Der Esel Bengele im Zirkus

Vierunddreißigstes Stück.

Der Esel Bengele im Zirkus

Das fette Männchen wollte nicht lange warten und schlug die Türe ein. Lachend trat es ins Zimmer und sprach:

»So ist’s recht, ihr Früchtchen! Ihr singt schon gut die Eselstöne; ich hab‘ euch gleich an der Stimme erkannt.«

Zerknirscht und geduckt standen die beiden Esel da. Sie zogen den Schwanz zwischen die Hinterbeine, senkten tief den Kopf und ließen die Ohren hängen.

Das Männchen streichelte und tätschelte sie. Dann bearbeitete er ihr struppiges Fell mit Striegel und Bürste, daß es glatt und glänzend wurde. – Nun sah man erst, wie hübsch sie geraten waren.

Noch am selben Tage bekamen die beiden Eselchen ein Halfter und wurden auf den Markt geführt. Das Männchen wollte sie bald verkaufen und Geld verdienen.

Käufer gab es stets genug. Ein Gärtner kaufte den Röhrle; Bengele ward von einem Zirkusdirektor erstanden. Dieser hatte die Absicht, ihn so zu dressieren, daß er in der Vorstellung auftreten konnte.

Begreift ihr jetzt, meine kleinen Leser, was für ein schändliches Gewerbe das fette Männchen trieb? – Hinter seinem zuckersüßen Gesichtlein verbarg sich ein wahres Scheusal. Seine Versprechungen waren falsch, seine Schmeicheleien pure Verstellung. – Er fuhr von Zeit zu Zeit in die Welt hinaus und nahm alle leichtsinnigen Knaben mit, die nicht mehr gehorchen und lernen wollten. Sie fuhren mit ihm ins Faulenzerland; dort vertrieben sie eine Zeitlang ihr Leben mit Spiel und Nichtstun. Weil sie kein Buch mehr anschauten und nichts arbeiteten, wurden sie immer dümmer und schließlich verwandelten sie sich in lauter kleine Esel. Das Männlein verkaufte sie und verdiente viel Geld. Man sagte, er sei bei seinem Geschäfte ein Millionär geworden.

Wie es dem Röhrle ging, werdet ihr später erfahren.

Für Bengele begann ein hartes, trauriges Leben. Er wurde zunächst in den Stall geführt, und der neue Herr warf ihm eine Handvoll Stroh in die Krippe. Bengele versuchte das Stroh, spuckte es aber gleich wieder aus. Der Herr brummte und warf ein Büschelchen Heu dazu. Aber auch das Heu schmeckte ihm nicht.

Nun schrie der Herr zornig:

»So! Nicht einmal Heu ist dir gut genug? Paß auf, du feinschmeckeriger Esel, ich werde dir solche Grillen aus dem Kopfe treiben.«

Mit diesen Worten nahm er die Peitsche und fitzte ihm um die Beine.

Das tat schrecklich weh und Bengele wollte weinen; aber sein Weinen ward wieder ein jämmerliches: »I-ah, I-ah!« – »Das Stroh kann ich nicht verdauen«, hatte er sagen wollen.

Zum Glück verstand der Zirkusdirektor die Eselssprache und erwiderte:

»Dann friß Heu!«

»Das Heu macht mir Leibweh«, iahte Bengele.

»Du glaubst wohl, daß ich die Esel mit Pasteten füttern kann«, versetzte der Herr ergrimmt und fitzte ihn ärger wie zuvor.

Jetzt verhielt sich Bengele ruhig. Es war das Klügste, was er tun konnte. – Der Stall wurde zugemacht; Bengele war allein mit seinen trüben Gedanken und mit seinem gräßlichen Hunger. – Es war schon lange her, daß er nichts mehr gegessen hatte; er fing wieder an vor Hunger zu gähnen. Wie sperrte der Esel das Maul auf! Denkt euch nur!

Am Ende trieb ihn der Hunger dazu, doch mal das Heu in der Krippe zu versuchen. Lange kaute er, schloß dann die Augen und schluckte es hinunter.

»So arg schlecht ist das Heu doch nicht«, dachte er; »aber wenn ich nur nicht ausgerissen und weiter auf die Schule gegangen wäre! Daheim bekäme ich jetzt statt Heu mindestens ein feines Wurstbrötchen mit Butter. – Was muß ich doch alles erleben!«

Als er am andern Morgen aufwachte, suchte er gleich, ob in der Krippe noch ein bißchen Heu übrig wäre. Aber er hatte alles verzehrt. Da probierte er ein wenig das Kurzfutter von Stroh. Er fraß es und es schmeckte ihm schließlich auch; aber er mußte doch immer wieder daran denken, daß Apfelkuchen und Schlagsahne besser wären.

»Ich will mich drein fügen«, sagte er sich und kaute weiter, »vielleicht nehmen sich andere faule Knaben eine Lehre, wenn sie hören, wohin das Faulenzen führt. – Ich muß mich drein schicken, ich muß mich drein fügen!«

»Drein fügen!?« rief der Herr, der eben in den Stall gekommen war, »bist du noch nicht zufrieden? – Meinst du, vornehmer Esel, daß ich dich bloß zum Fressen gekauft habe? Du sollst mir arbeiten und Geld verdienen! Verstanden! – Also, vorwärts! – Mit mir in den Zirkus! – Zunächst wirst du lernen, wie durch die Ringe gesprungen wird, dann kommt der Sprung durch das Faß mit den zwei papierenen Böden, schließlich lernst du Walzer und Polka auf den Hinterbeinen tanzen.«

Bengele, der arme Esel, mußte sich in all diesen schweren Künsten üben. Tag für Tag wurde exerziert ein volles Vierteljahr lang, und wenn es nicht gut ging, setzte es Hiebe ab, so viele … oh!

Endlich hatte Bengele ausgelernt. Er sollte bei der nächsten Vorstellung das erste Mal auftreten. An allen Plakatsäulen der Stadt hingen bunte Zirkuszettel, auf denen also zu lesen war:

Zirkus Spektakulini.

Heute abend bei festlich beleuchtetem Hause:

Große Galavorstellung.

Sämtliche Künstler und Künstlerinnen des Unternehmens werden ihre unübertrefflichen Leistungen vorführen. Auftreten des gesamten Pferdematerials!

Zum erstenmal!

Neu einstudiert, sensationell, ohne Konkurrenz:

Bengele, der tanzende Esel,

die Höhe der Dressur, vorgeführt vom Direktor selbst.

An diesem Abend war der Zirkus schon eine Stunde vor Beginn der Vorstellung vollständig ausverkauft. Für kein Geld hätte man noch einen Platz bekommen können. Die numerierten Sitze [Text der Vorlage unleserlich] Preisen bezahlt. –

[Text der Vorlage unleserlich] Zuschauer wimmelten von Knaben [Text der Vorlage unleserlich] wollten Bengele, den tanzende Esel sehen.

[Text der Vorlage unleserlich] Programms war erledigt. Da trat der Direktor in die Arena. Er trug [Text der Vorlage unleserlich] weiße Hosen, die bis zu den [Text der Vorlage unleserlich] Stiefeln steckten. Mit einer Verbeugung begrüßte er die Zuschauer

Liebes Publikum, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, auf der Durchreise durch die hiesige geehrte Stadt Ihnen den berühmtesten Esel der Welt vorzuführen. – Dieses Wunder der Tierwelt hatte bereits die Ehre, an vielen Fürstenhöfen Europas den diesbezüglichen Herrschaften seine Künste zu zeigen. – Ich danke ergebenst für das große Interesse und Ihr zahlreiches Erscheinen und bitte um Ihr geneigtes [Text der Vorlage unleserlich] und Ihre werte Aufmerksamkeit.«

Schon diese Rede löste einen Sturm von Beifall aus; aber der Beifall wurde ein rufender Orkan, als Bengele, der Esel, selbst im Zirkus erschien. Er war geschmackvoll aufgeputzt: ein neues Halfter von gewichstem Glanzleder, Schnallen und Knöpfe aus sauber geputztem Messing, zwei weiße Rosen an den Ohren, die Mähne elegant nach zwei Seiten gekämmt und auf beiden Seiten mit rotseidenen Schleifchen geziert, die Satteldecke von Silber, der gelbe Sattel mit goldenem Bande aufgeschnallt, der Schwanz mit blauen Samtschlüpfchen verschönert; kurz und gut: ein Esel, der jedem gefallen mußte. Bengele wurde dem Publikum vom Direktor vorgestellt mit diesen Worten:

»Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich brauche Ihnen nicht von den Schwierigkeiten reden, die ich überwinden mußte, um dieses Exemplar von Esel zu bekommen und abzurichten. – Sie haben es hier nicht mit einem unserer einheimischen Tiere zu tun, sondern mit einem wild eingefangenen Steppenesel aus den heißen Zonen. Noch glüht der Stolz der Freiheit aus dem funkelnden Blicke seiner Augen. Überzeugen Sie sich, wie sie blitzen! – Alle Mittel habe ich versucht, um Bengele an das Leben zivilisierter Esel zu gewöhnen; oft mußte ich zu körperlicher Züchtigung meine Zuflucht nehmen. Trotz alledem konnte ich mir die Liebe des edeln Tieres lange nicht gewinnen; im Gegenteil! Ich erfuhr nur um so mehr Hartsinn und Störrigkeit. – Da versuchte ich mein eigenes System. Ich maß und beobachtete den Kopf des Tieres nach allen Seiten und Richtungen. Ich fand hinter seinem rechten Ohr eine Unregelmäßigkeit in der Knochenbildung, eine Art Höcker oder Ansatz. Ich sandte meine Zeichnungen und eine Beschreibung meiner Auffassung an die Universität in Paris und erhielt von der dortigen philosophisch-medizinischen Fakultät die Bestätigung meiner Resultate. Jener Ansatz hinter dem rechten Ohr des kostbaren Tieres wies auf eine abnorme Befähigung zu künstlerischen Tanzbewegungen hin. Ich machte mir diese Tatsache zu nutze, unterrichtete meinen Esel nach dieser Richtung hin; alles ging mit einem Male überraschend leicht und die Resultate können Sie alle sogleich mit eigenen Augen erblicken. – Bevor ich aber das edle Tier vorführe, erlaube ich mir, Ihnen auch die folgenden Vorstellungen meines Zirkus mit stets neuem Programm in empfehlende Erinnerung zu bringen.« –

Der Direktor machte abermals einen tiefen Bückling, wandte sich sogleich an Bengele und sprach:

»Nun mal mutig zu, mein Bengele! – Begrüße zunächst die verehrten Herrschaften, Damen, Herren und Kinder, und zeige dann deine Kunst!«

Bengele kniete auf die beiden Vorderfüße, legte den Kopf auf den Boden und verharrte unbeweglich, bis der Direktor mit der Peitsche knallte und rief:

»Im Schritt!«

Das Eselchen stand auf und ging im fein abgemessenen Schritte durch die Bahn des Zirkus.

»Trab!« befahl der Direktor und Bengele änderte gehorsam den Schritt.

»Galopp!« – Bengele holte zu flottem Galopp aus.

Einmal übers andere knallte jetzt der Direktor mit der Peitsche, so daß Bengele immer rasender rennen mußte. Als er wie ein Pfeil durch die Bahn flog, schoß der Direktor plötzlich eine Pistole ab. – Der brave Esel tat, als ob er getroffen wäre, und fiel wie tot in der Bahn nieder.

Ein wahrer Donner von Beifall und Händeklatschen erdröhnte im Zirkus.

Der Direktor setzte seinen Fuß auf das im Sande liegende Eselchen und schoß in die Luft.

Bengele durfte wieder aufstehen; er schaute sich unwillkürlich unter den Zuschauern um und – er blieb wie erstarrt stehen – unter der dichten Menge saß eine schöne Frau. Sie trug an schwergoldener Kette ein Medaillon auf der Brust; darauf war das Bild eines Hampelmanns.

»Das ist mein Bild und das ist die gute Mutter«, erkannte Bengele sofort ganz richtig; er war überwältigt von seinen Gefühlen und wollte rufen:

»Liebe Mutter, Mutter Fee!«

Aber es kam nichts anderes als ein gefühlvolles »I-ah« und noch einmal ein längeres »I-aah« aus des armen Esels Kehle; alle Zuschauer lachten laut, ganz besonders die Kinder.

Der Direktor war geärgert und wollte dem Esel zeigen, daß es kein Anstand sei, vor dem Publikum derart zu iahen; darum ging er zu Bengele hin, drehte seinen Peitschenstock um und schlug ihm mit dem dicken Teil kräftig über die Nase.

Das arme Eselein streckte seine Zunge weit heraus und leckte sich in einem fort die Nase ab, weil es dachte, so könne der Schmerz schneller nachlassen.

Dann schaute Bengele noch einmal in die Höhe; aber – o Jammer! – Die Mutter Fee war verschwunden.

Welcher Schmerz für das Eselein! Seine Augen füllten sich mit Tränen; er weinte still vor sich hin. Niemand merkte es aber, nicht einmal der Direktor. Der schwang vielmehr seine Peitsche, knallte und sprach:

»Aufgepaßt, Bengele! – Jetzt wirst du den Herrschaften zeigen, wie du durch die Ringe springen kannst!«

Zwei-, dreimal nahm Bengele einen Anlauf, aber jedesmal, wenn er vor den Ring kam, ging ihm der Mut aus, und statt durchzuspringen, schlüpfte er unter dem Ringe weg. Schließlich tat er einen mutigen Sprung und – wupps! durch! – Aber, o weh, er blieb mit den beiden Hinterbeinen im Ringe hängen und fiel vornüber auf den Sand.

Als er sich aufrichtete, hatte er ein Bein verstaucht und mit Mühe nur konnte er hinkend in den Stall zurückgebracht werden.

Alle Kinder, die im Zirkus waren, riefen: »Heraus den Bengele! – Vorwärts! noch einmal den Bengele!« – Sie hatten Mitleid mit dem unglücklichen Geschöpfe, wollten ihn noch einmal sehen und ihm Beifall klatschen.

Aber der Esel war nicht mehr zu gebrauchen. – Am andern Morgen kam der Tierarzt, untersuchte das Bein und erklärte, daß man es heilen könne, der Esel aber werde seiner Lebtage hinken.

Da sagte der Zirkusdirektor zum Stallburschen:

»Was fange ich mit einem lahmen Esel an? – Faulenzer kann ich keine füttern. Bring ihn auf den Markt und verkaufe ihn!«

Gleich fand sich ein Käufer. »Was willst du für den hinkenden Esel da?« fragte er.

»Zwanzig Mark!« sagte dieser.

»Zwanzig Pfennig, meinst du wohl! – Wozu kann ein hinkender Esel dienen? – Aber ich brauche gerade ein Fell, weil ich bei dem Verein ›Musikalia‹ mit Blechinstrumenten bin und mir eine Trommel machen möchte. Ich sehe, das Tier da hat eine dicke Haut.« –

Was mochte Bengele denken, als er hörte, daß man eine Trommel aus seinem Felle machen wolle! Für fünf Mark erhielt der Mann schließlich den hinkenden Esel und nahm ihn mit in sein Heimatsdorf am Meere. Dort führte er ihn auf ein Felsenriff, hing ihm einen schweren Stein an den Hals und band ihm ein langes Seil an das linke Hinterbein. Unversehens gab er dem Tiere einen Stoß und es sauste mit dem Steine tief ins Wasser hinein. – Der grausame Mensch hielt das Ende des Seiles fest und wollte abwarten, bis der Esel ertrunken war.

Die Fische fressen den Esel.

Fünfunddreißigstes Stück.

Die Fische fressen den Esel.

Nach einer halben Stunde dachte der Mann auf dem Felsen: »Jetzt muß der Esel tot sein.«

Behutsam zog er das Seil empor. Da erschien über dem Wasser – der tote Esel? – Nein, ein sehr lebendiger Hampelmann, der ausgelassen zappelte. Wie angewurzelt stand der Mann mit dem Stricke in beiden Händen auf seinem Platze. Er wußte nicht, wie ihm geschah. – Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

Endlich getraute er sich das Kerlchen in die Höhe zu ziehen, riß die Augen noch mehr auf und stammelte:

»Ich habe doch einen Esel ins Wasser geworfen.«

»Der Esel bin ich«, lachte vergnügt der Hampelmann.

»Du?«

»Ja!«

»Lausbube, willst mich noch foppen?«

»Foppen, mein lieber Herr?! – Nein, es ist mir Ernst!«

»Wie kannst du, hölzerner Hampelmann, ein Esel gewesen sein?«

»Das ist ein Geheimnis des Meeres! Im Wasser gibt es solche Wunder!«

»Nimm dich in acht! Ich lasse mich nicht uzen! – Wenn es mir zu stark wird …«

»Nun, lieber Herr, wenn Sie mir den Strick da am Beine lösen, will ich Ihnen den ganzen Vorgang haarklein erzählen.«

Der Mann war neugierig, eine solche Geschichte zu hören, und machte gleich den Knoten des Strickes auf. Bengele fühlte sich zum ersten Male wieder frei, und wohlgemut begann er seine Geschichte:

»Also hören Sie! – Ich war früher ein Hampelmann wie jetzt. Eben sollte ich ein richtiger Knabe werden, da – nun ich wollte nicht mehr lernen, hörte auf schlechte Kameraden und lief meiner Mutter davon. – Eines schönen Tages wachte ich auf und war ein Esel geworden mitsamt den langen Ohren und dem wüsten Schwanze. – Wie habe ich mich geschämt! – Behüt Euch Gott vor dem Eselsfieber! – Man hat mich auf den Markt geführt, und ein Zirkusdirektor hat mich gekauft! Der wollte aus mir mit aller Gewalt einen Tänzer und Ringspringer machen; aber bei der Vorstellung bin ich eklig gefallen und habe mir das Bein verstaucht. – Weil ich hinkte, konnte mich der Zirkusdirektor nicht mehr brauchen, ließ mich verkaufen und Sie haben mich gekauft.«

»Leider! Leider! – Wer gibt mir die fünf Mark wieder?«

»Warum haben Sie mich gekauft?! – Hören Sie, ein Trommelfell wollten Sie aus mir machen! – Ja, ein Trommelfell!!«

»Leider, leider! – Wer gibt mir jetzt ein Trommelfell; am Sonntag wollte ich schon die Trommel spielen.«

»Nur den Mut nicht verlieren, lieber Mann! – Es leben noch viele Esel auf der Welt!«

»Du unverschämter Schlingel! – Ist deine Geschichte jetzt fertig?«

»Noch lange nicht«, sagte Bengele, »ich fahre gleich weiter. – Sie haben mich also gekauft und hierher geführt. Erst wollten Sie mich totschlagen, aber dann bekamen Sie ein weiches Herz und wollten mich lieber ersäufen. Sie haben mir also einen schweren Stein an den Hals gehängt und einen langen Strick an den Fuß gebunden. – Dieses menschliche Mitgefühl ehrt Sie, allen Respekt davor! – Übrigens haben Sie aber Ihre Rechnung ohne meine – Mutter Fee gemacht.«

»Wer ist diese Fee?«

»Wie gesagt, meine Mutter. – Und sie ist gut wie alle Mütter. Sie lieben ihre Kinder und verlieren sie nie aus den Augen und stehen ihnen bei in allem Unglück, auch wenn die Kinder so eigensinnig und nichtsnutzig sind, daß sie eine gute Mutter gar nicht mehr verdienen und man sie laufen lassen sollte. – Wie gesagt also, die gute Fee sah, daß ich ersäuft werden sollte. Da sandte sie gleich eine unzählbare Schar von allerlei Fischen; diese meinten, ich sei wirklich ein toter Esel, und fraßen mich. – Wie sie die Mäuler voll nahmen! Für so freßsüchtig hätte ich die Fische nie gehalten! – Sie fraßen die langen Ohren, die Schnauze, den Schwanz, alles mit Stumpf und Stiel. – Es war sehr anständig von ihnen.« –

»Von heute ab«, warf da der Mann ein, »esse ich wahrhaftig nie mehr Fisch im Leben; wenn sie Eselsohren und Eselsschwänze fressen, nein, das ist zu arg, – puh!!«

»Ich bin auch der Meinung«, entgegnete Bengele. »Übrigens hören Sie nun weiter! – Als die Fische meine ganze Eselei gefressen hatten, da kamen sie an die Knochen, oder besser gesagt ans Holz. – Wie Sie sehen, bin ich aus Holz und, Gott sei Dank, aus festem Holz gemacht. – Die Fische schnappten ein paarmal tüchtig; aber sie rannten sich die Nase an und merkten bald, daß das Eselsfleisch zu Ende sei. Einer nach dem andern schwamm davon. – Sie hätten sich für das feine Mahl schon bedanken dürfen; aber wer Eselsfleisch frißt, vergißt allen Anstand. – Nun begreifen Sie, mein Herr, daß man einen Esel ins Meer versenken und einen Hampelmann herausziehen kann. Das ist meine Geschichte.«

»Fünf Mark kostet mich deine Geschichte«, knurrte der Mann, »wer gibt mir mein Geld wieder? – Weißt du, was ich tue? – Ich bringe dich wieder auf den Markt und verkaufe dich als trockenes Holz zum Feueranmachen.«

»Ganz recht! Verkauf mich nur, wackerer Trommler!« sagte Bengele und hüpfte ins Wasser. Lustig schwamm er ins Meer hinaus und rief noch einmal zurück:

»Adieu, Blechmusiktrommler! – Wenn du mal wieder ein Fell brauchst, so laß es mir sagen!«

Als er schon weit vom Lande war, drehte er dem Manne noch eine lange Nase und schrie:

»Mit dem trockenen Holze kann ich dir nicht mehr dienen; es wird zu naß im Wasser.«

Der alte Schlingel war in dem Hampelmann wieder erwacht; er schwamm vergnügt fort und schlug im Wasser tausend Purzelbäume.

Das Mägdlein mit dem goldenen Haar.

Sechzehntes Stück.

Das Mägdlein mit dem goldenen Haar.

In diesem Augenblicke, als Bengele zu sterben glaubte, trat das Mägdlein mit dem goldenen Haar wieder ans Fenster. Es hatte Mitleid bekommen mit dem armen Hampelchen, das vom Winde gefaßt hin und her schaukelte.

Zierlich klatschte das holde Kind dreimal in die Hände und schlug dreimal leicht mit dem Fuß auf den Boden.

Auf dies Zeichen entstand sogleich ein Flügelrauschen; ein großer Falke kam und setzte sich auf den Fenstersims.

»Was befiehlt mir meine schöne Fee?« – fragte der Falke und setzte den Schnabel zwischen die Füße als Zeichen der Ehrfurcht.

Das Mägdlein mit dem goldenen Haar war nämlich eine herzensgute Fee und wohnte schon über tausend Jahre lang im Häuschen am Walde.

»Siehst du das Hampelchen dort an der Großen Eiche hängen?«

»Jawohl, gnädige Fee!«

»Gut! – Fliege sogleich hin, beiße mit deinem scharfen Schnabel den Strick durch, mit dem es aufgehängt ist, und bette den Kleinen vorsichtig im Grase.«

Rasch wie der Wind flog der Falke davon und war schon nach zwei Minuten zurück mit der Meldung:

»Ich habe getan, wie Ihr mir befohlen!«

»In welchem Zustand hast du das Hampelchen gefunden? – Lebt es noch?«

»Es war wie tot; aber es muß doch nicht ganz tot sein. Als ich den Knoten durchgebissen hatte, tat es einen kleinen Seufzer und lispelte: ›Jetzt geht es besser.‹«

Da schlug die Fee wieder in die Hände und klopfte viermal auf den Boden. Alsbald erschien ein artiger Pudelhund. Er lief auf den Hinterbeinen gerade wie ein Mensch und trug die Livree eines fürstlichen Kutschers. Ein goldbordiertes Hütchen bedeckte den Kopf, um den in zarten Wellen die Locken der blonden Perücke spielten. Das schokoladefarbige Samtröckchen war mit Knöpfen von Edelsteinen besetzt und hatte zwei tiefe Taschen. – Da steckte der treue Pudel die Knochen hinein, welche er von der Herrin beim Mittagessen erhielt. – Rote Samthosen, grünseidene Strümpfe und ein Paar spiegelblanke, gelbe Lederstiefel kleideten ihn allerliebst. Zwischen den Rockflügeln hatte ihm die Herrin eine Art blauseidenes Schirmfutteral angebracht, damit er den Schwanz hineinstecken konnte bei Regenwetter oder wann er sonst wollte.

»Flugs, Mäusel!« sagte die Fee, »spanne den schönsten Wagen ein und fahre zum Wäldchen. Unter der Großen Eiche liegt ein armes, halbtotes Hampelchen im Gras. Hebe es sorgfältig in die Polster des Wagens und führe es hierher. Verstanden?«

Der Pudel drehte dreimal das blauseidene Schirmfutteral, ein Zeichen, daß er alles begriffen hatte, und lief, was er laufen konnte.

Gleich darauf fuhr eine glänzendweiße Droschke aus dem Hause. Ihre Polster waren mit Schlagsahne gefüllt und der Überzug bestand aus Fellen von Kanarienvögeln. Dreihundert Paare weißer Mäuslein zogen sie und der Pudel saß auf dem Bocke. Er knallte hin und her mit der Peitsche wie ein wirklicher Kutscher, wenn er Eile hat.

Keine Viertelstunde verging, da war die Droschke schon zurück. Die Fee wartete am Hauptportale, nahm den armen Hampel gleich in die Arme, trug ihn hinauf in ein Zimmer, das ganz mit Perlmutter tapeziert war, und ließ alsbald die berühmtesten Ärzte des Landes rufen.

Sogleich erschienen sie, einer nach dem andern: ein Rabe, eine Eule und ein Lispel-Heimchen.

Die Fee empfing alle drei am Bette des Hampelchens und sagte: »Wollen Sie gütigst entscheiden, ob das arme Hampelmännchen hier tot ist oder noch lebt.«

Zuerst trat hierauf der Rabe vor, fühlte Bengele den Puls, betastete die Nase und die beiden kleinsten Zehen. Dann stellte er sich geheimnisvoll vor die andern und sagte ernst und feierlich:

»Nach gewissenhafter Untersuchung meinerseits ist der Hampel tot. Sollte er allenfalls nicht tot sein, dann hätten wir den interessanten Fall, daß er noch lebt.«

»Ich bedaure unendlich«, sagte da die Eule, »meinem verehrten Freunde und Kollegen, dem Herrn Raben, mit meiner Ansicht entgegentreten zu müssen. Nach meiner Auffassung befindet sich der Hampelmann immer noch am Leben. Fände sich aber gegebenenfalls kein Lebenszeichen mehr vor, dann hätten wir zweifelsohne mit sichern Anzeichen des Todes zu rechnen.«

»Wollen Sie uns nicht auch Ihre Ansicht mitteilen?« fragte die Fee das Lispel-Heimchen.

»Ich meine, wenn ein vernünftiger Arzt nichts zu sagen weiß, dann sollte er schweigen. – Übrigens ist der Hampel da für mich keine Neuerscheinung; ich kenne ihn schon ziemlich lange.« –

Bengele war bisher unbeweglich wie ein richtiges Stück Holz liegen geblieben; jetzt aber bekam er plötzlich eine Art Krämpfe und das ganze Bett fing an zu wackeln.

»Dieser Hampel hier«, fuhr Lispel-Heimchen fort, »ist ein richtiger Schlingel …«

Bengele sah das Heimchen an, schloß aber rasch wieder die Augen.

»Er ist ein Nichtsnutz, ein eigensinniger Tunichtgut, ein Durchbrenner.«

Bengele versteckte sich unter der Bettdecke.

»Dieser Hampel ist ein ungezogener Bube, der seinen Vater vor Leid noch unter den Boden bringt.«

Da hörte man im Zimmer ein leises Schluchzen und Weinen. Die Fee zog Bengele die Bettdecke vom Gesicht, und siehe da, dem Hampelmann flossen Tränen über die hölzernen Wangen.

»Wenn ein Toter weint, ist es ein sicheres Zeichen, daß er wieder gesund wird!« verkündete feierlich der Rabe.

»Bedaure sehr, meinem verehrten Freund und Kollegen nochmals widersprechen zu müssen«, sagte die Eule. »Wenn ein Toter weint, so folgt daraus, daß er nicht gern sterben möchte.«

Die Totengräber. – Das Lügen und die lange Nase.

Siebzehntes Stück.

Die Totengräber. – Das Lügen und die lange Nase.

Die drei Ärzte gingen. Bengele atmete schnell und kurz und sein Gesicht war glühend heiß; er hatte ein gefährliches Fieber.

Liebevoll trat die Fee zu ihm heran, legte ihm die Hand auf die Stirne und sprach:

»Armes, krankes Hampelchen, ich will dich wieder gesund machen.«

Sie holte aus einem goldenen Schränkchen ein weißes Pulver, löste es in einem Glase Wasser auf und reichte es Bengele mit den Worten:

»Trinke dieses Wasser, und morgen bist du wieder wohl.«

»Ist es bitter?«

»Ja, aber es tut dir gut!«

»Bittere Sachen mag ich nicht.«

»Folge mir doch und trinke!«

»Ich kann aber bittere Getränke nicht ertragen.«

»Trinke es nur! Dann gebe ich dir gleich ein Stück Zucker, daß du einen süßen Mund bekommst.«

»Wo ist der Zucker?«

»Da!« sagte die Fee und zeigte eine goldene Zuckerdose.

»Ich will erst den Zucker, dann trinke ich auch das bittere Zeug da.«

»Versprichst du’s mir?«

»Ja!«

Die Fee gab ihm den Zucker; Bengele zerbiß und schluckte ihn in einem Atemzuge, leckte sich die Lippen ab und meinte:

»Wenn Zucker eine Medizin wäre, möchte ich ganz gerne krank sein.«

»Trinke jetzt das bißchen Wasser und halte dein Versprechen!«

Mit Widerwillen nahm Bengele das Glas in die Hand und fing an daran zu riechen; er setzte es an die Lippen, aber gleich roch er noch einmal und sagte:

»Nein! Es ist zu bitter, viel zu bitter; ich kann es nicht trinken.«

»Das weißt du doch gar nicht; du hast es ja noch nicht einmal versucht.«

»Ich merke es doch! Ich habe es gerochen! – Erst noch ein Stück Zucker, dann will ich’s trinken.«

Mit der Liebe einer geduldigen Mutter steckte ihm die Fee ein zweites Stück Zucker in den Mund und reichte ihm wieder das Glas.

Da rückte der Hampel im Bett hin und her und sagte: »So geht es nicht, so kann ich nicht trinken.«

»Warum denn nicht?«

»Die Federdecke auf den Füßen ist mir zu schwer!«

Da nahm die Fee die Decke weg.

»Ich kann doch nicht trinken.«

»Was behagt dir sonst nicht?«

»Die Zimmertür ist halb auf; das kann ich nicht ertragen.«

Da ging die Fee und schloß die Tür.

Jetzt fing Bengele laut an zu schluchzen, und zwischen den Schluchzern grollte er:

»Ho! ho! … überhaupt! … ho! ho! das bittere Zeug, ho! ho! ho! … das trink‘ ich nicht, ho! nein, nein, nein! ho! ho! ho!« …

»Liebes Kind, es wird dich reuen!«

»Mir ist alles gleich!«

»Mit deinem Fieber mußt du in ein paar Stunden sterben.«

»Ist mir auch gleich.«

»Hast du keine Angst vor dem Sterben?«

»Ich! Angst? – Lieber sterben, als diese schlechte Medizin trinken.« –

Leise ging die Tür auf. Vier schwarze Hasen kamen und trugen einen kleinen Sarg herein.

»Was wollt ihr hier?« rief Bengele und setzte sich voller Schrecken im Bette auf.

»Wir wollen dich mitnehmen«, sagte der größte von den schwarzen Hasen.

»Mitnehmen? – Ich bin ja noch gar nicht tot.« –

»Noch ein paar Minuten, und du wirst es sein! Denn du hast die Medizin nicht getrunken, die dir das Fieber nehmen sollte.«

»Liebe, liebe Fee!« flehte Bengele, »o gib mir schnell das Glas! Schnell! – ums Himmels willen! – Schnell! Ich will nicht sterben! Nein! – nicht sterben!«

Mit beiden Händen nahm er das Glas und trank es auf einen Zug leer.

»Ein anderes Mal!« sagte der größte Hase. »Heute sind wir umsonst gekommen.« Sie drehten sich mit ihrem Sarge um und gingen brummend und schimpfend zur Tür hinaus.

Nach wenigen Minuten sprang Bengele aus dem Bett und war gesund. Die Hampelmänner werden nämlich selten krank und sehr rasch wieder gesund.

Als die Fee ihn im Zimmer herumspringen sah so lustig und froh wie ein junges Geislein, sagte sie:

»Meine Medizin hat dir also doch gut getan?«

»Und wie! – Sie hat mich wieder lebendig gemacht.«

»Warum konntest du dich dann so lange bitten lassen, bis du sie getrunken hast?«

»Das machen alle Kinder so, weil sie vor der Medizin mehr Angst haben als vor der Krankheit.«

»Schämt euch, ihr dummen Kinder! – Ihr solltet bedenken, daß eine bittere Medizin die Krankheit nimmt und vor dem Sterben bewahrt.«

»Ja, ja! Ein anderes Mal laß ich mich nicht mehr bitten; ich werde schon an die schwarzen Hasen denken … dann nehme ich gleich das Glas und – drunten ist schon die Medizin!«

»Komm jetzt ein wenig her zu mir und erzähle, wie du unter die Räuber geraten bist.«

Bengele fing an:

»Es war so. Der Direktor Feuerschlund gab mir fünf Goldstücke und sagte: ›Da! bring das deinem Vater!‹ Aber auf der Straße habe ich den Fuchs und die Katze getroffen; es sind zwei gute Leutchen. – Sie haben zu mir gesagt: ›Willst du, daß diese fünf Stücke tausend oder zweitausend werden? Geh mit uns, wir führen dich aufs Wunderfeld!‹ – Da habe ich gesagt: ›Ich gehe mit.‹ Und sie sagten: ›Wir wollen im »Geleimten Vogel« einkehren; um Mitternacht gehen wir weiter.‹ Als ich erwachte, waren sie nicht mehr da, weil sie schon fort waren. Dann lief ich die ganze Nacht; es war stockdunkel. Auf der Straße traf ich zwei Räuber in schwarzen Säcken. Sie schrien: ›Das Geld heraus!‹ – ›Ich habe keines in der Tasche‹, habe ich gesagt, weil ich es in den Mund gesteckt hatte. Da wollte mir einer von den Räubern das Messer in den Mund stecken; aber ich habe ihm die Hand abgebissen. Als ich sie wegspuckte, war es eine haarige Pfote. Dann rannten die Räuber mir nach. Ich lief, was ich laufen konnte; aber sie bekamen mich doch und hängten mich an den Baum im Wäldchen. Dann gingen sie fort und sagten: ›Morgen, wenn wir wieder kommen, wird er schon das Maul aufhaben, und wir kriegen das Gold!‹«

»Wo hast du jetzt die vier Goldstücke?« fragte die Fee. – »Verloren!« log Bengele. Er hatte sie nämlich in der Tasche.

Kaum war die Lüge gesagt, da wuchs seine lange Nase und ward zwei Finger länger.

»Wo hast du sie verloren?«

»Im Wäldchen!«

Bei dieser zweiten Lüge wuchs die Nase noch mehr. – »Wenn du sie im Wäldchen verloren hast, können wir sie gleich suchen. Alles, was man in diesem Wäldchen verliert, findet man sicher wieder.«

»Richtig! – Nun fällt es mir ein«, log der Hampel darauf los, »ich habe sie nicht verloren, sondern unvermerkt mit der Medizin hinuntergeschluckt.«

Bei dieser dritten Lüge wurde die Nase so lang, daß Bengele sich nicht mehr im Zimmer umdrehen konnte. Überall stieß er mit der Nase an: am Bett, am Fenster, an der Wand, an der Türe. Ein Glück, daß die Fee sich in acht nahm, sonst hätte er ihr mit der Nasenspitze ein Auge ausgestochen. Die Nase wuchs immer weiter; Bengele machte ein so drollig dummes Gesicht, daß die Fee laut lachen mußte. Ängstlich fragte der Hampelmann:

»Warum lachst du?«

»Über deine Lügnerei.«

»Weißt du, daß ich gelogen habe?«

»Jawohl, mein Freund, die Lügen erkennt man gleich. Alle haben kurze Beine und die meisten dazu noch eine lange Nase. – Deine gehören zu dieser Sorte.« –

Bengele wäre am liebsten vor Scham in ein Mausloch gekrochen. Er wollte davonlaufen, aber er kam mit seiner Lügennase nicht mehr zur Tür hinaus.

Auf dem Wunderfeld

Achtzehntes Stück.

Auf dem Wunderfeld

Die Fee verließ das Zimmer. Eine halbe Stunde blieb der Hampel allein. Er sollte einsehen, wie häßlich das Lügen ist, und seinen Fehler bereuen. – Ist es nicht garstig, wenn die Kinder lügen?

Bengele setzte sich in eine Ecke und schaute mit beiden Augen auf seine weitentfernte Nasenspitze. – O diese entsetzliche Nase! – Vor wem konnte er sich je wieder sehen lassen! – Das Hampelchen weinte laut.

Da trat die Fee wieder ins Zimmer, öffnete das Fenster und klatschte in die Hände. Sofort kam eine Schar bunter Spechte geflogen. Wie Soldaten in Reih und Glied setzten sie sich auf die lange Nase und hämmerten mit ihrem starken Schnabel auf sie ein, daß die Späne flogen. In kurzer Zeit ward die unförmlich lange Nase kürzer und bekam schließlich ihre natürliche Größe wieder.

Jetzt wischte sich Bengele die Tränen aus den Augen und sagte:

»O liebe Fee, wie bist du doch so gut! Und ich habe dich so gern!«

»Ich bin dir auch ganz gut«, sprach die Fee, »und wenn du bei mir bleiben willst, so bist du mein liebes Brüderlein und ich deine gute Schwester.«

»Ich bliebe schon da, aber – mein armer Vater!«

»Es ist schon für alles gesorgt! Deinen Vater ließ ich benachrichtigen; bis heute abend kannst du ihn hier sehen.« Bengele schlug vor Freude einen Purzelbaum und rief: »Herrlich! Herrlich! – Ich will ihm entgegengehen; du erlaubst es mir doch, liebe Schwester Fee! Sieh, ich kann es nicht mehr erwarten, bis der arme Vater kommt, der so viel durch mich ausgestanden hat.«

»Geh nur, aber gib gut auf den Weg acht! Nimm den Fußpfad durch das Wäldchen, und du wirst sicher den Vater treffen.«

Bengele ging. – Im Wäldchen angelangt, begann er ein fröhliches Rennen. Er kam gegen die Große Eiche; da war es ihm, als hörte er etwas in den Büschen rascheln. Er wandte sich um und sah des Weges kommen – na ratet mal wen? – den Fuchs und die Katze, seine zwei Freunde, mit denen er im Gasthaus »Zum geleimten Vogel« zu Abend gespeist hatte.

»Da schau mal her, unser lieber Bengele!« rief der Fuchs schon von weitem, sprang auf ihn zu, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. – »Wie kommst du nur hierher?«

»Hierher?« echote die Katze.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte der Hampelmann, »ich werde sie euch ein andermal erzählen, wenn wir bequemer Zeit haben. – Nur so viel will ich euch jetzt schon sagen, daß ich die letzte Nacht, als ihr mich im Gasthaus allein gelassen hattet, auf der Straße unter die Räuber gefallen bin.«

»Unter die Räuber!? – Du armer Kerl! – Was wollten sie von dir?«

»Die Goldstücke wollten sie mir nehmen!«

»Solche Lumpen!«

»Gemeine Lumpen!« verstärkte die Katze.

»Ich bin ihnen ausgekniffen«, erzählte Bengele weiter, »sie rannten aber immer hinter mir drein. Schließlich erwischten sie mich und hingen mich an diese Eiche.«

Bengele deutete mit dem Finger auf die »Große Eiche«.

»Könnte man noch Schlimmeres denken!« meinte der Fuchs kopfschüttelnd. – »Wie schlecht ist die Welt, in der wir leben müssen! Wo sind anständige Leute wie wir heutzutage noch sicher?«

Während des Gespräches merkte Bengele, daß die Katze am rechten Vorderbein hinkte; es fehlte ihr daran die Pfote mitsamt ihren Krallen. Er fragte darum:

»Was hast du an deiner Pfote?«

Die Katze wollte antworten, aber sie war ganz verwirrt. Da ergriff der Fuchs für sie das Wort und sagte:

»Meine liebe Freundin will in ihrer Bescheidenheit keine Antwort geben; ich will’s also an ihrer Stelle tun. – Denke dir nur, vor einer Stunde haben wir unterwegs einen alten Wolf getroffen; er war fast ohnmächtig vor Hunger und bat uns um ein Almosen. Wir hatten aber nicht einmal eine Brotkruste bei uns. Was tut meine Freundin! – Ja, wahrhaftig, sie hat ein goldenes Herz! – Die Brave biß sich eine Pfote ab und warf sie dem armen Wolf hin, damit er nicht Hungers sterbe.«

Dem Fuchse liefen bei dieser Erzählung die Augen über.

Auch Bengele war gerührt. Er ging auf die Katze zu und sagte ihr still ins Ohr:

»Wenn alle Katzen wären wie du, dann hätten’s die armen Mäuslein gut!«

»Was treibst du jetzt hier?« fragte da der Fuchs.

»Ich warte auf meinen Vater, der jeden Augenblick kommen muß.«

»Und deine Goldstücke?«

»Vier habe ich immer noch in der Tasche, mit einem habe ich im ›Geleimten Vogel‹ die Rechnung bezahlt.«

»Bedenke doch, daß die vier Goldstücke morgen tausend oder zweitausend sein könnten! – Warum willst du nicht mehr mit uns gehen aufs Wunderfeld?«

»Heute kann ich nicht; später einmal!«

»Später ist es zu spät!« sagte der Fuchs.

»Weshalb?«

»Weil ein reicher Herr das Wunderfeld gekauft hat; und von morgen an darf niemand mehr darauf sein Geld säen.«

»Wie weit ist es von hier aufs Wunderfeld?«

»Eine schwache halbe Stunde. Gehst du mit uns? – Wenn du die vier Goldstücke säest, in wenigen Minuten nachher pflückst du zweitausend vom Bäumchen, und heute abend kommst du mit vollen Taschen heim. Willst du’s wagen?«

Immer noch zauderte Bengele. Er dachte an die gute Fee, an seinen alten Vater, an die Worte des Lispel-Heimchens; aber dann ging’s wie bei allen Kindern: ohne Verstand und ohne Herz schlug er sich die guten Gedanken aus dem Kopf und sagte:

»Abgemacht, wir gehen!«

Und sie gingen. – Einen halben Tag mußten sie wandern, bis sie endlich in eine Stadt namens Dummersheim kamen. Bengele sah auf allen Straßen nichts wie ausgehungerte Hunde, die gähnend weit die Schnauze aufrissen, geschorene Schafe, die vor Kälte zitterten, Hühner ohne Kamm, die um ein Weizenkorn bettelten, große Schmetterlinge, die nicht mehr fliegen konnten, weil sie ihre bunten Flügel gebrochen hatten, Pfauen ohne Rad, die sich in ihrer Häßlichkeit schämen mußten, Fasanen, die traurig einhertrippelten und klagten, daß sie keine Silber- und Goldfedern mehr hatten.

Mitten durch dieses arme Volk von Straßenbettlern fuhr bisweilen eine feine Droschke. Drinnen saß eine diebische Elster, oder eine verschlagene Katze, oder ein stolzer Wolf, oder andere Raubtiere.

»Wo ist nun das Wunderfeld?« fragte Bengele.

»Gleich sind wir dort!«

Sie gingen durch die ganze Stadt und kamen auf ein ödes Feld, das genau so aussah wie alle andern Felder.

»Jetzt sind wir da!« sagte der Fuchs zu Bengele; »mache dich nun daran, grabe mit deinen Händen ein Loch in den Boden und lege die Goldstücke hinein!«

Bengele tat so. Er machte das Loch, legte die vier Goldstücke zusammen hinein und deckte sie schön mit Erde zu.

»Geh nun an den Graben«, ordnete der Fuchs weiter an, »nimm eine Gießkanne und spritze den Boden!«

Bengele ging zum Graben; eine Gießkanne war aber nirgends zu finden. Er zog sich also einen seiner Rindenschuhe aus, füllte ihn mit Wasser und begoß den Ort, wo die Goldstücke waren. Dann fragte er:

»Muß ich sonst noch etwas machen?«

»Gar nichts mehr!« sprach der Fuchs. »Jetzt können wir gehen. In zwanzig Minuten kehrst du zurück und wirst sehen, wie das Bäumchen schon aus dem Boden gewachsen ist und voll Goldstücke hängt.«

Der arme Hampelmann war außer sich vor Glück und Freude. Tausendmal dankte er dem Fuchse und der Katze und versprach ihnen ein reiches Geschenk.

Die beiden Gauner aber meinten: »Nein, nein! Wir nehmen nichts an; im Gegenteil! wir sind glücklich, daß wir dir zeigen durften, wie du ohne Mühe reich werden kannst.«

Sie verabschiedeten sich von Bengele, wünschten ihm eine gute Ernte und gingen ihres Weges.

Ein Holzscheit, das sprechen, lachen und weinen kann

Erstes Stück.

Ein Holzscheit, das sprechen, lachen und weinen kann

Es war einmal …

»Ein König!« – meinen gleich die klugen kleinen Leser.

Aber diesmal, Kinder, habt ihr weit daneben geraten. – Es war einmal: ein Stück Holz, ja, ein ganz gewöhnliches Holzscheit! Draußen lag es im Wald mit vielen andern Stücken auf der Beige. Ein Fuhrmann kam, lud sie alle auf den Wagen und fuhr damit zur Stadt dem Schreiner-Toni vor das Haus. Das Holz ward gesägt und gespaltet; denn im kalten Winter sollte es im knisternden Ofen die Stube wärmen. – Ein Glück, daß Toni das eine Scheit bemerkte. Es war so hübsch gerade und hatte keinen Ast; drum stellte es der Schreiner in eine Ecke seiner Werkstatt und dachte: »Ein gutes, glattes Stück, ’s wär schade, es zu verbrennen.«

Toni verstand sein Handwerk und war überall bekannt. – Man nannte ihn freilich nur den Meister Pflaum; doch das kam davon, daß seine zierlich runde Nasenspitze so duftig blau erglänzte wie eine reife Pflaume, die unberührt am Baume hängt.

Eines Tages war Meister Pflaum daran, einen Tisch zu verfertigen. Eben sah er sich in der Werkstatt nach dem passenden Holze um, erblickte das Scheit in der Ecke, rieb sich freudig die Hände und murmelte zufrieden vor sich hin: »Das Stück da kommt mir wie gerufen, es gibt einen Tischfuß.« Gleich nahm er das scharfe Beil, um die Rinde abzuschlagen. Der erste Hieb fiel auf das Holz, da – »Oje, oje«, wimmerte erbärmlich ein zartes Stimmchen, »nicht so arg schlagen, nicht so arg!« –

Potz Blitz! was war das? – Kalte Angst kam über den guten Schreiner, die Haare standen ihm zu Berge, er hatte nicht mehr Zeit, die ausgestreckte Hand mit dem Beile sinken zu lassen, und so stand er unbeweglich da wie das Einfahrtszeichen an der Eisenbahn, wenn es dem daherbrausenden Zuge »Halt!« gebietet.

Nach einiger Zeit erholte sich Meister Pflaum von seinem Schrecken, und nun durchsuchte er ängstlich die ganze Werkstatt. – Es war niemand zu sehen. Er guckte unter die Hobelbank, – niemand! in den stets verschlossenen Schrank, – niemand! in den Korb mit den Hobelspänen und dem Sägmehl, – niemand! er machte die Türe auf und sah auf die Straße, – auch niemand! Nanu? …

Mit erzwungenem Lachen kratzte sich der Schreiner hinter den Ohren und sprach:

»Ganz klar! Ich hab’s. – Das Stimmchen war eine närrische Einbildung. Nur wieder mutig an die Arbeit!«

Fest nahm er das Beil in die Hand, kräftiger noch wie das erste Mal führte er den Hieb auf das Holz, tief drang die scharfe Schneide ein: »Au! Wie hat das wehgetan!« klagte laut das gleiche Stimmchen.

Jetzt ward Meister Pflaum wie versteinert: seine Augen traten weit hervor aus den Höhlen, sein Mund stand sperroffen, die Zunge hing ihm über die Unterlippe herab so tief wie den Wasserspeiern am Springbrunnen.

Nach einiger Zeit fand er die Sprache wieder; aber er zitterte immer noch entsetzlich und fragte stotternd:

»Wo mag denn nur dies Jammerstimmchen hergekommen sein? Das Holz da wird doch nicht weinen und klagen können wie ein kleines Kind! – Unmöglich! – Schau mir’s nur einer an: ist es nicht ein Scheit wie jedes andere? Hätte man es gesägt und gespaltet, so wäre es vielleicht längst zu Asche verbrannt. – Nanu!? – Oder … wirklich! es könnte sein? – Einer versteckt in dem Holze? – Na! Der hätte sich einen ungeschickten Platz gesucht! Wart, dir will ich’s bequemer machen; gleich helf‘ ich dir heraus.«

Sprach’s, packte das unschuldige Scheit mit beiden Händen und warf es erbarmungslos an die Wand der Werkstatt.

Nun stand er da ganz still; er horchte, er neigte seinen Kopf gegen das Holz hin und lauschte. Zwei – drei – fünf Minuten waren schon vergangen – alles blieb ruhig, nichts regte sich – gar nichts.

»’s ist doch zum Lachen … haha!« sprach jetzt der mutige Schreiner und fuhr sich durch die struppigen Haare. »Wie man dumm sein kann! – Versteht sich! Das Stimmchen hab‘ ich mir eingebildet. – Nein! Schon so viel Zeit verloren! Jetzt geht es in allem Ernst an die Arbeit!«

Und doch hatte er immer noch Angst. Zwar fing er an, ein lustig Liedlein vor sich hin zu singen; aber er tat es nur, um sich Mut zu machen.

Mit dem Beile getraute er sich nicht mehr an das verhexte Holz; ein bißchen besser wollte er es doch behandeln. So spannte er das Scheit auf die Hobelbank, holte von der Wand einen langen Hobel und ließ ihn über das rauhe Holz hin und her gleiten.

Auf einmal kichert’s und lacht’s in der Werkstatt:

»Hör auf! – Ich bin so kitzelig!« Da war’s mit Meister Pflaums Mute vorbei. Wie vom Blitz getroffen sank er nieder und war wie tot. – Als er wieder zu sich kam und die Augen aufmachte, merkte er, daß er auf dem Boden saß.

Wenn ihr ihn hättet sehen können! Starr glotzten die Augen aus dem verstörten Gesichte, und die runde Nasenspitze saß mitten darin wie eine schwarzglänzende Tollkirsche.

Der Richter von Dummersheim.

Neunzehntes Stück.

Der Richter von Dummersheim.

Bengele tat, wie der Fuchs angeordnet hatte. Er vertrieb sich die Zeit, bis das Bäumchen gewachsen war, in der Stadt. Die zwanzig Minuten wollten ihm gar nicht vorbeigehen. Sein Herz pochte laut: tick-tack, tick-tack, wie eine große Wanduhr; seine Gedanken alle drehten sich um das Gold.

»Wenn ich jetzt zweitausend Goldstücke finde! – oder fünftausend, vielleicht auch hunderttausend! – dann bin ich ein großer, reicher Herr – ich kaufe mir ein schönes Schloß – tausend Schaukelpferde zum Spielen – in meinem Keller halte ich mir die feinsten Weine – ich richte mir eine große Bibliothek ein; aber die Bücher müssen alle von Zucker sein oder von Torte, oder Schokolade, oder Schlagsahne.«

Endlich war die Zeit verstrichen. Bengele lief zurück zum Wunderfeld. Schon von weitem blieb er stehen, um sein Goldbäumchen zu erblicken; er sah nichts. – Er ging eine Strecke weiter und strengte die Augen an; es war noch nichts zu unterscheiden. Er trat ins Feld hinein, er stand vor dem Plätzchen, wo er das Gold gesät hatte; das Bäumchen war noch nicht gewachsen.

Der Hampelmann wurde sehr nachdenklich. Er neigte sich nieder und betrachtete lange Zeit die Erde, ob nicht endlich ein Blättchen hervorwachse.

Plötzlich hörte er über sich ein schallendes Gelächter. Bengele drehte sich um und sah auf einem Baume einen struppigen Papagei, der sich die paar Federn putzte, die er noch am Leibe hatte.

»Was lachst du da?« fragte ärgerlich der Goldsucher.

»Ich habe mich beim Kämmen eben ein bißchen unter den Flügeln gekitzelt und mußte lachen.«

Der Hampelmann sagte nichts darauf. Er ging an den Wassergraben, füllte seinen Schuh und begoß noch einmal die Erde über den vier Goldstücken.

Unverschämter wie das erste Mal erklang das Lachen des Papageis.

»Bitte, ungezogener Papagei, dürfte ich jetzt wissen, worüber du lachst?«

»Ich lache über die Dummen, die nicht alle werden, über jene Tölpel, die sich von jedem Gauner betrügen lassen.«

»Meinst du damit etwa mich?«

»Jawohl, armer Bengele! Du hattest so wenig Verstand, daß du glaubtest, man könne Goldstücke säen und ernten wie Erbsen und Bohnen. – Ich war auch einmal so einfältig, und jetzt muß ich es büßen. Zu spät habe ich es leider gelernt, daß man arbeiten muß mit Händen oder mit dem Kopfe, wenn man sich ein paar Pfennige ehrlich ersparen will.«

»Ich versteh‘ dein Geschwätze nicht«, sagte der Hampelmann; aber er hatte schon Angst für sein Geld bekommen.

»So paß mal auf; ich will dir alles erklären«, sprach der Papagei. »Die Sache ist höchst einfach: Als du in der Stadt warst, kamen der Fuchs und die Katze hierher, gruben dein Gold aus und liefen wie der Blitz davon.«

Bengele konnte nicht glauben, was der Papagei plauderte. Er scharrte mit den Händen die Erde wieder auf und suchte seine Goldstücke. So tief grub er das Loch, als er mit seinem Arme hineinreichen konnte. – Das Gold kam nicht mehr zum Vorschein.

Voll Zorn und Ärger lief der Hampelmann in die Stadt zurück und suchte den Staatsanwalt. Die zwei Strolche sollten es büßen, daß sie ihn so tückisch betrogen hatten.

Auf dem Marktplatze stand ein großes Gebäude; über dem Eingänge hing das Wappen von Dummersheim: ein schwerbeladener Esel, der von seinem Treiber geprügelt wird. Der Pförtner, ein schielender Fuchs, führte Bengele in ein großes Zimmer. Hier saß hinter einem grünbelegten Schreibtische der Herr Gorillius, ein alter Affe mit weißem Barte. Er hatte eine goldene Brille ohne Gläser weit vorn auf der Nase sitzen und sah dadurch sehr gelehrt und weise in die Welt. – Das war der Staatsanwalt von Dummersheim.

Bengele erzählte ihm, wie er vom Fuchse und von der Katze betrogen worden sei; er gab Vor- und Zunamen der Bösewichter an – ihr Geburtsdatum wußte er nicht – und verlangte Gerechtigkeit.

Der Staatsanwalt hörte ihn huldvoll an und nahm warmen Anteil an seinem Mißgeschick. – Als der Hampelmann nichts mehr zu sagen hatte, läutete Gorillius mit dem silbernen Glöcklein, das auf dem Tische stand.

Sofort erschienen zwei als Gendarmen gekleidete Bulldoggen.

Der Staatsanwalt deutete auf Bengele und sagte zu ihnen:

»Dem armen Kerlchen da haben sie vier Goldstücke geraubt; faßt ihn also und werft ihn sofort ins Gefängnis.«

Der Hampelmann war über dieses Urteil entrüstet. Er wollte sich dagegen verwahren, aber die beiden Gendarmen hatten keine Zeit zu verlieren, hielten ihm den Mund zu und führten ihn ab.

Vier lange Monate lag Bengele im Gefängnis; ein besonderes Ereignis brachte ihm endlich die Erlösung.

Der junge König Habicht XVII. von Dummersheim hatte einen glücklichen Krieg gegen das Land Hennanien geführt. Man feierte den Sieg mit großen Festlichkeiten: Straßenbeleuchtung, Feuerwerk, Pferderennen, Radfahrer-Wettrennen wurden veranstaltet. Alle Staatsgefangenen sollten die Freiheit erhalten.

»Wenn alles hinaus darf, dann will ich auch losgelassen werden«, sagte Bengele dem Gefangenwärter.

»Du bist nicht an der Reihe«, sagte dieser.

»Bitte sehr«, meinte Bengele, »bin ich denn ein Strolch gewesen?«

»Leute von deiner Sorte haben immer tausend Ausreden«, sagte der Wärter. – Schließlich aber machte er die Tür auf und ließ den Hampelmann laufen.

Die Riesenschlange

Zwanzigstes Stück.

Die Riesenschlange

Denkt euch Bengeles Freude, als er wieder frei war! Ohne sich umzusehen, ging er zur Stadt hinaus. Nach Hause trieb es ihn, fort von dem bösen Dummersheim. Er wollte seine gute Schwester Fee wieder sehen und seinen lieben Vater.

Es hatte viel geregnet. Der Weg war so durchweicht, daß das Hampelchen bis über die Knöchel in den Schlamm einsank. Was kümmerte sich Bengele darum! – Wenn der Weg zur Heimat führt, wird man nicht müde. – Das Holzmännlein sprang durch den Schmutz wie ein Windhund.

Noch einmal mußte er an all das denken, was er erlebt hatte, und sprach für sich selbst:

»Es ist mir viel Unglück passiert; aber verdient habe ich es auch. – Ich bin so ein eigensinniger, dickköpfiger Hampelmann; alles soll immer nur nach meiner Schnur gehen; nie höre ich auf die Leute, die es gut mit mir meinen, und wenn sie auch tausendmal klüger sind wie ich. – Aber jetzt wird es anders! Ich will mich bessern und ein artiger, folgsamer Knabe werden. Am eigenen Leibe habe ich es bitter genug erfahren müssen, daß die ungezogenen Kinder ins Unglück kommen und nie etwas Gutes erreichen.

Ob wohl mein Vater noch auf mich wartet? Wie wird es ihm ergangen sein? – Wahrscheinlich werde ich ihn bei der Fee wiederfinden. Ach wie lange habe ich den Armen nicht mehr gesehen! – Von jetzt an will ich gut gegen ihn sein und ihn von Herzen lieben.

Wird mir die Fee meine Unart verzeihen? – Wie aufmerksam war sie gegen mich und mit welcher Liebe hat sie mich gepflegt! Ja, ihre Sorge hat mir das Leben gerettet! – Und ich! ich bin der undankbarste Hampelmann auf der Welt und habe kein Herz gehabt.« –

Erschrocken macht Bengele plötzlich Halt und weicht unwillkürlich drei Schritte zurück. Was ist geschehen? – Eine Riesenschlange lag quer über die Straße. Grün glänzte ihre schuppige Haut; die Augen sprühten Feuer; der Schwanz endete in einer Spitze, die wie ein Fabrikschlot rauchte.

Wundert ihr euch, daß der Hampelmann Angst bekam? – Hundert Schritte ging er zurück und setzte sich auf einen Steinhaufen. Von dort hielt er Ausschau und wartete, ob die Schlange nicht weiter krieche und die Straße freigebe.

Nach drei Stunden lag das Untier immer noch an dem gleichen Flecke. Auch von weitem konnte Bengele die glühenden Augen sehen und die Rauchwolke, die aus dem Schwanze aufstieg.

Der Hampelmann wurde des Wartens überdrüssig. – Mutig näherte er sich bis auf wenige Schritte dem schrecklichen Wurme und redete ihn mit süßer, freundlicher Stimme an:

»Bitte schön, geehrte Frau Riesenschlange, wolltest du dich nicht auf der einen Seite ein bißchen zusammenziehen, daß ich vorbeigehen kann!«

Er hätte ebensogut an eine Wand hin reden können. Das Tier rührte sich nicht von der Stelle.

Ein zweites Mal versuchte es Bengele und bat noch inständiger:

»Höre doch nur, beste Frau Schlange, ich will nach Hause gehen; mein Vater wartet auf mich, und ich habe ihn schon so lange nicht mehr gesehen. – Bitte, bitte, sei doch gut und laß mich weiter gehen!«

Kein Erfolg! Ja die Schlange, die bisher lustig und voll Leben schien, ward mit einem Male ganz unbeweglich und starr. Sie schloß die Feueraugen, und der Schwanz rauchte nicht mehr.

»Die ist jetzt richtig tot«, sagte Bengele und rieb sich vergnügt die Hände. – Ohne lange zu warten, machte er sich daran, über sie hinwegzuspringen. Aber kaum hatte er sich gerührt, so schnellte die Schlange auf wie ein Hupfteufel. Zum Tod erschrocken, machte das Hampelchen einen Sprung rückwärts, stolperte aber und schlug einen solchen Purzelbaum, daß er mit dem Kopfe in dem aufgeweichten Boden stecken blieb und die Beine in die Luft streckte. Er wollte sich aus seiner hilflosen Lage befreien, und wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt, fing er rasend an zu zappeln und zu strampeln. So etwas Lustiges hatte die Schlange noch nie gesehen. Sie fing an laut zu lachen, schüttelte sich und konnte nicht mehr aufhören. – Es war des Guten zu viel. Von dem übermäßigen Lachen platzte ihr eine Ader im Leibe, und diesmal sank sie wirklich tot auf den Weg.

Die Marderfalle – Bengele wird Hofhund

Einundzwanzigstes Stück.

Die Marderfalle – Bengele wird Hofhund

Der Hampelmann wollte noch vor Nacht zu Hause sein. Er sprang über die tote Riesenschlange weg und ging seines Weges weiter.

Nach einiger Zeit befiel ihn der Hunger so entsetzlich, daß er zu sterben glaubte. Mühsam schleppte er sich noch in einen Weinberg neben der Straße, um ein paar Traubenbeerchen zu pflücken.

Hätte er es doch nicht getan!

Das unglückliche Hampelchen war noch keine fünf Schritte von der Straße weg, da machte es: krack! – und seine Füße waren zwischen zwei Eisen eingeklemmt. Diese schlugen so fest zusammen, daß der Arme ohnmächtig niedersank.

Seit einiger Zeit trieben in dieser Gegend ein paar freche Marder ihr Unwesen. Sie drangen in die Hühnerställe ein, stahlen die Eier und mordeten das Federvieh. Darum legten die Bauern allenthalben Marderfallen. Unser Unglücksbengele war just in eine solche hineingetreten und konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren.

Als er wieder zu sich kam, weinte er laut und rief um Hilfe.

Es war alles vergeblich; in der Nähe wohnte niemand und kein Mensch ging den einsamen Feldweg.

Unterdessen wurde es Nacht.

Die Eisen preßten Bengele die Beine zusammen, und er litt große Schmerzen. Überdies bekam er Angst, als er so ganz allein in der Nacht auf dem Felde war. – Da flog ein Leuchtkäferchen über seinen Kopf; er rief ihm und sagte:

»Leuchtkäferchen, tu mir doch den Gefallen und befreie mich aus dieser Qual!«

»Armes Kerlchen!« sagte dieses und schaute sich den Hampelmann mitleidig an; »wie bist du nur mit den Beinen zwischen diese beiden Eisen geraten?«

»Ich bin von der Straße gegangen, weil ich mir zwei Traubenbeerchen abzupfen wollte und …«

»Ist das dein Weinberg?«

»Nein!«

»Wer hat dir denn gesagt, daß man den andern ihre Sachen nehmen darf?«

»Ich hatte doch so sehr Hunger!«

»Die bösen Kinder finden immer einen Grund, den andern Leuten ihre Sachen wegzunehmen!«

»Du hast recht«, seufzte Bengele; »aber ich werde es auch nie mehr tun.«

Das Zwiegespräch ward jäh abgebrochen; denn von der Straße hörte man Schritte, und das Leuchtkäferchen flog davon. – Auf den Zehenspitzen kam der Bauer angeschlichen, um nachzusehen, ob ein Marder in die Falle gegangen sei.

Sein Erstaunen war unbeschreiblich, als er die Laterne unter seinem Mantel hervorzog und statt eines Marders einen Hampelmann in der Falle fand.

»So, du Tropf«, sagte der Bauer wütend, »du stiehlst mir meine Hühner!?«

»Aber nein, ich nicht!« schluchzte Bengele, »ich bin hierher gekommen, weil ich mir ein paar Traubenbeerchen abzupfen wollte.«

»Wer Trauben stiehlt, kann auch Hühner stehlen. Du wirst schon sehen, was ich jetzt mit dir anfange! – Den Denkzettel vergissest du so schnell nicht wieder!«

Der Bauer machte die Falle auf, faßte den Hampelmann am Genick, wie man eine Katze packt, und trug ihn nach Hause.

Vor dem Hoftore warf er den Gefangenen auf den Boden, stand mit einem Fuße auf seinen Hals und sagte:

»Heute ist es mir zu spät; ich will jetzt zu Bett gehen. – Morgen werden wir abrechnen. Einstweilen machst du mir den Hofhund! Ich habe heute früh meinen treuen Phylax tot in seiner Hütte gefunden. Von jetzt an übernimmst du sein Wächteramt.«

Der Bauer hob das Hundeband auf und legte es Bengele so eng um den Hals, daß er es nicht über den Kopf streifen konnte. Der Lederriemen hing an einer langen Kette, und diese war mit dem andern Ende in die Mauer geschmiedet.

»Wenn es regnet, kannst du in die Hundehütte kriechen. Phylax hat das auch so gemacht. Stroh liegt genug drinnen. Wenn Diebe kommen, so mußt du die Ohren spitzen und laut bellen! – Verstanden?«

Mit diesen Worten ging der Bauer in sein Haus.

Bengele verging fast vor Kälte; es quälten ihn Hunger und Angst. Er wollte das Halsband abstreifen; aber es saß fest und schnürte ihm die Kehle zusammen.

Der Hampelmann ergab sich in sein Schicksal. Er setzte sich auf einen Stein vor der Hundehütte und schaute in die stille Nacht hinein. Hell glänzte der Mond, freundlich blinkten die Sternlein vom Himmel hernieder. Bengele wurde traurig. Er dachte wieder über sein Leben nach und sagte:

»Es geschieht mir recht, ganz recht! Ich war eigensinnig und bin von zu Hause weggelaufen. Ich habe auf schlechte Kameraden gehört, und darum kommt all das Unglück über mich. Wäre ich ein ordentlicher Knabe gewesen, hätte ich gelernt und gearbeitet, wäre ich beim Vater daheim geblieben, dann müßte ich jetzt nicht einem Bauern den Hofhund machen. Wenn ich nur noch einmal auf die Welt kommen könnte! – Aber jetzt ist mit dem besten Willen nichts mehr zu ändern!«

Weinend stillte Bengele seinen quälenden Hunger mit der kalten Hundesuppe, die Phylax übriggelassen hatte. Dann kroch er müde in die Hütte und schlief ein.

Belohnte Treue

Zweiundzwanzigstes Stück.

Belohnte Treue

Gegen Mitternacht wurde Bengele aus dem Schlafe geweckt. Er hörte ein Gezischel in der Nähe seiner Hundehütte und streckte vorsichtig die Nase hinaus. Da standen vier Tiere beisammen und schwatzten miteinander. Sie sahen aus wie schwarze Katzen; aber es waren die Marder. – Die blutgierigen Räuber hatten es wieder auf frische Eier und junge Hühner abgesehen und besprachen eben ihren Kriegsplan.

Da kam einer von ihnen zur Hundehütte geschlichen und lispelte:

»Phylax! – Phylax, guten Abend!«

»Ich heiße nicht Phylax«, sagte Bengele.

»Ja, wer bist du denn?«

»Ich bin Bengele!«

»Was machst du da?«

»Den Hofhund!«

»Und Phylax? Wo ist der gute Alte hingekommen?«

»Er ist heute früh gestorben!«

»Gestorben! – Armer Kerl. Er war so treu und gut! – Doch dir seh‘ ich es schon am Gesicht an; auch du bist ein anständiger Hund!«

»Bedaure sehr, ich bin kein Hund.«

»Was dann?«

»Ein Hampelmann.«

»Und machst den Hofhund?«

»Allerdings, zur Strafe!«

»Gut! – Ich mache dir das gleiche Anerbieten wie dem verstorbenen Phylax und denke, daß du einverstanden bist!« –

»Das wäre?«

»Wir kommen jede Woche einmal wie bisher und untersuchen diesen Hühnerstall. Acht Hühner nehmen wir jeweils mit. Sieben davon gehören uns, eines schenken wir dir unter der Bedingung, daß du dir nie einfallen läßt zu bellen und den Bauern zu wecken.«

»Das hat Phylax wirklich so gemacht?«

»Jawohl, und wir sind dabei stets gut miteinander ausgekommen. – Schlafe also ruhig. Bevor wir gehen, lassen wir dir vor der Hütte ein Huhn liegen, fein gerupft zum Frühstück für morgen. – Einverstanden, nicht wahr!« –

»Und wie!«… sagte Bengele. Aber er wackelte mit dem Kopfe in drohender Art und sagte für sich selbst: »Wir werden gleich deutlicher miteinander reden.«

Die vier Marder waren ihrer Sache sicher und gingen sofort zum Hühnerstall. Dieser lag ganz nahe bei der Hundehütte. Die Diebe öffneten die Türe mit ihren scharfen Zähnen und huschten einer nach dem andern hinein. – Kaum waren sie drinnen, so ward die Türe mit Wucht zugeschlagen.

Bengele hatte die Marder in den Hühnerstall gesperrt, und damit sie ja nicht auskamen, wälzte er vor das Holztürchen einen großen Stein.

Jetzt ging’s ans Bellen; er konnte es wahrhaftig wie ein Hofhund; laut dröhnte sein zorniges: bu, bu, bu – wau, wau, wau!

Gleich sprang der Bauer aus dem Bette, nahm sein Gewehr und guckte zum Fenster hinaus:

»Was ist los?«

»Diebe, Diebe!«

»Wo?«

»Im Hühnerstall.«

»Ich komme gleich hinunter.«

Schon war der Bauer da, ging in den Hühnerstall, packte alle vier Marder und steckte sie in einen Sack. Dann hielt er ihnen folgende Rede:

»So, hab‘ ich euch endlich erwischt! – Ich könnte nun kurzen Prozeß machen; aber ich will euch nicht gar zu grob behandeln. Morgen früh trage ich euch hinüber ins Wirtshaus. Der Wirt zieht euch dann das Fell ab und kocht euch, als Hasenpfeffer. Diese Ehre ist schier zu groß für Hühnerdiebe; aber seine Leute wie ich gönnen auch den Strolchen noch ein bißchen gute Behandlung.«

Darauf ging der Bauer hin zu Bengele, lobte ihn über alle Maßen, streichelte ihn und sprach:

»Aber sage mir nur, wie bist du der Diebesbande auf die Spur gekommen? – Mein armer Phylax hat sie nie erwischt und nie etwas gemerkt.«

Bengele hätte alles erzählen können; er hätte dem Bauern sagen können, wie niederträchtig Phylax unter einer Decke mit den Mardern steckte. Aber er dachte: Der Hund ist tot, und den Toten soll man nie Übles nachreden; es ist am besten, man läßt sie im Frieden ruhen. – Der Bauer drang weiter in Bengele ein: »Hast du gewacht oder geschlafen, als die Marder kamen?« »Geschlafen«, erwiderte Bengele; »aber die Marder haben mich mit ihrem Geschwätze geweckt. Einer kam auch zu mir an die Hütte und sagte: ›Wenn du nicht bellst und den Hausherrn nicht weckst, schenken wir dir ein feingerupftes Huhn‹ – So eine Frechheit! Mir ein solches Anerbieten machen! – Ich bin freilich ein Hampelmann und habe alle möglichen Untugenden; aber das tue ich nie, daß ich den Lumpen den Helfershelfer und dem Stehler den Hehler mache.«

»So ist’s recht!« sagte der Bauer und klopfte ihm auf die Schultern, »alle Achtung vor dir! Weil du ein so guter Hampelmann bist, so laß ich dich jetzt laufen, daß du nach Hause kannst.«

Er nahm ihm das Halsband ab. – Bengele war wieder frei.