Vom weißen Marmorstein ans brausende Meer

Dreiundzwanzigstes Stück.

Vom weißen Marmorstein ans brausende Meer

Querein durch die Felder lief der Hampelmann davon. Er suchte möglichst rasch die Hauptstraße zu erreichen, die zum Hause der Fee führte. Schon von weitem erkannte sein scharfes Auge das Wäldchen, er sah über die andern Bäume die Große Eiche emporragen, an der er einst Todesangst ausgestanden; aber wie er auch schaute und spähte, das weiße Häuschen war nirgends zu erblicken.

Eine traurige Ahnung beschlich ihn. Er fing einen schnelleren Schritt an und kam auf die grüne Wiese. Das Haus der Fee war nicht mehr da. Mitten im blumigen Grase aber lag ein weißer Marmorstein, der mit Goldbuchstaben beschrieben war. – Bengele konnte noch nicht lesen; aber schon beim Anblick des Steines kamen ihm die Tränen in die Augen.

Da kroch aus dem Grase neben dem Steine ein schwarzer Brummkäfer hervor und fing an unter den Buchstaben herzulaufen, so wie die Kinder den Zeilen mit dem Finger nachfahren, wenn sie noch nicht gut lesen können. Dabei brummte der Käfer wie die Orgel eine Trauermelodie und sang wehmütig und eintönig:

Hier ruht im süßen Schlummer
Das Mägdlein mit dem goldenen Haar.
Ihm brach das Herz vor Kummer,
Weil Bengele so treulos war.

Der Hampelmann zitterte; seine Beine wankten; er fiel nieder auf den kalten Marmorstein, küßte ihn hundertmal und weinte, – weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Am andern Morgen waren seine Augen tränenleer; aber seine Seufzer klangen noch viel erbarmungswürdiger.

»O, du liebe Fee«, schluchzte er, »warum bist du gestorben? – Warum bin nicht lieber ich gestorben? – Ich bin so böse, und du warst so gut! – Wo wird mein Vater sein? Sag mir doch, liebe Fee, wo kann ich ihn finden? – Ich will immer bei ihm bleiben, nie mehr davonlaufen, nie, nie, nie! – Gute Fee, bist du wirklich tot? – Wenn du mir noch gut bist, dann komm doch und lebe wieder! Ich bin ja dein Brüderlein Bengele. – Kannst du mich allein lassen, so ganz allein in der Welt? – Die Räuber werden wieder kommen und mich wieder aufhängen. Dann muß ich für immer sterben! – Was tue ich allein auf der Welt? – Dich und den Vater habe ich verloren; wer wird mir zu essen geben? – Wo kann ich schlafen? Wer macht mir meine Kleider? – Lieber Gott, laß mich auch sterben, es ist viel besser! Ich will auch sterben, ja, … ja … ja …«

Siehe, da kam ein riesengroßer Täuber geflogen. Mit weitgespannten Flügeln blieb er über Bengele in der Luft schweben und rief ihm zu:

»Sag mal, Kleiner, was machst du da?«

»Du siehst es doch, ich weine!« sagte Bengele, schaute auf und wischte sich mit dem Ärmel die Augen aus.

»Sag mir«, fuhr der Täuber fort, »kennst du nicht einen Hampelmann, der Bengele heißt?«

»Bengele? – hab‘ ich wirklich recht verstanden: Bengele?« rief der Hampelmann und sprang in die Höhe. – »Ich bin ja selbst der Bengele.« Rasch flog der Täuber zur Erde nieder und stand vor dem Hampelmann. Er war größer wie ein Truthahn.

»Du kennst doch auch Seppel?« fragte er weiter.

»Freilich! Das ist ja mein armer Vater. Hat er dir vielleicht etwas von mir gesagt? – Führe mich doch zu ihm! – Lebt er noch? – Sag mir, ums Himmels willen, lebt er noch?«

»Ich bin vor drei Tagen von ihm weggeflogen; er war am Meeresstrand.«

»Was machte er dort?«

»Einen kleinen Kahn, um über das Meer zu fahren. Über vier Monate schon zieht der arme Mann durch die Welt und sucht dich. Er hat dich nirgends finden können; jetzt will er übers Meer fahren und nach dir in fremden Ländern forschen; er meint, du seiest nach Amerika gegangen.«

»Ist es weit von hier ans Meer?« fragte Bengele.

»Über tausend Kilometer!«

»Über tausend Kilometer! – Lieber Täuber, wenn ich nur auch fliegen könnte!«

»Wenn du willst, trage ich dich ans Meer.«

»Was?«

»Du könntest dich auf meinen Rücken setzen; bist du schwer?«

»Ich schwer? Federleicht bin ich!«

Unverzüglich sprang Bengele dem Täuber auf den Rücken, setzte sich fest wie in einem Sattel, ein Bein links und ein Bein rechts, und rief laut:

»Nun mal los! Galopp, mein Pferdchen! Wir haben Eile und wollen bald am Ziele sein.«

Der Täuber flog auf und war in ein paar Minuten so hoch gestiegen, daß er fast an die Wolken stieß. Der Hampelmann wollte sehen, wie es unten auf der Erde aussah; aber er bekam solchen Schwindel und so große Angst, daß er beide Hände fester um den Federhals seines Luftpferdchens legte und sich ganz eng anschmiegte, um nicht herabzufallen.

Den ganzen Tag flogen sie schon. Gegen Abend sagte der Täuber: »Ich habe arg Durst.«

»Und ich arg Hunger«, meinte Bengele.

»Bei dem Taubenschlag dort wollen wir ein bißchen rasten; dann fliegen wir weiter, damit wir morgen früh ans Meer kommen.«

Sie flogen in den Taubenschlag. Drinnen fand sich nur eine Schüssel Wasser und ein Körbchen mit Linsen.

Der Hampelmann hatte nie in seinem Leben die Linsen leiden können. Wenn er ein Linsengericht nur roch, so war es ihm schon zuwider und machte ihm Brechreiz. An diesem Abend aber schmeckten ihm die rohen Linsen wie Pfeffernüsse, und als er mit dem ganzen Korbe so ziemlich fertig war, sagte er:

»Ich hätte nie geglaubt, daß Linsen so gut wären.«

»Mein lieber Freund«, sagte der Täuber, »Hunger ist der beste Koch.«

Sie ruhten sich rasch ein wenig aus, dann ging der Flug weiter. Am andern Morgen kamen sie ans Meer. Der Täuber setzte Bengele auf die feste Erde. Für seine Dienste wollte er keinen Dank und flog alsbald davon.

Am Strande drängte sich eine Menge Leute; sie schrieen, fuchtelten mit den Händen und schauten beständig aufs Meer hinaus.

»Was ist passiert?« fragte Bengele eine alte Frau.

»Ein armer Vater hat seinen Sohn verloren und ist mit einem Kahn aufs Meer hinausgefahren, ihn zu suchen. Aber das Meer ist heute sehr unruhig und das Schifflein wird untergehen.«

»Wo ist das Schifflein?«

»Dort außen, sieh, wo mein Finger hindeutet.«

Weit draußen konnte man eben noch eine Barke sehen. Sie schien nicht größer wie eine Nußschale, und klein wie ein Mücklein erkannte man darin einen Menschen.

Bengele strengte seine Augen an. Er sah den Kahn in weiter Ferne und stieß einen Schrei aus:

»Er ist’s, er ist’s, – mein armer Vater!«

Der Kahn wurde von den wütenden Wellen hin und her geworfen; bald verschwand er hinter den haushohen Wogen, bald schaukelte er über sie hin. Bengele stand auf der Spitze eines hohen Felsenriffs, winkte mit den Händen und mit dem Hute und rief immerfort: »Vater! Vater!«

Es schien, als habe Seppel trotz der großen Entfernung den Knaben erkannt; denn er winkte auch mit seiner Mütze.

Auf einmal wälzte sich eine entsetzlich große Welle daher und der Kahn verschwand. Die Leute warteten, ob er wieder über Wasser komme, aber er war nicht mehr zu sehen.

»Der arme Mann!« sagten die alten, erfahrenen Fischer am Strande, murmelten ein Gebet und gingen nach Hause.

Da hörte man einen verzweifelten Schrei. Die Leute drehten sich um und konnten eben noch sehen, wie sich der Hampelmann von seinem Felsen ins Meer stürzte. Laut rief er dabei:

»Ich will meinen Vater retten.«

Bengele war ganz von Holz, blieb von selbst über Wasser und konnte schwimmen wie ein Fisch. Manchmal verschwand er wohl unter den Wellen, aber bald kam er wieder obenauf; er ruderte aus Leibeskräften und war bald so weit vom Lande weg, daß man ihn nicht mehr sehen konnte.

»Das arme Kerlchen«, sagten die alten Fischer am Strande, murmelten nochmals ein Gebet und gingen nach Hause.

Fleißigenstadt

Vierundzwanzigstes Stück.

Fleißigenstadt

Weit draußen in der wilden See schwamm der mutige Hampelmann, als die Nacht hereinbrach. Haushoch peitschte der Sturm die donnernden Wogen. Ein furchtbares Gewitter tobte am Himmel. In einem Augenblicke glänzten die schäumenden Wellenberge taghell erleuchtet, im nächsten schon hüllten sich Wasser und Luft in undurchdringliche Dunkelheit.

Die Hoffnung, den Vater zu retten, gab Bengele ungewöhnliche Kraft. Die ganze Nacht kämpfte er mit den rasenden Wellen. In der Morgendämmerung zeigte sich ein Streifen Land; es war eine Insel. Das Hampelchen strengte alle Kräfte an, um ans Ufer zu kommen; immer wieder schlugen ihn die Wogen zurück und spielten mit dem Holzmännlein wie mit einem Strohhalm. Endlich wälzte sich eine Sturzwelle vom Meere her und warf den kleinen Schwimmer wuchtig in den Sand des Ufers.

Alle Rippen krachten dem Hampelmann; aber er war froh, wieder auf festem Boden zu sein, und meinte:

»Ich bin noch einmal gut davongekommen.«

Unterdessen war der Himmel wieder heiter geworden; die Sonne ging auf in ihrem vollen Glanze, und das Meer wurde ruhig und glatt wie ein Spiegel.

Unser Hampelmann legte seine Kleider zum Trocknen in die Sonne und schaute sich nach allen Seiten um, ob er nicht den Kahn mit seinem Vater erspähen könnte. Es war nichts zu sehen als Himmel und Meer, Meer und Himmel. Weit draußen fuhr ein Segelschiff vorbei; es schien so klein wie ein Fischerkahn.

Bengele ging am Strand entlang und dachte: »Wenn ich nur wüßte, wie dieses Land heißt und ob hier ordentliche Menschen wohnen, nicht etwa Räuber, die mich wieder an einen Baum hängen. Könnt‘ ich nur jemand fragen!«

Er wurde traurig, weil er glaubte, ganz allein wie Robinson auf unbewohntem Lande zu sein, und fing an zu weinen. Da sah er nah am Ufer einen großen Fisch vorbeischwimmen; er zog ruhig seines Weges und streckte den Kopf halb

aus dem Wasser. Bengele wußte nicht, wie er heiße, und rief:

»Heh! Herr Fisch, gestatte eine Frage!«

»Auch zwei, wenn’s beliebt«, erwiderte der Fisch.

Es war ein Delphin mit feinem Anstand; solcher gibt es nur wenige im Meere.

»Bitte, wolltest du mir sagen, ob man auf dieser Insel etwas zu essen haben kann, ohne daß man Angst haben muß, selbst gefressen zu werden?«

»Sei ohne Furcht! Es wohnen gute Leute hier«, sagte der Delphin. »Der Weg zum Städtchen ist allerdings ein bißchen weit.«

»Welchen Weg muß ich einschlagen?«

»Nimm den Fußweg links und gehe stets geradeaus! Du kannst gar nicht verirren.«

»Bitte, noch eine Frage! Du wanderst ständig durch die Straßen des Meeres; hast du vielleicht einen Kahn gesehen und meinen Vater drin?«

»Wer ist dein Vater?«

»Er ist der beste von allen Vätern, und ich bin der ungezogenste Sohn.«

»Bei dem Sturm in dieser Nacht«, sagte der Delphin, »wird der Kahn untergegangen sein.«

»Und mein Vater?«

»Vielleicht hat ihn der große Hai verschlungen, der seit einiger Zeit Tod und Verderben in unsere Fluten bringt.«

»Wie groß ist dieser Hai?« fragte Bengele und zitterte schon.

»Unheimlich groß!« antwortete der Delphin. »Du kannst dir eine Vorstellung von ihm machen, wenn ich dir sage, daß er größer ist als ein fünfstöckiges Haus. Sein Maul ist so weit, daß ein Eisenbahnzug mitsamt der dampfenden Maschine bequem hineinfahren könnte.«

»Du lieber Himmel!« entsetzte sich der Hampelmann; doch stellte er sich gleich wieder ruhig und sprach:

»Adieu, Herr Fisch! – Bitte sehr um Entschuldigung, wenn ich gestört habe. – Vielen Dank für deine Freundlichkeit.«

Gleich darauf schlug Bengele den Fußweg ein. Bei jedem Geräusch drehte er sich um und hatte Angst, daß der fünfstöckige Hai mit dem Eisenbahnzuge im Maule nach ihm schnappe.

Nach einer Stunde Weges kam der Kleine zu wohlbestellten Feldern. Der Kirchturm und die Dächer eines Städtchens, das von Wiesen umrahmt hinter Obstbäumen versteckt lag, schauten von ferne herüber. – Bengele traf einen Mann, der auf dem Felde neben der Straße arbeitete.

»Bitte schön«, fragte er, »wie heißt das Städtchen dort?«

»Das ist Fleißigenstadt«, sagte der Bauersmann; »geh nur hinein, hier kannst du Arbeit finden.«

Bengele rümpfte die Nase und ging weiter. Bald begegnete er mehr Leuten. Emsig wie Ameisen liefen alle ihren Geschäften nach; alle hatten etwas zu tun; Faulenzer gab es da keine. Der leichtsinnige Hampelmann blieb stehen und sah sich das Getriebe an. Es gefiel ihm nicht und er dachte:

»Das ist keine Gegend für mich, so viel ist mir von vornherein schon klar. Zum Arbeiten bin ich nicht geboren.«

Aber der Hunger quälte ihn sehr; seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts mehr gegessen; nicht einmal eine Linse hatte er sich im Taubenschlage eingesteckt. – Was tun? – Er mußte entweder Arbeit suchen oder betteln.

Zum Betteln schämte er sich, denn sein Vater hatte ihm stets gesagt: »Wer arbeiten kann, soll sich sein Brot verdienen; wer aus Faulheit Hunger leidet, verdient kein Mitleid.«

Indes kam keuchend und schwitzend ein Mann die Straße daher, der zwei Gemüsekarren zog.

Bengele schaute ihn an und glaubte, daß es ein guter Mensch sei. Er ging auf ihn zu, senkte verschämt den Blick und sagte zaghaft:

»Gebt mir doch, bitte, drei Pfennig, daß ich mir einen Weck kaufen kann; ich muß sonst verhungern.«

»Bloß drei Pfennig!« entgegnete der Mann, »zwanzig will ich dir geben, wenn du mir die zwei Karren nach Hause schieben hilfst.«

Halb beleidigt sagte der Hampelmann: »Ich bin sehr erstaunt über Euer Angebot; aber ich habe noch nie im Leben den Zugochsen gemacht und Karren gezogen.«

»Glückliches Herrchen«, sprach der Gemüsemann, »wenn du trotzdem nicht Hungers sterben willst, so schneide dir zum Frühstück zwei gute Schnitten von deinem Hochmut herunter! Aber Paß auf, daß du kein Magendrücken bekommst.«

Bald darauf kam ein Maurer des Weges, der auf der Achsel einen Kübel Mörtel trug.

»Seid so gut, lieber Mann, und gebt einem armen hungernden Knaben doch drei Pfennig zu einem Stückchen Brot!«

»Mit Vergnügen!« sagte der Maurer; »komm nur mit mir und trage mir einige Zeit Mörtel, dann gebe ich dir fünfzig Pfennig.«

»Ja, aber der Mörtel ist schwer!« entgegnete der Hampelmann, »und ich will mich nicht schmutzig machen.«

»Dann, mein Lieber, gähne dich ruhig zu Tode! Adieu!«

Mindestens zwanzig andere Leute gingen im Verlaufe einer halben Stunde an Bengele vorbei; alle sprach er um eine Gabe an, aber alle sagten:

»Schäme dich doch, so faul auf der Straße herumzulungern; arbeite und verdiene dein Brot!«

Am Stadttor kam eine junge Frau, die in jeder Hand einen Krug Wasser trug.

»Bitte, gute Frau«, redete Bengele sie an, »erlaubt mir doch, einen Schluck Wasser zu trinken!« Er hatte einen brennenden Durst.

Die Frau sagte:

»Trinke nur, mein Kind!« und stellte die Gefäße auf den Boden.

Bengele trank aus dem Krug in vollen Zügen. Als er seinen Durst gefüllt hatte, wischte er sich den Mund ab und sagte:

»Der Durst wäre nun weg! – Aber der Hunger!«

Die gute Frau hörte es und sagte:

»Wenn du mir einen von den zwei Krügen nach Hause trägst, gebe ich dir ein großes Stück Brot.«

Bengele schaute sich daraufhin die Krüge von allen Seiten an und sagte nichts.

»Ich gebe dir auch einen Teller Suppe dazu«, versprach die gute Frau.

Bengele betrachtete immer noch unentschlossen das Gefäß.

»Nach der Suppe bekommst du ein großes Stück Apfelkuchen.«

Das war Bengeles Leibspeise. Rasch sagte er: »Bitte, ich trage den Krug.«

Wie war das Wasser so schwer! Mit beiden Händen faßte Bengele den Henkel; dann hob er den Krug auf den Kopf und schritt mutig voran.

Zu Hause setzte die Frau den Hampelmann hinter ein schön gedecktes Tischchen und gab ihm das Brot, die Suppe und den Apfelkuchen.

Bengele verschlang alles mit großer Gier. Als der Hunger gestillt war, schaute er zu der guten Frau auf, die vor dem Tischchen stand, und wollte ihr danken. Er sah ihr ins Gesicht, machte große Augen, sperrte den Mund weit auf und alles, was er sagen konnte, war ein langes, gurgelndes Oooh!

»Warum tust du so verwundert?« fragte lächelnd die Frau.

Bengele stotterte:

»Weil … weil … weil … Ihr … Ihr… Ihr gerade ausseht … ja, ja … so spricht sie … ja, ja … solches Haar … goldenes Haar wie … wie Ihr. – O liebe Fee, sage, bist du es wirklich. Sage es mir, dann will ich nicht mehr weinen; weißt du, ich habe so viel um dich geweint, so arg viel!«

Laut schluchzend warf sich das Hampelchen der guten Fee zu Füßen, umfaßte ihre Knie und bat, daß sie ihm verzeihe, daß sie ihm doch wieder gut sein möge und ihm helfe.

Bengele will sich bessern

Fünfundzwanzigstes Stück.

Bengele will sich bessern

Die gute Frau tat zuerst so, als wisse sie nichts von einer kleinen Fee mit goldenem Haare. – Dann aber gab sie sich zu erkennen, lachte und fragte Bengele:

»Du Sapperlottskerlchen, wie hast du mich erkennen können?«

»Ich habe dich doch so gern und darum vergesse ich dich nie.«

»Aber ich war doch ein kleines Mädchen, als du davonliefst; jetzt bin ich eine große Frau und könnte deine Mutter sein.«

»Das gefällt mir am meisten. – Früher wolltest du mein Schwesterlein sein; jetzt sage ich zu dir: liebe Mutter! – So lange schon wünschte ich mir ein Mütterlein! Alle Kinder haben eine gute Mutter; und ich allein hatte keine … Aber sage mir, wie bist du so rasch groß geworden?«

»Das ist mein Geheimnis.«

»Mach mich doch auch groß«, bat Bengele; »sieh nur, ich wachse gar nicht und bleibe stets drei Käse hoch.«

»Du kannst nicht größer werden.«

»Weshalb nicht?«

»Hampelmännchen wachsen nie; sie kommen als Hampelmänner auf die Welt, leben und sterben als Hampelmänner.«

»Aber jetzt bin ich lang genug ein Hampelmann gewesen«, klagte Bengele und fuchtelte mit seinen Händen; »ich möchte endlich ein Mensch werden.«

»Das kann geschehen, aber du mußt es verdienen.«

»Wie kann ich es anfangen?«

»Du mußt dich darin üben, ein braver Knabe zu werden.«

»Bin ich das vielleicht nicht?«

»Noch lange nicht, mein Lieber«, sprach die Fee, »höre nur einige Beispiele! – Gute Kinder sind stets folgsam und …«

»Ich folge nie!« –

»Gute Kinder haben Freude an der Arbeit, und …«

»Ich will immer faulenzen und spielen.« –

»Gute Kinder sagen stets die Wahrheit, und …«

»Ich lüge sehr oft.« –

»Gute Kinder gehen gern in die Schule, und …«

»Ich lief ins Kasperletheater. – Aber von heute an wird alles anders!«

»Ist es dir Ernst?«

»Heiliger Ernst! – Ich will ein guter Knabe werden, und meinem Vater Freude machen. – Ja, halt! – Wo ist denn mein armer Vater?«

»Ich weiß es nicht.«

»Werde ich ihn je wiedersehen?«

»Ich glaube, ja! – Wenn du brav bist, ganz sicher.«

Dankbar ergriff Bengele die Hand der guten Fee und bedeckte sie mit Küssen. Lange schaute er dann seinem lieben Mütterlein in die milden Augen und fragte:

»Sag mir nur noch das eine: bist du wirklich tot gewesen?«

»Es scheint nicht«, antwortete lächelnd die Fee.

Mit Tränen in den Augen fuhr Bengele weiter und sprach:

»Wenn du es wüßtest, wie weh es mir tat, wie mein Herz klopfte und wie ich weinte! – Ach, jener Marmorstein und das Lied des Käfers: ›Hier ruht im süßen Schlummer …‹«

Die gute Fee zog das Hampelchen an sich und tröstete es: »Ich weiß alles, mein liebes Kind. Ich habe deinen Schmerz gesehen und dein gutes Herz erkannt. – Du warst undankbar und unartig gegen mich; am Marmorsteine hast du deine Fehler bereut. Du liebtest mich, und darum habe ich dir alles verziehen. – Ich bin dir nachgegangen, ich habe dich hier gesucht, und jetzt will ich dir eine gute Mutter sein.«

»Du bist zu gut gegen mich«, sagte Bengele; »ich verdiene es nicht, daß du mich so herzlich liebst.«

»So sei mir dankbar«, erwiderte die Fee; »ich verlange von dir nur das eine, daß du mir gehorchest und stets befolgest, was ich dir sage.«

»Von Herzen gern!«

»Morgen«, sagte die Fee, »wirst du das erste Mal zur Schule gehen!«

Bengeles Freude ließ schon ein bißchen nach.

»Später kannst du nach eigener Wahl ein Handwerk lernen!«

Bengele ward nachdenklich und murmelte etwas in sich hinein.

»Was gibt’s darüber zu brummen?« – fragte die Fee in ernstem Tone.

»Ich habe gesagt –, daß – daß«, stotterte Bengele, »daß ich jetzt doch zu alt bin für die Schule.«

»Nein, mein Sohn, zum Lernen ist man nie zu alt!«

»Aber ich will auch kein Handwerk lernen!«

»Warum?«

»Weil man beim Arbeiten müde wird!«

»Liebes Kind«, mahnte die weise Fee, »wer so denkt, der endigt gewöhnlich im Krankenhaus oder im Zuchthaus. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Der Mensch muß arbeiten auf dieser Welt, ob er arm sei oder reich. Das Faulenzen ist eine Schande. Es ist eine schlimme Krankheit; wenn man sie in der Jugend nicht heilt, so geht man mit ihr durchs ganze Leben.«

Bengele glaubte den Worten seiner guten Mutter und sagte:

»Ja, ich will lernen; ich will arbeiten; ich will alles tun, was du von mir verlangst. Und überhaupt – dieses Hampelleben gebe ich auf; ich will unbedingt ein Knabe werden. Du hilfst mir, Mütterlein, gelt? – Du hast es mir versprochen!«

»Jawohl, mein Kind; von dir allein hängt es nun ab, daß ich mein Versprechen erfülle.«

Feuerschlund muß niesen.

Elftes Stück.

Feuerschlund muß niesen.

Der Direktor Feuerschlund sah aus wie ein Wüterich. – Denkt nur an seinen schwarzen Bart, der wie ein Schurz Brust und Beine bedeckte! – Aber im Grund war der schreckliche Mann doch nicht sehr böse. Als er den armen Bengele sah und ihn jammern hörte: »Ich will nicht sterben, ich will nicht verbrennen«, wurde er weich und gerührt. Er wehrte sich eine Zeitlang gegen dieses Gefühl, schließlich aber konnte er sich nicht mehr halten und mußte laut niesen.

Kasperle stand bisher gebückt und kummervoll wie eine Trauerweide. Bei dem Niesen wurde er plötzlich heiter und sagte dem Bengele verstohlen und ganz leise:

»Ein gutes Zeichen, Brüderlein! Der Direktor hat niesen müssen. Er hat Mitleid mit dir; jetzt bist du gerettet!«

Wenn sonst die Menschen gerührt sind, weinen sie oder tun, als ob sie’s in den Augen bisse. Feuerschlund mußte in solchen Fällen immer niesen. Wer es wußte, merkte ihm gleich die innere Rührung an.

Nach dem Niesen setzte der Direktor wieder sein wildes Gesicht auf und fuhr den Bengele an:

»Laß das Heulen! Ich bekomme Magenweh von deinem Jammern; schon drückt mich’s wieder …« – Hatzi, hatzi! mußte er noch zweimal niesen.

»Gesundheit!« sagte Bengele.

»Dankschön! – Leben deine Eltern noch?« fragte Feuerschlund.

»Der Vater, ja! Die Mutter habe ich nie gekannt.«

»Was für ein Elend wäre es für deinen Vater, wenn ich dich jetzt ins Feuer geworfen hätte. Armer Vater, du tust mir leid …« hatzi, hatzi, hatzi, dreimal mußte er niesen.

»Gesundheit!« sagte Bengele.

»Dankschön! – Eigentlich muß ich dir aber auch leid tun. Schau da, ich habe kein Holz mehr, um den Hammel fertig zu braten, und du hättest gerade guten Dienst getan. Aber jetzt habe ich Mitleid mit dir und es ist nichts mehr zu machen. Ich will dafür einen von meinen Schauspielern aufs Feuer legen. – Heda! Gendarmen!«

Gleich erschienen zwei lange Holzgendarmen; sie trugen einen altmodischen Helm auf dem Kopf und schwangen ihre Säbel.

Mit rauher Stimme sagte der Direktor:

»Faßt den Kasperle, bindet ihn und legt ihn hier auf das Feuer. Mein Hammel muß gar werden!«

Denkt euch den Schrecken des unschuldigen Kasperle! Seine Beine knacksten zusammen, und er fiel stracks auf die Nase.

In diesem fürchterlichen Augenblick warf sich Bengele dem Direktor zu Füßen, weinte und flehte:

»Erbarmen, Herr Feuerschlund!«

»Herr Feuerschlund?« gab dieser barsch zurück.

»Erbarmen, Herr Direktor!«

»Direktor?«

»Erbarmen, Herr Hofrat!«

»Hofrat?«

»Erbarmen, Herr Geheimerat!«

»Geheimerat?«

»Erbarmen, Exzellenz!«

Beim Titel Exzellenz verzog der Direktor sofort den Mund zu einem feinen Lächeln; er wurde plötzlich artig und zugänglich und sagte zu Bengele:

»Nun, mein Lieber, was ist dein Begehr?«

»Ich bitte um Gnade fürs Kasperle.«

»Hier gilt keine Gnade mehr. Dich habe ich geschont, also muß ich einen andern aufs Feuer legen. Mein Hammel muß gar werden.«

»Dann« – stolz richtete sich Bengele auf und warf seine Mütze weit von sich wie ein Held – »dann kenne ich meine Pflicht. Vorwärts, Gendarmen, bindet mich und legt mich auf die Glut! Kasperle, mein aufrichtigster Freund, soll nicht meinetwegen sterben!«

All die hölzernen Leutchen jammerten laut; die beiden Gendarmen weinten wie kleine Kinder.

Feuerschlund blieb anfangs hart und unerbittlich; er schien so gefühllos und kalt wie ein Eisklotz. Aber dann faßte ihn langsam die Rührung, er mußte vier-, fünfmal niesen, nahm den Bengele zärtlich in seine Arme und sprach:

»Du bist ein braver Hampelmann! Komm her und gib mir einen Kuß!«

Bengele kletterte wie ein Eichhörnchen an dem Bart des Direktors hinauf und drückte ihm einen festen Kuß auf die Nasenspitze.

»Also bin ich begnadigt?« fragte Kasperle mit kaum hörbarem, dünnem Stimmchen.

»Begnadigt!« sagte Feuerschlund, seufzte und schüttelte den Kopf:

»Es geht nicht anders! Heute abend muß ich meinen Hammel halb roh essen. Aber einandermal! Es soll mir keiner so wieder kommen!«

Die Kunde von der Begnadigung trieb die hölzernen Schauspieler alle auf die Bühne. Sie zündeten sämtliche Lichter an wie bei einer Festvorstellung, hüpften und tanzten und waren lustig bis tief in die Nacht hinein.

Bengele erhält fünf Goldstücke. – Seine Freundschaft mit dem Fuchs und der Katze.

Zwölftes Stück.

Bengele erhält fünf Goldstücke. – Seine Freundschaft mit dem Fuchs und der Katze.

Am andern Morgen rief Feuerschlund den Bengele zu sich und fragte ihn:

»Wie heißt dein Vater?«

»Seppel!«

»Was treibt er für ein Handwerk?«

»Er ist arm.«

»Wieviel verdient er?«

»So viel, daß er nie einen Pfennig Geld in der Tasche hat! – Seinen einzigen Kittel hat er weggeben müssen, um mir ein ABC-Buch zu kaufen.«

»Der arme Mann tut mir leid! – Nimm hier diese fünf Goldstücke und bringe sie ihm mit einem Gruß von mir!«

Bengele dankte dem Direktor tausendmal; dann nahm er der Reihe nach Abschied von allen Geschwistern, auch von den Gendarmen, und machte sich auf den Weg nach Hause.

Er war noch keine fünf Minuten gegangen, da traf er auf der Straße einen hinkenden Fuchs und eine blinde Katze. Die beiden halfen einander durchs Leben. Der kranke Fuchs stützte sich beim Gehen auf die Katze und die blinde Katze hatte am Fuchse einen Führer.

»Guten Tag, Bengele!« grüßte der Fuchs mit feinem Anstand.

»Woher weißt du meinen Namen?«

»Ich kenne deinen Vater schon lange!«

»Wo hast du ihn gesehen?«

»Gestern unter der Haustüre.«

»Was machte er?«

»Er war hemdärmelig und zitterte vor Kälte.«

»Armer Vater! – Aber, so Gott will, sollst du von heute ab nicht mehr frieren!«

»Wieso?«

»Weil ich jetzt ein großer Herr geworden bin!«

»Du ein großer Herr!« sagte der Fuchs und verzog spöttisch das Gesicht. Die Katze lachte; aber weil sie es nicht merken lassen wollte, strich sie sich mit den Pfoten den Schnurrbart zurecht.

»Da ist gar nichts zu lachen«, brauste Bengele auf. »Ich mache euch nicht gern den Mund wässerig; aber da schaut her: sind das nicht fünf Goldstücke?«

Sprach’s und schüttelte stolz sein Geld in der hohlen Hand.

Unwillkürlich stellte der Fuchs sein lahmes Bein fest auf den Boden und stand eine Weile darauf; die Katze riß ihre blinden Augen auf, daß sie funkelten wie zwei grüne Lichter. Aber gleich besann sie sich, machte die Augendeckel wieder zu und – der dumme Bengele merkte nichts.

»Und nun«, fragte der Fuchs, »was willst du mit dem Geld da anfangen?«

»Zu allererst«, versetzte unser Hampelchen, »lasse ich meinem guten Vater einen schönen neuen Kittel machen, ganz von Gold und Silber und mit Knöpfen von Edelsteinen, dann kaufe ich ein neues ABC-Buch für mich.«

»Für dich?!«

»Jawohl! Jetzt will ich in die Schule gehen und mich mit allem Eifer hinter die Bücher setzen.«

»Schau mich mal an«, sagte der Fuchs, »mit meinem einfältigen Eifer im Lernen habe ich ein Bein verloren.«

»Und ich erst!« bestätigte die Katze, »mit meinem einfältigen Eifer im Lernen habe ich das Augenlicht vollständig eingebüßt.«

Bei diesen Worten flog eine Amsel auf die Hecke neben der Straße, pfiff ihr Liedchen und sang:

»Traue nicht, lieb‘ Bengelein,
Diesen Kameraden!
Lahmer Fuchs und blinde Katz‘
Wollen dir nur schaden.«

Das ehrliche Vögelein hätte besser getan zu schweigen. – Gleich tat die Katze einen hohen Sprung und faßte die Sängerin mit ihren scharfen Krallen. Die Unglückliche rief noch sterbend: »’s ist wahr!« Dann aber biß ihr die Katze die Kehle ab und fraß sie auf. – Ein Häufchen Federn war alles, was von der aufrichtigen Amsel übrig blieb. – Die hinterlistige Katze schloß die Augen wieder und spielte nach wie vor die Blinde.

»Die gute Amsel!« sagte Bengele; »so grausam hättest du doch nicht mit ihr verfahren sollen!«

»Ich mußte ihr eine Lehre geben«, meinte die gefühllose Mörderin; »die wird ein zweites Mal nicht mehr fremden Leuten in ihre Sachen hineinreden.«

Die drei waren indes schon ein gutes Stück weiter gegangen und nahe bei Bengeles Heimat angelangt. Da blieb der Fuchs plötzlich stehen und, als wäre ihm eben ein besonderer Gedanke gekommen, sagte er:

»Bengele, willst du nicht dein Geld vervielfältigen?«

»Was meinst du damit?«

»Willst du nicht aus deinen lumpigen fünf Goldstücken hundert, oder tausend, oder zweitausend machen?«

»Freilich! Aber wie?«

»Ganz einfach! Du gehst nicht nach Hause, sondern mit uns!«

»Wohin?«

»Aufs Wunderfeld!«

»Nein, nein! Das tue ich nicht! Ich gehe heim! Mein Vater wartet schon lange auf mich. Wie wird er gestern abend Angst gehabt haben, weil ich nicht zurückgekommen bin! – Ich war jetzt unartig genug. Lispel-Heimchen hatte recht. Den bösen Kindern geht es nicht gut auf der Welt. Ich habe es am eigenen Leib gespürt. Wie viel Unglück ist über mich gekommen! Nie vergesse ich den Schrecken bei dem Todesurteil des Direktors Feuerschlund! Brrrrrr! mir gruselt noch, wenn ich nur daran denke.«

»Also denn«, sagte der Fuchs, »geh nach Hause! Aber dein Glück hast du verscherzt!«

»Hast du verscherzt«, bekräftigte die Katze.

»Bedenke es wohl, Bengele, daß du das Glück geradezu fortjagst!«

»Fortjagst!« echote wieder die Katze.

»Deine fünf Goldstücke wären morgen ihrer zweitausend.«

»Zweitausend«, hinkte wieder die Katze nach.

»Wie ist das möglich?« fragte Bengele und stand da mit weit geöffnetem Munde.

»Gleich will ich es dir erklären«, versetzte der Fuchs. »Du gehst mit uns aufs Wunderfeld. Dort gräbst du ein kleines Loch in den Boden und legst – sagen wir einmal – ein Goldstück hinein. Dann schüttest du das Loch wieder zu, gießest einige Kannen Wasser drüber, streust Salz darauf und gehst ruhig zu Bett. Über Nacht treibt das Goldstück wie ein Samenkorn eine Pflanze; diese blüht und bringt Früchte. Am andern Morgen stehst du auf, gehst aufs Wunderfeld und – du traust deinen Augen nicht – da steht ein Bäumchen mit Goldstücken so reich beladen wie ein vollhängender Pflaumenbaum.«

»Wenn ich also auf dem Wunderfelde – Bengele war schon ganz von Sinnen – meine fünf Goldstücke einlege, wieviel habe ich dann am andern Morgen?«

»Keine leichtere Rechnung wie diese«, meinte der Fuchs. »Du kannst sie ohne Rechenmaschine an den Fingern lösen. Also! Du setzest fünf Goldstücke, sie geben fünf Bäumchen, jedes trägt zum wenigsten fünfhundert Goldpflaumen. – Fünfmal fünfhundert sind – zweitausend fünfhundert! – Am andern Morgen steckst du zweitausendfünfhundert Goldstücke in die Tasche.«

»Nein! Wie schön, wie schön!« rief Bengele aus und fing vor Freude an zu tanzen. – »Wenn ich die 2500 Goldstücke habe, behalte ich für mich nur 2000, die andern 500 will ich euch zweien schenken.«

»Uns brauchst du nichts zu schenken«, tat der Fuchs schier beleidigt, »Gott behüt‘ uns davor!«

»… Behüt‘ uns davor«, echote kopfschüttelnd die Katze.

»Wir arbeiten«, fuhr der Fuchs fort, »einzig für das allgemeine Wohl, wir wollen nur andere reich und glücklich machen.«

»… Glücklich machen«, ergänzte die Katze und nickte mit dem Kopfe.

»Sind das brave Leute!« dachte Bengele. – Er vergaß sofort seinen Vater, den neuen Kittel, das ABC-Buch und alle guten Vorsätze.

»Kommt!« sagte er zu seinen zwei neuen Freunden, »wir kehren sofort um und gehen aufs Wunderfeld!«

Im Gasthaus »Zum geleimten Vogel«.

Dreizehntes Stück.

Im Gasthaus »Zum geleimten Vogel«.

Den ganzen Tag waren die drei Goldbaumzüchter schon gegangen, als sie spät abends und todmüde ans Gasthaus »Zum geleimten Vogel« kamen.

»Hier wollen wir ein bißchen Rast machen«, sagte der Fuchs, »wir essen eine Kleinigkeit und ruhen ein Paar Stunden aus. Um Mitternacht brechen wir wieder auf und sind dann morgen bei Tagesgrauen auf dem Wunderfeld.«

Sie traten in das Wirtshaus und setzten sich zusammen an einen Tisch. – Keiner hatte Appetit.

Die arme Katze litt an gräßlichen Magenschmerzen und konnte nicht mehr ertragen als dreißig kleine Bachforellen, blaugekocht mit Kartöffelchen und zerlassener Butter, dann noch vier Portionen Leberwurst. An jeder Portion schnupperte sie erst, und wenn sie ein bißchen dünn geschnitten war, so sagte die Feinschmeckerin: »Sie riecht«, und verlangte eine andere.

Der Fuchs hätte gern etwas Kräftiges genossen nach dem langen Marsche; aber der Arzt hatte ihm leichte Kost verordnet. Darum begnügte er sich mit einem gewöhnlichen Hasenpfeffer. Als Gemüse nahm er dazu eine Platte gebackener Hähnchen. Nach diesem ersten Gange ließ er sich ein leichtes Ragout von Rebhühnern, Wachteln und Froschschenkeln bereiten; aß zum Schluß ein paar süße Trauben und dann meinte er:

»Ich höre gern auf; es ist die reinste Marter, wenn man sich ohne Appetit zum Essen zwingen muß. Nun bin ich froh, daß diese Qual vorüber ist.«

Am wenigsten aß Bengele. Er nahm ein paar Nußkerne und ein bißchen Brot; alles andere ließ er stehen. Das arme Hampelchen war mit seinen Gedanken immer beim Wunderfeld und hatte nur noch Hunger nach Gold.

Nach dem Essen sagte der Fuchs zum Wirte: »Bitte, zwei Zimmer! eins für Herrn Bengele und für uns beide das andere. Wir wollen uns eine kurze Ruhe gönnen bis Mitternacht; dann müssen wir weiter. Kurz vor zwölf Uhr soll man uns wecken; nicht vergessen!«

»Gewiß, meine Herrschaften, es wird alles gewissenhaft besorgt«, sagte der Wirt. Dabei sah er den Fuchs und die Katze mit verständnisvollem Blicke an, als wollte er sagen: »Wir sind alte Bekannte.«

Bengele legte sich zu Bett, schlief gleich ein und träumte. Es war ihm, als stände er mitten auf dem Wunderfelde. Das stand ganz voll von Pflaumenbäumchen, an ihnen hingen wie Pflaumen die Goldstücke. Der Wind ging leise durch die Blätter, die Goldstücke schlugen aneinander wie kleine Glöcklein und klangen:

Komm, Bengele, bimm, bimm!
Komm, Bengele, nimm, nimm!

Schon streckte er im Traume die Hände aus, um nach den Goldglöckchen zu greifen, da klopfte es dreimal fest an die Türe, und er wachte auf.

Der Wirt kam herein und sagte ihm, es schlage jetzt eben zwölf Uhr.

»Sind meine Begleiter schon gerichtet?« fragte Bengele.

»Mehr als gerichtet! Vor zwei Stunden sind sie aufgebrochen.«

»Warum hatten sie solche Eile?«

»Frau Katze bekam Nachricht, daß ihr ältester Sohn an Kopfweh erkrankt und plötzlich in Lebensgefahr sei.«

»Haben sie das Essen bezahlt?«

»Was denken Sie, Herr Bengele? Sie verkennen solche feingebildeten Personen. Da sie heute von Ihnen zu Tisch gebeten wurden, durften sie die freundliche Einladung doch nicht bezahlen; das hieße taktlos gehandelt.«

»Schade! Diese Taktlosigkeit hätte ich ihnen gar nicht übel genommen«, sagte Bengele und kratzte sich hinter den Ohren.

»Haben sie nicht hinterlassen, wo sie mich erwarten?«

»Am Wunderfeld, morgen früh bei Tagesgrauen.«

Bengele zahlte mit einem Zwanzigmarkstück die gesamte Rechnung und verließ das Wirtshaus. Er konnte nur langsam vorwärts kommen, denn es war so stockdunkel, daß man die eigene Hand nicht vor dem Auge sah. Alles war totenstill. Kein Blatt an den Bäumen rauschte. Nur eine Nachteule flog über die Straße dem Bengele an der Nase vorbei. Erschrocken sprang er einen Schritt zurück und rief: »Wer ist da?« – Das Echo tönte aus der Umgebung zurück: »ist da?« – »da?«

Während er tastend weiterschritt, zeigte sich plötzlich ein matter Schein. Bengele trat näher und erkannte eine leuchtende Grille, die auf einem Straßensteine saß. Wie das Nachtlicht im gefärbten Glase, erhellte das Tierchen um sich herum kümmerlich die dichte Dunkelheit.

»Wer bist du?« fragte Bengele.

»Ich bin der Geist des Lispel-Heimchens«, erhielt er zur Antwort. So leise und hohl klang die Stimme, wie nur die Geister reden.

»Was willst du von mir?« fragte der Hampelmann.

»Einen guten Rat will ich dir geben: Kehre um, nimm die vier Goldstücke, die du noch hast, und bringe sie deinem armen Vater. Er sitzt daheim und jammert, weil er dich so lange nicht mehr gesehen hat.«

»Morgen ist mein Vater ein großer Herr, wenn ich ihm zweitausend Goldstücke bringe.«

»Traue denen nicht, mein Kind, die dich von heute auf morgen reich machen wollen. Es sind Dummköpfe oder Betrüger. Hör auf mich und kehre um!«

»Umkehren!? Weiter gehen will ich, und ich gehe weiter.«

»Es ist spät in der Nacht.«

»Ich gehe weiter.«

»Es ist so dunkel.«

»Ich gehe weiter.«

»Ein gefährlicher Weg.«

»Ich gehe weiter.«

»Denke doch daran, daß man den Eigensinn bereuen muß!«

»Immer die gleichen Sprüchlein! Gute Nacht, du alte Grille!«

»Gute Nacht, Bengele, der Himmel schütze dich vor den Räubern!«

Der Geist des Lispel-Heimchens verschwand, der matte Lichtschein erlosch, und die Straße erschien dunkler wie zuvor.

Bengele fällt unter die Räuber.

Vierzehntes Stück.

Bengele fällt unter die Räuber.

»Wahrhaftig …« bruddelte unser Hampelmann vor sich hin und ging weiter –, »wahrhaftig, wir arme Kinder ziehen immer den kürzeren. Jeder kann uns ausschelten; die ganze Welt will uns Ermahnungen geben. Bald meinten alle, daß sie unser Vater und unsere Lehrer seien. Alle zusammen sind sich darin gleich, auch das Lispel-Heimchen. Zum Beispiel: Ich habe jetzt nicht auf sein Jammergeheul gehört, und gleich sagt es mir ein Unglück voraus. – Räuber sollen kommen!? – Auch das noch! Ich glaube nicht an Räuber und habe nie im Leben daran geglaubt. Die guten Väter erfinden die Räuber, weil sie den Kindern Angst machen wollen, damit sie nachts nicht vor das Haus gehen. – Schließlich, wenn ich jetzt wirklich Räubern auf der Straße begegnete, so wollte ich erst recht keine Angst kriegen! – Nicht daran zu denken! Auf sie los würde ich gehen und sie anbrüllen: ›Meine Herren Räuber, was wollt ihr von mir? Mit mir wird nicht gespaßt! Verstanden! Marsch, weiter! und verzieht euch geräuschlos!‹ – Die wollte ich laufen sehen! – Aber, gesetzt der Fall, daß sie unhöflich genug wären, um stehen zu bleiben, dann – machte ich mich auf die Beine und …«

Bengele konnte den Satz nicht vollenden. Hinter ihm raschelte es in den Büschen; er drehte sich um und erblickte zwei Gestalten, die noch dunkler waren als die stockfinstere Nacht. – Sie glichen wandelnden Vogelscheuchen und standen schon vor dem Hampelmann.

»Die Räuber! Wahrhaftig!« dachte Bengele. Schnell steckte er die vier Goldstücke in den Mund und nahm sie unter die Zunge. Sonst wußte er sie nirgends zu verstecken.

Dann lief er davon. Aber er hatte keine drei Sprünge gemacht, so fühlte er schon seinen Arm festgehalten und hörte zwei hohle Stimmen grausig brummen.

»Das Geld heraus! – Sonst bist du verloren!«

Mit den Goldstücken im Munde konnte Bengele nicht reden. Er stellte sich darum dumm und gab den Räubern mit allerlei Zeichen zu verstehen, daß er ein armes Hampelmännchen sei und keinen roten Heller in der Tasche habe.

Aus den Kutten der Räuber sprühten die Augen wie die hellen Lichter einer Eisenbahnlokomotive. Die geriebenen Burschen kümmerten sich um Bengeles Geflunker nicht und sagten:

»Mach vorwärts! Keine langen Geschichten!«

Der Hampelmann drehte den Kopf hin und her und fuchtelte mit den Händen ärger wie bisher.

»Heraus das Geld, oder du mußt sterben!« drohte nun der größere von den zwei Räubern.

»Sterben!« wiederholte der andere.

»Nachher geht es an deinen Vater!«

»An deinen Vater.«

»Nein, nein! Tut meinem armen Vater nichts!« rief Bengele verzweiflungsvoll; dabei klirrten die Goldstücke im Munde.

»Schlechter Lump! Unter der Zunge hast du die Goldstücke versteckt! – Gleich spuckst du sie aus!«

Bengele blieb fest.

»So, du willst nicht! – Paß auf, du wirst gleich spucken.«

Die Räuber gingen daran, dem Hampelmann den Mund aufzupressen. Sie legten ihn auf den Boden; der kleinere stellte sich über Bengeles Kopf und hielt ihn mit beiden Händen an der langen Nase, indes der größere mit aller Gewalt den hölzernen Unterkiefer abwärts zu drücken suchte. Aber des Hampelmanns Mund war von gutem Holze und schloß so dicht wie eine scharfe Beißzange. – Auf diese Weise war es unmöglich, ihn zu öffnen; er schien verschraubt und vernietet.

Da nahm der kleinere Räuber ein Messer heraus und wollte es dem Hampelmann wie ein Stemmeisen zwischen die Holzlippen treiben. Ungeschickt faßte er das Messer mit der einen Hand ziemlich vorn an der Klinge. Bengele erkannte seinen Vorteil: blitzschnell schnappte er nach des Räubers Hand und biß sie glatt durch. Er spuckte aus und wunderte sich sehr, daß er keine Menschenhand, sondern etwas Haariges wie eine Pfote abgebissen hatte.

Die Räuber waren verblüfft; Bengele aber bekam durch seinen Erfolg neuen Mut. Mit einem Sprunge setzte er über den Straßenzaun, und nun ging’s im vollen Laufe fort über die Felder. Die Räuber rannten hinter ihm drein wie rasende Hunde hinter einem armen Häslein.

Drei Stunden dauerte schon das wilde Jagen. Dem Bengele ging allmählich der Atem aus. Schon schien ihm alles verloren, als er im letzten Augenblick einen einzelstehenden hohen Tannenbaum gewahrte. Rasch kletterte er am glatten Stamm empor bis an die ersten Äste und stieg dann durchs Gezweige bis zum höchsten Gipfel. – Auch die Räuber wollten hinaufklettern; aber kaum waren sie zur Hälfte am Stamm emporgeklommen, so rutschten sie zurück, fielen auf den Boden und hatten sich Arme und Beine wundgeschürft.

Deshalb gaben die Verwegenen aber ihre Arbeit nicht auf. Rasch sammelten sie in den Hecken ein Büschel dürres Reisig und zündeten es an der Wurzel des Baumes an.

Die Flammen leckten schon am Stamme empor und ergriffen die untersten Äste. – Die Räuber stellten sich zwanzig Schritte vom Baum zurück und warteten auf den Erfolg ihres Werkes. – Bald mußte der Hampelmann im dicken Rauche ersticken und tot zur Erde fallen.

Bengele sah sein Schicksal voraus. Die Todesangst trieb ihn zum Äußersten. Er sprang auf der den Räubern entgegengesetzten Seite von der schwindelnden Höhe herab, und der Todessprung gelang. Ohne Schaden kam er auf den Boden in weitem Abstand von seinen zwei Feinden.

Diesen Vorteil nützte der wackere Hampelmann aus und rannte sofort weiter in die Felder hinein. Die Räuber setzten ihm unverzüglich nach und wurden gar nicht müde.

Lichterloh brannte indes die Tanne in die Nacht hinein und erhellte wie eine Riesenkerze auf eine weite Strecke das Land.

Allmählich dämmerte der Morgen, und Bengele gelangte unversehens an einen breiten, tiefen Graben. Er war bis oben voll schmutziggelben Wassers. – Was anfangen? – »Eins, zwei, drei!« zählt unser Hampelchen, nimmt einen Anlauf und springt hinüber. Die Räuber wollten es ihm nachtun, aber sie hatten sich verrechnet. Plumps! fielen sie mitten ins Wasser. Bengele hörte das Aufschlagen und schrie ihnen höhnisch zu:

»Glück auf zum Bade, ihr Herren Räuber!« Dann rannte er gleich wieder weiter. Er hoffte, die Räuber seien ertrunken; aber als er sich umdrehte, sah er, wie sie ihm schon wieder nachsetzten. Sie steckten immer noch in ihren Säcken und das Wasser tropfte daraus in Strömen auf den Boden.

Die »Große Eiche«.

Fünfzehntes Stück.

Die »Große Eiche«.

Bengele verlor den Mut. Er wollte sich auf den Boden legen und alle Hoffnung aufgeben. – Da schaute er sich noch einmal um und erblickte in weiter Ferne ein kleines, weißes Haus. Es lag in einem grünen Wiesengrunde am dunkeln Waldessaume. Hell glänzten die Fenster im Lichte der aufgehenden Sonne.

»Hätte ich doch nur noch genug Atem!« dachte Bengele. »An jenem Häuschen dort wäre ich gerettet.«

Mutig versuchte der verfolgte Hampelmann noch einmal zu laufen. Er spannte seine letzten Kräfte an und kam nach einer halben Stunde keuchend vor dem Häuschen an. – Zum Tode erschöpft pochte er an die Türe.

Niemand gab Antwort.

Er klopfte stärker; denn schon hörte er die Schritte und den schweren Atem der Verfolger.

Wieder blieb alles still. Voller Verzweiflung schlug der hölzerne Hampelmann mit dem Kopfe und mit den Füßen an die Türe. – Da zeigte sich am Fenster ein schönes Mägdelein; es hatte goldenes Haar und ein Gesicht so zart und weiß wie eine Wachsfigur; seine Augen waren geschlossen, die Hände über der Brust gekreuzt, und ohne die Lippen zu bewegen, mit einer Stimme aus der andern Welt sagte das holde Kind:

»Es wohnt niemand in diesem Hause. Hier sind alle tot.«

»Dann mache doch du mir auf!« rief Bengele und weinte zum Erbarmen.

»Ich bin auch tot.«

»Auch tot! Wie kommst du dann ans Fenster?«

»Ich warte auf den Sarg, in dem man mich fortträgt.«

Damit verschwand das Mägdelein und das Fenster ging zu ohne jeden Laut.

»O schönes Kind im goldenen Haar«, rief Bengele, »um des Himmels willen mach mir auf. Erbarme dich des armen Knaben, dem die Räuber nach …«

»… setzen«, wollte er sagen; da hatten sie ihn schon, und die zwei wilden Stimmen knurrten:

»Jetzt kommst du nicht mehr davon!«

Der Hampelmann sah den Tod vor sich und zitterte so entsetzlich, daß seine Holzgelenke an den Beinen krachten und die Goldstücke im Munde klimperten.

»Nun«, sagten die Räuber, »machst du jetzt den Mund auf oder nicht? – So, du gibst keine Antwort! Auch gut! Diesmal werden wir schon mit dir fertig!«

Sie zogen zwei schrecklich lange, scharfe Messer heraus und wollten sie Bengele in die Seiten stoßen.

Aber der Hampelmann war aus so hartem Holze geschnitzt, daß die Stahlklingen in Stücke brachen und die Räuber mit dem bloßen Messergriff in der Hand sich sprachlos anstarrten.

»Ich hab’s«, meinte schließlich einer von ihnen, »wir müssen ihn aufhängen.«

»Aufhängen«, kam der andere nach.

Sie banden ihm die Hände auf den Rücken und schleppten ihn fort in den Wald. Dort war ein Baum, der über alle emporragte und den man nur die »Große Eiche« hieß. Die beiden Unholde legten Bengele einen langen Strick um den Hals, warfen das freie Ende über den untersten Ast des Baumes und zogen den Hampelmann in die Höhe. Dann setzten sie sich ins Gras nieder, um zu warten, bis der Hampelmann ausgehampelt hatte.

Aber nach drei Stunden hielt Bengele immer noch die Augen offen und den Mund geschlossen, ja er strampelte und hampelte ärger denn je.

Die Räuber wurden des Wartens müde, standen auf und riefen dem armen Kleinen zu:

»Adieu, unsterblicher Zappler! – Morgen früh kommen wir wieder. Bis dahin wirst du das Maul schon aufsperren.«

Weg waren sie.

Jetzt erhob sich ein brausender Nordwind; der pfiff und heulte durch die Äste und Blätter und schlug den armen aufgehängten Bengele nach allen Seiten um den Baum herum. Er bammelte wie der Klöppel einer Kirchenglocke am Sonntage. – Das Pendeln machte ihm große Schmerzen, die Schlinge um den Hals ward immer fester, sie schnürte ihm die Kehle zu und nahm ihm den Atem.

Die Augen wurden ihm trübe, er fühlte den Tod nahen; aber immer noch hatte er Hoffnung, daß jemand komme und ihn befreie.

Er hoffte und hoffte; aber es kam niemand. Da fiel ihm sein lieber Vater ein und fast sterbend hauchte er noch:

»Vater, lieber Vater, wenn nur du hier wärest!« Mehr konnte er nicht mehr sprechen; er schloß die Augen, öffnete den Mund; die Beine hingen ihm unbeweglich zu Boden, er schüttelte sich noch einmal und dann …

Deutsch bearbeitet von Anton Grumann

Lustig und lehrreich für kleine und große Kinder

Pinocchio – Die Geschichte vom hölzernen Bengele

Le Avventure di Pinocchio, erschienen 1881.

Deutsch bearbeitet von Anton Grumann

 

Titelblatt

Vorwort

Vorwort.

Nenne einem italienischen Kinde Pinocchio,1 und seine dunklen Augen schauen zu dir empor im leuchtenden Glanz der Freude; hast du ihm doch den Namen eines Freundes ausgesprochen. Alle kennen ihn, den allzeit lustigen hölzernen Kleinen. Sie freuen sich immer wieder an seinen lustigen Streichen, trauern mit ihm, wenn es ihm schlecht ergeht, und lernen aus seinen Strafen das Böse meiden im eigenen Leben. »Denke an Pinocchio und seine lange Nase!« mahnst du einen kleinen Lügner; er greift rasch an seine eigene Nase und wird nachdenklich. »Erinnerst du dich des Eselsfiebers, das Pinocchio so große Sorgen machte?« fragst du ein Faulenzerchen, und du hast ihm die beste Strafpredigt gehalten. – Herzensfreude und erzieherischen Nutzen hat das Büchlein allüberall verbreitet, wo es Eingang gefunden. In mehr denn einer halben Million Exemplaren hat es seinen Siegeszug gehalten unter der italienischen Jugend. In Deutschland ist das Schriftchen kaum bekannt geworden. Zwei Bearbeitungen sind vorhanden, haben aber keine nennenswerte Verbreitung gefunden. Der Grund mag darin liegen, daß sie, den tiefen sittlichen Inhalt des Büchleins verkennend, eine leichte Kasperlesgeschichte daraus gemacht oder daß sie in der Übertragung zu eng an das Original sich angeschlossen und dem deutschen Kinde unverständliche Situationen geschaffen haben.

Seit Jahren im engsten Verkehr mit der italienischen und deutschen Jugend, glaubte ich den Versuch wagen zu dürfen, eine neue Bearbeitung herauszugeben, die ohne wesentliche Abweichungen vom italienischen Original deutsch zur deutschen Jugend spricht.

Beim Erscheinen des Büchleins denke ich dankbar zurück an einen großen Freund der Jugend, Herrn Dr. Ernst Geradaus, der einst an linden Frühlingstagen, da uns milde Zephirwinde von den Blütenhügeln der Arnostadt flutende Wellen von Düften entgegentrugen, zuerst den deutschen Bengele gehört und sich der Ausgabe mit großer Liebe angenommen hat.

Florenz, Juli 1913.
Anton Grumann, Rektor.

  1. Name des Helden der italienischen Originalausgabe dieses Buches. (C. Collodi, Le Avventure di Pinocchio, Firenze, R. Bemporad & Figlio.)