Wald begann, lagen die Höfe. Sie waren groß und gut gebaut, und ein Hof lag neben dem andern in einer fast ununterbrochenen Reihe. Unten am Flußufer ragten Kirchen empor, und um diese scharten sich die Höfe zu großen Dörfern. Andere Häusergruppen lagen um die Bahnhöfe herum und bei den Sägewerken, die hier und da an Seen und Flüssen errichtet waren und die man an den Bretterstapeln, die sich rings um sie auftürmten, leicht erkennen konnte.

Die Seitentäler waren ebenso wie das mittlere Tal voll von Seen, Feldern, Dörfern und Höfen. Leicht und lächelnd glitten sie zwischen die dunklen Berge hinein, bis sie nach und nach von ihnen zusammengepreßt wurden und schließlich so schmal waren, daß sie nur noch für einen kleinen Bach Platz hatten.

Die Bergkuppen zwischen den Tälern waren mit Nadelwald bestanden. Der fand keinen ebenen Boden, in dem er wachsen konnte, eine Menge Felsblöcke lagen dort oben wild durcheinander, der Wald aber bedeckte das alles wie eine Pelzdecke, die über einen eckigen Körper gebreitet ist.

Es war ein schönes Land, wenn man so darauf hinab sah. Und der Junge bekam auch ein gut Teil davon zu sehen, denn der Adler spähte nach dem alten Spielmann Klement Larsson aus und flog suchend von Tal zu Tal.

Als der Morgen anbrach, entstand Leben und Bewegung auf den Höfen. Die Türen der Kuhställe, die dort in der Gegend groß und hoch waren, und einen Schornstein wie auch hohe, breite Fenster hatten, wurden weit geöffnet, und man ließ die Kühe hinaus. Es waren schöne, weiße, feingebaute und geschmeidige Tiere, sicher auf den Füßen und so munter, daß sie die lustigsten Sprünge machten. Die Kälber und die Schafe kamen auch heraus, und man konnte sehen, daß sie in allerbester Laune waren.

Mit jedem Augenblick, der verging, wurde es lebhafter auf den Hofplätzen. Ein paar junge Mägde mit Ranzen auf dem Rücken gingen zwischen dem Vieh umher. Ein Junge mit einem langen Stecken in der Hand hielt die Schafe zusammen. Ein kleiner Hund lief zwischen den Kühen herum und kläffte sie bissig an, sobald sie stoßen wollten. Der Bauer spannte ein Pferd vor einen Karren, und belud ihn mit Butterkübeln, Käseformen und allerlei Lebensmitteln. Alles sang und lachte. Menschen wie Tiere waren so vergnügt, als sei ein großer Festtag angebrochen.

Bald darauf waren sie alle miteinander auf dem Wege zu den Wäldern hinauf. Eine der Mägde ging voran und lockte das Vieh mit wohlklingenden Jodlern. Hinter ihr kamen die Kühe in langer Reihenfolge. Der Hirtenjunge und der Hirtenhund liefen hin und her, um acht zu geben, daß keins der Tiere vom Pfad abwich. Den Beschluß machten der Bauer und sein Knecht. Sie gingen neben dem Karren her, um ihn am Umfallen zu verhindern, denn der Weg, den sie verfolgten, war nur ein schmaler, steiniger Waldpfad.

Entweder ist es Sitte, daß die Bauern in Hälsingeland ihr Vieh an ein und demselben Tage in die Wälder hinaufschicken, oder es traf sich nur in diesem Jahr so. Soviel aber ist sicher, Niels Holgersen sah die fröhlichen Züge von Menschen und Vieh aus jedem Tal und aus jedem Haus herausziehen, in den öden Wald einbiegen und ihn mit Leben erfüllen. Aus der dunklen Tiefe der Wälder vernahm er den ganzen Tag das Jodeln der Sennerinnen und den Klang der Glocken. Die meisten hatten einen langen, beschwerlichen Weg vor sich, und der Junge sah, wie sie mühselig über sumpfige Moore zogen und Umwege machen mußten, um Windfälle zu umgehen, während die Karren oft gegen Steine stießen und mit allem, was darin war, umstürzten. Aber die Senner begegneten allen Schwierigkeiten mit fröhlichem Lachen und bester Laune.

Im Laufe des Nachmittags langte der Zug auf ausgerodeten Plätzen im Walde an, wo ein niedriger Kuhstall und kleine, graue Hütten standen. Als die Kühe auf den Platz zwischen den Hütten kamen, brüllten sie vergnügt, als erkennten sie den Ort wieder, und machten sich gleich daran, von dem grünen, saftigen Gras zu fressen. Unter Scherzen und fröhlichem Geplauder holten die Leute Wasser und Brennholz und trugen alles, was sie auf dem Karren mitgebracht hatten, in die größte der Hütten. Bald stieg Rauch aus dem Schornstein auf. Und dann setzten sich die Sennerinnen, der Hirtenjunge und die erwachsenen Männer rings um einen flachen Stein und hielten draußen im Freien ihre Mahlzeit.

Der Adler Gorgo war fest überzeugt, daß er Klement Larsson unten den Leuten finden würde, die sich auf dem Weg in den Wald befanden. Sobald er einen Sennerzug erblickte, ließ er sich hinabsinken und untersuchte ihn mit scharfem Auge. Aber es verging Stunde auf Stunde, ehe er ihn fand.

Nach vielem Hin- und Herfliegen kam der Adler gegen Abend in eine bergige und einsame Gegend, die östlich von dem großen Haupttal lag. Wieder sah er eine Sennhütte unter sich. Die Leute und das Vieh waren schon angekommen. Die Männer waren damit beschäftigt, Holz zu hauen, und die Mägde molken die Kühe.

»Sieh doch!« sagte Gorgo. »Ich glaube, jetzt haben wir den Mann!«

Er ließ sich hinab, und Niels sah zu seiner großen Verwunderung, daß der Adler recht hatte. Da stand wirklich der kleine Klement Larsson und spaltete Holz auf der Wiese.

Gorgo flog in den dichten Wald, eine Strecke vom Hause entfernt, hinab. »Jetzt habe ich ausgeführt, was ich übernommen hatte,« sagte er und machte eine stolze Bewegung mit dem Kopf. »Nun mußt du sehen, daß du mit dem Manne sprichst. Ich werde mich da oben in den dichten Tannenwipfel setzen und auf dich warten.«

Die Neujahrsnacht der Tiere.

Auf der Sennhütte war die Arbeit beendet und das Abendbrot gegessen, aber die Leute blieben noch sitzen und plauderten. Es war lange her, seit sie eine Sommernacht im Walde zugebracht hatten, und sie fanden, es sei ein Jammer, sich hinzulegen und zu schlafen. Es war so hell wie am lichten Tage, und die Sennerinnen waren mit ihrer Handarbeit beschäftigt, von Zeit zu Zeit aber sahen sie auf, schauten in den Wald hinein und lächelten still vor sich hin. »Ja, nun sind wir wieder hier,« sagten sie. Das Dorf mit all seiner Unruhe entschwand aus ihrer Erinnerung und der tiefe Friede des Waldes umfing sie. Wenn sie daheim auf dem Hof daran dachten, daß sie den ganzen Sommer hier oben im Walde allein zubringen müßten, konnten sie kaum begreifen, wie sie das aushalten sollten, sobald sie aber in die Sennhütte hinaufgekommen waren, fühlten sie, daß dies ihre allerbeste Zeit war.

Von den in der Nähe gelegenen Sennhütten waren einige junge Mädchen und Burschen zu Besuch gekommen, so war es denn eine ganz stattliche Anzahl, die sich in dem Gras vor den Hütten gelagert hatte, aber es wollte keine richtige Unterhaltung in Gang kommen. Die Burschen mußten am nächsten Tag wieder in das Dorf hinab, und die Sennerinnen gaben ihnen allerlei kleine Aufträge und schickten Grüße an die zu Hause Gebliebenen durch sie ins Tal hinab. Viel mehr wurde nicht geredet.

Da sah die Älteste der Sennerinnen von ihrer Arbeit auf und sagte munter: »So still braucht es hier auf der Alm doch heute abend nicht zuzugehen, denn wir haben doch zwei Männer unter uns, die sonst gern etwas erzählen. Der eine ist Klement Larsson, der hier neben mir sitzt, und der andere ist Bernhard von Sunnansee, der da drüben steht und nach dem Blackaasen hinaufsieht. Ich finde wirklich, wir sollten sie bitten, daß uns jeder eine Geschichte erzählt, und wer die schönste erzählt, der soll das Halstuch haben, an dem ich hier stricke.«

Dieser Vorschlag fand großen Beifall. Die beiden, die miteinander wetteifern sollten, machten natürlich anfangs Einwendungen, fügten sich jedoch bald. Klement schlug vor, daß Bernhard beginnen sollte, und dieser hatte nichts dagegen. Er kannte Klement Larsson kaum, ging aber von der Voraussetzung aus, daß dieser irgendeine alte Geschichte von Gespenstern und Kobolden zum besten geben würde, und da er wußte, daß die Leute dergleichen gern hörten, hielt er es für das klügste, auch so etwas zu wählen.

»Vor mehreren hundert Jahren,« begann er, »geschah es, daß ein Propst hier in Delsbo in einer Neujahrsnacht mitten durch den dichten Wald ritt. Er saß in seinem Pelz und mit einer Pelzmütze auf seinem Pferd und an dem Sattelknopf hing eine Tasche, in der er die Altargeräte, die Agende und seinen Talar gepackt hatte. Spät am Abend war er zu einem Kranken tief drinnen im Walde geholt worden, und er hatte bis in die Nacht hinein bei ihm gesessen und mit ihm gesprochen. Jetzt befand er sich endlich auf dem Heimwege, aber er fürchtete, daß er erst weit nach Mitternacht den Propsthof wieder erreichen würde.

Wenn er nun doch einmal die Nacht auf dem Pferderücken zubringen sollte, statt ruhig in seinem Bett zu liegen, so war er wenigstens froh, daß die Nacht nicht gar zu arg war. Es war mildes Wetter und stille Luft bei bedecktem Himmel. Der Vollmond stand groß und rund hinter den Wolken und leuchtete, wenn er selbst auch nicht zu sehen war. Wäre das bißchen Mondschein nicht gewesen, so hätte er den Weg nur schwer von dem Erdboden unterscheiden können, denn es lag kein Schnee und alles hatte dieselbe graubraune Farbe.

Der Propst ritt in dieser Nacht ein Pferd, auf das er große Stücke hielt. Es war sowohl kräftig als auch ausdauernd und fast so klug wie ein Mensch. So hatte der Propst zum Beispiel wiederholt bemerkt, daß das Pferd von jedem beliebigen Ort in dem weiten Kirchspiel sich wieder nach Hause zurückfinden konnte. Darauf verließ er sich so fest, daß er sich eigentlich nie mehr die Mühe machte, an den Weg zu denken, wenn er dies Pferd ritt. Und so kam er auch jetzt mit schlaff herabhängendem Zügel mitten durch die graue Nacht und den wilden Wald geritten, während seine Gedanken weitab schweiften.

Während der Propst so dasaß, dachte er an die Predigt, die er am nächsten Tage halten wollte, und noch an mancherlei anderes, und es währte ziemlich lange, bis es ihm einfiel, sich klar darüber zu werden, wie weit es noch bis nach Hause sei. Als er dann schließlich aufsah und gewahrte, daß ihn der Wald noch ebenso dicht umgab wie zu Anfang des Rittes, fing er allmählich an, sich zu verwundern. Er war jetzt so lange unterwegs gewesen, daß er meinte, er müsse den bebauten Teil des Kirchspiels bereits erreicht haben.

Delsbo sah damals nicht so aus, wie heutzutage. Die Kirche und der Propsthof und alle die großen Höfe und Dörfer lagen in dem nördlichen Teil des Kirchspiels um den Del herum, und im Süden gab es nichts als Berge und Wälder. Als der Propst sah, daß er sich noch in einer unbebauten Gegend befand, wußte er also, daß er in dem südlichen Teil des Kirchspiels war, und daß er, um nach Hause zu gelangen, nach Norden reiten mußte. Aber gerade das schien er nicht zu tun. Da waren weder Mond noch Sterne, nach denen er sich hätte richten können, aber er gehörte zu denen, die den Kompaß im Kopf haben, und er hatte das bestimmte Gefühl, daß er gen Süden oder vielleicht gen Osten reite.

Er war schon im Begriff, das Pferd zu wenden, aber dann besann er sich. Das Pferd war noch niemals irregegangen und tat es sicher auch jetzt nicht. Viel eher würde er selbst sich geirrt haben. Seine Gedanken waren ja weit abgeschweift, da hatte er des Weges wohl nicht geachtet. Er ließ das Pferd in der bisherigen Richtung weitergehen und versank bald wieder in seine Gedanken.

Gleich darauf aber traf ihn ein großer Zweig mit einer solchen Gewalt, daß er ihn fast vom Pferde gerissen hätte. Da sah er denn ein, daß er sich klar darüber werden müsse, wohin er geraten war.

Er guckte auf den Weg hinab und entdeckte, daß er über weichen Moorboden ritt, wo kein getretener Pfad zu entdecken war. Das Pferd ging aber ohne Zögern weiter. Doch so wie vorhin war der Propst auch jetzt überzeugt, daß er die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.

Diesmal entschloß er sich einzugreifen. Er griff fest in die Zügel, um das Tier zum Umkehren zu zwingen, und es gelang ihm auch, es auf den Weg zurückzutreiben. Kaum jedoch dort angelangt, benutzte das Pferd einen Richtpfad zwischen zwei Bäumen und lief geradeswegs wieder in den Wald hinein.

Der Propst war so fest überzeugt, daß die Richtung verkehrt war, wie man überhaupt nur von etwas überzeugt sein kann; da das Pferd aber so sicher zu sein schien, glaubte er, daß es jetzt vielleicht einen besseren Weg aufsuchen wolle, und so ließ er es denn laufen.

Das Pferd kam schnell vorwärts, obwohl es auf keinem Wege lief. Kam es an einen Bergabhang, so kletterte es geschickt wie eine Ziege hinauf, und wenn es dann wieder bergab ging, setzte es alle vier Füße dicht nebeneinander und rutschte die steile Bergwand hinab.

›Fände es doch nur bis zur Kirchzeit den Weg nach Hause,‹ dachte der Propst. ›Ich möchte wohl wissen, was meine Delsboer sagen würden, wenn ich nicht rechtzeitig in die Kirche käme.‹

Er hatte nicht lange Zeit, hierüber nachzudenken, denn plötzlich kam er an einen Ort, der ihm bekannt war. Es war ein kleiner, dunkler Waldsee, wo er im letzten Sommer gefischt hatte. Nun war er sich klar darüber, daß es sich wirklich so verhielt, wie er gefürchtet hatte. Er befand sich tief drinnen in den Wäldern, und das Pferd ging in südöstlicher Richtung weiter. Es schien, als sei es darauf versessen, ihn so weit wie möglich vom Pfarrhause wegzuführen.

Der Propst sprang augenblicklich aus dem Sattel. Er konnte sich nicht so von dem Pferd in die Wildnis tragen lassen. Er mußte nach Hause, und da das Pferd mit aller Macht irregehen wollte, beschloß er, zu Fuß zu gehen und das Pferd zu führen, bis sie auf bekannten Wegen angelangt waren. So wickelte er denn den Zügel um den Arm und trat die Wanderung an. Es war keine leichte Sache, in einem schweren Pelz durch den wilden Wald zu gehen, aber der Propst war ein starker und abgehärteter Mann, der sich vor nichts fürchtete.

Bald aber erschwerte ihm das Pferd von neuem die Wanderung. Es wollte ihm nicht folgen, sondern stemmte die Hufe fest gegen den Boden und sträubte sich.

Schließlich wurde der Propst zornig. Er pflegte sonst nie dies Pferd zu schlagen, darum wollte er auch jetzt nicht zu diesem Mittel greifen. Statt dessen warf er ihm die Zügel über den Hals und ging seiner Wege. ›Dann müssen wir uns hier wohl trennen‹, sagte er, ›da du deinen eigenen Weg gehen willst.‹

Kaum hatte er jedoch ein paar Schritte gemacht, als das Pferd hinter ihm dreinkam, ihn behutsam am Ärmel zupfte und ihn zurückzuhalten suchte. Der Propst wandte sich um und sah dem Pferd in die Augen, um zu erforschen, warum es sich so wunderlich gebärdete.

Später konnte der Propst nie recht begreifen, wie es möglich war, aber das steht fest, trotz der Dunkelheit konnte er das Gesicht des Pferdes ganz deutlich sehen und darin lesen, als sei es das Antlitz eines Menschen gewesen. Er konnte sehen, daß sich das Pferd in der fürchterlichsten Angst und Not befand. Es sah ihn mit einem zugleich flehenden und vorwurfsvollen Blick an. ›Ich habe dir gedient und dir Tag für Tag gehorcht,‹ schien es zu sagen, ›kannst du mir nicht diese eine Nacht folgen?‹

Der Propst wurde gerührt durch die Bitte, die er in den Augen des Tieres las. Es war klar, daß das Pferd in dieser Nacht in irgendeiner Weise seiner Hilfe bedurfte, und da er ein kühner und mutiger Mann war, beschloß er sofort, ihm zu folgen. Ohne zu zögern führte er das Pferd an einen Stein, um wieder aufzusteigen. ›Geh jetzt nur!‹ sagte er, ›ich will dich nicht verlassen, wenn du mich mithaben willst. Niemand soll dem Delsboer Propst nachsagen, daß er sich weigert, jemand zu folgen, der in Not ist.‹

Und fortan ließ er das Pferd laufen, wie es wollte, und dachte an nichts weiter, als sich im Sattel festzuhalten. Es wurde ein gefährlicher und anstrengender Ritt, und fast die ganze Zeit ging es bergauf. Der Wald war rings um ihn her so dicht, daß er kaum zwei Schritte weit sehen konnte, aber es schien ihm, als ritten sie einen sehr hohen Berg hinan. Das Pferd arbeitete sich die halsbrecherischsten Abhänge empor. Hätte der Propst selbst die Zügel geführt, so würde er es sich nicht im Traum haben einfallen lassen, ein Pferd einen solchen Weg bergan zu zwingen. ›Du hast doch wohl nicht die Absicht, dich auf den Blocksaas selbst hinaufzuwagen?‹ sagte der Propst zu dem Pferd und lachte. Er wußte, daß der Blacksaas dort in der Nahe lag, aber es war einer der höchsten Berge in Helsingeland.

Wie sie so weiterritten, merkte der Propst, daß er und das Pferd nicht die einzigen waren, die in dieser Nacht unterwegs waren. Er hörte Steine rollen und Zweige knacken. Es klang, als wenn sich große Tiere einen Weg durch den Wald bahnten. Er wußte, daß es dort in der Gegend von Wölfen wimmelte, und dachte, ob ihn das Pferd wohl zum Kampf gegen die wilden Tiere führen wolle.

Bergan ging es, beständig bergan, und je höher sie kamen, um so lichter wurde der Wald.

Endlich ritten sie an einem fast kahlen Bergrücken entlang, so daß der Propst nach allen Seiten um sich sehen konnte.

Er schaute über unermeßliche Strecken Landes hinaus, wo Felsklippen und Berggrate abwechselten, und die überall mit dunklen Wäldern bedeckt waren. Es war nicht leicht, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, bald aber konnte er nicht darüber in Zweifel sein, wo er sich befand.

›Ja, wahrlich,‹ dachte er, ›wahrlich, dies ist der Blacksaas, den ich hinanreite; es kann nicht anders sein. Nach Westen zu sehe ich den Järsüflack liegen und im Osten schimmert das Meer da draußen bei Agö. Nach Norden zu sehe ich auch etwas, das glitzert. Das ist gewiß der Del. Und hier tief unter mir sehe ich den weißen Schaumgischt des Niamfoß. Ja, ich bin auf den Blacksaas hinaufgekommen. Das ist wahrlich ein Abenteuer!‹

Als sie auf den Gipfel des Berges hinaufkamen, blieb das Pferd hinter einer buschigen Tanne stehen, als wenn es sich da verbergen wolle. Der Propst beugte sich vor und bog die Zweige auseinander, so daß er eine freie Aussicht hatte.

Der kahle, flache Gipfel des Berges lag vor ihm ausgebreitet, aber es war dort nicht öde und leer, so wie er es sich gedacht hatte. Mitten auf dem offenen Platz lag ein großer Felsblock, und ringsherum war eine große Schar von Tieren versammelt. Es wollte dem Propst scheinen, als seien sie dahingekommen, um eine Art Ting abzuhalten.

Dem großen Stein zunächst sah der Propst die Bären, stark und schwer gebaut, so daß sie pelzbekleideten Felsblöcken glichen. Sie hatten sich hingelegt und blinzelten ungeduldig mit ihren kleinen Augen. Man konnte deutlich sehen, daß sie eben aus dem Winterschlaf aufgestanden waren, um zum Ting zu gehen, und daß es ihnen schwer wurde, sich wach zu halten. Hinter ihnen saßen einige hundert Wölfe in dichten Reihen. Sie waren nicht schläfrig, sondern mitten in dem winterlichen Dunkel viel lebhafter als jemals im Sommer. Sie saßen auf den Hinterfüßen wie Hunde, peitschten den Boden mit dem Schwanz und schnappten nach Luft, während ihnen die Zunge lang zum Rachen heraushing. Hinter den Wölfen schlichen die Luchse herum, steifbeinig und ungeschlacht, gleich großen, mißgestalteten Katzen. Sie schienen den anderen Tieren gegenüber scheu zu sein und fauchten, wenn jemand in ihre Nähe kam. In der Reihe hinter den Luchsen sah man die Vielfraße, die ein Hundegesicht und einen Bärenpelz hatten. Sie fühlten sich nicht wohl auf dem Erdboden, sondern stampften ungeduldig mit ihren breiten Füßen und sehnten sich danach, in die Bäume hinaufzukommen. Und wiederum hinter diesen, auf dem ganzen freien Platz bis an den Waldessaum wimmelte es von Füchsen, Wieseln, Mardern, klein und niedlich von Gestalt, aber mit noch wilderen und blutdürstigeren Augen als die größeren Tiere.

Der Propst konnte alle diese Tiere ganz deutlich sehen, denn der ganze Platz war erhellt. Auf dem hohen Stein in der Mitte stand nämlich der König des Waldes und hielt eine Fichtenfackel in der Hand, die mit einer hohen, roten Flamme brannte. Der König des Waldes war so groß wie der höchste Baum im Walde, er trug einen Mantel aus Tannenzweigen, und seine Haare waren aus Tannenzapfen. Er stand ganz still, das Gesicht dem Walde zugewendet. Er spähte und lauschte.

Obwohl der Propst das Ganze deutlich sah, war er so erstaunt, daß er sich förmlich dagegen sträubte und seinen Augen nicht recht trauen wollte. ›Dies ist ja ganz unmöglich,‹ dachte er. ›Ich muß nicht recht bei Verstand sein. Ich bin zu lange in dem dunklen Walde umhergeritten. Meine Phantasie ist mit mir durchgegangen.‹

Trotzdem beobachtete er alles mit der größten Aufmerksamkeit und wartete in Spannung auf das, was er zu sehen bekommen würde und was sich hier ereignen sollte.

Es vergingen nur ein paar Minuten, da vernahm er vom Walde her das Klingeln einer kleinen Kuhglocke. Und gleich darauf hörte er von neuem das Geräusch von Schritten und von knackenden Zweigen, als bahne sich ein großes Rudel von Tieren den Weg durch die Wildnis.

Es war eine große Schar Haustiere, die dahergewandert kamen. Sie gingen in derselben Ordnung, wie wenn sie sich auf dem Wege zur Alm hinauf befänden. Zuerst kam die Glockenkuh, dann der Stier, darauf kamen die anderen Kühe, und den Beschluß machten das Jungvieh und die Kälber. Dann folgten die Schafe in einer dichten Herde, dann die Ziegen und zu allerletzt ein paar Pferde und Füllen. Der Hirtenhund ging neben der Herde, aber da war weder ein Hirtenjunge noch eine Sennerin bei dem Vieh.

Es schnitt dem Propst ins Herz, als er die zahmen Tiere so geradeswegs auf die Raubtiere zukommen sah. Er war schon im Begriff, sich ihnen in den Weg zu stellen und ihnen zuzurufen, daß sie innehalten sollten, aber er sah ja ein, daß es in keines Menschen Macht stand, die Schritte der Tiere in dieser Nacht zu hemmen, und so verhielt er sich denn ruhig.

Es war ganz klar, daß die zahmen Tiere sich vor dem ängstigten, dem sie entgegengingen. Sie sahen bange und unglücklich aus. Selbst die Glockenkuh kam mit hängendem Kopf und zögerndem Schritt daher. Die Ziegen hatten weder Lust zum Spielen noch zum Bocken. Die Pferde bemühten sich, mutig zu scheinen, aber sie zitterten am ganzen Leibe vor Angst. Am jammervollsten aber sah der Hirtenhund aus. Er hatte den Schwanz eingezogen und kroch beinahe am Boden hin.

Die Glockenkuh führte die Schar bis dicht an den Waldkönig, der auf dem Felsblock oben auf dem Gipfel des Berges stand. Sie ging rings um ihn herum, kehrte dann aber um, ohne daß nur eines der wilden Tiere sie angerührt hätte. Auf die gleiche Weise wanderte die ganze Herde unangetastet an den wilden Tieren vorüber.

Und der Propst sah, daß der Waldgeist, als das Vieh an ihm vorüberzog, bald über dem einen, bald über dem andern seine Fackel senkte und abwärts kehrte.

Jedesmal, wenn sich dies wiederholte, stimmten die Raubtiere ein lautes und freudiges Gebrüll an, namentlich wenn sich die Fackel über einer Kuh oder sonst einem größeren Tier gesenkt hatte; das Tier aber, das die Fackel über sich herabsinken sah, stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, als habe man ihm ein Messer in den Leib gepreßt, und die ganze Schar, zu der es gehörte, brach gleichfalls in ein Klagegeschrei aus.

Und plötzlich wurde es dem Propst klar, was er hier sah. Er hatte ja schon davon gehört, daß sich die Tiere in Delsbo in jeder Neujahrsnacht auf dem Blacksaasen versammelten, damit der Waldkönig die Haustiere bezeichnete, die im Laufe des Jahres die Beute der Raubtiere werden sollten. Er empfand das größte Mitleid mit dem armen Vieh, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, obwohl es ja keinen andern Herrn haben sollte als den Menschen.

Kaum war die erste Herde abgezogen, als abermals Kuhglocken unten vom Walde her ertönten, und der Viehbestand eines anderen Hofes den Berg hinaufgewandert kam. Sie kamen in derselben Ordnung daher wie der erste Zug und gingen auf den Waldkönig zu, der strenge und ernsthaft dastand und ein Tier nach dem andern als dem Tode verfallen bezeichnete. Und dieser Herde folgte ohne Aufenthalt eine Schar nach der andern. Einige davon waren so klein, daß sie nur aus einer einzigen Kuh und einigen Schafen bestanden, andere nur aus ein paar Ziegen. Diese kamen offenbar aus armen, kleinen Waldhütten, aber zum Waldkönig hin mußten sie alle, und er schonte keine von ihnen.

Der Propst dachte an die Bauern in Delsbo, die ihre Haustiere so lieb hatten. ›Wenn sie dies nur wüßten, würden sie es sicher nicht so weiter gehen lassen,‹ dachte er. ›Sie würden eher ihr eigenes Leben wagen, als ihr Vieh zwischen Bären und Wölfen gehen lassen, um sich ihr Todesurteil von dem Waldkönig zu holen.‹

Die letzte Schar, die daherkam, war das Vieh vom Pfarrhofe. Der Propst konnte schon von weitem die Glocke der Glockenkuh erkennen, und das tat das Pferd offenbar ebenfalls. Es zitterte an allen Gliedern und stand in Schweiß gebadet da. ›Ja, jetzt kommt also die Reihe an dich an dem Waldkönig vorüberzugehen und dir dein Urteil zu holen,‹ sagte der Propst zu dem Pferde. ›Fürchte dich aber nicht! Ich verstehe sehr wohl, warum du mich hierhergeführt hast, und ich werde dich nicht im Stich lassen.‹

Der schöne Viehbestand vom Pfarrhofe kam jetzt in einer langen Reihe aus dem Walde heraus und ging auf den Waldkönig und die wilden Tiere zu. Den Beschluß machte das Pferd, das seinen Herrn den Blacksaasen hinaufgetragen hatte. Der Propst stieg nicht ab, sondern blieb sitzen und ließ sich von dem Tier zu dem Waldkönig tragen.

Er hatte weder eine Flinte noch ein Messer, um sich zu verteidigen. Aber er hatte die Agende herausgeholt und drückte sie fest gegen seine Brust, als er sich nun auf den Kampf mit dem Zauberer einließ.

Zu Anfang schien es, als habe niemand ihn bemerkt. Ganz so wie die andere Herde wanderte auch das Vieh vom Pfarrhof an dem Waldkönig vorüber. Der Waldkönig ließ die Fackel auf keins der Tiere herabsinken. Erst als das kluge Pferd kam, machte er eine Bewegung, als wolle er es für den Tod kennzeichnen.

Im selben Augenblick aber hob der Propst die Agende in die Höhe, und der Fackelschein fiel auf das Kreuz, das den Einband des Buches zierte. Der Waldkönig stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, die Fackel entfiel seiner Hand und lag am Erdboden.

Die Flamme erlosch augenblicklich, und in dem plötzlichen Übergang von Licht und Dunkel konnte der Propst nichts sehen. Er hörte auch nichts. Rings um ihn her herrschte dasselbe tiefe Schweigen wie immer im Winter in der Wildnis.

Da teilten sich plötzlich die schweren Wolken, die den Himmel bedeckten, und durch den Riß trat der Vollmond und warf seine Strahlen auf die Erde herab. Und nun sah der Propst, daß er und das Pferd ganz allein auf dem Gipfel des Blacksaasen standen. Nicht ein einziges von den wilden Tieren war mehr da. Die Erde war zerstampft von den vielen Viehherden, die darüber hingewandert waren. Er selbst aber saß da, die Agende in den ausgestreckten Händen, und das Pferd, das ihn trug, zitterte und war in Schweiß gebadet.

Als der Propst wieder den Berg hinabgeritten war und auf seinem Hof anlangte, wußte er nicht recht, ob das, was er gesehen hatte, ein Traum gewesen war oder eine Vision oder Wirklichkeit. Daß es aber eine Mahnung für ihn war, an das arme Vieh zu denken, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, das verstand er. Und er predigte den Bauern von Delsbo so nachdrücklich, daß zu seiner Zeit alle Wölfe und Bären hier im Kirchspiel ausgerottet wurden, – wenn sie auch vielleicht zurückgekommen sein können, nachdem er heimgegangen war.«

Hier endete Bernhard seine Geschichte. Alle fanden, daß sie ausgezeichnet war, und es schien eine abgemachte Sache, daß er den Preis bekommen würde. Die meisten fanden, daß Klement zu bedauern sei, weil er den Wettstreit mit Bernhard aufnehmen sollte.

Klement aber begann unverzagt: »Eines Tages ging ich auf Skansen vor Stockholm und hatte Heimweh,« sagte er, und dann erzählte er von dem Männlein, das er freigekauft hatte, damit es nicht in einen Käfig gesperrt und wie ein wildes Tier zur Schau gestellt werden solle. Und er erzählte weiter, wie er kaum diese gute Tat getan hatte, als er auch schon dafür belohnt wurde. Er erzählte und erzählte, und das Staunen der Zuhörer wuchs beständig und als er schließlich bis zu dem königlichen Lakai und dem schönen Buch kam, ließen alle Sennerinnen ihre Arbeit in den Schoß sinken und starrten unbeweglich Klement an, der so merkwürdige Dinge erlebt hatte.

Sobald Klement geendet hatte, sagte die Sennerin, er solle das Halstuch haben. »Bernhard hat etwas erzählt, was ein anderer erlebt hat, Klement aber hat selbst ein wirkliches Abenteuer erlebt, und das scheint mir mehr zu sein,« sagte sie.

Darin stimmten sie alle mit ihr überein. Sie betrachteten Klement nun, wo sie erfahren hatten, daß er mit dem König geredet hatte, mit ganz andern Augen als bisher, und der kleine Spielmann wagte kaum zu zeigen, wie stolz er sich fühlte. Aber mitten in der großen Begeisterung fragte ihn plötzlich jemand, was er denn mit dem kleinen Wicht gemacht habe.

»Ich hatte keine Zeit, ihm den blauen Napf selbst hinzustellen,« sagte Klement. »Aber ich habe den alten Lappen gebeten, es zu tun. Was später aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.«

Kaum hatte Klement dies gesagt, als ein kleiner Tannenzapfen geflogen kam und ihn an die Nase traf. Er kam nicht aus den Bäumen, und er kam auch nicht von einem Menschen. Es war nicht zu begreifen, woher er kam.

»Ha, ha, Klement!« lachte die Sennerin. »Es scheint, daß die Männlein hören, was wir sprechen. Ihr hättet es gewiß nicht einem andern überlassen sollen, ihm das Essen in dem blauen Napf hinzustellen!«

VIII. Am Rönneberger Bach

Freitag, den 1. April.

Weder die wilden Gänse noch Reineke Fuchs hatten sich gedacht, daß sie einander jemals wieder begegnen sollten, wenn sie erst Schonen verlassen hatten. Aber nun traf es sich ja so, daß die wilden Gänse den Weg über Blekinge nehmen mußten, und dahin hatte sich Reineke Fuchs ebenfalls begeben. Anfangs hatte er sich in dem nördlichen Teil aufgehalten, und er hatte bisher weder die Schloßparke noch die Tiergärten voller Rehe und leckerer Rehkitzchen gesehen. Er war so mißvergnügt wie nur möglich.

Eines Nachmittags, als Reineke in einer einsamen Waldgegend nicht weit vom Rönneberger Bach umherstreifte, sah er eine Schar wilder Gänse durch die Luft ziehen. Er bemerkte sofort, daß die eine von den Gänsen weiß war, und da wußte er ja, mit wem er es zu tun hatte.

Reineke machte sich sogleich daran, hinter den Gänsen drein zu jagen, ebensosehr aus Verlangen nach einem guten Bissen, wie um sich an ihnen für all den Schaden zu rächen, den sie ihm zugefügt hatten. Er sah, daß sie gen Osten zogen, bis sie an den Rönneberger Bach gelangten. Dann wechselten sie die Richtung und folgten dem Bach nach Süden zu. Er begriff, daß sie einen Schlafplatz am Ufer des Baches suchen wollten, und er dachte, daß er wohl ein paar Stück von ihnen ohne große Schwierigkeit ergattern könne.

Aber als Reineke endlich den Platz erblickte, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, sah er wohl, daß sie eine Stelle gewählt hatten, die so gut geschützt war, daß er nicht zu ihnen gelangen konnte.

Der Rönneberger Bach ist ja kein sehr großes oder starkes Gewässer, aber er ist doch sehr bekannt wegen seiner schönen Ufer. An mehreren Stellen bahnt er sich seinen Weg durch steile Felswände, die lotrecht aus dem Wasser aufsteigen und ganz mit Gaisblatt und Faulbaum, mit Weißdorn und Erlengestrüpp, mit Ebereschen und Weiden bewachsen sind. Und es gibt kaum etwas Erfreulicheres an einem schönen Sommertag, als den kleinen dunklen Bach hinabzurudern und all das weiche Grün zu sehen, das sich in den rauhen Felswänden festklammert.

Aber jetzt, als die wilden Gänse und Reineke an den Bach kamen, war es noch früh im Lenz, es war naßkalt und windig, alle Bäume standen kahl und niemand achtete darauf, ob das Bachufer häßlich war oder schön. Die wilden Gänse priesen sich glücklich, daß sie unter so einer steilen Felswand einen schmalen Streifen Sand entdeckt hatten, gerade so groß, daß sie Platz darauf fanden. Vor ihnen der brausende Bach, der jetzt in der Schneeschmelze breit und reißend war, hinter ihnen die unerklimmbare Felswand, und sie selber von herabhängendem Gras verborgen. Sie konnten es nicht besser haben.

Die Gänse schliefen sofort ein, aber der Junge schloß kein Auge. Sobald die Sonne verschwunden war, ergriff ihn die Angst vor der Dunkelheit und Einsamkeit, und er sehnte sich zu den Menschen zurück. Wie er da so unter dem Gänseflügel lag, konnte er nichts sehen und nur schlecht hören; stieß dem Gänserich etwas zu, so war er nicht imstande, ihn zu retten. Rascheln und Pusseln hörte er von allen Seiten, und es überkam ihn eine solche Unruhe, daß er unter dem Flügel hervorkriechen und sich neben die Gänse an den Erdboden setzen mußte.

Oben am Rande des Felsens stand Reineke, machte ein langes Gesicht und sah auf die wilden Gänse hinab. »Du kannst es nur gleich aufgeben, sie zu verfolgen,« sagte er zu sich selbst. »Eine lotrechte Felswand kannst du doch nicht hinabklettern, in einem so reißenden Strom kannst du nicht schwimmen, und unterhalb des Berges ist nicht der geringste Streifen Erde, der zu dem Schlafplatz führt. Die Gänse sind zu klug für dich. Denk‘ nur gar nicht mehr daran, sie zu jagen.«

Aber es wurde Reineke, wie allen andern Füchsen, schwer, ein Vorhaben aufzugeben, das er begonnen hatte, und er legte sich deswegen an den äußersten Rand der Klippe und verwandte kein Auge von den wilden Gänsen. Während er da lag und sie ansah, dachte er an all das Böse, das sie ihm zugefügt hatten. Um ihretwillen war er ja aus Schonen verwiesen, war er gezwungen worden, nach dem armseligen Bleking zu ziehen. Er erregte sich selbst derartig, daß er den wilden Gänsen den Tod wünschte, selbst wenn er nicht den Vorteil haben sollte, sie aufzufressen.

Als Reinekes Zorn eine solche Höhe erreicht hatte, hörte er neben sich in einer großen Fichte etwas rascheln und sah ein Eichhörnchen von dem Baum herabspringen, scharf verfolgt von einem Marder. Keins von beiden hatte Reineke bemerkt, und er saß still da und schaute der Jagd zu, die von Baum zu Baum ging. Er sah zu dem Eichhörnchen hinüber, das so leicht zwischen den Zweigen umhersprang, als könne es fliegen. Er sah den Marder an, der lange nicht so gut kletterte wie das Eichhörnchen, aber doch sicher an den Baumstämmen auf und nieder lief, als seien es ebene Steige im Walde. »Kletterte ich nur halb so gut wie eins von den beiden,« dachte der Fuchs, »so sollten die da unten nicht lange ruhig schlafen.«

Sobald das Eichhörnchen gefangen und die Jagd beendet war, ging Reineke zu dem Marder, blieb aber in Entfernung von zwei Schritten stehen, zum Zeichen, daß er ihm die Jagdbeute nicht entreißen wollte. Er begrüßte den Marder sehr freundlich und wünschte ihm Glück zu dem Fang. Reineke hatte das Wort sehr in der Gewalt, so wie alle Füchse. Aber der Marder, der mit seinem langen und schmalen Körper, seinem feinen Kopf, seinem weißen Fell und seinem hellbraunen Fleck am Halse aussieht wie ein kleines Wunder von Schönheit, ist in Wirklichkeit nur ein roher Waldbewohner, und er antwortete ihm kaum. »Es wundert mich doch,« sagte Reinecke, »daß ein so gewaltiger Jäger wie du sich damit begnügt, Eichhörnchen zu jagen, wenn da so viel besseres Wild in deinem Bereich ist.« Hier machte er eine Pause und wartete auf eine Antwort, aber als ihm der Marder ganz frech die Zähne zeigte, fuhr er fort: »Ist es möglich, daß du die wilden Gänse nicht gesehen hast, die hier unter der Felswand stehen? Oder kletterst du nicht gut genug, um zu ihnen hinabzugelangen?«

Diesmal brauchte er nicht auf die Antwort zu warten. Der Marder fuhr auf ihn ein – sein Rücken war krumm und alle seine Haare sträubten sich. »Hast du wilde Gänse gesehen?« fauchte er. »Wo sind sie? Sag‘ es mir sofort, sonst beiß‘ ich dir die Kehle durch!« – »Vergiß nur ja nicht, daß ich doppelt so groß bin wie du; sei nur lieber ein wenig höflich. Ich verlange ja nichts Besseres, als dir die wilden Gänse zu zeigen.«

Einen Augenblick später war der Marder auf dem Wege nach dem Abhang hinab, und während Reineke dasaß und zusah, wie er seinen langen, schlangenähnlichen Körper von Zweig zu Zweig wand, dachte er: »Der schöne Baumjäger dort hat das grausamste Herz im ganzen Walde. Ich denke, die wilden Gänse werden mir für ein blutiges Erwachen danken können.«

Aber gerade als Reincke gespannt auf das Todesgeschrei der Gänse horchte, sah er den Marder von einem Zweig fallen und in den Bach hinabplumpsen, so daß das Wasser hoch aufspritzte. Gleich darauf erscholl ein klatschendes Geräusch von harten Flügeln, und alle Gänse stiegen in eilsamer Flucht in die Höhe.

Reineke wollte sofort hinter den Gänsen drein eilen, aber er war so neugierig, zu erfahren, wodurch sie errettet waren, daß er sitzen blieb, bis der Marder wieder heraufgeklettert kam. Der Ärmste war klatschnaß und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um sich das Gesicht mit den Vorderpfoten zu reiben. »Hab‘ ich mir es doch gedacht,« sagte Reineke verächtlich. »So ein Tolpatsch und in den Bach zu fallen!«

»Ich bin kein Tolpatsch gewesen. Du sollst mich nicht ausschelten!« sagte der Marder. »Ich saß schon auf einem der untersten Zweige und dachte darüber nach, wie ich es anfangen sollte, eine ganze Menge Gänse zu zerreißen, als ein kleiner Knirps, der nicht größer war als ein Eichhörnchen, herbeigestürzt kam und mir mit einer solchen Gewalt einen Stein gegen den Kopf schleuderte, daß ich ins Wasser fiel, und ehe es mir gelungen war, wieder herauszuklettern …«

Das weitere konnte sich der Marder ersparen. Er hatte keinen Zuhörer mehr, Reineke war schon lange über alle Berge, hinter den Gänsen drein.

Akka war indessen südwärts geflogen, auf der Umschau nach einem neuen Schlafplatz. Das Tageslicht war noch nicht ganz entschwunden, und außerdem stand der Halbmond hoch am Himmel, so daß sie einigermaßen sehen konnte. Glücklicherweise kannte sie die Gegend gut, denn es war mehr als einmal geschehen, daß sie vom Sturm nach Bleking hineingetrieben war, wenn sie im Frühling über die Ostsee zog.

Sie folgte dem Bach, solange sie ihn sich durch die mondhelle Landschaft gleich einer glänzend schwarzen Schlange winden sah. So gelangte sie bis ganz nach Djupafors, wo sich der Bach zuerst in einer unterirdischen Rinne versteckte und sich dann, klar und durchsichtig wie Glas, in eine enge Schlucht hinabstürzt, auf deren Grund er zu blitzenden Tropfen weitspritzenden Schaumes zerstiebt. Unter dem weißen Wasserfall lagen einige Steine, zwischen denen das Wasser mit wildem Brausen dahin stürzte, und hier ließ Akka sich nieder. Dies war wieder ein guter Schlafplatz, namentlich so spät am Abend, wenn keine Menschen unterwegs waren. Bei Sonnenuntergang hätten sich die Gänse kaum dort niederlassen können, denn Djupafors liegt nicht in einer einsamen Gegend. An der einen Seite des Wasserfalles liegt eine Papiermassefabrik, und an der andern, die steil und mit Bäumen bestanden ist, liegt der Djupataler Park, wo es stets von Leuten wimmelt, die auf den glatten und steilen Steigen umherstreifen, um sich an dem Anblick des unten zwischen Felsenklippen dahinbrausenden wilden Flusses zu erfreuen.

Es war hier wie an dem ersten Lagerplatz: nicht eine von den Gänsen dachte daran, daß sie sich an einem schönen und bekannten Aussichtsort befanden. Sie fanden wohl vielmehr, daß es unheimlich und gefährlich war, auf glatten, nassen Steinen mitten in einem lärmenden Gießbach zu stehen und zu schlafen. Aber sie mußten ja zufrieden sein, wenn sie nur gegen Raubtiere beschützt waren.

Die Gänse schliefen bald ein, der Junge hingegen hatte keine Ruhe zum Schlafen, er saß neben ihnen, um acht auf den Gänserich zu geben.

Nach einer Weile kam Reineke am Ufer entlang gelaufen. Er erblickte die Gänse sogleich draußen in den Schaumwirbeln und sah ein, daß er ihnen auch jetzt nichts anhaben konnte. Aufgeben wollte er sie aber doch nicht; er setzte sich am Ufer nieder und sah sie an. Er fühlte sich sehr gedemütigt und fand, daß sein ganzes Ansehen als Jäger auf dem Spiel stehe.

Plötzlich sah er einen Otter aus dem Gießbach herauskriechen; der trug einen Fisch im Maul. Reineke ging auf ihn zu, blieb aber in einer Entfernung von zwei Schritten stehen, um zu zeigen, daß es nicht seine Absicht sei, ihm die Jagdbeute wegzunehmen. »Du bist ein wunderlicher Kauz, daß du dich damit begnügst, Fische zu fangen, wenn es da draußen auf den Steinen von wilden Gänsen wimmelt,« sagte Reineke. Er war so eifrig, daß er sich keine Zeit ließ, in so wohlgesetzten Worten zu reden wie sonst. Der Otter drehte nicht einmal den Kopf nach Reineke um. Er war ein Landstreicher wie alle Ottern, hatte oft im Bombsee gefischt und kannte Reineke Fuchs sehr wohl. »Ich weiß recht gut, wie du es machst, um eine Lachsforelle zu ergattern, Reineke,« sagte er. »Ach, du bist es, Gripe,« sagte Reineke und freute sich, denn er wußte, daß dieser Otter ein mutiger und tüchtiger Schwimmer war. »Es ist ja nicht so zu verwundern, daß du dich nicht nach den wilden Gänsen umsehen willst, da du ja doch nicht zu ihnen hinauskommen kannst.« Aber der Otter, der eine Schwimmhaut zwischen den Zehen hatte und einen steifen Schwanz, der so gut wie ein Ruder war, und außerdem auch einen wasserdichten Pelz, wollte es nicht auf sich sitzen lassen, daß es einen Gießbach gebe, mit dem er nicht anzubinden wagte. Er wandte sich nach dem Strom um, und sobald er die wilden Gänse erblickt, warf er den Fisch hin und stürzte sich das steile Felsenufer hinab, in den Strom hinein.

Wäre der Frühling ein wenig weiter vorgeschritten, so daß die Nachtigallen im Djupadaler Park zu Hause gewesen wären, so würden sie noch viele Nächte hinterher von Gripes Kampf mit dem Wasserfall gesungen haben. Denn der Otter wurde wieder und wieder von den Wellen mit fortgerissen, arbeitete sich aber jedesmal wieder in die Höhe. Er schwamm durch seichtes Wasser, er kletterte über Steine, und nach und nach kam er den wilden Gänsen näher. Es war ein Wagestück, das wohl verdient hätte, von den Nachtigallen besungen zu werden.

Reineke folgte ihm mit den Augen, so gut er konnte. Schließlich sah er, daß der Otter im Begriff war, zu den wilden Gänsen hinaufzuklettern. Aber im selben Augenblick ertönte ein wilder, gellender Schrei, der Otter stürzte rücklings ins Wasser und wurde von den Wellen mit fortgerissen, als sei er ein blindes junges Kätzchen. Gleich darauf ertönte abermals der harte Flügelschlag der wilden Gänse. Sie schwangen sich empor und flogen davon, um sich einen neuen Schlafplatz zu schaffen.

Der Otter kam gleich an Land. Er sagte nichts, machte sich aber daran, seine eine Vorderpfote zu lecken. Als Reineke ihn verhöhnte, weil er Unglück gehabt hatte, rief er aus: »Das kam nicht daher, weil ich nicht schwimmen kann, Reineke. Ich war ganz bis zu den Gänsen gelangt und wollte gerade zu ihnen hinaufklettern, als ein kleiner Knirps gelaufen kam und mich mit einem scharfen Eisen in den Fuß stach. Das tat so weh, daß ich ins Gleiten geriet, und da entführte der Gießbach mich.«

Er konnte es sich ersparen, mehr zu sagen. Reineke war schon weit weg, hinter den Gänsen drein.

Noch einmal mußten Akka und ihre Schar in die dunkle Nacht hinausfliehen. Glücklicherweise war der Mond noch nicht untergegangen, und mit Hilfe seines Scheines gelang es ihr, noch einen der Schlafplätze zu finden, die ihr dort in der Gegend bekannt waren. Sie folgte abermals dem glitzernden Bach gen Süden. Ohne sich niederzulassen, schwebte sie über Schloß Djupdal und über den dunklen Dächern von Rönneberg dahin. Aber ein Stück südlich von der Stadt, nicht weit von der See, liegt Bad Rönneberg mit Badehaus und Kurhaus, mit großen Hotels und Sommerwohnungen für die Kurgäste. Dies alles steht den ganzen Winter leer und öde, worüber alle Vögel genau Bescheid wissen und gar manch eine Vogelschar sucht in strengen Sturmzeiten Schutz auf den Balkons und Veranden der leeren Häuser.

Hier ließen sich die wilden Gänse auf einen Balkon nieder und schliefen wie gewöhnlich sofort ein. Der Junge aber wollte nicht schlafen, denn er wollte nicht unter den Flügel des Gänserichs kriechen.

Der Balkon lag nach Süden, so daß der Junge Aussicht über die See hatte. Und da er nicht schlafen konnte, saß er da und beobachtete, wie schön es sich ausnahm, wenn Meer und Land sich hier in Bleking begegneten.

Nun können sich ja Meer und Land auf viele verschiedene Art begegnen. An vielen Stellen geht das Land mit flachen Wiesen voll kleinen Erderhöhungen an das Meer hinab, und das Meer nimmt das Land mit Flugsand in Empfang, den es zu Schanzen und Dünen auftürmt. Es ist, als könnten die beiden einander so wenig leiden, daß sie sich nur von ihrer allerschlechtesten Seite zeigen wollten. Aber es kann auch geschehen, daß das Land, wenn es nach dem Meer hinabgeht, eine Felswand vor sich aufrichtet, als sei das Meer etwas Gefährliches, und wenn das Land das tut, geht ihm das Meer mit erzürnten Brandungen entgegen, schäumt und bullert und schlägt gegen die Felsen und sieht so aus, als wolle es den Erdboden in Stücke zerreißen.

Aber in Blekinge geht es ganz anders zu, wenn Meer und Land sich begegnen. Da zersplittert sich das Land in Landspitzen und Inseln und Weiden, und das Meer teilt sich in Buchten und Föhrden und Sunde, und daher kommt es wohl, daß es so aussieht, als begegneten sie sich in Freude und Eintracht.

Denke nun zuvörderst an das Meer! Weit da draußen liegt es öde und leer und schwarz und tut nichts weiter als seine grauen Wogen rollen. Wenn es sich dem Lande nähert, begegnet es der ersten Schäre. Über die macht es sich gleich zum Herrn, reißt all das Grün ab und macht sie ebenso kahl und grau, wie es selber ist. Dann begegnet es noch einer Schäre. Mit der geht es ebenso. Und noch einer. Ja, auch mit der geht es nicht anders. Sie wird entkleidet und geplündert, als sei sie unter Räuber gefallen. Aber dann kommen immer mehr Schären, und nun versteht das Meer wohl, daß das Land ihm seine kleinsten Kinder entgegensendet, um es zu Milde zu bewegen. Es wird auch freundlicher und freundlicher, je weiter es hineingelangt, rollt seine Wellen weniger hoch, dämpft seine Stürme, läßt das Grün in Rissen und Spalten stehen, teilt sich in kleine Sunde und Buchten und wird schließlich ganz in der Nähe des Landes so wenig Furcht einflößend, daß sich kleine Boote darauf hinaus wagen. Es kann sich gewiß kaum selbst wiedererkennen, so licht und freundlich ist es geworden.

Und dann denke an das Land! Es liegt so einförmig da, und ein Fleck gleicht dem andern. Es besteht aus flachen Feldern, hier und da mit einem Birkenhain dazwischen, oder auch aus langen waldbedeckten Höhenzügen. Es sieht aus, als dächte es an nichts weiter als an Hafer und Rüben und Kartoffeln und Tannen und Fichten. Dann kommt ein Fjord, der sich tief hineinschneidet. Es macht kein Aufhebens davon, sondern säumt ihn mit Birken und Erlen, ganz als sei er ein gewöhnlicher Süßwassersee. Dann kommt noch ein Fjord dahergefahren. Auch von dem macht das Land kein Aufhebens, aber er erhält dieselbe Bekleidung wie der erste. Nun aber beginnen die Fjorde sich zu erweitern und zu teilen. Sie zersplittern die Felder und Wälder, und dann kann das Land nicht umhin, sie zu beachten. »Ich glaube wahrhaftig, da kommt das Meer selber,« sagt das Land, und dann fängt es an, sich zu schmücken. Es bekränzt sich mit Blumen, schlängelt sich in Hügeln und Tälern und wirft Inseln ins Meer hinaus. Es will nichts mehr wissen von Fichten und Tannen, es wirft sie weg wie ein vertragenes Alltagsgewand und prangt statt dessen mit großen Eichen und Linden und Kastanien und mit blühenden Hainen und wird so zierlich wie ein Schloßpark. Und als es sich mit dem Meer begegnet, ist es so verändert, daß es sich selbst nicht mehr wieder zu erkennen vermag.

Das alles kann man ja nicht wirklich sehen, ehe es Sommer wird, aber der Junge konnte doch merken, wie mild und freundlich die Natur war und ihm war ruhiger zumute wie sonst während der Nacht. Da vernahm er plötzlich ein lautes, unheimliches Heulen unten vom Kurpark her, und als er sich erhob, sah er in dem weißen Mondlicht auf dem Platz vor dem Balkon einen Fuchs stehen. Denn Reineke verfolgte die Gänse noch einmal. Als er aber den Platz sah, auf dem sie sich aufgestellt hatten, begriff er, daß es diesmal unmöglich war, ihnen etwas anzuhaben, und da konnte er sich nicht bezwingen, er mußte vor Wut heulen.

Als der Fuchs so heulte, erwachte die alte Akka, die Führergans, und obwohl sie fast nichts sehen konnte, war es ihr doch, als müsse sie die Stimme kennen. »Bist du es, Reineke, der in dieser Nacht auf Raub ausgeht?« sagte sie. – »Ja,« antwortete Reineke, »ich bin es, und ich möchte euch jetzt fragen, wie ihr Gänse über die Nacht denkt, die ich euch bereitet habe?« – »Willst du damit sagen, daß du uns sowohl den Marder als auch den Otter auf den Hals geschickt hast?« fragte Akka. – »Eine gute Tat soll man nicht abstreiten,« sagte Reineke. »Ihr habt einmal Gänsespiel mit mir gespielt. Jetzt habe ich angefangen, Fuchsspiel mit euch zu spielen, und ich bin nicht gesonnen, aufzuhören, solange noch eine einzige von euch am Leben ist, und sollte ich auch gezwungen sein, euch durch das ganze Land zu folgen.« – »Ja, Reineke, du solltest doch bedenken, ob es recht von dir ist, der du mit Zähnen und Krallen bewaffnet bist, uns, die wir wehrlos sind, so zu verfolgen,« sagte Akka. Reineke fand, daß es so klang, als sei Akka bange, und er sagte schnell: »Wenn du diesen Däumling nehmen und mir herunterwerfen willst, ihn, der mir nun schon so manches Mal in die Quere gekommen ist, dann verspreche ich dir, Frieden mit dir zu machen, Akka. Dann will ich weder dich noch eine von den Deinen je wieder verfolgen.« – »Däumling kann ich dir nicht geben,« sagte Akka. »Von der Jüngsten bis zur Ältesten würden wir alle gern unser Leben für ihn wagen.« – »Haltet ihr so große Stücke auf ihn,« sagte Reineke, »dann verspreche ich dir, daß er der erste von euch sein soll, an dem ich Rache üben werde.«

Akka sagte nichts mehr, und als Reineke noch ein paar heulende Töne ausgestoßen hatte, wurde alles still. Der Junge aber lag noch immer wach. Jetzt hinderten ihn die Worte, die Akka zu dem Fuchs gesagt hatte, am Schlafen. Nie hatte er sich träumen lassen, etwas so Großes zu hören, daß nämlich jemand sein Leben für ihn wagen wollte. Von dem Augenblick an konnte man von Niels Holgersen nicht mehr sagen, daß er niemand lieb hatte.

IX. Karlskrona

Sonnabend, den 2. April.

Es war an einem Abend in Karlskrona, und es war Mondschein. Es war still und schön, aber früherhin am Tage hatte es gestürmt und geregnet, und die Leute glaubten wohl, daß noch schlechtes Wetter sei, denn kaum ein Mensch hatte sich auf die Straße hinausgewagt.

Wie nun die Stadt so verlassen dalag, kamen die wilde Gans Akka und ihre Schar über die Vämmö und den Pantorholm auf Karlskrona zugeflogen. Sie waren in der späten Abendstunde darauf aus, einen sichern Schlafplatz in den Schären zu suchen. Sie konnten nicht an Land bleiben, weil Reineke Fuchs sie störte, wo sie sich auch niederließen.

Als nun der Junge hoch oben in der Luft dahergeritten kam und das Meer und die Schären sah, die sich vor ihm ausbreiteten, fand er, daß alles so wunderlich und gespensterhaft aussah. Der Himmel war nicht mehr blau, er wölbte sich über ihm wie eine Kuppel aus grünem Glas. Das Meer lag milchweiß. So weit er sehen konnte, kamen kleine, weiße Wellen mit Silberglanz auf dem Kamm dahergerollt. Mitten in all dem Weiß lagen die vielfachen Schäreninseln ganz kohlschwarz. Mochten sie groß sein oder klein, mochten sie flach sein wie Wiesen oder voll von Klippen, sie waren gleich schwarz. Ja, selbst Häuser und Kirchen und Windmühlen, die sonst weiß oder rot sind, heben sich schwarz gegen den grünen Himmel ab. Der Junge fand, es war so, als sei die Erde unter ihm vertauscht, als sei er in eine andere Welt gekommen.

Er sagte zu sich selbst, heute nacht wolle er tapfer aushalten und nicht bange sein, aber dann erblickte er sogleich etwas, das ihm einen großen Schrecken einjagte. Es war eine hohe Felseninsel, die mit großen, eckigen Steinblöcken bedeckt war, und zwischen den schwarzen Steinblöcken glitzerten Punkte von klarem, schimmerndem Gold. Er konnte es nicht lassen, an den Maglestein bei Trolle-Ljungby zu denken, den die Kobolde einstmals auf hohen goldenen Säulen errichtet hatten, und er dachte, daß dies vielleicht etwas von derselben Art sei.

Aber das mit den Steinen und dem Gold hätte noch angehen können, wenn da nur nicht so viel Teufelkram rings um die Insel herum im Wasser gelegen hätte. Das sah aus wie Walfische und Haie und andere große Meerestiere, aber der Junge wußte ja sehr wohl, daß es Wassergeister waren, die sich um die Insel geschart hatten und nun da hinaufklettern und mit den Landgeistern kämpfen wollten, die dort wohnten. Und die da oben an Land waren gewiß bange, denn er konnte einen großen Riesen oben auf der Spitze der Insel stehen und, wie in Verzweiflung über all das Unglück, das über ihn und die Insel kommen würde, die Arme ausstrecken sehen.

Der Junge war nicht wenig erschrocken, als er merkte, daß Akka den Flug abwärts nahm, sobald sie über der Insel waren. »Huh! Wir wollen uns doch nicht dort niederlassen!« sagte er.

Aber die Gänse schwebten ruhig abwärts, und bald mußte der Junge staunen, daß er sich so geirrt hatte. Denn erstens waren die großen Steinblöcke nichts weiter als Häuser. Die ganze Insel war eine Stadt, und die schimmernden goldenen Punkte waren Laternen und Reihen von erleuchteten Fenstern. Der Riese, der oben auf der Spitze der Insel stand und die Arme in die Höhe streckte, war eine Kirche mit zwei viereckigen Türmen, und alle die Meeresgeister und Ungeheuer, die er zu sehen geglaubt, waren Boote und Schiffe jeglicher Art, die rings um die Insel vertäut lagen. Auf der Seite, die dem Lande zunächst lag, waren die meisten Ruderboote und Segelboote und kleinen Küstendampfer, aber auf der Seite nach dem Meere zu lagen gepanzerte Kriegsschiffe, einige breit, mit mächtig dicken, hintenüberliegenden Schornsteinen, andere lang und schmal und so gebildet, daß sie wie Fische durchs Wasser gleiten mußten.

Was für eine Stadt konnte dies nur einmal sein? Ja, der Junge ward sich klar darüber, sobald er die vielen Kriegsschiffe sah. Er hatte Schiffe geliebt, seit er klein war, obwohl er mit keinen anderen zu schaffen gehabt, als mit den Fahrzeugen, die er zum Segeln in den Gräben ausgesetzt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, daß die Stadt, wo so viele Kriegsschiffe lagen, keine andere als Karlskrona sein konnte.

Der Junge hatte einen alten Großvater mütterlicherseits gehabt, der in der Marine gedient und so lange er lebte, jeden Tag von Karlskrona erzählt hatte, von der großen Marinewerft und von all dem andern, das in dieser Stadt zu sehen war. Hier fühlte sich der Junge ganz wie zu Hause, und er freute sich, daß er nun all das zu sehen bekam, wovon er so viel hatte reden hören.

Aber er bekam nicht mehr als einen Schimmer von den Türmen und Festungswerken, die die Einfahrt des Hafens sperrten, und von den vielen Gebäuden auf der Werft zu sehen, denn Akka ließ sich auf einem der beiden flachen Kirchtürme nieder.

Das war ja freilich ein sicherer Ort für jemand, der einem Fuchs entkommen wollte, und der Junge meinte, diese Nacht könne er gewiß ruhig unter den Flügel des Gänserichs schlüpfen. Ja, das konnte er wohl, es würde gut tun, ein wenig zu schlafen. Sobald es hell wurde, wollte er versuchen, etwas mehr von der Werft und von den Schiffen zu sehen.

Der Junge fand es selber wunderlich, daß er sich nicht ruhig verhalten und den nächsten Morgen abwarten konnte, bis er die Schiffe sah. Er hatte wohl kaum fünf Minuten geschlafen, als er schon unter dem Flügel hervorkroch und an dem Blitzableiter und den Dachrinnen auf die Straße hinabglitt.

Bald stand er auf einem großen Marktplatz, der vor der Kirche lag. Er war mit spitzigen Steinen gepflastert, und es war für ihn ebenso schwer dort zu gehen wie für Erwachsene auf einer Wiese voller Erderhöhungen. Leuten, die in der Einöde hausen oder weit draußen auf dem Lande wohnen, wird immer unheimlich zumute, wenn sie in eine Stadt kommen, wo die Häuser schnurgerade stehen und die Straßen offen liegen, so daß ein jeder den sehen kann, der darin geht. Und so erging es jetzt dem Jungen. Als er auf dem großen Karlskronaer Marktplatz stand, und die deutsche Kirche und das Rathaus und die große Kirche sah, von der er eben herabgestiegen war, da konnte er sich nicht enthalten, zu wünschen, daß er wieder oben auf dem Turm bei den Gänsen sein könne.

Zum Glück war es ganz leer auf dem Marktplatz. Da war kein Mensch, wenn man nicht eine Statue mitrechnen will, die auf einem erhöhten Sockel stand. Der Junge sah die Statue lange an, sie stellte einen großen, starkknochigen Mann dar mit dreieckigem Hut, langem Rock, Kniehosen und dicken Schuhen. Er grübelte nach, wer das wohl sein könne. Der Mann hatte einen langen Stock in der Hand und sah auch wohl aus, als ob er ihn gebrauchen könne, denn er hatte ein schrecklich strenges Gesicht mit einer großen, krummen Nase und einem häßlichen Mund.

»So eine Langlippe!« sagte der Junge. »Was will der Kerl hier?« Nie war er sich selbst so klein und elend vorgekommen wie an diesem Abend. Er suchte sich Mut zu machen, indem er ein flottes Wort sagte. Dann dachte er nicht mehr an die Statue, sondern ging eine breite Straße hinab, die an die See führte.

Aber er war noch nicht weit gegangen, als er hörte, daß jemand hinter ihm drein kam. Es ging einer hinter ihm und stampfte mit schweren Schritten und stieß mit einem eisenbeschlagenen Stock hart auf das Pflaster. Es klang so, als sei es der große Bronzemann vom Marktplatz selber, der sich auf die Wanderschaft begeben hatte.

Der Junge lauschte den Schritten, während er die Straße hinabging, und er wurde immer mehr davon überzeugt, daß es der Bronzemann war. Die Erde bebte und die Häuser zitterten. Kein anderer als er konnte so schwer auftreten, und der Junge wurde bange und dachte daran, was er eben noch zu ihm gesagt hatte. Er wagte nicht, den Kopf umzudrehen, um zu sehen, ob er es wirklich sei.

»Vielleicht geht er nur zu seinem Vergnügen spazieren,« dachte der Junge. »Er kann doch unmöglich böse auf mich sein, weil ich das vorhin sagte. Ich habe ja nichts Böses damit gemeint.«

Statt geradeaus zu gehen und den Versuch zu machen, zur Werft hinabzugelangen, bog der Junge in eine Straße ein, die nach Osten führte. Vor allen Dingen mußte er dem entkommen, der ihm folgte.

Aber gleich darauf hörte er den Bronzemann in dieselbe Straße einbiegen, und der Junge wurde so bange, daß er sich nicht zu helfen wußte. Und wie schwer war es doch, ein Versteck in einer Stadt zu finden, wo alle Türen geschlossen waren! Da sah er zu seiner Rechten eine alte hölzerne Kirche, die ein wenig abseits von der Straße in einer großen Gartenanlage lag. Er besann sich keinen Augenblicks sondern stürzte auf die Kirche zu. »Gelange ich nur dahin, so bin ich gegen alles Böse beschützt,« dachte er.

Wie er so davonlief, gewahrte er plötzlich einen Mann, der mitten im Kiesgang stand und ihm zuwinkte. »Das ist gewiß einer, der mir helfen will,« dachte der Junge, freute sich sehr und eilte dahin. Er war wirklich so bange, daß ihm das Herz heftig in der Brust schlug.

Aber als er zu dem Manne hinkam, der auf einem Sockel hart an dem Kiesgang stand, wurde er ganz stutzig. »Der kann mir doch nicht gewinkt haben,« dachte er, denn er sah, daß der ganze Mann aus Holz war.

Er blieb stehen und starrte ihn an. Es war ein vierschrötiger, kurzbeiniger Mann mit einem breiten, rotscheckigen Gesicht, blankem, schwarzem Haar und einem schwarzen Vollbart. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen, hölzernen Hut, auf dem Leibe einen braunen, hölzernen Rock, um die Taille einen schwarzen, hölzernen Gürtel, an den Beinen weite, graue, hölzerne Kniehosen und hölzerne Strümpfe und an den Füßen schwarze, hölzerne Stiefel. Er war frisch gemalt und frisch lackiert, so daß er im Mondschein schimmerte und glitzerte, was vielleicht dazu beitrug, ihm einen gutmütigen Ausdruck zu verleihen, so daß der Junge sofort Vertrauen zu ihm faßte.

Er stand mit einer hölzernen Tafel in der linken Hand da, und auf der Tafel las der Junge:

So herzlich flehe ich dich an,
Wenn auch nur matt ist meine Stimm‘:
Leg‘ einen Schilling nieder hier,
Doch meinen Hut erst ab mir nimm!

Ach so, der Mann war also nichts weiter als eine Armenbüchse! Der Junge war enttäuscht. Er hatte sich etwas Merkwürdigeres hiervon versprochen. Und nun fiel ihm ein, daß der Großvater auch von einem hölzernen Mann erzählt und gesagt hatte, daß alle Kinder in Karlskrona ihn so liebten. Und das verhielt sich offenbar wirklich so, denn auch ihm wurde es schwer, sich von dem hölzernen Mann zu trennen. Er hatte etwas so Altmodisches an sich, daß man ihn gut mehrere hundert Jahre alt halten konnte, und doch sah er so stark und keck und lebensfroh aus, gerade so, wie man sich vorstellt, daß die Leute in alten Zeiten ausgesehen haben.

Es belustigte den Jungen so sehr, den hölzernen Mann anzusehen, daß er den andern, vor dem er geflohen war, ganz darüber vergaß. Aber jetzt hörte er ihn. Er bog von der Straße ab und gelangte auf den Kirchhof. Auch dort kam er hinter ihm drein. Was sollte der Junge doch nur anfangen?

Im selben Augenblick sah er, wie der hölzerne Mann sich zu ihm hinabbeugte und seine große, breite Hand ausstreckte. Es war unmöglich, ihm etwas Böses zuzutrauen, und mit einem Satz stand der Junge auf der flachen Hand. Und der hölzerne Mann hob ihn an seinen Hut und steckte ihn darunter.

Kaum war der Junge versteckt, und kaum hatte der hölzerne Mann seinen Arm wieder an Ort und Stelle, als der Bronzemann vor ihm stehen blieb und seinen Stock hart auf die Erde stieß, so daß der hölzerne Mann auf seinem Sockel erbebte. Und dann sagte der Bronzemann mit starker, gellender Stimme: »Was für einer ist Er?«

Der Arm des hölzernen Mannes fuhr in die Höhe, so daß es in dem alten Holzwerk krachte, und er griff an die Hutkrempe, als er antwortete: »Rosenbom, mit Ew. Majestät Erlaubnis. Seinerzeit Oberbootsmann auf dem Linienschiff Kühnheit, nach beendetem Kriegsdienst Kirchendiener an der Admiralitätskirche, jetzt, zuletzt, in Holz geschnitzet und als Armenbüchse auf dem Kirchhof aufgestellet.«

Es durchzuckte den Jungen, als er den hölzernen Mann Ew. Majestät sagen hörte. Denn jetzt, als er nachdachte, wußte er sehr wohl, daß die Statue auf dem Marktplatz den Gründer der Stadt vorstellte. Es war kein Geringerer als Karl der Elfte in höchsteigener Person, mit dem er aneinandergeraten war.

»Er gibt klaren Bescheid,« sagte der Bronzemann, »Kann Er mir nun auch sagen, ob Er einen kleinen Knirps gesehen hat, der zu nächtlicher Zeit in der Stadt herumläuft? Es ist eine naseweise Canaille, und wenn ich seiner nur habhaft werden kann, will ich ihn schon Mores lehren.« Und dann stieß er noch einmal mit dem Stock auf die Erde und sah fürchterlich zornig aus.

»Ich habe ihn gesehen, mit Ew. Majestät Erlaubnis,« sagte der hölzerne Mann, und der Junge wurde so bange, daß er in seinem Versteck unter dem Hut zitterte. Er konnte den Bronzemann durch einen Riß im Holz sehen. Aber er beruhigte sich wieder, als der hölzerne Mann fortfuhr: »Ew. Majestät sind auf falscher Spur. Der Junge hatte offenbar die Absicht, nach der Werft zu laufen und sich dort zu verstecken.«

»Sagt Er das, Rosenbom? Aber dann darf Er nicht länger ruhig auf seinem Sockel stehen. Komme Er lieber mit und helfe Er mir, ihn suchen. Vier Augen sehen mehr als zwei, Rosenbom.«

Aber der hölzerne Mann antwortete mit kläglicher Stimme: »Ich bitte untertänigst, daß ich stehenbleiben darf, wo ich stehe. Ich bin frisch angemalt, und daher sehe ich neu und glänzend aus, aber ich bin alt und gebrechlich und kann es nicht vertragen, mich zu rühren.«

Der Bronzemann gehörte nicht zu den Leuten, die Widerspruch dulden. »Was sind das für Ausflüchte? Will Er nicht sofort mitkommen, Rosenbom!« Und er erhob seinen langen Stock und versetzte dem andern einen Schlag auf den Rücken, so daß es dröhnte. »Sieht Er wohl, daß Er noch hält, Rosenbom?«

Damit machten sie sich auf den Weg und schritten groß und mächtig die Straßen von Karlskrona dahin, bis sie an ein hohes Tor gelangten, das zur Werft führte. Draußen ging ein Matrose von der Flotte Wache, aber der Bronzemann schritt nur an ihm vorüber und stieß das Tor mit dem Fuß auf, ohne daß der Matrose es zu sehen schien.

Sobald sie auf die Werft gekommen waren, sahen sie einen großen und breiten Hafen vor sich, der mit Bollwerken abgeteilt war. In den verschiedenen Hafenbassins lagen Kriegsschiffe und sahen hier aus der Nähe viel größer und schreckeinflößender aus als vorhin, da der Junge sie von oben herab gesehen hatte. »Es war gar nicht so dumm, zu glauben, daß es Seegeister seien,« dachte er.

»Wo, meint Er, ist es am vernünftigsten, mit dem Suchen zu beginnen, Rosenbom?« fragte der Bronzemann.

»So ein kleiner Wicht könnte sich wohl am ersten in dem Modellsaal verstecken,« antwortete der hölzerne Mann.

Auf einem schmalen Streifen Land, der sich rechts vom Torweg an dem ganzen Hafen entlang erstreckte, lagen einige altmodische Gebäude. Der Bronzemann ging auf ein Haus mit niedrigen Mauern, kleinen Fenstern und einem hohen Dach zu. Er stieß mit seinem Stock gegen die Tür, so daß sie aufsprang und trampelte eine Treppe mit ausgetretenen Stufen hinauf. Dann kamen sie in einen großen Saal, der mit aufgetakelten und vollgerickten kleinen Schiffen angefüllt war. Der Junge begriff, ohne daß es ihm jemand sagte, daß dies Modelle von den für die schwedische Flotte erbauten Schiffen waren.

Da waren Schiffe von mancherlei Art. Da waren alte Linienschiffe, die Seiten mit Kanonen gespickt, mit hohen Überbauten vorne und achtern und mit Masten, die beschwert waren von einem Wirrwarr aus Segeln und Tauwerk. Da waren kleine Schärenfahrzeuge mit Ruderbänken längs der Schiffsseiten, da waren Kanonenboote ohne Deck und reichvergoldete Fregatten, die Modelle zu denjenigen, die von den Königen auf ihren Reisen benutzt waren. Endlich waren da auch die schweren, breiten Panzerschiffe mit Türmen und Kanonen an Deck, wie sie heutzutage gebraucht werden, und schmale, blanke Torpedoboote, die langen, dünnen Fischen glichen.

Als der Junge zwischen all diesem herumgetragen wurde, war er sehr verwundert.

»Nein, daß wir hier in Schweden so schöne, große Schiffe gebaut haben!« dachte er bei sich.

Er hatte gute Zeit, sich alles anzusehen, was da drinnen war, denn als der Bronzemann die Modelle sah, vergaß er alles andere. Er betrachtete sie alle, vom ersten bis zum letzten, und stellte Fragen darüber. Und Rosenbom, der Oberbootsmann auf der Kühnheit, erzählte alles, was er von den Baumeistern der Schiffe wußte und von denen, die sie geführt hatten, und was ihr Los gewesen war. Er erzählte von Chapman und von Puke und Trolle, von Hogland und Svendsksund bis hinab zu 1809, denn nach jener Zeit war er nicht mehr mit dabei gewesen.

Sowohl er als auch der Bronzemann fanden am meisten Gefallen an den schönen, alten hölzernen Schiffen. Auf die neuen Panzerschiffe verstanden sie sich offenbar nicht so recht.

»Ich merke, Rosenbom weiß nichts von diesen neuen Dingern,« sagte der Bronzemann. »Sehen wir uns deswegen lieber etwas anderes an, denn dies interessiert mich, Rosenbom!«

Es schien, als habe er den Jungen ganz vergessen, und der saß sicher und ruhig oben in dem hölzernen Hut.

Darauf wanderten die beiden Männer durch die großen Werkstättenräume: die Segelmacherwerkstatt und die Ankerschmiede, die Maschinen- und Tischlerwerkstätten. Sie besahen die Mastenkräne und die Docks, die großen Speicher, den Artilleriehof, das Zeughaus, die lange Reiferbahn und das große, verlassene Dock, das in die Klippe gesprengt war. Sie gingen auf die Bollwerke hinaus, wo die Kriegsschiffe vertäut lagen, gingen an Bord derselben und besahen sie wie zwei alte Seebären, staunten und tadelten, und bewunderten und ärgerten sich.

Der Junge saß ganz ruhig unter dem hölzernen Hut und hörte darüber reden, wie man an diesem Ort gekämpft und gearbeitet hatte, um alle die Flotten auszurüsten, die von hier ausgegangen waren. Er hörte, wie man Blut und Leben gewagt, wie man sein letztes Scherflein geopfert hatte, um Kriegsschiffe zu bauen, wie kluge Männer alle ihre Kräfte eingesetzt hatten, um diese Schiffe, die der Schutz des Vaterlandes waren, zu verbessern und zu vervollkommnen. Ein paarmal fehlte nicht viel, daß dem Jungen Tränen in die Augen traten, wenn er von alledem reden hörte. Und er freute sich, daß er so gut Bescheid darüber erhielt.

Zu allerletzt gingen sie in einen offenen Hof hinaus, wo die Gallionsfiguren von den alten Linienschiffen aufgestellt waren. Und etwas Merkwürdigeres hatte der Junge noch nie gesehen, denn diese Figuren hatten mächtige, schreckeinflößende Gesichter. Sie waren groß, dreist und wild, erfüllt von demselben stolzen Geist, der die großen Schiffe ausgerüstet hatte. Sie stammten aus einer andern Zeit als der seinen. Er fühlte sich so klein ihnen gegenüber.

Aber als sie da hinauskamen, sagte der Bronzemann zu dem hölzernen Mann: »Nehm‘ Er jetzt den Hut ab, Rosenbom, vor denen, die hier stehen! Sie sind alle für das Vaterland im Kampf gewesen.«

Und Rosenbom hatte ebenso wie der Bronzemann vergessen, weshalb sie hierhergekommen waren. Ohne sich zu besinnen, nahm er den Hut ab und rief:

»Ich nehme meinen Hut ab vor dem, der den Hafen auserwählte und die Werft gründete und die Flotte neu erschuf, vor dem König, der dies alles ins Leben rief!«

»Danke, Rosenbom! Das war gut gesagt. Rosenbom ist ein Ehrenmann. Aber was ist denn das, Rosenbom?«

Denn da stand Niels Holgersen mitten auf Rosenboms kahlem Scheitel. Aber jetzt war er nicht mehr bange; er nahm seine weiße Mütze ab und rief:

»Hurra! Du sollst leben, Langlippe!«

Der Bronzemann stieß den Stock hart auf die Erde, aber der Junge erfuhr nie, was er zu tun beabsichtigt hatte, denn jetzt ging die Sonne auf, und im selben Augenblick verschwand sowohl der Bronzemann als auch der hölzerne Mann, als seien sie aus Nebel geschaffen. Während er noch dastand und ihnen nachstarrte, flogen die wilden Gänse vom Kirchturm auf und schwebten hin und her über der Stadt. Plötzlich erblickten sie Niels Holgersen, und der große weiße Gänserich schoß aus den Wolken herab und holte ihn.

VII. Die Treppe mit den drei Stufen

Donnerstag, den 31. März.

Am nächsten Tage wollten die wilden Gänse nordwärts durch die Allboer Harde in Smaaland ziehen. Sie sandten Yksi und Kaksi als Späher voraus, aber als diese zurückkamen, sagten sie, alles Wasser sei gefroren und die ganze Erde mit Schnee bedeckt. »Bleiben wir doch lieber, wo wir sind,« sagten die wilden Gänse. »Wir können nicht über ein Land hinfliegen, wo weder Wasser noch Gras ist.« – »Wenn wir bleiben, wo wir sind, müssen wir noch einen ganzen Mondwechsel warten,« sagte Akka. »Es ist besser ostwärts durch Blekinge zu fliegen und zu versuchen, ob wir dann über Smaaland durch die Mörer Harde kommen können, die an der Küste liegt, und wohin der Lenz früh gelangt.«

So flog denn der Junge am nächsten Tage über Bleking hin. Es war ziemlich schlechtes Wetter, aber es war hell. Er war wieder in seiner richtigen Laune und konnte nicht begreifen, was am gestrigen Abend mit ihm vorgegangen war. Jetzt wollte er wahrlich die Reise und das Leben in der Wildnis nicht aufgeben.

Über Bleking lag ein dichter Regennebel. Der Junge konnte nicht sehen, wie es hier aussah. »Ich möchte wohl wissen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Land ist, über das ich hinwegreite,« dachte er und versuchte aus seinem Gedächtnis herauszugraben, was er in der Schule über Bleking gelernt hatte. Aber er wußte eigentlich sehr wohl, daß das nichts nützen konnte, denn er hatte ja in der Regel seine Schulaufgaben nicht gelernt.

Im selben Augenblick sah der Junge die ganze Schule vor sich. Die Kinder saßen an den kleinen Pulten und hoben die Hände in die Höhe, der Lehrer saß auf dem Katheder und sah mißvergnügt aus, und er selber stand oben vor der Karte und sollte eine Frage über Bleking beantworten, aber er konnte kein Wort. Das Gesicht des Lehrers wurde mit jeder Sekunde, die verging, finsterer, und der Junge dachte daran, daß der Lehrer strenger darauf gehalten hatte, daß sie ihre Geographie wußten als irgend etwas anderes. Jetzt stieg er auch vom Katheder herunter, nahm dem Jungen den Zeigestecken weg und schickte ihn auf seinen Platz zurück. »Dies nimmt noch ein Ende mit Schrecken,« dachte der Junge.

Aber der Lehrer trat an eins der Fenster, blieb dort eine Weile stehen und sah hinaus, und dann fing er an zu pfeifen. Jetzt stieg er wieder auf den Katheder hinauf und sagte, er wolle ihnen etwas von Bleking erzählen. Und was er erzählte, war so amüsant, daß der Junge zuhörte. Sobald er nachdachte, konnte er sich jedes Wortes entsinnen.

»Smaaland ist ein hohes Haus mit Tannenbäumen auf dem Dach,« sagte der Lehrer. »Und davor liegt eine breite Treppe mit drei großen Stufen, und die Treppe heißt Bleking.

Es ist eine Treppe, die sich sehen lassen kann. Sie erstreckt sich acht Meilen an der Vorderseite des Smaaländer Hauses entlang, und wer die Treppe ganz hinabgehen will, bis an die Ostsee, der hat vier Meilen zu gehen.

Es ist auch ein tüchtiges Stück Zeit her, seit die Treppe erbaut wurde. Es sind Tage und Jahre vergangen, seit die ersten Stufen aus dem Granit gehauen und eben und glatt gelegt wurden als bequemer Verkehrsweg zwischen Smaaland und der Ostsee.

Da die Treppe so alt ist, kann man wohl begreifen, daß sie jetzt nicht mehr so aussieht wie damals, als sie noch neu war. Ich weiß nicht, wieviel sie sich in jenen Zeiten aus der Reinlichkeit machten, aber sie war zu groß, als daß irgendein Besen auf der Welt sie hätte rein halten können. Nach Verlauf von ein paar Jahren fing eine Menge Moos und Flechten an darauf zu wachsen; welkes Gras und welke Blätter wehten im Herbst darauf herunter und im Frühling stürzten Steine und Kies darauf nieder. Und da das alles liegen blieb, sammelte sich schließlich so viel schwarze Erde auf der Treppe an, daß nicht nur Kräuter und Gras, sondern auch Büsche und große Bäume Wurzeln schlagen konnten.

Es macht sich trotzdem ein großer Unterschied zwischen den drei Treppenstufen geltend. Die oberste, die Smaaland am nächsten liegt, ist zum größten Teil mit magerer Erde und kleinen Steinen bedeckt, und da können natürlich keine andern Bäume wachsen als Weißbirke und Faulbaum und Tanne, die die Kälte da oben auf der Höhe zu ertragen vermögen und mit wenigem zufrieden sind. Man versteht am allerbesten, wie jammervoll und armselig sie ist, wenn man sieht, wie klein die Pflanzen sind, die aus dem Walde genommen und dort gepflanzt wurden, und wie klein die Häuser sind, die sich die Leute dort bauen, und wie weit der Weg zwischen den einzelnen Kirchen ist.

Auf der mittleren Stufe ist gleich bessere Erde, und die Kälte bindet sie hier auch nicht so strenge; das kann man leicht daran sehen, daß die Bäume höher und von besserer Art sind. Da wächst Ahorn und Eiche und Linde, Hängebirke und Haselstaude, aber keine Nadelbäume. Und noch besser kann man es daran sehen, daß eine Menge Erde urbar gemacht ist und die Leute sich hübsche, große Häuser gebaut haben. Da sind viele Kirchen auf der mittleren Stufe, und sie sind von großen Dörfern umgeben, und diese Stufe nimmt sich nach jeder Richtung hin besser aus als die obere.

Die allerunterste Stufe ist aber doch die beste. Sie ist mit wirklich guter und reichlicher schwarzer Erde bedeckt, und wie sie da so liegt und im Meere schwimmt, spürt sie nicht das geringste von der Smaalandkälte. Hier unten können Buchen und Kastanien und Wallnußbäume gedeihen, und sie werden so groß, daß sie über die Kirchendächer hinüberreichen. Hier findet man auch die größten Felder, aber die Leute haben nicht allein Landwirtschaft und Waldwirtschaft als Erwerb, sie treiben auch Fischerei und Handel und Seefahrt. Deswegen trifft man hier auch die schönsten Kirchen, und die Dörfer sind zu Flecken und Städten herangewachsen.

Hiermit ist aber noch nicht alles über die drei Stufen gesagt. Denn man muß bedenken, daß, wenn es oben auf das Dach des großen Smaalandhauses regnet, oder wenn der Schnee da oben schmilzt, das Wasser notwendigerweise irgendwohin laufen muß, und dann stürzt naturgemäß eine große Menge davon die breite Treppe hinab. Zu Anfang floß es wohl die ganze Treppe in ihrer vollen Breite herunter, aber dann entstanden Risse darin, und jetzt hat sich das Wasser nach und nach daran gewöhnt, in einigen gut vertieften Rinnen abzulaufen. Und Wasser ist Wasser, was man auch damit macht. Es ist nie in Ruhe. Irgendwo gräbt und höhlt es und führt mit sich fort, und an einer andern Stelle fügt es hinzu. Die Rinnen hat es zu Tälern ausgegraben, die Talwände hat es mit Erde bedeckt, und daran haben sich Büsche und Ranken und Bäume festgeklammert, so dicht und so reich, daß sie fast den Strom verbergen, der unten in der Tiefe fließt. Aber wenn die Ströme zu den Absätzen zwischen den Stufen gelangen, müssen sie sich kopfüber auf sie hinabstürzen und dadurch gerät das Wasser in eine so brausende Geschwindigkeit, daß es Kräfte erlangt, Mühlräder und Maschinen zu treiben, und deren sind auch viele dort bei jedem Wasserfall emporgewachsen.

Hiermit ist jedoch nicht alles über das Land mit den drei Stufen gesagt. Das aber soll noch gesagt werden, daß da oben in Smaaland in dem großen Haus einstmals ein Riese wohnte, der alt geworden war. Und es ergrimmte ihn, daß er in seinem hohen Alter gezwungen sein sollte, die lange Treppe hinabzugehen, um in der See Lachs zu fischen. Er fand, es sei bequemer, wenn die Lachse zu ihm hinaufkämen, da, wo er wohnte.

Deswegen stieg er auf das Dach seines großen Hauses, und da stand er und warf Steine in die Ostsee hinein. Er warf sie mit großer Kraft, daß sie über ganz Bleking flogen und ins Meer hinabfielen. Und als die Steine fielen, erschrak der Lachs so sehr, daß er aus dem Meer herausstieg, den Strom in Bleking aufwärts flüchtete, durch die Gießbäche dahinstürzte, sich mit großen Sprüngen die Wasserfälle hinaufwarf und erst haltmachte, als er weit drinnen in Smaaland bei dem alten Riesen angelangt war.

Daß dies wahr ist, kann man an den vielen kleinen Inseln und Klippen sehen, die an der Küste von Bleking liegen, und die nichts anderes sind als die vielen, großen Steine, die der Riese hinabgeworfen hat.

Man kann es auch daran sehen, daß der Lachs noch heute in die Blekinger Ströme hinaufgeht und sich durch Gießbäche und stilles Wasser ganz bis nach Smaaland hinaufarbeitet.

Aber die Bewohner von Blekinge sind dem Riesen zu großem Dank verpflichtet, denn der Lachsfang in den Strömen und die Steinhauerei in den Schären ist eine Arbeit, die noch heutigen Tages viele von ihnen ernährt.«

III. Wildvogelleben


Im Bauernhofe.

Donnerstag, den 24. März.

Gerade in jenen Tagen trug sich in Schonen eine Begebenheit zu, die sehr viel beredet wurde, ja sogar in die Zeitung kam. Von vielen wurde sie freilich für Erdichtung gehalten, weil sie nicht imstande waren, sie zu erklären.

In einem Nußholz am Ufer des Bombsees war nämlich ein Eichhörnchenweibchen gefangen und nach einem Bauernhof in der Nähe gebracht. Alle im Bauernhöfe, jung wie alt, freuten sich über das schöne kleine Tier mit dem großen Schwanz, den klugen, neugierigen Augen und den niedlichen, kleinen Beinchen. Sie dachten, sie wollten sich den ganzen Sommer an seinen flinken Bewegungen, seiner drolligen Art, Nüsse zu knacken und seinem munteren Spiel ergötzen. Sie setzten sofort einen alten Eichhörnchenkäfig in Ordnung; der bestand aus einem kleinen, grünangemalten Haus und einem Stahldrahtrad. Das kleine Haus, das sowohl eine Tür als auch Fenster hatte, sollte das Eichhörnchen als Eß- und Schlafzimmer haben; deswegen machten sie ein Bett aus welkem Laub für das Tierchen zurecht und setzten eine Schale mit Milch und einige Nüsse dahinein. Aber das Stahldrahtrad sollte es als Spielstube haben, in der es laufen und klettern und die es herumdrehen konnte.

Die Leute meinten, daß sie es sehr schön für das Eichhörnchen eingerichtet hätten und wunderten sich, daß es nicht gedeihen wollte. Es saß im Gegenteil niedergeschlagen und unwirsch in einer Ecke seiner Stube, und von Zeit zu Zeit stieß es einen lauten Klageschrei aus. Es rührte das Essen nicht an und drehte das Rad nicht ein einziges Mal herum. »Es ist gewiß bange,« sagten die Leute auf dem Bauernhof. »Morgen, wenn es sich erst heimischer fühlt, wird es schon essen und spielen.«

Nun traf es sich so, daß die Frauen im Bauernhof Anstalten zu einem Festschmaus trafen, und gerade an dem Tage, als das Eichhörnchen gefangen wurde, fand großes Backen statt. Und entweder hatten sie Unglück mit dem Teig gehabt, so daß er nicht aufgehen wollte, oder auch sie waren langsam bei der Arbeit gewesen, denn sie waren noch lange nach Hereinbruch der Dunkelheit damit beschäftigt.

Es herrschte natürlich großer Eifer und Geschäftigkeit in der Küche, und niemand ließ sich Zeit, daran zu denken, wie es dem Eichhörnchen ergehen mochte. In dem Hause war aber eine alte Frau, die war zu alt, um noch an dem Backen teilzunehmen. Das begriff sie selbst sehr wohl, aber sie mochte doch nicht gern so außerhalb des Ganzen stehen. Sie war betrübt, und deswegen ging sie nicht zu Bett, sondern setzte sich an das Fenster in der Stube und sah hinaus. In der Küche hatten sie der Hitze halber die Tür aufgemacht, so daß der klare Lichtschein auf den Hof hinausströmte. Es war ein Hofplatz mit Gebäuden nach allen Seiten, und es wurde so hell dort, daß die alte Frau die Risse und Löcher im Kalkputz an der Mauer gegenüber erkennen konnte. Sie sah auch den Eichhörnchenkäfig, der gerade an der Stelle hing, auf die der Lichtschein am allerstärksten fiel, und sie beobachtete, wie das Eichhörnchen die ganze Nacht aus seiner Stube in das Rad hinein und aus dem Rad wieder in die Stube sprang, ohne auch nur einen Augenblick zu ruhen. Sie fand, daß das Tier von einer wunderlichen Rastlosigkeit befallen sei, aber sie glaubte natürlich, daß der grelle Lichtschein es wach halte.

Zwischen dem Kuhstall und dem Pferdestall befand sich auf dem Hofe eine große Einfahrt, und die lag so, daß sie ebenfalls beleuchtet wurde. Und als die Nacht bereits ein wenig vorgeschritten war, sah die alte Frau einen kleinen Knirps, der nicht größer war als eine Handbreit, aber Holzschuhe und Lederhosen trug wie ein Arbeitsmann, leise und vorsichtig aus der Einfahrt auf den Hof schleichen. Die alte Frau begriff sofort, daß es der Kobold sei, und sie wurde nicht im geringsten bange. Sie hatte immer gehört, daß er sich dort auf dem Hofe aufhielt, obgleich sie ihn noch nie gesehen hatte, und ein Kobold hatte ja Glück im Gefolge, wo er sich zeigte.

Sobald der Kobold auf den gepflasterten Hof gekommen war, lief er geradeswegs auf den Eichhörnchenkäfig zu, und da der so hoch hing, daß er ihn nicht erreichen konnte, holte er sich eine Stange aus dem Gerätschaftsschuppen, stellte sie an den Käfig und kletterte daran in die Höhe, wie ein Seemann ein Tau entert. Als er an den Käfig hinaufkam, rüttelte er an der Tür des kleinen grünen Hauses, als wolle er sie öffnen, aber die alte Frau war ganz ruhig, denn sie wußte, daß die Kinder ein Hängeschloß vor die Tür gehängt hatten, aus Furcht, daß die Nachbarjungen versuchen könnten, das Eichhörnchen zu stehlen. Die alte Frau sah, daß, als der Kobold die Tür nicht aufbekommen konnte, das Eichhörnchen in das Stahldrahtrad hinausging. Dort hielt es eine lange Beratung mit dem Kobold ab. Und als der Kobold alles gehört hatte, was das gefangene Tierchen zu erzählen hatte, rutschte er an der Stange herunter und lief zum Tore hinaus.

Die alte Frau dachte, sie würde in dieser Nacht nichts mehr von dem Kobold sehen, aber sie blieb trotzdem am Fenster sitzen. Als eine kleine Weile vergangen war, kam er zurück. Er lief so schnell, daß sie kaum sehen konnte, wie seine Füße den Erdboden berührten, und er eilte auf den Käfig zu. Die alte Frau mit ihren weitsichtigen Augen konnte ihn deutlich sehen, und sie konnte auch sehen, daß er etwas in den Händen trug, aber was es war, konnte sie nicht begreifen. Das, was er in der linken Hand hatte, legte er auf das Steinpflaster, aber das, was er in der rechten hatte, nahm er mit nach dem Käfig hinauf. Hier stieß er mit seinem Holzschuh gegen das kleine Fenster, so daß die Scheibe zerbrach, und dann steckte er das, was er in der Hand hatte, durch das Loch dem Eichhörnchen zu. Darauf ließ er sich wieder hinabgleiten, nahm das, was er an die Erde gelegt hatte, und kletterte auch damit nach dem Käfig hinauf. Und als das getan war, eilte er wieder so hastig von dannen, daß die alte Frau ihm kaum mit den Augen folgen konnte.

Nun aber war an dem Mütterchen die Reihe, nicht mehr still in der Stube sitzen zu können. Ganz leise ging sie auf den Hof hinaus und stellte sich in den Schatten der Pumpe, um auf den Kobold zu warten. Und da war noch eine, die ihn entdeckt hatte und neugierig geworden war, nämlich die Hauskatze. Die kam leise geschlichen und stellte sich an der Mauer auf, gerade ein paar Schritte außerhalb des hellsten Lichtstreifs.

Sie standen beide da und warteten eine ganze Ewigkeit in der kalten Märznacht, und die alte Frau dachte schon daran, wieder hineinzugehen, als sie etwas auf dem Steinpflaster klappern hörte und den kleinen Knirps noch einmal dahergetrabt kommen sah. Ebenso wie vorhin trug er etwas in jeder Hand, und das, was er trug, piepste und zappelte. Und nun ging dem Mütterchen ein Licht auf. Sie begriff, daß der Kobold im Nutzholz gewesen war und die jungen Eichhörnchen geholt hatte, und daß er sie zu der Mutter bracht, damit sie nicht verhungern sollten.

Das Mütterchen stand ganz still, um nicht zu stören, und es schien auch nicht, als wenn der Kobold sie bemerkt hatte. Er wollte gerade das eine Junge an die Erde legen, um mit dem andern nach dem Käfig hinaufzuklettern, als er die grünen Augen der Katze dicht neben sich sah. Ganz ratlos blieb er stehen, ein Junges in jeder Hand.

Er wandte sich um, sah nach allen Seiten aus und gewahrte nun das Mütterchen. Da bedachte er sich nicht lange, sondern ging hin und reichte ihr eins der jungen Eichhörnchen hin.

Und das Mütterchen wollte sich seines Vertrauens nicht unwürdig zeigen, sie beugte sich hinab und nahm das Eichhörnchen entgegen und stand da und hielt es, bis der Kobold mit dem andern nach dem Käfig hinaufgeklettert war und nun kam, um das zu holen, das er ihr anvertraut hatte.

Am nächsten Morgen, als sich die Leute im Bauernhofe um den Morgenimbiß sammelten, konnte die alte Frau ja nicht an sich halten, sie mußte erzählen, was sie in der Nacht gesehen hatte. Und sie lachten natürlich alle zusammen und sagten, das habe sie geträumt. So früh im Jahre gebe es noch gar keine jungen Eichhörnchen.

Sie aber war ihrer Sache sicher und bat sie, im Eichhörnchenkäfig nachzusehen, und das taten sie. Und da lagen auf dem Laubbett in der Stube vier kleine halbnackte und halbblinde Junge, die mindestens ein paar Tage alt waren.

Als der Hausvater die Jungen sah, sagte er: »Es mag nun hiermit sein wie es will, das aber ist gewiß, wir haben uns hier auf dem Hofe so benommen, daß wir uns vor Tieren und Menschen schämen müssen.« Und dann nahm er das Eichhörnchen und alle die Jungen aus dem Käfig heraus und legte sie dem Mütterchen in die Schürze: »Geh du nun mit ihnen in das Nußholz hinaus,« sagte er, »und gib ihnen ihre Freiheit wieder!«

Über diese Begebenheit wurde soviel geredet, und sie kam sogar in die Zeitung. Aber die meisten wollten nicht daran glauben, weil sie sich nicht erklären konnten, wie so etwas geschehen könne.

Vittskövle.

Sonntag, den 26. März.

Ein paar Tage später trug sich ein ebenso sonderbares Ereignis zu. Eine Schar wilder Gänse kamen eines Morgens und ließen sich auf einem Felde drüben in dem östlichen Schonen, nicht weit von dem großen Gut Vittskövle nieder. In der Schar befanden sich dreizehn Gänse von der gewöhnlichen grauen Farbe und ein weißer Gänserich, der einen kleinen Knirps auf dem Rücken trug. Der hatte eine gelbe Lederhose, und eine grüne Weste an und auf dem Kopfe eine weiße Zipfelmütze.

Sie waren nun ziemlich nahe an der Ostsee, und auf dem Felde, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, war der Boden sandig, wie er es an der Küste zu sein pflegt. In der Gegend war allem Anschein nach früher Flugsand gewesen, denn an mehreren Stellen standen große Tannenanpflanzungen, offenbar um den Sand zu halten.

Als die wilden Gänse eine Weile gegrast hatten, kamen ein paar Kinder in der Ackerfurche entlang. Die Gans, die Wache hielt, schwang sich schnell mit klatschendem Flügelschlag in die Luft empor, damit die ganze Schar hören könne, daß Gefahr im Anzuge sei. Alle wilden Gänse flogen auf, aber der weiße Gänserich blieb ganz ruhig grasend auf dem Felde. Als er die andern fliegen sah, hob er den Kopf empor und rief ihnen nach: »Ihr braucht wirklich vor denen da nicht zu entfliehen. Es sind ja nur ein paar Kinder!«

Der kleine Knirps, den der weiße Gänserich auf dem Rücken gehabt hatte, saß auf einem Erdhügel am Waldesrande und zerzupfte einen Tannenapfel, um die Samenkörner herauszubekommen. Die Kinder waren so dicht in seiner Nähe, daß er nicht über das Feld hinüber zu dem weißen Gänserich zu laufen wagte. Er versteckte sich schnell unter einem großen, welken Distelblatt und stieß dabei einen warnenden Ruf aus.

Der Gänserich aber hatte offenbar beschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Er graste ruhig weiter auf dem Felde und achtete nicht einmal darauf, wohin die Kinder gingen.

Die bogen indessen vom Wege ab, gingen über das Feld und näherten sich dem Gänserich. Als der endlich aufsah, waren sie ganz in seiner Nähe, und nun erschrak er so und war so verwirrt, daß er ganz sein Fliegen vergaß und zu laufen anfing, um ihnen zu entkommen. Die Kinder folgten hinterdrein, jagten ihn in einen Graben und fingen ihn. Das größere von den beiden steckte ihn unter den Arm und ging mit ihm davon.

Als der Knirps, der unter dem Distelblatt saß, das sah, fuhr er in die Höhe, als wolle er den Kindern den Gänserich entreißen. Aber dann fiel ihm ein, wie klein und machtlos er war, und er warf sich statt dessen auf den Erdhügel nieder und schlug mit geballten Fäusten in die Erde hinein, ganz außer sich.

Der Gänserich schrie aus Leibeskräften um Hilfe: »Däumling, komm und hilf mir! Däumling, komm und hilf mir!« Aber da mußte der Junge doch mitten in all seinem Kummer lachen. »Ja, ich bin wohl der Rechte, jemand zu helfen!« sagte er.

Die Kinder hatten einen großen Vorsprung, aber dem Jungen wurde es nicht schwer, sie im Auge zu behalten, bis er an eine Vertiefung im Boden gelangte, wo ein Bach dahergebraust kam. Der war weder breit noch tief, aber er war trotzdem gezwungen, am Ufer entlang zu laufen, bis er eine Stelle fand, wo er hinüberspringen konnte.

Als er aus der kleinen Schlucht herauskam, waren die Kinder verschwunden. Aber er konnte ihre Spuren auf einem schmalen Steig sehen, der in den Wald führte, und er fuhr fort, sie zu verfolgen.

Bald kam er jedoch an einen Fahrweg, und hier mußten die Kinder sich getrennt haben, denn da waren Spuren nach zwei Richtungen hin. Nun war der Knirps nahe daran, den Mut zu verlieren.

Im selben Augenblick aber sah er auf einem Heidehügel eine kleine weiße Daune. Er verstand nun, daß der Gänserich die am Wegesrande hatte fallen lassen, um ihm zu zeigen, nach welcher Seite er gebracht war, und er setzte deswegen seinen Weg fort. Und dann folgte er den Kindern durch den ganzen Wald. Von dem Gänserich sah er nichts, aber überall, wo er unsicher in bezug auf den Weg sein konnte, lag eine kleine, weiße Daune und zeigte ihn zurecht.

Der Knirps folgte getreulich den Daunen. Sie führten ihn zum Walde hinaus, über ein paar Felder, einen Weg entlang und schließlich eine Allee hinauf bis an ein Schloß. Am Ende der Allee konnte man einen Schimmer von Giebeln und Türmen und roten Steinen sehen, die mit hellen Streifen und Ornamenten geschmückt waren. Als der Knirps sah, daß da ein Schloß lag, konnte er sich wohl denken, was aus dem Gänserich geworden war. »Die Kinder sind gewiß mit dem Gänserich nach dem Schloß gegangen und haben ihn verkauft, und dann wird er wohl schon geschlachtet sein,« sagte er zu sich selbst. Aber er wollte sich nicht beruhigen, ehe er richtigen Bescheid hatte, und lief noch eifriger weiter. Er begegnete niemand in der Allee, und das war ja gut. Denn alle, die von seiner Art sind, pflegen sich davor zu fürchten, von Menschen gesehen zu werden.

Das Schloß, zu dem er kam, war ein prächtiges, altes Gebäude. Es bestand aus vier Flügeln mit einem Burghof in der Mitte. An der Ostseite befand sich eine tiefe Torwölbung, die auf den Burghof führte. Soweit lief der Knirps, ohne sich zu bedenken, als er aber dahin gekommen war, blieb er stehen. Er wagte nicht, sich weiter zu begeben, sondern stand still und dachte darüber nach, was er nun tun sollte.

Er stand noch mit dem Finger an der Nase da, als er Schritte hinter sich hörte, und als er sich umwandte, sah er eine ganze Schar Menschen die Allee hinaufkommen. Schnell schlüpfte er hinter eine Wassertonne, die zufällig dicht neben dem Tor stand, und verbarg sich dort.

Was ihn so erschreckt hatte, waren ungefähr zwei Dutzend junger Leute von einer Hochschule; sie befanden sich in Begleitung eines Lehrers auf einer Fußwanderung, und als sie das Tor erreicht hatten, hieß er sie dort warten, während er hineinging und fragte, ob sie die alte Burg Vittskövle besehen könnten.

Die Neuangekommenen waren erhitzt und müde, als wenn sie weit gegangen wären. Einer von ihnen war so durstig, daß er an die Wassertonne trat und sich hinabbeugte, um zu trinken. Er hatte eine Botanisiertrommel auf dem Rücken und meinte offenbar, daß sie ihm hinderlich sei, denn er warf sie ab. Dadurch tat sich der Deckel auf, und man konnte sehen, daß einige Frühlingsblumen darin lagen.

Die Botanisiertrommel fiel dem Knirps gerade vor die Füße, und er fand, daß dies eine vorzügliche Gelegenheit sei, ins Schloß hinein zu gelangen und zu entdecken, wo der Gänserich geblieben war. Schnell schlüpfte er in die Botanisiertrommel und versteckte sich, so gut er konnte, unter Anemonen und Huflattich.

Kaum war es ihm gelungen, sich zu verbergen, als der junge Mann die Botanisierkapsel aufnahm, sie sich auf den Rücken hängte und den Deckel zuklappte.

Der Lehrer kam jetzt zurück und sagte, sie hätten die Erlaubnis erhalten, das Schloß zu besichtigen. Vorerst führte er sie jedoch nur auf den Burghof. Dort blieb er stehen und erzählte ihnen von dem alten Gebäude.

Schließlich ging die ganze Gesellschaft in das Schloß, aber wenn der Knirps gehofft hatte, daß er Gelegenheit haben würde, aus der Botanisiertrommel herauszuschlüpfen, so sah er sich getäuscht, denn der Schüler behielt die Botanisiertrommel auf dem Rücken, und der Knirps mußte alle Stuben mit durchwandern.

Es war eine langweilige Wanderung. Jeden Augenblick blieb der Lehrer stehen, um zu erklären und zu erzählen. Er beeilte sich wahrlich nicht. Aber er wußte ja auch nicht, daß ein armes kleines Wurm in einer Botanisierkapsel verborgen lag und sich nur danach sehnte, daß er aufhören sollte.

Schließlich ging der Lehrer wieder in den Burghof hinaus und blieb abermals stehen und sprach zu den Schülern.

Aber die Rede brauchte der Knirps nicht mit anzuhören, denn der Schüler, der ihn trug, war wieder durstig geworden und schlich in die Küche hinaus, um einen Trunk Wasser zu erbitten. Als sie da hinein kamen, fiel dem Knirps ein, daß der Gänserich hier gewiß sein mußte. Er fing an, sich zu rühren, und dabei drückte er unversehens zu stark gegen den Deckel, so daß der aufsprang. Aber die Deckel von Botanisiertrommeln springen ja immer auf, und der Schüler dachte nicht weiter daran, und drückte ihn nur wieder zu; die Köchin fragte jedoch, ob er eine Schlange darin habe. »Nein, ich habe nur einige Pflanzen,« antwortete der Schüler. »Aber es rührte sich doch etwas darin,« behauptete die Köchin. Der Schüler öffnete den Deckel ganz weit, um ihr zu zeigen, daß sie irre. »Da können Sie selbst sehen, daß …«

Aber weiter kam er nicht, denn nun wagte der Knirps nicht länger, in der Botanisiertrommel zu bleiben, mit einem Satz war er an der Erde und stürzte zur Küche hinaus. Die Mägde hatten kaum gesehen, was es war, das da lief, aber sie rannten hinterdrein.

Der Lehrer stand noch da und redete, als er durch laute Rufe unterbrochen wurde: »Fangt ihn! Fangt ihn!« riefen alle, die aus der Küche kamen, und die sämtlichen jungen Leute jagten hinter dem Knirps drein, der schneller lief als eine Maus. Sie versuchten, ihn zu fangen, indem sie von der andern Seite in das Tor hineinliefen, aber es war nicht so leicht, jemand zu erwischen, der so klein war, und er gelangte glücklich ins Freie hinaus.

Der Knirps wagte nicht, die offene Allee hinabzulaufen, sondern bog nach einer andern Seite ab. Er stürzte durch den Garten in den Hinterhof. Die ganze Zeit jagten sie unter Lachen und Rufen hinter ihm drein. Der arme Kleine rannte, so schnell er konnte, aber es sah trotzdem so aus, als wenn sie ihn einholen würden.

Gerade als er an einer kleinen Tagelöhnerwohnung vorüber kam, hörte er eine Gans gackern und sah eine kleine weiße Daune auf der Treppe liegen. Da war er, da war der Gänserich! Er war auf falscher Spur gewesen. Er dachte nicht mehr an Mägde und Knechte, die hinter ihm selber dreinjagten, sondern krabbelte die Treppe hinauf und lief auf den Flur. Weiter konnte er nicht kommen, denn die Tür war geschlossen. Er konnte den Gänserich da drinnen schreien und jammern hören, aber es war ihm nicht möglich, die Tür aufzubekommen. Die wilde Jagd, die hinter ihm her war, kam immer näher, und da drinnen in der Stube schrie der Gänserich immer jammervoller. In dieser höchsten Not faßte der Knirps schließlich Mut und donnerte aus Leibeskräften gegen die Tür.

Ein Kind kam und öffnete, und der Knirps sah sich in der Stube um. Mitten darin saß eine Frau, die den Gänserich festhielt, um ihm die Schwungfedern abzuschneiden. Ihre Kinder hatten den Gänserich gefunden, und sie wollte ihm kein Leides tun.

Sie wollte ihn nur zu ihren eigenen Gänsen hinauslassen, sobald sie ihm die Flügel gestutzt hatte, damit er nicht davonfliegen konnte. Aber es konnte dem Gänserich ja kein größeres Unglück widerfahren, und er schrie und jammerte aus Leibeskräften.

Ein Glück war es, daß die Frau nicht früher angefangen hatte zu schneiden. Jetzt waren nur zwei Federn vor der Schere gefallen, als die Tür aufging und der kleine Knirps auf der Schwelle stand. Aber so einen hatte die Frau noch nie im Leben gesehen. Sie konnte sich nichts anderes denken, als daß es der Koboldenvater in eigener Person sei, und vor Schrecken ließ sie die Schere fallen, schlug die Hände zusammen und vergaß, den Gänserich festzuhalten.

Sobald der sich frei fühlte, lief er nach der Tür. Er ließ sich keine Zeit, still zu stehen, packte aber in der Eile den Knirps beim Hemdbund und nahm ihn mit. Und auf der Treppe breitete er die Flügel aus und hub sich in die Luft empor. Gleichzeitig machte er eine flotte Bewegung mit dem Halse und setzte den Knirps auf seinen glatten Rücken hinauf.

So ging es mit ihnen dahin, in die Luft hinauf, und ganz Vittskövle stand da und starrte ihnen nach.

Im Park von Övedkloster.

Den ganzen Tag, während die Gänse mit dem Fuchs spielten, lag der Junge in einem leeren Eichhörnchennest und schlief. Als er gegen Abend erwachte, war er sehr bekümmert: »Jetzt werde ich bald nach Hause geschickt, und dann läßt es sich ja nicht vermeiden, daß ich mich vor Vater und Mutter sehen lassen muß,« dachte er.

Aber als er die wilden Gänse fand, die auf dem Vombsee lagen und schwammen, sagte keine von ihnen ein Wort davon, daß er fort solle. »Sie finden am Ende, daß der Weiße zu müde ist, um heute abend mit mir nach Hause zu fliegen,« dachte der Junge.

Am nächsten Morgen erwachten die Gänse beim ersten Tagesgrauen, lange vor Sonnenaufgang. Jetzt war der Junge fest überzeugt, daß die Heimreise vor sich gehen müsse, aber sonderbarerweise erhielten der weiße Gänserich und er Erlaubnis, die wilden Gänse auf ihrem Morgenausflug zu begleiten. Der Junge konnte gar nicht begreifen, was der Grund zu dem Aufschub war, aber dann fiel ihm ein, daß die wilden Gänse den Gänserich wohl nicht auf eine weite Reise schicken wollten, ehe er sich ordentlich satt gegessen hatte. Was nun der Grund auch sein mochte, er freute sich über jede Stunde, die verging, ehe er gezwungen war, seine Eltern wiederzusehen.

Die wilden Gänse flogen über das Schloß Övedkloster, das in einem herrlichen Park östlich vom See lag und sich prächtig ausnahm mit seinem schönen, gepflasterten Burghof, umgeben von niedrigen Mauern und Pavillons und seinem feinen, altmodischen Garten mit beschnittenen Hecken, geschlossenen Alleen, Teichen, Springbrunnen, schönen Bäumen und geradlinigen Rasenflächen, die mit bunten Frühlingsblumen eingefaßt waren.

Als die wilden Gänse in der frühen Morgenstunde über das Schloß flogen, war noch kein Mensch auf den Beinen. Nachdem sie sich hierüber sorgfältig vergewissert hatten, ließen sie sich über das Hundehaus herniederschweben und riefen: »Was ist das für eine kleine Hütte? Was ist das für eine kleine Hütte?«

Augenblicklich kam der Kettenhund aus seinem Haus, wütend und zornig, und bellte in die Luft hinauf.

»Nennt ihr das eine Hütte, ihr Landstreicher? Seht ihr denn nicht, daß es ein hohes Schloß aus Steinen ist? Seht ihr denn nicht, was für schöne Mauern es hat, seht ihr nicht, wie viele Fenster es hat, und große Tore und eine prachtvolle Terrasse? Wau, wau, wau! Also das nennt ihr eine Hütte? Seht ihr nicht den Hof? Seht ihr nicht den Garten, seht ihr nicht die Treibhäuser, seht ihr nicht die Marmorsäulen? Nennt ihr das eine Hütte? Pflegen die Hütten einen Park zu haben, in dem Buchenwälder sind und Nußhaine und Waldwiesen und Eichenhaine und Tannenschonungen und ein Tiergarten voll von Rehen, wau, wau, wau? Nennt ihr das eine Hütte? Habt ihr jemals Hütten gesehen, die so viele Wirtschaftsgebäude rings umher haben, daß es aussieht wie ein ganzes Dorf? Kennt ihr viele Hütten, die eine eigene Kirche haben und einen Pfarrhof, und die über Rittergüter und Bauernhöfe und Pachterhöfe und Häuslereien gebieten? Wau, wau, wau! Nennt ihr das eine Hütte? Zu dieser Hütte gehört das größte Gut in Schonen, ihr Lumpengesindel. Da, wo ihr in den Wolken hängt, könnt ihr kein Fleckchen Erde sehen, das nicht unter dieser Hütte steht. Wau, wau, wau!«

Dies alles rief der Hund in einem Atemzug, und die Gänse flogen über dem Schloß hin und her und hörten ihm zu, bis er gezwungen war, Atem zu schöpfen. Dann aber schrien sie: »Warum ereiferst du dich so? Wir fragten ja gar nicht nach dem Schloß, wir fragten nur nach deinem Hundehaus.«

Als der Junge diese Späße hörte, lachte er anfänglich, dann aber ergriff ihn ein Gedanke, der ihn plötzlich ernsthaft machte: »Denk doch, wieviel Kurzweiliges würdest du zu hören bekommen, wenn du mit den Gänsen durch das ganze Land fliegen dürftest, bis hinauf nach Lappland,« sagte er zu sich selbst. »Wenn du doch in das Unglück geraten bist, so wäre eine solche Reise das beste, was dir widerfahren könnte.«

Die wilden Gänse flogen auf eins der großen Felder östlich von dem Schloß, um Graswurzeln zu fressen, und damit beschäftigten sie sich stundenlang. Währenddessen ging der Junge in den großen Park hinein, der an das Feld stieß und guckte in die Büsche hinauf, um zu sehen, ob da nicht ein paar Nüsse vom Herbst her hängengeblieben sein sollten. Aber wie er da so im Park umherging, kehrte immer wieder derselbe Gedanke zu ihm zurück. Er malte sich aus, wie lustig es sein würde, wenn er mit den wilden Gänsen fliegen könnte. Hungern und frieren würde er wohl manch liebes Mal, aber dafür brauchte er dann ja auch nicht zu arbeiten und zu lernen.

Als er dort ging, kam die alte, graue Führergans auf ihn zu und fragte, ob er genug zu essen gefunden habe. Nein, sagte er, er hätte nichts gefunden. Da suchte sie ihm zu helfen. Nüsse konnte sie auch nicht finden, aber sie entdeckte ein paar Hagebutten, die an einem wilden Rosenbusch hingen. Der Junge verzehrte sie mit gutem Appetit, konnte aber nicht umhin, zu denken, was seine Mutter sagen würde, wenn sie wüßte, daß er jetzt von rohem Fisch und von alten überjährigen Hagebutten lebte.

Als sich die wilden Gänse endlich satt gegessen hatten, zogen sie wieder an den See hinab und belustigten sich bis gegen Mittag mit Spielen. Sie forderten den weißen Gänserich auf allen möglichen Sportgebieten zum Wettstreit auf. Sie schwammen um die Wette, liefen um die Wette und flogen um die Wette mit ihm. Der große Zahme tat sein Bestes, wurde aber stets von den flinken wilden Gänsen geschlagen.

Der Junge saß während der ganzen Zeit auf dem Rücken des Gänserichs und ermunterte ihn und amüsierte sich ebensogut wie die andern. Das war ein Schreien und ein Gackern und ein Lachen, und es war wirklich unbegreiflich, daß die Leute im Schloß es nicht hörten.

Als die wilden Gänse des Spielens überdrüssig waren, flogen sie auf das Eis hinaus, um ein paar Stunden zu ruhen. Den Nachmittag verbrachten sie ungefähr auf dieselbe Weise wie den Vormittag. Zuerst ein paar Stunden Grasen, dann Baden und Spielen im Wasser am Rande des Eises bis Sonnenuntergang, worauf sie sich gleich zum Schlafen hinsetzten.

»Das wäre gerade so ein Leben, wie es mir passen würde,« dachte der Junge, als er unter den Flügel der Gans kroch. »Aber morgen werde ich gewiß nach Hause geschickt.«

Ehe er einschlief, lag er da und dachte darüber nach, daß, wenn er Erlaubnis erhielt, mit den Wildgänsen zu reisen, er um die Schelte hinwegkam, weil er so faul war. Dann konnte er sich den ganzen Tag umhertreiben und hatte keine andern Sorgen, als, wie er sich etwas zu essen beschaffte. Aber er hatte für den Augenblick ja nur so wenig nötig, damit würde er schon fertig werden.

Und dann malte er sich alles aus, was er zu sehen bekommen würde, und die vielen Abenteuer, die er erleben sollte. Ja, das war etwas anderes, als all die Arbeit und Mühe daheim. »Dürfte ich nur die wilden Gänse auf ihrer Reise begleiten, so wollte ich mich nicht darum quälen, daß ich verhext bin,« dachte der Junge.

Das einzige, wovor er sich fürchtete, war, daß er nach Hause geschickt werden würde, aber auch am Mittwoch sagten die Gänse nichts davon, daß er reisen solle. Dieser Tag verging in gleicher Weise wie der Dienstag, und das Leben in der Wildnis gefiel dem Jungen immer besser. Er meinte, er habe den einsamen Park von Övedkloster, der so groß war wie ein Wald, ganz für sich allein, und er sehnte sich nicht zurück nach dem engen Haus und den kleinen Feldern daheim.

Am Mittwoch glaubte er, daß die wilden Gänse die Absicht hatten, ihn bei sich zu behalten, aber am Donnerstag gab er die Hoffnung wieder auf.

Der Donnerstag begann in derselben Weise wie die andern Tage. Die Gänse weideten auf den großen Feldern, und der Junge suchte sich Nahrung im Park. Als er dort eine Weile gewesen war, kam Akka zu ihm hin und fragte, ob er etwas Eßbares gefunden habe. Nein, er hatte nichts gefunden, und da suchte sie ihm eine welke Kümmelpflanze, die alle ihre kleinen Früchte noch unversehrt bei sich trug.

Nachdem der Junge gegessen hatte, sagte Akka, sie fände, er laufe zu kühn im Park herum. Ob er wohl wisse, vor wie vielen Feinden er sich in acht nehmen müsse, er, der so klein sei. Nein, das wußte er nicht, und dann begann Akka, sie ihm aufzuzählen.

Wenn er in den Wald ging, sagte sie, müsse er sich vor dem Fuchs und dem Marder in acht nehmen, wenn er an den See hinabkam, müsse er an die Ottern denken, saß er auf dem Steinwall, dürfe er das Wiesel nicht vergessen, das durch die kleinsten Löcher schlüpfen könne, und wenn er sich in einem Haufen welker Blätter zur Ruhe legen wollte, müsse er erst nachsehen, ob nicht die Natter ihren Winterschlaf in demselben Blätterhaufen halte. Sobald er auf das offene Feld hinauskam, müsse er auf Habicht und Bussard, auf Adler und Falken achten, die alle oben in den Wolken schwebten. Im Nußholz könne er von dem Sperber gefangen werden; Elstern und Krähen gab es überall, und denen sollte er nicht zu sehr trauen, und sobald die Dämmerung hereinbrach, müsse er die Ohren gut aufmachen und nach den großen Eulen horchen, die mit so lautlosem Flügelschlag geflogen kommen, daß sie ihm ganz nahe kommen konnten, ehe er sie bemerkte.

Als der Junge hörte, daß es so viele gab, die ihm nach dem Leben trachteten, konnte er wohl einsehen, daß er es ganz unmöglich behalten durfte. Er fürchtete sich nicht so schrecklich davor, zu sterben, aber er hatte keine Lust, aufgefressen zu werden, und deswegen fragte er Akka, was er tun könne, um sich gegen die Raubmörder zu schützen.

Akka antwortete sogleich, der Junge müsse sehen, gut Freund zu werden mit dem kleinen Tiervolk in Feld und Wald, mit dem Eichhörnchenvolk und dem Hasenvolk, mit Finken und Meisen und Spechten und Lerchen. Hätte er die zu Freunden, so konnten sie ihn vor Gefahren warnen, ihm Schlupfwinkel verschaffen und bei drohender Gefahr konnten sie sich zusammenrotten und ihn verteidigen.

Aber als der Junge späterhin am Tage den Rat befolgen wollte und sich an Sirle, das Eichhörnchen, wandte, um seine Hilfe zu erbitten, stellte es sich heraus, daß das Eichhörnchen ihm nicht helfen wollte. »Nein, weiß Gott, du hast nichts Gutes von mir oder den andern kleinen Tieren zu erwarten,« sagte Sirle. »Meinst du, wir wissen nicht, daß du der Gänsejunge Niels bist, der im vorigen Jahr Schwalbennester herunterholte, Stareneier zerschlug, junge Krähen in die Mergelgrube warf, Drosseln und Dohlen fing und Eichkätzchen in ein Bauer steckte. Du mußt dir selbst helfen, so gut du kannst, und du mußt dich freuen, daß wir uns nicht gegen dich zusammenrotten und dich zu deinesgleichen nach Hause jagen!«

Diese Antwort war gerade von der Art, wie sie der Junge, als er noch der Gänsejunge Niels gewesen, nie ungestraft gelassen hätte, aber nun war er bange, daß auch die wilden Gänse erfahren könnten, wie schlimm er gewesen war. Er hatte sich davor gefürchtet, nicht bei den wilden Gänsen bleiben zu dürfen, daß er es gar nicht gewagt hätte, dumme Streiche zu machen, nachdem er in ihre Gesellschaft geraten war. Er konnte ja freilich nicht viel Schaden anrichten, so klein, wie er war, aber er hätte ja doch viele Vogelnester zerstören und viele Eier zerschlagen können, wenn er Lust dazu gehabt hätte. Aber nun war er so brav gewesen, er hatte nicht eine einzige Feder aus einem Gänseflügel gezupft, hatte keinem eine unhöfliche Antwort gegeben, und jeden Morgen, wenn er Akka guten Tag sagte, hatte er die Mütze abgenommen und einen Diener gemacht.

Den ganzen Donnerstag dachte er darüber nach, daß ihn die wilden Gänse sicher wegen seiner Boshaftigkeit nicht mit nach Lappland hinaufnehmen wollten. Und als er am Abend hörte, daß Sirle, Eichhörnchens Frau, geraubt war und seine Kinder dem Hungertode nahe waren, beschloß er, ihnen zu helfen, und wie gut ihm das gelang, ist bereits erzählt worden.

Als der Junge am Freitag in den Park hineinkam, hörte er in einem jeden Gebüsch die Buchfinken davon singen, wie Sirle, Eichhörnchens Frau, von bösen Räubern ihren neugeborenen Jungen entführt war, und wie sich der Gänsejunge Niels unter die Menschen gewagt und ihr die kleinen Eichhörnchenkinder gebracht hatte.

»Wer ist nun im Park von Övedkloster so angesehen,« sangen die Buchfinken, »wie Däumling, er, vor dem alle so bange waren, damals, als er noch der Gänsejunge Niels war? Das Eichhörnchen will ihm Nüsse geben, die Hasen wollen mit ihm spielen, die Rehe wollen ihn auf den Rücken nehmen und mit ihm davonlaufen, wenn Reineke Fuchs sich naht, die Meisen wollen ihn vor dem Sperber warnen, und die Finken und Lerchen wollen von seiner Heldentat singen!«

Der Junge war ganz sicher, daß sowohl Akka als auch die wilden Gänse dies alles hörten, aber trotzdem verging der ganze Freitag, ohne daß sie sagten, er könne bei ihnen bleiben.

Bis zum Sonnabend weideten die Gänse auf den Feldern um Öved herum, ungestört durch Reineke Fuchs. Aber am Sonnabendmorgen, als sie auf den Acker hinauskamen, lag er auf der Lauer und folgte ihnen von einem Felde zum andern, so daß sie keine Ruhe zum Fressen finden konnten. Als es Akka klar wurde, daß er nicht die Absicht hatte, sie in Frieden zu lassen, faßte sie schnell ihren Entschluß, schwang sich in die Luft empor und flog mit der ganzen Schar mehrere Meilen weit. Erst in der Nähe von Vittskövle ließ sie sich nieder.

Aber hier bei Vittskövle ereignete es sich, wie bereits erzählt ist, daß der weiße Gänserich gestohlen wurde. Hätte nicht der Junge alle seine Kräfte eingesetzt, um ihm zu helfen, so wäre er nie wieder zum Vorschein gekommen.

Als der Junge am Sonnabendabend mit dem Gänserich wieder an den Bombsee zurückkam, fand er, daß er ein gutes Tagewerk getan hatte, und war sehr neugierig, was Akka und die wilden Gänse sagen würden. Und die wilden Gänse kargten keineswegs mit Lob, aber das, was zu hören er sich sehnte, sagten sie nicht.

Dann wurde es wieder Sonntag. Eine ganze Woche war vergangen, seit der Junge verhext wurde, und er war noch immer ebenso klein.

Aber er schien sich die Sache nicht zu Herzen zu nehmen. Am Sonntagnachmittag saß er tief drinnen in einem großen Weidenbusch unten am See und blies auf einer Rohrflöte. Rings um ihn herum saßen so viele Meisen und Buchfinken und Stare, wie der Busch nur fassen konnte, und zwitscherten Lieder, die er nachzuspielen bemüht war. Aber der Junge war nicht sonderlich bewandert in der Kunst und blies so falsch, daß sich allen den kleinen Singemeistern die Federn sträubten, und sie schrien und schlugen verzweifelt mit den Flügeln. Der Junge lachte so herzlich über ihren Eifer, daß er die Flöte fallen ließ.

Er fing wieder von vorne an, es ging aber so schlecht, daß die kleinen Vögel jammerten: »Heute spielst du noch schlechter als sonst, Däumling. Du bläst keinen richtigen Ton. Wo hast du nur deine Gedanken, Däumling?«

»Die sind anderswo,« sagte der Junge, und so war es auch. Er saß da und dachte daran, wie lange er wohl noch Erlaubnis erhielt, bei den wilden Gänsen zu bleiben, – ob er am Ende noch am heutigen Tage nach Hause geschickt werden würde.

Plötzlich warf der Junge die Flöte hin und sprang von dem Busch herunter. Er hatte Akka und alle Gänse in einer langen Reihe auf sich zukommen sehen. Sie gingen so ungewöhnlich langsam und feierlich, daß der Junge sofort dachte, jetzt würde er wohl erfahren, was sie mit ihm zu tun gedächten.

Als sie endlich still standen, sagte Akka: »Du kannst allen möglichen Grund haben, dich über mich zu wundern, Däumling, weil ich dir nicht gedankt habe, als du mich von Reineke Fuchs errettetest. Aber ich gehöre zu denen, die lieber durch die Tat als mit Worten danken. Und nun, glaube ich, ist es mir gelungen, dir einen großen Dienst zu leisten, Däumling! Ich habe zu dem Kobold geschickt, der dich verhext hat. Anfangs wollte er nichts davon hören, dir zu helfen, aber ich habe ihm einen Boten nach dem andern geschickt und ihn wissen lassen, wie gut du dich bei uns aufgeführt hast. Er läßt dich jetzt grüßen und dir sagen, daß du, sobald du nach Hause zurückkehrst, wieder ein Mensch werden wirst.«

Aber so sehr sich der Junge gefreut hatte, als die wilde Gans zu reden anhub, so betrübt war er, als sie geendet hatte. Er sagte kein Wort, sondern wandte sich ab und weinte.

»Was in aller Welt ist denn das?« sagte Akka. »Es scheint ja, als hättest du dir mehr gewünscht, als ich dir eben angeboten habe.«

Aber der Junge dachte an sorgenfreie Tage und muntere Kurzweil, an Abenteuer und Freiheit und Reisen hoch oben über der Erde; das alles sollte ihm jetzt entgehen! Er weinte geradezu vor Kummer. »Ich mache mir nichts daraus, Mensch zu werden.« sagte er. »Ich will mit euch hinauf nach Lappland.« – »Jetzt will ich dir etwas sagen,« entgegnete Akka: »Der Kobold ist leicht beleidigt, und ich fürchte, wenn du sein Anerbieten jetzt nicht annimmst, wird es dir nicht leicht werden, ein zweites Mal Zutritt zu ihm zu erlangen.«

Es war sonderbar mit dem Jungen – sein ganzes Leben lang hatte er sich niemals etwas aus jemand gemacht. Er hatte sich nichts aus Vater und Mutter gemacht, nichts aus seinem Lehrer, nichts aus seinen Schulkameraden, nichts aus den Jungen auf den Nachbarhöfen. Und alles, wozu sie ihn veranlassen wollten, sei es Spiel oder Arbeit, hatte er langweilig gefunden. Deswegen entbehrte er jetzt niemand, sehnte sich nach niemand.

Die einzigen, mit denen er sich jemals hatte vertragen können, waren das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads, ein paar Kinder, die Gänse auf dem Felde hüteten, so wie er. Aber auch sie hatte er nicht von Herzen lieb. Nein, eigentlich gar nicht.

»Ich will kein Mensch sein!« heulte der Junge. »Ich will mit euch nach Lappland. Darum bin ich eine ganze Woche artig gewesen.« – »Ich will dir nicht verweigern, mit uns zu kommen, so weit du willst,« sagte Akka. »Bedenke aber doch erst, ob du nicht lieber wieder nach Hause zurückkehren willst! Es könnte doch ein Tag kommen, an dem du es bereuen würdest.«

»Nein,« sagte der Junge, »da ist nichts zu bereuen. Ich habe mich nie so wohl gefühlt wie bei euch.«

»Ja, dann mag es so sein, wie du willst,« sagte Akka.

»Hab‘ Dank!« entgegnete der Junge und fühlte sich so glücklich, daß er vor Freuden weinen mußte, so wie er vorhin vor Kummer geweint hatte.

IV. Glimminghaus


Schwarze Ratten und graue Ratten.

Im südöstlichen Schonen, nicht weit vom Meer, liegt eine alte Burg, die Glimminghaus heißt. Sie besteht aus einem einzigen hohen, großen und starken Sandsteingebäude, das meilenweit über die Ebene hin sichtbar ist. Sie ist nicht mehr als vier Stockwerk hoch, aber doch so gewaltig, daß ein gewöhnliches Haus, das daneben liegt, sich wie ein Puppenhaus ausnimmt.

Das große Gebäude hat so dicke Außenmauern und Zwischenwände und Wölbungen, daß in seinem Innern kaum Platz für etwas anderes ist als für die dicken Mauern. Die Treppen sind eng, die Gänge schmal und die Zimmer wenig an Zahl. Um die Mauern nicht ihrer Stärke zu berauben, sind in den oberen Stockwerken nur sehr wenig Fenster angebracht, und in dem untersten überhaupt keine. In den alten kriegerischen Zeiten waren die Leute ebenso froh, wenn sie sich in so ein starkes und mächtiges Haus einschließen konnten, wie wir es jetzt sind, wenn wir bei beißendem Frost in einen warmen Pelz kriechen können; als aber die gute Friedenszeit kam, wollten sie nicht mehr in den dunklen und kalten Steinsälen der alten Burg wohnen. Sie haben längst das große Glimminghaus verlassen und sind in Wohnungen gezogen, die so eingerichtet sind, daß Licht und Luft hineindringen können.

Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen herumreiste, wohnten also keine Menschen in Glimminghaus, aber deswegen fehlte es doch nicht an Bewohnern. Auf dem Dach wohnte jeden Sommer ein Storchenpaar in einem großen Nest, auf dem Boden lebten ein paar Horneulen, in den geheimen Gängen hingen Fledermäuse, auf dem Herd in der Küche hatte sich eine alte Katze häuslich niedergelassen, und unten im Keller hielten sich einige Hunderte von den alten schwarzen Ratten auf.

Ratten sind ja sonst nicht gerade sehr angesehen bei den andern Tieren, aber die schwarzen Ratten in Glimminghaus bildeten eine Ausnahme. Von ihnen wurde immer mit Achtung gesprochen, weil sie im Streit mit ihren Feinden unter großen Heimsuchungen, die ihr Volk betroffen, große Tapferkeit und viel Ausdauer an den Tag gelegt hatten. Sie gehörten nämlich einem Rattenvolk an, das einstmals sehr zahlreich und mächtig gewesen war, jetzt aber im Begriff stand, auszusterben. Gar viele Jahre hatten die schwarzen Ratten Schonen und das ganze Land besessen. Sie hausten in jedem Keller, auf jedem Boden, in Scheunen und Schuppen, in Speisekammern und Backstuben, auf Vorwerken und in Ställen, in Kirchen und Burgen, in Brennereien und Mühlen, in jedem Gebäude, das von Menschen errichtet war. Aber nun waren sie von allen diesen Stätten vertrieben und fast ausgerottet. Nur hier und da in einem alten einsamen Gehöft konnte man noch einige von ihnen finden, und nirgends waren sie in so großer Menge vorhanden wie in Glimminghaus.

Wenn ein Tiervolk ausstirbt, pflegen die Menschen in der Regel schuld daran zu sein, aber das war diesmal nicht der Fall. Die Menschen hatten freilich die schwarzen Ratten bekämpft, aber sie hatten nicht vermocht, ihnen nennenswerten Schaden zuzufügen. Überwunden waren sie von einem Tiervolk ihres eigenen Stammes, von den grauen Ratten.

Diese grauen Ratten hatten nicht von Olyms Zeiten her im Lande gewohnt, so wie die schwarzen Ratten. Sie stammten von ein paar armen Einwanderern ab, die vor ungefähr hundert Jahren von einer lybschen Schute aus in Malmö an Land gingen. Es waren zwei heimatlose, verhungerte arme Tiere, die ihr Leben im Hafen selber fristeten, zwischen den Pfählen unter dem Bollwerk herumschwammen und den Abfall fraßen, der ins Wasser geworfen wurde. Sie wagten sich nie in die Stadt hinauf, die im Besitz der schwarzen Ratten war.

Aber nach und nach, als die grauen Ratten an Zahl gewachsen waren, wurden sie dreister. Zu Anfang zogen sie in einige alte verödete Häuser, die heruntergerissen werden sollten und die von den schwarzen Ratten bereits verlassen waren. Sie fanden ihre Nahrung in den Rinnsteinen und Abfallhaufen und nahmen mit all dem Unrat fürlieb, den die schwarzen Ratten verschmähten. Sie waren abgehärtet, genügsam und unerschrocken, und im Laufe von wenigen Jahren waren sie so mächtig geworden, daß sie sich daran machten, die schwarzen Ratten aus Malmö zu verjagen. Sie entrissen ihnen Bodenräume, Keller und Speicher, hungerten sie aus oder bissen sie tot, denn sie waren keineswegs bange vor Krieg.

Und als Malmö genommen war, zogen sie in großen und kleinen Scharen von dannen, um das ganze Land zu erobern. Es ist gar nicht zu verstehen, warum sich die schwarzen Ratten nicht zu einem großen, gemeinsamen Zuge zusammenrotteten und den grauen Ratten den Garaus machten, so lange diese noch in der Minderzahl waren. Aber die schwarzen waren wohl ihrer Macht so sicher, daß sie sich nicht die Möglichkeit denken konnten, sie zu verlieren. Sie saßen still auf ihren Gütern, und währenddessen nahmen die grauen Ratten ihnen ein großes Gehöft nach dem andern, ein Dorf nach dem andern weg. Sie wurden ausgehungert, herausgejagt, ausgerottet. In Schonen hatten sie sich nicht an einem einzigen Ort zu behaupten vermocht, ausgenommen gerade in Glimminghaus.

Das alte steinerne Gebäude hatte so feste Mauern, und es führten so wenige Rattengänge da hindurch, daß es den schwarzen Ratten gelungen war, es zu bewahren und die grauen Ratten am Eindringen zu hindern. Jahr für Jahr, Nacht für Nacht hatte der Streit zwischen Angreifern und Verteidigern gerast, aber die schwarzen Ratten hatten treulich Wache gehalten und mit der größten Todesverachtung gekämpft, und dank dem prächtigen alten Bau hatten sie beständig den Sieg davongetragen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die schwarzen Ratten, so lange sie die Macht besahen, von allen andern lebenden Wesen ebenso verabscheut wurden, wie es heutzutage die grauen Ratten sind. Und mit vollem Recht. Sie warfen sich über arme, gefesselte Gefangene und peinigten sie, sie schwelgten in Leichen, sie stahlen die letzten Rüben in dem Keller des Armen, sie bissen schlafenden Gänsen die Füße ab, stahlen den Hühnern Eier und Küchlein und taten nichts als Böses. Aber nachdem sie ins Unglück geraten, war das alles vergessen, und niemand konnte umhin, die letzten eines Geschlechts zu bewundern, das so lange in seinem Widerstand gegen die Feinde ausgeharrt hatte.

Die grauen Ratten, die in Glimminghaus und seiner nächsten Umgebung wohnten, setzten beständig den Kampf fort und suchten jede passende Gelegenheit zu benutzen, um sich der Burg zu bemächtigen. Man hätte meinen sollen, sie hätten der kleinen Schar schwarzer Ratten Glimminghaus gern friedlich überlassen können, da sie ja nun selber das ganze übrige Land erobert hatten. Aber das fiel ihnen nicht ein. Sie pflegten zu sagen, es sei eine Ehrensache für sie, die schwarzen Ratten endlich zu besiegen. Wer aber die grauen Ratten kannte, wußte sehr wohl, daß es einen andern Grund hatte: Sie fanden nur darum keine Ruhe, ehe sie Glimminghaus erobert hatten, weil die alte Burg von den Menschen als Kornspeicher benutzt wurde.

Der Storch.

Montag, den 28. März.

Eines Morgens, ganz in der Frühe, erwachten die wilden Gänse, die draußen auf dem Bombsee auf dem Eise standen und schliefen, durch laute Rufe oben aus der Luft herab. »Triap! Triap!« klang es. »Triamut, der Kranich, läßt Akka, die wilde Gans, und ihre Schar grüßen. Morgen findet der große Kranichtanz auf Kullaberg statt.«

Akka machte einen langen Hals und antwortete: »Gruß und Dank! Gruß und Dank!«

Dann zogen die Kraniche weiter, die wilden Gänse aber konnten noch lange hören, wie sie flogen und ihre Botschaft über jedes Feld und jeden Waldhügel hinausriefen: »Triamut läßt grüßen. Morgen findet der große Kranichtanz auf Kullaberg statt!«

Die wilden Gänse waren sehr erfreut über diese Nachricht. »Das ist wirklich ein Glück,« sagten sie zu dem weißen Gänserich, »daß du mit zu dem großen Kranichtanz kommst!« – »Ist es denn etwas so Merkwürdiges, Kraniche tanzen zu sehen?« fragte der Gänserich. – »Das ist etwas, wovon du dir nie hast träumen lassen,« erwiderten die wilden Gänse.

»Nun müssen wir überlegen, was wir morgen mit Däumling anfangen, damit ihm nichts zustößt, während wir nach Kullaberg reisen,« sagte Akka. – »Däumling darf nicht allein bleiben,« entgegnete der Gänserich. Wenn die Kraniche nicht erlauben, daß er dem Tanz zusieht, bleibe ich bei ihm.« – »Noch nie zuvor hat ein Mensch der Tierversammlung auf Kullaberg beigewohnt,« sagte Akka, »und ich wage nicht, Däumling dahin mitzunehmen. Aber darüber müssen wir späterhin reden. Jetzt wollen wir vor allen Dingen daran denken, daß wir etwas in den Leib bekommen.«

Damit gab Akka das Zeichen zum Aufbruch. Auch an diesem Tage suchte sie ihre Weide weit ferne, aus Angst vor Reineke Fuchs, und ließ sich nicht nieder, bis sie die tiefgelegenen Wiesen eine Strecke südlich von Glimminghaus erreicht hatten.

Den ganzen Tag saß der Junge am Ufer eines kleinen Teiches und blies auf der Rohrflöte. Er war schlechter Laune, weil er nicht mit nach dem Kranichtanz kommen sollte, und er konnte sich nicht entschließen, ein Wort zu dem Gänserich oder zu einer der andern Gänse zu sagen.

Es war so bitter, daß Akka und die andern Mißtrauen gegen ihn hegten. Wenn ein Junge darauf verzichtet hat, Mensch zu sein, um mit einigen armen wilden Gänsen umherzureisen, so mußten sie doch einsehen, daß er nicht die Absicht hatte, sie zu verraten. Und sie mußten doch auch einsehen können, daß, wenn er so viel geopfert hatte, um sie zu begleiten, es ihre Pflicht war, dafür zu sorgen, daß er all das Merkwürdige zu sehen bekam, was sie ihm zeigen konnten.

»Ich werde ihnen wohl meine Meinung sagen müssen,« dachte er. Aber Stunde auf Stunde verging, ohne daß er seinen Vorsatz ausführte. Es mag sonderbar klingen, aber der Junge hatte wirklich eine Art Respekt vor der alten Führergans bekommen. Es war gar nicht so leicht, sich gegen ihren Willen aufzulehnen, das merkte er sehr wohl.

An der einen Seite des sumpfigen Wiesengrundes, wo die Gänse weideten, befand sich ein breiter Steinwall. Und jetzt geschah es, daß, als der Junge gegen Abend den Kopf erhob, um endlich mit Akka zu reden, sein Blick auf die Umzäunung fiel. Er stieß einen kleinen Ruf des Erstaunens aus, und alle Gänse sahen sofort in die Höhe und starrten nach derselben Richtung wie er. Im ersten Augenblick sah es für sie wie auch für den Jungen so aus, als wenn alle die grauen Rollsteine, aus denen der Wall bestand, Beine bekommen hätten und zu laufen begannen.

Aber sie sahen bald, daß es eine Schar Ratten war, die darüber hin liefen. Sie bewegten sich sehr schnell und liefen so dicht nebeneinander, Reihe auf Reihe, und es waren ihrer so viele, daß sie eine lange Weile die ganze steinerne Mauer verdeckten.

Der Junge war schon bange vor Ratten gewesen, als er noch ein großer, starker Mensch war. Wieviel mehr jetzt, wo er so klein war, daß ein paar von ihnen ihm den Garaus machen konnten. Es lief ihm einmal über das andere kalt den Rücken hinab, während er dastand und sie ansah.

Das Wunderliche aber war, daß die Gänse denselben Abscheu vor den Ratten zu empfinden schienen wie er. Sie sprachen nicht mit ihnen, und als sie wieder fort waren, schüttelten sie sich, als hätten sie Schlamm zwischen die Federn bekommen.

»So viele graue Ratten unterwegs!« sagte Yksi von Bassijaure, »das ist kein gutes Zeichen!«

Jetzt wollte der Junge die Gelegenheit benutzen und zu Akka sagen, sie solle ihn mit nach Kullaberg nehmen, aber er wurde abermals daran verhindert, indem sich ein großer Vogel plötzlich zwischen den Gänsen niederließ.

Wenn man diesen Vogel sah, konnte man glauben, er habe Leib, Hals und Kopf von einer kleinen, weißen Gans geliehen. Dazu hatte er sich aber große, schwarze Flügel, lange, rote Beine und einen langen, dicken Schnabel angeschafft, der viel zu groß für den kleinen Kopf war und ihn niederzog, so daß sein Aussehen etwas Bedrücktes und Kummervolles bekam.

Akka ordnete schnell ihre Deckfedern und machte viele Male eine Verbeugung mit dem Hals, während sie sich dem Storch näherte. Sie war nicht sonderlich überrascht, ihn so früh im Lenz in Schonen zu sehen, denn sie wußte, daß die Storchenmännchen zu rechter Zeit da hinüber zu fliegen pflegen, und nachsehen, ob das Nest im Laufe des Winters Schaden gelitten hat, ehe sich die Storchenweibchen die Mühe machen, über die Ostsee zu fliegen. Aber sie konnte nicht begreifen, warum er sie aufsuchte, da die Störche am liebsten mit Leuten ihrer eigenen Art verkehren.

»Ich hoffe, es ist doch nichts mit Ihrem Nest geschehen, Herr Langbein,« sagte Akka.

Jetzt zeigte es sich, daß es wahr ist, was man zu sagen pflegt, daß nämlich ein Storch selten den Schnabel aufmacht, ohne zu klagen. Und der Umstand, daß es dem Storch schwer wurde, die Worte hervorzubringen, bewirkte, daß das, was er sagte, noch kläglicher klang. Er stand lange da und tat nichts als mit dem Schnabel klappern, und dann begann er mit heiserer, schwacher Stimme zu sprechen. Er klagte über alles mögliche: das Nest, das ganz oben auf dem Dachrücken von Glimminghaus lag, war von den Winterstürmen ganz zerstört worden, und Nahrung war bald nicht mehr zu finden. Die Bewohner von Schonen waren im Begriff, sich seines ganzen Besitzes zu bemächtigen. Sie entwässerten die Wiesen und machten seine Sümpfe urbar. Es sei seine Absicht, dies Land zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.

Während der Storch so jammerte, konnte Akka, die wilde Gans, die selber nicht die Stätte hatte, wohin sie ihr Haupt legen konnte, nicht umhin, im stillen zu denken: »Hätte ich es so gut wie Herr Langbein, da würde ich mich zu gut halten, zu klagen. Er ist noch heutigen Tages ein freier und wilder Vogel, und trotzdem ist er bei den Menschen so gut angeschrieben, daß niemand einen Schuß auf ihn abschießt oder ihm auch nur ein Ei aus seinem Neste stehlen würde.« Das alles aber behielt sie für sich. Zu dem Storch sagte sie nur, sie könne sich nicht denken, daß er von einem Hause fortfliegen wolle, auf dem, seit es erbaut war, Störche Wohnung gehabt hätten.

Da fragte der Storch plötzlich, ob die Gänse die grauen Ratten gesehen hätten, die nach Glimminghaus gezogen waren. Und als Akka antwortete, sie habe das Ungeziefer gesehen, begann er, ihr von den tapferen schwarzen Ratten zu erzählen, die seit vielen Jahren die Burg verteidigt hatten. »Aber in dieser Nacht wird Glimminghaus in die Gewalt der grauen Ratten gelangen,« sagte der Storch seufzend.

»Warum gerade in dieser Nacht, Herr Langbein?« fragte Akka.

»Weil fast alle Ratten gestern abend nach Kullaberg gezogen sind,« sagte der Storch, »im Vertrauen darauf, daß auch alle andern Tiere dahin wollten. Aber Sie sehen, daß die grauen Ratten zu Hause geblieben sind, und nun rotten sie sich zusammen, um über Nacht, wenn Glimminghaus nur von einigen alten gebrechlichen Ratten verteidigt wird, die keine Kräfte mehr haben, mit nach Kullaberg zu wandern, in die Burg einzudringen. Sie werden ihr Ziel schon erreichen, aber nun habe ich seit so vielen Jahren in guter Nachbarschaft mit den schwarzen Ratten gelebt, daß ich keine Lust habe, auf demselben Hause zu wohnen, in dem ihre Feinde sich eingenistet haben.«

Akka begriff nun, daß der Storch so erbittert über die Handlungsweise der grauen Ratten war, daß er sie aufgesucht hatte, um sich über sie zu beklagen. Aber nach gewohnter Storchenart hatte er nichts getan, um dem Unglück vorzubeugen. »Haben Sie den schwarzen Ratten einen Boten geschickt, Herr Langbein?« fragte sie. – »Nein,« erwiderte der Storch, »was hätte das auch nützen können? Ehe sie nach Hause kommen, ist die Burg ja schon genommen.« – »Das dürfen Sie nicht so unbedingt glauben, Herr Langbein,« sagte Akka. »Ich kenne eine alte wilde Gans, die so eine Schandtat gern verhindern würde.«

Als Akka das sagte, erhob der Storch den Kopf und machte große Augen. Und das war nicht zu verwundern, denn die alte Akka hatte weder Schnabel noch Krallen, die zum Kampfe taugten. Außerdem war sie ein Tagvogel, und sobald es dunkel wurde, fiel sie unfehlbar in Schlaf, wahrend die Ratten gerade des Nachts kämpften.

Aber Akka hatte sich offenbar entschlossen, den schwarzen Ratten zu helfen. Sie rief Yksi von Bassijaure zu sich heran und befahl ihm, die Gänse nach dem Vombsee hinaufzuführen, und als die Gänse Einwände erhoben, sagte sie sehr bestimmt:

»Ich glaube, es ist das beste, wenn ihr mir alle gehorcht. Ich muß nach dem großen steinernen Haus hinfliegen, und wenn ihr mich begleitet, läßt es sich nicht vermeiden, daß die Leute auf dem Hofe uns sehen und uns niederschießen. Der einzige, den ich mit auf die Reise nehmen will, ist Däumling. Er kann mir von großem Nutzen sein, weil er gute Augen hat und sich des Nachts wach halten kann.«

Der Junge hatte gerade seinen eigensinnigen Tag, und als er hörte, was Akka sagte, streckte er sich, um so groß wie möglich zu sein und ging, die Hände auf dem Rücken und die Nase in der Luft, auf sie zu, um zu sagen, daß er wahrhaftig nicht behilflich sein wolle, die grauen Ratten zu schlagen. Sie möge sich anderweitig nach Hilfe umsehen.

Aber in demselben Augenblick, als sich der Junge blicken ließ, kam Leben in den Storch. Er hatte die ganze Zeit dagestanden, wie Störche zu stehen pflegen, mit gesenktem Kopf, den Schnabel gegen den Hals gepreßt. Aber nun konnte man es tief drinnen in seiner Kehle förmlich glucksen hören, als lache er. Blitzschnell senkte er den Schnabel, ergriff den Jungen und warf ihn vier, fünf Ellen hoch in die Luft empor. Dies Kunststück machte er siebenmal hintereinander, während der Junge schrie und die Gänse riefen: »Was tun Sie denn da, Herr Langbein, das ist doch kein Frosch! Es ist ein Mensch, Herr Langbein!«

Schließlich jedoch setzte der Storch den Jungen ganz unbeschädigt wieder hin. Dann sagte er: »Nun fliege ich wieder nach Glimminghaus zurück, Mutter Akka. Alle, die da wohnen, waren sehr bekümmert, als ich von dannen zog. Die werden sich freuen, wenn ich nun komme und ihnen erzähle, daß die wilde Gans Akka und der Menschenknirps Däumling unterwegs sind, um sie zu erretten.«

Bei diesen Worten streckte der Storch den Hals lang aus, schlug mit den Flügeln und sauste davon wie ein Pfeil, der von einem stramm gespannten Bogen fliegt. Akka begriff sehr wohl, daß er sich lustig über sie machte, aber davon ließ sie sich nicht anfechten. Sie wartete, bis der Junge seine Holzschuhe gefunden, die ihm der Storch abgeschüttelt hatte; dann setzte sie ihn auf ihren Rücken und flog hinter dem Storch drein. Und der Junge leistete keinen Widerstand und sagte kein Wort davon, daß er nicht mitwolle. Er war so wütend auf den Storch daß er förmlich dasaß und schnob. Der rotbeinige Bursche glaubte, daß er zu nichts zu gebrauchen sei, weil er klein war, aber er wollte ihm schon zeigen, was für ein Kerl Niels Holgersen aus Vemmenhög war.

Wenige Augenblicke später stand Akka in dem Storchennest auf Glimminghaus. Das war ein großes und schönes Nest. Als Unterlage diente ihm ein Rad, und darauf lagen mehrere Schichten aus Zweigen und Grassoden. Das Nest war alt, und viele Büsche und Kräuter hatten dort oben Wurzel geschlagen, und wenn die Storchenmutter in der runden Vertiefung mitten im Nest auf ihren Eiern saß, konnte sie sich nicht nur an der schönen Aussicht über einen großen Teil von Schonen erfreuen, sondern auch noch an den wilden Rosen und dem Huflattich, die in ihrem Nest blühten.

Der Junge wie auch Akka sahen sofort, daß hier etwas vor sich ging, was die gewöhnliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stellte. Auf dem Rande des Storchennestes saßen nämlich zwei Horneulen, ein alter, graugestreifter Kater und ein Dutzend uralter Ratten mit schiefen Zähnen und rinnenden Augen. Es waren nicht gerade solche Tiere, wie man sie gewöhnlich friedlich beieinander sitzen sieht.

Keins von ihnen wandte sich um und sah Akka an oder hieß sie willkommen. Die hatten keinen andern Gedanken als auf einige lange, graue Streifen hinabzustarren, die hier und da auf den winterkahlen Feldern sichtbar wurden.

Alle schwarzen Ratten verhielten sich still. Man konnte ihnen ansehen, daß sie in tiefe Verzweiflung versunken waren und sehr wohl wußten, daß sie weder ihr eigenes Leben noch die Burg zu verteidigen vermochten. Die beiden Eulen saßen da und rollten mit ihren großen Augen, drehten ihre Augenkränze und sprachen mit unheimlicher, heiserer Stimme von der großen Grausamkeit der grauen Ratten, um deretwillen sie nun aus ihrem Nest fliehen mußten, denn sie hatten gehört, daß sie weder Eier noch Junge schonten. Der alte gestreifte Kater war überzeugt, daß die grauen Ratten ihn totbeißen würden, und er schalt ununterbrochen auf die schwarzen Ratten: »Wie konntet ihr nur so dumm sein, eure besten Streitkräfte von dannen ziehen zu lassen!« sagte er. »Ihr müßt doch wissen, daß auf die grauen Ratten kein Verlaß ist! Das ist ganz unverzeihlich.«

Die zwölf schwarzen Ratten erwiderten kein Wort, aber der Storch konnte es trotz seiner Betrübnis nicht lassen, Kurzweil mit dem Kater zu treiben: »Du brauchst nicht bange zu sein, Kater Murr!« sagte er. »Siehst du denn nicht, daß Mutter Akka und Däumling gekommen sind, um die Burg zu retten? Du kannst sicher sein, daß es ihnen gelingt. Ich muß mich jetzt hinstellen und schlafen, und das tue ich mit der größten Ruhe. Wenn ich morgen aufwache, ist, weiß Gott, nicht eine einzige Ratte mehr in Glimminghaus.«

Der Junge blinzelte Akka zu und machte ein Zeichen, daß er den Storch vom Dach herunterstoßen wollte, wenn er sich nun zum Schlafen auf ein Bein am äußersten Rande des Nestes aufstellte, aber Akka hielt ihn davon zurück: »Es sähe schlimm aus, wenn jemand, der so alt ist wie ich, nicht größere Schwierigkeiten wie diese überwinden könnte. Wenn nur der Eulenvater und die Eulenmutter, die sich die ganze Nacht wach halten können, mit einer Botschaft von mir ausfliegen wollten, so denke ich, kann noch alles gut gehen.«

Die beiden Horneulen waren bereit, und dann bat Akka den Eulenvater, die von dannen gezogenen schwarzen Ratten aufzusuchen und ihnen den Rat zu erteilen, so schnell wie möglich heimzukehren. Die Eulenmutter sandte sie zu Flammea, der Turmeule, die im Dom zu Lund wohnte, mit einem Auftrag, der so geheimnisvoll war, daß Akka ihn ihr nur mit flüsternder Stimme anzuvertrauen wagte.

Der Rattenfänger.

Es ging schon stark auf Mitternacht, als die grauen Ratten nach vielem Suchen endlich eine Kellerluke fanden, die offen stand. Sie saß ziemlich hoch in der Mauer, aber die Ratten krochen eine auf die Schultern der andern, und es währte nicht lange, bis die mutigste von ihnen in der Luke saß, bereit, in Glimminghaus einzudringen, vor dessen Mauern so viele ihrer Vorfahren hatten ins Gras beißen müssen.

Die graue Ratte blieb eine Weile ganz still in der offenen Luke sitzen und wartete, daß sie angegriffen wurde. Freilich war das Hauptheer der Verteidiger fort, aber sie dachte sich, daß die schwarzen Ratten, die noch in der Burg waren, sich nicht ohne Kampf ergeben würden. Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf das geringste Geräusch, aber alles war still. Da faßte der Anführer der grauen Ratten Mut und sprang in den stockdunklen Keller hinab.

Eine graue Ratte nach der andern folgte dem Anführer. Sie waren alle ganz still, und sie waren alle darauf vorbereitet, daß die schwarzen Ratten irgendwo im Hinterhalt lagen. Erst als so viele von ihnen in den Keller eingedrungen waren, daß der Fußboden nicht mehr aufnehmen konnte, wagten sie sich weiter.

Obwohl sie nie zuvor in dem Gebäude gewesen waren, machte es ihnen keine Schwierigkeit, den Weg zu finden. Sie entdeckten sehr bald die Gänge in den Mauern, die die schwarzen Ratten benutzt hatten, um in die oberen Stockwerke zu gelangen. Ehe sie anfingen, diese schmalen und steilen Steige hinaufzuklettern, lauschten sie abermals gespannt, es war ihnen viel unheimlicher, daß sich die schwarzen Ratten so zurückhielten, als wenn sie ihnen in offenem Kampf begegnet wären. Sie wollten kaum ihrem Glück trauen, als sie so ohne Kampf in das erste Stockwerk hinaufgelangten.

Gleich bei ihrem Eindringen schlug den grauen Ratten der Geruch des Kornes entgegen, das in großen Haufen auf dem Estrich lag. Aber die Zeit, ihren Sieg zu genießen, war noch nicht für sie gekommen. Mit der größten Sorgfalt untersuchten sie erst die dunklen, leeren Säle. Sie sprangen auf den Herd, der mitten in der alten Burgküche stand und waren nahe daran, in dem innersten Raum in den Brunnen zu stürzen. Sie ließen nicht eine einzige der schmalen Lichtöffnungen unbesehen, fanden aber noch immer keine schwarzen Ratten. Als dies Stockwerk ganz und gar in ihrer Macht war, begannen sie, sich in derselben vorsichtigen Weise in Besitz des nächsten zu setzen. Wieder erfolgte ein mühseliges und gefährliches Klettern durch die Mauern, während sie in atemloser Spannung darauf warteten, daß sich der Feind über sie stürzen würde. Und obwohl sie der herrlichste Geruch der Kornhaufen lockte, zwangen sie sich, mit der größten Genauigkeit die gewölbte Gesindestube der alten Kriegsknechte mit ihrem steinernen Tisch und dem Herd und den tiefen Fensternischen und der Luke im Fußboden zu untersuchen, die man in vergangenen Zeiten benutzt hatte, um dahindurch kochendes Pech auf einen eindringenden Feind hinabzugießen.

Aber die schwarzen Ratten ließen sich noch immer nicht sehen. Die grauen tasteten sich hinauf nach dem dritten Stockwerk mit dem großen Festsaal des Burgherrn, der ebenso leer und kahl war wie alle die andern Räume in dem alten Haus, und sie fanden sogar den Weg zu dem obersten Stockwerk, das aus einem einzigen großen, leeren Raum bestand. Der einzige Ort, den zu untersuchen ihnen nicht in den Sinn kam, war das große Storchennest oben auf dem Dach, wo die Eulenmutter gerade in dieser Zeit Akka weckte und ihr mitteilte, daß Flammea, die Turmeule, ihr Begehren erfüllt und ihr das Gewünschte gesandt habe.

Als nun die grauen Ratten so gewissenhaft die ganze Burg durchsucht hatten, fühlten sie sich beruhigt. Sie begriffen, daß die schwarzen Ratten geflüchtet waren und nicht daran dachten, sich zur Gegenwehr zu setzen, und leichten Herzens liefen sie in die Kornhaufen hinauf.

Kaum aber hatten sie die ersten Weizenkörner heruntergeschluckt, als sie unten vom Burghof her gellende Töne aus einer kleinen, schrillen Flöte vernahmen. Sie erhoben ihre Köpfe vom Korn, lauschten unruhig, liefen einige Schritte, als wollten sie den Futterhaufen verlassen, wandten sich aber wieder um und begannen von neuem zu fressen.

Abermals erschallte die Flöte laut und gellend, und nun geschah etwas Merkwürdiges. Eine Ratte, zwei Ratten, ja eine Menge Ratten sprangen von den Haufen herunter, ließen das Korn liegen und eilten auf dem kürzesten Wege in den Keller hinab, um aus dem Hause zu gelangen. Es waren aber noch viele graue Ratten zurückgeblieben. Sie dachten daran, welch eine große Mühe es sie gekostet hatte, Glimminghaus zu erobern, und sie wollten es nicht verlassen. Aber noch einmal drangen die Töne der Flöte bis zu ihnen, und sie mußten folgen. In wilder Hast stürzten sie von den Haufen herunter, ließen sich durch die engen Kanäle in den Mauern gleiten und taumelten übereinander in ihrem Eifer, hinauszugelangen.

Mitten auf dem Burghof stand ein kleiner Knirps und blies auf der Flöte. Er hatte schon einen ganzen Kreis von Ratten um sich gesammelt, die erstaunt und verzaubert seinen Tönen lauschten, und jeden Augenblick kamen mehr hinzu. Einmal nahm er nur eine Sekunde die Flöte vom Munde, um den Ratten eine lange Nase machen zu können, und da sah es aus, als hätten sie Lust, sich über ihn zu stürzen und ihn totzubeißen. Aber sobald er blies, waren sie seiner Macht untertan.

Als der Knirps alle Ratten aus Glimminghaus herausgespielt hatte, begab er sich langsam vom Hofplatz auf die Landstraße hinaus, und alle grauen Ratten folgten ihm, weil die Töne seiner Flöte so süß in ihren Ohren klangen, daß sie ihnen nicht zu widerstehen vermochten.

Der Knirps ging voran und lockte sie den Weg nach Valby entlang. In allen möglichen Kreisen und Windungen und auf allen möglichen Umwegen führte er sie durch Hecken und in Gräben hinab, und wo er ging, mußten sie ihm folgen. Er blies unaufhörlich auf seiner Flöte, die aus einem Tierhorn gemacht zu sein schien. Aber das Horn war so klein, daß es heutigentags kein Tier gibt, dessen Stirn es entrissen sein könnte. Es wußte auch niemand, wer es verfertigt hatte. Flammea, die Turmeule, hatte es in einer Nische in dem Turm des Domes von Lund gefunden. Sie hatte es Bataki, dem Raben, gezeigt, und die beiden hatten ergründet, daß es so ein Horn war, wie es in alten Zeiten von denen gemacht wurde, die sich Gewalt über Ratten und Mäuse verschaffen wollten. Der Rabe aber war Akkas Freund, und von ihm hatte sie erfahren, daß Flammea im Besitze eines solchen Schatzes war.

Und es verhielt sich wirklich so, daß die Ratten der Flöte nicht widerstehen konnten. Der Junge ging voran und spielte, solange die Sterne schimmerten, und sie folgten ihm die ganze Zeit. Er spielte bei Tagesgrauen, er spielte bei Sonnenaufgang, und immer folgte ihm die ganze Schar der grauen Ratten und wurde immer weiter von den großen Kornböden in Glimminghaus fortgelockt.

V. Der große Kranichtanz auf dem Kullaberge

Dienstag, den 29. März.

Man muß einräumen, daß, obwohl viele prachtvolle Gebäude in Schonen errichtet sind, doch keines von ihnen allen so schöne Mauern hat wie der alte Kullaberg.

Der Kullaberg ist niedrig und langgestreckt. Er ist keineswegs ein großer oder gewaltiger Berg. Auf dem breiten Bergrücken liegen Wälder und Felder und hin und wieder eine Heide. Hier und da ragen runde Heidehügel und nackte Bergkuppen auf. Es ist nicht sonderlich schön dort oben, es sieht dort so aus wie an allen andern hochgelegenen Orten in Schonen.

Wer die Landstraße entlang geht, die mitten über den Berg führt, kann nicht umhin, sich ein klein wenig enttäuscht zu fühlen.

Aber dann biegt er am Ende zufällig vom Wege ab und geht an die Seiten des Berges hinaus und sieht an dem Abhang hinab, und dann entdeckt er plötzlich so viel, was des Sehens wert ist, daß er kaum weiß, woher er die Zeit nehmen soll, es alles zu sehen. Denn die Sache ist die, daß der Kullaberg nicht im Lande liegt mit Ebenen und Tälern rings umher wie andere Berge, sondern er hat sich ins Meer hinausgestürzt, so weit er kommen konnte. Nicht der geringste Streifen Landes liegt am Fuße des Berges und beschützt ihn gegen die Wellen des Meeres, nein, sie gelangen bis ganz an die Bergwände hinan und können sie nach ihrem Gutdünken abschleißen und formen.

Deswegen stehen die Bergwände dort so reichgeschmückt, wie es das Meer und sein Gehilfe, der Wind, nur zu tun vermochten. Da sind steile Schluchten, die tief in die Seiten des Berges eingeschnitten sind, und schwarze Felsklippen, die blank geschliffen sind von dem ständigen Peitschenschlag des Windes. Da sind einsame Steinsäulen, die sich kerzengerade aus dem Wasser erheben, und dunkle Grotten mit engem Eingang. Da sind lotrechte, nackte Felswände und Abhänge mit freundlichen Laubwäldern. Da sind kleine Landzungen und kleine Buchten mit kleinen Rollsteinen, die mit jedem Wellenschlag rasselnd auf und nieder gespült werden. Da sind stattliche Klippentore, die sich über dem Wasser wölben; da sind spitze Steine, die unaufhörlich von weißem Schaum überspritzt werden, und andere, die sich in schwarzgrünem, unveränderlich stillem Wasser spiegeln. Da sind Riesenkessel, die in die Felsklippen hineingegraben sind, und mächtige Spalte, die den Wandersmann locken, sich in die Tiefe des Berges bis in Kullamanns Höhle hineinzuwagen.

Auf und ab an allen diesen Schluchten und Klippen klettern und kriechen Ranken und Schlingpflanzen. Bäume wachsen dort auch, aber die Macht des Windes ist so groß, daß sich selbst die Bäume in Schlingpflanzen verwandeln müssen, um sich an den Abhängen festhalten zu können. Die Eichen liegen und kriechen an der Erde, während das Laub über ihnen steht wie eine gedrängte Wölbung, und niedrigstämmige Buchen stehen in den Schluchten gleich großen Laubzelten.

Diese eigentümlichen Bergwände im Verein mit dem breiten, blauen Meer da draußen und der sonnenzitternden, starken Luft darüber machen den Kullaberg den Menschen so lieb, daß große Scharen von ihnen jeden Tag, so lange der Sommer währt, dahinaufziehen. Schwieriger ist es wohl, zu sagen, was den Berg so anziehend für die Tiere macht, daß sie sich jedes Jahr dort zu einer großen Spielversammlung scharen. Aber das ist eine Sitte, der sie seit Olyms Zeiten gefolgt sind, und man hätte schon mit dabei sein müssen, als die erste Welle an dem Kullaberg zu Schaum zerschellte, um erklären zu können, warum gerade er vor allen andern Orten zum Stelldichein gewählt wurde.

Wenn die Zeit zur Versammlung da ist, legen die Kronhirsche, die Rehe, die Hasen, die Füchse und die andern wilden, vierfüßigen Tiere schon in der Nacht die Reise nach Kullaberg zurück, um nicht von den Menschen gesehen zu werden. Kurz ehe die Sonne aufgeht, ziehen sie alle auf den Spielplatz, eine Heide links vom Wege, nicht weit von der äußersten Landzunge des Berges.

Der Spielplatz ist auf allen Seiten von runden Felshöhlen umgeben, die ihn vor jedem verbergen, der nicht zufällig ganz hineingelangt. Und im März ist es nicht wahrscheinlich, daß sich ein Wandersmann dahin verirrt. Alle die Fremden, die sonst auf den Hügeln umherstreifen und an den Bergwänden in die Höhe klettern, sind schon vor vielen Monaten in die Flucht gejagt worden. Und der Leuchtturmwärter draußen auf der Landzunge, die alte Frau in Kullahof und der Kullabauer und seine Leute gehen ihre gewohnten Wege und laufen nicht auf den einsamen Heideflächen umher.

Wenn die Tiere auf den Spielplatz gekommen sind, lassen sie sich auf den runden Bergkuppen nieder. Jede Tierart hält sich für sich, obwohl naturgemäß an einem solchen Tage allgemeiner Friede herrscht, so daß niemand einen Überfall zu befürchten braucht. An diesem Tage könnte ein kleines junges Häslein über den Hügel der Füchse laufen, ohne auch nur eines seiner langen Ohren einzubüßen. Aber trotzdem stellen sich die Tiere in verschiedenen Scharen auf. Das ist eine alte Sitte.

Haben sie alle ihre Plätze eingenommen, so fangen sie an, sich nach den Vögeln umzusehen. An dem Tage pflegt immer gutes Wetter zu sein. Die Kraniche sind vorzügliche Wetterpropheten und würden die Tiere nicht zusammenrufen, falls Regen zu erwarten wäre. Aber obwohl die Luft klar ist, und nichts die Aussicht behindert, sehen die vierfüßigen Tiere doch keine Vögel. Das ist sehr sonderbar. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Vögel müßten bereits unterwegs sein.

Die Tiere auf dem Kullaberge bemerken aber hier und da eine kleine Wolke, die langsam über die Ebene hingleitet. Und siehe! Eine von diesen Wolken steuert jetzt plötzlich an der Küste des Öresunds entlang, nach dem Kullaberge hinauf. Als die Wolke gerade über dem Spielplatz angelangt ist, bleibt sie stehen, und im selben Augenblick fängt die ganze Wolke an zu klingen und zu zwitschern, als bestünde sie nur aus Tönen. Sie steigt und sinkt, steigt und sinkt, aber während der ganzen Zeit klingt und zwitschert sie. Schließlich fällt die ganze Wolke auf eine Bergkuppe nieder, die ganze Wolke auf einmal, und einen Augenblick später ist die Bergkuppe ganz verdeckt von grauen Lerchen, hübschen rot-grau-weißen Buchfinken, metallglänzenden Staren und gelbgrünen Meisen.

Gleich darauf kommt noch eine Wolke über die Ebene hingetrieben. Sie macht halt über jedem Gehöft, über den Häuslereien und den Herrensitzen, über kleinen Städten und großen Städten, über Bauernhöfen und Eisenbahnstationen, über Fischerdörfern und Zuckerfabriken. Jedesmal, wenn sie halt macht, saugt sie von den Gebäuden unten auf der Erde eine kleine, in die Höhe wirbelnde Wolke aus kleinen, grauen Staubkörnchen auf. Auf diese Weise wächst und wächst sie, und als sie endlich gesammelt ist und auf den Kullaberg zusteuert, ist sie keine einzelne Wolke mehr, sondern eine ganze Wolkendecke, die so groß ist, daß sie einen Schatten auf die Erde wirft, der von Höganäs bis Mölle reicht. Als sie über dem Spielplatz halt macht, verbirgt sie die Sonne, und lange müssen Spatzen auf eine der Bergkuppen herabregnen, ehe diejenigen, die sich im Innersten der Wolkendecke befinden, wieder einen Schimmer des Tageslichts zu sehen bekommen.

Aber die größte von diesen Vogelwolken ist doch die, die jetzt sichtbar wird. Sie ist aus Scharen gebildet, die von überall her geflogen kommen und sich ihr angeschlossen haben. Sie ist schwer blaugrau, und nicht ein Sonnenstrahl kann sie durchdringen. Sie nahet finster und schreckeinjagend wie eine Gewitterwolke. Sie ist angefüllt mit dem scheußlichsten Lärm, dem unglückverheißendsten Hohnlachen. Alle unten auf dem Spielplatz freuen sich, als sie sich endlich in einen Regen von flügelschlagenden und krächzenden Krähen und Raben und Dohlen und Saatkrähen auflöst.

Dann erscheinen am Himmel nicht nur Wolken allein, sondern eine Menge verschiedener Striche und Zeichen, gerade punktierte Linien im Osten und Nordosten. Das sind Waldvögel aus den Göinger Harden: Birkhähne und Auerhähne, die in langen Reihen in einem drei Ellen weiten Abstand voneinander geflogen kommen. Und die Schwimmvögel, die auf Maakläppen vor Falsterbo nisten, kommen jetzt in vielen wunderlichen Flugordnungen über den Öresund dahergeschwebt: in Dreiecken und in langen Winkeln, in schiefen Haken und in Halbkreisen.

Zu der großen Versammlung, die in dem Jahr stattfand, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen umherflog, kamen Akka und ihre Schar später als alle die andern, und darüber konnte man sich nicht verwundern, denn Akka war über ganz Schonen geflogen, um nach dem Kullaberg zu gelangen. Außerdem hatte sie, sobald sie am Morgen erwachte, ausfliegen müssen, um nach Däumling zu suchen; der war viele Stunden lang gewandert und hatte den grauen Ratten auf der Flöte vorgespielt, um sie weit von Glimminghaus wegzulocken. Der Eulenvater war mit der Nachricht heimgekehrt, daß die schwarzen Ratten gleich nach Sonnenaufgang wieder daheim sein würden, und so war denn keine Gefahr mehr, wenn man die Flöte der Turmeule verstummen und die grauen Ratten laufen ließ, wohin es ihnen beliebte.

Aber nicht Akka entdeckte den Jungen, wie er da mit seinem großen Gefolge ging, nicht sie ließ sich schnell zu ihm herab, packte ihn mit dem Schnabel und schwebte mit ihm in die Luft empor, nein, das alles tat Herr Langbein, der Storch. Denn Herr Langbein hatte sich ebenfalls aufgemacht, um nach ihm zu suchen, und hinterher, als er ihn in das Storchennest hinaufgebracht hatte, bat er ihn um Verzeihung, weil er ihn am Abend zuvor mit Geringschätzung behandelt hatte.

Darüber freute sich der Junge sehr, und der Storch und er wurden gute Freunde. Akka war auch sehr freundlich gegen ihn, scheuerte ihren alten Kopf mehrmals an seinem Arm und lobte ihn, weil er denen geholfen hatte, die in Not waren.

Aber das muß man zur Ehre des Jungen sagen: er nahm kein Lob an, das er nicht verdient hatte. »Nein, Mutter Akka,« sagte er, »Sie müssen nicht glauben, daß ich die Grauen weglockte, um den Schwarzen zu helfen. Ich wollte nur Herrn Langbein zeigen, wozu ich zu gebrauchen war.«

Kaum hatte er diese Worte gesagt, als sich Akka an den Storch wandte und fragte, ob er glaube, daß es angehe, Däumling mit nach dem Kullaberge zu nehmen. »Ich finde, wir können uns auf ihn verlassen wie auf uns selbst,« sagte sie. Der Storch riet sofort sehr eifrig zu, Däumling mitzunehmen. »Natürlich müssen Sie Däumling mit nach dem Kullaberg nehmen, Mutter Akka,« sagte er. »Es ist ein großes Glück für uns, daß wir ihn für alles belohnen können, was er über Nacht für uns ausgestanden hat. Und da es mich noch quält, daß ich mich gestern abend nicht hübsch gegen ihn aufgeführt habe, will ich ihn auf meinem Rücken ganz bis an den Versammlungsort tragen.«

Es gibt nicht viel, was besser schmeckt, als Lob von denen zu empfangen, die selbst klug und tüchtig sind, und der Junge war nie so glücklich gewesen, wie jetzt, wo die wilde Gans und der Storch so von ihm sprachen.

Der Junge legte also die Reise nach dem Kullaberge auf einem Storchenrücken sitzend zurück. Obwohl er wußte, daß dies eine große Ehre war, verursachte es ihm doch viel Angst. Denn Herr Langbein war ein Meister im Fliegen und sauste mit einer ganz andern Geschwindigkeit dahin als die wilden Gänse. Während Akka den geraden Weg mit gleichmäßigen Flügelschlägen flog, belustigte sich der Storch damit, eine Menge Fliegekunststücke zu machen. Bald lag er in einer unermeßlichen Höhe ganz still und schwamm auf der Luft, ohne die Flügel zu bewegen, bald warf er sich mit so starker Geschwindigkeit herab, daß man ein Gefühl hatte, als falle man auf die Erde wie ein Stein, bald trieb er Kurzweil, indem er sich in großen und kleinen Kreisen rund um Akka herumschwang wie ein Wirbelwind. Der Junge hatte noch nie etwas Ähnliches mitgemacht, und obwohl er sich in steter Angst befand, mußte er sich doch gestehen, daß er nie zuvor gewußt hatte, was ordentliches Fliegen war.

Sie machten nur eine einzige Unterbrechung in der Reise, nämlich als sich Akka auf dem Bombsee den Reisegefährten anschloß und ihnen zurief, daß die grauen Ratten überwunden seien. Dann flogen sie alle geraden Weges nach dem Kullaberge.

Dort ließen sie sich auf dem obersten Teil der Bergkuppe nieder, die den wilden Gänsen vorbehalten war, und als nun der Junge den Blick von einer Kuppe zur andern wandern ließ, sah er, daß sich über der einen das vielzackige Gehörn des Kronhirsches erhob, und über einer der andern die grauweißen Nackenfedern des Reihers. Eine Bergkuppe war rot von Füchsen, eine war schwarz und weiß von Strandvögeln, eine war grau von Ratten. Eine war mit schwarzen Raben bedeckt, die unaufhörlich schrien, eine mit Lerchen, die nicht imstande waren, sich still zu verhalten, sondern sich unablässig in die Luft emporschwangen und vor Freude sangen.

Wie es stets auf dem Kullaberge herzugehen pflegt, eröffneten die Krähen die Spiele und die Kurzweil des Tages mit ihrem Flugtanz. Sie teilten sich in zwei Scharen, die gegeneinander flogen, sich begegneten, umkehrten und wieder von vorne anfingen. Dieser Tanz hatte viele Touren und erschien den Zuschauern, die nicht in die Regeln des Tanzes eingeweiht waren, zu einförmig. Die Krähen waren sehr stolz auf ihren Tanz, und alle andern waren froh, als er beendet war. Die Tiere fanden ihn ebenso trübselig und sinnlos wie das Spiel der Winterstürme mit den Schneeflocken. Sie wurden schlechter Laune von dem Ansehen und warteten gespannt auf etwas, das sie ein wenig belustigen konnte.

Sie sollten auch nicht vergebens warten, denn sobald die Krähen ihren Tanz beendet hatten, kamen die Hasen gelaufen. Ohne sonderliche Ordnung wimmelten sie in einer langen Reihe hervor. In einigen Reihen ging nur einer, in andern liefen drei oder vier nebeneinander. Alle hatten sie sich auf zwei Beine erhoben und kamen in einer solchen Fahrt dahergesaust, daß die langen Ohren nach allen Seiten flogen. Während sie liefen, drehten sie sich rund herum, machten hohe Sprünge und schlugen die Vorderpfoten gegen die Rippen, so daß es klatschte. Einige schossen eine lange Reihe Purzelbäume, andere duckten sich zusammen und rollten wie Räder auf der Erde dahin, einer stand auf einem Bein und drehte sich rund herum, einer ging auf den Vorderpfoten. Da war gar keine Ordnung, aber es lag gute Laune über dem Spiel der Hasen, und die vielen Tiere, die dastanden und ihnen zusahen, fingen an, schneller zu atmen. Jetzt war Frühling, Lust und Freude waren in Anmarsch. Der Winter war zu Ende. Der Sommer nahte. Bald war das Leben nur noch ein Spiel.

Als die Hasen sich ausgetollt hatten, kam die Reihe aufzutreten an die großen Waldvögel, hunderte von Auerhähnen in glänzend schwarzem Federkleid und mit schimmernd roten Augenbrauen schwangen sich in eine große Eiche hinauf, die mitten auf dem Spielplatz stand. Derjenige, der auf dem obersten Zweige sah, blies die Federn auf, senkte die Flügel und schlug den Schweif auseinander, so daß die weißen Deckfedern sichtbar wurden. Dann streckte er den Hals vor und entsandte ein paar tiefe Halstöne aus seiner schwellenden Kehle. »Tjäk, tjäk, tjäk,« klang es. Mehr konnte er nicht hervorbringen, es gluckste nur ein paarmal tief unten in der Kehle. Dann schloß er die Augen und flüsterte: »Sis, sis, sis. Hört, wie schön es ist! Sis, sis, sis.« Und im selben Augenblick verfiel er in eine solche Verzückung, daß er nicht mehr wußte, was um ihn her vor sich ging.

Während der erste Auerhahn noch »Sis, sis, sis« flüsterte, begannen die drei, die zunächst unter ihm saßen, zu singen, und ehe sie das Lied beendet hatten, begannen die zehn, die unter ihnen saßen, und so weiter von Zweig zu Zweig, bis alle die Hunderte von Auerhähnen sangen und glucksten und zischelten. Sie gerieten alle in dieselbe Verzückung während ihres Gesanges, und gerade dies wirkte auf die andern Tiere wie ein ansteckender Rausch. Noch vor kurzem floß das Blut lustig und leicht, jetzt fing es an, schwer und heiß zu strömen. »Ja, wahrlich ist es Frühling,« dachten die vielen Tiervölker. »Die Kälte des Winters ist entschwunden. Das Feuer des Lenzes brennt über der Erde.«

Als die Birkhähne merkten, daß die Auerhähne einen solchen Erfolg hatten, konnten sie sich nicht langer ruhig verhalten. Da dort kein Baum war, auf den sie sich setzen konnten, sausten sie auf den Spielplatz hinab, wo das Heidekraut so hoch stand, daß man nichts weiter sehen konnte als ihre schönen, wehenden Schwanzfedern und ihre dicken Schnäbel, und dann begannen sie zu singen: »Orr, orr, orr«.

Gerade als die Birkhähne anfingen, um die Wette mit den Auerhähnen zu singen, geschah etwas, was noch nie geschehen war. Während alle Tiere ganz in Anspruch genommen waren von dem Spiel der Auerhähne, schlich sich ein Fuchs ganz leise an die Bergkuppen der wilden Gänse heran. Er ging sehr vorsichtig und kam ein Stück des Hügels hinauf, ehe ihn jemand entdeckte. Plötzlich ward jedoch eine Gans seiner ansichtig, und da sie sich nicht denken konnte, daß sich ein Fuchs in guter Absicht zwischen die Gänse schlich, begann sie zu rufen: »Nehmt euch in acht, ihr wilden Gänse! Nehmt euch in acht!« Der Fuchs schnappte nach ihr, vielleicht hauptsächlich damit sie schweigen solle, aber die wilden Gänse hatten den Ruf bereits vernommen und hoben sich alle in die Luft empor. Und als sie davongeflogen waren, sahen die Tiere Reineke Fuchs auf der Bergkuppe der wilden Gänse stehen, die tote Gans im Rachen.

Aber weil Reineke so den Frieden des Spieltages gebrochen hatte, erhielt er eine so harte Strafe, daß er zeitlebens bereute, seiner Rachgier keinen Zwang angetan zu haben, daß er versucht hatte, doch einmal Akka und ihrer Schar Schaden zuzufügen. Er wurde sofort von einer Schar von Füchsen umringt und nach dem alten Gesetz verurteilt, das also lautet: Wer an dem großen Spieltage den Frieden stört, soll zu Landflüchtigkeit verdammt sein. Auch nicht ein Fuchs wollte das Urteil mildern, denn sie wußten alle, daß sie im selben Augenblick, wo sie das versuchten, vom Spielplatz verjagt werden würden und nie mehr ihren Fuß dorthin setzen durften. Also wurde Landesverweisung über Reineke ausgesprochen, ohne daß jemand Einspruch dagegen erhob. Es wurde ihm verboten, sich in Schonen aufzuhalten. Er wurde von Frau und Sippe verbannt, von Jagdgründen und Wohnung, von den Ruhestätten und Schlupfwinkeln, die bisher die seinen gewesen waren, und mußte sein Glück im fremden Lande suchen. Und auf daß alle Füchse in ganz Schonen wußten, daß Reineke dortzulande friedlos war, biß ihm der älteste der Füchse den rechten Ohrzipfel ab. Sobald das geschehen war, fingen alle die jungen Füchse an, vor Blutdurst zu heulen und stürzten sich über Reineke. Es blieb ihm nichts weiter übrig als zu fliehen, und mit allen den jungen Füchsen auf den Fersen eilte er fort vom Kullaberge.

Dies alles trug sich zu, während die Birkhähne und Auerhähne ihren Sängerkampf abhielten. Aber diese Vögel gehen in dem Maße in ihrem Gesang auf, daß sie weder sehen noch hören. Sie hatten sich auch gar nicht stören lassen.

Kaum war der Wettstreit der Waldvögel beendet, als die Kronhirsche vom Häckeberge vortraten, um ihr Kampfspiel zu zeigen. Es waren mehrere Paar Kronhirsche, die gleichzeitig kämpften. Sie stürzten sich mit großer Kraft aufeinander, schlugen die Geweihe dröhnend gegeneinander, so daß sie sich ineinanderflochten, und suchten sich gegenseitig hintenüber zu zwingen. Sie rissen Heidehügel mit ihren Hufen aus, ihr Atem stand wie eine Rauchwolke um sie, aus ihren Kehlen tönte ein fürchterliches Brüllen, und an ihrem Bug floß Schaum herab.

Ringsumher auf den Hügeln herrschte atemlose Stille, während die streitgewohnten Hirsche kämpften. Und bei allen Tieren wurden neue Gefühle wachgerufen. Alle fühlten sie sich mutig und stark, belebt von wiederkehrender Kraft, neugeboren vom Frühling, frisch und aufgelegt zu allerhand Abenteuern. Sie empfanden keinen Zorn gegeneinander, aber doch hoben sich alle Flügel, die Nackenfedern sträubten sich, die Krallen wurden gewetzt. Hätten die Häckeberger noch einen Augenblick weitergestritten, würde auf den Hügeln ein wilder Kampf entstanden sein, denn sie waren alle von einem brennenden Verlangen erfaßt, zu zeigen, daß auch sie voller Leben waren, daß die Ohnmacht des Winters vorbei war, daß ihre Leiber von Kraft glühten.

Aber die Kronhirsche beendeten ihren Kampf im rechten Augenblick, und sofort lief ein Flüstern von einem Hügel zum andern: »Jetzt kommen die Kraniche.«

Und dann kamen die Vögel im grauen Dämmerungsgewande, mit Federbüschen auf den Flügeln und rotem Federschmuck im Nacken. Die großen Vögel mit ihren hohen Beinen, ihren schlanken Hälsen und ihren kleinen Köpfen kamen in mystischer Verzückung die Hügel hinab. Während sie vorwärtsglitten, drehten sie sich herum, halb fliegend, halb tanzend. Die Flügel anmutig erhoben, bewegten sie sich mit unbegreiflicher Schnelligkeit. Es lag etwas Seltsames und Fremdes über ihrem Tanz. Es war, als spielten graue Schatten ein Spiel, dem die Augen kaum zu folgen vermochten. Es war, als hätten sie es von den Nebeln gelernt, die über den einsamen Mooren schweben. Es lag Zauberei darin. Alle, die noch nie auf dem Kullaberge gewesen waren, begriffen, warum die ganze Zusammenkunft ihren Namen nach dem Tanz der Kraniche hatte. Es lag Wildheit darüber, aber das Gefühl, das es wachrief, war trotzdem eine sanfte Sehnsucht. Niemand dachte jetzt mehr daran, zu kämpfen. Aber statt dessen empfanden alle, die Beschwingten und die, so da keine Schwingen hatten, ein Sehnen, unendlich hoch emporzusteigen, sich über die Wolken zu erheben, das zu suchen, was dahinter war, den beschwerenden Körper abzuwerfen, der zur Erde niederzog, und zu dem Überirdischen emporzuschweben.

Eine solche Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, nach dem, was sich hinter dem Leben verbirgt, empfanden die Tiere nur einmal im Jahre, nämlich an dem Tage, wo sie den großen Kranichtanz sahen.

VI. Im Regenwetter

Mittwoch, den 30. März.

Es war der erste Regentag auf der Reise. Während der ganzen Zeit, die sich die wilden Gänse in der Gegend des Bombsees aufgehalten, hatten sie gutes Wetter gehabt, aber an demselben Tage, als sie die Reise gen Norden antraten, fing es an zu regnen, und der Junge mußte mehrere Stunden ganz durchnäßt und zähneklappernd vor Kälte auf dem Gänserücken sitzen. Am Morgen, als sie von dannen zogen, war es still und klar. Die wilden Gänse flogen hoch oben in der Luft, gleichmäßig und ohne Hast, in strenger Ordnung, mit Akka an der Spitze, und die übrigen in zwei schrägen Reihen hinter ihr drein. Sie ließen sich keine Zeit, die Tiere auf dem Felde zu necken, da sie aber nicht imstande waren, sich ganz ruhig zu verhalten, sangen sie die ganze Zeit im Takt mit den Flügelschlägen ihren gewöhnlichen Lockruf: »Wo bist du? Hier bin ich. Wo bist du? Hier bin ich.«

Sie riefen alle gleich eifrig, und sie hielten nur hin und wieder inne, um den weißen Gänserich auf die Wegezeichen aufmerksam zu machen, nach denen sie ihren Kurs nahmen. Auf dieser Reise bestanden die Zeichen aus den kahlen Hügeln des Linderoder Abhanges, dem Schloß Ovesholm, dem Kristianstädter Kirchturm, der Königsburg Backaskog auf der schmalen Landzunge zwischen dem Omannasee und dem Ivösee und aus dem steilen Abhang des Ryßberges.

Es war eine einförmige Reise, und als die Regenwolken sich zusammenzogen, schien es dem Jungen geradezu, als sei dies eine Abwechslung. In alten Zeiten, als er die Regenwolken nur von unten gesehen hatte, fand er, daß sie grau und langweilig waren, aber es war etwas ganz anderes, oben zwischen ihnen zu sein. Jetzt konnte er deutlich sehen, daß die Wolken mächtige Frachtwagen waren, die mit wolkenhohen Fudern am Himmel entlang fuhren: einige von ihnen waren mit großen grauen Säcken beladen, andere mit Tonnen, die so groß waren, daß sie einen ganzen See fassen konnten, und wieder andere mit großen Kübeln und Flaschen, die zu einer gewaltigen Höhe aufgestapelt waren. Und als so viele Wagen dahergefahren waren, daß sie den ganzen Himmelsraum füllten, war es, als gäbe einer ein Zeichen, denn auf einmal fing es an, aus Kübeln, Tonnen, Flaschen und Säcken Wasser auf die Erde hinab zu strömen.

In demselben Augenblick, als die ersten Frühlingsschauer auf die Erde niederschlugen, stimmten alle Vögel in Hainen und Buschwerken ein solches Freudengeschrei an, daß die ganze Luft davon widerhallte, so daß der Junge zusammenzuckte. »Jetzt bekommen wir Regen, der Regen bringt uns den Frühling, der Frühling bringt uns Blumen und grüne Blätter, und Blumen bringen uns Larven und Insekten, Larven und Insekten bringen uns Essen, und gutes Essen ist das beste, was es gibt,« sangen die kleinen Vögel.

Auch die wilden Gänse freuten sich über den Regen, der kam, um die Pflanzen aus ihrem Schlaf zu erwecken und Löcher in die Eisdecke auf den Seen zu schlagen. Sie konnten nicht auf die Dauer so ernsthaft sein wie bisher, sondern ließen lustige Rufe über die Gegend unter ihnen erschallen.

Als sie über die großen Kartoffelfelder flogen, von denen es so viele in der Umgegend von Kristianstad gibt, und die noch kahl und schwarz dalagen, riefen sie: »Wacht auf und schafft Nutzen! Jetzt kommt jemand, der euch weckt! Jetzt habt ihr lange genug gefaulenzt.«

Wenn sie Leute sahen, die sich beeilten, ins Haus zu kommen, tadelten sie sie und sagten: »Weshalb habt ihr es so eilig? Seht ihr denn nicht, daß es Feinbrot und Spießkuchen regnet, Feinbrot und Spießkuchen!«

Da war eine große, dichte Wolke, die sich schnell nach Norden zu bewegte und dicht hinter den Gänsen her segelte. Fast glaubten sie, daß sie die Wolke mit sich zögen, und da sie gerade jetzt große Gärten unter sich gewahrten, riefen sie ganz stolz: »Hier kommen wir mit Anemonen, hier kommen wir mit Rosen, hier kommen wir mit Apfelblüten und Kirschenknospen, hier kommen wir mit Erbsen und Bohnen, hier kommen wir mit Rüben und Kohl. Nehme es entgegen, wer da will! Nehme es entgegen, wer da will!«

Nach dieser Melodie ging es, während die ersten Schauer fielen, als alle noch froh über den Regen waren. Aber als er den ganzen Nachmittag anhielt, wurden die Gänse ungeduldig und riefen den durstigen Wäldern um den Ivösee zu: »habt ihr noch nicht bald genug? Habt ihr noch nicht bald genug?«

Der Himmel wurde mehr und mehr grau überzogen, und die Sonne verkroch sich so gut, daß niemand begreifen konnte, wo sie geblieben war. Der Regen fiel dichter, peitschte hart gegen die Flügel und bahnte sich einen Weg zwischen den tranigen Außenfedern hindurch, bis ganz auf den Leib hinein. Die Erde war von einem Regennebel verhüllt; Seen, Berge und Wälder flossen zusammen in einem undeutlichen Wirrwarr, und man konnte die Wegezeichen nicht erkennen. Der Flug wurde langsamer und langsamer, die munteren Rufe verstummten, und der Junge fühlte die Kälte immer bitterer.

Aber er hielt trotzdem den Mut aufrecht, so lange er durch die Luft dahinritt. Und am Nachmittage, als sich die Gänse unter einer kleinen verkrüppelten Fichte mitten in einem großen Moor niedergelassen hatten, wo alles naß und alles kalt war, wo einige von den Erderhöhungen mit Schnee bedeckt waren und andere kahl aus einer Lache halbgeschmolzenen Eiswassers aufragten, da fühlte er sich auch keineswegs verzagt, sondern lief in fröhlicher Laune umher und suchte nach Moosbeeren und gefrorenen Kronsbeeren.

Aber dann kam der Abend, und die Dunkelheit senkte sich so dicht herab, daß nicht einmal Augen wie die des Jungen sie durchdringen konnten und die Einöde wurde so sonderbar häßlich und unheimlich. Der Junge lag unter den Flügel des Gänserichs eingebettet, aber er konnte nicht schlafen, kalt und naß, wie er war. Und er hörte so ein Pusseln und Rascheln und schleichende Schritte und drohende Stimmen, ihm wurde so bange, er wußte nicht, was er anfangen sollte. Er mußte dahin, wo Feuer und Licht war, wenn er nicht vor Angst umkommen sollte.

»Ob ich mich für diese eine Nacht zu den Menschen hinwagen soll?« dachte der Junge. »Wenn ich nur ein wenig beim Feuer sitzen und etwas zu essen bekommen könnte. Ich könnte ja vor Sonnenaufgang zu den wilden Gänsen zurückkehren.«

Er kroch unter dem Flügel hervor und ließ sich auf die Erde niedergleiten. Er weckte weder den Gänserich noch eine der anderen Gänse, sondern schlich still und unbemerkt über das Moor.

Er ahnte nicht, wo in aller Welt er war, ob in Schonen, in Smaaland oder in Bleking. Aber kurz bevor sie in das Moor heruntergeflogen waren, hatte er einen Schimmer von einem Dorf gesehen, und dahin wandte er nun seine Schritte. Es währte auch nicht lange, bis er einen Weg entdeckte, und bald befand er sich auf der Dorfstraße, die lang und mit Bäumen bepflanzt war, und zu deren beiden Seiten Häuser lagen.

Der Junge war in eins der großen Kirchdörfer gekommen, deren es oben im Lande so viele gibt, während man unten in der Ebene keine davon antrifft.

Die Häuser waren aus Holz und sehr zierlich gebaut. Die meisten hatten Giebel und Frontespize mit einem Rande aus geschnitzten Holzleisten, und Glasveranden mit einer bunten Fensterscheibe hier und da. Sie waren mit heller Ölfarbe gestrichen, Türen und Fensterpfosten schimmerten grün und blau, ja, sogar rot. Während der Junge so dahinging und die Häuser betrachtete, konnte er draußen auf dem Wege hören, wie die Leute, die in den warmen Stuben saßen, schwatzten und lachten. Die Worte konnte er nicht unterscheiden, aber er fand, es war schön, Menschenstimmen zu hören: »Ich möchte wohl wissen, was sie sagen würden, wenn ich anklopfte und um Einlaß bäte,« dachte er.

Das hatte er ja tun wollen, aber jetzt, wo er die erhellten Fenster sah, war die Angst vor der Dunkelheit überwunden. Dahingegen empfand er von neuem die Scheu, die ihn immer in der Nähe der Menschen befiel. »Ich will mich ein wenig mehr im Dorf umsehen,« dachte er, »ehe ich jemand um Einlaß bitte.«

An einem der Häuser war ein Balkon. Und gerade als der Junge vorüberging, wurden die Balkontüren geöffnet und gelber Lichtschimmer drang durch feine, leichte Gardinen. Und dann trat eine hübsche junge Frau auf den Balkon hinaus und lehnte sich über das Geländer: »Es regnet, jetzt bekommen wir Frühling,« sagte sie. Als der Junge sie sah, wurde ihm so sonderbar beklommen ums Herz. Er war nahe daran, zu weinen. Zum erstenmal überkam ihn ein unheimliches Gefühl, weil er sich von den Menschen ausgeschlossen hatte.

Bald darauf kam er an einem Kaufmannsgeschäft vorüber. Draußen vor dem Laden stand eine rote Säemaschine. Er blieb stehen und betrachtete sie, und kroch schließlich auf den Kutschersitz, auf den er sich niedersetzte. Als er dahinauf gekommen war, schnalzte er mit der Zunge und tat so, als säße er dort und führe. Er dachte daran, wie amüsant es sein würde, auf so einer feinen Maschine über ein Feld zu fahren. Einen Augenblick hatte er vergessen, wie er nun war, aber dann fiel es ihm wieder ein, und er sprang schnell von der Maschine herunter. Er wurde immer unruhiger. Da war doch gar mancherlei, worauf derjenige verzichten mußte, der immer unter den Tieren leben wollte. Die Menschen waren sowohl eigentümlich als auch tüchtig.

Er kam an der Post vorüber, und da dachte er an alle die Zeitungen, die jeden Tag mit Neuigkeiten aus allen Ecken der Welt anlangten. Er sah die Apotheke und die Doktorwohnung, und er dachte daran, wie groß die Macht der Menschen war, daß sie Krankheit und Tod bekämpfen konnten. Er kam an die Kirche und dachte daran, daß sie von Menschen erbaut sei, damit sie dort Reden hören konnten über eine Welt außer der, in der sie lebten, und über Gott und Auferstehung und das ewige Leben. Und je länger er dort ging, um so lieber wurden ihm die Menschen.

Kinder sind nun einmal so, daß sie nicht weiter denken als von der Nase bis zum Mund. Was gerade vor ihren Augen liegt, wollen sie sogleich haben, ohne sich daran zu kehren, was es ihnen kosten kann. Niels Holgersen hatte keinen Verstand davon gehabt, was er verlor, als er es vorzog, Kobold zu bleiben, jetzt überkam ihn jedoch eine furchtbare Angst, daß er vielleicht nie wieder seine wahre Gestalt erlangen würde.

Wie in aller Welt sollte er es anfangen, wieder Mensch zu werden? Das hätte er wirklich gern gewußt.

Er kletterte auf eine Treppe hinauf und setzte sich hin, um mitten in dem strömenden Regen nachzudenken. Dort saß er eine Stunde, zwei Stunden, und er sann und dachte, so daß er Runzeln auf der Stirn davon bekam. Aber er wurde deswegen nicht klüger. Es war, als wenn die Gedanken ihm nur rund im Kopf herumliefen. Je länger er dasaß, um so unmöglicher erschien es ihm, eine Lösung zu finden.

»Dies hier ist gewiß zu schwer für jemand, der so wenig gelernt hat wie ich,« dachte er schließlich. »Ich muß am Ende doch wohl zu den Menschen zurückgehen. Ich werde wohl den Pfarrer und den Doktor und den Schullehrer und andere gelehrte Leute fragen müssen, die wissen, was gegen so etwas hilft.«

So beschloß er denn, dies sogleich zu tun, und er erhob sich und schüttelte sich, denn er war so naß wie eine ertrunkene Maus.

Im selben Augenblick sah er eine große Eule daherfliegen und sich auf einen der Bäume setzen, die an der Straße entlang standen. Gleich darauf begann eine Horneule, die unter dem Dachfirst saß, sich zu rühren und zu rufen: »Quiwitt, quiwitt! Bist du wieder da, Sumpfeule? Wie ist es dir denn im Ausland ergangen?«

»Hab‘ Dank, Horneule! Mir ist es gut gegangen,« sagte die Sumpfeule, »Hat sich hier in der Heimat etwas Besonderes zugetragen, seit ich fort war?«

»Nicht hier in Bleking, Sumpfeule, aber in Schonen geschah es, daß ein Junge von einem Kobold verhext wurde und so klein gemacht worden ist wie ein Eichhörnchen, und dann ist er mit einer zahmen Gans nach Lappland gereist.«

»Das ist doch eine merkwürdige Nachricht, eine merkwürdige Nachricht. Kann er denn nie wieder ein Mensch werden, Horneule? Kann er nie wieder ein Mensch werden?«

»Das ist ein Geheimnis, Sumpfeule, aber ich will es dir trotzdem anvertrauen. Der Kobold hat gesagt, wenn der Junge gut acht gibt auf den zahmen Gänserich, so daß der wohlbehalten wieder heimgelangt, so …«

»Was weiter, Horneule? Was weiter? Was weiter?«

»Fliege mit nach dem Kirchturm hinauf, Sumpfeule, dann will ich es dir alles erzählen! Ich fürchte, es könnte mitten auf der Straße jemand sein, der lauscht.«

Damit flogen die Eulen von dannen, der Junge aber warf seine Mütze hoch in die Luft hinauf. »Wenn ich nur gut acht auf den Gänserich gebe, so komme ich wohlbehalten wieder nach Hause, dann werde ich wieder ein Mensch. Hurra! Hurra! Dann werde ich wieder ein Mensch!«

Er rief ganz laut Hurra, und es war merkwürdig, daß sie ihn nicht drinnen in den Häusern hörten. Aber das taten sie nicht, und er eilte, so schnell seine Füße ihn nur tragen wollten, wieder zu den wilden Gänsen in das nasse Moor hinaus.