Die Beerdigung war vorüber. Alle Gäste des Gänsemädchens Aase waren gegangen, und sie saß allein in der kleinen Hütte, die ihrem Vater gehört hatte. Sie hatte die Tür abgeschlossen, um Ruhe zu haben und an ihren Bruder denken zu können. Sie dachte an alles, was der kleine Mads gesagt und getan hatte, an eins nach dem andern, und das war so viel, daß sie vergaß zu Bett zu gehen und nicht nur den ganzen Abend, sondern bis spät in die Nacht sitzen blieb. Je mehr sie an den Bruder dachte, um so klarer wurde es ihr, wie schwer es sein würde, ohne ihn zu leben, und schließlich legte sie den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich. »Was soll aus mir werden, wenn ich den kleinen Mads nicht mehr habe,« schluchzte sie.
Es war, wie gesagt, spät in der Nacht, und das Gänsemädchen Aase hatte einen anstrengenden Tag gehabt, da war es denn nicht verwunderlich, daß der Schlaf sie übermannte, sobald sie den Kopf senkte. Und es war ja auch nicht verwunderlich, daß sie von dem träumte, an den sie fortwährend gedacht hatte. Es war ihr, als komme der kleine Mads leibhaftig zu ihr ins Zimmer herein. »Aase, jetzt mußt du dich aufmachen und versuchen, unsern Vater zu finden,« sagte er. – »Wie kann ich das nur, ich weiß ja nicht einmal, wo ich ihn suchen soll,« schien sie zu antworten. – »Darüber sollst du dir keine Sorgen machen,« entgegnete der kleine Mads frisch und fröhlich, wie es eine Art war. »Ich will dir schon jemand schicken, der dir helfen kann.«
Während das Gänsemädchen Aase träumte, daß der kleine Mads dies sagte, klopfte es an ihre Kammertür. Es war ein wirkliches Klopfen und nicht etwas, was sie träumte. Aber sie war in dem Maße von ihrem Traum befangen, daß sie nicht zu unterscheiden vermochte, was Wirklichkeit war und was Einbildung, und als sie hinging, um die Tür zu öffnen, dachte sie: ›Nun kommt ganz sicher der Helfer, den der kleine Mads mir zu schicken versprochen hat.‹
Hätte nun Schwester Hilma oder irgendein anderer richtiger Mensch auf der Schwelle gestanden, als das Gänsemädchen Aase die Tür öffnete, so würde sie gleich gemerkt haben, daß der Traum aus war, aber es war kein Mensch. Der geklopft hatte, war ein kleiner Wicht, nicht viel größer als eine Spanne hoch. Obgleich es spät in der Nacht war, war es doch noch so hell wie am Tage, und Aase sah sogleich, daß es derselbe kleine Bursche war, den sie und der kleine Mads, während sie das Land durchwanderten, ein paarmal getroffen hatten. Damals war sie bange vor ihm, und das würde sie auch jetzt gewesen sein falls sie richtig wach gewesen wäre. Aber sie hatte ein Gefühl, als träume sie noch, und darum blieb sie ruhig stehen. ›Dacht‘ ich mir’s doch, daß es der sei, den der kleine Mads mir schicken wollte, der mir behilflich sein sollte, den Vater zu finden,‹ dachte sie.
Und darin hatte sie nicht unrecht, denn der kleine Kerl kam gerade, um mit ihr über ihren Vater zu sprechen. Als er sah, daß sie nicht bange vor ihm war, erzählte er ihr mit wenigen Worten, wo der Vater zu finden sei, wie auch, was sie tun müsse, um zu ihm zu gelangen.
Aber während er sprach, erwachte das Gänsemädchen Aase allmählich zu vollem Bewußtsein, und als er geendet hatte, war sie ganz wach. Und da erschrak sie so darüber, daß sie hier stand und mit einem sprach, der nicht ihrer Welt angehörte, daß sie kein Wort über ihre Lippen zu bringen vermochte, nicht einmal einen Dank. Im Gegenteil, sie lief schnell in die Stube hinein und schlug die Tür hart hinter sich zu. Es war ihr freilich, als könne sie sehen, daß das Gesicht des Kleinen einen sehr betrübten Ausdruck annahm, als sie das tat; aber sie konnte nicht anders. Sie war ganz außer sich vor Entsetzen und kroch schnell in das Bett und zog die Decke über den Kopf.
Aber obwohl sie so bange vor dem Kleinen geworden war, begriff sie doch, daß er nur ihr Bestes gewollt hatte, und am nächsten Tage beeilte sie sich, das zu tun, wozu er ihr geraten hatte.
Auf dem linken Ufer des Luossojaure, eines kleinen Sees, der noch viele Meilen nördlicher liegt als Malmberget, war ein kleines Lappenlager. An dem südlichen Ende des Sees ragt ein mächtiger Bergkegel auf, der Kirunavåra heißt und der, wie man erzählte, aus lauter Eisenerz bestehen soll. Auf der nordöstlichen Seite lag ein anderer Berg, der Luossovåra hieß, und das war auch ein reicher Eisenberg. Man war jetzt im Begriff, eine Eisenbahn von Gellivare zu diesen Bergen hinauf zu führen, und in der Nähe von Kirunavåra wurden ein Bahnhof, ein Hotel und eine Menge Wohnungen für die Ingenieure und Arbeiter gebaut, die hier wohnen würden, wenn der Gewinn des Erzes erst ordentlich in Gang gekommen war. Es war dies eine ganze Stadt mit hübschen und gemütlichen Häusern, die dort hoch oben entstand, und zwar in einer Gegend, die so weit nördlich gelegen war, daß die kleinen, verkrüppelten Birken, die den Erdboden bedeckten, erst nach dem Hochsommer ihre Blätter aus den Knospen entfalten konnten.
Westlich von dem See lag das Land frei und offen, und da hatten, wie gesagt, ein paar Lappenfamilien ihr Lager aufgeschlagen. Sie waren vor einem Monat hierhergekommen und hatten nicht viel Zeit gebraucht, um ihre Wohnung in Ordnung zu bringen. Sie hatten weder Felsen sprengen noch zu mauern brauchen, um guten und ebenen Baugrund zu schaffen, sondern sobald sie einen trockenen und guten Platz in der Nähe des Sees gefunden, hatten sie nichts weiter zu tun gebraucht, als ein wenig Weidengestrüpp wegzuhauen und einige Erdhügel zu ebnen, um den Bauplatz herzurichten. Auch hatten sie nicht lange gezimmert und gehämmert, um feste Wände aus Balken herzustellen, und sie hatten sich keine Mühe damit gemacht, das Dach aufzurichten und es gut zu decken, oder die Wände inwendig mit Brettern zu bekleiden und Fenster einzusetzen; ja, nicht einmal um Türen und Schlösser hatten sie sich bekümmert. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als die Zeltpfähle tüchtig fest in den Boden zu rammen und Leinwand darüber zu hängen, dann war ihr Haus so gut wie fertig. Auch mit dem Hineinschaffen der Möbel hatten sie sich keine großen Umstände gemacht. Das Wichtigste war, einige Felle und Tannenzweige auf dem Boden auszubreiten und den großen Kessel, in dem sie ihr Renntierfleisch kochten, an einer eisernen Kette aufzuhängen, die oben an den Zeltstangen befestigt wurde.
Die Ansiedler auf der östlichen Seite des Sees, die sich aus Leibeskräften damit abmühten, ihre Häuser fertig zu schaffen, ehe der strenge Winter hereinbrach, wunderten sich über die Lappen, die seit vielen, vielen Hunderten von Jahren hier in dem kalten Norden umhergestreift waren, ohne daran zu denken, daß man andern Schutz gegen Sturm und Kälte haben könne, als ein paar dünne Zeltwände. Und die Lappen wunderten sich über die Ansiedler, die sich alle diese schwere und mühselige Arbeit machten, da zum Leben doch nichts weiter nötig war als der Besitz von einigen Renntieren und einem Zelt.
Eines Nachmittags im Juli regnete es dort oben am Luossojaure ganz fürchterlich, und die Lappen, die sich sonst zur Sommerzeit nicht viel innerhalb ihrer Zeltwände aufhielten, waren alle miteinander in eins der Zelte gekrochen und kauerten dort um das Feuer und tranken Kaffee.
Während sie da saßen und noch so vergnüglich bei der Kaffeetasse plauderten, kam ein Boot von der Kirunaerseite herübergerudert und legte bei dem Lappenlager an. In dem Boot saßen ein Arbeiter und ein kleines Mädchen, das wohl dreizehn bis vierzehn Jahre alt sein mochte; sie stiegen bei dem Lager aus. Die Hunde fuhren mit heftigem Gebell auf sie ein, und einer der Lappen steckte den Kopf zur Zeltöffnung heraus, um zu sehen, was es gäbe. Er war sehr erfreut, als er den Arbeiter sah, denn der war ein guter Freund der Lappen, ein munterer und redseliger Mann, der die Sprache der Lappen sprechen konnte. Der Lappe rief ihm gleich zu, er solle ins Zelt hineinkommen. »Du kommst wie gerufen, Söderberg,« rief er. »Der Kaffeekessel hängt über dem Feuer; bei diesem Regenwetter kann doch niemand etwas anfangen. Komm herein und erzähle uns etwas Neues.«
Der Arbeiter kroch zu den Lappen hinein, und mit viel Mühe, aber unter lustigem Scherzen und Lachen, gelang es, für ihn und das kleine Mädchen Platz in dem Zelt zu schaffen, das schon ganz voll von Menschen war. Der Mann begann sofort lappländisch mit seinen Wirten zu sprechen. Währenddessen saß das Mädchen, das mit ihm gekommen war, und das nichts von der Unterhaltung verstand, ganz stumm da und betrachtete erstaunt den Kochtopf und den Kaffeekessel, das Feuer und den Rauch, die Lappen und die Lappenfrauen, die Kinder und die Hunde, die Wände und den Fußboden, die Kaffeetassen und die Tabakpfeifen, die bunten Kleider und die geschnitzten Gerätschaften.
Aber auf einmal hielt sie mit ihrer Untersuchung inne und schlug die Augen nieder, denn sie merkte, daß alle im Zelt sie ansahen. Söderberg mußte etwas von ihr erzählt haben, denn sowohl die Lappen als auch die Lappenfrauen nahmen ihre kurzen Tabakpfeifen aus dem Munde und starrten sie an. Der ihr zunächstsitzende Lappe klopfte ihr auf die Schulter und sagte auf schwedisch: »Gut! Gut!« Eine Lappenfrau schenkte eine große Tasse Kaffee ein, die ihr mit vieler Mühe hinübergereicht wurde, und ein Lappenjunge in ihrem Alter kroch zu ihr hinüber. Da blieb er liegen und glotzte sie an.
Sie erriet, daß Söderberg den Lappen erzählt haben mußte, wie sie das große Begräbnis für ihren Bruder, den kleinen Mads veranstaltet hatte, aber sie saß da und wünschte, daß er nicht so viel von ihr erzählen möge, sondern die Lappen fragen wollte, ob sie nichts von ihrem Vater wüßten. Der kleine Wicht hatte gesagt, daß er sich bei den Lappen aufhalte, die ihr Lager westlich vom Luossojaure aufgeschlagen hätten, und da hatte sie um Erlaubnis gebeten, mit einem Kieszug da hinauf zu fahren – denn richtige Züge gingen noch nicht auf der Bahn – um nach ihrem Vater suchen zu kommen. Alle, die Aufseher wie auch die Arbeiter taten ihr Bestes, um ihr zu helfen, und in Kiruna hatte ein Ingenieur Söderberg, der Lappisch sprechen konnte, mit ihr über den See geschickt, um sich nach dem Vater zu erkundigen.
Sie hatte gehofft, daß sie ihn treffen würde, sobald sie hier ankäme, und sie hatte ein Gesicht nach dem andern im Zelt angesehen, konnte aber gar nicht in Zweifel sein, daß sie alle dem Lappenvolk angehörten. Der Vater war nicht unter ihnen.
Sie sah, daß die Lappen und Söderberg immer ernsthafter wurden, je länger sie miteinander redeten, und die Lappen schüttelten die Köpfe und klopften sich an die Stirn, als sprächen sie von jemand, der nicht ganz bei Verstand sei. Da wurde sie so unruhig, daß sie es nicht länger aushalten konnte, still zu sitzen und zu warten, und sie fragte Söderberg, was die Lappen von ihrem Vater wüßten.
»Sie sagen, er ist fortgegangen, um zu fischen,« antwortete der Arbeiter. »Sie wissen nicht, ob er heute abend noch ins Lager zurückkommt, aber sobald das Wetter ein wenig besser wird, will einer von ihnen ausgehen und nach ihm suchen.«
Dann wandte er sich wieder an die Lappen und sprach eifrig mit ihnen weiter. Er wollte offenbar nicht, daß Aase noch mehr Fragen über ihren Vater an ihn richtete.
*
Am nächsten Morgen war schönes Wetter. Ola Serka selbst, der vornehmste unter den Lappen, hatte gesagt, er wolle ausgehen und nach Aases Vater suchen. Aber er beeilte sich nicht; er kauerte vor dem Zelte, dachte an Jon Assarson und überlegte, wie er ihm die Nachricht beibringen sollte, daß seine Tochter gekommen war, um ihn zu suchen. Es handelte sich nämlich darum, dies so zu bewerkstelligen, daß Jon Assarson nicht erschrak und entfloh, denn er war ein sonderbarer Mann, den der Anblick von Kindern bange machte. Er pflegte zu sagen, ihn befielen so trübe Gedanken, wenn er sie sähe, und das könne er nicht ertragen.
Während Ola Serka hierüber nachdachte, saßen das Gänsemädchen Aase und Aslak, der Lappenjunge, der am vorhergehenden Abend vor ihr gelegen und sie angeglotzt hatte, auf dem freien Platz vor dem Zelt und plauderten miteinander. Aslak war zur Schule gegangen und konnte Schwedisch sprechen. Er erzählte Aase von dem Leben der Lappen und versicherte sie, daß sie besser dran seien als alle andern Menschen. Aase fand, daß ihr Leben schrecklich sei, und das sagte sie. »Du weißt nicht, was du sprichst,« sagte Aslak. »Bleibe nur eine Woche bei uns, und du wirst sehen, daß wir das glücklichste Volk auf der ganzen Erde sind.«
»Wenn ich noch eine Woche hierbleibe, so fürchte ich, daß ich von all dem Rauch da drinnen im Zelt erstickt werde,« sagte Aase. – »So darfst du nicht reden,« sagte der Lappenjunge. »Du weißt nichts von uns. Ich will dir eine Geschichte erzählen, daraus kannst du sehen, daß du immer lieber bei uns sein wirst, je länger du hier bist.«
Und dann begann Aslak, Aase von der Zeit zu erzählen, wo die große Krankheit, die man den schwarzen Tod nannte, durch das Land ging. Er wußte nicht, ob sie hier oben in dem richtigen Lappland, wo sie sich jetzt befanden, gewütet hatte, aber in Jämtland hatte sie so arg gehaust, daß alle Lappen, die dort im Gebirge und in den Wäldern wohnten, bis auf einen Jungen von fünfzehn Jahren gestorben waren, und von den Schweden, die in der Flußtälern wohnten, blieb auch nur ein Mädchen am Leben, das ebenfalls fünfzehn Jahre alt war.
»Der Junge und das Mädchen waren einen ganzen Winter in dem öden Lande umhergewandert, um nach Menschen zu suchen, und als der Frühling kam, stießen sie endlich aufeinander,« erzählte Aslak weiter. »Da bat das schwedische Mädchen den Lappenjungen, mit ihr südwärts zu ziehen, damit sie zu Leuten ihres eigenen Stammes kämen. Sie wolle nicht in Jämtland bleiben, wo alles ausgestorben war. ›Ich will dich führen, wohin du willst,‹ sagte der Junge, ›aber nicht vor dem Winter. Jetzt ist es Frühling, und du weißt, daß wir, die wir zu dem Lappenvolk gehören, dahin gehen müssen, wohin unsere Rentiere uns führen.‹
Das schwedische Mädchen war das Kind reicher Eltern. Sie war daran gewöhnt, unter einem Dach zu wohnen, in einem Bett zu schlafen und an einem Tisch zu essen. Sie hatte die armen Gebirgsbewohner immer verachtet und meinte, daß die, so da unter offenem Himmel wohnten, sehr unglücklich sein müßten. Aber sie fürchtete sich, in ihr Heim zurückzukehren, wo nichts war als tote Menschen. ›Ja, dann laß mich aber mit dir auf die Berge hinaufziehen,‹ sagte sie zu dem Jungen, ›dann brauche ich doch nicht hier allein umherzuwandern, ohne je eine menschliche Stimme zu hören.‹ Darauf ging der Junge gern ein, und so kam es, daß das Mädchen die Renntiere auf ihrer Wanderung ins Gebirge begleitete. Die Herde sehnte sich nach den guten Bergweiden und legte an jedem Tage eine lange Strecke zurück. Da war keine Zeit, ein Zelt aufzuschlagen. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich auf den Schnee zu werfen und ein wenig zu ruhen, während die Renntiere Rast machten, um zu weiden. Die Tiere fühlten den Südwind durch ihren Pelz wehen; sie wußten, daß er im Laufe weniger Tage den Schnee von den Berghängen wegfegen würde. Das Mädchen und der Junge mußten ihnen durch schmelzenden Schnee und über brechendes Eis nacheilen. Als sie endlich so hoch ins Gebirge hinaufgekommen waren, daß der Nadelwald aufhörte, und die verkrüppelten Birken begannen, rasteten sie einige Wochen und warteten, daß der Schnee auf den obersten Berghalden schmelzen sollte; dann zogen sie da hinauf. Das Mädchen jammerte, keuchte und stöhnte und sagte wieder und wieder, sie sei müde, sie müsse umkehren und wieder ins Tal hinabsteigen, aber sie ging trotzdem lieber mit als daß sie allein blieb, ohne eine Menschenseele, mit der sie ein Wort sprechen konnte.
Als sie die Gebirgsebene erreicht hatten, schlug der Junge auf einem schönen, grünen Platz, der zu einem Gebirgsbach sanft abfiel, ein Zelt für das Mädchen auf. Am Abend fing er die Renntierkühe mit einer Wurfleine ein, molk sie und gab ihr Renntiermilch zu trinken. Er fand auch ein wenig Renntierkäse und getrocknetes Renntierfleisch, das seine Leute, als sie im vorigen Sommer dort lagerten, oben auf dem Berge versteckt hatten. Aber das Mädchen jammerte immer und war nie zufrieden. Sie wollte weder Renntierkäse noch getrocknetes Renntierfleisch essen, auch wollte sie keine Renntiermilch trinken. Sie konnte sich nicht darin finden, im Zelt zu kauern oder im Freien mit ein paar Zweigen unter sich und nur mit einem Renntierfell bedeckt, zu schlafen. Aber der Sohn des Gebirgsvolks lachte nur über all ihr Gejammer und fuhr fort, gut gegen sie zu sein.
Nach Verlauf einiger Tage kam das Mädchen zu dem Jungen, als er dasaß und die Renntiere molk und bat, ob sie ihm nicht helfen dürfe. Sie übernahm es auch, Feuer unter dem Kessel anzuzünden, wenn Renntierfleisch gekocht werden sollte, Wasser zu tragen und Käse zu machen. Nun kam bald eine schöne Zeit, das Wetter war warm, und es war leicht, Essen zu beschaffen. Sie gingen zusammen aus und legten Vogelschlingen, fischten Lachsforellen in den Bächen und pflückten Multebeeren in den Mooren.
Als der Sommer vorüber war, zogen sie so tief vom Gebirge herab, daß sie die Grenze zwischen Nadel- und Laubwald erreichten. Dort schlugen sie wieder ihr Lager auf. Es war jetzt Schlachtzeit, und sie mußten jeden Tag hart arbeiten, aber es war auch eine gute Zeit, denn sie konnten sich noch bessere Nahrung verschaffen als im Sommer. Als der Schnee kam und das Eis anfing, die Seen zu bedecken, zogen sie weiter ostwärts in den dichten Tannenwald hinab. Sobald sie ihr Zelt errichtet hatten, begannen sie mit den Winterarbeiten. Der Junge lehrte das Mädchen, Fäden aus Renntiersehnen zu drehen, die Felle zu bereiten, Kleider und Schuhe daraus zu nähen, Kämme und allerlei Gerät aus dem Geweih der Renntiere anzufertigen, auf Schneeschuhen zu laufen und im Renntierschlitten zu fahren. Als der dunkle Winter vergangen war und die Sonne wieder warm zu scheinen anfing, sagte der Junge zu dem Mädchen, jetzt wolle er sie nach dem Süden begleiten, damit sie ihr Volk und ihren eigenen Stamm finden könne. Da sah ihn das Mädchen verwundert an: »Warum willst du mich wegschicken?« fragte sie. »Sehnst du dich danach, mit deinen Renntieren allein zu sein?« – »Ich dachte, du sehntest dich fort,« sagte der Junge. – »Ich habe nun fast ein Jahr das Leben des Lappenvolkes gelebt,« erwiderte das Mädchen. »Ich kann nicht mehr zu meinem Volk zurückkehren und in engen Wohnungen leben, nachdem ich frei in den Bergen und Wäldern umhergewandelt bin. Jage mich nicht weg, laß mich hier bleiben, denn euer Leben ist besser als das unsere.«
Und das Mädchen blieb ihr ganzes Leben lang bei dem Jungen und sehnte sich nie wieder nach ihrem Volk und dem Leben in den Tälern. »Und wenn du, Aase, nur einen Monat hier bleiben wolltest, so würdest du dich auch nie mehr von uns trennen wollen.«
Mit diesen Worten schloß der Lappenjunge Aslak seine Erzählung, und im selben Augenblick nahm sein Vater, Ola Serka, die Pfeife aus dem Mund und erhob sich. Der alte Ola verstand mehr Schwedisch, als er zugeben wollte, und er hatte die Worte des Sohnes verstanden. Und während er ihnen lauschte, war es ihm plötzlich klar geworden, wie er es machen müsse, um Jon Assarson mitzuteilen, daß seine Tochter gekommen sei, um ihn zu suchen.
*
Ola Serka ging an den Luossojaure hinab und wanderte am Ufer entlang, bis er einen Mann antraf, der auf einem Stein saß und angelte. Der Fischer hatte graues Haar und seine Haltung war gebückt. Die Augen sahen müde aus, und es lag etwas Schlaffes und Hilfloses über seiner ganzen Erscheinung; er sah aus wie jemand, der versucht hat, etwas zu tragen, das zu schwer für ihn war, oder etwas zu ergründen, was zu schwierig war, und der nun gebrochen ist und mißmutig, weil ihm das nicht gelungen ist.
»Du hast scheinbar Glück bei deinem Fischfang gehabt, Jon, da du die ganze Nacht hier gesessen und geangelt hast,« sagte der Bergbewohner auf Lappländisch, indem er herantrat.
Der andere fuhr zusammen und sah auf. Der Köder an seiner Angel war weg, und es lag nicht ein einziger Fisch neben ihm. Er befestigte schnell einen neuen Köder an dem Angelhaken und warf die Leine wieder aus. Ola Serka hatte sich indessen neben ihn gesetzt.
»Ich möchte gern mit dir über etwas reden,« begann er. »Du weißt, daß ich eine Tochter hatte, die im vergangenen Jahr gestorben ist, und wir haben sie seither immer vermißt.« – »Ja, das weiß ich,« erwiderte der Fischer kurz, als sei es ihm unangenehm, an ein verstorbenes Kind erinnert zu werden. Er sprach gut Lappländisch. – »Aber es hat keinen Zweck, das Leben zu vertrauern,« fuhr der Lappe fort. – »Nein, das hat wohl keinen Zweck.« – »Und nun habe ich gedacht, ich wollte ein anderes Kind annehmen. Meinst du nicht auch, daß das klug wäre?« – »Es kommt darauf an, was für ein Kind es ist, Ola,«
»Ich will dir erzählen, was ich von dem Mädchen weiß, Jon!« sagte Ola, und dann erzählte er dem Fischer, zur Hochsommerzeit seien ein paar fremde Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu Fuß nach Malmberget gekommen, um ihren Vater zu suchen, und als sie hörten, daß der Vater abwesend sei, seien sie dageblieben, um auf ihn zu warten. Aber während sie sich dort aufhielten, sei der Junge bei einer Minensprengung ums Leben gekommen, und da habe das Mädchen durchaus gewollt, daß ein großes Begräbnis ihm zu Ehren veranstaltet werde. Darauf beschrieb Ola sehr schön, wie das arme Mädchen alle Menschen bewogen habe, ihr zu helfen, und wie sie zum Inspektor gegangen war, um mit ihm zu reden.
»Ist dies das Mädchen, das du zu dir nehmen willst, Ola?« fragte der Fischer. –»Ja,« sagte der Lappe. »Als wir von ihr hörten, mußten wir alle miteinander weinen, und wir waren uns alle darin einig, daß, wer eine so gute Schwester gewesen, auch eine gute Tochter sein müsse, und wir wünschten, daß sie zu uns kommen möge.« – Der andere saß eine Weile stumm da. Es war klar, daß er die Unterhaltung nur fortsetzte, um seinem Freund, dem Lappen, eine Freude zu bereiten.
»Es ist wohl von deinem eigenen Stamm, dies Mädchen?« – »Nein, es gehört nicht zum Lappenvolk.« – »Dann ist sie aber doch wohl eine Tochter von Ansiedlern, so daß sie an das Leben hier im Norden gewöhnt ist?« – »Nein, sie stammt weit her aus dem Süden,« sagte Ola und sah dabei aus, als habe das gar nichts mit der Sache zu tun. Aber nun wurde der Fischer eifriger. »Dann glaube ich nicht, daß du sie zu dir nehmen solltest,« sagte er. »Sie kann es gewiß nicht vertragen, zur Winterzeit in einem Lappenzelt zu wohnen, wenn sie nicht von Geburt an daran gewöhnt ist.« – »Sie bekommt gute Eltern und gute Geschwister im Lappenzelt,« fuhr Ola Serka beharrlich fort. »Es ist schlimmer allein zu sein, als zu frieren.«
Aber es schien so, als wenn der Fischer immer eifriger würde, die Sache zu verhindern. Es war, als könne er sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß ein Kind, das schwedische Eltern hatte, unter den Lappen aufgenommen werden sollte. »Du sagtest doch, sie hatte einen Vater in Malmberget?« – »Er ist tot,« sagte der Lappe kurz. – »Bist du dessen auch ganz sicher, Ola?« – »Da braucht man doch nicht mehr zu fragen!« entgegnete der Lappe verächtlich. »Das ist doch ganz selbstverständlich. Das Mädchen und ihr Bruder hätten doch nicht nötig gehabt, allein durch das Land zu wandern, wenn ihr Vater noch am Leben gewesen wäre! Sollten zwei kleine Kinder gezwungen sein, sich selbst zu versorgen, wenn sie einen Vater hätten? Sollte das kleine Mädchen es nötig gehabt haben, selbst zu dem Inspektor zu gehen und mit ihm zu reden, wenn ihr Vater noch gelebt hätte? Meinst du, sie würde jetzt auch nur einen Augenblick verlassen sein, jetzt, wo ganz Lappland davon spricht, was für ein tüchtiges kleines Mädchen sie ist, wenn ihr Vater nicht tot wäre?«
Der Mann mit den müden Augen wandte sich nach dem Lappen um. »Wie heißt sie, Ola?« fragte er. Der Lappe dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß es nicht mehr. Aber ich will sie fragen.« – »Du willst sie fragen? Ist sie denn schon hier?« – »Ja, sie ist da oben im Zelt.« – »Wie, Ola, hast du sie schon zu dir genommen ehe du noch weißt, was ihr Vater dazu sagen wird?« – »Ich brauche mich doch nicht an ihren Vater zu kehren. Ist er nicht tot, dann will er jedenfalls nichts von seinem Kinde wissen. Er kann ja nur froh sein, daß sich ein anderer ihrer annehmen will.«
Der Fischer warf seine Angelrute hin und richtete sich auf. Es war Bewegung in ihn gekommen, als sei das Leben von neuem in ihm erwacht. »Der Vater ist wohl nicht so wie andere Menschen,« fuhr der Lappe fort. »Er ist vielleicht einer von denen, die von finsteren Gedanken verfolgt werden, so daß sie es bei keiner Arbeit aushalten können. Ist das ein Vater, den es sich verlohnt zu haben? Das Mädchen selbst glaubt, daß er lebt, aber ich sage, er muß tot sein.«
Während Ola dies sagte, stand der Fischer auf und ging am See entlang. »Wo willst du hin?« fragte der Lappe. – »Ich will mir deine Pflegetochter ansehen, Ola!« – »Das ist gut.« sagte der Lappe. »Komm nur und sieh sie dir an! Ich glaube, du wirst finden, daß ich eine gute Tochter bekomme.«
Der Schwede ging so schnell, daß der alte Ola kaum Schritt mit ihm halten konnte. Als sie eine Strecke zurückgelegt hatten, sagte Ola zu seinem Kameraden: »Jetzt fällt mir ein, daß sie Aase Jonsdatter heißt, die Kleine, die ich zu mir nehmen will.« Der andere beschleunigte nur seine Schritte, und der alte Ola war so froh, daß er gern laut gejubelt hätte. Als sie soweit gekommen waren, daß sie die Zelte sehen konnten, sagte Ola noch ein paar Worte: »Sie ist hierher gekommen, um ihren Vater zu suchen, nicht um meine Pflegetochter zu werden; findet sie ihn aber nicht, so will ich sie gern in meinem Zelt behalten.« Der andere eilte nur mit noch größerer Hast vorwärts. »Dacht‘ ich mir’s doch, daß er erschrecken würde, wenn er hörte, daß ich seine Tochter unter die Lappen aufnehmen wollte!« sagte Ola vor sich hin.
Als der Mann aus Kiruna, der Aase nach dem Lappenlager hinübergerudert hatte späterhin am Tage wieder zurückruderte, hatte er zwei Menschen in seinem Boot, die dicht nebeneinander saßen und sich so fest an der Hand hielten, als ob sie sich nie wieder trennen wollten. Es waren Jon Assarson und seine Tochter. Sie sahen beide ganz anders aus als vor ein paar Stunden. Jon Assarson machte längst nicht mehr einen so müden und gebeugten Eindruck, und seine Augen waren klar und gut, als habe er nun eine Antwort auf das bekommen, was ihn solange bekümmert hatte; und das Gänsemädchen Aase sah nicht mehr mit dem altklugen, vorsichtigen Blick um sich, der ihr bisher eigen gewesen war. Sie hatte jetzt jemand, auf den sie sich stützen, auf den sie sich verlassen konnte, und es sah so aus, als sei sie auf dem Wege, wieder ein Kind zu werden.