Donnerstag, 6. Oktober.

Die Wildgänse flogen an dem Klarelf entlang, bis sie zu der großen Fabrik bei Munkefors kamen. Dann bogen sie nach Westen, dem Frydstal zu, ab. Ehe sie noch den Frykensee erreicht hatten, begann es zu dunkeln, und sie ließen sich auf einem flachen Moor eben in einem Bergwald nieder. Das Moor war ein vorzügliches Nachtquartier für Wildgänse, aber Niels Holgersen fand, daß es kalt und ungemütlich war, und er hätte gern einen besseren Platz zum Schlafen gehabt. Während sie noch hoch oben in der Luft gewesen waren, hatte er am Fuß des Bergrückens einige Höfe liegen sehen, und nun beeilte er sich, sie aufzusuchen.

Der Weg war länger, als er geglaubt hatte, und er war mehrmals nahe daran, wieder umzukehren. Aber endlich wurde der Wald lichter, und er kam auf eine Landstraße, die am Waldessaume entlang lief. Von der Straße führte eine schöne Birkenallee nach einem Herrenhofe, und er lenkte sogleich seine Schritte dahin.

Zuerst kam er auf einen Hofplatz, der von langen, roten Wirtschaftsgebäuden umgeben und so groß war wie ein Marktplatz. Als er ihn durchschritten hatte, kam er auf einen zweiten Hof, und dort sah er das Wohnhaus mit einem Seitenflügel, und davor einen Kiesweg und einen großen Rasen; hinter dem Hause aber lag ein Garten voller Bäume. Das Wohnhaus selbst war klein und unansehnlich, der Rasen aber war von einer Reihe mächtiger Ebereschen umkränzt, die so dicht nebeneinander standen, daß sie eine förmliche Wand bildeten, und dem Jungen war es, als sei er in einen prächtigen, gewölbten Saal gekommen. Über dem Ganzen wölbte sich ein blaßblauer Himmel; die Ebereschen waren gelb mit großen, roten Beerenbüscheln, das Gras war noch grün, aber das starke, klare Nordlicht warf einen solchen Glanz darauf, daß es so weiß wie Silber schimmerte.

Kein Mensch war zu sehen, so konnte der Junge frei umhergehen, wo er wollte, und als er in den Garten kam, entdeckte er etwas, das ihn sofort in gute Laune versetzte. Er war auf eine kleine Eberesche geklettert, um sich ein paar Beeren zu pflücken, ehe er aber noch einen Büschel abgebrochen hatte, gewahrte er einen Faulbaum, der ebenfalls voller Früchte stand. Schnell ließ er sich von der Eberesche herabgleiten und kletterte auf den Faulbaum hinauf, kaum aber saß er dort, als er einen Johannisbeerbusch erblickte, an dem noch lange, rote Trauben hingen. Und nun sah er, daß der ganze Garten voll von Stachelbeeren, Himbeeren und Hagebutten war. Im Küchengarten standen Rüben und Kohlrabi in Hülle und Fülle, alle Büsche waren voller Beeren, jede Pflanze trug Samen, und die Grashalme hatten kleine Ähren voller Körner. Und dort auf dem Gang – er hatte sich doch nicht geirrt? – nein, da lag wirklich ein großer, roter, schimmernder Apfel!

Der Junge setzte sich auf die Rasenkante und machte sich daran, mit seinem Messer kleine Stücke von dem Apfel abzuschneiden. »Wenn man nur immer so leicht zu einer guten Mahlzeit kommen könnte wie hier auf dem Hofe, dann wäre es nicht gar so schlimm, ein Heinzelmännchen zu sein,« dachte er.

Während er dasaß und aß, überlegte er, und schließlich fragte er sich selbst, ob es nicht vielleicht das beste wäre, wenn er gleich hier bliebe und die Wildgänse allein gen Süden ziehen ließe. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dem Gänserich Martin erklären soll, daß ich nicht nach Hause reisen kann,« dachte er. »Es wäre gewiß besser, wenn ich mich ganz von ihm trennte. Ich könnte es ja machen wie die Eichhörnchen, könnte mir einen Wintervorrat sammeln, daß ich nicht zu verhungern brauchte, und ein warmes Eckchen im Kuhstall oder im Pferdestall würde ich schon finden, damit ich nicht zu erfrieren brauchte!«

Wie er so dasaß und darüber nachdachte, hörte er ein leichtes Rauschen über seinem Kopf, und im nächsten Augenblick stand etwas neben ihm, das einem kleinen Birkenstumpf glich. Der Stumpf drehte und wendete sich, und zwei helle Punkte an dem oberen Ende schimmerten wie ein Paar glühende Kohlen. Es sah so aus wie der schrecklichste Zauberspuk, aber der Junge entdeckte sogleich, daß der Stumpf einen gekrümmten Schnabel hatte und ein Paar schwarze Federkränze um die glühenden Augen, und da beruhigte er sich wieder.

»Wie angenehm, ein lebendes Wesen zu treffen,« sagte er. »Vielleicht könnten Sie, Frau Nachteule, mir erzählen, wie dieser Ort heißt, und was für Leute hier wohnen?«

Die Nachteule hatte an diesem Abend wie an allen vorhergehenden Abenden auf einer Sprosse der großen Leiter gesessen, die an das Dach gelehnt stand und hatte auf die Kiesgänge und Rasenplätze herniedergelugt, um nach Mäusen auszuspähen. Aber zu ihrer Verwunderung hatte sich nicht einmal der Schwanz einer Maus blicken lassen. Statt dessen sah sie etwas, was einem Menschen glich, wenngleich es viel kleiner war, sich im Garten bewegen. »Da haben wir wohl den, der die Mäuse wegscheucht,« dachte die Nachteule. »Was für ein Wesen mag das nur sein?«

»Es ist kein Eichhörnchen, und ein junges Kätzchen ist es auch nicht, und auch kein Wiesel,« dachte sie weiter. »Ich sollte doch denken, daß ein Vogel, der so lange wie ich auf einem alten Herrenhof gewohnt hat, alles kennen sollte, was es auf der Welt gibt. Aber dies hier geht über meinen Verstand.«

Und sie starrte unverwandt auf das Ding nieder, das sich dort unten auf dem Kiesgang bewegte, bis ihre Augen glühten. Schließlich siegte doch die Neugier, und sie flog auf die Erde hinab, um den Fremden näher in Augenschein zu nehmen

Als Niels Holgersen zu sprechen begann, beugte sich die Eule vor und betrachtete ihn genau. »Er hat weder Klauen noch Stacheln,« dachte sie, »aber wer kann wissen, ob er nicht einen Giftzahn hat oder eine andere Waffe, die noch gefährlicher ist? Es wird wohl das beste sein, wenn ich versuche, erst ein wenig Näheres über ihn zu erfahren, ehe ich mich mit ihm einlasse.«

»Der Herrenhof heißt Mårbacka,« erwiderte die Eule, »und hier haben in alten Zeiten gute Menschen gewohnt. Aber was für einer bist denn du?« – »Ich gehe mit dem Gedanken um, hierher zu ziehen,« sagte der Junge, ohne die Frage der Eule geradezu zu beantworten. »Glaubst du, daß sich das machen ließe?« – »Ach ja, es ist übrigens jetzt nicht weit her mit dem Hof, im Vergleich zu dem, was er früher gewesen ist,« entgegnete die Eule, »aber es läßt sich hier ja immerhin leben. Es kommt freilich darauf an, wovon du zu leben beabsichtigst. Denkst du daran, dich auf die Mäusejagd zu legen?« – »Nein, Gott soll mich bewahren!« sagte der Junge. »Die Gefahr ist wohl größer, daß mich die Mäuse auffressen, als daß ich ihnen Schaden zufüge.«

»Ob er wohl wirklich so wenig gefährlich sein sollte, wie er sagt?« dachte die Nachteule. »Ich will doch lieber einen Versuch machen.« Sie schwang sich in die Luft empor, und einen Augenblick später hatte sie die Krallen in Niels Holgersens Schulter geschlagen und hackte nach seinen Augen. Niels hielt eine Hand vor die Augen und suchte sich mit der anderen zu befreien. Gleichzeitig schrie er aus Leibeskräften um Hilfe. Er merkte, daß er sich wirklich in Lebensgefahr befand, und er sagte zu sich selbst, daß es diesmal sicher mit ihm aus sein würde.

*

Aber nun muß ich erzählen, wie merkwürdig es sich traf, daß gerade in demselben Jahr, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen reiste, in Schweden eine Schriftstellerin war, die ein Buch über ihre Heimat schreiben sollte. Es sollte so ein Buch sein, das die Kinder in den Schulen lesen konnten. Hierüber hatte sie nun von Weihnacht bis zum Herbst nachgedacht, aber sie hatte noch nicht eine einzige Zeile von dem Buch geschrieben, und schließlich war sie des Ganzen so überdrüssig gewesen, daß sie zu sich selbst sagte: »Hierzu bist du nicht zu gebrauchen, setze dich lieber hin und dichte Geschichten und Märchen, wie du es sonst getan hast, und laß jemand anders dies Buch schreiben, denn es soll lehrreich und ernsthaft sein, und es darf kein unwahres Wort darin stehen!«

Sie war eigentlich entschlossen, ihr Vorhaben aufzugeben, aber sie hatte sich so darauf gefreut, etwas Schönes über Schweden zu schreiben, daß es ihr schwer wurde, den Gedanken ganz aufzugeben. Schließlich kam es ihr in den Sinn, daß sie vielleicht deswegen nicht mit der Arbeit zustande kommen könne, weil sie in einer Stadt saß und nichts weiter vor sich sah als Straßen und Mauern. Wenn sie aufs Land hinausreiste, wo sie Wälder und Felder sehen könne, würde es vielleicht besser gehen.

Sie stammte aus Värmland und war sich ganz klar darüber, daß sie das Buch mit dieser Landschaft beginnen lassen wollte. Und vor allen Dingen wollte sie von dem Hof erzählen, auf dem sie herangewachsen war. Es war ein altmodischer Herrenhof, der weltabgeschieden dalag, und auf dem sich viele altertümliche Sitten erhalten hatten. Sie dachte, es würde die Kinder amüsieren, von den vielen verschiedenen Beschäftigungen zu hören, die einander im Laufe des Jahres ablösten. Sie wollte ihnen erzählen, wie Weihnacht und Neujahr und Ostern und das Johannisfest in ihrem Hause gefeiert worden war, was für Möbel und Hausgerät sie gehabt hatten, und wie es in Küche und Vorratskammer, auf der Tenne und in der Scheune, im Stall und in der Backstube ausgesehen hatte. Aber als sie sich dann anschickte, darüber zu schreiben, wollte die Feder nicht vom Fleck. Sie konnte nicht begreifen, woher es kam, aber es war nun einmal so.

Es stand ja freilich im Geiste alles so deutlich vor ihr, als lebe sie noch mitten dazwischen. Aber sie sagte sich selbst, wenn sie nun doch einmal aufs Land reisen wolle, so könne sie ebensogut nach dem alten Hof hinausfahren und sich dort noch einmal umsehen, ehe sie darüber schrieb. Sie war seit vielen Jahren nicht dort gewesen, und eine Veranlassung, dahin zu reisen, war ihr willkommen. Im Grunde hatte sie immer Heimweh nach dem Heim ihrer Kindheit, wo sie auch sein mochte. Sie sah sehr wohl ein, daß es andere Orte gab, die schöner und auch besser waren, aber nirgends fand sie den Frieden und die Traulichkeit, die stets auf dem alten Herrenhof gewaltet hatte.

Es war indessen nicht so ganz leicht für sie, in die alte Heimat zu reisen, wie man hatte glauben sollen, denn der Hof war an Leute verkauft, die sie nicht kannte. Sie zweifelte freilich nicht daran, daß man sie freundlich aufnehmen würde, aber sie kam ja nicht nach dem alten Heim, um da zu sitzen und mit fremden Leuten zu schwatzen, sondern um sich so recht in das zu vertiefen, wie es in alten Zeiten gewesen war. Deswegen richtete sie es so ein, daß sie eines Abends spät dort eintraf, als die Arbeit beendet und das Gesinde schon ins Haus gegangen war.

Sie hätte nie gedacht, daß es so wunderlich sein könne, nach Hause zu kommen. Während sie im Wagen saß und sich auf dem Wege nach dem alten Hof befand, hatte sie ein Gefühl, als werde sie mit jeder Minute jünger und jünger, und bald war sie nicht mehr eine alte Person, deren Haar zu ergrauen begann, sondern ein kleines Mädchen mit kurzen Röcken und einem langen flachsblonden Zopf, der ihr auf dem Rücken hinabfiel. Wie sie so dahinfuhr und jedes Gehöft, an dem sie vorüberfuhr, wieder erkannte, war es ihr, als müsse alles daheim wieder ganz so werden wie in alten Zeiten. Der Vater und die Mutter und die Geschwister würden auf der Treppe stehen und sie empfangen, und die alte Haushälterin würde ans Fenster laufen, um zu sehen, wer da gefahren kam, und Nero und Freya und noch ein paar andere Hunde würden herbeistürzen und an ihr emporspringen.

Je mehr sie sich dem Hofe näherte, um so fröhlicher wurde sie. Es war Herbst und eine geschäftige Zeit mit einer Menge Arbeit stand bevor, aber gerade diese verschiedenen Arbeiten bewirkten, daß es daheim nie langweilig oder einförmig wurde. Auf dem Wege dahin hatte sie gesehen, daß die Leute dabei waren, Kartoffeln aufzunehmen, und das würden sie jetzt daheim wohl auch tun. Dann mußten zuerst Kartoffeln gerieben und Kartoffelmehl gemacht werden. Es war ein milder Herbst gewesen. Sie hätte gern gewußt, ob die Ernte aus dem Garten schon eingebracht war. Der Kohl stand jedenfalls noch draußen. Ob wohl der Hopfen schon gepflückt war, und ob man schon alle Äpfel abgenommen hatte?

Wenn sie nur nicht gerade beim großen Hausputz waren! Denn der Herbstmarkt stand vor der Tür. Zum Jahrmarkt mußte das ganze Haus blitzblank sein, der wurde als großes Fest angesehen, namentlich von dem Gesinde. Es war auch wirklich ein Vergnügen, am Abend vor dem Markt in die Küche hinauszukommen und den frisch gescheuerten, mit Wacholderzweigen bestreuten Fußboden zu sehen und die frisch getünchten Wände und das blanke Kupfergerät oben unter der Decke.

Aber wenn der Jahrmarkt vorüber war, kehrte noch keine Ruhe ein. Dann mußte ja der Flachs gebrochen werden. Der Flachs hatte während der Hundstage zum Trocknen auf einer Wiese ausgebreitet gelegen. Jetzt wurde er in die alte Backstube geschafft, und der große Backstubenofen wurde geheizt, damit der Flachs dörren sollte. Und wenn er dürre genug war, wurde eines Tages zu allen Nachbarfrauen geschickt. Sie setzten sich vor die Backstube und machten sich daran, den Flachs zu brechen. Sie schlugen mit Hecheln darauf los, um die feinen, weißen Fasern aus dem dürren Stroh herauszulösen. Die Frauen wurden bei der Arbeit ganz grau von Staub. Ihr Haar und ihre Kleider saßen voll von Spreu, aber sie waren trotzdem vergnügt. Den ganzen Tag lärmten die Hecheln und die Münder standen keinen Augenblick still. Wenn man in die Nähe der alten Backstube kam, klang es, als hause ein gewaltiger Sturm dadrinnen.

Nach dem Flachshecheln kamen die große Hartbrotbackerei, die Schafschur und der Umzugtag des Gesindes an die Reihe. Im November standen dann arbeitsreiche Schlachttage bevor, wo Fleisch eingesalzen wurde, wo man Blutwurst stopfte, Blutbrot buk und Lichte goß. Die Nähterin, die die eigengewebten, wollenen Kleider nähte, pflegte auch um diese Zeit zu kommen, und es waren ein paar fröhliche Wochen, wenn alle Dienstmädchen im Hause zusammen saßen und nähten. Der Schuster, der die Schuhe für den ganzen Hausstand anfertigte, saß zur selben Zeit drüben in der Knechtstube und arbeitete, und man war’s nie müde, ihm zuzusehen, wie er das Leder zuschnitt und versohlte und Flicken aufsetzte und Ringe in die Schnürlöcher einschlug.

Aber die größte Geschäftigkeit kam doch um Weihnachten. Der Luzientag, an dem das Stubenmädchen in weißem Kleide mit brennenden Lichtern im Haar umherging und das ganze Haus um fünf Uhr des Morgens zum Kaffee einlud, war gleichsam das Zeichen, daß man in den nächsten vierzehn Tagen nicht auf viel Schlaf würde rechnen können. Jetzt mußte Weihnachtsbier gebraut und Fische ausgelaugt und die Weihnachtsbäckerei und das Weihnachtsreinemachen vorgenommen werden.

Sie stand in ihren Erinnerungen mitten zwischen dem Backen, umgeben von Honigkuchen und Pfeffernüssen, als der Kutscher bei der Einfahrt in die Allee die Pferde anhielt, wie sie ihn gebeten hatte. Sie fuhr wie aus einem Traum in die Höhe. Ihr war ganz unheimlich zumute, wie sie am späten Abend ganz allein dasaß; eben hatte sie sich noch von allen ihren Lieben umgeben geglaubt. Als sie aus dem Wagen stieg und die Allee hinaufging, um unbemerkt in ihr altes Heim zu gelangen, empfand sie so bitter den Unterschied zwischen ehedem und jetzt, daß sie die größte Lust hatte, wieder umzukehren. »Was kann es nützen, daß ich hierher komme? Es kann hier ja doch nicht so sein wie in alten Zeiten,« dachte sie.

Aber da sie nun soweit gekommen war, meinte sie, den Hof müsse sie sich doch einmal ansehen, und sie ging weiter, obwohl ihr mit jedem Schritt schwerer ums Herz wurde.

Sie hatte gehört, der Hof solle sehr verfallen und verändert sein, und das war er auch wirklich. Aber jetzt am Abend konnte sie das nicht sehen. Sie fand im Gegenteil, daß alles noch so war wie einst. Hier lag der Teich, der in ihrer Kindheit voller Karaudschen gewesen war, die niemand fischen durfte, weil ihr Vater wollte, daß die Karaudschen hier in Frieden leben sollten. Da war der Seitenflügel mit der Gesindestube und der Vorratskammer und der Stall mit der Vesperglocke auf dem einen Flügel und der Windfahne auf dem anderen. Und der Hofplatz vor dem Wohnhause war noch immer ein eingeschlossener Raum ohne Aussicht nach irgendeiner Seite, ganz wie zu ihres Vaters Zeiten, denn er konnte es nicht übers Herz bringen, auch nur einen Busch weghauen zu lassen.

Sie war im Schatten unter dem großen Ahorn an der Einfahrt zu dem Hofe stehen geblieben und nun sah sie sich um. Und wie sie dastand, geschah das Merkwürdige, daß eine Schar Tauben geflogen kam und sich neben ihr niederließ.

Sie konnte kaum glauben, daß es wirkliche Vögel waren, denn Tauben pflegen nie nach Sonnenuntergang auszufliegen. Der helle Mondschein mußte sie wohl geweckt haben. Sie hatten offenbar geglaubt, daß es schon Tag sei und waren aus dem Taubenschlag herausgeflogen, aber dann waren sie verwirrt geworden und hatten sich nicht wieder heimfinden können. Als sie nun einen Menschen erblickten, flogen sie zu ihm hin, als wollten sie ihn um Hilfe bitten.

Zu Lebzeiten ihrer Eltern waren immer eine Menge Tauben auf dem Hof gewesen, denn die Tauben hatten auch zu den Tieren gehört, die ihr Vater unter seinen besonderen Schutz genommen hatte. Wenn nur die Rede davon war, eine Taube zu schlachten, wurde er schlechter Laune. Sie freute sich herzlich darüber, daß die schönen Vögel kamen und sie in der alten Heimat begrüßten. Wer weiß, vielleicht waren die Tauben zur Nachtzeit ausgeflogen, um ihr zu zeigen, daß sie die gute Heimstätte nicht vergessen hatten, die sie einst hier gehabt.

Oder hatte vielleicht der Vater seine Vögel mit einem Gruß zu ihr geschickt, damit sie sich nicht so ungemütlich und verlassen fühlen sollte, wenn sie in ihr ehemaliges Heim kam?

Während sie hierüber nachdachte, wurde die Sehnsucht nach alten Zeiten so stark in ihr, daß ihr Tränen in die Augen traten. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie auf dem Hofe geführt hatten. Sie hatten Arbeitswochen gehabt, aber auch Festzeiten, sie hatten den Tag hindurch viel zu tun gehabt, aber des Abends hatten sie um die Lampe versammelt gesessen und Tegner und Runeberg, Frau Lenngren und Frederika Bremer gelesen. Sie hatten Korn gebaut, aber auch Rosen und Jasmin gepflanzt; sie hatten Flachs gesponnen, aber beim Spinnen hatten sie Volkslieder gesungen. Sie hatten sich mit Weltgeschichte und Grammatik abgequält, aber sie hatten auch Komödie gespielt und Verse gedichtet; sie hatten am Feuerherd gestanden und Essen gekocht, aber sie hatten auch Klavier und Flöte und Gitarre und Violine spielen gelernt. Sie hatten in einem Garten Kohl und Rüben und Erbsen und Bohnen gepflanzt, aber sie hatten auch noch einen anderen Garten gehabt, der voller Äpfel und Birnen und allen möglichen Beeren gewesen war. Sie hatten einsam gelebt, aber gerade deswegen hatten sie in Märchen und Sagen gelebt. Sie hatten eigengemachte Stoffe getragen, aber daher hatten sie auch sorgenfrei und unabhängig leben können.

»Nirgends auf der Welt verstehen sie es, ein so gutes Leben zu führen wie auf so einem kleinen Herrenhof in meiner Jugend,« dachte sie. »Da war Arbeit zu seiner Zeit und Vergnügen zu seiner Zeit und Freude zu allen Zeiten. Wie gern würde ich doch hierher zurückkehren!« sagte sie. »Jetzt, wo ich den Hof gesehen habe, ist es schwer, wieder wegzureisen.«

Und dann wandte sie sich an die Taubenschar und sagte zu den Vögeln, indem sie über sich selbst lachte, während sie es sagte: »Wollt ihr nicht zu meinem Vater zurückfliegen und ihm sagen, daß ich Heimweh habe? Jetzt bin ich lange genug an fremden Orten umhergereist. Fragt ihn doch, ob er nicht dafür sorgen will, daß ich bald wieder in die Heimat zurückziehen kann!«

Kaum waren die Worte gesprochen, als der ganze Taubenschwarm sich in die Luft emporschwang und davonflog. Sie versuchte, den Vögeln mit den Augen zu folgen, sie verschwanden aber sofort. Es war als habe der ganze weiße Schwarm sich in der mondhellen Luft aufgelöst.

Kaum waren die Tauben verschwunden, als sie laute Schreie aus dem Garten vernahm, und als sie eiligst dahinlief, sah sie etwas sehr Merkwürdiges. Da stand ein einzig kleiner Knirps, kaum eine Spanne groß, und kämpfte mit einer Nachteule. Anfangs war sie so überrascht, daß sie sich kaum rühren konnte. Als aber der Kleine immer jammervoller schrie, legte sie sich rasch ins Mittel und trennte die Kämpfenden. Die Eule schwang sich auf einen Baum, aber das Männlein blieb auf dem Kiesweg stehen, ohne sich zu verstecken oder davonzulaufen. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe!« sagte er. »Aber es war dumm, daß Sie die Eule fortfliegen ließen. Ich kann nicht wegkommen, denn sie sitzt da oben auf dem Baum und lauert mir auf!«

»Freilich, das war gedankenlos von mir, daß ich sie wegfliegen ließ. Kann ich dich aber nicht dahin begleiten, wo du zu Hause bist?« sagte sie, die Märchen zu dichten pflegte, und nun nicht wenig erstaunt war, so unvermutet mit einem der Männlein in Unterhaltung gekommen zu sein. Aber eigentlich war sie gar nicht einmal so erstaunt. Es war, als habe sie die ganze Zeit, während sie hier im Mondschein vor ihrer alten Heimat auf und nieder gegangen war, erwartet, daß sie etwas Merkwürdiges erleben würde.

»Eigentlich hatte ich gedacht, die Nacht hier auf dem Hofe zu bleiben,« sagte der Kleine. »Wenn Sie mir nur einen sichern Platz zum Schlafen zeigen könnten, würde ich nicht vor Tagesanbruch nach dem Walde zurückkehren.« – »Soll ich dir einen Platz zum Schlafen zeigen«? Wohnst du denn nicht hier?« – »Ich kann mir denken, daß Sie mich für ein Heinzelmännchen halten!« sagte das Männlein jetzt. »Aber ich bin ein Mensch, so wie Sie; ich bin nur von einem Heinzelmännchen verwandelt worden.« – »Das ist doch das Sonderbarste, was ich je im Leben gehört habe. Kannst du mir nicht erzählen, wie sich das zugetragen hat?«

Niels Holgersen hatte nichts dagegen, seine Abenteuer zu erzählen, und seine Zuhörerin wurde, je weiter die Erzählung fortschritt, immer erstaunter und erfreuter. »Nein, welch ein Glück, daß ich hier jemand treffe, der auf einem Gänserücken durch ganz Schweden gereist ist!« dachte sie. »Alles, was er da erzählt, kann ich ja in mein Buch schreiben. Jetzt brauche ich mir deswegen keine Sorge mehr zu machen. Es war wirklich gut, daß ich nach Hause gereist bin! Wenn ich bedenke, daß die Hilfe da war, sobald ich nach dem alten Hof kam!« sagte sie zu sich selbst.

Im selben Augenblick durchzuckte sie ein Gedanke, den zu Ende zu denken sie kaum den Mut hatte. Sie hatte ihrem Vater durch die Tauben sagen lassen, daß sie Heimweh nach dem alten Hause habe, und gleich darauf war die Hilfe für das gekommen, worüber sie schon so lange nachgegrübelt hatte. Konnte das die Antwort ihres Vaters auf ihre Bitte sein?