651. Die Tanzwütigen zu Reichenbach

651. Die Tanzwütigen zu Reichenbach

Die Volkskrankheit der Tanz- und Springewut, die man im Mittelalter St. Veits- und St. Johannistanz nannte, und die sich oft in entsetzlicher Weise zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gegenden offenbarte: die Tänzer zu Kolbeck (Kolbig) im Jahre 1021, der Erfurter Kindertanz nach Arnstadt 1237, Tänzer zu Utrecht 1278, die auf einer Brücke tanzten, welche brach, so daß sie alle ertranken; die Aachener Tanzfahrt 1374, die sich im ganzen Niederland verbreitete, die gleichzeitig Tanzwütenden zu Köln und zu Metz, wo Sinnenwut und Sinnenglut vereint schamlos walteten; die Tanzplage zu Straßburg 1418 und an andern Orten, die Adamstänzer in Böhmen usw. – Diese Volkskrankheit kam noch im sechzehnten Jahrhunderte zur Erscheinung, und zwar zu Reichenbach, zwei Meilen von Schweidnitz. Dort war ein Mann des Namens Vierscherig, der hatte fünf Kinder, davon die ältesten, ein Mägdlein, Barbara mit Namen, dreizehn Jahre alt, ein Knäblein neun und wieder ein Mägdlein sieben Jahre alt waren. Die wurden am Palmsonntag 1551 allzumal von der Tanzwut erfaßt, begannen wunderlich und seltsam zu tanzen und zu springen, wie noch niemand erhört und ersehen und in unbegreiflicher Weise, und tanzten Tag und Tag sieben bis acht Stunden in die Quere und in die Länge hin und her, in alle Winkel, aus der Stube in das Haus und aus dem Haus in die Stube immer springend und drehend, daß sie grausam müde wurden, schnaubten und keuchten, so daß es niemand verwundert hätte, wenn sie auf der Stelle tot niedergefallen wären. Und wenn sie vor Ermattung nicht mehr stehen konnten, drehten und wirrten sie mit den Köpfen an der Erde, als wenn sie auf denselben tanzen wollten; endlich haben sie dann eine Zeitlang geschlafen und gelegen wie für tot. Wenn sie wieder erwachten, heischten sie bisweilen etwas zu essen, dann begannen sie wieder zu hüpfen und zu springen und zu tanzen, Tag und Nacht, wie es sie ankam, redeten wenig und lachten unterweilen alle zugleich. Ein Pfarrer wollte ihnen von der Sucht helfen mit geistlichem Zuspruch und nahm sie neun Tage zu sich in das Haus, es war aber ganz vergebens.

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652. Teufelsgraben

652. Teufelsgraben

Nahe Rappersdorf zwischen Strehlen und Wansen in Schlesien ist ein tiefer Graben, der sich nach dem Krühnwasser zieht, das dort in die Ohlau fällt; dieser wird der Teufelsgraben genannt. Ein Bauer, dessen Felder allzu oft von Wasserüberschwemmung litten, welches Wasser auf den Feldern allzu lange stehen blieb, stand eines Abends ratlos und verzweifelnd an seiner Gemarkung und wußte seines Leides keinen Rat. Da trat im Dämmerlicht ein dunkler Fremder zu ihm und sprach: Was seufzest du? Du seufzest über das allzu viele Wasser! Andere wären froh, hätten sie deinen Überfluß. Überlasse mir sieben deiner Knechte, so will ich mit ihrer Hülfe dir das Wasser ableiten, ehe der Tag graut. – Das war der Bauer wohl zufrieden, er gebot alsbald sieben Knechten, auf zu sein und dem Fremden dienstbar, und der wählte sich sieben aus, die ihm nicht unbekannt waren, die ärgsten Flucher, die schlimmsten Spieler, die größten Schlemmer. Sie aber murrten und wollten, weil es Nacht, nicht arbeiten; da sagte der Bauer: Wollt ihr nicht gehorchen, so geht zum Teufel! – da gingen sie. Am andern Morgen war der Graben fertig, groß und breit und lang, und die Felder waren wasserfrei. Aber die Arbeiter kehrten nicht wieder heim. Bis Köchendorf und Bankau fand man auf den Feldern ihre zerstückten Glieder. Sie waren zum Teufel gegangen.

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653. Der Glockenguß zu Breslau

653. Der Glockenguß zu Breslau

Zu Breslau, dem einen Auge Schlesiens, wie die Stadt vor alters genannt ward – das zweite ist Liegnitz –, wurde für den Turm der Kirche Sankt Magdalena eine Glocke gegossen. Alles war zum Guß bereit, als der Meister sich für kurze Zeit erst noch einmal entfernte und dem Lehrjungen streng verbot, etwas anzurühren und beileibe nicht das Metall in die Form auslaufen zu lassen. Aber die schlimme Neugier trieb den Jungen an, am Zapfen zu atzeln, und unversehens strömte das geschmolzene Metall heraus und in die Form hinein und füllte sie ganz aus. Zum Tod erschrocken und zitternd kam der Junge zum Meister und bekannte es, und den Meister ergriff der Zorn allzusehr, so daß er sein Schwert zog und den Jungen niederstach, wie der Glockengießer zu Attendorn seinen Gesellen. Dann eilte er hin in das Gießhaus und sah nach und glaubte den ganzen Guß mißlungen; aber siehe, er war herrlich wohlgeraten. Da reute ihn die übereilte Zornestat, die sich nicht verhehlen ließ; bald darauf saß er im Kerker und empfing sein Urteil, das lautete: Tod durch das Henkerschwert. Inzwischen seiner Haft zog man die Glocke auf, und als es nun dahin gedieh, den armen Sünder zur Richtstatt zu führen, da bat er flehentlich, man möchte ihm noch die Gunst erzeigen und seiner Glocke Ton ihm zum letzten hören lassen. Dies geschah, und da mag wohl die Glocke einen Ton gegeben haben wie die Krempner: Schad um den Jungen! Schad um den Jungen! Hernach ist die Glocke stets geläutet worden, wenn ein armer Sünder vom Rathaus fort und zum Hochgericht geführt wurde. Es ist eine große schwere Glocke, die funfzig Schläge von selbst schwingt, wenn sie auf funfzig Schläge gezogen worden.

Im Dom zu Breslau hat immer eine Glocke von selbst geläutet, wann ein Kanonikus sterben sollte, auch fand man im Chorgestühle auf eines solchen Platz stets eine weiße Rose.

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654. Habedank.

654. Habedank.

Als Kaiser Heinrich V. mit dem Polenkönig Boleslaus Krieg führte und Polen gern seinem Szepter unterwürfig machen wollte, schickte letzterer eine Gesandtschaft stattlicher Männer an den Kaiser um Friedenswerbung. Der Kaiser empfing diese Abgesandten gut und zeigte ihnen unter andern auch seinen Schatz, ließ aber dabei doch einigen Stolz blicken und sagte: Hier ist Vorrat, Polen zu zähmen! Dieses Prahlen verdroß die stolzen Sarmaten und war ihnen unerträglich, daher zog der Erste unter ihnen, Graf Skarbik, einen kostbaren Ring vom Finger und warf ihn in des Kaisers Schatzkasten, indem er sagte: Aurum adjiciatur auro! Gold zu Golde – und deutete damit an, daß auch Polen und sein König des Goldes genug habe, um Krieg zu führen, und daß sie sich nicht auf Gold, sondern auf ihre Schwerter verließen. Der Kaiser verstand auch gar wohl den Sinn der Rede, antwortete aber sehr ruhig: Habe Dank! Habe Dank! – und warf den Deckel seines Schatzkastens ins Schloß. Davon hat hernach der Pole samt seinen Nachkommen den Beinamen Habedank erhalten.

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655. Sagans Name

655. Sagans Name

An der äußersten Westgrenze Schlesiens, am Bober, wohnte ein Mann, der beherrschte die Gegend und bewachte den Übergang über den Bober und nahm Zoll von den Reisenden, fast so schlimm wie jener Riese an der Scheide. Wenn nun einer kam, so rief er jedesmal: Sag an, woher? Sag an, wohin? Sag an, was führst du? – und nannten ihn die Leute rings im Gau den Herrn Sag an. Da nun die Stätte schön und fruchtbar gelegen war, so bauten sich andere auch an und wurden Herrn Sagans gute Nachbarn und desgleichen, und ward allmählich ein Ort, und aus dem Ort ward eine Stadt, die denselben Namen behielt bis auf diesen Tag. Als Sagan eigne Herzoge gewonnen hatte, taten einst einen derselben die Domherren zu Glogau in den Bann, weil sie ihm nicht gehorsam sein wollten. Da bot er ihnen friedlichen Vergleich, und da sie zu ihm in sein Schloß, als zu einem Gebannten, nicht kommen durften und würden, lud er sie zum Zwiegespräch und zur Unterhandlung auf die Boberbrücke. Kaum waren die Domherren auf der Brücke, so fielen hinter ihnen die Dielen in das Wasser, denn es waren unter der Brücke auf des Herzogs Geheiß Fischer versteckt, welche schon alles so vorgerichtet hatten. Darauf redete der Herzog die Canonici sehr ernst an und fragte: Jetzt, ihr Herren, saget kurz und rund, wollt ihr euch fügen oder nicht? Wollt ihr singen oder wollt ihr springen? – Singen, Herr, singen! antworteten die bestürzten Chorherren und fügten sich gütlichem Vergleiche und lösten den Herzog vom Banne, um sich selbst zu lösen, und sangen wieder im Chor Horas und Vigilien, Vespern und Metten.

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656. Die heidnische Jungfrau zu Glatz

656. Die heidnische Jungfrau zu Glatz

Zu Glatz saß als Herrin der Herrschaft und des Gaues in den Heidenzeiten eine Jungfrau, die führte ein üppiges Leben und ist eine Zauberin gewesen, auch also kräftig, daß sie zum öftern zur Kurzweil ein starkes Hufeisen mit den Händen zerriß. Sie war auch eine so geübte Schützin, daß sie mit einem Pfeil aus ihrem Ranzenbogen vom Schlosse zu Glatz bis zur großen Linde bei Eisersdorf an der Grenze schoß. Einstmals wettete sie mit ihrem Bruder um etwas Hohes, wer am weitesten schießen könne; da schoß der Bruder kaum den halben Weg; darauf wurden an dem Ort, dahin die Jungfrau getroffen, zwei hohe spitze Steine zum Denkzeichen aufgerichtet, die lange gestanden haben. Da aber das Leben der Jungfrau ein verrufenes war, so wurde ihr nach dem Leben getrachtet, sie entging aber mittels ihrer Zauberkunst den Nachstellungen lange Zeit. Endlich wurde sie gefangen und in einen großen Saal beim Tor, wo man vom Niederschloß ins Oberschloß geht, eingemauert, alldort wurde ihr Bildnis, in einen Stein ausgehauen, der Mauer einverleibt, das noch gezeigt wird. Auch im grünen Saal des Schlosses war der Jungfrau Bild fein gemalt zu sehen, und in einem alten Kapellchen aus der Heidenzeit ward ihr Haar gezeigt, das war schön und gelb und hing an einem Nagel so hoch, daß nur ein großer Mann, auf dem Boden stehend, es erreichen konnte. Oft noch ward diese heidnische Jungfrau im Schlosse erblickt als ein umgehendes Gespenst, doch unschädlich denen, die es nicht verhöhnten oder beleidigten oder Verlangen trugen, das Haar hinwegzunehmen. Ein Soldat, der solches tat, empfing von ihrer kalten Hand einen Backenstreich, daß ihm die Wange blitzblau blieb all sein Lebetage. Ein anderer, der wirklich das Haar hinweggenommen, wurde vom Gespenst der Jungfrau gekratzt, gekrempelt und gar übel zugerichtet, bis es sein Rottgesell auf sein Flehen wieder an Ort und Stelle trug und hing. Die Forscher haben sich sehr zersonnen, wer die Jungfrau eigentlich gewesen und wie sie geheißen, und haben glücklich herausgebracht, daß sie die Böhmenkönigin Libussa nicht gewesen, deren Schwester Kascha oder Tetka aber auch nicht. Wanda, die Polenregentin, die im Jahre Christi 728 usw. herrschte, soll es auch nicht gewesen sein; daß es aber die zauberische Wlaska, die den böhmischen Mägdekrieg angezettelt, war – steht sehr in Zweifel. In Summa ist so viel ganz gewiß, daß man, wer jene Jungfrau gewesen, so recht eigentlich nicht wissen kann, wie mit der Höhe des Berges Sinai und vielen andern Dingen der gleiche Fall.

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657. Die Linde der Sibylle

657. Die Linde der Sibylle

Eisersdorf, dahin die Heidenjungfrau auf dem Schlosse zu Glatz mit ihrem Bogen schoß, liegt von Glatz eine gute böhmische Meile am Flüßchen Viele. Dort stand eine große uralte Linde, die war weit und breit berühmt; sie sollte so alt sein als der Heidenturm auf dem Schlosse zu Glatz. Wenn sie auch wegen hohen Alters von Zeit zu Zeit einmal verdorrete, so grünte sie doch immer wieder von neuem aus. Auf dieser Linde saß die Sibylle und weissagte viel von künftigen Dingen der Stadt Glatz. Der Türke werde gen Glatz kommen, und wenn er durch die steinerne Brücke hinein auf dem Rink seinen Einzug halten werde, so würde er eine große Niederlage erleiden, weil ihm die Christen aus dem Schlosse herab entgegenziehen und auf dem Markt ihn erlegen würden. Bevor aber solches geschehe, werde zuvor ein ganzer Haufe Kraniche durch die Brotbänke fliegen. – Daß die heidnische Jungfrau zu Glatz diese Sibylle selbst war, scheint denen nicht beigefallen zu sein, die nach ihrem Ursprung und Namen forschten; es ist aber etwas Wundersames um den Zusammenhang des Redens und Sagens von einer Sibylle und deren Weissagung vom Türken im deutschen Volke, denn es gibt der Orte mehrere, von denen gerade die Sibylle geweissagt haben soll, auf ihnen werde der letzte Türke erschlagen werden, unter andern zu Eiba bei Saalfeld in Thüringen, da soll der letzte Türke in einem Backofen verbrannt werden, wie im Werratale, wo auf der Borchfelder Brücke der letzte Sultan enden soll. Auch im Vogtland, am Rhein und anderorts ist diese Sage lebendig. Zu Bamberg geht die Weissagung, die Türken würden ihre Pferde noch aus dem Rhein saufen lassen, wo Gott vor sei! Auch in Schwaben ist eine Sibyllenhöhle.

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64. Die heiligen Kreuze zu Mainz

64. Die heiligen Kreuze zu Mainz

Zu Mainz hat eine schöne Kirche in der frühern Zeit den Namen Zu Unsrer Lieben Frauen im Felde geführt, das Volk aber nennt sie Heiligkreuz. Ein Schiff kam gefahren mit Männern und Frauen, die sahen in der Luft ein schimmerndes Kreuz schweben, das ihrem Schiffe nachzog und an seinen Mast sich heftete. Nahe der alten Schiffbrücke beim Holztor legte das Schiff an, und siehe, da war das schimmernde Kreuz kein Luftgebilde, sondern ein ehernes kunstvolles Kruzifix von wundersamer Meisterarbeit. Um nun dessen Bestimmung zu erkunden, wurde es zwei ungejochten und ungeschirrten Ochsen auf den Rücken gelegt, und diese ließ man ohne Leitung und Führung gehen, und da trugen sie das Kreuz auf den Hechtsheimer Berg, dort ward eine Kirche erbaut und das Wundergebilde darinnen zur Verehrung aufgestellt. Viele Kranke sind genesen, die vor dem Kreuze in Andacht knieten, bis die Kirche mit mehreren anderen in Flammen aufging, als Markgraf Albrecht von Brandenburg 1552 die Stadt Mainz einnahm. Zwischen dem Holz- und Bockstor aber ward noch lange Zeit ein Gemälde gesehen, davon noch heute Spuren zu entdecken sind, darstellend ein Kreuz, hangend an den Segeln eines stromaufwärts fahrenden Schiffes.

Zwischen der Kirche zum Heiligen Kreuz und St. Alban stand vorzeiten eine offene Kapelle, darinnen war ein hölzern Kruzifix, darunter Maria und Johannes, zur Verehrung der Gläubigen aufgestellt. Nun lebte zu Mainz ein Bürger, des Name war Schelkropf, ein Spieler und Trunkenbold, der wenig aus dem Wirtshaus zur Blume kam, das in der ehemaligen Vorstadt Vilzbach stand. Eines Tages hatte er alles, was er besaß, verspielt und vertrunken und verwünschte in seinem wilden Rausche sich, Gott und alle Heiligen und schwur, mit seinem Schwerte das erste beste heilige Bild, auf das er stoße, mitten voneinander zu hauen. So taumelte er durchs Feld, und kam an die offene Kapelle, und rannte auf die hölzernen Bilder an, und stach und hieb. Und siehe, da sprangen ihm aus den leblosen Bildern, zumal aus dem Kruzifix, Ströme Blutes entgegen. Entsetzt stand er und sinnverwirrt, das Schwert entfiel seiner Hand, und so ward er gefunden und gefangen. Fromme Hände fingen in Schalen das rinnende Blut auf. Schelkropf wurde für seinen unerhörten Frevel lebendig verbrannt, das wundertätige Christusbild aber und das heilige Blut brachte man in die nahe Kirche. Als diese in Flammen aufging, blieb dieses heilige Kreuzbild verschont und ward gerettet, und noch heute wird es den Gläubigen in der St. Christophskirche zu Mainz gezeigt.

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639. Die Rüttelweiber

639. Die Rüttelweiber

In der Gegend des Kynast und nach dem nahen Riesengebirge zieht der wilde Jäger mit all seinem Gefolge und Getose und wird von den Bewohnern nur schlechthin der Nachtjäger genannt. Auch dort glauben die Leute, daß er, wie im Vogtlande, die Moosleute und Waldwichtel jagt und plagt, und nennen die kleinen Moosweibchen Rüttelweiber. Für diese gibt es nur eine Rettung vor des Nachtjägers Gewalt und schnellem Griff, wenn sie nämlich an einen abgehauenen Baumstamm kommen, zu dem beim Fällen der Holzmann gesprochen: Gott walt’s! – da finden sie alldort Asyl und Ruhe. Hat jener aber gesprochen: Walt’s Gott! – so schirmt ein solcher Stamm die Weibchen nicht, und sie müssen weiter und weiter vor dem Nachtjäger fliehen. Wenn die kleinen Kinder dortherum unartig sind und schreien, so schweiget man sie mit den Worten: Sei still! Hörst du den Nachtjäger? Jetzt kommt er! Jetzt holt er das Kind, wenn es nicht stille ist.

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640. Berggeist Rübezahl

640. Berggeist Rübezahl

Vom Kynast hat einer nicht weit auf das Gebirge zu wandern, darin des weit und breit genannten Berggeistes Rübezahl Reich ist. Von keinem Gespenst gehen so viele teils alte echte, teils neuersonnene Volkssagen. Zahlreich sind die Örtlichkeiten im Gebirge, an denen sein Name haftet; es steige einer nur vom Dorfe und Vitriolwerk Schreiberhau hinauf zum Elbfall, zu den Zackel- und Kochelfällen und zum großen Rad wie zur Koppe, da findet er unterwegs Rübezahls Festung, seinen Ball, seine Treppe, seine Steinkanzel, seinen Keller, Garten, Teich, Thron und dergleichen häusliche Niederlassungen mehr. Rübezahl ist ein Proteus der deutsch-slawischen Mythe, allbekannt und doch noch nicht genau erkannt; eine Koboldnatur, gut und schlimm, mehr neckisch als tückisch, aber leicht reizbar und oft grausam in seiner Neckerei. Er erscheint in allen Gestalten der Waldleute, als Bergmann, Jäger, Holzhauer, Köhler, Reffträger, Führer, Bote, nicht minder als Mönch, als Moosmann, in Tiergestalt, er gebietet den Elementen wie allen Schätzen der Tiefe, deren Oberhüter er ist. Es ist eine bekannte Rede, daß dieser Geist den Namen Rübezahl nicht leiden könne und sich an denen empfindlich räche, die ihn damit rufen und höhnen, was ihm auch nicht zu verdenken ist, denn kein Gescheiter wird dulden, daß ihm der erste beste Laffe den ehrlichen Namen verhunze und verschände. Nun weiß aber kein Mensch den wahren Namen dieses Waldschrats, und so nannte man ihn den Herrn des Gebirges, den Herrn vom Berge, und die Kräutersammler nannten ihn Domine Johannes und verehrten ihn, da er den Kräutlern gar gute Wurzeln und Kräuter anzeigte, sie auch schöne Steine finden ließ, wenn er sie selbst gut und seiner Gaben wert befand. Da der Gebirgsgeist den ihm aufgehängten Namen so wenig leiden und ertragen kann – wie der Pilatussee in der Schweiz oder der bayerische See auf der Gebirgsgrenze zwischen Böhmen und Bayern, wo man es in jener Welt nennt, die in sie geworfenen Steine, und diese mit Toben und Brodeln, ausstoßen – so hat er zum öftern groben Schrollen, die es an ihn gebracht und ihn sogar zum Kehren der untersten Feuermauer eingeladen, gar schlimm und scharf gelohnt. Davon wäre viel zu erzählen. Einem dieser unsaubern und gemeinen Gesellen, der ihn förmlich schimpfte, schickte der Geist ein Hagelwetter auf den Hals; einem zweiten putzte er die Feueresse mit der Mistgabel aus; einem botanisierenden Mediziner brach er das Genick; einem Schäfer ließ er Ochsenhörner am Kopfe wachsen; einem Schneeberger Ratsdiener zog er die Ohren so hoch in die Höhe, daß sie genau die Ohrenlänge des güldenen Esels hatten. Ein Briefträger wurde vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht und bis zum andern Morgen um ein altes Zauberschloß in Ruinen herumgeführt; ein Bauer wurde zum Nasenkönig gemacht, der mußte, wenn er sich schneuzen wollte, das Fazinettlein so weit vom Gesicht weghalten, als sein Arm langte. Einer Grasemagd, die im Walde Spottliedlein auf den Berggeist sang, nahte er sich als Buhle, griff ihr unters Kinn und heftete ihr einen Ziegenbart an, den sie ihr Lebelang tragen mußte. Bauern, die ihn geschmäht, lenkten sich, als sie in der Scheune draschen, unwillkürlich die Flegel nicht aufs Getreide, sondern auf ihre Köpfe und Buckel, so daß sie mehr blaue Flecke als Körner ausdraschen, und solcher Strafen verhängte er, wenn er gereizt war, oft und viele.

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