Dreiundzwanzigstes Stück.

Vom weißen Marmorstein ans brausende Meer

Querein durch die Felder lief der Hampelmann davon. Er suchte möglichst rasch die Hauptstraße zu erreichen, die zum Hause der Fee führte. Schon von weitem erkannte sein scharfes Auge das Wäldchen, er sah über die andern Bäume die Große Eiche emporragen, an der er einst Todesangst ausgestanden; aber wie er auch schaute und spähte, das weiße Häuschen war nirgends zu erblicken.

Eine traurige Ahnung beschlich ihn. Er fing einen schnelleren Schritt an und kam auf die grüne Wiese. Das Haus der Fee war nicht mehr da. Mitten im blumigen Grase aber lag ein weißer Marmorstein, der mit Goldbuchstaben beschrieben war. – Bengele konnte noch nicht lesen; aber schon beim Anblick des Steines kamen ihm die Tränen in die Augen.

Da kroch aus dem Grase neben dem Steine ein schwarzer Brummkäfer hervor und fing an unter den Buchstaben herzulaufen, so wie die Kinder den Zeilen mit dem Finger nachfahren, wenn sie noch nicht gut lesen können. Dabei brummte der Käfer wie die Orgel eine Trauermelodie und sang wehmütig und eintönig:

Hier ruht im süßen Schlummer
Das Mägdlein mit dem goldenen Haar.
Ihm brach das Herz vor Kummer,
Weil Bengele so treulos war.

Der Hampelmann zitterte; seine Beine wankten; er fiel nieder auf den kalten Marmorstein, küßte ihn hundertmal und weinte, – weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Am andern Morgen waren seine Augen tränenleer; aber seine Seufzer klangen noch viel erbarmungswürdiger.

»O, du liebe Fee«, schluchzte er, »warum bist du gestorben? – Warum bin nicht lieber ich gestorben? – Ich bin so böse, und du warst so gut! – Wo wird mein Vater sein? Sag mir doch, liebe Fee, wo kann ich ihn finden? – Ich will immer bei ihm bleiben, nie mehr davonlaufen, nie, nie, nie! – Gute Fee, bist du wirklich tot? – Wenn du mir noch gut bist, dann komm doch und lebe wieder! Ich bin ja dein Brüderlein Bengele. – Kannst du mich allein lassen, so ganz allein in der Welt? – Die Räuber werden wieder kommen und mich wieder aufhängen. Dann muß ich für immer sterben! – Was tue ich allein auf der Welt? – Dich und den Vater habe ich verloren; wer wird mir zu essen geben? – Wo kann ich schlafen? Wer macht mir meine Kleider? – Lieber Gott, laß mich auch sterben, es ist viel besser! Ich will auch sterben, ja, … ja … ja …«

Siehe, da kam ein riesengroßer Täuber geflogen. Mit weitgespannten Flügeln blieb er über Bengele in der Luft schweben und rief ihm zu:

»Sag mal, Kleiner, was machst du da?«

»Du siehst es doch, ich weine!« sagte Bengele, schaute auf und wischte sich mit dem Ärmel die Augen aus.

»Sag mir«, fuhr der Täuber fort, »kennst du nicht einen Hampelmann, der Bengele heißt?«

»Bengele? – hab‘ ich wirklich recht verstanden: Bengele?« rief der Hampelmann und sprang in die Höhe. – »Ich bin ja selbst der Bengele.« Rasch flog der Täuber zur Erde nieder und stand vor dem Hampelmann. Er war größer wie ein Truthahn.

»Du kennst doch auch Seppel?« fragte er weiter.

»Freilich! Das ist ja mein armer Vater. Hat er dir vielleicht etwas von mir gesagt? – Führe mich doch zu ihm! – Lebt er noch? – Sag mir, ums Himmels willen, lebt er noch?«

»Ich bin vor drei Tagen von ihm weggeflogen; er war am Meeresstrand.«

»Was machte er dort?«

»Einen kleinen Kahn, um über das Meer zu fahren. Über vier Monate schon zieht der arme Mann durch die Welt und sucht dich. Er hat dich nirgends finden können; jetzt will er übers Meer fahren und nach dir in fremden Ländern forschen; er meint, du seiest nach Amerika gegangen.«

»Ist es weit von hier ans Meer?« fragte Bengele.

»Über tausend Kilometer!«

»Über tausend Kilometer! – Lieber Täuber, wenn ich nur auch fliegen könnte!«

»Wenn du willst, trage ich dich ans Meer.«

»Was?«

»Du könntest dich auf meinen Rücken setzen; bist du schwer?«

»Ich schwer? Federleicht bin ich!«

Unverzüglich sprang Bengele dem Täuber auf den Rücken, setzte sich fest wie in einem Sattel, ein Bein links und ein Bein rechts, und rief laut:

»Nun mal los! Galopp, mein Pferdchen! Wir haben Eile und wollen bald am Ziele sein.«

Der Täuber flog auf und war in ein paar Minuten so hoch gestiegen, daß er fast an die Wolken stieß. Der Hampelmann wollte sehen, wie es unten auf der Erde aussah; aber er bekam solchen Schwindel und so große Angst, daß er beide Hände fester um den Federhals seines Luftpferdchens legte und sich ganz eng anschmiegte, um nicht herabzufallen.

Den ganzen Tag flogen sie schon. Gegen Abend sagte der Täuber: »Ich habe arg Durst.«

»Und ich arg Hunger«, meinte Bengele.

»Bei dem Taubenschlag dort wollen wir ein bißchen rasten; dann fliegen wir weiter, damit wir morgen früh ans Meer kommen.«

Sie flogen in den Taubenschlag. Drinnen fand sich nur eine Schüssel Wasser und ein Körbchen mit Linsen.

Der Hampelmann hatte nie in seinem Leben die Linsen leiden können. Wenn er ein Linsengericht nur roch, so war es ihm schon zuwider und machte ihm Brechreiz. An diesem Abend aber schmeckten ihm die rohen Linsen wie Pfeffernüsse, und als er mit dem ganzen Korbe so ziemlich fertig war, sagte er:

»Ich hätte nie geglaubt, daß Linsen so gut wären.«

»Mein lieber Freund«, sagte der Täuber, »Hunger ist der beste Koch.«

Sie ruhten sich rasch ein wenig aus, dann ging der Flug weiter. Am andern Morgen kamen sie ans Meer. Der Täuber setzte Bengele auf die feste Erde. Für seine Dienste wollte er keinen Dank und flog alsbald davon.

Am Strande drängte sich eine Menge Leute; sie schrieen, fuchtelten mit den Händen und schauten beständig aufs Meer hinaus.

»Was ist passiert?« fragte Bengele eine alte Frau.

»Ein armer Vater hat seinen Sohn verloren und ist mit einem Kahn aufs Meer hinausgefahren, ihn zu suchen. Aber das Meer ist heute sehr unruhig und das Schifflein wird untergehen.«

»Wo ist das Schifflein?«

»Dort außen, sieh, wo mein Finger hindeutet.«

Weit draußen konnte man eben noch eine Barke sehen. Sie schien nicht größer wie eine Nußschale, und klein wie ein Mücklein erkannte man darin einen Menschen.

Bengele strengte seine Augen an. Er sah den Kahn in weiter Ferne und stieß einen Schrei aus:

»Er ist’s, er ist’s, – mein armer Vater!«

Der Kahn wurde von den wütenden Wellen hin und her geworfen; bald verschwand er hinter den haushohen Wogen, bald schaukelte er über sie hin. Bengele stand auf der Spitze eines hohen Felsenriffs, winkte mit den Händen und mit dem Hute und rief immerfort: »Vater! Vater!«

Es schien, als habe Seppel trotz der großen Entfernung den Knaben erkannt; denn er winkte auch mit seiner Mütze.

Auf einmal wälzte sich eine entsetzlich große Welle daher und der Kahn verschwand. Die Leute warteten, ob er wieder über Wasser komme, aber er war nicht mehr zu sehen.

»Der arme Mann!« sagten die alten, erfahrenen Fischer am Strande, murmelten ein Gebet und gingen nach Hause.

Da hörte man einen verzweifelten Schrei. Die Leute drehten sich um und konnten eben noch sehen, wie sich der Hampelmann von seinem Felsen ins Meer stürzte. Laut rief er dabei:

»Ich will meinen Vater retten.«

Bengele war ganz von Holz, blieb von selbst über Wasser und konnte schwimmen wie ein Fisch. Manchmal verschwand er wohl unter den Wellen, aber bald kam er wieder obenauf; er ruderte aus Leibeskräften und war bald so weit vom Lande weg, daß man ihn nicht mehr sehen konnte.

»Das arme Kerlchen«, sagten die alten Fischer am Strande, murmelten nochmals ein Gebet und gingen nach Hause.