Neuntes Kapitel


Das Haus Temoana

Die Geschichte der Marquesaner ist in den letzten Jahren durch das Kommen und Gehen der Franzosen stark verwirrt. Wenigstens zweimal haben sie von dem Archipel Besitz ergriffen, wenigstens einmal haben sie ihn verlassen, und in der Zwischenzeit haben die Eingeborenen fast ohne Unterbrechung ihre planlosen Kannibalenkriege geführt. Durch diese Ereignisse und den Wechsel der Dynastien sieht man nur eine beachtenswerte Gestalt schreiten: die des Oberhäuptlings Temoana, eines Königs. Allerlei bunte Einzelheiten seiner Entwicklung kamen mir zu Ohren: wie er zuerst Konvertit der protestantischen Mission war; wie er entführt oder aus seiner Heimat verschleppt wurde, als Koch an Bord eines Walfischfängers arbeitete und gegen ein kleines Entgelt in englischen Häfen gezeigt wurde; wie er schließlich nach den Marquesas zurückkehrte, unter den starken und segensreichen Einfluß des verstorbenen Bischofs geriet, seine Macht in der Inselgruppe ausdehnte, eine Zeitlang Mitregent des Prälaten war und endlich als Hauptförderer des Katholizismus und der Franzosen starb. Seine Witwe erhält noch jetzt zwei Pfund monatlich von der französischen Regierung. Königin nennt man sie gewöhnlich, aber im amtlichen Almanach wird sie als »Madame Vaekehu, Oberhäuptlingsfrau« bezeichnet. Sein Sohn – ob natürlich oder adoptiert, weiß ich nicht – Stanislao Moanatini, Häuptling von Akaui, dient in Tai-o-hae als eine Art Minister der öffentlichen Arbeiten, und die Tochter Stanislaos ist weiblicher Oberhäuptling der südlichen Insel Tauata. Das ist also das mächtigste Geschlecht des Archipels, und wir hielten es auch für das achtbarste. Dies ist die Regel in Polynesien, mit wenigen Ausnahmen: je höher die Familie steht, desto besser sind die Menschen – besser an Vernunft, besser an Sitten und gewöhnlich auch körperlich größer und stärker. Ein Fremder geht blindlings vor, er macht seine Bekanntschaften zufällig. Abgesehen von der Tätowierung bei den Marquesas deutet nichts den Rangunterschied an, aber fast immer bewährten sich unsere Freunde als Personen von Würde. Ich sagte, »gewöhnlich auch körperlich größer und stärker«. Ich könnte noch bestimmter sein: für ganz Polynesien und einen Teil von Mikronesien trifft diese Regel zu, die Großen der Inseln und selbst der Dörfer sind auch kräftiger an Knochen und Muskeln und oft schwerer an Fleisch als die gewöhnlichen Bürger. Die landläufige Erklärung, daß das hochgeborene Kind sorgfältiger schampuniert, d. h. gewaschen und mit Öl eingerieben wird, ist wahrscheinlich stichhaltig. In Neukaledonien wenigstens, wo der Unterschied nicht existiert oder nie beobachtet wurde, scheint auch die Sitte des Schampunierens unbekannt zu sein. Ärzte würden gut tun, diesem Punkt ihr Studium zuzuwenden.

Vaekehu lebt, von der Regentschaft aus gesehen, am andern Ende der Stadt, jenseits der Missionsgebäude. Ihr Haus ist nach europäischer Art gebaut, ein Tisch steht in der Mitte des Hauptraumes, Photographien und religiöse Bilder hängen an den Wänden. Nach beiden Seiten hat man eine entzückende Aussicht. Vorn blickt man auf grünen Rasen, herumrennende Schweine, fächerartig herabhängende Zweige der Kokospalmen und den Glanz der tosenden Brandung; nach hinten heraus auf anstrebende Waldtäler und Kränze von Schluchten. Hier, in scharfer Zugluft, empfing uns Ihre Majestät im einfachen bedruckten Kattunkleid, ohne ein anderes königliches Abzeichen als die vollendete Schönheit ihrer Tätowierung, die wie Handschuhe wirkt, die Feinheit ihrer Bewegungen und das sanfte Falsett, in dem alle sorgfältig erzogenen marquesanischen Damen – und Vaekehu an erster Stelle – wohlgefällig ihre Worte singen. Eine Adoptivtochter verdolmetschte unsere Reden und fragte nach allen unseren Freunden in Anaho mit ihrem Namen. Während wir uns unterhielten, konnten wir durch die Tür auf der Landseite eine andere Dame ihre Toilette unter den grünenden Bäumen vollenden sehen, die bald darauf, als ihr Haar aufgesteckt und ihr Hut mit Blumen geschmückt war, mit graziösen Verbeugungen auf der hinteren Veranda erschien.

Vaekehu ist sehr schwerhörig: » merci« ist ihr einziges französisches Wort, und ich erinnere mich nicht, daß sie mir klug vorkam. Ihre ausgezeichnete Liebenswürdigkeit und Erziehung, leicht überschattet von Quietismus, der wohl von den Nonnen stammte, machte den größten Eindruck auf uns. Oder wir empfanden vielmehr diese erste Begegnung als eine Art Informationsbesuch von unserer Seite, der mit bescheidener christlicher Höflichkeit von unserer Gastgeberin angenommen wurde. Ein anderer Eindruck entstand, als sie sich freier fühlte und mit Stanislao und seiner kleinen Tochter an Bord der »Casco« kam. Sie hatte bei dieser Gelegenheit große Toilette gemacht, trug ein weißes Gewand, das zu ihrem strengen braunen Gesicht gut paßte, und saß essend und zigarettenrauchend zwischen uns, von aller Unterhaltung abgeschnitten oder nur hier und da durch die Vermittlung ihres Sohnes ins Gespräch gezogen. Diese Situation hätte lächerlich sein können, aber ihr gereichte sie zur Zierde. Sie tat, als ob sie alles höre und verstände, auf ihrem Gesicht strahlte das Lächeln der guten Gesellschaft, wenn man ihrem Blick begegnete; ihre Bemerkungen, so selten sie sein mochten, waren stets verbindlich und liebenswürdig. Dem Kinde wurde keine Beachtung geschenkt, außer wenn sie es anredete oder sich an seiner Stelle bei uns bedankte. Ihr Abschied beim Fortgehen war graziös und zierlich wie ihr ganzes Benehmen. Als meine Frau ihr die Hand reichte, um ihr Lebewohl zu sagen, nahm Vaekehu sie, hielt sie fest und lächelte einen Augenblick, ließ sie sinken, und dann, wie in Gefühlserregung und zartfühlender Herablassung, streckte sie beide Hände aus und küßte meine Frau auf beide Wangen. Bei gleichen Alters- und Rangunterschieden würde man auf der Bühne der Comédie Française so gespielt haben, genau so gütig herablassend würde Madame Brohan sich gegen Madame Broissat im Marquis von Villemer benommen haben. Es war meine Aufgabe, unsere Gäste an Land zu bringen. Als ich das kleine Mädel beim Abschied auf den Stufen des Piers küßte, stieß Vaekehu einen Ruf des Entzückens aus, streckte ihre Hand zum Boot nieder, nahm die meine und drückte sie mit jener einschmeichelnden Sanftheit, die in allen Ländern der Erde die Koketterie alter Damen zu bilden scheint. Im nächsten Augenblick schon hatte sie Stanislaos Arm genommen, sie schritten im Mondlicht den Pier entlang und ließen mich verwirrt zurück. Dies war eine Kannibalenkönigin; sie war vom Kopf bis zu den Füßen tätowiert und vielleicht gegenwärtig das größte Meisterwerk dieser Art auf der Erde, so daß ihr Bein vor einiger Zeit, ehe sie prüde wurde, eine der Sehenswürdigkeiten von Tai-o-hae war. Sie war aus der Hand eines Häuptlings in die des andern gewandert, man hatte um sie Kriege geführt und sie geraubt; vielleicht hatte sie auf dem Hochgericht gesessen, da sie ja eine so große Dame war, und dort als einzige ihres Geschlechts gethront, während die Trommeln zwanzigweise gedröhnt und die Priester die blutgetränkten Körbe mit Menschenfleisch (Langschwein) herbeigetragen hatten. Und nun stelle man sich, nach einer solchen Vergangenheit der Gewalttaten und furchtbaren Feste, diese ruhige, sanftmütige, wohlerzogene alte Dame vor, denen ähnlich, die man zu Hause in manchen Landhäusern findet, auch behandschuht, aber nicht oft von so feinem Benehmen. Aber Vaekehus Handschuhe waren aus Farbe, nicht aus Seide, und nicht mit Geld, sondern mit gekochtem Menschenfleisch bezahlt. Mit einem Ruck tauchte in mir die Frage auf, wie sie selbst wohl darüber denke, und ob sie im innersten Herzen nicht den Wandel bedaure und sich nach ihrer barbarischen und aufregenden Vergangenheit zurücksehne. Aber als ich Stanislao ausforschte, sagte er: »O, sie ist zufrieden, sie ist fromm und verbringt alle ihre Tage bei den Schwestern.«

Stanislao – Stanislaos unter Auslassung des letzten Konsonanten nach polynesischer Gepflogenheit – wurde vom Bischof Dordillon nach Südamerika geschickt und dort von den Patres erzogen. Er spricht fließend Französisch, redet klug und geistreich und leistet den Franzosen als Hauptaufpasser vorzügliche Dienste. Mit dem Prestige seines Namens und seiner Familie und, wenn nötig, mit dem Stock hält er die Eingeborenen bei der Arbeit und sorgt für gute Wege. Ohne Stanislao und die Gefangenen möchte ich die Existenzfähigkeit der heutigen Regierung in Nuka-hiva bezweifeln; vielleicht würden die Chausseen unpassierbar werden, der Landungssteg abbröckeln und die Residentschaft unter den Augen unfähiger Beamter zerfallen. Und obgleich er traditionsgemäß die Franzosenherrschaft begünstigt und fördert, vergißt er die Vergangenheit nie. Er zeigte mir, wo der alte Versammlungsplatz gewesen war, noch angedeutet durch verstreute Steinhaufen, erzählte mir, wie groß und schön er gewesen, auf allen Seiten von stark bevölkerten Häusern umgeben, aus denen bei Trommelschlag die Menge herbeigeströmt sei, um Feste zu feiern. Der Trommelwirbel der Polynesier besitzt einen sonderbaren und düsteren Reiz für die Nerven aller Menschen. Weiße empfinden ihn, bei diesen rasenden Tönen schlägt ihr Herz schneller; und nach den Berichten alter Einwohner war die Wirkung auf die Eingeborenen furchtbar. Mochte Bischof Dordillon flehend bitten und Temoana selbst befehlen und drohen: beim Ton der Trommeln triumphierten die wilden Instinkte. Würden sie heute auf diesen Ruinen erschallen, wer sollte zur Versammlung eilen? Die Häuser sind eingefallen, das Volk ist tot, die Nachkommenschaft erloschen, der Abschaum und die Flüchtlinge ferner Buchten und Inseln nisten sich auf ihren Gräbern ein. Den Verfall des Tanzes beklagt Stanislao besonders. »Jedes Land hat seine Sitten«, sagte er; aber die Anzeige irgendeines Gendarmen, der in verwerflichem Eifer die Zahl der Straffälle und seine Macht erhöhen will, läßt Sitte nach Sitte der Ausrottung anheimfallen. »Sehen Sie, ein Tanz, der nicht erlaubt ist«, sagte Stanislao; »ich weiß nicht warum, er ist sehr hübsch, nämlich so!« Und er steckte seinen Schirm aufrecht in die Erde und markierte die Schritte und Bewegungen. Seine Kritik der Gegenwart und das Bedauern über die Vergangenheit war stets überraschend gemäßigt und vernünftig. Die kurze Amtsdauer des Residenten hielt er für das Hauptübel der Verwaltung, denn der Beamte war eben erst eingearbeitet, wenn er abberufen wurde. Ich glaubte auch zu bemerken, daß er den kommenden Übergang vom Marine- zum Zivilgouverneur einigermaßen fürchtete. Ich selbst jedenfalls bin sicher, daß dies die richtige Auffassung ist, denn die Zivilbeamten Frankreichs sind dem Ausländer niemals als Elite ihres Landes erschienen, während die Marineoffiziere sich mit denen der ganzen Welt messen können. In allen seinen Reden betonte Stanislao stets, daß seine Heimat ein Land der Wilden sei, und wenn er eigene Meinung ausdrückte, bemerkte er, er sei ein Wilder, der Reisen gemacht habe. In dieser bewußten Bescheidenheit war ein gut Teil ehrlichen Stolzes. Aber etwas lag in dieser Vorsicht, was mich traurig stimmte; ich mußte befürchten, er wolle nur einer Zurechtweisung zuvorkommen, die er allzuoft erduldet hatte.

Zweier Unterredungen mit Stanislao erinnere ich mich mit Interesse. Die erste fand an einem Nachmittag der tropischen Regenzeit statt, den wir zusammen auf der Veranda des Klubs verbrachten; wir sprachen manchmal mit erhobenen Stimmen, wenn die Schauer über unseren Köpfen sich verstärkten, manchmal gingen wir in den Billardraum, um in dem matten, verschleierten Tageslicht jene Weltkarte zu befragen, die sein Hauptschmuck ist. Er kannte die englische Geschichte natürlich nicht, so daß ich ihm viel Neues berichten konnte. Ich erzählte ihm ausführlich das Leben Gordons, viele Einzelheiten aus dem Indischen Aufstand, berichtete von Lucknow, der zweiten Schlacht von Cawnpore, der Befreiung von Arrah, dem Tode des armen Spottiswoode und von Sir Hugh Roses abenteuerlichen Feldzügen. Er hörte begierig zu, sein braunes Gesicht, dicht bedeckt mit Pockennarben, leuchtete auf und wechselte den Ausdruck bei jeder Wendung der Geschichte. In seinen Augen glühte das Feuer der Schlachten, er richtete viele und kluge Fragen an mich, und besonders sie führten uns sooft zur Landkarte. Aber die lebendigste Erinnerung bewahre ich von unserem Abschied. Wir wollten am nächsten Morgen absegeln, und die Nacht war schon hereingebrochen, dunkel, stürmisch und regnerisch, als wir den Hügel hinaustasteten, um Stanislao Lebewohl zu sagen. Er hatte uns bereits mit Geschenken beladen, aber viele andere standen noch bereit. Wir saßen rund um den Tisch bei Zigarren und grünen Kokosnüssen; Windstöße fegten durch das Haus und löschten die Lampe aus, die stets sofort wieder mit einem einzigen Streichholz angezündet wurde; und diese wiederholten Augenblicke der Dunkelheit wurden wie eine Erleichterung empfunden. Denn es lag etwas wie Schmerz und Beklemmung über der Zärtlichkeit dieser Trennung. »Ach!« rief Stanislao aus, »Sie sollten hierbleiben, mein geliebter Freund! Sie gehören zu den Männern, die die Kanaken brauchen, Sie sind lieb, Sie und Ihre Familie, man würde Ihnen auf allen Inseln gehorchen.« Wir waren höflich gewesen, und nicht einmal immer, wie mir mein Gewissen sagte, aber nie darüber hinausgegangen; die Ursache seiner Bewegtheit war also nicht sosehr unsere Rücksichtnahme als vielmehr das schlechte Benehmen anderer. Den Rest des Abends, auf dem Wege zu Vaekehu und zurück bis ganz zum Pier, ließ Stanislao meinen Arm nicht los und schützte mich mit seinem Regenschirm, und als das Boot abgefahren war, konnten wir in der trüben Finsternis noch sein Abschiedswinken sehen. Seine Worte wurden, falls er sprach, vom Regen und von der dröhnenden Brandung verschlungen.

Ich habe die Geschenke erwähnt: eine verwickelte Frage in der Südsee, deren Behandlung die allgemeine, gewohnheitsmäßige Unwissenheit belegt, mit der Völker in Bausch und Bogen beurteilt werden. An vielen Orten gibt der Polynesier nur, um zu empfangen. Ich habe Inseln besucht, wo mich die Bevölkerung verfolgte wie Hunde, die einem Händler mit Katzenfleisch nachlaufen, und wo die oft gehörte Redewendung: »Du mein Freund!« oder, mit noch mehr Pathos: »Du gleich wie mein Vater!« mit herzhaftem Gelächter und kräftigem Ausruf beantwortet werden muß. Und vielleicht wird überall ein Geschenk von Gierigen und Habsüchtigen als eine Art Wurst angesehen, mit der man nach der Speckseite wirft. Es ist Sitte, Geschenke zu spenden und Gegengaben zu empfangen, und solche Burschen werden, wenn sie die Gebräuche mitmachen, scharf darauf bedacht sein, daß sie keinen Verlust erleiden. Aber bei Personen anderen Schlages liegen die Dinge umgekehrt. Der schäbige Polynesier ruht nicht, bis er die Gegengabe erhalten hat, der edle fühlt sich beklommen, bis er sie geleistet hat. Der erstere ist enttäuscht, wenn man nicht mehr gegeben hat als er; der andere ist niedergeschlagen, wenn er seine Gabe für geringer achtet. Das ist meine Erfahrung; wenn sie der anderer Reisender widerspricht, bedaure ich ihr Geschick und preise das meinige; nichts kann ändern, was ich beobachtet, noch vermindern, was ich empfangen habe. Und ich finde in der Tat, daß alle, die mir widersprechen, von höchst eigenartigen Vorurteilen ausgehen. Sie vergleichen die Polynesier einer Idealfigur, vollgepfropft von Edelmut und Dankbarkeit, der ich nie das Vergnügen hatte zu begegnen, und vergessen, daß ihnen das unermeßlicher Reichtum ist, was uns beinahe Armut scheint. Ich will ein Beispiel anführen: ich sprach zufällig über diese Geschenke Stanislaos mit einem gewissen klugen Mann, einem großen Hasser und Verächter der Kanaken. »Nun, was war es denn!« rief er aus, »ein Paket Bärte alter Männer! Plunder!« Und derselbe Herr sprach eine halbe Stunde später, als seine Gedanken in andere Richtung gingen, ausführlich von der Wertschätzung, die solchen Besitztümern bei den Kanaken entgegengebracht wird, wie sie sie allen anderen außer Grund und Boden vorziehen, und von den hohen Preisen, die man dafür erzielt. Unter Zugrundelegung seiner eigenen Zahlen berechnete ich, daß die Geschenke Vaekehus und Stanislaos dieser Art allein einen Wert von zwei- bis dreihundert Dollars hatten, während das amtliche Gehalt der Königin nur zweihundertvierzig Dollars jährlich beträgt.

Aber Freigebigkeit einerseits und offenbarer Geiz anderseits sind in der Südsee wie in der Heimat Ausnahmen. Der gewöhnliche Polynesier wählt und überreicht seine Geschenke weder in der Hoffnung auf Gewinn noch mit dem lebhaften Wunsch zu gefallen. Einer klaren, sozialen Pflicht sieht er sich gegenüber, und er erfüllt sie korrekt, aber ohne die geringste Begeisterung. Wir können seine Auffassung am besten verstehen, wenn wir unsere eigene den anerkannt absurden Hochzeitsgeschenken gegenüber prüfen. Wir schenken ohne besonderen Gedanken an eine Gegengabe, aber ergibt sich die Gelegenheit, und das Gegengeschenk bleibt aus, so halten wir uns für beleidigt. Wir geben gewöhnlich ohne Liebe und fast nie mit echter Begierde zu gefallen, und unser Geschenk ist eher ein Beweis unserer Zahlungsfähigkeit als unserer Liebe zu den Empfängern. So geht es im allgemeinen auch den Polynesiern; ihre Geschenke sind Formsache, sie sollen die gesellschaftliche Anerkennung ausdrücken, und sie werden gegeben und erwidert, wie wir unsere Morgenvisiten machen und erhalten. Der Brauch, Ereignisse und Gefühle nach den Geschenken einzuteilen und zu bewerten, ist in der Inselwelt allgemein. Ein Geschenk gilt ihnen soviel wie Brief und Siegel, und die Erinnerung daran steckt tief im Herzen des Insulaners. Frieden und Krieg, Hochzeit, Adoption und Naturalisation werden durch Annahme oder Zurückweisung von Geschenken gefeiert oder angekündigt, und für den Inselbewohner ist es ebenso natürlich, ein Geschenk zu überreichen, wie für uns, eine Visitenkarte bei uns zu tragen.

Zehntes Kapitel


Ein Charakterbild und eine Geschichte

Ich hatte verschiedene Male Veranlassung, den verstorbenen Bischof, Pater Dordillon, zu erwähnen, »Monseigneur«, wie er noch jetzt fast allgemein genannt wird, Apostolischer Vikar der Marquesas und Titularbischof von Cambysopolis. Überall auf den Inseln, bei allen Klassen und Stämmen, erinnert man sich des feinen, alten, liebenswürdigen und heiteren Mannes mit Liebe und Hochachtung. Sein Einfluß auf die Eingeborenen war unbeschränkt. Sie hielten ihn für den Höchsten auf Erden und für größer als einen Admiral, sie brachten ihm ihr Geld zur Aufbewahrung, holten seinen Rat ein bei Käufen und pflanzten keinen Baum auf ihrem eigenen Lande ohne Zustimmung des Vaters der Inseln. Als die Franzosen abzogen, repräsentierte er allein Europa, lebte in der Residentschaft und regierte durch die Vermittlung Tamoanas. Die ersten Wege wurden unter seiner Leitung und auf sein Anraten angelegt. Der alte Weg zwischen Hatiheu und Anaho wurde auf beiden Seiten gleichzeitig begonnen unter dem Vorwand, er werde sich gut eignen für einen Abendspaziergang, und unter Anstachelung des Wetteifers der beiden Dörfer vollendet. Der Priester erzählte in Hatiheu rühmend von dem Fortschritt in Anaho und pflegte den Leuten von Anaho zu erklären: »Wenn ihr euch keine Mühe gebt, werden eure Nachbarn über dem Hügel sein, bevor ihr oben seid.« Heute könnte man nicht mehr so arbeiten, aber damals war es möglich; Tod, Opiumsucht und Entvölkerung waren noch nicht so weit fortgeschritten, und die Leute von Hatiheu wetteiferten noch miteinander in ihrer Kleidung, wie man mir erzählte, sie pflegten familienweise in der Kühle des Abends auf der Bucht zu segeln und Bootrennen zu veranstalten. Etwas Wahres scheint mindestens in der allgemeinen Ansicht zu stecken, daß die gemeinsame Regierung von Tamoana und dem Bischof das letzte, kurze, goldene Zeitalter der Marquesaner war. Aber die Zivilgewalt kehrte zurück, die Mission wurde innerhalb einer Frist von vierundzwanzig Stunden aus der Residentschaft vertrieben, neue Methoden gewannen die Oberhand, und mit dem goldenen Zeitalter – wie es immer gewesen sein mochte – war es zu Ende. Es ist der stärkste Beweis für das hohe Ansehen von Pater Dordillon, daß er offenbar ohne Einbuße an Autorität diese übereilte Absetzung überstand.

Seine Behandlung der Eingeborenen war außerordentlich milde. Mitten unter diesen Kindern der Wildnis spielte er die Rolle des lächelnden Vaters und beobachtete in allen Dingen sorgfältig die Etikette der Marquesaner. So war der Bischof nach dem sonderbaren System künstlicher Versippung von Vaekehu als Enkel und ein Fräulein Fisher in Hatiheu als Tochter adoptiert worden. Von diesem Tage an redete der Monseigneur die junge Dame nur noch als seine Mutter an und schloß seine Briefe mit den Redewendungen eines pflichtgetreuen Sohnes. Europäern gegenüber konnte er streng bis zur Schärfe werden. Er behandelte Ketzer nicht schlecht und verkehrte freundschaftlich mit ihnen, aber die Vorschriften seiner eigenen Kirche wollte er beachtet sehen, und einmal wenigstens ließ er einen Weißen einsperren, der ein Heiligenfest entweiht hatte. Jedoch selbst diese Strenge, die den Laien unerträglich und den Protestanten lästig war, konnte seine Popularität nicht erschüttern. Wir können ihn durch Heranziehung von Vergleichen aus der Heimat am besten würdigen; wir haben wohl alle irgendeinen Geistlichen der alten Schule in Schottland gekannt, einen wortgläubigen Sabbatehrer, der am Buchstaben des Gesetzes klebte und doch im Privatleben bescheiden, unschuldig, liebenswürdig und heiter war. Einem solchen Mann glich Pater Dordillon anscheinend. Und seine Popularität hielt eine noch härtere Probe aus. Man sagte von ihm, und wahrscheinlich mit Recht, daß er ein gewitzter Geschäftsmann war, der achtgab, daß die Mission sich bezahlt machte. Nichts erregt die Gemüter sosehr wie die Einmischung religiöser Körperschaften in Handelsgeschäfte, aber selbst Kaufleute, die seine Konkurrenten waren, sprachen von dem Monseigneur gut.

Seinen Charakter zeichnet am treffendsten die Geschichte der Tage seines Alters. Es kam die Zeit, wo er aus Mangel an Sehkraft seine literarischen Arbeiten beiseitelegen mußte, seine marquesanischen Hymnen, Grammatiken und Wörterbücher, seine wissenschaftlichen Abhandlungen, Heiligenlegenden und religiösen Gedichte. Er blickte sich nach einem neuen Interessengebiet um, verfiel auf Gartenarbeiten, und nun sah man ihn den ganzen Tag mit Spaten und Gießkanne in kindlichem Eifer zwischen den Beeten tatsächlich hin und her rennen. Als der körperliche Verfall zunahm, mußte er auch seinen Garten verlassen. Sofort wurde eine andere Beschäftigung ersonnen, und er saß in der Mission und schnitt Papierblumen und -kränze. Seine Diözese war für seinen Arbeitseifer nicht groß genug, alle Kirchen der Marquesaner wurden mit seinem Papierschmuck versehen, und immer noch mußte er weiterschaffen. »Ach,« sagte er lächelnd, »wenn ich tot bin, wird es euch Spaß machen, meinen Plunder auszukehren!« Er war nun ungefähr sechs Monate tot, aber es freute mich, manche seiner Trophäen noch ausgestellt zu sehen, und ich betrachtete sie lächelnd: einen Tribut, den er, wenn ich seinen heiteren Charakter richtig verstanden habe, nutzlosen Tränen vorgezogen hätte. Krankheit machte ihn immer schwächer; er, der so kühn über die rauhen Felsen der Marquesas geklettert war, um kriegführenden Stämmen den Frieden zu bringen, wurde eine Zeitlang in einem Stuhl zwischen Mission und Kirche hin und her getragen, bis er schließlich durch Wassersucht ohnmächtig ans Bett gefesselt wurde, geplagt von Ischias und Wunden. So lag er ohne Klagen zwei Monate, und am 11. Januar 1888 entschlief er im neunundsiebzigsten Jahre seines Lebens und vierunddreißigsten seiner Arbeit auf den Marquesas.

Wer gern über protestantische und katholische Missionen schelten hört, muß sein Vergnügen anderswo, aber nicht auf diesen Seiten suchen. Seien sie Katholiken oder Protestanten: trotz schwerer Mißgriffe und trotz des Mangels an Frohsinn, Humor und allgemeinem Menschenverstand sind die Missionare die besten und nützlichsten Weißen im Pazifischen Ozean. Wir werden dies Problem immer wieder streifen, aber ein Teil mag an dieser Stelle behandelt werden. Der verheiratete und der im Zölibat lebende Missionar, beide haben ihre besonderen Vorzüge und Mängel. Der verheiratete Missionar kann, wenn wir den günstigsten Fall annehmen, dem Eingeborenen etwas sehr Notwendiges bieten: ein vollendetes Vorbild häuslichen Lebens. Aber die Frau an seiner Seite hat die Neigung, ihn mit Europa in Verbindung zu halten und die innige Verquickung mit Polynesien zu verhindern, und so wird eine pastorale Etikette bewahrt und sogar verschärft, die weit besser vergessen würde. Das Gemüt des weiblichen Missionars beschäftigt sich beispielsweise ständig mit Fragen der Bekleidung. Nur mit den größten Schwierigkeiten kann man ihr begreiflich machen, daß auch andere Gewänder züchtig sind als die von London her gewöhnten; und um dies Vorurteil zu befriedigen, werden die Eingeborenen zu nutzlosen Ausgaben gezwungen, die Phantasie wird europäisch krankhaft, die Gesundheit wird gefährdet. Der im Zölibat lebende Missionar anderseits, sei er der beste oder schlechteste, geht leicht zu den Lebensgewohnheiten der Eingeborenen über, und hinzu kommt das allgemeine Merkmal eheloser Männer oder die Erbschaft mittelalterlicher Heiligen: nachlässige Kleidung und Unsauberkeit. Selbstverständlich gibt es hier Abstufungen, und die Ordensschwester – ihr sei alle Ehre! – ist selbstredend so blitzsauber wie eine Dame auf dem Ball, über die Art der Ernährung ist nichts zu sagen – sie muß den Polynesier verwundern und abschrecken –, aber über die Annahme der Eingeborenensitten sehr viel. »Jedes Land hat seine Sitten«, sagte Stanislao; sie zu ändern, ist die schwierige Aufgabe des Missionars, und je mehr er auf diesem Gebiete von innen heraus, vom Eingeborenenstandpunkt aus erreicht, desto besser wird er seine Aufgaben lösen. Hier sind die Katholiken meines Erachtens manchmal erfolgreicher, und im Vikariat Dordillons bin ich dessen sicher. Ich habe den Bischof tadeln hören wegen seiner Nachgiebigkeit gegen die Eingeborenen, besonders deshalb, weil er nicht mit genügender Energie gegen den Kannibalismus wütete. Es gehörte zu seiner Politik, wie ein älterer Bruder unter den Eingeborenen zu leben, ihnen zu folgen, solange es möglich, und sie zu führen, wo es notwendig war, nie zu übertreiben und die Entwicklung neuer Gebräuche zu ermutigen, statt die alten gewaltsam auszurotten. Und es mag auf die Dauer besser sein, eine solche Politik überall zu befolgen.

Man könnte annehmen, daß eingeborene Missionare sich als nachsichtiger erwiesen, aber das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall. Neue Besen kehren gut, und der weiße Missionar von heute wird oft durch die Frömmelei seines eingeborenen Gehilfen behindert. Was sonst könnte man erwarten? Auf manchen Inseln wurden Zauberei, Vielweiberei, Menschenopfer und Tabakrauchen verboten, die Bekleidung des Eingeborenen geändert und er selbst in heftigen Redewendungen vor gegnerischen christlichen Sekten gewarnt, alles durch denselben Mann, zu derselben Zeit und in gleich autoritativer Weise. Wie und nach welchen Maßstäben soll nun der Konvertit das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden? Er schluckt die ganze Medizin auf einmal, denn Spielraum für die Phantasie und Beobachtung wird nicht gegeben, und ein Fortschritt wird nicht erzielt, abgesehen von dem rein äußerlichen Nutzen der Verbote. Um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen: das alles heißt Aberglauben predigen! Es ist allerdings wenig glücklich, dies Wort anzuwenden: wenige haben Geschichte studiert und viele in kleinen atheistischen Broschüren geblättert, so daß die Mehrheit vorschnell zu dem Schluß kommen könnte, alle Arbeit sei umsonst. Weit gefehlt: dieser halbspontane Aberglaube, verschieden nach der Sekte des ersten Evangelisten und den Sitten der einzelnen Inseln, ist in der Praxis höchst fruchtbar, und besonders diejenigen, die ihn erlernt haben und nun weiterlehren, stehen als leuchtende Vorbilder da vor aller Welt. Das schönste Beispiel christlichen Heldentums, das ich jemals sah, ist einer dieser eingeborenen Missionare. Er hatte zwei Menschenleben unter Gefahr seines eigenen gerettet; gleich Nathan war er einem Tyrannen im Blutrausch entgegengetreten; als die gesamte weiße Bevölkerung floh, erfüllte er allein seine Pflicht, und sein Verhalten inmitten häuslichen Unglücks, das die Öffentlichkeit nichts angeht, erfüllte den Beobachter mit Sympathie und Bewunderung. Er sah aus wie ein kleiner, lächelnder, arbeitsamer Mensch, und man hätte glauben können, er besäße nichts als das, was er tatsächlich zu reichlich besaß, nämlich weiche Gutherzigkeit. (Die Rede ist hier von Maka, dem hawaiischen Missionar auf Butaritari in der Gilbertgruppe.)

Zufällig waren die einzigen Rivalen des Monseigneurs und seiner Mission auf den Marquesas einige dieser braunhäutigen Evangelisten, Eingeborene von Hawaii. Ich weiß nicht, was sie über Pater Dordillon dachten; sie sind die einzigen, die ich nicht befragte, aber ich habe den Verdacht, daß der Prälat sie wegen ihres Übereifers etwas von oben herab betrachtete, denn er war außerordentlich human. Während meines Aufenthalts zu Tai-o-hae kam die Zeit der jährlichen Ferien für die Mädchenschule, und eine ganze Flotte von Walfischfängerbooten von Ua-pu brachte die Töchter in die Heimat. An Bord befand sich auch Kauwealoha, einer der Pastoren, ein feiner, gepflegter, alter Herr jenes löwenartigen Typs, der auf Hawaii oft vorkommt. Er besuchte mich auf der »Casco« und erzählte mir eine Geschichte von seinem Kollegen Kekela, einem Missionar auf der großen Menschenfresserinsel Hiva-oa. Es scheint, daß kurz nach dem räuberischen Besuch eines peruanischen Sklavenhändlers die Boote eines amerikanischen Walfischfängers in eine Bucht dieser Insel einliefen, daß die Leute angegriffen wurden und mit knapper Not entkamen, aber ihren Steuermann, einen Mr. Whalon, in den Händen der Eingeborenen zurückließen. Der Gefangene wurde mit auf dem Rücken gefesselten Händen in ein Haus geworfen, und der Häuptling meldete Kekela die Gefangennahme. Jetzt folge ich der Darstellung Kauwealohas im besten Kanakenenglisch, und der Leser muß sich vorstellen, daß die Erzählung mit heftiger Erregung und sprechenden Gesten vorgetragen wurde.

»›Ich ‚melikanischer Maat haben!‹ der Häuptling er sagen. – ›Was du wollen tun ‚melikanischer Maat?‹ Kekela er sagen. – ›Ich gehen Feuer machen, ich gehen töten, ich gehen ihn essen‹, er sagen; ›du morgen kommen essen Stück‹. – ›Ich nicht wollen essen ‚melikanischer Maat!‹ Kekela er sagen; ›warum du wollen?‹ – ›Dies böser Schiff, dies Sklavenschiff‹, der Häuptling sagen; ›einmal ein Schiff er kommen von Pelu, er nehmen weg mein Sohn. ‚Melikanischer Maat er schlecht Mann. Ich gehen ihn essen, du essen Stück.‹ – ›Ich nicht wollen essen ‚melikanischer Maat!‹ Kekela er sagen, und er weinen, ganzer Nacht er weinen! Morgen Kekela er stehen auf, er ziehen an schwarzer Rock, er gehen zu Häuptling, er sehen Missa Whela, ihn Hand gebunden so! (Zeichen.) Kekela er schreien. Er sagen Häuptling: ›Häuptling, du wollen Sachen von meine? du wollen Walfischfängerboot?‹ – ›Ja‹, er sagen. – ›Du wollen Gewehr?‹ – ›Ja‹, er sagen. – ›Du wollen schwarzer Rock?‹ – ›Ja‹, er sagen. – Kekela er nehmen Missa Whela an Schulter, er ihn nehmen sofort aus Haus, er geben Häuptling er Walfischboot, er Gewehr, er schwarzer Rock. Er nehmen Missa Whela sein Haus, machen ihn setzen nieder er Weib und Kinder, Missa Whela Gefängnis, er Weib, er Kinder in Amelika, er weinen. – O, er weinen. Kekela er traurig. Ein Tag Kekela er sehen Schiff. (Gesten.) Er sagen Missa Whela: ›Ma‘ Whala?‹ – Missa Whela er sagen: ›Ja!‹ Kanaka sie anfangen gehen runter zu Strand, Kekela er nehmen elf Kanaka, nehmen Ruder, nehmen alles. Er sagen Missa Whela: ›Nun du gehen rasch.‹ – Sie springen in Boot: ›Nun du rudern!‹ Kekela er sagen: ›Du rudern schnell, schnell!‹ (Heftiges Gestikulieren und dann Andeutung, daß der Erzähler das Boot verlassen hat und zum Strand zurückgekehrt ist.) Alle Kanaka sie sagen: ›Wie! ‚Melikanischer Maat er gehen weg?‹ – springen in Boot, rudern nach. (Und wieder Übergang zur Andeutung des Bootes.) Kekela er sagen: ›Rudern schnell!‹«

Hier, glaube ich, verwirrte mich die pantomimische Darstellung Kauwealohas, ich erinnere mich nicht mehr seiner ipsissima verba und kann nur in meiner eigenen weniger bewegten Art hinzufügen, daß das Schiff erreicht, Mr. Whalon an Bord genommen wurde und Kekela zu seinem Amt unter den Kannibalen zurückkehrte. Aber wie ungerecht ist es, das Stammeln eines Fremden in einer nur teilweise beherrschten Sprache wiederzugeben! Ein gedankenloser Leser könnte Kauwealoha und seinen Kollegen für eine Art liebenswürdigen Affen halten. Aber ich kann den Gegenbeweis antreten. Als Belohnung für diese Tat tapferer Nächstenliebe erhielt Kekela von der amerikanischen Regierung eine Summe Geldes und von Präsident Lincoln selbst eine goldene Uhr. Aus dem Dankesbrief, den er in seiner eigenen Sprache schrieb, gebe ich den folgenden Auszug. Ich beneide niemand, der ihn ohne Bewegung lesen kann.

»Als ich sah, wie einer Ihrer Landsleute, ein Bürger Ihrer großen Nation, mißhandelt wurde und nahe daran war, gebraten und gegessen zu werden, wie man ein Schwein ißt, eilte ich herbei, ihn zu retten, voll Mitleid und Trauer über die schlechte Tat dieses umnachteten Volkes. Ich gab mein Boot für das Leben des Fremden. Dies Boot stammte von James Hunnewell, eine Freundschaftsgabe. Es wurde zum Lösegeld für Euren Landsmann, damit er nicht verspeist werde von den Wilden, die Jehovah nicht kennen. Es war Mr. Whalon und der Tag der 14. Januar 1864.

Was nun meine freundliche Tat betrifft, die Rettung Mr. Whalons, so kam der Same aus Ihrem großen Lande und wurde herbeigebracht von einigen Ihrer Landsleute, die die Liebe Gottes empfangen hatten. Er wurde in Hawaii eingepflanzt, und ich sorgte dafür, daß er in diesem Lande und in diesen dunklen Gegenden gepflanzt wurde, damit sie die Wurzel alles Guten und Wahren, die Liebe, empfingen:

  1. Liebe zu Jehovah.
  2. Liebe zu uns selbst.
  3. Liebe zu dem Nächsten.

Wenn ein Mann von diesen dreien zur Genüge besitzt, ist er gut und heilig wie sein Gott Jehovah in seinem dreieinigen Charakter (Vater, Sohn und Heiliger Geist), einer und drei, drei und einer. Hat er nur zwei und mangelt der einen, so ist es nicht gut, und wenn er eine hat und zwei fehlen ihm, so ist dies in der Tat nicht gut; aber wenn er alle drei umfängt, dann ist er in der Tat heilig nach der Lehre der Bibel.

Ihre große Nation kann sich dieses großen Dinges rühmen vor allen anderen Nationen der Erde. Von Ihrem großen Lande wurde ein überaus kostbarer Same zum Lande der Finsternis gebracht. Er wurde hier gepflanzt, nicht mit Hilfe von Kanonen und Kriegsschiffen und Drohungen. Er wurde gepflanzt durch Unwissende, Arme und Verachtete. So geschah die Einführung des Wortes des allmächtigen Gottes in diese Inselgruppen von Nuuhiwa. Groß ist meine Schuld an die Amerikaner, die mich alle Dinge gelehrt haben über dies und das zukünftige Leben.

Wie soll ich Ihre große Güte mir gegenüber vergelten? So fragte David Jehovah, und so frage ich Sie, den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Das ist meine einzige Gegengabe – die ich vom Herrn empfangen habe – die Liebe – ( aloha).«

Elftes Kapitel


Langschwein – Ein Hochsitz des Kannibalismus

Nichts erregt heftiger unsern Abscheu als der Kannibalismus, nichts erschüttert mit größerer Sicherheit die menschliche Gesellschaft, nichts, so könnten wir schließen, muß die Gemüter derjenigen, die ihm anhängen, sosehr verhärten und entwürdigen. Und doch machen wir auf Buddhisten und Vegetarier einen ganz ähnlichen Eindruck. Wir verzehren die Leiber von Geschöpfen, die uns verwandte Neigungen, Leidenschaften und Organe haben, wir essen Junge, wenn auch nicht unsere eigenen, und der Schlachthof hallt täglich wider von Schreien der Qual und Furcht. Wir machen Unterschiede, das ist wahr, aber die Abneigung vieler Nationen gegen das Fleisch von Hunden, Tieren also, mit denen wir aufs innigste zusammenleben, zeigt, wie fragwürdig die Unterscheidungen begründet sind. Das Schwein ist die Hauptnahrung der Eingeborenen auf den Inseln, und ich hatte oft Gelegenheit, da meine Phantasie durch die Kannibalenumgebung angeregt war, den Charakter dieses Tieres und die Art seines Todes zu beobachten. Viele Insulaner leben mit den Schweinen wie wir mit unseren Hunden; beide bewegen sich in gleicher Freiheit in der Nähe des häuslichen Herdes, und das Inselschwein ist ein Kerl voll Lebendigkeit, Unternehmungslust und Klugheit. Es schält seine Kokosnüsse selbst und rollt sie, wie man mir erzählte, in die Sonne, damit sie platzen; es ist der Schrecken der Schafhirten!. Die alte Frau Stevenson beobachtete, wie eines in die Wälder flüchtete mit einem Lamm in der Schnauze, und ich sah, wie eines plötzlich zu der Überzeugung kam, die »Casco« ginge unter; es schwamm durch die Sturzwellen zur Reeling, um sich zu retten. Man erzählte mir in der Jugendzeit, daß Schweine nicht schwimmen können; ich habe eines gekannt, das über Bord sprang, vierhundert Meter schwamm bis zur Küste und zum Hause des früheren Besitzers zurückkehrte. Ich hatte einst, in Tautira, eine Schweinezüchterei von ziemlichem Ausmaß; zunächst herrschte in meinem Stall äußerste Zutraulichkeit; eine junge Sau mit Leibschmerzen kam herbei und flehte wie ein Kind um Hilfe; und ein stattlicher schwarzer Eber, den wir Catholicus nannten, weil er ein Sondergeschenk der Katholiken des Dorfes war, zeigte sehr bald Mut und Freundschaftlichkeit. Kein anderes Tier, weder Hund noch Schwein, durfte sich ihm nähern, wenn er fraß, und für menschliche Wesen bewies er das höchste Maß jener untertänigen Zuneigung, die den niederen Tieren eigen ist. Eines Tages sah ich beim Besuch der Schweineställe zu meinem Erstaunen, daß Catholicus sich mit Schreckensschreien vor jeder Annäherung zurückzog, und wenn ich über diese Veränderung verwundert war, so erschrak ich tatsächlich, als ich die Ursache erfuhr. Eines der Schweine war an jenem Morgen geschlachtet worden, Catholicus hatte den Mord beobachtet, er hatte entdeckt, daß er zwischen Schlachtbänken lebte, und von dieser Zeit waren Vertrauen und Lebenslust dahin. Wir verschonten ihn noch eine ganze Weile, aber er konnte den Anblick zweibeiniger Wesen nicht mehr ertragen, und wir unsererseits konnten unter diesen Umständen nicht ohne Verwirrung seinen Blicken begegnen. Ich habe übrigens dem Akt des Schlachtens in Hörweite beigewohnt; ich glaube, ich hätte vielleicht die Schmerzensschreie des Opfers ertragen, aber die Hinrichtung ging nicht glatt vonstatten, und der Ausdruck seines Entsetzens wirkte ansteckend: dies kleine Herz schlug nach derselben Melodie wie das unsere. Auf solchen »Fundamenten des Schreckens« ruht das Leben des Europäers, und doch gehört der Europäer zu den weniger grausamen Rassen. Die Schreckenskammer des Mordes, die brutale Zurichtung der Nahrung wird den Blicken verborgen; äußerste Empfindlichkeit herrscht an der Oberfläche, und Damen fallen in Ohnmacht, wenn man ihnen einen Bruchteil dessen schildert, was sie von ihren Metzgern täglich verlangen. Menschen werden sich in ihrem Innersten auch gegen mich empören wegen der Roheit meiner Worte. Und so steht es um die Inselkannibalen. Sie waren nicht grausam; abgesehen von dieser Sitte sind sie eine der liebenswürdigsten Menschenrassen; geradeheraus gesagt ist es weit weniger hassenswert, das Fleisch eines Menschen nach seinem Tode zu essen, als ihn zu Lebzeiten zu unterjochen, und selbst die Opfer ihres Appetits wurden im Leben nachsichtig behandelt und schließlich rasch und schmerzlos ins Jenseits befördert. In vornehmen Insulanerkreisen galt es ohne Zweifel als geschmacklos, bei dem, was widerwärtig war an dieser Sitte, länger zu verweilen.

Kannibalismus läßt sich von einem Ende des Pazifischen Ozeans bis zum andern nachweisen, von den Marquesas bis Neuguinea, von Neuseeland bis Hawaii, bald in vollster Blüte, bald in geringen, aber charakteristischen Überbleibseln. In Hawaii ist er am zweifelhaftesten. Wir finden Kannibalismus in hawaiischen Chroniken nur einmal in der Geschichte eines Krieges verzeichnet, scheinbar für eine Ausnahme gehalten, wie etwa bei jenen Verbrechern aus den Gebirgen, die durch die Hand des Theseus fielen. In Tahiti hat sich ein einziger Beweis erhalten, aber er scheint schlußkräftig zu sein. In historischen Zeiten bot man, wenn Menschenopfer in den Tempeln dargebracht wurden, die Augen des Getöteten in aller Form dem Häuptling an: eine Delikatesse für den vornehmen Gast. Ganz Melanesien scheint verseucht. In Mikronesien, auf den Marschallinseln, die ich nur als Tourist kenne, konnte ich nicht die geringste Spur finden, und selbst in der Gilbertzone habe ich lange vergeblich geforscht und nachgefragt. Man erzählte mir allerdings Geschichten von Menschen, die während einer Hungersnot verspeist worden seien, aber das besagt nichts für mich, denn ähnliche Dinge geschahen unter demselben Druck bei allen Rassen und Generationen. Schließlich traf ich in einigen handschriftlichen Aufzeichnungen von Dr. Turner, die man mir in Malua einzusehen gestattete, auf einen vernichtenden Beweis: auf der Insel Onoatoa war die Strafe für Diebstahl, getötet und gegessen zu werden. Wie können wir diesen allgemeinen Brauch in einem so großen Gebiet erklären, unter Völkern so verschiedener Zivilisation und, trotz aller Vermischung, so verschiedenen Blutes? Welche Lebensbedingung war ihnen allen gemeinsam außer der, daß sie auf Inseln lebten, die keine oder nur geringe Fleischnahrung boten? Ich kann aus meinem Appetit nur schließen, daß es dem Menschen nicht bestimmt ist, nur von Pflanzenkost zu leben. Wenn unsere Vorräte auf den Inseln abnahmen, sehnte ich mich nach dem Tage, da die Sparsamkeit uns erlaubte, wieder einmal eine Büchse minderwertigen Hammelfleisches zu öffnen. Und in mindestens einer ozeanischen Sprache gibt es ein besonderes Wort für den Zustand, wenn der Mensch »hungrig auf Fisch« ist, Gemüse ihm nicht mehr genügen und seine Seele wie die der Hebräer in der Wüste sich nach Fleischtöpfen sehnt. Nimmt man die Beweise für Übervölkerung und drohende Hungersnöte hinzu, die wir bereits angeführt haben, so hat man meines Erachtens einigen Grund, mit den Inselkannibalen Nachsicht zu üben.

Man muß jedes Problem von zwei Seiten betrachten, aber es liegt mir fern, dies mehr als bestialische Laster entschuldigen zu wollen. Die höherstehenden polynesischen Rassen, wie die Tahitier, Hawaiier und Samoaner, waren über diese Sitte alle hinausgewachsen, und manche hatten sie teilweise schon vergessen, als Cook und Bougainville mit ihren Segelschiffen am Horizont auftauchten. Sie hielt sich nur auf einigen niedrigen Inseln, wo der Lebensunterhalt schwierig zu gewinnen ist, und unter unverbesserlichen Wilden wie den Neuseeländern und Marquesanern. Die Marquesaner verknüpften die Menschenfresserei mit dem ganzen Gewebe ihres Daseins, »Langschwein« war gewissermaßen Zahlungsmittel und Sakrament, es war der Lohn des Künstlers, betonte die historischen Erinnerungstage und war Anlaß und Höhepunkt jedes Festes. Heute müssen sie diese blutrünstige Verquickung büßen. Die Zivilverwaltung mußte in ihrem Kreuzzug gegen den Kannibalismus alle marquesanischen Künste und Belustigungen unterdrücken, fand sie ohne Ausnahme mit kannibalischen Elementen durchsetzt und brachte sie nacheinander auf die Liste der Verbote. Ihre Kunst im Tätowieren war einzigartig, die Ausführung wundervoll, die Zeichnungen herrlich und überwältigend, kein schönerer Schmuck für schöne Menschen! Anfangs mag es etwas Schmerz bereiten, aber ich bezweifle, ob es auf die Dauer so qualvoll ist wie die unedle europäische Damensitte des Schnürens, und sicher ist es viel gesünder. Und nun wurde es für notwendig befunden, diese Kunst zu untersagen. Ihre Gesänge und Tänze waren zahlreich, und das Gesetz mußte sie dutzendweise abschaffen. Sie stehen heute mit leeren Händen der Öde ereignisloser Tage gegenüber, und wer soll sie bemitleiden? Der Sanftmütigste muß gestehen, daß ihnen recht geschehen ist.

Der Tod allein konnte marquesanische Rache nicht befriedigen, das Fleisch des Opfers mußte gegessen werden. Der Häuptling, der Mr. Whalon gefangennahm, hatte den sehnlichsten Wunsch, ihn zu verspeisen, und glaubte sich gerechtfertigt, als er erklärte, es handle sich um einen Racheakt. Vor zwei oder drei Jahren ergriffen und töteten Talbewohner einen armen Wicht, der sie beleidigt hatte. Vermutlich war die Beleidigung schwer, sie konnten ihre Rache nicht unvollkommen lassen, und unter den Augen der Franzosen wagten sie nicht, ein öffentliches Gastmahl abzuhalten. Der Leichnam wurde also verteilt, jeder zog sich in sein Haus zurück, um den Ritus im geheimen zu vollziehen, und trug seinen Anteil an dem entsetzlichen Gericht in einer schwedischen Zündholzschachtel heim. Der Barbarismus des Dramas und die europäischen Gebrauchsgegenstände bieten der Phantasie Bilder ungeheuren Kontrastes. Aber noch bezeichnender ist ein anderer Vorfall aus dem Jahre 1888, als ich mich selbst dort befand. Im Frühling trieben sich ein Mann und eine Frau in der Nähe der Schule von Hiva-oa umher, bis sie ein bestimmtes Kind allein antrafen. »Bist du der und der, der Sohn von Soundso?« fragten sie und lockten es unter Liebkosungen tiefer hinein in die Wälder. Irgendein Instinkt erwachte in der Brust des Kindes, oder irgendein Blick verriet ihm das entsetzliche Vorhaben der Betrüger. Es versuchte ihnen zu entfliehen und schrie, aber sie ließen die Maske fallen, packten es fester und fingen an zu laufen. Seine Schreie wurden gehört, Schulkameraden, die in der Nähe spielten, eilten zu seiner Rettung herbei, aber das grausame Paar floh und verschwand in den Wäldern. Es wurde nie ermittelt, kein Strafgericht folgte, aber man nahm allgemein an, daß sie Groll hegten gegen den Vater des Knaben, den sie aus Rache zu verspeisen beschlossen. Überall auf den Inseln kann man, wie bei unseren Vorfahren, beobachten, daß der Rächer es nicht auf eine bestimmte Person absieht. Familie, Klasse, Dorf, ein ganzes Tal oder eine Insel, ein ganzer Stamm haben teil an der Schuld eines ihrer Angehörigen. So mußte in unserer Erzählung der Sohn an Stelle des Vaters büßen, und Mr. Whalon, der Steuermann eines amerikanischen Walfischfängers, sollte für die Freveltaten eines peruanischen Sklavenhändlers bluten und verspeist werden. Ich erinnere mich eines Vorfalls in Jaluit auf der Marschallgruppe, den mir ein Augenzeuge berichtete, und den ich hier wiedergebe wegen seiner Eigenartigkeit. Zwei Männer hatten das Mißfallen der Jaluithäuptlinge erregt, und ihre Frauen wurden zur Bestrafung herangezogen. Ein einzelner Eingeborener vollzog die Hinrichtung. Am frühen Morgen watete er angesichts einer großen Menschenmenge zwischen seinen Opfern hinaus zu den Riffen. Die Frauen klagten und sträubten sich nicht, begleiteten geduldig ihren Henker, tauchten auf seinen Befehl unter, als sie tief genug hineingelangt waren, er legte seine Hand auf die Schultern der beiden und hielt sie unter Wasser, bis sie ertrunken waren. Ohne Zweifel standen ihre Familien laut wehklagend am Ufer, obgleich mein Gewährsmann mir nichts darüber berichtete.

Von Hatiheu aus besuchte ich zum erstenmal einen Hochsitz des Kannibalismus.

Der Tag war schwül und trübe. Heftige Tropenschauer wechselten mit glühendem Sonnenschein. Der grüne Fußpfad wand sich steil aufwärts. Unser kleiner Führer, ein Schuljunge, ging etwas voraus, und Pater Simeon hatte sein Skizzenbuch in der Hand, benannte die Bäume für mich und las mir aus seinen Notizen laut ihre Hauptvorzüge vor. Plötzlich bot der ansteigende Weg einen freieren Ausblick in das Tal von Hatiheu, und der Priester deutete, indem er den Führer gelegentlich fragte, die Grenzlinien an und nannte mir die Namen der größeren Stämme, die früher in ewigem Kriege miteinander lagen: einer wohnte im Nordosten, ein anderer am Strand, der dritte dahinten auf den Bergen. Mit einem Überlebenden des letzteren hatte Pater Simeon gesprochen: bis zum Friedensschluß war er nie bis zur Meeresküste gekommen und hatte, wenn ich mich recht erinnere, niemals Seefische gegessen. Die Stämme lebten abgeschlossen für sich in ihrem Distrikt, eingepfercht und belagert. Kam eine Hungersnot, so mußten die Männer in die Wälder gehen, um Kastanien und kleine Früchte zu sammeln; selbst heute noch müssen die Schulen geschlossen und die Schüler zum Proviantieren ausgesandt werden, wenn die Eltern mit ihren wöchentlichen Abgaben im Rückstand sind. Aber in alten Zeiten herrschte bei allen Nachbarn höchste Tätigkeit, wenn ein Stamm in Schwierigkeiten war, man legte überall in den Wäldern Hinterhalte, und wer für sich selbst Früchte sammeln wollte, konnte schließlich als Braten für seine Erbfeinde enden. Es bedurfte nicht einmal einer besonderen Veranlassung. Ein Dutzend verschiedener Naturanzeichen und sozialer Ereignisse trieben dies Volk auf den Kriegspfad und zur Menschenjagd. Mochte jemand von Häuptlingsrang seine Tätowierung beendet haben, das Weib eines anderen sich ihrer Niederkunft nähern, zwei der Bergströme ihr Bett näher zur Bucht von Hatiheu verlegt haben, der Gesang eines gewissen Vogels gehört, eine bestimmte bedeutungsvolle Wolkenbildung über der nördlichen See beobachtet worden sein: sofort wurden die Waffen geölt, und die Menschenjäger schwärmten durch den Wald und legten ihre Fallen für den Brudermord. Es scheint auch, daß sich der Priester bisweilen, vielleicht bei einer Hungersnot, in sein Haus einschloß, wo er eine bestimmte Zeit wie tot dalag. Kam er wieder zum Vorschein, so rannte er drei Tage lang nackt und ausgehungert durch das Gebiet des Stammes und schlief nachts allein auf dem Hochsitz. Dann mußten die andern das Haus hüten, denn es bedeutete Tod, dem Priester auf seinen Runden zu begegnen. Am Abend des vierten Tages war der Lauf zu Ende, der Priester kehrte zu seiner Wohnung zurück, das Volk erschien wieder, und am Morgen wurde die Zahl der Opfer verkündet. Ich kann diese Erzählung von dem Priester nur auf eine Autorität – ich glaube, eine gute – zurückführen. Die Einzelheiten sind so sonderbar, daß ich annehme, man hätte sie öfter erwähnen müssen, wenn sie wahr wären. Über einen Punkt scheint kein Zweifel: die Festessen wurden manchmal mit Material aus dem eigenen Stamm bestritten. In Zeiten des Mangels hatten alle, die nicht durch Familienbeziehungen geschützt waren – nach einem schottischen Hochlandsausdruck alle Gemeinen der Sippe – Ursache zu zittern. Widerstand oder Flucht waren vergeblich und fruchtlos. Sie waren auf allen Seiten von Kannibalen eingeschlossen, und der Bratofen stand bereit für sie draußen im Lande der Feinde oder zu Hause im Tal ihrer Väter.

An einer bestimmten Ecke des Weges bog unser jugendlicher Führer zur Linken ab in die Dämmerung des Waldes. Wir befanden uns nun auf einem der uralten Eingeborenenpfade, eingebettet in hohe Waldgewölbe, scheinbar ziellos hinaufkletternd über Steinblöcke und abgestorbene Bäume, aber der Junge wand sich ein und aus, hinauf und hinunter, ohne Zögern, denn diese Wege sind für die Eingeborenen so gut zu erkennen wie für uns eine königliche Heerstraße, so daß man sie in den Zeiten der Menschenjagden sogar zu verrammeln oder unkenntlich zu machen versuchte, anstatt sie zu verbessern. In der Höhle des Waldes war die Luft feucht und heiß und kalt, zu unseren Häupten rauschte der Tropenregen brausend auf die Blätter nieder, aber nur hier und da fiel wie durch Löcher eines lecken Daches ein einzelner Tropfen herab und machte einen Fleck auf meinen Regenmantel. Nach einer Weile stand der gewaltige Stamm eines Banyan vor uns, er schien zwischen den Ruinen eines uralten Forts zu wurzeln, und unser Führer hielt an, streckte den Arm aus und verkündete, daß wir beim » paepae tapu« angelangt seien.

Paepae bezeichnet einen Fußboden oder eine Plattform, auf der ein Eingeborenenhaus errichtet wird, und selbst solch ein Paepae, ein » paepae hae«, kann in einem gewissen Sinne als tabu bezeichnet werden, wenn es verlassen und von Geistern bewohnt ist. Aber der öffentliche Hochsitz, den ich jetzt betrat, war eine außerordentlich wichtige Stätte. Soweit mein Auge das dichte Unterholz durchdringen konnte, war der Boden des Waldes gepflastert. Drei Terrassenstufen liefen am Abhang des Hügels entlang; davor umschloß eine abbröckelnde Rampe die Hauptarena, deren Bodenbelag an verschiedenen Stellen von Brunnenlöchern durchbohrt und von kleinen Gehegen unterbrochen war. Vom Oberbau war keine Spur mehr erhalten, der Bauplan des Amphitheaters war schwer zu erkennen. Ich besuchte einen anderen Hochsitz auf Hiva-oa, kleiner aber vollkommener, wo man deutlich Sitzreihen und isolierte Ehrenplätze für hervorragende Persönlichkeiten wahrnehmen konnte, und wo auf der oberen Plattform ein einzelner Gerüstbalken des Tempels oder Totenhauses stehengeblieben war, dessen Pfeiler reich geschnitzt waren. In alten Zeiten wurde der Hochsitz sorgfältig gepflegt. Kein Baum außer dem heiligen Banyan durfte auf seinen Stufen wuchern, kein welkes Blatt auf dem Bodenbelag verfaulen. Die Steine waren sorgsam gelegt, und man erzählte mir, daß man ihnen durch Öl Glanz verlieh. Auf allen Seiten waren Wächter in Schutzhütten untergebracht, um den Platz zu behüten und zu reinigen. Der Fuß keines anderen Menschen durfte sich ihm nähern, nur der Priester kam in den Zeiten der Läufe zum Schlafe dorthin und träumte vielleicht von seiner gottlosen Sendung. Aber zur Zeit des Festes erschien der ganze Stamm geschlossen auf dem Hochsitz, jeder einzelne hatte seinen bestimmten Platz. Es gab Sitze für die Häuptlinge, den Trommler, die Tänzer, die Frauen und die Priester. Die Trommeln, etwa zwanzig an der Zahl, manche zwölf Fuß hoch, erdröhnten unaufhörlich im Takt. Im Takt ließen die Sänger ihren langgezogenen, finsteren, heulenden Gesang ertönen, im Takt schritten und sprangen auch die Tänzer einher, wunderbar zierlich, herausgeputzt, sie schwärmten gestikulierend umher und ließen ihre federgeschmückten Finger wie Schmetterlinge durch die Luft flattern. Die Empfindung für den Rhythmus ist bei allen ozeanischen Völkern außerordentlich stark ausgeprägt, und mir scheint, als ob bei solchen Festen jeder Ton und jede Bewegung in eins verschmolz. Um so einheitlicher mußte die Erregung der Festteilnehmer wachsen, und um so wilder mußte die Szene jedem Europäer erscheinen, der sie dort in greller Sonne und im tiefsten Schatten der Banyanen beobachtet hätte: eingerieben mit Saffran, um die Arabesken der Tätowierung höher hervortreten zu lassen, die Frauen in tagelanger Zurückgezogenheit zu beinahe europäischer Hautfarbe gebleicht, die Häuptlinge gekrönt mit silbernen Federn aus Barthaaren alter Männer und gegürtet mit Haarsträngen toter Frauen. Inselgerichte aller Art wurden inzwischen für die Frauen und Männer aus dem Volke aufgetragen; und für diejenigen, die das Vorrecht hatten, davon zu essen, wurden Körbe mit »Langschwein« zum Totenhaus geschleppt. Man erzählt, daß sich die Feste lange ausdehnten, das Volk kehrte erschöpft von den tierischen Ausschweifungen heim, die Häuptlinge gestopft voll von ihrer bestialischen Speise. Gewisse Gefühle nennen wir ausdrücklich menschlich, und wir verweigern denen, die ihrer entraten, diese ehrenvolle Bezeichnung. Bei solchen Festen –, besonders wenn das Opfer in der eigenen Heimat erschlagen war und die Leute die Überreste eines armen Kameraden verspeisten, der mit ihnen in der Jugend gespielt, oder einer Frau, deren Gunst sie einst genossen – wurden alle diese Empfindungen mit Füßen getreten. Überlegt man sich alles das eingehender, so versteht, ja verzeiht man die eifernde Gerechtigkeit alter Schiffskapitäne, die ihre Kanonen laden und Feuer eröffnen ließen auf eine Kannibaleninsel, die sie passierten.

Und doch war es sonderbar. Dort, am Hochsitz selbst, als ich unter dem hohen, tropfenden Gewölbe des Urwaldes stand, den jungen Priester in seiner Kutte auf der einen, den helläugigen, marquesanischen Schulknaben auf der anderen Seite, schienen alle diese Dinge unendlich fernzuliegen, in der kühlen Perspektive und dem kalten Licht der Geschichte. Vielleicht beeinflußte mich das Benehmen des Priesters. Er lächelte, er scherzte mit dem Knaben, dem Nachkommen sowohl der Festteilnehmer wie der Opfer, er klatschte in die Hände und sang mir eine Strophe der alten grausigen Chorgesänge vor. Jahrhunderte mochten vergangen sein, seit das furchtbare Spiel auf diesem Theater zum letzten Male aufgeführt worden war, und ich betrachtete den Platz ohne größere Erregung, als ich sie bei einem Besuch von Stonehenge empfunden hätte. Als ich in Hiva-oa wahrnahm, daß die Sitte verborgen dicht neben mir noch lebte, so daß ich des Aufschreis eines in die Falle gegangenen Opfers möglicherweise gewärtig sein mußte, versagte die historische Betrachtungsweise vollständig, und ich verspürte einige Abneigung gegen die Eingeborenen. Aber auch hier bewahrten die Priester ihre Heiterkeit, sie neckten die Kannibalen, als ob es sich um absonderliche, nicht aber um entsetzliche Dinge handele, und suchten sie durch gutmütigen Witz und Erweckung des Schamgefühls von der Sitte abzubringen, wie man ein Kind beschämt, um es vom Zuckernaschen zu entwöhnen. Wir können hier den milden und klugen Geist des Bischofs Dordillon wiedererkennen.

Erstes Kapitel


Eileen Aros

Es war ein schöner Morgen Ende Juli, als ich zu Fuß die letzte Strecke Weges nach Aros antrat. Ein Boot hatte mich nachts zuvor in Grisapol abgesetzt; ich hatte mit dem mageren Frühstück des kleinen Gasthofes vorlieb genommen, hatte Sack und Pack zurückgelassen, um es gelegentlich auf dem Seewege abzuholen, und trat nun fröhlichen Herzens den Marsch, quer über die Landzunge an.

Heimisch war ich, der Nachkomme eines reinen Niederlandgeschlechtes, hierzulande nicht. Aber ein Onkel von mir, Gordon Darnaway, hatte nach einer ärmlichen harten Jugend und einigen Jahren zur See sich hier auf den Inseln ein junges Weib genommen; Mary Maclean war ihr Name, die letzte ihres Hauses; und als sie bei der Geburt einer Tochter starb, war Aros, der meerumspülte Hof, in seinen Besitz übergegangen. Mehr als den nackten Lebensunterhalt bot ihm dieser nicht, wie ich wohl wußte. Er war ein Mann, den das Mißgeschick verfolgte; mit dem kleinen Kinde belastet, scheute er sich, von neuem den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, und blieb in Aros zurück, ruhelos und dem Schicksal grollend. Jahre der Einsamkeit waren über ihn hinweggegangen, ohne ihm Hilfe oder Zufriedenheit zu bringen. Inzwischen starb unsere Familie im Niederlande langsam aus. Keinem jenes Geschlechtes war sonderlich viel Glück beschieden; mein Vater war vielleicht der Glücklichste von allen: er überlebte nicht nur die meisten, sondern hinterließ auch einen Sohn als Erben seines Namens und ein wenig Geld, um ihn zu stützen. Ich war Student an der Edinburger Universität und lebte leidlich auf eigene Kosten, wenn auch ohne Sippe und Freundschaft, als Kunde von meinem Dasein sich zu meinem Onkel Gordon auf der Roß von Grisapol verlor; und er, für den Blut dicker als Wasser war, schrieb mir noch am selben Tage, als er von mir erfuhr, und lehrte mich, Aros als meine Heimat zu betrachten. So kam es, daß ich meine Ferien in jenen Gegenden, weitab von menschlicher Gesellschaft und Behagen, unter den Klippfischen und dem Moorgeflügel, verlebte; und darum kehrte ich an jenem Julitage, nach beendetem Studium, so leichten Herzens dorthin zurück.

Die Roß, wie wir sie nennen, ist eine Landzunge, weder breit noch hochgelegen, aber so wild, wie Gott sie nur je geschaffen hat, rechts und links von weitem Meer umgeben, in dem wüste Inseln und Riffe den Seemann bedrohen; das Ganze im Osten überragt von einigen sehr hohen Klippen und dem mächtigen Gipfel des Ben Kyaw. »Nebelberg« sollen die Worte auf Gälisch bedeuten, und er trägt seinen Namen mit Recht. Denn jener Bergrücken, der über dreitausend Fuß hoch liegt, fängt alle vom Meere hergetriebenen Wolken auf; ja, häufig schien es mir, als ob er sie selber erzeuge, da Ben Kyaw auch dann noch einen Schleier trug, wenn der ganze Himmel bis zum Meeresspiegel rein und klar war. Auch Wasser spendete der Berg, der infolgedessen bis zu seinem Scheitelpunkt versumpft war. Ich habe es erlebt, daß wir auf der Roß im hellsten Sonnenscheine saßen, während der Regen wie schwarzer Krepp sich auf den Berg niedersenkte. Aber diese Feuchtigkeit ließ ihn mir mitunter nur noch schöner erscheinen; denn wenn die Sonnenstrahlen auf seine Lehne fielen, funkelten die vielen Felsen und Wasserlaufe bis nach dem fünfzehn Meilen entlegenen Aros hin wie Edelsteine.

Der Weg, dem ich folgte, war ein Hirtenpfad. Er barg so viele Krümmungen, daß die Länge meiner Reise sich fast verdoppelte; er führte über rauhes Gestein, das man nur sprungweise überqueren konnte, und über weiche Niederungen, in denen man fast bis zum Knie im Moor versank. Nirgends war eine Spur von Anbau; in den ganzen zehn Meilen von Grisapol bis Aros fand sich kein einziges Haus. Natürlich waren Häuser vorhanden, – zum mindesten deren drei; aber sie lagen rechts und links so weit ab vom Wege, daß kein Fremder sie von dort hätte aufspüren können. Die Roß ist zum großen Teil von Granitblocken bedeckt, von denen einzelne ein zweiräumiges Haus an Größe übertreffen, und die einer neben dem andern ruhen. Farne und dichtes Heidekraut wachsen in den Spalten und dienen den Vipern als Brutstätte. Woher immer der Wind blies, brachte er Seeluft mit sich, salzig wie auf einem Schiff; die Möven waren so zahlreich wie das Moorgeflügel auf der Roß; und überall, wo der Weg ein wenig stieg, blitzte der leuchtende Meeresspiegel zündend auf. Mitten im Landinnern habe ich bei Hochflut an windigen Tagen das Tosen der Brandung, die gegen Aros anläuft, vernommen, laut wie Schlachtgebrüll, und die mächtigen, furchtbaren Stimmen der Wirbel, die wir die ›Tollen Männer‹ nennen.

Aros selbst – Aros Jay habe ich die Einheimischen es nennen hören, und sie sagen, es bedeute »das Haus Gottes« – ist nicht eigentlich ein Teil der Roß und auch keine Insel. Es bildet die südwestliche Ecke des Festlandes, schmiegt sich ihm eng an und ist nur an einer Stelle durch ein kleines Watt, das an seinem schmalsten Übergang keine vierzig Fuß mißt, von der Küste getrennt. Bei Hochflut war es hier klar und still wie in einem Teiche oder Binnenfluß; nur die Pflanzen und Fische waren andere und das Wasser selbst grün statt braun; bei Ebbe jedoch, wenn der Tiefstand erreicht war, konnte man an ein, zwei Tagen im Monat trockenen Fußes von Aros nach dem Festland gehen. Es gab stellenweise gute Weide, wo mein Onkel die Schafe, die ihm zur Nahrung dienten, grasen ließ; vielleicht war das Gras hier besser, weil die kleine Insel höher gelegen war als die Landzunge; ich bin jedoch allzu unwissend, um hierüber zu entscheiden. Das Haus war für die dortigen Verhältnisse gut und hatte zwei Stockwerke. Es blickte mit der Front nach Westen, über die Bucht hinaus; hart in der Nähe befand sich ein Landungssteg für die Boote, und von der Tür aus konnte man die Nebel auf Ben Kyaw brauen sehen.

Überall an der dortigen Küste, besonders aber bei Aros, wandern die großen Granitblöcke, von denen ich gesprochen habe, scharenweise, wie Viehherden an einem Sommertage, ins Meer hinaus. Dort stehen sie und gleichen nichts in der Welt so sehr wie ihren Nachbarn auf dem Lande; nur trennt sie statt der stillen Erde die schluchzende salzige Flut, und statt des Heidekrautes umblühen sie Büschel von Seenelken; an ihrem Sockel aber windet sich statt der giftigen Sandviper der große Seeaal. – An windarmen Tagen kann man stundenlang im Boot zwischen ihnen hin- und herirren, und das Echo folgt einem durch das ganze Labyrinth; bei Flut jedoch stehe der Himmel dem Menschen bei, der jenen Kessel brodeln hört.

An der Südwestspitze von Aros sind diese Blöcke überaus zahlreich und von weit größerem Umfang. Ja, weiter draußen im Meer müssen sie eine gewaltige Wucht erreichen, ist doch die offene See an die zehn Meilen im Umkreis mit ihnen so dicht besät wie ein ländlicher Ort mit Häusern. Einige ragen dreißig Fuß über das Meer empor; andere wieder sind unsichtbar, aber alle sind den Schiffen gefährlich, und an klaren Tagen, wenn der Wind von Westen blies, habe ich, von Aros aus, die großen, schweren weißen Sturzwellen an vierundsechzig solchen begrabenen Riffen branden sehen. Aber in der Nähe der Küste ist die Gefahr am größten, denn hier, am Ende der Landzunge, bildet die wie ein Mühlstrudel rasende Flut einen weiten brodelnden Wassergürtel, – die Roost genannt. Oft bin ich bei totenstiller Ebbe hier draußen gewesen, – und seltsam wahrlich ist der Ort. Die See wirbelt und schäumt und kocht wie ein Hexenkessel mit einem hin und wieder schwatzenden, hüpfenden Geräusch, als spräche die Roost mit sich selber, Wenn aber die Flut wieder zu steigen beginnt, vor allem bei schwerer See, gibt es niemanden, der sich dem Ort auf eine halbe Meile im Boot nahen dürfte, und kein Schiff, das hier steuern und flott bleiben könnte. Man kann das Getöse noch auf sechs Meilen Entfernung hören. Nach der Seeseite zu ist der stärkste Wirbel; hier ist auch die Stelle, wo die mächtigen Sturzwellen, die wir hierzulande die ›Tollen Männer‹ nennen, zusammen ihren Tanz aufführen – einen Totentanz. Es heißt, daß sie mitunter fünfzig Fuß hoch steigen; damit muß aber nur das grüne Wasser gemeint sein, denn die Gischt steigt doppelt so hoch. Ob sie ihren Namen ihren Bewegungen, die rasch und wild und possenhaft sind, oder ihrem Toben verdanken, das bei Flutwechsel ganz Aros erdröhnen läßt, ist mehr, als ich zu sagen vermag.

In Wahrheit ist jener Teil des Inselmeeres bei südwestlichem Wind nicht mehr und nicht weniger als eine Falle. Fände ein Schiff durch die Riffe seinen Weg und hätte es die ›Tollen Männer‹ glücklich überwunden, so müßte es an der Südküste von Aros, in der Bucht von Sandag, wo die vielen traurigen Ereignisse, von denen ich berichten will, unserer Familie zustießen, stranden. Der Gedanke an all diese Gefahren an einem mir seit so langer Zeit vertrauten Orte, heißt mich die jetzt eingeleiteten Arbeiten zur Errichtung von Leuchtstationen an den Küstenvorsprüngen und Bojen längs den Engen unserer eisenumgürteten und ungastlichen Inseln besonders begrüßen.

Das Landvolk kannte manche Märe über Aros, wie ich von meines Onkels Knecht Rorie, einem alten Diener der Macleans, der bei der Heirat ohne weiteres seine Dienste auf ihn übertrug, wußte. Es ging die Sage von einem unglücklichen Seegespenst, das sein Wesen auf eine eigene, unselige Art in den kochenden Wirbeln der Roost trieb. Eine Seejungfrau war einmal am Strande von Sandag einem Dudelsackpfeifer begegnet und hatte ihm dort eine liebe lange Mittsommernacht hindurch vorgesungen, so daß er am anderen Morgen von Wahnsinn befallen aufgefunden wurde und von jenem Tage an bis zu seinem Tode nur eine Rede führen konnte; wie sie ursprünglich auf Gälisch lautete, weiß ich nicht, aber man hat sie übersetzt. »Ach, das süße Singen aus der See.« Von Seehunden, die jene Küste umlagern, weiß man, daß sie Menschen auf menschliche Weise angesprochen haben und großes Unglück voraussagten. Hier war es auch, wo ein gewisser Heiliger auf der Fahrt nach Irland, wo er die Hebrider bekehren wollte, zum ersten Male landete. Und ich meine, er hatte einiges Recht auf seinen Heiligentitel, denn mit Schiffen, wie sie in vergangenen Zeiten üblich waren, eine so stürmische Fahrt vollbringen und an einer so heiklen Küste landen, grenzt wahrlich an das Wunderbare. Ihm oder einigen seiner mönchischen Diener, die dort eine Zelle besaßen, verdankt das Inselchen auch seinen schönen, heiligen Namen: das Haus Gottes.

Unter diesen Altweibergeschichten gab es eine, der ich mehr Glauben zu schenken geneigt war: wie man mir sagte, strandete in jenem Unwetter, das die Schiffe der unbesieglichen Armada an der ganzen Nord- und Westküste Schottlands zerstreute, ein mächtiges Fahrzeug bei Aros und ging vor den Augen vereinzelter Menschen, die sich auf einem der Hügel versammelt hatten, mit Mann und Maus und wehender Flagge unter. Diese Erzählung hatte einige Wahrscheinlichkeit für sich, denn an der Nordküste, zwanzig Meilen von Grisapol, lag ein anderes Schiff derselben Flotte auf dem Meeresboden. Man erzählte die Märe, wie es mir schien, ausführlicher und nachdrücklicher als ihre Mitlegenden, und eine Einzelheit insbesondere trug viel dazu bei, mich von ihrer Wahrheit zu überzeugen: der Name des Schiffes war im Gedächtnis der Leute geblieben und klang echt spanisch in meinen Ohren. Die »Espiritu Santo« war es genannt – ein gewaltiges Schiff von vielen Stockwerken und Kanonen, beladen mit Kostbarkeiten, mit Granden aus Spanien und wilden Soldadoes, die jetzt klaftertief, westlich von Aros in der Bucht von Sandag, von ihren Kriegen und Fahrten bis in alle Ewigkeit ausruhten. Vorbei mit den Saluten für das feste Schiff, »der heilige Geist«, vorbei mit günstigen Winden und glücklichen Abenteuern; nun faulte es tief unter dem Tang, beim Toben der ›Tollen Männer‹, wenn die steigende Flut sich vor der Insel bäumte. Von jeher war mir dies ein seltsamer Gedanke, der noch an Seltsamkeit wuchs, je mehr ich über Spanien erfuhr, von wo aus es die Segel gehißt, in Begleitung einer so stolzen Schar und von König Philipp, dem üppigen Monarchen, ausgesandt. Und nun muß ich berichten, daß die »Espiritu Santo« an jenem Tage auf meinem Wege von Grisapol mir viel im Sinne lag. Ich hatte die wohlwollende Aufmerksamkeit unseres damaligen Rektors der Edinburger Universität, des berühmten Schriftstellers Dr. Robertson, gewonnen und war von ihm mit der Ordnung und Auslese einiger alter Schriften betraut worden; und an einer Stelle fand ich zu meiner größten Überraschung eine Aufzeichnung über dasselbe Schiff, die »Espiritu Santo«, mitsamt dem Namen seines Kapitäns, und wie es mit einem großen Teil des spanischen Schatzes beladen gewesen und auf der Roß von Grisapol gesunken sei. Die genaue Stelle jedoch hatte man von den wilden Stämmen jenes Ortes und jener Zeit trotz aller Nachforschungen des Königs nicht erkunden können. Wenn ich das eine nun zum anderen fügte und König Jamies Goldsuchertätigkeit mit unserer Inseltradition verband, mußte in mir der Glaube erstarken, daß der Ort, den der König vergeblich zu erfragen suchte, kein anderer als die enge Bucht von Sandag auf meines Onkels Gebiet sein konnte; und da ich von jeher einen Hang zur Technik besaß, hatte ich hin und her überlegt, wie jenes gute Schiff, mitsamt seinen Ingots, Unzen und Dublonen zu heben und unser Haus Darnaway zu seinem lang entschwundenen Ansehen und Reichtum zurückzubringen sei.

Es war ein Plan, den ich rasch bereuen sollte. Meinem Denken wurde gar bald eine andere Richtung gegeben, und seitdem ich Zeuge eines seltsamen Gottesurteils geworden bin, hat mein Gewissen den Gedanken an die Schätze der Toten nicht ertragen können. Aber selbst zu jener Zeit muß ich mich von schmutziger Habgier freisprechen. Begehrte ich Reichtum, dann nicht für mich selbst, sondern um einer willen, die meinem Herzen nahestand – für meines Onkels Tochter, Mary Ellen. Sie hatte eine Zeitlang auf dem Festlande die Schule besucht und eine gute Erziehung genossen, ohne die sie armes Kind glücklicher dran gewesen wäre. Denn Aros war für sie nicht der rechte Ort, mit Rorie, dem alten Diener, und ihrem Vater als einzigen Gesellschaftern. Dieser, schlecht und recht auf dem Lande unter den Kameroniern erzogen, ein langjähriger Clyde- und Inselschiffer, der jetzt aus tiefstem Herzen mißvergnügt seine Schafe regierte und eine spärliche Küstenfischerei ums liebe Brot betrieb, war einer der unglücklichsten Männer Schottlands. Erschien mir, der nur ein, zwei Monate blieb, der Aufenthalt dort langwierig, wieviel mehr dann noch ihr, die jahraus, jahrein unter den Schafen und schwirrenden Möwen, bei Tanz und Sang der ›Tollen Männer‹ auf der Roost, ihre Tage in jener Einöde verbrachte.

Zweites Kapitel


Was das Wrack nach Aros brachte

Es war zwischen Flut und Ebbe, als ich endlich Aros erreichte, und es blieb mir nichts übrig, als mich am Ufer aufzustellen und nach Rorie um das Boot zu pfeifen. Ich brauchte das Signal nicht zu wiederholen, schon beim ersten Ton war Mary an der Tür und winkte als Antwort mit dem Taschentuch, während der alte Knecht langbeinig über den Kies zum Landungssteg hinunterschlurfte. Trotz aller Eile brauchte er viel Zeit, bis er herübergerudert war, und ich sah ihn einige Male innehalten, zum Heck gehen und neugierig ins Kielwasser hinabstarren. Als er sich mir näherte, erschien er mir ausgemergelt und gealtert, und es war mir, als wiche er meinen Blicken aus. Der Kahn war durch zwei neue Keile und verschiedene Flicke aus einem seltenen, fremdländischen Holz, dessen Namen ich nicht kannte, ausgebessert.

»Aber Rorie,« sagte ich, als wir die Rückfahrt antraten, »das ist ja kostbares Holz. Wie seid ihr dazu gekommen?«

»Es wär woll schwer zu hobeln,« meinte er widerwillig; und im gleichen Augenblicke ließ er die Ruder fallen und machte abermals einen jener plötzlichen Vorstöße nach dem Heck, die ich auf seiner Herfahrt bemerkt hatte, und starrte, auf meine Schulter gestützt, entsetzt in das Wasser.

»Was ist los?« fragte ich, ziemlich erschrocken.

»Es war woll ein großer Fisch,« sagte der Alte und griff die Ruder wieder auf, und außer einigen seltsamen Blicken und einem vielsagenden Kopfschütteln war nichts mehr aus ihm herauszuholen. Mir selber zum Trotz griff eine gewisse Unruhe auf mich über; ich drehte mich gleichfalls um und beobachtete das Kielwasser. Das Meer war hier im Mittelpunkte der Bucht still und durchsichtig, aber außerordentlich tief. Eine Zeitlang sah ich nichts; schließlich war mir jedoch, als wenn etwas Dunkles – ein großer Fisch, vielleicht auch nur ein Schatten – haarscharf der Spur des gleitenden Kahnes folge. Und dann erinnerte ich mich einer abergläubischen Überlieferung Rories: wie anläßlich einer der vernichtenden Blutfehden zwischen den Clans von Morveen jahrelang ein in jenen Gewässern völlig unbekannter Fisch der dortigen Fähre zu folgen pflegte, bis keiner mehr den Übergang zu machen wagte. »Er wird woll auf den Richtigen lauern,« sagte Rorie.

Mary erwartete mich am Strande und führte mich den Abhang hinauf nach dem Haus von Aros. Draußen und drinnen war vieles anders geworden. Der Garten war mit dem gleichen Holz, das ich am Boote bemerkt hatte, eingezäunt, in der Küche befanden sich einige mit seltenem Brokat bezogene Stühle; Brokatvorhänge verkleideten die Fenster; auf der Anrichte stand eine stumme Uhr; eine Messinglampe hing von der Decke herunter; der Mittagstisch war mit dem feinsten Leinenzeug und Silber gedeckt; und alle diese neuen Kostbarkeiten standen in der alten, mir so wohlbekannten Küche, mit der hochlehnigen Bank und den Hockern und dem alten Wandbett für Rorie, mit den Pfeifen auf dem Kaminsims und den dreieckigen Spucknäpfen, die statt mit Sand mit Muscheln gefüllt waren; mit den nackten Steinwänden und dem kahlen Holzboden und den drei aus Flicken zusammengesetzten Teppichen, die früher ihren einzigen Schmuck bildeten: Armeleuteflickereien, die es in der Stadt nicht gab, aus selbstgewebtem Zeug, schwarzem Sonntagstuch und Öltuchresten, die auf der Ruderbank abgewetzt waren. Der Raum hatte, ebenso wie das Haus, dank seiner Sauberkeit und Wohnlichkeit weit und breit als eine Art Wunder gegolten, und ihn jetzt durch diese unpassenden Ergänzungen entstellt zu finden, erfüllte mich mit Entrüstung, ja mit Zorn. Angesichts der Aufgabe, die ich mir in Aros gestellt hatte, war dieses Gefühl freilich grundlos und ungerecht, trotzdem loderte es im Augenblicke in meinem Herzen auf.

»Mary, Mädchen,« sagte ich, »dies ist der Ort, den ich gelernt hatte als mein Heim zu betrachten, und doch kenne ich ihn nicht. –«

»Es ist mein Heim von Haus aus, nicht von Gewohnheit,« antwortete sie, »der Ort, wo ich geboren bin und wo ich wohl auch sterben werde; und ich mag weder diese Veränderungen, noch die Art, in der sie gekommen sind, noch was sie mit sich brachten. Mir wäre lieber, sie ruhten, so Gott will, auf dem Meeresboden, und die ›Tollen Männer‹ tanzten über sie hinweg.« Mary war stets ernst – das war vielleicht der einzige Zug, den sie mit ihrem Vater gemeinsam hatte – der Ton jedoch, mit dem sie diese Worte sprach, war noch ernster als gewöhnlich. –

»Ja,« sagte ich, »ich fürchtete, sie wären durch ein Schiffsunglück, will sagen, durch den Tod zu Euch gekommen; dennoch übernahm ich, als mein Vater starb, sein Gut ohne Reue.«

»Dein Vater starb einen reinen, graden Tod, sagen die Leute,« war Marys Antwort.

»Wohl wahr,« entgegnete ich, »und ein Wrack ist wie ein Gottesgericht. Wie war sein Name?«

»Sie nannten es die ›Christ-Anna‹«, sagte eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich meinen Onkel auf der Schwelle stehen.

Er war ein sauertöpfischer, galliger kleiner Mann, mit einem langen Gesicht und sehr dunklen Augen, sechsundfünfzig Jahre alt und mit einem Äußeren, das halb an den Schäfer, halb an den Seemann erinnerte. Ich habe ihn niemals lachen hören; er pflegte ausführlich in der Bibel zu lesen und betete viel, nach Art der Kameronier, unter denen er aufgewachsen war. Ja, vielfach gemahnte er mich an einen Hochlandsprediger aus den mörderischen Zeiten vor der Revolution. Allein er schöpfte niemals sonderlichen Trost und, so viel ich weiß, nicht einmal Rat aus seiner Frömmigkeit. Er pflegte seine schwarzen Stunden zu haben, in denen er sich vor der Hölle fürchtete; aber er hatte ein rauhes Leben geführt, auf das er voller Neid zurückblickte, und war nach wie vor ein rauher, kalter, finsterer Mann.

Als er so aus dem Sonnenlicht zur Tür hereintrat, mit seiner Kappe auf dem Kopf und einer Pfeife im Knopfloch baumelnd, schien er mir wie Rorie gealtert und bleicher; die Falten waren tiefer in sein Gesicht gegraben, und das Weiße seiner Augen schimmerte gelblich wie altes Elfenbein oder Totenknochen.

»Ja,« sagte er, mit besonderer Betonung des ersten Wortes, »die ›Christ-Anna‹, ein heiliger Name. – «

Ich bot ihm meine Begrüßung und ein Kompliment auf seine Gesundheit, denn ich fürchtete, er sei vielleicht krank gewesen.

»Ich bin bei Leibe,« erwiderte er ziemlich unwirsch, »jawohl, bei Leibe, und in den Sünden des Leibes, wie du selbst. Essen,« sagte er plötzlich zu Mary und fuhr dann, zu mir gewendet, fort: »Schöne Sachen, teure Sachen, die wir da haben, nicht wahr? Die Uhr da ist gut, aber sie geht nicht, und das Gehänge ist auch gut; lauter gute, feine Sachen, Sachen, für die die Leute den Frieden Gottes hergeben, der höher ist als die Vernunft; Sachen, für derengleichen und für weniger als derengleichen die Leute dem Herrgott ins Antlitz trotzen und baß in der Holle brennen; und darum nennt sie die Schrift, wie ich gelesen habe, verflucht. Mary, Frauenzimmer,« unterbrach er sich mit ziemlicher Schärfe, »warum hast du nicht die beiden Leuchter vorgeholt?«

»Was brauchen wir sie am hellichten Mittag?« war die Gegenfrage.

Aber mein Onkel ließ sich nicht von seinem Gedanken abbringen. »Wir wollen sie benutzen, solange wir noch können,« sagte er, und so mußte das für den armen Inselhof so ungeeignete Gedeck noch um zwei schwere Leuchter aus getriebenem Silber vermehrt werden.

»In der Nacht vom zehnten Februar, so um die zehnte Stunde, ist es an Land gelaufen,« fuhr er zu mir gewendet fort. »Wind war nicht, aber eine starke Dünung, und es war in den Strudel der Roost geraten. Rorie und ich hatten es den ganzen Tag vor dem Wind treiben sehen. Es war kein lenksames Schiff, mein‘ ich, die ›Christ-Anna‹, es wollte sich weder steuern lassen noch gehorchen. Einen argen Tag haben sie mit ihm gehabt. Die Hände kamen nimmer von der Takelung runter und es war grimmig kalt – allzu kalt für Schnee – und sobald sie einen Luftzug bekamen, der ihnen die leere Hoffnung einblies, gings weiter. Mann, Mann, einen saueren Tag hatten sie zu guter Letzt! Fest, festen Herzens mußte der sein, der auf jenen Planken glücklich das Land gewinnen wollte.«

»Und sind alle untergegangen?« rief ich. »Gott steh‘ ihnen bei!«

»Ruhig!« sagte er streng. »An meinem Herde darf keiner für die Toten beten.«

Ich verteidigte meinen Ausruf gegen jede papistische Deutung, und er schien meine Worte mit ungewöhnlichem Entgegenkommen aufzunehmen, wobei er fortfuhr, über das, was anscheinend sein Lieblingsthema geworden war, zu schwatzen.

»Wir fanden es in der Sandager Bucht, Rorie und ich, mitsamt all den Sachen da. Du weißt, die Bucht hat eine tückische Stelle, wenn die Strömung stark auf die ›Tollen Männer‹ geht. Bei Hochflut aber, wenn man die Roost drüben am anderen Ende von Aros hört, läuft eine Gegenströmung stracks in die Bucht hinein. Nun, die Sache hat der ›Christ-Anna‹ den Garaus gemacht. Sie muß heckvorwärts aufgelaufen sein, denn ihr Bug ist oftmals unter Wasser und das Hinterdeck auch bei Hochflut klar; Mann, Mann, der Stoß, mit dem sie aufgelaufen ist! Der Herr schütz‘ uns alle! Ein heilloses Leben, das zur See, – ein kaltes, böses, bitteres Leben. Manch einen Sprung in die Tiefe hab ich selbst getan zu meiner Zeit, aber warum der Herr jenes arge Wasser geschaffen hat, ist mehr als ich je hab begreifen können. Er hat die Täler und die Triften, den guten grünen Garten und das feste, sichere Land geschaffen –

»Und sie preisen und lobsingen dir,
»Die du sie froh gemacht,« –

wie der Psalm im Versmaß sagt. Nicht, daß ich meinen Glauben auf solch Geklingel gründen möchte, aber es ist lieblich und leichter zu behalten.

»Und wer auf fernen Schiffen,
»Dem Meere sich vertraut,

»Des Herren Werk und Wunder
»In seiner Tiefe schaut,«

heißt es.

Nun, es hört sich gar anmutig an, und David hat vielleicht nicht viel vom Meere gewußt. Meiner Seel, wenn’s nicht in der Bibel stände, ich wäre versucht zu glauben, daß nicht der Herr, sondern der Böse selbst das Meer geschaffen hat. Es kommt nichts Gutes aus ihm heraus, die Fische ausgenommen; und David wird wohl an das Bild des Herrn, der auf den Fluten wandelte, gedacht haben. Arge Wunder sind’s gewesen, die Gott der ›Christ-Anna‹ gezeigt. Wunder hab ich gesagt? Gottesgerichte, Gerichte der Finsternis, dort unten, unter den Drachen der Tiefe! Und ihre Seelen – denk an ihre Seelen, Mann, die vielleicht unvorbereitet waren! Das Meer – ein strackser Weg zur Hölle!«

Mir fiel während meines Onkels Rede auf, daß seine Stimme unnatürlich bewegt und sein Benehmen ungewöhnlich erregt waren. So beugte er sich zum Beispiel bei diesen letzten Worten vor, berührte mein Knie mit gespreizten Fingern und schaute mir bleichen Antlitzes ins Gesicht; ich sah, daß in seinen Augenhöhlen Feuer brannte, und daß die Falten um seinen Mund sich spannten und zuckten.

Selbst der Eintritt Rories und der Beginn unserer Mahlzeit vermochten ihn nicht einen Augenblick von seinem Gedankengange abzubringen. Zwar ließ er sich herbei, mir einige Fragen über meine Universitätserfolge zu stellen, aber mir war, als wäre er nur halb mit den Gedanken bei der Sache, und selbst bei seinem extemporierten Tischgebet, das wie gewöhnlich lang und weitschweifig war, konnte ich die Spuren seiner Gedankentätigkeit verfolgen. Er betete, »daß Gott in Gnaden sich vier armer, schwacher, törichter und sündhafter Geschöpfe in ihrer Verlassenheit am Rande der großen, mächtigen Gewässer erbarmen möge.« –

Bald kam es zu einem Gedankenaustausch zwischen ihm und Rorie.

»War es da?« fragte mein Onkel.

»Oh ja!« sagte Rorie.

Ich bemerkte, daß beide gleichsam bei Seite und in einiger Verlegenheit sprachen, und daß Mary selbst errötete und auf ihren Teller niedersah. Teils um meine Eingeweihtheit zu zeigen, teils um die Gesellschaft der Peinlichkeit zu entreißen, teils auch aus Neugierde verfolgte ich das Thema weiter.

»Ihr meint den Fisch?« fragte ich.

»Welchen Fisch?« rief mein Onkel. »Fisch, sagt Er! Fisch! Deine Augen sind geblendet, Mann. Dein Kopf ist von weltlicher Weisheit stumpf! Fisch! Ein Geist ist es!« Er sprach mit großer Heftigkeit, wie im Zorn. Mag sein, daß ich nicht willens war, mich so kurz abweisen zu lassen, denn junge Leute lieben den Widerspruch; zum mindesten erinnere ich mich, ihm eine rasche Gegenantwort erteilt zu haben, die seinen kindischen Aberglauben verwarf.

»Und Er kommt von der Universität,« höhnte mein Onkel Gordon. »Gott weiß, was sie die jungen Leute dort lehren; sicherlich nichts Nützliches! Glaubt Er denn, Mann, daß in der salzigen Wüste da draußen Tag für Tag nichts anderes ist als Seegras, Seegetier und der Sonnenschein? Nein; das Meer ist wie das Land, nur gefährlicher. Gibt es Menschen auf dem Lande, dann auch im Meer – tot mögen sie wohl sein, aber Menschen sind es; und was die Teufel anbetrifft, so gibt es keine wie die Meerteufel. Die Landteufel sind, wenn man’s recht betrachtet, gar nicht so schlimm. Vor langer Zeit, als ich noch ein junger Bursch war, kannt‘ ich einen alten kahlen Geist im Moor von Peewie. Ich habe ihn selbst gesehen, wie er, grau wie Grabgestein, am Erdboden hockte. Und eine garstige Kröte war er, bei meiner Seel‘. Ja, wäre ein Verworfener, einer der in des Herrn Zorne wandelt, vorbeigegangen, mit der Sünde in seinen Eingeweiden, den und seinesgleichen hätte das Geschöpf wohl angesprungen. Aber im tiefen Meer gibt es Teufel, die sich selbst an einen Kommunikanten haften. Ich sage Euch, wäret Ihr mit den armen Burschen auf der ›Christ-Anna‹ untergegangen, Ihr hättet des Meeres Barmherzigkeit kennen gelernt! Hättet Ihr es so lange befahren wie ich, Ihr würdet den Gedanken an das Meer hassen, wie ich es tue. Hättet Ihr Euch der Augen bedient, die Euch der Herrgott gegeben, Ihr wäret der Bosheit jenes falschen, bitteren, kalten, unsteten Geschöpfes und alles dessen, was nach Gottes Ratschluß in ihm lebt, inne geworden: Hummer und Krebse und dergleichen, die von den Toten leben; und mächtige, großmäulige, schnaubende Wale, und die Fische samt all‘ ihresgleichen – kaltblütiges, blindäugiges, unheimliches Gezücht. Oh,« schrie er, »oh über das Grauen – das Grauen des Meeres!«

Wir waren alle ein wenig erschrocken über diesen Ausbruch, und der Sprecher selbst versank nach jenem letzten heiseren Ausruf anscheinend in seine eigenen finsteren Gedanken. Aber Rorie, der nach abergläubischen Märchen gierte, brachte ihn durch eine Frage auf das Thema zurück.

»Ihr habt wohl niemals einen Seeteufel gesehen?« fragte er.

»Nicht ausdrücklich,« erwiderte der andere. »Ich zweifle, ob ein bloßer Mensch einen ausdrücklich sehen und bei Leibe bleiben kann. Ich bin mit einem Burschen gefahren – Sandy Gabart nannten sie ihn; der hatte einen richtig gesehen und ist auch richtig dran gestorben. Wir hatten sieben Tage zuvor den Clyde verlassen – harte Arbeit hatte es gegeben – und waren nordwärts bestimmt mit Sämereien und Waren und allerlei für den Macleod. Dabei waren wir hart an die Cutchullens geraten, hatten eben bei Soa gekreuzt und hatten nun gute Fahrt, die, wie wir glaubten, wohl bis Copnahow anhalten würde. Ich weiß die Nacht noch gut; der Mond steckte in Nebelfetzen; eine starke Brise lag auf dem Wasser, stark, aber nicht stetig, und – was keiner von uns gerne hörte – über unseren Köpfen von den finsteren alten Felsen von Cutchullen her schrie und heulte ein zweiter Wind. Nun, Sandy war vorne bei dem Klüversegel, wir konnten ihn nicht sehen, denn das Großsegel, das sich grade erst aufblähte, lag dazwischen, als er ganz plötzlich aufschrie. Ich renne ums liebe Leben, denn ich dachte, wir wären allzu nahe an Soa herangeraten; aber nein, das war es nicht, es war des armen Sandys Todesschrei oder doch hart daran, denn nach einer halben Stunde war er tot. Alles was er zu sagen wußte, war, daß ein Seeteufel oder Seegeist oder Seegespenst oder dergleichen den Bugspriet hinaufgeklettert wäre und ihm einen einzigen kalten, unheimlichen Blick zugeworfen hätte. Und noch bevor Sandy den Geist aufgab, wußten wir gar wohl, was das Ding hatte besagen wollen, und warum der Wind in den Spitzen der Cutchullens heulte; denn runter kam er. Wind habe ich ihn genannt? Es war der Zornwind Gottes, und die ganze Nacht über kämpften wir wie Männer, die den Verstand verloren haben, und das erste, was wir wußten, war, daß wir in Loch Uskevagh an Land gingen, und in Benbecula krähten die Hähne.«

»Es wird woll ein Meermann gewesen sein,« sagte Rorie. »Ein Meermann!« schrie mein Onkel in maßloser Verachtung. »Altweibergeschwätz! Ein Meermann! Es gibt nichts dergleichen.«

»Aber wie sah denn das Geschöpf aus?« fragte ich.

»Wie es aussah? Gott verhüte, daß wir es erfahren möchten! Es trug eine Art Kopf auf den Schultern – mehr wußte kein Mensch zu sagen.«

Dann erzählte Rorie, den die Kränkung brannte, verschiedene Geschichten von Meermännern, Meerjungfern und Seepferden, die auf den Inseln an Land gestiegen seien und die Besatzungen der Schiffe auf dem Meere angegriffen hätten, und mein Onkel hörte trotz seines Unglaubens mit unruhigem Interesse zu.

»Gut, gut,« sagte er, »es mag ja so gewesen sein; vielleicht habe ich unrecht; aber ich finde kein Wort von Meermännern in der Schrift.«

»Ihr werdet wohl auch kein Wort von Aros Roost dort finden,« warf Rorie ein, und sein Einwand schien zu überzeugen.

Nach dem Essen führte mein Onkel mich hinaus ins Freie nach einem Abhang hinter dem Hause. Es war ein heißer, stiller Nachmittag; kaum daß hin und wieder eine schwache Welle das Meer kräuselte, und kaum ein Laut, außer den vertrauten Stimmen der Schafe und Möwen. Dieser Stille in der Natur war es vielleicht zu verdanken, daß mein Verwandter sich vernünftiger und ruhiger zeigte. Er sprach gleichmäßig und fast heiter von meiner Laufbahn, mit gelegentlichen Hinweisen auf das verlorene Schiff oder die Schätze, die es nach Aros gebracht. Ich meinerseits hörte ihm gleichsam wie im Traume zu, betrachtete aus vollem Herzen die wohlbekannte Szene und trank freudig die Seeluft und den Rauch der Torfstücke, die Mary angezündet hatte.

Wohl eine Stunde war so vergangen, als mein Onkel, der die ganze Zeit über verstohlen den Wasserspiegel der kleinen Bucht beobachtet hatte, sich erhob und mich bat, seinem Beispiele zu folgen. Hier muß ich hinzufügen, daß die starke Flut an der Südwestspitze von Aros eine beunruhigende Wirkung rings auf die ganze Küste ausübt. Im Süden, in der Bucht von Sandag, herrscht zu gewissen Zeiten von Flut und Ebbe eine kräftige Strömung; in der nördlichen Bucht, der Bucht von Aros dagegen, wo das Haus steht, auf die mein Onkel jetzt herniederblickte, waren einzig gegen Schluß der Ebbe gewisse Zeichen sichtbar, – und auch die zu schwach, um aufzufallen. Bei bewegtem Wasser war überhaupt nichts zu sehen; bei Meeresstille jedoch, wie sie häufig herrscht, tauchen auf dem glasigen Wasserspiegel gewisse rätselhafte, wirre Zeichen auf – Seerunen könnte man sie nennen. – Dergleichen ist an tausend Stellen an der Küste zu finden, und manch junger Bursch mag sich, wie ich, die Zeit damit vertrieben haben, daß er sich mühte, aus ihnen irgendwelche Beziehungen zu sich selbst oder zu denen, die ihm teuer waren, herauszulesen. Auf diese Zeichen lenkte mein Onkel jetzt, einen tiefen Widerwillen bekämpfend, meine Aufmerksamkeit.

»Siehst du das Zeichen dort auf dem Wasser?« fragte er, »das neben dem grauen Stein? Ja? Es wird doch kein Buchstabe sein, was meinst du?«

»Natürlich ist es einer,« antwortete ich. »Ich habe es schon oft bemerkt. Es gleicht einem C.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als hätte ihn meine Antwort bitter enttäuscht, und fügte dann leise hinzu: »Ja, ja. Für die Christ-Anna.«

»Ich habe es früher stets auf mich selbst bezogen, Oheim,« sagte ich, »auf meinen Namen Charles.«

»Du hast es also schon früher gesehen?« fuhr er fort, ohne auf meine Bemerkung zu achten. »So, so. Aber gar geheuer ist es doch nicht. Vielleicht hat es dort schon die liebe lange Zeit bis auf den heutigen Tag gelauert. Mann, ist das ein grausiger Gedanke!« Er brach plötzlich ab. »Du siehst doch wohl kein zweites?« fragte er.

»Doch,« sagte ich. »Ich sehe einen zweiten Buchstaben ganz deutlich, nahe bei der Roß, dort wo der Weg mündet, – ein M.«

»Ein M,« wiederholte er sehr leise. »Und wie deutest du das?« erkundigte er sich.

»Ich glaubte immer, daß es Mary bedeutete, Oheim,« antwortete ich errötend, überzeugt, daß ich an der Schwelle einer entscheidenden Erklärung stände.

Allein jeder von uns verfolgte, des anderen nicht achtend, seine eigenen Gedanken. Mein Onkel schenkte meinen Worten wiederum keine Aufmerksamkeit, sondern ließ schweigend den Kopf hängen, und ich hätte annehmen können, daß er mich überhaupt nicht gehört, wäre seine nächste Rede nicht eine Art Echo der meinigen gewesen.

»Ich würd‘ nichts von dem Geschwätz zu Mary sagen,« bemerkte er und begann weiterzugehen.

Am Rande der Bucht von Aros läuft ein Rasenstreifen, auf dem leicht gehen ist; ihm entlang folgte ich schweigend meinem schweigenden Verwandten. Vielleicht war ich auch ein wenig enttäuscht, eine so gute Gelegenheit für mein Liebesgeständnis versäumt zu haben. Weit stärker jedoch beschäftigte mich die Veränderung, die mit meinem Onkel vorgegangen war. Er war niemals ein gewöhnlicher oder, im engeren Sinne des Wortes, liebenswürdiger Mensch gewesen; aber selbst in seinen schlimmsten Zeiten hatte ich nichts gekannt, was eine solch merkwürdige Veränderung hätte ahnen lassen. Unmöglich konnte man sich der Tatsache verschließen, daß ihn etwas drückte; und als ich im Geiste die verschiedenen Worte an mir vorüberziehen ließ, die sich durch den Buchstaben M ausdrücken ließen, – Misere, Mary, Milde, Mangel, Mißgunst und so weiter – hielt ich mit einer Art Schrecken bei dem Worte Mord inne. Ich war dabei, den häßlichen Klang und die verhängnisvolle Bedeutung des Wortes zu erwägen, als die Richtung unseres Spazierganges uns an einen Punkt brachte, von wo aus sich die Aussicht nach beiden Seiten erschloß, rückwärts nach der Bucht von Aros und dem Gehöft und vorwärts auf die hohe See, in der im Norden eine Reihe verstreuter Inseln lagen, und die sich nach Süden hin blau und offen dem Himmel entbreitete. Hier blieb mein Führer stehen und starrte eine Weile auf die ungeheure Fläche. Dann legte er, sich zu mir wendend, eine Hand auf meinen Arm.

»Du meinst, dort drinnen wäre nichts?« fragte er, mit seiner Pfeife die Richtung andeutend. Und plötzlich rief er laut in einer Art Ekstase: »Ich sage dir, Mann, die Toten sind dort drunten – zahlreich wie die Ratten!«

Er drehte sich schroff um, und wir gingen, ohne ein weiteres Wort, den Weg zurück nach dem Haus von Aros. Ich brannte darauf, mit Mary allein zu sein; aber erst nach dem Abendessen gelang es mir, sie zu sprechen, und dann nur auf kurze Zeit. Ich hielt mich nicht mit Umwegen auf, sondern redete grade heraus von dem, was mir am Herzen lag.

»Mary,« sagte ich, »ich bin nicht ohne Hoffnung nach Aros gekommen. Sollte sie begründet sein, so können wir alle vielleicht fort von hier, an einen anderen Ort, und des täglichen Brotes und einigen Behagens sicher sein; ja, weit mehr als das wird uns vielleicht blühen, das zu versprechen jetzt in mir als Überschwang erscheinen möchte. Doch es gibt eine Hoffnung, die meinem Herzen näher liegt als Geld.« Hier machte ich eine Pause. »Du wirst leicht erraten, was das ist, Mary,« sagte ich. Sie blickte schweigend von mir hinweg. Das war nun gar geringe Ermutigung, aber ich ließ mich nicht irre machen. »Mein Lebtag habe ich die ganze Welt von dir gehalten,« fuhr ich fort; »die Zeit verfliegt, und ich halte nur noch mehr von dir. Im Leben könnt‘ ich nicht dran denken, ohne dich glücklich oder froh zu werden: du bist mein Augapfel.« Noch immer blickte sie hinweg und sprach kein Wort, aber ich meinte ihre Hände zittern zu sehen. »Mary,« rief ich angstvoll, »magst du mich nicht?«

»O, Charlie, Bub, ist es an der Zeit, davon zu sprechen?« sagte sie. »Laß mich noch eine Weile; laß mich, wie ich bin. Das Warten soll dein Schaden nicht sein!«

Aus ihrer Stimme erriet ich, daß sie dem Weinen nahe war, und hatte nur noch den einen Gedanken, sie zu trösten. »Mary Ellen,« sagte ich, »nichts mehr davon; ich bin nicht gekommen, um dich zu betrüben: dein Weg sei mein Weg, und deine Zeit soll meine sein. Du hast mir alles gesagt, was ich zu wissen wünschte. Und jetzt nur noch das eine: was quält dich?«

Sie gestand, daß es ihr Vater sei, wollte aber auf nichts eingehen, sondern schüttelte nur den Kopf und sagte, daß er nicht wohl und nicht er selber sei, und daß es jammerschade wäre. Von dem Wrack wußte sie nichts. »Ich bin nicht dort gewesen,« sagte sie. »Weshalb sollte ich dorthingehen, Charlie, Bub? Die armen Seelen sind längst zur Rechenschaft gezogen, und ich wollte, sie hätten ihr Gut mitgenommen, die Ärmsten.«

Das klang nun freilich nicht sonderlich ermutigend für meine Absicht, ihr von der »Espiritu Santo« zu erzählen, aber ich tat es dennoch, und schon beim ersten Wort stieß sie einen Ruf der Überraschung aus. »Im Monat Mai,« sagte sie, »war einer in Grisapol, ein kleiner, gelber, schwarzer Kerl, sagen die Leute, mit goldenen Ringen an den Fingern und einem Barte, und er hat allenthalben weit und breit nach dem gleichen Schiffe gesucht.«

Es war gegen Ende April gewesen, daß Dr. Robertson mir jene Papiere gegeben hatte, und plötzlich dämmerte mir auf, daß sie für diesen spanischen Geschichtsforscher oder für einen Mann, der sich als solchen ausgab, und der mit vornehmen Empfehlungen versehen sich wegen einer Forschungsexpedition über den Verbleib der großen Armada an den Rektor gewandt hatte, vorbereitet wurden. Wenn ich eins zum andern fügte, glaubte ich, daß der Besuch mit den goldenen Ringen an den Fingern vielleicht mit Dr. Robertsons Geschichtsschreiber aus Madrid identisch war. In dem Falle war es wahrscheinlich, daß er eher für sich selbst als zur Information einer gelehrten Gesellschaft nach dem Schatze suchte. Ich beschloß daher, bei meinen Nachforschungen keine Zeit zu verlieren; lag das Schiff in der Sandager Bucht, wie wohl er und ich vermuteten, so sollte es nicht diesem beringten Abenteurer, sondern Mary und mir und der guten, alten, ehrlichen und freundlichen Familie Darnaway zugute kommen.

Drittes Kapitel


Land und See in der Bucht von Sandag

Ich war am nächsten Morgen früh munter und machte mich, sobald ich einen Bissen gegessen hatte, auf meinen Forschungsgang. Eine innere Stimme sagte mir ganz deutlich, daß ich das Schiff der Armada finden würde; und wenn ich mich auch nicht gänzlich diesen hoffnungsfrohen Gedanken hingab, war ich doch leichten Herzens und wandelte wie auf Luft. Aros ist eine sehr rauhe kleine Insel; ihr Boden ist mit großen Felsblöcken bedeckt und zottig von Farn und Heidekraut. Mein Weg führte mich in fast grader nordsüdlicher Richtung über den höchsten Hügelrücken hinweg, und obwohl die ganze Entfernung noch keine zwei Meilen betrug, brauchte ich dazu doch mehr Zeit und Kraft als zu vier Meilen ebenen Weges. Auf der Anhöhe hielt ich an; sie war nicht sehr hoch – noch keine dreihundert Fuß nach meiner Schätzung –, überragte aber das benachbarte Flachland der Roost um vieles und gewährte eine umfassende Aussicht auf das Meer und die Inseln. Die Sonne, die schon eine ganze Weile aufgegangen war, brannte heiß auf meinen Nacken; die Luft war schwül und gewitterschwer, wenn auch von durchsichtiger Klarheit. Nordwestlich, in weiter Ferne, wo die Inseln am dichtesten lagen, hatte sich ein halb Dutzend kleiner Wolkenfetzen zusammengeballt, und das Haupt Ben Kyaws trug nicht nur einige Nebelschleier, sondern eine feste Nebelhaube. Eine Drohung lag im Wetter. Wohl war das Meer so glatt wie Glas: selbst die Roost glich nur einem weißen Rand am weiten Wasserspiegel und die ›Tollen Männer‹ einer Reihe von Schaumkappen. Aber meinen Augen und Ohren, denen alle diese Orte so vertraut waren, erschien des Meeres Schlummer voller Unruhe. Ein Laut, einem langen Seufzer ähnlich, stieg zu mir empor, und die Roost selbst schien mir in ihrer Ruhe auf Unheil zu sinnen, muß ich doch hinzufügen, daß wir alle, die wir in diesen Gegenden lebten, diesem seltsamen und gefährlichen Geschöpf der Fluten wenn auch nicht prophetisches Wissen, so doch zum mindesten die Gabe warnender Prophezeiung beimaßen.

Ich beschleunigte meinen Schritt und war bald den Aroser Abhang hinunter nach jenem Teil abgestiegen, den wir die Bucht von Sandag nennen. Diese ist im Vergleich zu der Insel selbst ein ziemlich großes Wasser, gegen alles, die vorherrschenden Winde ausgenommen, wohl geschützt, sandig und schal, im Westen von niedrigen Dünen begrenzt und im Osten sich an einige klafterhohe Felsen anschmiegend. Dies war die Seite, wo zu gewissen Zeiten der Flut die von meinem Onkel erwähnte Strömung stark gegen die Bucht trieb; kurz danach jedoch, wenn die Roost zu steigen beginnt, setzt eine noch stärkere, tiefere Gegenströmung ein, und sie ist es auch wohl gewesen, die den Boden hier so tief ausgehöhlt hat. Von der Bucht von Sandag aus ist nichts als ein kleiner Ausschnitt des Horizontes sichtbar und, bei schwerer See, die Sturzwellen, die sich an einem unsichtbaren Riffe brechen.

Schon von der halben Berghöhe herab erkannte ich das Wrack vom vergangenen Februar, eine Brigg von beträchtlicher Tonnage, die mit zerbrochenem Rücken hoch und trocken im östlichen Winkel der Dünen lag. Ich hielt in grader Richtung auf sie zu und hatte bereits den Dünenrand fast erreicht, als mein Blick plötzlich wie gebannt auf eine von Farn und Heidekraut gesäuberte Stelle fiel, auf der sich einer jener niedrigen, länglichen, gräberähnlichen Hügel erhob, die wir von den Friedhöfen her so gut kennen. Ich hielt, wie von einer Kugel getroffen, inne. Man hatte mir nichts von einer Leiche oder einem Begräbnis hier auf der Insel gesagt; Rorie, Mary und mein Onkel hatten alle drei geschwiegen. Von Mary zum mindesten war ich überzeugt, daß sie nichts wußte; dennoch stand hier vor meinen Augen der unumstößliche Beweis einer Tatsache. Hier war ein Grab; und ich mußte mich mit einem Schauder fragen, welche Art von Mensch dort seinen letzten Schlaf hielt und an jener öden, meerumbrausten Ruhestatt des Zeichens des Herrn harrte? Mein Geist gab mir keine Antwort, außer der einen, die ich anzunehmen mich fürchtete. Schiffbruch mußte er unter allen Umständen erlitten haben; vielleicht stammte er wie die ehemaligen Matrosen der Armada aus einem gesegneten Lande jenseits des Meeres; vielleicht war er einer meines Stammes, der mit dem Rauch seiner heimatlichen Hütte vor Augen hier elendiglich verderben mußte. Ich stand eine Weile barhäuptig an seiner Seite und wünschte fast, es hätte in unserer Religion gelegen, für den unglücklichen Fremdling ein Gebet zu sprechen oder nach altem klassischen Brauch sein Mißgeschick äußerlich zu ehren. Ich wußte wohl, daß seine unsterbliche Seele, obgleich sein Gebein dort als ein Teil von Aros ruhte, bis die Posaune des Gerichts ertönte, in weite Fernen entflohen war, um die Wonnen des ewigen Sabbats oder die Qualen der Hölle zu kosten. Dennoch zitterte ich innerlich wie vor Furcht, daß er, während ich an seiner Grabstätte wachte, sich in meiner Nähe an dem Ort seiner Leiden aufhielt.

Gewiß ist, daß ich mit gleichsam überschattetem Gemüt mich von dem Grab hinweg dem kaum weniger melancholischen Schauspiel des Wracks zuwandte. Der Schiffsrumpf lag höher, als die ersten Flutwellen reichten; und dicht vor dem Vordermast oder vor der Stelle, wo er gesessen hatte – denn jetzt, wahrlich, besaß das Schiff keine Masten mehr, da beide bei dem Unglück abgebrochen waren – war er zersplissen; und da der Strand sich scharf neigte, und der Bug viele Fuß tiefer lag als das Heck, klaffte der Riß weit auseinander, so daß man durch das ganze arme Schiff hindurch bis auf die andere Seite sehen konnte. Sein Name war auch schwer lesbar, und ich konnte nicht klar erkennen, ob es nach der norwegischen Stadt Christiania oder nach der guten Christin in dem alten Buch, Christian Weib, Christiana getauft war. Dem Bau nach war es ein ausländisches Schiff, ich konnte seine Nationalität indes nicht feststellen. Ursprünglich war es grün gestrichen gewesen, aber die Farbe war abgeblaßt und verwittert und schälte sich in Streifen ab. Die Trümmer des Hauptmastes lagen zur Hälfte im Sande begraben daneben. Es bot in der Tat einen trostlosen Anblick, und ich sah nicht ohne Bewegung die Tauenden ihm zur Seite baumeln, die in den Händen so mancher lärmender Matrosen gewesen, oder die kleine Springluke, die die Leute bei ihrer Arbeit hinauf- und hinabgeeilt, oder den armen nasenlosen Engel von einer Gallionsfigur, der in so manche Woge hinabgetaucht war.

Ich weiß nicht, ob sie in erster Linie vom Schiff oder von dem Grab ausgingen, aber ich empfand, als ich so mit der einen Hand gegen die zerbeulten Planken gelehnt dastand, plötzlich einige melancholische Skrupel. Die Heimatlosigkeit der Menschen, ja selbst der leblosen Schiffe, die an fremdem Ufer gestrandet sind, fiel mir schwer auf die Seele. Aus dergleichen jammervollen Mißgeschicken Profit zu schlagen, erschien mir als eine unmännliche und schmutzige Handlung, und ich fing an, meine Aufgabe für eine Art Sakrileg zu halten. Als ich mich indes Marys erinnerte, faßte ich wieder Mut. Mein Onkel würde niemals in eine unvorsichtige Heirat willigen und sie, nach meiner festen Überzeugung, nie ohne seine volle Zustimmung heiraten. Es kam mir also zu, für meine Frau zu sorgen, und, mich selbst auslachend, dachte ich daran, wie lang es her sei, daß jene schwimmende Burg, die »Espiritu Santo«, ihr Gerippe in der Bucht von Sandag gelassen, und welche Schwäche es wäre, so lang erloschene Rechte und Schicksalsschläge, die im Laufe der Zeit längst vergessen waren, zu achten.

Ich hatte meine Theorie, nach der ich nach den Überresten suchen wollte. Die Richtung der Strömung wie die Lotmessungen wiesen mich nach der Ostseite der Bucht unter die Felsvorsprünge. War das Schiff wirklich in der Bucht von Sandag gescheitert, und hielten nach all den Jahrhunderten noch einige Trümmer davon zusammen, so mußte ich es dort finden. Das Wasser erreicht, wie gesagt, sehr bald eine große Tiefe und mißt hart an den Uferfelsen bereits mehrere Faden. Wie ich so am Rande spazieren ging, konnte ich weit und breit den sandigen Meeresboden überschauen. Die Sonne leuchtete klar und stetig in seine grünen Tiefen. Die Bucht schien einem ungeheuren durchsichtigen Kristall zu gleichen; nichts verriet das Wasser außer einem leisen Beben im Innern, einem Zittern der Sonnenstrahlen und des Netzwerks von Schatten und einem gelegentlichen matten Plätschern und ersterbendem Glucksen am Uferrand. Die Schatten der Felsen erstreckten sich zu ihren Füßen um einige Längen ins Meer hinaus, so daß mein eigener Schatten, wenn ich mich weiterbewegte und tief über den Rand beugte, mitunter über die halbe Bucht hinausragte. Dieser Schattengürtel war es, den ich vor allem nach der »Espiritu Santo« durchforschte, denn hier war auch die Unterströmung am stärksten. So kühl die ganze Wasserfläche an jenem siedend heißen Tage schien, hier lockte sie am kühlsten und barg in meinen Augen eine geheimnisvolle Anziehungskraft. So sehr ich indes auch spähte, ich vermochte nichts zu entdecken als einige Fische oder einen Klumpen Seetang und verstreutes Gestein, das von oben abgebröckelt war und jetzt am sandigen Meeresboden ruhte. Zweimal schritt ich von einem Ende des Felsgestades bis zum anderen, ohne irgendwo eine Spur des Wracks oder mit einer einzigen Ausnahme auch nur eine Stelle zu finden, wo es möglicherweise hätte sein können. Letztere war eine große Felsterrasse, die sich in einer Tiefe von rund fünf Faden ziemlich hoch vom Sandboden abhob, und die, von oben gesehen, einem Auswuchs der Felsen glich, auf denen ich stand. Das Ganze bildete eine einzige, grottenähnliche Masse von Seetang, deren wahre Beschaffenheit ich nicht erkennen konnte, die jedoch in Größe und Form einem Schiffsrumpf nicht unähnlich war. Hier, zum mindesten, war meine beste Chance. Lag die »Espiritu Santo« nicht dort unter dem Seetang begraben, dann lag sie überhaupt nicht in der Sandager Bucht; ich bereitete mich daher vor, diese Frage ein für allemal zu entscheiden und entweder als reicher Mann nach Aros zurückzukehren oder auf ewig von meinen Träumen kuriert zu sein.

Ich entkleidete mich vollständig und stellte mich zaudernd, mit gefalteten Händen, hart am Rande auf. Die Bucht lag in jener Stunde vollkommen regungslos; weit und breit kein Laut, außer von einer Schar von Tümmlern, die irgendwo außer Sicht hinter der Landzunge ihre Versammlung hielten; dennoch hielt mich eine gewisse Furcht auf der Schwelle meines Abenteuers zurück. Trübselige Meeresgedanken, Bruchstücke von meines Onkels Aberglauben, Bilder von Toten, von Gräbern und zerborstenen alten Schiffen zogen an meinem Innern vorüber. Allein die kräftige Sonne auf meinen Schultern wärmte mich bis ins Herz hinein, und ich beugte mich vornüber und tauchte in die See.

Mit äußerster Anstrengung vermochte ich einen Büschel des Seetangs, der die Terrasse so dicht umwucherte, zu fassen. Dank diesem provisorischen Anker sicherte ich mich vollkommen, indem ich einen ganzen Armvoll des starken, schleimigen Gewächses ergriff. Meine Füße gegen den Rand stemmend, blickte ich mich um. Nach allen Seiten erstreckte sich die ebene Sandfläche, bis zu den Füßen der Felsen hin, wo durch den Wechsel der Fluten ein Gang ausgegraben war, der einem Gartenweg glich. Vor mir lag, so weit ich sehen konnte, nichts als der gleiche sanft-wellige, von der Sonne durchflutete Meeresboden. Allein die Terrasse, an die ich mich klammerte, war mit starken Gewächsen so dicht bestanden wie ein Moorhügel mit Heidekraut, und der Felsen, aus dem sie hervorquollen, war unter der Oberfläche mit einem Vorhang braunen Tangs drapiert. In diesem Labyrinth von Formen, die sich in der Wellenbewegung hin und her schaukelten, waren die Dinge schwer zu unterscheiden; und ich war nach wie vor unsicher, ob meine Füße sich gegen die natürliche Felswand oder gegen die Planken des Schatzschiffes der Armada stemmten, als der gesamte Tangbüschel in meiner Hand nachgab. Im Nu war ich an der Oberfläche, und die Ufer der Bucht und das lichte Wasser schwammen in purpurner Glorie vor meinen Augen. Ich kletterte auf die Felsen zurück und warf die Meerpflanze vor meine Füße zu Boden. Im gleichen Augenblick gab es einen hellen Klang, wie von einer fallenden Münze. Ich bückte mich, und wahrhaftig! – dort lag eine mit Rost bezogene eiserne Schuhschnalle. Der Anblick dieser armen menschlichen Reliquie griff mir ans Herz; aber nicht mit Hoffnung oder Furcht, sondern mit trübseligster Melancholie. Ich nahm sie in die Hand, und der Gedanke an ihren Besitzer tauchte wie die leibhaftige Gegenwart eines lebendigen Menschen vor mir auf. Sein wettergebräuntes Gesicht, seine Seemannshände, seine vom Schreien vor dem Ankerspill heisere Matrosenstimme, ja der Fuß sogar, der einstmals jene Schnalle auf unsicher schwankendem Deck getragen hatte – seine ganze menschliche Körperlichkeit, die einem Geschöpf, wie ich selbst es war, glich, mit Haaren, Blut und sehenden Augen – erschien mir in jener sonnigen Einsamkeit nicht wie ein Gespenst, sondern wie ein Freund, dem ich ein feiges Unrecht angetan. Lag das mächtige Schatzschiff mit seinen Kostbarkeiten, Ketten und Kanonen, so wie es vor Spanien in See gestochen, tatsächlich dort unten? Sein Deck ein Garten für die Meeralgen, seine Kabine ein Brutplatz für Fische, geräuschlos bis auf das dumpf schlagende Wasser, bewegungslos, den schaukelnden Seetang auf seiner Brustwehr ausgenommen; jene alte, volkreiche, schwimmende Burg jetzt ein Riff in der Sandager Bucht? Oder, was mir wahrscheinlicher erschien, war dies nur ein Stückchen Strandgut aus dem Schiffsunglück der fremden Brigg? War diese Schuhschnalle erst vor kurzem gekauft und von einem Manne getragen worden, der aus der Weltgeschichtsperiode stammte, die auch die meine war, der tagtäglich dieselben Neuigkeiten erfahren, der die gleichen Gedanken gedacht, ja der vielleicht im selben Gotteshaus wie ich gebetet hatte? Wie dem auch sein mochte, düstere Gedanken stürmten auf mich ein; die Worte meines Onkels: »Die Toten sind dort unten«, klangen in meinen Ohren, und obgleich ich noch einmal unterzutauchen beschloß, trat ich doch voll heftigen Widerwillens an den Felsrand.

Im gleichen Augenblick ging eine starke Veränderung über das Antlitz der Bucht. Verschwunden war das klare, durchsichtige Innere, das einem mit Glas gedeckten Hause glich, in dem der grüne Meersonnenschein lautlos schlummerte. Eine Brise hatte wohl ihre Oberfläche getrübt, und eine Art finstere Unruhe erfüllte ihren Busen, in dem grelle Lichter und wolkige Schatten durcheinander wirbelten. Selbst durch die unterirdische Terrasse lief ein verschwommenes Beben. Es schien plötzlich eine ernstere Sache geworden zu sein, sich an jenen Ort voll lauernder Gefahren zu wagen; und als ich zum zweiten Male in das Meer hinabsprang, geschah es zitternden Herzens.

Ich verankerte mich wie bei dem ersten Mal, und suchte tastend in dem wiegenden Tang umher. Alles, worauf ich stieß, fühlte sich kalt, weich und gallertartig an. Das Dickicht wimmelte von Krabben und Hummern, die ungeschickt hin und her watschelten, und ich mußte mein Herz gegen die Greuel ihrer Aaswelt stählen. Allseitig fühlte ich die Risse und Adern lebendigen Gesteins; keine Balken, kein Eisen, keinerlei Spuren eines Wracks; hier lag die »Espiritu Santo« nicht. Ich weiß, daß mich statt der Enttäuschung fast ein Gefühl der Erleichterung überkam, und ich wollte schon aufhören, als etwas geschah, das mich zu Tode erschrocken an die Oberfläche schnellen ließ. Ich hatte mich bei meinen Untersuchungen etwas verspätet; mit dem Flutwechsel wurde die Strömung stärker, und die Bucht von Sandag hatte aufgehört, für einen Einzelschwimmer gefahrlos zu sein. Nun, gerade im letzten Augenblick, zog die Strömung plötzlich stark an und überschwemmte das Meergestrüpp wie eine Welle. Ich verlor meinen Halt und wurde auf die Seite geschleudert, und als ich instinktiv nach einem neuen Halt suchte, schlossen sich meine Finger über etwas Hartem und Kaltem. Ich glaube, ich wußte sofort, was es war. Wenigstens ließ ich den Tang augenblicks fahren, schnellte an die Oberfläche und kletterte in der darauf folgenden Sekunde auf die hilfreichen Felsen hinauf, einen menschlichen Beinknochen umklammernd.

Der Mensch ist ein materielles Geschöpf, langsam im Denken und träge in der Erkenntnis der Zusammenhänge. Das Grab, das Wrack der Brigg, die rostige Schuhschnalle waren sicherlich deutliche Anzeichen. Ein Kind hätte ihre traurige Geschichte lesen können; dennoch packte mich das ganze Grauen vor dem Beinhaus des Meeres erst in dem Augenblick, als ich dieses Stück Mensch leibhaftig in Händen hielt. Ich legte den Knochen neben die Schnalle, raffte meine Kleider auf und rannte so, wie ich war, über die Felsen nach dem bewohnten Gestade. Ich konnte mich nicht weit genug von dem Orte entfernen; kein Schatz war groß genug, um mich zurückzulocken. Das Gebein der Ertrunkenen sollte in Zukunft vor mir sicher sein, mochte es nun auf Seetang oder auf gemünztem Golde ruhen. Sobald ich jedoch wieder auf der guten Erde stand und meine Nacktheit vor der Sonne geschützt hatte, kniete ich, mit dem Gesicht dem Wrack zugewandt, nieder und sandte aus vollem Herzen ein langes, leidenschaftliches Gebet für alle armen Seelen auf dem Meere zum Himmel. Eine warmherzige Bitte ist niemals umsonst; sie mag verweigert werden, aber der Bittende wird, meinem Glauben nach, stets entlohnt durch eine gnadenvolle Heimsuchung. Das Grauen, zum mindesten, wurde von mir genommen; ich vermochte wieder mit ruhigem Gemüt jene gewaltige, strahlende Schöpfung Gottes, das Meer, zu betrachten, und als ich heimwärts den rauhen Abhang von Aros erklomm, war mir von meiner Sorge nichts geblieben als der feste Entschluß, mich nie wieder mit dem Raube gestrandeter Schiffe oder mit den Schätzen der Toten einzulassen.

Ich hatte bereits einen guten Teil des Weges zurückgelegt, als ich innehielt, um Atem zu schöpfen und mich umzusehen. Der Anblick, der sich mir bot, war doppelt merkwürdig.

Der Sturm, den ich vorausgesehen hatte, näherte sich mit fast tropischer Schnelligkeit. Der auffallend leuchtende Meeresspiegel hatte den häßlich stumpfen Hauch runzeligen Bleis angenommen. Schon begannen die weißen Wogen am Horizont, ›des Schiffers Töchter‹, vor einer Brise zu fliehen, von der man in Aros noch nichts spürte, und von längs den Krümmungen der Sandager Bucht drang der Anprall schäumender Wellen zu mir herüber. Die Veränderung am Himmel war noch auffallender. Im Südwesten war ein ganzer Kontinent schwerer drohender Wolken aufgestiegen, aus dessen Rissen die Sonne eine Garbe von Lichtstrahlen sandte, während von seinen Rändern her tintenschwarze Wolkenstreifen den noch unbewölkten Himmel durchzogen. Die Gefahr war nicht zu verkennen und rückte immer näher. Noch während ich stand und schaute, wurde die Sonne ausgelöscht. Jeden Augenblick konnte das Unwetter mit aller Macht über Aros losbrechen.

Die Plötzlichkeit dieses Wetterwechsels hielt meinen Blick so fest am Himmel gebannt, daß einige Sekunden vergingen, ehe ich ihn auf die zu meinen Füßen ausgebreitete und im nächsten Augenblick der Sonne beraubte Bucht richtete. Die Anhöhe, auf der ich stand, überschaute seitlich ein kleines Amphitheater niedriger und zur See abfallender Hügel und daran anschließend den halbmondförmigen Strand und die Sandager Bucht in ihrer ganzen Ausdehnung. Auf diese Szene hatte ich so manches Mal hinabgeblickt, ohne jemals einen Menschen wahrzunehmen. Eben erst hatte ich ihrer Einsamkeit den Rücken gekehrt; wer beschreibt daher mein Erstaunen, als ich an jenem verlassenen Ort ein Boot mit einer Reihe von Männern sah? Das Boot war neben den Felsen gelandet. Zwei barhäuptige Burschen in Hemdsärmeln und mit einem Bootshaken bewaffnet, hielten es bei der immer stärker werdenden Strömung mit Mühe und Not am Ankerplatz fest, während etwas weiter weg am Uferrand zwei schwarzgekleidete Männer von anscheinend höherem Range ihre Köpfe über einer Sache zusammensteckten, die ich auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, die mir aber eine Sekunde später klar wurde – sie waren dabei, mit dem Kompaß ihren gegenwärtigen Standort festzustellen. Gerade in diesem Augenblick sah ich den einen eine Papierrolle entbreiten und mit dem Finger darauf zeigen, als vergleiche er einzelne Punkte auf der Landkarte. Währenddessen schritt ein dritter auf und ab, stöberte in den Felsen umher und spähte über den Rand ins Wasser. Während ich sie noch in lähmender Verwunderung anstarrte und mein Geist das mühsam zu erfassen suchte, was meine Augen ihm berichteten, bückte sich dieser dritte plötzlich zu Boden und holte seine Gefährten mit einem so lauten Ruf herbei, daß es bis zu mir herübertönte. Die anderen liefen auf ihn zu, wobei sie in ihrer Eile sogar den Kompaß fallen ließen, und ich konnte den Knochen und die Schuhschnalle unter den außergewöhnlichsten Gesten und Ausrufen der Überraschung von Hand zu Hand wandern sehen. Im gleichen Augenblick hörte ich die Seeleute aus dem Boot herüberrufen und sah sie westwärts auf die Wolkenmasse zeigen, die mit wachsender Geschwindigkeit den Himmel einhüllte. Die anderen schienen zu beraten, allein die Gefahr war zu bedeutend, als daß man ihr hätte trotzen können, und so sprangen sie ins Boot, meine Funde mit sich nehmend, und machten sich mit aller Kraft der Ruder davon.

Ich machte kein Aufsehen von der Angelegenheit, sondern wandte mich um und lief nach Hause. Wer diese Männer auch sein mochten, mein Onkel mußte sofort von ihrer Anwesenheit erfahren. Die Zeiten waren damals noch so, daß ein Einfall der Jakobiten nicht unmöglich erschien; vielleicht war gar Prinz Charlie, von dem ich wußte, daß mein Onkel ihn haßte, einer der drei Führer, die ich auf den Felsen gesehen hatte. Allein während ich von Stein zu Stein sprang und im Laufen die Sache überdachte, erschien mir diese Möglichkeit mehr und mehr unwahrscheinlich. Der Kompaß, die Landkarte, das Interesse, das sie an der Schnalle genommen, und das Benehmen des einen Fremden, der so oft ins Wasser gestarrt hatte, alles schien auf eine ganz andere Erklärung für ihre Gegenwart auf diesem entlegenen, unbekannten Inselchen des westlichen Ozeans hinzudeuten. Der Madrider Historiker, die von Dr. Robertson eingeleiteten Untersuchungen, der bärtige Fremde mit den Ringen, mein eigenes fruchtloses Suchen am gleichen Morgen in den Tiefen der Sandager Bucht reihten sich in meinem Gedächtnis Stück für Stück aneinander, und plötzlich war ich gewiß, daß die Spanier auf der Jagd waren nach dem verschollenen Schatz und dem untergegangenen Schiff der Armada. Nun sind aber die auf entlegenen Inseln wie Aros wohnenden Leute für ihre Sicherheit selbst verantwortlich; in der Nähe ist niemand, der sie beschützen oder ihnen auch nur zu Hilfe eilen könnte, und die Gegenwart einer Bande ausländischer Abenteurer, die arm, habgierig und aller Wahrscheinlichkeit nach auch gesetzlos waren, erfüllte mich mit Befürchtungen für meines Onkels Geld, ja selbst für die Sicherheit seiner Tochter. Ich überlegte mir immer noch, wie wir sie loswerden könnten, als ich außer Atem auf der Aroser Anhöhe ankam. Die ganze Welt lag im Schatten; nur im äußersten Osten an einer Bergspitze des Festlandes hing ein verspäteter Sonnenstrahl wie ein Edelstein. Es hatte zu regnen begonnen, nicht stark, aber in schweren Tropfen; das Meer wurde mit jedem Augenblicke unruhiger, und schon schlang sich ein weißer Gürtel um Aros und die benachbarte Küste von Grisapol. Das Boot hielt immer noch auf die See zu, und jetzt entdeckte ich erst, was mir vorhin auf halber Höhe verborgen geblieben war – einen großen, vielmastigen, stattlichen Schoner, der an der Südspitze von Aros vor Anker lag. Da ich ihn am Morgen, als ich so angelegentlich nach den Wetteraussichten ausgespäht, nicht gesehen hatte, und ein Segel an dieser einsamen Küste eine Seltenheit war, war es klar, daß er vorige Nacht hinter der wüsten Insel Gour vor Anker gegangen sein mußte, womit der unumstößliche Beweis geliefert war, daß seine Bemannung die hiesige Küste nicht kannte: denn jener Ankerplatz ist trotz seines sicheren Aussehens nicht viel mehr als eine Schiffsfalle. Bei einer so unwissenden Schiffsmannschaft an einer so ungastlichen Küste schien es nicht unwahrscheinlich, daß der kommende Sturm auf seinen Flügeln den Tod mit sich bringen würde.

Viertes Kapitel


Der Sturm

Ich fand meinen Onkel unter dem Giebeldache stehend, die Wetterzeichen beobachtend, eine Pfeife zwischen den Fingern.

»Onkel,« sagte ich, »in der Sandager Bucht sind Männer an Land …«

Weiter kam ich nicht; ich vergaß in der Tat nicht nur meine Worte, sondern selbst meine Müdigkeit, so seltsam war die Wirkung auf Onkel Gordon. Er ließ seine Pfeife fallen und lehnte sich mit hängendem Unterkiefer, starren Augen und totenblassem Gesicht an die Hausmauer. Wir müssen einander wohl eine Viertelminute lang schweigend angeblickt haben, ehe er die folgende sonderbare Antwort gab: »Hatte er eine Pelzkappe auf?«

Ich wußte jetzt so gut, wie wenn ich dabei gewesen wäre, daß der Mann, der in Sandag begraben lag, eine Pelzkappe getragen hatte, und daß er lebend an Land gekommen war. Zum ersten und einzigen Male verlor ich die Geduld mit dem Mann, der mein Wohltäter und der Vater des Mädchens war, das ich zu meiner Frau zu machen hoffte.

»Diese waren lebende Menschen,« sagte ich, »vielleicht Jakobiten, vielleicht Franzosen, vielleicht Seeräuber, vielleicht auch Abenteurer, die hierher gekommen sind, um das spanische Schatzschiff zu suchen; was sie aber auch sein mögen, sie sind jedenfalls Eurer Tochter und meiner Kusine gefährlich. Und was Euer eigenes angstgequältes Gewissen betrifft, so kann ich Euch nur sagen, daß der Tote dort, wo Ihr ihn gebettet habt, gut schläft. Ich habe heute morgen an seinem Grabe gestanden; er wird nicht erwachen, bevor die Posaune des Gerichts ertönt.«

Mein Verwandter sah mich während meiner Rede blinzelnd an; dann schlug er eine Weile den Blick zu Boden und zerrte blöde an seinen Fingern: es war klar, daß er der Sprache nicht mächtig war.

»Kommt,« sagte ich. »Ihr müßt an andere denken. Ihr müßt mit mir den Berg hinaufsteigen und Euch das Schiff ansehen.«

Ohne ein Wort oder einen Blick gehorchte er und folgte langsam meinen ungeduldigen Schritten. Alle Spannkraft schien aus seinem Körper gewichen, und statt wie sonst von einem Stein zum anderen zu springen, kletterte er mühsam die Felsen hinauf und hinunter. Es gelang mir auch nicht, ihn durch meine Rufe zur Eile anzuspornen. Ein einziges Mal antwortete er weinerlich und im Tone eines Menschen, der körperliche Schmerzen leidet: »Ja, ja doch, ich komme schon.« Lang ehe wir den Gipfel erreichten, empfand ich nur noch Mitleid mit ihm. War das Verbrechen auch ungeheuerlich gewesen, die Strafe war ihm augenscheinlich angemessen.

Endlich hatten wir die Spitze erreicht und konnten uns umsehen. Alles lag düster und drohend vor unseren Augen; der letzte Sonnenstrahl war verschwunden. Wind blies, wenn auch nicht stark, so doch in kurzen, unruhigen Stößen; der Regen hatte dagegen aufgehört. Trotz der kurzen Zeit, die bis zu meiner Rückkehr vergangen war, hatte die Macht der Wellen ungeheuer zugenommen. Schon schlugen sie hier und dort über den äußeren Riffen zusammen und klagten und stöhnten in den Grotten von Aros. Ich spähte, anfangs vergeblich, nach dem Schoner aus.

»Da ist er,« sagte ich schließlich; indes verursachten Lage und Kurs, die er inzwischen angenommen, mir einiges Kopfzerbrechen. »Sie können doch nicht auf die offene See hinaus wollen,« rief ich.

»Das ist ihre Absicht,« sagte mein Onkel, und es klang etwas wie Freude aus seiner Stimme. Im gleichen Augenblick machte der Schoner eine Drehung, die ihn in eine Richtung brachte, welche jeden Zweifel ausschloß. Die Fremden hatten bei dem drohenden Sturm vor allem daran gedacht, vom Lande abzukommen. Bei diesem Wind jedoch, in diesen von Klippen besäten Gewässern und gegen eine so mächtige Strömung bedeutete ihr Kurs den sicheren Tod.

»Du großer Gott!« rief ich. »Sie sind verloren, alle miteinander.«

»Ja,« entgegnete mein Onkel, »alle – alle sind verloren. Es bleibt ihnen nichts übrig, als Kyle Dona zu gewinnen. Bei dem Tempo aber kämen sie nicht durch, und wenn sie den Bösen selbst zum Steuermann hätten. Eine schöne Nacht für ein Schiffsunglück,« fuhr er fort und berührte meinen Arm mit den Fingerspitzen, »meinst du nicht auch? Schon das zweite dies Jahr! Huh, werden die ›Tollen Männer‹ tanzen!«

Ich sah ihn an, und in diesem Augenblick fing ich an, an seinem Verstande zu zweifeln. Er blickte, wie Sympathie heischend, halb schüchtern, halb freudig, zu mir auf, und alles, was bereits gewesen war, versank angesichts dieser neuen Katastrophe.

»Wenn es nicht schon zu spät wäre,« rief ich voller Entrüstung, »würde ich das Boot nehmen und hinausfahren, um sie zu warnen.«

»Nein, nein,« protestierte er, »du darfst nicht dazwischenkommen, darfst dich nicht in solche Sachen mischen. Es ist Sein Wille.« Hier lüftete er die Mütze. »Und eine schöne Nacht, eine herrliche Nacht hat Er dazu ausersehen.«

Etwas wie Furcht begann sich in mein Herz einzuschleichen. Ich erinnerte ihn daran, daß wir noch nicht gegessen hatten, und schlug vor, nach Hause zu gehen. Aber nein! Um nichts in der Welt war er dazu zu bewegen, seinen Beobachtungsposten zu verlassen.

»Ich muß mir die Sache ansehen, Charlie, Junge,« erklärte er und rief, als der Schoner zum zweiten Male beidrehte: »Schau, die verstehen’s! Mit denen konnt‘ es die Christ-Anna nicht aufnehmen!«

Die Männer an Bord mußten bereits einige, wenn auch noch nicht den zwanzigsten Teil der Gefahren erkannt haben, die ihr todgeweihtes Schiff umgaben. Bei jeder Pause, die der launenhafte Wind machte, mußten sie gewahr werden, wie sehr die Strömung sie zurücktrieb. Je fruchtloser der Kampf, um so straffer zogen sie die Taue. Mit jeder Minute donnerte und schäumte die steigende Flut über neuen, begrabenen Riffen. Wieder und wieder brachen sich die Sturzwellen in dröhnendem Verderben unmittelbar unter dem Schiffsbug, und in den Wogentälern trieb brauner Schlick und triefender Tang. Wahrlich, jetzt galt es, die Gewalt über das Tauwerk zu behalten! Gott weiß es, an Bord jenes Schiffes war keine einzige Hand müßig. Und den Ablauf dieser, für jedes menschlich fühlende Herz so grauenvollen Szene verfolgte mein irregeleiteter Onkel mit gespannter Aufmerksamkeit und wollüstiger Kennermiene. Als ich mich umwandte, um den Berg hinabzugehen, lag er oben flach auf dem Bauch, die ausgestreckten Hände im Heidekraut verkrampft, geistig und körperlich scheinbar um Jahre verjüngt.

In trüber Stimmung langte ich zu Hause an und wurde bei Marys Anblick noch niedergeschlagener. Ich fand sie mit gelassener Miene, die kräftigen Arme entblößt, beim Brotbacken. Schweigend nahm ich einen Haferkuchen von der Anrichte und setzte mich nieder, um zu essen.

»Bist müde, Bub?« fragte sie nach einer Weile.

»Nicht so sehr ermüdet, Mary,« antwortete ich, mich erhebend, »als des Aufschubs und vielleicht auch dieses Ortes müde. Du kennst mich gut genug, um, was ich auch sage, gerecht zu beurteilen. Nun, Mary, des einen darfst du sicher sein: du wärest besser an jedem anderen Ort als hier.«

»Das eine weiß ich jedenfalls,« gab sie zur Antwort, »ich werde dort sein, wo meine Pflicht ist.«

»Du vergißt, daß du auch eine Pflicht gegen dich selber hast,« sagte ich.

»So, so, Bub,« entgegnete sie, heftig den Teig schlagend, »hast du das etwa in der Bibel gelesen?«

»Mary,« sagte ich feierlich, »du darfst mich jetzt nicht auslachen. Gott weiß, daß mir nicht nach Lachen zumute ist. Das Allerbeste wäre, wir könnten deinen Vater mitnehmen, aber, ob mit oder ohne ihn, ich will dich von hier fort wissen, mein Mädchen; um deinet-, meinet – und auch deines Vaters willen möchte ich dich weit, weit von hier fort wissen. Ich bin mit anderen Gedanken hierhergekommen; ich bin hergekommen, wie einer, der nach Hause kommt. Jetzt ist alles anders, und ich habe nur noch den einen Gedanken und die eine Hoffnung – zu fliehen, ja, das ist das Wort, von dieser verfluchten Insel zu fliehen – wie ein Vogel des Vogelstellers Schlinge flieht.«

Sie hatte mittlerweile mit ihrer Arbeit aufgehört. »Und glaubst du wirklich,« sagte sie, »glaubst du wirklich, ich hätte weder Augen noch Ohren? Weißt du denn nicht, daß ich mich fast zu Tode gegrämt habe um diese Kostbarkeiten (wie er sie nennt, Gott verzeih’s ihm) und sie am liebsten in die See würfe? Glaubst du wirklich, ich konnte mit ihm tagaus, tagein zusammenleben, ohne das zu sehen, was du in ein, zwei Stunden gesehen hast? Nein,« sagte sie, »ich weiß, daß Unrecht an ihnen klebt; welches Unrecht weiß ich nicht und will es auch nicht wissen. Ich hab noch nie gehört, daß ein arg Ding durch unnütz Fragen besser geworden wäre. Aber, Bub, du darfst niemals verlangen, daß ich meinen Vater verlasse. Solange noch Atem in ihm ist, werde ich bei ihm sein. Es wird nicht mehr lange sein, Charlie, kann ich dir sagen, nicht mehr lange. Er trägt das Zeichen an der Stirn, und es ist vielleicht besser so, – ja, besser.«

Ich schwieg eine Weile, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, und als ich endlich aufsah, um zu sprechen, kam sie mir zuvor.

»Charlie,« sagte sie, »was für mich recht ist, braucht’s für dich nicht zu sein. Es ist Sünde über dies Haus gekommen und Unglück. Du bist ein Fremder; nimm dein Hab und Gut und geh fort an einen besseren Ort und zu besseren Menschen, und wenn es dich je zurücktreibt, und sei es nach zwanzig Jahren, du wirst mich wartend finden.«

»Mary Ellen,« sagte ich, »ich habe dich gebeten, mein Weib zu sein, und du hast so gut wie dein Jawort gegeben. Und damit gut! Wo du bist, da werde ich auch sein, so wahr ich mich vor meinem Gott zu verantworten habe.«

Bei diesen Worten brach plötzlich ein tobender Wind los, der einen Augenblick später still zu stehen und schaudernd das Haus von Aros zu umkreisen schien. Es war der erste Ausbruch, der Prolog kommenden Sturms, und als wir uns zusammenschreckend umsahen, fanden wir, daß wie bei Abenddämmerung eine Finsternis sich um das Haus gelagert hatte.

»Gott erbarme sich aller armen Menschen auf dem Meere!« sagte Mary. »Meinen Vater werden wir bis morgen früh nicht zu Gesicht bekommen.«

Dann erzählte sie mir, während wir beim Feuer saßen und auf die steigenden Windstöße horchten, wie diese Veränderung mit meinem Onkel gekommen war. Den ganzen Winter über war er düster und unstet gewesen. Immer wenn die Roost stieg, oder, wie Mary sagte, die ›Tollen Männer‹ tanzten, pflegte er bei Nacht stundenlang auf dem vorspringenden Uferfelsen und bei Tage auf der Aroser Höhe auf der Lauer zu liegen, den Kampf der Wellen beobachtend und den Horizont nach einem Segel absuchend. Nachdem am zehnten Februar das Wrack mitsamt den Kostbarkeiten in Sandag ans Land gespült war, war er anfänglich unnatürlich vergnügt gewesen, und seine Aufregung hatte um keinen Grad nachgelassen, nur hatte sich dazu allmählich eine wachsende Melancholie gesellt. Er vernachlässigte seine Arbeit und hielt auch Rorie von der seinen ab. Die beiden pflegten sich stundenlang unter dem Giebeldache vorsichtig, ja mit schuldbewußter Miene zu unterhalten, und wenn sie dann ihrerseits an den einen oder anderen Fragen stellte, wie sie es wohl anfangs getan hatte, war man ihr verwirrt ausgewichen. Seitdem Rorie den Fisch bemerkt hatte, der der Fähre folgte, hatte sein Herr nur ein einziges Mal seinen Fuß auf das Festland gesetzt, und das war in der Zeit des stärksten Flutwechsels gewesen, als er bei Ebbe trocken hinübergehen konnte. Drüben hatte er sich dann verspätet und sich plötzlich durch die wiederkehrende Flut von Aros abgeschnitten gefunden. Mit einem Schrei des Entsetzens hatte er sprungweise die Furt überquert und war fiebernd vor Angst daheim angelangt. Die Furcht vor dem Meere, quälende, nagende Gedanken an das Meer verfolgten ihn auf Schritt und Tritt in seinen Reden und Gebeten, und selbst wenn er schwieg, zeugte sein Ausdruck von ihrer Gegenwart. Zum Essen erschien Rorie allein; kurz darauf jedoch kam mein Onkel, steckte sich eine Flasche unter den Arm und ein Stück Brot in die Tasche und machte sich, diesmal von Rorie gefolgt, auf den Rückweg zu seinem Beobachtungsposten. Ich hörte, daß der Schoner näher an Land zurückgetrieben worden war, daß die Besatzung den Kampf jedoch mit dem Mut und dem Geschick der Verzweiflung fortsetzte, und die Nachricht erfüllte meine Seele mit Dunkelheit.

Kurz nach Sonnenuntergang brach der Sturm mit voller Gewalt los, ein Sturm, wie ich ihn im Sommer und in der Schnelligkeit, mit der er heraufzog, selbst im Winter nie wieder erlebt habe. Mary und ich saßen schweigend da, während das Dach über unserem Kopf in allen Fugen krachte, das Unwetter draußen heulte und die Regentropfen zischend in das prasselnde Feuer fielen. Unsere Gedanken waren weit weg bei den armen Leuten auf dem Schoner oder bei meinem nicht minder unglücklichen Onkel, der obdachlos auf den. Felsenvorsprung auf der Lauer lag. Trotzdem schreckten wir von Zeit zu Zeit zusammen, wenn der Wind sich erhob und gleich einem festen Körper gegen den Giebel schlug oder plötzlich abflaute und sich zurückzog, sodaß das Feuer hell aufflammte und unsere Herzen hoch aufschlugen. Dann wieder packte der Sturm das Dach an allen vier Enden und schüttelte und rüttelte es wie ein zorniger Leviathan, und im nächsten Augenblick glitt er in kalten, matten Wirbeln schaudernd durchs Zimmer an uns vorbei, sodaß das Haar sich auf unsere Köpfen sträubte. Und wieder brach er in einen Chor melancholischer Stimmen aus, säuselte dumpf im Schornstein und umstrich mit sanften, flötengleichem Klageton das Haus.

Es mochte acht Uhr geworden sein, als Rorie erschien und mich geheimnisvoll zur Tür zog. Es schien, daß mein Onkel selbst seinem standhaften Gefährten Furcht eingeflößt hatte, und Rorie bat mich, voller Unruhe über sein phantastisches Gebaren, die Wache mit ihm zu teilen. Ich beeilte mich, seinem Wunsche zu willfahren, um so mehr als Furcht und Grauen und die elektrische Spannung der Nacht mich selber unruhig machten und zum Handeln trieben. Ich hieß Mary guten Mutes sein, da ich ja einen Schutz für ihren Vater bedeutete, hüllte mich fest in einen Plaid und folgte Rorie ins Freie.

Die Nacht war, obwohl Mittsommer dicht hinter uns lag, dunkel wie im Januar. Tastendes Zwielicht wechselte mit der tiefsten Finsternis, ohne daß man die Ursache hierfür aus den sausenden Schrecken des Himmels herauszulesen vermochte. Der Sturm sog einem den Atem aus den Nüstern; das ganze Himmelsgewölbe glich einem einzigen, ungeheuren, donnernden Segel, und wenn eine vorübergehende Stille sich auf Aros niedersenkte, konnten wir die Windstoße von ferne jammern hören. Über dem ganzen Niederland der Roost tobte der Orkan mit gleicher Stärke wie auf hoher See, und Gott allein weiß, mit welcher Wut er das Haupt Ben Kyaws umraste. Regen und Gischt hüllten uns wie nasse Laken ein. Rings um die Insel hämmerte die Brandung mit regelmäßigen, wuchtigen Donnerschlägen gegen Riffe und Strand. Bald laut, bald leise, wie die Klangsymphonie eines Orchesters, schwoll diese stetige Tonflut. Und hoch über allem Wirrwarr erklangen die wechselnden Stimmen der Roost und das abgerissene Gebrüll der ›Tollen Männer‹. In jener Stunde wurde mir blitzschnell klar, woher diese ihren Namen bezogen. Denn ihr Lärmen, das die anderen Geräusche der Nacht überschrie, erschien mir, wenn nicht gar ausgelassen lustig, so doch von unheimlicher, fast menschlicher Jovialität. Wie eine Schar wilder Männer, die ihren Verstand vertrunken und sich der Macht der Rede begeben haben, ihren Wahnsinn stundenlang in die Nacht hinausschreien, so schrien in meinen Ohren und tollten diese tödlichen Wirbel an Aros vorbei.

Arm in Arm erkämpften Rorie und ich uns taumelnd und mit Anstrengung Meter für Meter unseren Weg. Wir glitten auf dem schlüpfrigen Boden aus und fielen stolpernd über Steine. Zerschunden, zerschlagen, bis auf die Haut durchnäßt und außer Atem brauchten wir fast eine halbe Stunde, um die kurze Strecke von dem Aroser Gehöft bis zu dem Felsvorsprung, von dem aus man die Roost übersehen konnte, zurückzulegen. Hier war, wie es schien, der Lieblingsausguck meines Onkels. Dort, wo die Klippe am höchsten und steilsten ragt, bildet ein kleiner brüstungsähnlicher Erdhügel einen Unterschlupf gegen die gemeinen Winde, von wo aus ein Mensch in Ruhe die Brandung und den irren Streit der Wogen beobachten kann. Wie man von einem Fenster aus einen Vorfall auf der Straße verfolgt, so blickt man von diesem Posten herab auf das Steigen und Fallen der ›Tollen Männer‹. Freilich schaut man in einer Nacht wie dieser nur auf eine Welt der Finsternis, in der die Wasser kochen und schäumen, die Wogen mit der Wucht und dem Gepolter einer Explosion aneinander rennen und Türme von Gischt schnell wie Gedanken auf- und niedertauchen. Niemals zuvor hatte ich die ›Tollen Männer‹ in solcher Raserei gesehen. Die Wucht, Höhe und Geschwindigkeit ihrer Sprünge lassen sich nicht schildern. Hoch über unsere Köpfe stiegen ihre weißen Säulen in die Dunkelheit empor, um im nächsten Augenblick gespenstergleich wieder zu verschwinden. Mitunter sah man drei solcher Säulen zugleich in die Höhe streben und versinken; dann wieder packte sie ein Windstoß – und der Gischt schlug schwer wie eine Woge über uns zusammen. Dennoch wirkte das Schauspiel eher aufreizend in seiner Ausgelassenheit als gewaltig und eindrucksvoll. Jedes Denken wurde durch den ohrenzerreißenden Lärm unterbunden; eine fröhliche Leere bemächtigte sich des menschlichen Gehirns, ein Zustand, der an Irrsinn grenzte. Ich selbst ertappte mich dabei, wie ich dem Tanz der ›Tollen Männer‹ gleich einer Melodie auf einem Kirmesinstrument folgte.

Meinen Onkel wurde ich zuerst in jenem flüchtigen Dämmerlicht gewahr, das zeitweilig die pechschwarze Finsternis der Nacht unterbrach, als wir uns noch einige Meter von ihm entfernt befanden. Er stand, den Kopf nach hinten gebogen, die Flasche an den Lippen, aufrecht hinter der Brüstung. Als er die Flasche wegstellte, erkannte er uns und begrüßte uns mit spöttischem Handschwenken.

»Hat er getrunken?« schrie ich Rorie zu.

»Wenns bläst, ist er immer betrunken,« erwiderte Rorie gleichfalls mit erhobener Stimme; trotzdem hatte ich Mühe, ihn zu verstehen.

»War er – denn auch im Februar so?« fragte ich.

Rories »Ja« war mir eine Quelle der Freude. Der Mord war also nicht kaltblütiger Überlegung entsprungen; er war eine Tat des Wahnsinns, ebensowenig zu verurteilen wie zu verzeihen. Mein Onkel war, wenn man will, ein gefährlicher Irrer, nicht grausam und schlecht, wie ich gefürchtet hatte. Aber – welch eine Szene für eine Zecherei! Welch schreckliches, unglaubliches Laster hatte dieser arme Mensch sich ausersehen! Von jeher hatte ich die Trunkenheit für einen wilden, fast furchtbaren Genuß gehalten, mehr teuflisch als menschlich. Und nun gar Trunkenheit hier draußen, in dieser brüllenden Finsternis, auf einer Felsklippe über dieser Hölle von Gewässern, mit einem Kopf, in dem es wirbelte wie in der Roost, mit schwankendem Fuß am Rande des Verderbens, das Ohr gierig nach den Zeichen des Schiffsuntergangs gespannt –: wahrlich, diese Art von Trunkenheit war, wenn überhaupt in irgend einem Menschen glaublich, für meinen Onkel, der fest einem Glauben der Verdammnis anhing und von dunkelsten Befürchtungen gepeinigt war, eine moralische Unmöglichkeit. Und dennoch war es so; als wir die geschützte Stelle erreicht hatten und wieder atmen konnten, sah ich des Mannes Augen mit unheimlichem Glanz die Nacht durchleuchten.

»Ah, Charlie, Mann, es ist großartig!« rief er. »Sieh her!« fuhr er fort und zog mich an den Rand des Abgrunds, von wo der betäubende Lärm und die Wolken von Gischt aufstiegen, »sieh doch, wie sie tanzen, sieh doch. Mann! Ist es nicht die reine Sünde?«

Er sprach das Wort mit sichtbarem Behagen aus, und es war mir, als passe es in die Szene.

»Sie heulen nach dem Schoner,« redete er in seiner dünnen, irren Stimme weiter, die unter dem schützenden Abhang klar vernehmbar war, »und er kommt auch immer näher, jawohl, immer näher, näher und immer näher; und sie wissen es auch; die da unten wissen es ganz genau; sie wissen, daß es mit ihm vorbei ist. Charlie, Bursch, sie sind alle betrunken auf dem Schoner, alle stockbetrunken. Auf der ›Christ-Anna‹ hatten die am Heck auch alle einen Rausch. Niemand kann ohne Schnaps auf dem Meere untergehen. Rede du nur,« fuhr er in plötzlichem Zorne auf, »was verstehst du davon? Ich sage dir, daß es anders nicht möglich ist; sie wagen’s nicht, ohne Schnaps zu ertrinken. Hier,« meinte er, mir die Flasche hinhaltend, »nimm einen Schluck.«

Ich war im Begriff, abzulehnen, als Rorie warnend mich berührte, und wirklich hatte ich mich bereits eines Besseren besonnen. Ich nahm daher die Flasche und tat nicht nur einen kräftigen Zug, sondern verschüttete dabei noch glücklich den größeren Teil ihres Inhalts, Es war reiner Alkohol und benahm mir beim Schlucken fast den Atem. Mein Verwandter merkte den Verlust nicht, sondern bog abermals den Kopf zurück und trank den Rest bis zur Neige. Dann warf er laut lachend die Flasche zu den ›Tollen Männern‹ hinab, die ihren Empfang durch lärmende steile Sprünge zu begrüßen schienen.

»Hier, Kinder,« schrie er, »hier ist euer Teil! Vor Morgengrauen werdet ihr einen fetteren Bissen erhalten!«

Da, während einer plötzlichen Windstille, tönte aus einer Entfernung von noch nicht zweihundert Metern eine klare menschliche Stimme aus der Finsternis zu uns herauf. Im nächsten Augenblick stürmte der Wind brausend über die Felsklippe hin, und die Roost brüllte und sprudelte und tanzte in erneuter Wut. Doch wir hatten den Ton gehört und wußten mit qualvoller Sicherheit, daß jetzt das verlorene Schiff vor seinem Untergange stand und daß das, was wir gehört hatten, der letzte Kommandoruf seines Herrn gewesen war. Vorn über den Rand gebeugt, alle Sinne bis aufs Äußerste gespannt, erwarteten wir dicht aneinander gedrängt das unvermeidliche Ende. Eine lange Zeit, scheinbar eine Ewigkeit, verging, bis der Schoner plötzlich auf einen einzigen kurzen Augenblick vor einem Hintergrund ragenden, leuchtenden Schaumes auftauchte.

Noch sehe ich das gereffte, lose flatternde Großsegel, als der Mastbaum schwer auf das Deck hinstürzte; noch sehe ich die schwarzen Umrisse des Schiffsbugs und meine, auf der Ruderpinne den ausgestreckten Körper eines Mannes unterscheiden zu können. Dennoch zog das ganze Bild mit Blitzesschnelle vorüber; die gleiche Woge, die es uns enthüllte, begrub das Schiff für immer unter sich; der Todesschrei vieler Stimmen stieg zu uns empor und wurde vom Brausen der ›Tollen Männer‹ erstickt. Und damit nahm die Tragödie ihr Ende. Das starke Schiff mitsamt all seinem Gerät, mit so zahlreichen Menschenleben, die anderen sicherlich teuer und zum mindesten den Eigentümern selbst kostbar wie der Himmel waren, war, während in der Kabine vielleicht noch die Lampe brannte, im Nu in den brodelnden Wassern versunken. Wie ein Traum war es entschwunden. Und der Wind fuhr fort zu stürmen und zu heulen, und die gefühllosen Wasser der Roost stiegen und sanken wie zuvor.

Wie lange wir drei dort sprachlos und bewegungslos verharrten, weiß ich nicht, aber es muß eine lange Zeit gewesen sein. Schließlich krochen wir hintereinander, fast mechanisch, zu dem schützenden Abhang zurück. Während ich so, tief unglücklich und nicht völlig Herr meiner Sinne, gegen die Brüstung lehnte, konnte ich meinen Verwandten in veränderter, trüber Stimmung vor sich herschwatzen hören. Einmal wiederholte er mit weinerlicher Eintönigkeit: »Wie sie kämpfen mußten – wie schwer sie kämpfen mußten, die armen Burschen, die armen Burschen!« – Dann wieder jammerte er: »Daß das ganze Zeug hin wäre«, weil das Schiff, statt am Ufer zu stranden, bei den ›Tollen Männern‹ untergegangen war; und in all diese irren Reden hinein spielte ein Name – Christ-Anna – mit schaudernder Ehrfurcht ausgesprochen. Währenddem ließ der Sturm mit merklicher Schnelligkeit nach. Nach einer halben Stunde war der Wind zu einer Brise abgeflaut, und den Wechsel begleitete oder verursachte ein schwerer, kalter, klatschender Regen. Ich muß dann eingeschlafen sein, und als ich völlig durchnäßt, steif und ohne jede Erfrischung erwachte, war der Tag angebrochen, ein grauer, nasser, trostloser Tag. Der Wind blies in matten, unruhigen Stößen, es war Ebbe, die Roost hatte ihren niedrigsten Stand erreicht, und nur die starke Brandung, die rings um Aros gegen die Küste hämmerte, war Zeuge von den Schrecknissen der Nacht.

Fünftes Kapitel


Ein Mann aus dem Meere

Rorie machte sich auf den Heimweg, zu einem warmen Zimmer und Frühstück; mein Onkel dagegen hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Küste von Aros abzusuchen, und ich empfand es als meine Pflicht, ihn überall zu begleiten. Er war jetzt gefügig und ruhig, wenn auch körperlich und geistig von unsicherer Schwäche, und betrieb seine Untersuchungen mit kindischem Eifer. Er kletterte die Felsen weit hinunter und lief am Strande den fliehenden Wellen nach. Jede zerbrochene Planke, jeder Fetzen Taus waren in seinen Augen ein Schatz, den es sich bei Gefahr des Lebens zu sichern galt. Zu sehen, wie er so mit schwankenden Schritten der Brandung nachjagte und sich den Schlingen und Fallen der tangbewachsenen Felsen aussetzte, hielt mich in ständiger Aufregung. Mein Arm war stets bereit, ihn zu stützen, meine Hand hielt ihn beim Rocke fest; ich half ihm, seine armseligen Funde aus dem Bereich der wiederkehrenden Wellen herauszuziehen. Eine Amme, die ein siebenjähriges Kind zu betreuen hat, hätte die gleiche Aufgabe gehabt.

Wenn auch die Reaktion auf den Wahnsinn der verflossenen Nacht ihn schwächte, so erwiesen sich doch die in ihm schwelenden Leidenschaften stark wie die eines gesunden Mannes. Seine Furcht vor dem Meere lebte, wenn auch vorübergehend überwunden, doch in unverminderter Kraft fort. Wäre das Meer ein See lebendigen Feuers gewesen, er hatte nicht ängstlicher vor einer Berührung mit ihm zurückschrecken können, und als er einmal ausglitt und bis zur Wade in einen Wassertümpel hineinfuhr, glich der Schrei, den er aus tiefster Seele ausstieß, einem Todesschrei. Eine Weile danach saß er schwer schnaufend wie ein Hund da, jedoch die Beutegier siegte abermals über seine Furcht; und abermals wankte er in den quirlenden Gischt hinaus; abermals kroch er unter den platzenden Wasserblasen auf den Felsen umher, sein Sinnen und Trachten anscheinend ausschließlich auf Treibholz gerichtet, das im besten Falle noch dazu gedient hätte, ins Feuer geworfen zu werden. Dabei schalt er, trotz seines Entzückens über seine Funde, unablässig über sein Mißgeschick.

»Aros,« sagte er, »ist kein guter Ort für Schiffsunglücke, gar kein guter Ort. Die ganzen Jahre über, in denen ich hier gewohnt habe, ist dies das zweite, und dabei sind die besten Sachen hin, glatt hin!«

»Onkel,« sagte ich, da wir inzwischen ein Stück offenen Strandes erreicht hatten, wo nichts ihn ablenken konnte, »ich sah dich gestern, wie ich dich niemals zu sehen erwartet hatte – du warst betrunken.«

»Nein, nein,« sagte er, »so schlimm war’s nicht. Ich hatte allerdings getrunken. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann es nicht ändern. Keiner ist für gewöhnlich so nüchtern wie ich; aber wenn ich den Wind pfeifen höre, werd ich, glaub ich, verrückt.«

»Du bist religiös,« antwortete ich, »und Trinken ist eine Sünde.«

»Ja, wenn’s keine Sünde wäre,« entgegnete er, »würd‘ ich wohl gar nicht danach fragen. Es ist schierer Trotz, siehst du. In dem Meere dort lebt ein gut Stück von der alten Erbsünde; unchristlich bleibt’s, und wenn man’s noch so milde betrachtet. Wenn es nun gar tobt und der Wind schreit – das Meer und der Wind sind so eine Art Vettern, mein ich, – und die ›Tollen Männer‹, die verrückten Burschen, brüllen und lachen, und die armen Seelen so die liebe lange Nacht da draußen in der Öde auf ihren Nußschälchen gegen den Tod ankämpfen – ja dann kommt’s über mich wie Besessenheit. Ich bin ein Teufel, ich weiß es. An die armen Schifferleute denk ich gar nicht; ich bin für das Meer, ich bin wie einer seiner eigensten ›Tollen Männer‹ .«

Ich glaubte, ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können. Ich wandte mich dem Meere zu; die Brandung rollte lustig weiter, Welle für Welle jagte mit fliegender Mähne gegen den Strand, bäumte und bog sich und stürzte über die nächste hinweg auf den zerstampften Sand. Draußen waren die Salzluft, die aufgeschreckten Möwen, das zerstreute Heer der Seestreitrosse, die sich wiehernd begrüßten, während sie sich zum Sturmlauf gegen Aros sammelten; und dicht vor uns schlängelte sich jene Linie über die Sandfläche, über die hinaus sie trotz ihrer großen Zahl und Wut niemals zu dringen vermochten.

»Bis hierher sollst du und nicht weiter,« sagte ich; »hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.« Und dann zitierte ich, so feierlich als ich es nur irgend vermochte, eine Strophe, die ich schon oft zuvor dem Chor der Wellen angepaßt hatte:

»Der Herr, der ob den Wolken thront,
»Gebeut dem sündigen All,
»Erhabener als der Wasser Wucht
»Und wilder Wogen Schwall.«

»Ja,« sagte mein Verwandter, »zuletzt wird der Herr triumphieren; daran zweifle ich nicht. Aber hier auf Erden wagen die törichten Menschen ihm ins Gesicht zu trotzen. Es ist nicht klug; ich sage nicht, daß es klug ist; aber es ist Lebenslust, Augenweide, Würze der Freude.«

Ich schwieg hierauf. Wir hatten begonnen, den schmalen Streifen Land zu überschreiten, der zwischen uns und Sandag lag. Ich hielt daher mit den wenigen mir übrig gebliebenen Argumenten zurück, kraft derer ich die bessere Natur dieses Mannes zu rühren hoffte, bis wir auf dem Schauplatz seines Verbrechens angelangt waren. Auch er verfolgte das Thema nicht weiter, sondern ging in festerer Haltung neben mir. Der Appell an seine Vernunft wirkte wie ein Kräftigungsmittel. Ich sah, daß er das Suchen nach wertlosem Plunder über einer tiefen, düsteren und dennoch anregenden Grübelei vergessen hatte. In drei bis vier Minuten hatten wir den Abhang erklommen und befanden uns bereits auf dem Abstieg nach Sandag. Das Wrack war durch die See arg mitgenommen; der Rumpf war herumgeschleudert und weiter ins Meer gezogen worden; vielleicht lag auch das Heck etwas höher, denn die beiden Teile waren jetzt ganz von einander losgerissen. Als wir neben dem Grabe angelangt waren, hielt ich inne, entblößte trotz des heftigen Regens mein Haupt und sprach zu meinem Oheim, ihn fest ins Auge fassend: »Ein Mann wurde durch die Vorsehung Gottes von Todesgefahr errettet; er war arm, er war nackend, er war durchnäßt und müde, er war ein Fremdling. Er hatte alles Recht der Welt auf das Mitleid deines Herzens; vielleicht war er das Salz der Erde, heilig, hilfreich und gut; vielleicht war er von Sünden beladen, ein Mensch, für den der Tod den Anfang der Hollenpein bedeutete. Ich frage dich hier im Angesichte des Himmels: Gordon Darnaway, wo ist der Mann, für den Christus gestorben ist?«

Bei den letzten Worten schrak er merklich zusammen; aber es kam keine Antwort, und sein Gesicht drückte kein anderes Gefühl als unruhige Besorgnis aus.

»Du warst meines Vaters Bruder,« fuhr ich fort; »du hast mich gelehrt, dein Haus als mein Vaterhaus zu betrachten, und wir sind beides sündige Menschen, die vor des Herrn Angesicht in den Sünden und Fährnissen des Lebens wandeln. Durch das Böse, was wir tun, führt Gott uns zum Guten; wir sündigen, ich wage nicht zu sagen durch seine Versuchung, aber ich kann getrost sagen mit seiner Zustimmung, und für jeden, den viehischen Menschen ausgenommen, sind seine Sünden der Anfang der Weisheit. Gott hat dich durch dies Verbrechen gewarnt; er warnt dich auch jetzt noch durch das blutige Grab zu unseren Füßen; und wenn keine Reue, keine Besserung, keine Umkehr zu Ihm folgen sollte, wessen sollen wir uns dann in der Folge versehen, wenn nicht eines denkwürdigen Gerichts?«

Noch während ich diese Worte sprach, glitten meines Onkels Augen von meinem Gesicht hinweg. Sein Aussehen erfuhr eine unbeschreibliche Veränderung: die Gesichtszüge schienen zusammenzuschrumpfen, die Farbe wich aus seinen Wangen, zitternd hob er die eine Hand und wies damit über meine Schulter hinweg in die Ferne, und wieder fiel der vielgenannte Name von seinen Lippen: Die Christ-Anna!

Ich drehte mich um, und wenn ich mich auch nicht im gleichen Maße wie er entsetzte, wozu der Grund bei mir, dem Himmel sei Dank, wegfiel, war ich dennoch erschrocken über den Anblick, der sich mir bot. Die Figur eines Mannes stand aufrecht auf dem Kabinenverschlag des gescheiterten Schiffes, den Rücken zu uns gekehrt. Er schien, die Hand über den Augen, die offene See abzusuchen, und seine Gestalt, die sehr hoch war, hob sich in ihrer ganzen Größe gegen den Horizont ab. Wohl tausendmal habe ich betont, daß ich nicht abergläubisch bin, aber in diesem Augenblick, da mein ganzes Denken auf Tod und Sünde gerichtet war, erfüllte mich die unerklärliche Erscheinung eines Fremden auf dieser meerumschlossenen, einsamen Insel mit einem Erstaunen, das an Schrecken grenzte. Es schien kaum möglich, daß eine Menschenseele bei einem Seegang, wie er gestern Nacht an der Küste von Aros tobte, lebendig das Land erreichen konnte, und das einzige Fahrzeug meilenweit in der Runde war vor unseren Augen bei den ›Tollen Männern‹ untergegangen. Zweifel stürmten auf mich ein, die jede Ungewißheit unerträglich machten; ich trat, um die Frage ein für allemal sofort zu entscheiden, vor und rief die Gestalt an, wie man ein Schiff anruft.

Der Mann drehte sich um, und ich meinte ihn bei unserem Anblick zusammenschrecken zu sehen. Sofort kam mir mein Mut wieder, und ich machte ihm durch Zeichen und Rufe klar, näher zu kommen. Er sprang auch sogleich auf den Strand hinunter und begann, sich uns zögernd und mit vielen Pausen zu nähern. Bei jedem neuen Beweis seiner Unruhe wurde ich selbstsicherer und trat abermals einen Schritt vor, indem ich ihm mit dem Kopf und mit der Hand Mut zuwinkte. Es war klar, daß der Schiffbrüchige nicht sonderlich viel Gutes über die Gastlichkeit unserer Insel gehört hatte, und in jenen Zeiten genoß die Bevölkerung im hohen Norden in der Tat in dieser Hinsicht einen schlechten Ruf.

» Sieh doch,« sagte ich, » der Mann ist ein Schwarzer!« Gerade in diesem Augenblick brach mein Verwandter mit einer Stimme, die kaum wiederzuerkennen war, in einen ununterbrochenen Strom von Flüchen und Gebeten aus. Ich sah ihn an; er war auf die Knie gesunken, sein Gesicht war qualverzerrt. Bei jedem Schritt, den der Schiffbrüchige näher trat, schrillte seine Stimme lauter, verdoppelten sich Beredsamkeit und Inbrunst seiner Sprache. Ich nenne seine Worte Gebete, denn sie waren an Gott gerichtet; sicherlich aber hat nie zuvor eine Kreatur solche himmelschreiende Widersinnigkeiten seinem Schöpfer zugerufen: wahrlich, wenn Gebet Sünde sein kann, dann war es diese wahnsinnige Rede. Ich lief auf ihn zu, packte ihn an den Schultern und zerrte ihn auf die Füße.

»Schweig, Mann,« rief ich, »ehre deinen Gott mit Worten, wenn nicht mit Taten. Hier, auf dem Schauplatz deiner Schuld, sendet Er dir die Möglichkeit zur Sühne. Vorwärts, nimm sie wahr! Geh jenem Geschöpf, das zitternd dein Erbarmen heischt, wie ein Vater entgegen.«

Mit diesen Worten versuchte ich, ihn zu dem Schwarzen hinzudrängen, aber er schlug mich zu Boden, entriß sich meiner Faust, indem er einen Fetzen seiner Jacke in meiner Hand zurückließ, und floh wie ein Hirsch den Aroser Berg hinauf. Ich erhob mich taumelnd, betäubt und verletzt; der Neger war überrascht, vielleicht auch erschrocken auf halbem Wege zwischen mir und dem Wrack stehen geblieben; mein Onkel hatte, in großen Sprüngen von Fels zu Felsen schnellend, bereits einen beträchtlichen Teil des Weges zurückgelegt, und ich sah mich also im Augenblick zwischen Pflicht und Pflicht zerrissen. Ich entschied mich – und ich hoffe zu Gott, daß ich recht getan – zu gunsten des armen Burschen am Strande, war doch sein Unglück zum mindesten nicht von ihm selbst geschaffen und von der Art, daß ich es bestimmt zu lindern vermochte; außerdem hatte ich begonnen, meinen Onkel als einen unheilbaren, hoffnungslosen Wahnsinnigen zu betrachten. Ich schritt daher auf den Schwarzen zu, der mein Kommen mit verschlungenen Armen, wie einer, der auf jedes Schicksal gefaßt ist, erwartete. Bei meinem Herannahen streckte er mir mit großer Gebärde, wie ich sie auf der Kanzel gesehen habe, die Hand entgegen und sagte etwas im Predigerton, von dem ich kein Wort verstand. Ich versuchte, ihn zuerst englisch und dann gälisch anzureden, beides aber vergeblich, und ich sah ein, daß wir uns auf die Sprache des Ausdrucks und der Gesten verlassen mußten. Hierauf bedeutete ich ihm, daß er mir folgen solle, was er bereitwilligst, mit einer ernsten Verneigung gleich einem gefallenen König, tat. Währenddessen war keinerlei Veränderung über sein Gesicht gegangen; während des Wartens hatte er weder Besorgnis, noch jetzt, da er der Furcht behoben war, Erleichterung gezeigt. War er, wie ich annahm, ein Sklave, so konnte ich nicht umhin zu glauben, daß er in seinem Heimatlande von erhabener Stellung gestürzt war, und trotz seiner Erniedrigung rang seine Haltung mir Bewunderung ab. Als wir an dem Grabe vorbeikamen, hielt ich inne und wies mit der Hand und den Augen zum Himmel, als Zeichen meiner ehrfürchtigen Trauer um den Toten, und als Antwort verbeugte er sich tief mit ausgebreiteten Armen. Die Bewegung war befremdlich und wirkte doch wie eine althergebrachte Sitte; wahrscheinlich gehörte sie zum Zeremoniell des Landes, woher er kam. Gleichzeitig wies er auf meinen Onkel, dessen hockende Gestalt wir auf einer Erhöhung über uns sehen konnten, und berührte mit dem Finger seine Stirn, zum Zeichen daß er ihn für verrückt hielt.

Wir gingen den langen Weg am Strande nach Hause, da ich auf dem Abkürzungspfad quer über die Insel meinen Onkel aufzuschrecken fürchtete, und beim Gehen hatte ich Muße, die kleine dramatische Szene, durch die ich meinen Vermutungen Gewißheit zu verschaffen hoffte, in mir ausreifen zu lassen. Ich blieb daher auf einem der Felsen stehen und fing an, vor dem Neger die Handlungen des Mannes nachzuahmen, den ich tags zuvor in Sandag beim Aufnehmen der geographischen Lage belauscht hatte. Er verstand mich sofort, und mir die Komödie aus den Händen nehmend, zeigte er mir, wo das Boot war, wies auf das Meer hinaus, wie um die Lage des Schoners anzugeben, und dann auf das Felsufer hin, wobei er mit fremdländischer aber klar erkennbarer Betonung die Worte »Espiritu Santo« aussprach. Ich hatte also mit meinen Mutmaßungen recht gehabt; die angebliche historische Untersuchung war nur ein Mäntelchen für die Schatzsucherei gewesen; der Mann, der Dr. Robertson hinters Licht geführt hatte, war derselbe, der im Frühjahr in Grisapol aufgetaucht war, und der jetzt mit vielen anderen unter der Roost von Aros begraben lag: dahin hatte ihre Goldgier sie gebracht, dort waren ihre Knochen zu ewigem, unruhigem Schlummer eingegangen. Inzwischen fuhr der Schwarze mit seiner Nachahmung der Szene fort; jetzt blickte er himmelwärts, wie wenn er das Herannahen eines Unwetters beobachtete; dann, in dem Charakter eines Seemannes, winkte er den anderen zu, an Bord zu kommen; im nächsten Augenblick lief er als Offizier am Ufer entlang, um in das Boot zu springen, und wieder bog er sich als eifriger Bootsmann über die Ruder. Die ganze Zeit über jedoch bewahrte er die gleiche feierliche Miene, so daß er mir kein einziges Lächeln entlockte. Schließlich deutete er in einer nicht mit Worten zu beschreibenden Pantomime an, wie er selbst zu dem Wrack hinaufgegangen sei, um es zu untersuchen, und wie seine Kameraden ihn zu seinem Leidwesen und seiner Empörung im Stich gelassen; und zuletzt faltete er noch einmal die Arme über der Brust und neigte den Kopf wie jemand, der sich in sein Schicksal ergeben hat.

Nachdem somit das Geheimnis seiner Gegenwart aufgeklärt war, machte ich ihm durch eine Skizze das Schicksal des Schiffes und aller, die an Bord gewesen waren, klar. Er zeigte weder Überraschung noch Kummer, sondern schien durch ein plötzliches Öffnen und Heben der Hand seine früheren Freunde oder Gebieter (welches sie nun gewesen sein mochten) dem Willen Gottes anzuempfehlen. Eine wachsende Achtung stieg in mir auf, je länger ich ihn beobachtete. Ich sah, daß er starken Geistes und ernsten, gesetzten Charakters war, wie ich sie zum Umgang liebte, und noch ehe wir das Aroser Gehöft erreichten, hatte ich ihm seine unheimliche Farbe, wenn ich sie auch nicht ganz vergessen konnte, gänzlich verziehen.

Mary erzählte ich rückhaltlos das Vorgefallene, wenn auch, wie ich zugeben muß, das Herz mir dabei versagte; aber ich hatte unrecht, an ihrem Gerechtigkeitsgefühl zu zweifeln.

»Du hast recht getan,« sagte sie, »Gottes Wille geschehe.« Und sie machte sich sogleich daran, uns aufzuwarten.

Sobald ich mich gesättigt hatte, bat ich Rorie, den Schiffbrüchigen, der immer noch aß, im Auge zu behalten, und machte mich auf die Suche nach meinem Onkel. Ich sah ihn, noch ehe ich weit gegangen war, auf der selben Stelle auf dem höchsten Gipfel in anscheinend der selben Haltung sitzen. Von jenem Punkte aus breitete, wie gesagt, der größere Teil von Aros und der Roost sich wie eine Landkarte zu seinen Füßen aus. Es war klar, daß er nach allen Richtungen scharfen Ausguck hielt, denn kaum war mein Kopf über dem Rande der ersten Anhöhe aufgetaucht, als er aufsprang und sich umwandte, als wolle er mir entgegentreten. Sofort rief ich ihn an, so gut es ging und in dem gleichen Ton und mit den gleichen Worten, deren ich mich häufig bediente, wenn ich ihn zu Tisch bat. Er antwortete nicht einmal durch eine Bewegung. Ich trat etwas weiter vor und versuchte abermals zu verhandeln, mit dem gleichen Resultat. Als ich mich ihm indes zum zweiten Male näherte, flammte seine irrsinnige Furcht wieder auf, und noch immer schweigend wie das Grab, aber mit unglaublicher Schnelligkeit begann er vor mir den steinigen Bergrücken entlang zu fliehen. Eine Stunde zuvor war er todmüde und ich relativ frisch gewesen. Jetzt aber schöpfte er frische Kraft aus der Glut des Wahnsinns, und jeder Gedanke an Verfolgung wäre umsonst gewesen. Ja, der Versuch allein hätte vielleicht schon genügt, um seine Furcht aufzupeitschen und damit auch das Gefährliche unserer Lage zu verschärfen. Mir blieb daher nichts übrig, als nach Hause zu gehen, und Mary meinen traurigen Bericht zu erstatten.

Sie nahm ihn, wie auch den ersten, mit ruhiger Fassung entgegen und brach, indem sie mich aufforderte, mich hinzulegen und der Ruhe zu pflegen, die ich so dringend nötig hatte, selbst auf, um ihren irregeleiteten Vater zu suchen. In jenen Jahren hätte viel dazu gehört, um mich des Schlafes und des Appetits zu berauben. Ich schlummerte lang und fest, und Mittag war längst vergangen, als ich aufwachte und mich die Treppe hinunter zur Küche begab. Mary, Rorie und der schwarze Schiffbrüchige saßen schweigend um das Feuer herum und ich sah, daß Mary geweint hatte, wie ich bald erfuhr, mit gutem Grund. Erst sie und dann Rorie waren aufgebrochen, um meinen Onkel zu suchen; nacheinander hatten sie ihn oben auf dem Hügel hockend gefunden, und vor beiden war er stumm und eilig geflohen. Rorie hatte vergeblich versucht, ihn einzuholen; der Wahnsinn lieh seinen Sprüngen eine nie geahnte Kraft. Er setzte von Fels zu Fels über die breitesten Abgründe hinweg, jagte wie der Wind über die Hügel, floh die Kreuz und die Quer wie ein gehetzter Hase vor den Hunden; schließlich mußte Rorie es aufgeben, und das letzte, was er von ihm sah, war, wie er wieder wie zuvor auf der Aroser Anhöhe saß. Selbst in der tollsten Jagd, selbst als der schnellfüßige Diener für einen Augenblick sehr nahe daran war, ihn einzufangen, hatte der arme Irre keinen Laut von sich gegeben. Er floh stumm wie ein Tier, und dieses Schweigen hatte seinem Verfolger Entsetzen eingeflößt. Die Lage hatte etwas Herzzerreißendes. Wie war dieser Geisteskranke einzufangen? Wie sollten wir ihn inzwischen ernähren, und was würden wir später mit ihm anfangen? Das waren die drei Schwierigkeiten, die es zu lösen galt.

»Der Schwarze«, sagte ich, »ist die Ursache dieses Anfalls. Vielleicht ist es sogar seine Anwesenheit im Hause, die meinen Onkel auf dem Berge festhält. Wir haben getan, was recht und billig ist; wir haben ihn unter diesem Dache erwärmt und gespeist; jetzt schlage ich vor, daß Rorie ihn mit dem Fischerboot übersetzt und ihn über die Roost nach Grisapol geleitet.«

Mary stimmte diesem Vorschlage von Herzen zu; wir forderten daher den Schwarzen auf, uns zu folgen, und begaben uns alle vier nach dem Landungssteg. Wahrlich, der Himmel hatte sich gegen Gordon Darnaway erklärt; etwas Unerhörtes hatte sich auf Aros ereignet: während des Unwetters hatte sich das Boot losgerissen, war gegen die rauhen Pfähle des Steges gerannt und lag jetzt mit eingebeultem Bug vier Fuß tief im Wasser. Mindestens drei Tage waren nötig, um es wieder flott zu machen. Aber ich ließ mich nicht entmutigen. Ich führte die ganze Gesellschaft bis zu der Stelle, wo das Watt am schmalsten war, schwamm auf die andere Seite und winkte dem Schwarzen, mir zu folgen. Er gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß er der Kunst nicht mächtig sei. Die Wahrheit sprach aus seinen Gesten, keinem von uns wäre es eingefallen, sie zu bezweifeln, und als auch diese Hoffnung vernichtet war, mußten wir unverrichteter Sache nach dem Hof zurückkehren. Der Neger schritt ohne Verlegenheit in unserer Mitte.

An jenem Tage konnten wir nur noch einen letzten Versuch unternehmen, uns mit dem unglücklichen Geisteskranken in Verbindung zu setzen. Wieder sahen wir ihn auf seinem Ausguck hocken; wieder floh er uns schweigend. Aber wir ließen zu seiner Pflege wenigstens Nahrung und einen schweren Mantel zurück; der Regen hatte zudem aufgehört, und es versprach, eine milde Nacht zu werden. Wir glaubten, uns jetzt bis zum Morgen ausruhen zu können; Ruhe tat uns vor allem not, damit wir den ungewöhnlichen Anstrengungen gewachsen waren, und da niemand Lust zum Reden verspürte, trennten wir uns zeitig.

Ich lag lange wach und grübelte über einen Feldzugsplan für den morgigen Tag nach. Ich wollte den Schwarzen auf der Sandager Seite aufstellen, von wo aus er meinen Onkel auf das Haus zutreiben sollte. Rorie und ich sollten im Westen und Osten die Kette, so gut es ging, schließen. Je mehr ich die Bodengestaltung der Insel überlegte, desto überzeugter wurde ich, daß es zwar schwer aber möglich war, ihn auf die Niederung an der Sandager Bucht zu treiben; war das erst einmal gelungen, so war ein Entkommen trotz der Kraft seines Wahnsinns kaum zu befürchten. Auf seiner Furcht vor dem Schwarzen baute ich meinen Plan auf, denn ich wußte, daß er, welche Richtung zur Flucht er auch immer wählen mochte, nicht auf den Mann zulaufen würde, den er von den Toten auferstanden glaubte; und so war denn wenigstens eine Richtung des Kompasses gesichert.

Als ich endlich einschlief, war es nur, um nach kurzer Zeit durch einen Traum von Schiffsunglücken, Schwarzen und Abenteuern unter dem Meeresspiegel wieder aufgeschreckt zu werden. Ich war so fieberhaft erschöpft und erregt, daß ich aufstand, die Treppe hinunterging und vor das Haus trat. Drinnen in der Küche schliefen Rorie und der Schwarze; draußen war eine wunderbar klare Sternennacht, die nur hier und da eine verirrte Wolke, Nachzüglerin des Sturmes, trübte. Es war dicht vor der Hochflut, und die ›Tollen Männer‹ schrien und tobten durch die dunkle, windlose Stille. Nie zuvor, selbst nicht als der Sturm am ärgsten raste, hatte ich ihrem Gesang mit dumpferer Beklemmung gelauscht. Jetzt, da alle Winde heimgegangen waren, da die Tiefe sich in ihren Sommerschlaf zurückgewiegt und die Sterne ihr sanftes Licht über Land und Meer ergossen, schrien diese Strudel immer noch nach Aufruhr und Verderben. Ja, schien es doch, als wären sie ein Teil des Bösen in der Welt und von allem Leid des Lebens. Und ihr sinnloses Lärmen war nicht der einzige Laut, der das Schweigen der Nacht durchbrach. In das Tosen der Roost mischte sieh, bald schrill und durchdringend, bald fast ersterbend, der Klang einer menschlichen Stimme. Ich erkannte sie als die meines Onkels; und eine große Furcht vor den Strafen Gottes und vor dem Bösen in der Welt bemächtigte sieh meiner. Ich flüchtete mich in das Dunkel des Hauses wie an eine Freistatt und lag lang grübelnd über diese Mysterien im Bette wach.

Es war spät, als ich zum zweiten Male erwachte, und ich sprang in meine Kleider und eilte in die Küche. Sie war leer; Rorie und der Schwarze waren beide vor längerer Zeit heimlich auf und davon; bei dieser Entdeckung stand mir das Herz still. Auf Rories Treue konnte ich mich verlassen, nicht aber auf seinen Verstand. Hatte er sich so wortlos hinweggestohlen, dann war es nur, um, meinem Onkel zu dienen. Welchen Dienst aber konnte er ihm allein, geschweige denn in Begleitung des Mannes, der für meinen Onkel die Verkörperung seiner Schrecken war, zu leisten hoffen? Selbst wenn es nicht schon zu spät war, um tödliches Unheil zu verhüten, galt es doch keinen Augenblick länger zu zögern. Bei diesem Gedanken war ich schon aus dem Hause heraus; und manchen Lauf entlang den rauhen Hängen von Aros habe ich gemacht, aber keinen, der sich mit dem an jenem verhängnisvollen Morgen vergleichen kann. Keine zwölf Minuten brauchte ich, glaube ich, für den ganzen Anstieg. Mein Onkel war von seinem Ausguck verschwunden. Zwar war der Korb erbrochen und das Fleisch auf dem Rasen verstreut, aber er hatte keinen Bissen davon gegessen, wie es sich später herausstellte. Daneben war rings in weitem Umkreis keine Spur von einem menschlichen Wesen zu entdecken. Der klare Himmel war bereits taghell erleuchtet; schon blühte die Sonne in rötlichem Schimmer auf dem Gipfel Ben Kyaws auf, während die zottigen Hügel von Aros rings unter mir und der Schild des Meeres im durchsichtig grauen Zwielicht der Morgendämmerung dalagen.

»Rorie!« schrie ich; und noch einmal »Rorie!« Meine Stimme erstarb im Schweigen; keine Antwort kam. Hatte man es tatsachlich unternommen, meinen Onkel zu fangen, so war es klar, daß sich die Jäger, statt auf ihre Schnellfüßigkeit in erster Linie auf ihre Geschicklichkeit im Pirschen verließen. Ich lief weiter, wobei ich mich an die höchsten Vorsprünge hielt und nach rechts und links ausspähte, und blieb erst auf dem Sandager Berge stehen. Vor mir lagen das Wrack, der kahle Sandgürtel, die träge schwellenden Wogen und das lang sich hinstreckende Felsgestade; zur Rechten und Linken in wildem Durcheinander Erdhügel, Anhöhen und Schluchten der Insel. Und nirgends ein menschliches Wesen.

Plötzlich erstrahlte die Sonne über Aros, und Schatten und Farben sprangen ins Leben. Keine halbe Minute später brach unter mir, im Westen, unter einer Schafherde eine Panik aus. Ein Schrei ertönte. Ich sah meinen Onkel daherstürmen. Ich sah den Schwarzen in wildem Eifer hinter ihm her jagen, und noch bevor ich alles begriffen hatte, tauchte Rorie auf, der ihm auf Gälisch, wie einem Hunde, der eine Schafherde treibt, Anweisungen zuschrie.

Ich sprang hinzu, um mich dazwischen zu werfen, doch hätte ich besser daran getan, zu bleiben, wo ich war, denn so war ich es, der dem Wahnsinnigen den letzten Ausweg abschnitt. Im Augenblick sah er nichts vor sich als das Grab, das Wrack und die See in der Sandager Bucht. Doch Gott weiß, daß ich alles zum Besten tat. Mein Onkel Gordon erkannte, in welche für ihn furchtbare Richtung die Jagd ihn trieb. Er machte kehrt und bog im Zickzack rechts und links aus. Allein so stark ihn das Fieber in seinen Adern auch stieß, der Schwarze war flinker als er. Mochte er sich noch so sehr drehen und wenden, stets kam er ihm zuvor und hetzte ihn weiter, dem Schauplatz seines Verbrechens zu. Plötzlich schrie der Unglückliche auf, daß die Ufer vielfältig widerhallten; und jetzt riefen sowohl Rorie und ich dem Schwarzen zu, er möge einhalten. Doch alles war vergebens, denn es stand anders geschrieben. Der Verfolger rannte immer weiter, die Jagd stürmte immer noch schreiend an uns vorüber; sie bogen an dem Grabe aus und streiften die Planken des Wracks; blitzschnell hatten sie den Sandgürtel überquert, und noch immer jagte mein Onkel weiter, stracks in die Brandung hinein, und der Schwarze auf Armeslänge hinter ihm her. Rorie und ich blieben beide stehen, denn die Sache war über Menschenkraft hinausgewachsen; hier waren Gottes Ratschlüsse, die sich vor unseren Augen vollzogen. Niemals gab es ein rascheres Ende. An jener steilen Küste brauchte es eines einzigen Sprunges, um sie in die Tiefe zu schnellen; keiner von ihnen konnte schwimmen. Noch einmal mit ersticktem Schrei bäumte der Schwarze sich auf, dann hatte sie die seewärts rasende Strömung gepackt; und sind sie je wieder an die Oberfläche gekommen, was Gott allein weiß, so muß es zehn Minuten später gewesen sein, am äußersten Ende der Roost, wo die Seevögel kreisen und fischen.

Die Stimmeninsel


Übersetzt von Heinrich Conrad

Keola war verheiratet mit Lehua, der Tochter Kalamakes, des weisen Mannes von Molokai, und er wohnte bei dem Vater seiner Frau. Kein Mensch war schlauer als dieser Prophet: Er las in den Sternen; er wahrsagte aus Leichen und mit Hilfe böser Kreaturen; er konnte in die höchste Gegend des Gebirges gehen, in die Zone der Kobolde, und da pflegte er Schlingen zu legen, um Geister der Vorfahren einzufangen.

Darum wurde kein Mensch so oft um Rat gefragt im ganzen Königreich Hawaii. Vorsichtige Leute richteten ihr Leben nach seinen Ratschlägen ein, kauften und verkauften und heirateten. Und der König ließ ihn zweimal nach Kona kommen, die Schätze Kamehamehas zu suchen. Kein Mensch wurde aber auch mehr gefürchtet: Von seinen Freunden waren einige infolge seiner Zaubersprüche dahingesiecht, andere waren mit Haut und Haaren in Geister verwandelt worden und waren verschwunden, so daß ihre Leute vergeblich auch nur nach einem Knöchelchen von ihren Leibern suchten. Es ging das Gerücht, er besitze die Kunst oder Gabe der alten Helden. Leute hatten ihn nachts auf den Bergen gesehen, wie er von einem Felsen zum anderen hinübertrat; sie hatten ihn im Hochwald gehen sehen, und sein Kopf und seine Schultern ragten über die Baumwipfel empor.

Dieser Kalamake war seltsam anzusehen. Er stammte aus bestem Blut in Molokai und Maui, war von reiner Abkunft; und doch war er weißer anzusehen als jeder Fremde. Sein Haar hatte die Farbe trockenen Grases, seine Augen waren rot und sehr blind, so daß ein Sprichwort auf den Inseln lautete: ›Blind wie Kalamake, der über morgen hinaussehen kann.‹

Von all diesem Tun und Treiben seines Schwiegervaters wußte Keola ein wenig aus dem allgemeinen Gerede, ein bißchen mehr argwöhnte er, und um den Rest kümmerte er sich nicht. Aber da war etwas, das beunruhigte ihn. Kalamake war ein Mann, der sich nichts abgehen ließ, weder an Essen noch an Trinken, noch an Kleidung; und für alles bezahlte er in blanken neuen Dollars. ›Blank wie Kalamakes Dollars‹ war eine andere Redensart auf den acht Inseln. Dabei verkaufte er nichts, pflanzte nichts, nahm keine Pacht ein – nur für seine Zauberkünste bekam er von Zeit zu Zeit was; und so war keine sichtbare Quelle da für so viel Silbergeld.

Eines Tages traf es sich, daß Keolas Weib auf einen Besuch nach Kaunakakai, auf der Leeseite der Insel, gegangen war, und die Männer waren fort, zum Fischen auf der See. Aber Keola war ein fauler Hund, er lag auf der Veranda und sah die Brandung an den Strand schlagen und die Vögel um die Klippen fliegen. Einen Hauptgedanken hatte er immer in seinem Sinn – den Gedanken an die blanken Dollars. Wenn er sich zu Bett legte, wunderte er sich in seinen Gedanken, warum es so viele waren, und wenn er morgens aufwachte, wunderte er sich, warum es lauter neue waren; und das kam ihm nie aus dem Sinn. Aber gerade an diesem Tag von allen Tagen beschloß er in seinem Herzen, er wolle es herausbringen; denn er hatte, scheint’s, den Ort bemerkt, wo Kalamake seinen Schatz verwahrte, und das war ein verschlossenes Schreibpult an der Wohnzimmerwand unter der Lithographie Kamehamehas des Fünften und einer Photographie der Königin Viktoria mit ihrer Krone auf dem Kopfe. Ferner hatte er, scheint’s, und gerade erst in der vorigen Nacht, Gelegenheit gefunden, hineinzugucken, und siehe da! Der Geldsack war leer! Dies war der Tag, an dem der Dampfer kam, er konnte den Rauch schon auf der Höhe von Kalaupapa sehen, und er müßte bald ankommen mit Ware für einen Monat, Büchsenlachs und Gin und allen möglichen seltenen Leckerbissen für Kalamake.

»Nun, wenn er seine Waren heute bezahlen kann«, dachte Keola, »dann werde ich bestimmt wissen, daß der Mann ein Hexerich ist und daß die Dollars aus des Teufels Tasche kommen.«

Wie er so dachte, da stand sein Schwiegervater hinter ihm, sah ärgerlich aus und sagte:

»Ist das der Dampfer?«

»Ja. Er hat bloß noch in Pelekunu anzulegen, und dann wird er hier sein.«

»Dann hilft es nichts«, versetzte Kalamake; »dann muß ich dich ins Vertrauen ziehen, Keola, in Ermangelung eines Besseren. Komm mit mir ins Haus!«

So traten sie denn zusammen ins Wohnzimmer; das war ein sehr schönes Zimmer, mit Papiertapeten und Bildern an den Wänden und auf europäische Weise mit einem Schaukelstuhl, einem Tisch und einem Sofa ausgestattet. Außerdem war darin ein Büchergestell, eine Familienbibel lag mitten auf dem Tisch, und das verschließbare Schreibpult stand an der Wand, so daß ein jeder sehen konnte, es war das Haus eines wohlhabenden Mannes.

Kalamake ließ Keola die Fensterläden schließen, während er selbst alle Türen verschloß und dann den Deckel des Pults aufklappte. Aus diesem nahm er ein paar Halsbänder mit Amuletten und Muscheln, ein Bündel getrockneter Kräuter und einen grünen Palmenzweig.

»Was ich vorhabe«, sagte er, »ist etwas überaus Wunderbares. Die Menschen vor alters waren weise; sie wirkten Wunder, und dieses ist eins davon; aber das geschah nachts, im Dunkeln, unter den richtigen Sternen und in der Wüste. Dasselbe will ich hier in meinem eigenen Hause und im hellen Tageslicht vollbringen.«

Mit diesen Worten legte er die Bibel unter das Sofakissen, so daß sie ganz verdeckt war; dann nahm er aus dem Pult eine Mappe von wunderbar feinem Gewebe und machte aus den Kräutern und Blättern ein Häufchen, das er auf Sand in eine Blechpfanne legte. Dann hängten er und Keola die Halsbänder um und stellten sich auf entgegengesetzte Zipfel der Matte einander gegenüber.

»Die Zeit ist da«, sagte der Zauberer, »habe keine Furcht!«

Damit zündete er die Kräuter an und begann Worte zu murmeln und mit dem Palmzweig zu wedeln. Zuerst war das Licht dämmrig wegen der geschlossenen Fensterläden; aber die Kräuter gerieten stark in Brand, die Flammen schlugen auf Keola, und das Zimmer glühte von dem Feuer. Dann erhob sich der Rauch und machte ihm den Kopf schwindlig, es wurde ihm dunkel vor den Augen, und der Klang von Kalamakes Murmeln strömte in seine Ohren. Und plötzlich war es, wie wenn es der Matte, auf der sie standen, einen Ruck gäbe, der schneller als ein Blitz zu sein schien. In demselben Nu waren Zimmer und Haus verschwunden, und in Keolas Leib war keine Spur von Atem mehr. Unzählige Lichter funkelten ihm um Augen und Kopf, und er fand sich auf einem Strande an der See, unter einer heißen Sonne, vor einer starken, donnernden Brandung: Er und der Zauberer standen dort auf derselben Matte, sprachlos, keuchend und sich aneinander festhaltend.

»Was war dies?« schrie Keola, der zuerst wieder zu sich kam, weil er der Jüngere war. »Der Stoß, den es mir gab, war wie der Tod.«

»Es tut nichts«, keuchte Kalamake. »Es ist jetzt vorüber.«

»Und im Namen Gottes, wo sind wir?« rief Keola.

»Danach mußt du nicht fragen«, antwortete der Hexenmeister. »Da wir nun hier sind, so haben wir etwas zu tun, und daran müssen wir uns jetzt machen. Ich muß erst wieder zu Atem kommen; aber geh du derweile nach dem Waldsaum hinauf und bringe mir die Blätter von dem und dem Kraut und dem und dem Baum; du wirst sie dort reichlich wachsen finden – bringe drei Handvoll von jedem. Und sei flink! Wir müssen wieder zu Hause sein, bevor der Dampfer kommt; es würde auffallen, wenn wir verschwunden wären.«

Und er setzte sich auf den Sand und keuchte.

Keola ging den Strand hinauf, der aus schimmerndem Sand und Korallen bestand und mit seltsamen Muscheln bestreut war; und er dachte in seinem Herzen:

»Wie kommt es, daß ich diesen Strand nicht kenne? Ich will wieder hierhergehen und Muscheln sammeln.«

Vor ihm hob sich eine Reihe von Palmen gegen den Himmel ab – nicht wie die Palmen auf den acht Inseln, deren verdorrte Fächer wie Gold in dem Grün hingen, sondern alle groß und frisch und schön; und er dachte in seinem Herzen:

»Es ist sonderbar, daß ich dieses Wäldchen noch nie gefunden habe. Hierher will ich wieder gehen, wenn es warm ist, und will hier schlafen.« Und ferner dachte er: »Wie heiß es plötzlich geworden ist!« Denn auf Hawaii war es Winter, und der Tag war kühl gewesen. Und er dachte weiter:

»Wo sind die grauen Berge? Und wo ist das hohe Kliff mit dem überhängenden Walde und den trillernden Vögeln?»

Und je mehr er darüber nachdachte, desto weniger konnte er ausmachen, in welchen Bezirk der Insel er geraten wäre.

Am Saum des Waldes, wo dieser an den Strand stieß, wuchsen die Kräuter; der Baum aber wuchs weiter rückwärts. Als nun Keola auf den Baum zuging, bemerkte er ein junges Weib; die hatte nichts auf ihrem Leib als einen Blätterschurz.

»Na«, dachte Keola, »sie halten in diesem Teil des Landes nicht viel auf ihre Kleidung.«

Und er stand still, weil er dachte, sie würde ihn sonst bemerken und davonlaufen; und als er sah, daß sie immer noch vor sich hinblickte, summte er laut. Beim Klang sprang sie auf, ihr Gesicht war aschfahl, sie sah nach rechts und nach links, und ihre Lippen öffneten sich in dem Entsetzen ihrer Seele. Aber seltsam war es, daß ihre Augen nicht auf Keola ruhten.

»Guten Tag«, sagte dieser. »Du brauchst nicht so erschrocken zu sein; ich werde dich nicht aufessen.«

Aber kaum hatte er den Mund aufgetan, so floh das junge Weib in den Busch.

»Das sind sonderbare Manieren«, dachte Keola. Und ohne weiter zu überlegen, was er tat, rannte er ihr nach.

Im Laufen schrie das Mädchen fortwährend in einer Sprache, die auf Hawaii nicht gesprochen wurde; indessen waren einige von den Worten die gleichen, und er verstand soviel, daß sie andere Menschen rief und warnte. Und plötzlich sah er noch mehr Menschen laufen – Männer, Weiber und Kinder, alle in einem Haufen, rennend und schreiend wie Leute, wenn ein Feuer ausgebrochen ist. Da begann er selber Angst zu bekommen und kehrte zu Kalamake zurück und brachte ihm die Blätter. Ihm erzählte er, was er gesehen hätte.

»Du mußt darauf nicht achten«, sagte Kalamake. »All dies ist wie Traum und Schatten. Alles wird verschwinden und vergessen sein.«

»Es schien, als ob mich niemand sähe«, sagte Keola.

»Es sah dich auch keiner«, antwortete der Zauberer. »Wir gehen hier in der hellen Sonne unsichtbar, dank diesen Zaubermitteln. Aber sie hören uns; und deshalb ist es geraten, leise zu sprechen, wie ich es tue.«

Unterdessen machte er aus Steinen einen Kreis, und in die Mitte legte er die Blätter. Dann sagte er:

»Es wird deine Aufgabe sein, die Blätter in Brand zu halten und das Feuer langsam zu nähren. Während die Flamme brennt – was nur einen kleinen Augenblick dauert –, muß ich meine Sache tun; und bevor die Asche schwarz wird, bringt dieselbe Macht, die uns hierherführte, uns wieder heim. Halte dich bereit mit dem Streichholz; und rufe mich zur rechten Zeit, damit nicht das Feuer ausbrennt und ich hier zurückbleibe.«

Sobald die Blätter Feuer fingen, sprang der Hexerich wie ein Hirsch aus dem Kreis heraus und begann den Strand entlangzurennen wie ein Hund, der sich gebadet hat. Beim Laufen bückte er sich fortwährend, um Muscheln aufzuheben; und es kam Keola so vor, wie wenn sie glänzten, als er sie anfaßte. Die Blätter brannten mit einer lichten Flamme, die sie schnell verzehrte; plötzlich hatte Keola nur noch eine Handvoll übrig, und der Zauberer war weit weg, rannte und bückte sich.

»Zurück!« schrie Keola. »Zurück! Die Blätter sind beinahe alle!«

Daraufhin kehrte Kalamake um, und war er vorher gerannt, so flog er jetzt. Aber so schnell er auch lief, die Blätter verbrannten schneller. Die Flamme wollte gerade erlöschen, als er mit einem letzten großen Satz auf die Matte sprang. Der Luftzug bei seinem Sprung blies das Feuer aus, und in demselben Augenblick waren Strand, Sonne und See verschwunden, und sie standen wieder in der Dämmerung des Wohnzimmers mit den geschlossenen Läden, wieder rüttelte es ihren Leib, und ihre Augen waren wie geblendet; auf der Matte zwischen ihnen lag ein Haufen blanker Dollars. Keola rannte an ein Fenster und riß die Läden auf: Da fuhr der Dampfer mit der Dünung in die Bucht herein.

An demselben Abend nahm Kalamake seinen Schwiegersohn beiseite, drückte ihm fünf Dollar in die Hand und sagte:

»Keola, wenn du klug bist – woran ich allerdings zweifle –, wirst du denken, du habest heute nachmittag auf der Veranda geschlafen und im Schlaf einen Traum gehabt. Ich bin ein Mann von wenig Worten und habe zu Helfern Leute, die ein kurzes Gedächtnis haben.«

Kein Wort mehr sagte Kalamake; niemals sprach er wieder von der Geschichte. Aber Keola ging sie fortwährend durch den Kopf. War er früher faul gewesen, so tat er jetzt überhaupt nichts mehr.

»Warum sollte ich arbeiten«, dachte er, »wenn ich einen Schwiegervater habe, der Dollars aus Seemuscheln macht?«

Im Nu war sein Anteil ausgegeben. Er gab alles für schöne Kleider aus. Und dann reute es ihn, und er dachte:

»Ich hätte besser getan, mir ein Hackbrett zu kaufen, darauf hätte ich den ganzen Tag Musik machen und mich so unterhalten können.«

Und dann begann er ärgerlich auf Kalamake zu werden.

»Der Mann hat eine Hundeseele«, dachte er, »der kann, sooft er Lust hat, Dollars am Strande sammeln, und mich läßt er nach einem Hackbrett schmachten! Er soll sich in acht nehmen! Ich bin kein kleines Kind, ich bin so schlau wie er und ich weiß sein Geheimnis!«

Und er sprach mit seinem Weibe Lehua und beklagte sich über ihres Vaters Betragen.

»Ich würde meinen Vater zufriedenlassen«, sagte Lehua, »es ist gefährlich, ihm in den Weg zu kommen.«

»Soviel mache ich mir aus ihm!« rief Keola und schnippte mit den Fingern. »Ich halte ihn an der Nase. Er muß tun, was mir gefällt.«

Und er erzählte Lehua die Geschichte. Aber sie schüttelte den Kopf und sagte:

»Du kannst tun, was du magst; aber verlaß dich drauf, wenn du dich meinem Vater in den Weg stellst, wird man kein Wort mehr von dir hören. Denke an diesen, an jenen, denke an Hua; der war ein Edelmann und Mitglied des Hauses der Abgeordneten und ging jedes Jahr nach Honolulu; und kein Knöchelchen, kein Härchen von ihm wurde je gefunden. Erinnere dich an Kamau, wie er allmählich so dünn wurde wie ein Zwirnsfaden, so daß seine Frau ihn mit einer Hand hochheben konnte. Keola, du bist ein Säugling in meines Vaters Händen; er wird dich zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen und dich aufessen wie eine Garnele.«

Nun war Keola allerdings wirklich vor Kalamake bange, aber er war auch eitel; und diese Worte seiner Frau machten ihn ärgerlich, und er sagte:

»Nun schön! Wenn du so über mich denkst, dann will ich dir zeigen, wie sehr du dich irrst!«

Und er ging stracks zu seinem Schwiegervater, der in dem Wohnzimmer saß, und sagte zu ihm:

»Kalamake, ich möchte ein Hackbrett.«

»So? Möchtest du?« sagte Kalamake.

»Ja; und es ist wohl am besten, ich sage es dir klipp und klar: Ich will es unbedingt haben! Ein Mann, der Dollars am Strand aufpickt, kann gewiß ein Hackbrett kaufen.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß du so klug bist«, antwortete der Hexerich. »Ich dachte, du wärst ein blöder, zu nichts zu gebrauchender Junge, und ich kann dir gar nicht beschreiben, wie es mich freut, jetzt zu sehen, daß ich mich irrte. Jetzt möchte ich ja beinahe glauben, ich hätte bei meinem schwierigen Geschäft einen Helfer und einen Nachfolger dafür gefunden. Ein Hackbrett? Du sollst das beste haben, das es in Honolulu zu kaufen gibt. Und heute abend, sobald es dunkel ist, wollen wir beide, du und ich, losgehen und das Geld holen.«

»Sollen wir wieder nach dem Strand gehen?« fragte Keola.

»Nein, nein!« versetzte Kalamake. »Du mußt gleich anfangen, mehr von meinen Geheimnissen zu lernen. Das letzte Mal lehrte ich dich, Muscheln aufsammeln; diesmal werde ich dich lehren, Fische zu fangen. Bist du stark genug, Pilis Boot ins Wasser zu bringen?«

»Ich denke wohl«, antwortete Keola. »Aber warum nehmen wir denn nicht unser eigenes, das schon flott ist?«

»Dafür habe ich einen Grund, den du vollkommen begreifen wirst, bevor es Morgen wird«, sagte Kalamake. »Pilis Boot eignet sich besser zu meinem Vorhaben. Also, wenn es dir recht ist, wollen wir uns dort treffen, sobald es dunkel ist; unterdessen behalten wir die Sache für uns, denn es ist kein Grund vorhanden, die Familie in unser Geschäft hineingucken zu lassen.«

Honig ist nicht süßer, als Kalamakes Stimme war, und Keola konnte kaum seine Befriedigung verhehlen.

»Ich hätte mein Hackbrett schon vor Wochen haben können«, dachte er, »in dieser Welt ist doch weiter nichts nötig als ein bißchen Mut.«

Gleich darauf sah er Lehua, die weinte, und er dachte halb und halb daran, ihr zu sagen, daß alles in Ordnung sei.

»Aber nein«, sagte er, »ich will lieber warten, bis ich ihr das Hackbrett zeigen kann; dann wollen wir einmal sehen, was das Mädchen dann sagt! Vielleicht wird sie in Zukunft begreifen, daß ihr Mann ein kluger Kopf ist!«

Sobald es dunkel war, schoben Vater und Schwiegersohn Pilis Boot ins Wasser und setzten das Segel. Die See ging hoch, und es blies ein starker Wind aus Lee; aber das Boot war schnell und leicht und trocken und flog über die Wogen. Der Hexerich hatte eine Laterne bei sich; die zündete er an und hielt sie an einem Finger, den er durch den Ring gesteckt hatte; die beiden saßen im Heck und rauchten Zigarren, von denen Kalamake immer einen Vorrat hatte, und sprachen wie gute Freunde von Zauberei und von den großen Geldsummen, die sie durch deren Ausübung bekommen könnten, und was sie zuerst kaufen sollten, und was dann zunächst; und Kalamake redete wie ein Vater.

Auf einmal sah er rundum, nach oben auf die Sterne und zurück auf die Insel, die bereits zu drei Vierteilen in der See versunken war; und es schien, wie wenn er reiflich überlegte, wo sie in dem Augenblick wären.

»Sieh!« sagte er. »Da liegt Molokai schon weit hinter uns, und Maui ist wie eine Wolke; und an der Stellung dieser drei Sterne da oben erkenne ich, daß ich an dem gewünschten Ort angelangt bin. Dieser Teil der See wird die Totensee genannt. Das Meer ist an dieser Stelle außerordentlich tief, der ganze Grund ist mit menschlichen Gebeinen bedeckt, und in den Höhlen am Grunde haben Götter und Spukgeister ihre Wohnungen. Die Meeresströmung geht nördlich – stärker, als ein Haifisch schwimmen kann, und jeden Menschen, der hier über Bord fällt, reißt sie weg wie ein wildes Pferd und treibt ihn weit, weit in den Ozean hinaus. Auf einmal ist er erschöpft und geht unter, und seine Gebeine werden zu den übrigen verstreut, und seine Seele fressen die Götter.«

Furcht kam über Keola bei diesen Worten, und er sah um sich, und im Licht der Sterne und der Laterne schien der Hexerich sich zu verändern.

»Was fehlt dir?« schrie Keola, schnell und scharf.

»Mir fehlt nichts«, sagte der Zauberer, »aber hier ist einer, der ist sehr krank.«

Mit diesen Worten ließ er seine Laterne los, und siehe da! Als er seinen Finger aus dem Ring ziehen wollte, da blieb der Finger stecken, aber der Ring barst auseinander, und seine Hand war so groß geworden wie drei Hände.

Bei diesem Anblick kreischte Keola auf und bedeckte sein Gesicht.

Kalamake aber hielt die Laterne hoch und sagte:

»Sieh lieber mein Gesicht an!«

Und sein Kopf war so groß wie ein Faß; und immer noch wuchs er und wuchs, wie eine Wolke wächst an einem Berg, und Keola saß vor ihm und kreischte, und das Boot flog durch die hohen Wogen.

»Und nun«, sagte der Zauberer, »wie denkst du über das Hackbrett? Bist du auch sicher, daß du nicht lieber eine Flöte haben möchtest? Nein? Na, das ist gut; denn ich mag es nicht, wenn meine Verwandten wankelmütig in ihren Vorsätzen sind. Aber ich beginne zu denken, daß es wohl besser ist, ich verlasse diesen zerbrechlichen Kahn, denn mein Körper schwillt ganz ungewöhnlich groß an, und wenn wir nicht besser aufpassen, wird das Boot gleich sinken.«

Damit schwang er seine Beine über Bord. Und in dem Augenblicke, wie er das tat, wurde seine Größe dreißigfach oder vierzigfach, und zwar so schnell, wie ein Mensch sehen oder denken kann. So stand er bis zu den Achselhöhlen in der tiefen See, und sein Haupt und seine Schultern ragten wie eine hohe Insel empor; die Wogen schlugen gegen seine Brust und brachen sich daran wie Brandung gegen ein Kliff. Das Boot lief immer noch gen Norden; er aber streckte seine Hand aus, nahm das Dollbord zwischen Daumen und Zeigefinger und brach die Planke entzwei wie einen Zwieback, und Keola wrde in die See gekippt. Und die Stücke des Bootes zerdrückte der Zauberer in der hohlen Hand und schleuderte sie meilenweit in die Nacht hinein. Und dann sagte er:

»Entschuldige mich, daß ich die Laterne mitnehme; denn ich habe noch weit zu waten, das Land ist fern und der Boden der See uneben, und ich fühle die Knochen unter meinen Zehen.«

Und er wandte sich und ging davon, mit großen Schritten stapfend; und sooft Keola in eine Wellentiefe sank, konnte er ihn nicht mehr sehen; aber sooft er auf einen Wogenkamm gehoben wurde, war Kalamake da, weit ausschreitend und allmählich verschwindend; er hielt die Laterne hoch über seinen Kopf, und die Wellen brachen sich mit weißem Schaum an ihm, wie er so dahinschritt.

Seitdem die Inseln zuerst aus dem Meer aufgetaucht waren, hatte niemals ein Mensch solche Angst gehabt wie Keola. Er schwamm allerdings, aber er schwamm, wie junge Hunde paddeln, wenn man sie ins Wasser wirft, um sie zu ertränken, und er wußte nicht, wohin er schwimmen sollte. Er konnte nur immer daran denken, wie gewaltig groß der Hexerich angeschwollen war: an dies Gesicht, das so groß war wie ein Berg, an diese Schultern, die breit waren wie eine Insel, an die Wogen, die vergeblich gegen sie anprallten. Er dachte auch an das Hackbrett und schämte sich; und er dachte an die Totengerippe, und Angst packte ihn.

Plötzlich bemerkte er im Sternenlicht etwas Dunkles, das sich hin und her bewegte, und darunter ein Licht und einen hellen Schein auf den Wellen des Meeres, und er hörte Menschen sprechen. Da rief er laut, und eine Stimme antwortete; und in einem Nu schwebte der Bug eines Schiffes über ihm auf einer Welle und fuhr dann in die Tiefe. Er griff mit beiden Händen in die Ketten des Schiffes, und im nächsten Augenblick wurde er in die rauschende See gerissen und im übernächsten von Matrosen an Bord gehißt.

Sie gaben ihm Gin und Zwieback und trockene Kleider und fragten ihn, wie er so weit in die See hinausgekommen wäre und ob das Licht, das sie gesehen hätten, der Leuchtturm Lae o Ka Laau wäre. Aber Keola wußte, daß die Weißen wie Kinder sind und nur an ihre eigenen Geschichten glauben; so erzählte er ihnen denn über sich selber, was ihm gerade einfiel, und in bezug auf das Licht – das natürlich Kalamakes Laterne gewesen war – erklärte er mit einem Schwur, er hätte keines gesehen.

Dieses Schiff war ein Schoner, der nach Honolulu segeln und dann eine Handelsfahrt nach den Niedrigen Inseln machen sollte; und ein großes Glück für Keola hatte es so gefügt, daß der Schoner einen Mann verloren hatte, der in einer Bö vom Bugspriet gefallen war. Es hatte keinen Zweck, etwas dagegen zu sagen: Auf den acht Inseln durfte Keola sich nicht aufhalten. Worte laufen so schnell, und alle Leute haben so große Lust daran, zu schwatzen und Neuigkeiten zu erzählen, daß es ganz einerlei war, ob er sich am Nordende von Kauai oder am Südende von Kau aufgehalten hätte: Der Hexerich würde Wind davon bekommen, bevor ein Monat um wäre, und dann müßte er sterben. So tat er denn, was ihm das klügste zu sein schien, und wurde Matrose an Stelle des Ertrunkenen.

In manchen Beziehungen war das Schiff eine gute Stelle; das Essen war außerordentlich gut und reichlich: Zwieback und Pökelfleisch gab es jeden Tag, und Erbsensuppe und Pudding von Mehl und Nierenfett zweimal in der Woche, so daß Keola fett wurde. Auch war der Kapitän ein guter Mann, und die Mannschaft war nicht schlimmer, als andere Weiße sind. Das Unangenehme war der Steuermann – einen Menschen, der so schwer zufriedenzustellen war, hatte Keola in seinem Leben noch nicht getroffen: Tagtäglich schlug er ihn und schalt ihn, sowohl für das, was er tat, wie für das, was er nicht tat. Die Püffe, die er austeilte, taten sehr weh; denn er war stark. Und die Worte, die er gebrauchte, waren sehr unschmackhaft für Keola; denn der stammte aus einer guten Familie und war an Respekt gewöhnt. Das schlimmste von allem aber war dies: Sooft Keola einmal ein bißchen Gelegenheit zum Schlafen fand, war der Steuermann wach und munterte ihn mit einem Tauende auf. Keola sah, das würde nie und nimmer gut gehen, und so beschloß er davonzulaufen.

Sie waren ungefähr einen Monat von Honolulu weg, als sie Land sahen. Es war eine schöne Sternennacht; die See war glatt und der Himmel hell; es blies ein beständiger Passatwind, und die Insel lag ihnen im Luv, wie ein Band von Palmbäumen, platt auf der See. Der Kapitän und der Steuermann sahen mit dem Nachtglas nach der Insel hinüber und nannten ihren Namen und redeten von ihr, und das geschah neben dem Steuerrad, an welchem Keola steuerte. Wie es schien, war es eine Insel, wohin keine Händler kamen. Nach des Kapitäns Meinung war es sogar eine Insel, worauf keine Menschen wohnten; aber der Steuermann war anderer Meinung und sagte:

»Was im ›Directory‹ steht, da geb ich keinen Cent drauf! Ich bin einmal nachts auf dem Schoner ›Eugenie‹ vorbeigefahren; es war gerade so eine Nacht wie heute; sie fischten mit Fackeln, und der Strand war dick besetzt mit Lichtern wie eine Stadt.«

»Na, schön«, sagte der Kapitän, »der Strand fällt steil ab, das ist für uns die Hauptsache, und nach der Karte sind keine gefährlichen Klippen unter Wasser; so wollen wir dicht heran unter Lee gehen. Lege voll herum, hörst du nicht!« rief er Keola zu, der so aufmerksam zuhörte, daß er das Steuern vergaß.

Und der Steuermann fluchte und schwur, dieser Kanake sei auf der ganzen Welt zu nichts nutze, und wenn er einmal mit einem Belegnagel über ihn käme, das würde für Keola ein kalter Tag sein.

Und dann legten Kapitän und Steuermann sich auf dem Kajütendach zum Schlafen nieder, und Keola war sich allein überlassen.

»Diese Insel wird mir sehr gut gefallen«, dachte er bei sich, »wenn keine Händler hierherkommen, wird auch der Steuermann niemals kommen. Und Kalamake kann unmöglich mich hier auf dieser Insel finden; dazu ist sie zu weit entfernt.«

Somit brachte er den Schoner immer näher an den Strand heran. Er mußte dies ganz sachte tun, denn mit diesen Weißen und vor allem mit dem Steuermann war das Unangenehme dies, daß man niemals wußte, wie man mit ihnen dran war; sie schliefen alle ganz fest oder taten wenigstens so, und wenn ein Segel flappte, sprangen sie plötzlich auf die Füße und fielen mit einem Tauende über einen her. So brachte denn Keola den Schoner ganz allmählich, ganz sachte ans Land heran. Und auf einmal war das Land dicht neben dem Schiff, und die Wellen schlugen laut an die Schiffswände.

Da richtete plötzlich der Steuermann sich auf und brüllte:

»Was machst du da! Du bringst ja das Schiff auf den Strand!«

Und er machte einen Satz auf Keola zu, und Keola machte auch einen Satz, glatt über die Brustwehr weg und plumps in die funkelnde See hinein. Als er wieder auftauchte, war der Schoner wieder im rechten Kurs und war schon weit; der Steuermann stand selber am Rad, und Keola hörte ihn fluchen. Die See war glatt unter dem Lee der Insel; außerdem war es warm, und Keola hatte sein Matrosenmesser, hatte also keine Furcht vor Haifischen. Ein Stückchen vor ihm hörten die Bäume auf; da war eine Lücke in dem Landstrich wie eine Hafenmündung; und die Flut, die gerade einsetzte, nahm ihn mit und brachte ihn durch diese Lücke. Noch war er draußen, und in der nächsten Minute war er drinnen: war vom Strom in ein weites, seichtes Wasser gerissen worden, worin zehntausend Sterne sich spiegelten, und rund um ihn herum war der Ring des Landes mit seiner Schnur von Kokospalmen. Und er war verblüfft, denn von einer solchen Sorte von Inseln hatte er niemals etwas gehört.

Die Zeit, die Keola an diesem Ort verbrachte, zerfiel in zwei Perioden – die Periode, als er allein war, und die Periode, als er mit dem Stamm zusammenhauste. Zuerst suchte er überall und fand keinen Menschen, sondern nur einige Häuser, die wie ein Dörfchen zusammenstanden, und in ihnen Feuerspuren. Aber die Asche auf den Feuerstätten war kalt, oder der Regen hatte sie hinweggespült; und die Stürme hatten geblasen, und einige von den Hütten waren über den Haufen geworfen. Hier schlug er seinen Wohnsitz auf; er machte sich einen Feuerbohrer und einen Angelhaken aus einer Muschel und fischte und kochte seinen Fisch, er kletterte in die Palmen und pflückte grüne Kokosnüsse, deren Milch er trank – denn auf der ganzen Insel war kein Wasser. Die Tage wurden ihm lang, und die Nächte waren voller Schrecknisse. Er machte sich eine Lampe aus einer Kokosnußschale, preßte Öl aus den reifen Nüssen und machte einen Docht aus Bast; und wenn der Abend kam, schloß er seine Hütte und zündete seine Lampe an, und dann lag er da und zitterte, bis der Morgen kam. Manches Mal dachte er in seinem Herzen, ihm wäre besser gewesen, wenn er auf dem Grunde der See läge und seine Knochen unter den anderen rollten.

Die ganze Zeit über hielt er sich auf der Binnenseite der Insel auf; denn die Hütten standen am Strande der Lagune, und die Palmen wuchsen dort am besten, und die Lagune selbst wimmelte von guten Fischen. Und nach der Außenseite ging er nur ein einziges Mal, und nur dieses eine Mal sah er zitternd den Strand des Ozeans und kam zitternd nach Hause. Denn der Anblick dieses Strandes mit seinem hellen Sand und den herumliegenden Muscheln, mit der heißen Sonne und der starken Brandung machte ihm sterbensübel.

»Es kann nicht sein«, dachte er bei sich selber, »und doch sieht es ganz ähnlich aus. Und wie soll ich wissen, ob es nicht wirklich so ist? Diese Weißen behaupten zwar immer, sie wüßten, wo sie segeln, aber trotzdem müssen sie auf gut Glück fahren wie andere Leute. Und so kann es schließlich doch wohl sein, daß wir in einem Kreis gesegelt sind, und ich bin vielleicht ganz nahe bei Molokai; vielleicht ist dies derselbe Strand, wo mein Schwiegervater seine Dollars sammelt.«

So war er denn von jetzt an vorsichtig und hielt sich an der Landseite.

Es war vielleicht einen Monat später, da kamen die Leute an, denen der Platz gehörte – sechs große Boote voll. Sie waren schöne Menschen und sprachen in einer Sprache, die ganz anders klang als die von Hawaii, aber so viele der Worte waren die gleichen, daß sie nicht schwer zu verstehen war. Außerdem waren die Männer sehr höflich und die Weiber sehr zutunlich; sie hießen Keola willkommen, bauten ihm ein Haus und gaben ihm ein Weib; und am meisten überraschte ihn, daß er niemals mit den jungen Leuten zur Arbeit geschickt wurde.

Und nun hatte Keola drei Perioden: zuerst eine, da er sehr traurig war; dann eine, da er recht lustig war; zuletzt aber kam die dritte, da war er der erschrockenste Mensch der vier Ozeane.

Die Ursache der ersten Periode war das Mädchen, das er zur Frau hatte. Er war in Zweifeln wegen der Insel, und er hätte auch in Zweifeln sein können wegen der Sprache, von der er nur so wenig gehört hatte, als er mit dem Hexerich auf der Matte an den Strand gekommen war. Aber bezüglich seines Weibes war kein Irrtum möglich; denn sie war dasselbe Mädchen, das schreiend vor ihm in den Wald geflüchtet war. So war er denn so weit gesegelt und hätte ebensogut in Molokai bleiben können! Und hatte Heimat und Weib und alle seine Freunde verlassen, einzig und allein um seinem Feinde zu entrinnen, und nun war der Ort, wohin er gekommen war, dieses Zauberers Jagdgrund, war der Strand, auf dem er unsichtbar ging! Während dieser Periode hielt er sich möglichst nahe an der Lagune und blieb, nach Möglichkeit, in seiner Hütte in Deckung.

Der Grund seiner Freude in der zweiten Periode waren Gespräche, die er mit seiner Frau und den vornehmsten unter den Insulanern hatte. Keola selber sagte wenig. Er traute seinen neuen Freunden niemals so recht; nach seiner Meinung waren sie zu höflich, um aufrichtig zu sein; denn seitdem Keola seinen Schwiegervater besser kennengelernt hatte, war er vorsichtiger geworden. Darum sagte er ihnen über sich selber weiter nichts als seinen Namen und seine Abstammung und erzählte, daß er von den acht Inseln komme, und was für schöne Inseln das seien, und von des Königs Palast in Honolulu, und wie er selber ein Hauptfreund des Königs und der Missionare sei. Aber er stellte viele Fragen und erfuhr viel. Die Insel, auf der er sich befand, wurde die Stimmeninsel genannt; sie gehörte dem Stamm, aber ihre Heimat hatten sie auf einer anderen Insel, zu der man drei Stunden nach Süden zu segeln hatte. Dort wohnten sie und hatten ihre ständigen Häuser; es war eine reiche Insel, wo es Eier und Hühner und Schweine gab, und Schiffe kamen zum Handeln und brachten Rum und Tabak. Nach dieser Insel war der Schoner gefahren, nachdem Keola weggelaufen war. Dort war auch der Steuermann gestorben, ein rechter Narr von einem Weißen! Wie es schien, war der Schoner gerade zu Beginn der Jahreszeit gekommen, in der die Fische der Lagune giftig sind und jeder, der von ihnen ißt, aufschwillt und stirbt. Der Steuermann hörte davon; er sah die Boote zur Abfahrt rüsten, weil in jener Jahreszeit die Leute die Insel verlassen und nach der Stimmeninsel hinübersegeln; aber er war ein weißer Narr, der keine Geschichten glauben wollte als seine eigenen, und er fing einen von diesen Fischen, kochte ihn, aß ihn, schwoll auf und starb – was für Keola angenehm zu hören war.

Die Stimmeninsel aber lag den größten Teil des Jahres einsam und verlassen; nur ab und zu kam eine Bootsmannschaft herüber, um Kopra zu holen, und in der schlechten Jahreszeit, wenn die Fische der Hauptinsel giftig waren, wohnte der ganze Stamm dort. Ihren Namen hatte sie von einem Wunder; denn wie es schien, war die Ozeanseite ganz und gar von unsichtbaren Teufeln eingenommen. Tag und Nacht hörte man sie miteinander in fremden Zungen reden; Tag und Nacht flammten auf dem Strande Feuerchen auf und erloschen; und die Ursache dieser Vorgänge konnte kein Mensch begreifen.

Keola fragte sie, ob es ebenso auf ihrer eigenen Insel sei oder wo sie sonst wohnten; und sie sagten ihm: nein, dort nicht; ebensowenig auf irgendeiner anderen von mehreren hundert Inseln, die rund herum in diesem Teil der See lägen; sondern es sei eine besondere Eigentümlichkeit der Stimmeninsel. Sie sagten ihm ferner, diese Feuer und Stimmen seien immer nur an der Ozeanseite und in den Waldsäumen am Ozean zu bemerken, und ein Mensch könnte zweitausend Jahre lang an der Lagune leben – wenn er überhaupt so lange leben könnte – und würde niemals auch nur das geringste merken; doch auch an der Ozeanseite täten die Teufel einem nichts zuleide, wenn man sie in Ruhe ließe. Bloß einmal, da hätte ein Häuptling seinen Speer nach einer der Stimmen geworfen, und am selben Abend sei er von einer Kokospalme herabgestürzt und sei tot gewesen.

Keola dachte viel nach. Er sah, daß er nichts zu befürchten hätte, wenn der Stamm nach der Hauptinsel zurückkehrte und er einfach bliebe, wo er jetzt wäre; er brauchte bloß bei der Lagune wohnen zu bleiben. Indessen dachte er, es wäre doch gut, wenn er seine Lage noch sicherer machen könnte. So erzählte er denn dem Oberhäuptling, er sei einmal auf einer Insel gewesen, die auf die gleiche Weise heimgesucht worden wäre, und die Leute dort hätten ein Mittel gefunden, sich die Störung vom Hals zu schaffen.

»In dem Busch da wuchs nämlich ein gewisser Baum, und es scheint, daß diese Teufel kamen, um sich die Blätter davon zu holen. So schlugen denn die Leute auf der Insel diesen Baum nieder, wo sie ihn fanden, und die Teufel kamen nicht mehr.«

Sie fragten, was für eine Art von Baum das gewesen sei, und er zeigte ihnen den Baum, von dem Kalamake die Blätter verbrannt hatte. Sie fanden es kaum glaublich; trotzdem beschäftigte der Gedanke sie. Nacht für Nacht disputierten die alten Männer darüber bei ihren Ratsversammlungen; aber der Oberhäuptling – obgleich er ein tapferer Mann war – hatte Angst vor der Sache und erinnerte sie täglich an den Häuptling, der einen Speer in Richtung der Stimmen geschleudert hätte und getötet worden wäre; und der Gedanke an dieses Ereignis brachte alles wieder zum Stillstand.

Obgleich es ihm nun nicht gelang, das Niederhauen der Bäume zu veranlassen, fühlte Keola sich doch recht wohl und begann sich umzuschauen und sich seiner Tage zu freuen; er war auch um so freundlicher zu seiner Frau, so daß diese ihn sehr zu lieben begann. Eines Tages kam er in die Hütte, da lag sie jammernd auf dem Fußboden.

»Nun?« fragte Keola. »Was fehlt dir denn jetzt?«

Sie erklärte, es sei nichts.

In derselben Nacht weckte sie ihn auf. Die Lampe brannte sehr trübe, aber er sah an ihrem Gesicht, daß sie bekümmert war.

»Keola«, sagte sie, »lege dein Ohr an meinen Mund, damit ich flüstern kann; denn kein Mensch darf uns hören! Zwei Tage bevor die Boote wieder segelfertig gemacht werden, mußt du nach der Ozeanseite der Insel gehen und dich in einem Dickicht verbergen. Wir beide, du und ich, wollen den Platz vorher aussuchen und Nahrung dort verbergen; und jede Nacht werde ich singend in der Nähe vorübergehen. Wenn also eine Nacht kommt und du mich nicht hörst, so wirst du wissen, daß wir von der Insel abgefahren sind und daß du ohne Gefahr wieder herauskommen kannst.«

Keolas Seele starb in ihm, und er rief:

»Was heißt dies? Ich kann nicht unter Teufeln leben. Ich will nicht auf dieser Insel zurückgelassen werden. Ich sehne mich, sie zu verlassen.«

»Du wirst sie niemals lebend verlassen, mein armer Keola«, sagte das Mädchen, »denn, um dir die Wahrheit zu sagen, meine Leute sind Menschenfresser; aber sie halten dies geheim. Und aus folgendem Grunde werden sie dich töten, bevor sie abreisen: Zu unserer Insel kommen Schiffe, und Donat-Kimaran kommt und predigt für die Franzosen, und es ist ein weißer Händler dort in einem Hause mit einer Veranda und auch ein Katechist. Oh, das ist wirklich ein schöner Ort! Der Händler hat Fässer voll Mehl, und ein französisches Kriegsschiff kam einmal in die Lagune und gab einem jeden Wein und Zwieback. Ach, mein armer Keola, ich wollte, ich könnte dich dorthin mitnehmen, denn groß ist meine Liebe zu dir, und es ist der schönste Ort in der ganzen Südsee mit Ausnahme von Papeete.«

So war nun Keola der erschreckteste Mann der vier Ozeane. Er hatte von Menschenfressern erzählen hören, die auf den südlichen Inseln lebten, und hatte immer Angst davor gehabt; und hier klopfte nun die Gefahr an seine Tür. Außerdem hatte er durch Reisende von den Gebräuchen dieser Menschenfresser gehört: wie sie einen, den sie zu essen gedenken, verzärteln und verwöhnen wie eine Mutter ihr Lieblingskind. Und er sah, daß es auch in seinem Fall so gewesen wäre: daß sie ihm darum Haus und Nahrung und Weib gegeben und ihn von aller Arbeit befreit hatten und daß darum die alten Männer und die Häuptlinge mit ihm diskutiert hatten wie mit einer bedeutenden Person. Und so lag er auf seinem Bett und verfluchte sein Geschick; und sein Fleisch zog sich ihm über den Knochen zusammen.

Am nächsten Tage waren die Leute des Stammes sehr höflich, wie es ihre Art war. Sie waren elegante Sprecher, machten schöne Gedichte und bei den Mahlzeiten Witze, so daß ein Missionar sich hätte totlachen mögen. Wenig genug machte sich Keola aus ihrem feinen Benehmen; er sah weiter nichts als die glänzenden weißen Zähne in ihrem Mund, und das Herz drehte sich ihm dabei um; und als sie gegessen hatten, ging er in den Busch und lag dort wie ein Toter.

Am nächsten Tage war es ebenso; aber da ging seine Frau ihm nach und sagte zu ihm:

»Keola! Wenn du mehr issest, so sage ich dir allen Ernstes: Dann wirst du morgen geschlachtet und gebraten werden. Einige von den alten Häuptlingen murren bereits. Sie denken, du seiest krank geworden und müssest Fleisch verlieren.«

Da sprang Keola auf seine Füße, Ärger brannte in ihm, und er sagte:

»Ich mache mir wenig daraus, ob ich auf die eine Weise umkomme oder auf die andere! Ich bin zwischen dem Teufel und der tiefen See. Da ich doch einmal sterben muß, so laß mich so schnell wie möglich sterben, und da ich im besten Fall gefressen werden muß, so laß‘ ich mich lieber von Gespenstern fressen als von Menschen. Lebe wohl!« sagte er, ließ sie stehen und ging nach der Ozeanseite der Insel hinüber.

Der Strand lag ganz nackt in der heißen Sonne; kein Mensch war zu sehen, aber auf dem Strande bewegte es sich; und rund um ihn herum, wie er so ging, redeten die Stimmen und flüsterten, und die Feuerchen flackerten auf und brannten nieder. Alle Sprachen der Erde wurden dort gesprochen: französisch, holländisch, russisch, tamilisch, chinesisch. Aus jedem Lande, wo Zauberei bekannt ist, waren einige Menschen da und flüsterten in Keolas Ohr. Der Strand wimmelte von Menschen wie ein Jahrmarkt, aber kein einziger war zu sehen; und wie er so dahinschritt, sah er die Muscheln vor ihm verschwinden, aber keinen Menschen, der sie auflas. Ich glaube, der Teufel selber hätte Angst gehabt, in solch einer Gesellschaft allein zu sein; aber Keola war über alle Furcht hinaus und freite um den Tod. Wenn die Feuer aufflackerten, rannte er auf sie los wie ein Stier. Körperlose Stimmen riefen einander zu; unsichtbare Hände warfen Sand auf die Flammen; und sie waren vom Strande verschwunden, bevor er sie erreichte.

»Es ist klar, Kalamake ist nicht hier«, dachte er, »sonst wäre ich schon längst getötet worden.«

Damit setzte er sich am Waldsaum nieder – denn er war müde – und stützte das Kinn auf seine Hände. Das Treiben vor seinen Augen dauerte an: Der Strand schwirrte von schwatzenden Stimmen, die Feuer flammten auf und sanken zusammen, und die Muscheln verschwanden und wurden wieder erneuert, während er noch hinsah.

»Als ich das vorige Mal hier war, war es ein stiller Tag«, dachte er; »denn es war gar nichts im Vergleich zu heute.«

Und sein Kopf schwindelte ihm bei dem Gedanken an die Millionen und aber Millionen von Dollars, und an alle diese Hunderte und aber Hunderte von Menschen, die sie am Strand auflasen, und die durch die Lüfte flogen, höher und schneller als Adler.

»Wenn ich dran denke, wie sie mich mit ihrem Gerede von Münzen genarrt haben«, sagte er vor sich hin, »daß in diesen Münzen Geld geschlagen würde, während es doch klar ist, daß alle neuen Geldstücke in der ganzen Welt auf diesem Sand gesammelt werden. Aber das nächste Mal werde ich besser Bescheid wissen! Dann lasse ich mir nicht wieder etwas vorlügen!«

Und zuletzt – er wußte nicht recht, wie es kam oder wann es war – fiel Schlaf auf Keola, und er vergaß die Insel und alle seine Sorgen.

In der Frühe des nächsten Tages, bevor noch die Sonne aufgegangen war, weckte ihn ein Geräusch. Ängstlich fuhr er auf, denn er dachte, der Stamm hätte ihn im Schlaf überrascht; aber es war nicht so. Nur auf dem Strande gerade vor ihm riefen die körperlosen Stimmen einander zu, und es schien, wie wenn sie alle die Küste hinauf an ihm vorbeiliefen und –schwebten.

»Was ist denn nun los?« dachte Keola. Und es war ihm klar, daß es sich um etwas Außergewöhnliches handelte, denn es wurden keine Feuer angezündet und keine Muscheln genommen, aber die körperlosen Stimmen riefen fortwährend auf dem Strande, bis sie in der Ferne erstarben; dann folgten andere, und mit diesen war es ebenso; nach dem Klang der Stimmen mußten diese Zauberer zornig sein.

»Jedenfalls sind sie nicht auf mich zornig«, dachte Keola, »denn sie laufen dicht an mir vorbei.«

Wie wenn Hunde auf der Straße laufen oder Pferde bei einem Wettrennen oder in einer Stadt die Menschen, wenn ein Feuer ausgebrochen ist und alle nach der Brandstätte rennen – so war es jetzt mit Keola; und er wußte nicht, was er tat, noch warum er es tat – aber siehe da! auf einmal rannte er mit den Stimmen.

So kam er um eine Spitze der Insel und sah eine zweite Landspitze vor sich; und er erinnerte sich, daß dort die Zauberbäume dutzendweise in einem Walde beisammengestanden hatten. Von dieser Stelle aus erscholl ein Getöse von Menschen, die auf eine ganz unbeschreibliche Art schrien; und von diesen Tönen geleitet, rannten die Stimmen, mit denen Keola zusammenlief, nach derselben Stelle. Als er ein bißchen näher kam, begann sich in das Geschrei das Krachen vieler Äxte zu mischen. Und da kam ihm plötzlich der Gedanke, der Oberhäuptling hätte seine Einwilligung gegeben, und die Männer des Stammes hätten begonnen, diese Bäume zu fällen. Das hätte auf der ganzen Insel ein Zauberer dem anderen zugerufen, und nun versammelten diese Zauberer sich alle, um ihre Bäume zu verteidigen. Eine Begier, Seltsames zu erleben, kam über ihn. Er lief mit den Stimmen weiter, überquerte den Strand, kam an den Waldrand – und dort stand er erstaunt still. Ein Baum war bereits gefällt, andere waren zum Teil umgehackt. Dort drängte sich der ganze Stamm der Wilden zusammen. Sie standen Rücken gegen Rücken, und Leichen lagen am Boden, und Blut floß zwischen ihren Füßen.

Die Farbe der Angst war auf all ihren Gesichtern; ihre Stimmen erhoben sich gegen den Himmel, schrien wie Wieselgeschrei.

Hast du ein Kind gesehen, wenn es ganz allein ist, ein hölzernes Schwert hat und damit ficht, herurnspringt und in die leere Luft schlägt? Ebenso standen dort die Menschenfresser, Rücken an Rücken gedrängt, schwangen ihre Äxte und schlugen zu und schrien, während sie schlugen – und ach, da war kein Mensch, der mit ihnen kämpfte! Nur ab und zu sah Keola, wie eine Axt ohne Hände über ihnen geschwungen wurde; und von Zeit zu Zeit fiel ein Mann des Stammes unter einer Axt, mit gespaltenem Schädel oder zerhauenem Leib, und seine Seele entfloh mit Geheul.

Eine Weile blickte Keola auf dieses Wunder, wie ein Mensch, der träumt, und dann packte ihn Angst am Herzen so scharf wie Tod – Angst darüber, daß er solches geschehen sah. Gerade in demselben Augenblick sah der Oberhäuptling des Stammes ihn da stehen, zeigte mit dem Finger auf ihn und rief laut seinen Namen. Da sah der ganze Stamm ihn ebenfalls, und die Augen der Wilden funkelten und ihre Zähne knirschten.

»Ich bin zu lange hier«, dachte Keola; und er rannte aus dem Walde heraus und den Strand hinunter, ohne sich darum zu kümmern, wohin er lief.

»Keola!« sagte da eine Stimme dicht bei ihm auf dem leeren Sand.

»Lehua! Bist du das?« rief er keuchend und sah sich vergeblich nach ihr um. Allem Anschein nach war er ganz allein.

»Ich sah dich vorbeilaufen«, antwortete die Stimme; »ich rief dich, aber du hörtest nicht auf mich. Schnell! Hole die Blätter und die Kräuter, damit wir frei werden!«

»Bist du hier mit der Matte?« fragte er.

»Hier neben dir«, sagte sie. Und er fühlte ihre Arme, die ihn umschlangen. »Schnell! Die Blätter und die Krauter, bevor mein Vater zurückkommen kann!«

So rannte denn Keola, wie wenn es sein Leben gelte, und holte die Zauberfeuerung; und Lehua führte ihn zurück und stellte seine Füße auf die Matte und zündete das Feuer an. Während der ganzen Zeit, da es brannte, tobte der Lärm der Schlacht vom Walde her; die Hexenmeister und die Menschenfresser fochten gewaltig; die Hexenmeister, die unsichtbaren, brüllten dabei wie Stiere auf einem Berg, und die Männer des Stammes antworteten schrill und wild in dem Entsetzen ihrer Seelen. Und die ganze Zeit, da das Feuer brannte, stand Keola da, horchte und zitterte und sah zu, wie Lehuas unsichtbare Hände die Blätter ins Feuer streuten. Sie streute schnell, und die Flamme loderte hoch und verbrannte Keolas Hände; und sie beschleunigte das Brennen und blies mit ihrem Atem in die Flamme. Das letzte Blatt war verzehrt, die Flamme sank zusammen, es folgte der Ruck, und da standen Keola und Lehua im Wohnzimmer zu Hause.

Als nun Keola seine Frau sehen konnte, da freute er sich mächtig, und mächtig freute er sich darüber, daß er wieder in Molokai war und sich zu einer Schüssel Poi niedersetzen konnte – denn auf Schiffen machen sie keinen Poi, und auf der Srimmeninsel gab es keinen –, und er war ganz außer sich vor Freude darüber, daß er den Händen der Menschenfresser glatt entronnen war. Aber etwas anderes war nicht so klar, und Lehua und Keola sprachen die ganze Nacht darüber und waren in Sorgen darum; Kalamake war auf der Insel geblieben. Wenn er mit Gottes Hilfe nur dort bleiben könnte, dann wäre alles gut; aber sollte er entrinnen und nach Molokai zurückkommen, dann würden seine Tochter und ihr Gatte einen schlimmen Tag haben. Sie sprachen von seiner Gabe, aufschwellen zu können, und ob er wohl eine solche Strecke durch das Meer waten könnte. Aber Keola wußte jetzt, wo jene Insel lag – nämlich in dem Niedrigen oder Gefährlichen Archipel. So holten sie denn den Atlas herbei und stellten auf der Karte die Entfernung fest, und soweit sie dies beurteilen konnten, schien es für den alten Herrn ein weiter Weg zu sein. Immerhin konnte man einem Hexerich wie Kalamake doch nicht so recht trauen, und sie beschlossen zuletzt, sich bei einem weißen Missionar Rat zu holen.

So ging denn Keola zu dem ersten, der auf die Insel kam, und erzählte ihm alles bis ins einzelne. Und der Missionar nahm ihn sehr scharf ins Gebet, weil er auf den Niedrigen Inseln die zweite Frau genommen hätte; aber in bezug auf alles übrige erklärte er, er könne sich das nicht zusammenreimen; das sei lauter Unsinn.

»Solltest du indessen denken«, sagte der Missionar, »das Geld deines Vaters sei unrecht erworben, so will ich dir raten: Gib etwas davon an die Aussätzigen und etwas an die Missionskasse. Und diesen sonderbaren Märchenkram, den behalte nur für dich selber – Besseres kannst du gar nicht tun.«

Aber außerdem erstattete er eine Anzeige bei der Polizei in Honolulu, daß nach allem, was er von der Geschichte verstanden hätte, Kakmake und Keola falsches Geld gemacht hätten und daß es wohl nicht unangebracht sein möchte, sie zu überwachen.

Keola und Lehua befolgten seinen Rat und gaben viele Dollars an die Aussätzigen und die Missionskasse. Und ohne Zweifel muß der Rat gut gewesen sein, denn bis zum heutigen Tage hat man von Kalamake niemals wieder etwas gehört. Aber ob er in der Schlacht bei den Bäumen erschlagen wurde oder ob er noch auf der Stimmeninsel herumläuft – wer könnte das sagen?

Sechstes Kapitel


Des Kapteins Papiere

Wir ritten den ganzen Weg scharfen Trab, bis wir vor Dr. Liveseys Tür kamen. Alle Fenster des Hauses waren dunkel. Dance sagte mir, ich möchte abspringen und klopfen, und Dogger half mir beim Absteigen. Die Tür wurde fast augenblicklich vom Dienstmädchen geöffnet.

»Ist Dr. Livesey zu Hause?« fragte ich.

Sie sagte nein; er sei am Nachmittag nach Hause gekommen, am Abend aber nach dem Schlosse hinaufgegangen, um bei dem Squire zu essen und den Abend zu verbringen.

»So gehen wir dahin, Jungens,« sagte Dance.

Diesmal stieg ich nicht wieder auf, da die Entfernung nur kurz war; sondern ich hielt mich an Doggers Steigbügelriemen fest und lief mit ihm bis ans Parktor und dann durch die lange Allee der jetzt kahlen Bäume bis an das weiße Herrenhaus, dessen weißes Gebäude im Mondschein durch die Baumstämme des alten Parks schien. Hier stieg Inspektor Dance ab und ging mit mir in das Haus hinein, das ihm sofort geöffnet wurde.

Der Bediente führte uns durch einen mit Matten belegten Gang in ein großes Bücherzimmer, dessen Wände ringsum von Bücherschränken eingenommen waren, auf denen verschiedene Büsten standen. Hier saßen der Squire und Dr. Livesey mit ihrer Pfeife in der Hand zu beiden Seiten eines hellen Kaminfeuers.

Ich hatte den Squire noch niemals so in der Nähe gesehen. Er war ein großer Mann, über sechs Fuß hoch und entsprechend breit, mit einem roten, kühnen Gesicht, dessen Farbe und Zügen man seine langen Reisen ansah. Seine Augenbrauen waren sehr dunkel und zuckten oft, so daß man unwillkürlich dachte, er müsse ein temperamentvoller Mann sein, nicht von böser, aber von hitziger Gemütsart.

»Kommen Sie nur herein, Herr Dance!« sagte er sehr würdevoll, aber freundlich.

»Guten Abend, Dance,« sagte der Doktor und nickte ihm zu. »Und guten Abend auch dir, Freund Jim; was für ein guter Wind weht euch hierher?

Der Inspektor stand stramm und steif da und erzählte seine Geschichte wie eine auswendig gelernte Lektion. Da hättet ihr sehen sollen, wie die beiden Herren sich vornüberneigten und einander ansahen und vor Überraschung ihr Rauchen vergaßen. Als sie hörten, wie meine Mutter nach dem »Admiral Benbow« zurückgegangen war, schlug Dr. Livesey sich laut auf den Schenkel, und der Squire rief bravo! und schlug seine lange Pfeife am Kamin entzwei. Lange bevor der Inspektor fertig war, war Herr Trelawney – so hieß der Squire, wie der Leser sich erinnern wird – von seinem Stuhl aufgesprungen und lief im Zimmer herum, und der Doktor hatte, wie wenn er auf diese Weise besser hören könnte, seine gepuderte Perücke abgenommen. So saß er da und sah wirklich sehr sonderbar aus mit seinem eigenen, kurzgeschnittenen schwarzen Haar.

Endlich war Dance mit seiner Geschichte fertig. Da sagte der Squire:

»Herr Dance, Ihr seid ein ganz famoser Mensch. Und daß Ihr diesen ekelhaften, schmierigen Schuft niedergeritten habt, sehe ich als eine gute Tat an; das ist weiter nichts, als wenn Ihr ein Ungeziefer zertreten hättet. Dieser junge Hawkins ist ein tüchtiger Bengel, wie ich sehe. Hawkins, willst du mal die Glocke ziehen? Herr Dance muß einen Krug Bier haben.«

Und der Doktor sagte zu mir:

»Also, Jim, du hast das Ding, das die Kerle suchten, nicht wahr?«

»Hier ist es, Herr Doktor!« sagte ich und gab ihm das Wachstuchpaket.

Der Doktor besah sich’s von allen Seiten, wie wenn es ihm in den Fingern juckte, es zu öffnen; das tat er aber nicht, sondern steckte es ruhig in seine Rocktasche und sagte:

»Squire – wenn Dance sein Bier getrunken hat, muß er natürlich in Seiner Majestät Dienst; aber ich gedenke Jim Hawkins hier zu behalten; er soll in meinem Hause schlafen. Und wenn es Ihnen recht ist, mache ich den Vorschlag, wir lassen die kalte Pastete hereinbringen und ihn hier zu Abend essen.«

»Wie Sie denken,« sagte der Squire; »Hawkins hat sogar was Besseres verdient als kalte Pastete.«

So wurde denn eine große Taubenpastete hereingebracht und auf einen Seitentisch gesetzt. Ich machte mich schnell über das Essen her, denn ich war hungrig wie ein Wolf. Mittlerweile empfing Inspektor Dance noch eine Menge Komplimente, und schließlich entließen sie ihn.

»Und nun, Squire,« sagte der Doktor.

»Und nun, Livesey,« sagte der Squire, beide in einem Atem.

»Einer zur Zeit, einer zur Zeit!« lachte Dr. Livesey. »Sie haben doch wohl von diesem Flint gehört?!«

»Von ihm gehört!« rief der Squire. »Von ihm gehört, sagen Sie! Er war der blutdürstigste Pirat, der je zur See fuhr. Blackbeard war ein Kind im Vergleich mit Flint. Die Spanier hatten eine so fürchterliche Angst vor ihm, daß ich wahrhaftig manchmal stolz darauf war, daß Flint ein Engländer war. Ich habe mit diesen meinen Augen seine Topsegel auf der Höhe von Trinidad gesehen, und der jämmerliche Milchsuppenkerl, mit dem ich segelte, kehrte um – kehrte um, Doktor, und fuhr nach Port of Spain zurück!«

»Nun, ich habe selber von ihm gehört, hier in England,« sagte der Doktor. »Aber die Hauptsache ist: hatte er Geld?«

»Geld!« rief der Squire. »Haben Sie nicht die Geschichte gehört? Worauf waren denn die Kerle aus, wenn nicht auf Geld? Denen liegt doch bloß an dem Gelde! Für was riskieren die ihre dreckigen Köpfe, wenn nicht für Geld?«

»Das werden wir ja bald wissen,« antwortete der Doktor. »Aber Sie sind ja so verdammt hitzköpfig und schreien gleich los, daß ich kein Wort sagen kann. Was ich wissen wollte, ist dies: angenommen, ich habe hier in meiner Tasche etwas, was uns auf die Spur bringen kann, an welchem Ort er seinen Schatz vergraben hat – wird dieser Schatz groß sein?«

»Groß, Doktor!« rief der Squire. »Ich will Ihnen was sagen: wenn wir auf der Spur sind, von der Sie sprechen, rüste ich in Bristol ein Schiff aus und nehme Sie und Hawkins mit. Und den Schatz will ich haben, und wenn ich ein Jahr danach suchen soll!«

»Schön!« sagte der Doktor. »Nun, dann wollen wir, wenn es Jim recht ist, das Paket öffnen.«

Und er legte es vor sich auf den Tisch. Das Wachstuch war zusammengenäht, und der Doktor mußte sein Besteck aus der Tasche nehmen und die Nähte mit seiner medizinischen Schere auftrennen. Das Päckchen enthielt zweierlei: ein Buch und ein versiegeltes Papier.

»Zuallererst wollen wir uns mal das Buch ansehen,« bemerkte der Doktor.

Der Squire und ich sahen ihm über die Schultern, als er es öffnete; denn Dr. Livesey hatte mir freundlich gewinkt, von dem Seitentisch, an dem ich gegessen hatte, zu ihm zu kommen und mich an dem Vergnügen der Untersuchung zu beteiligen.

Auf der ersten Seite befanden sich nur ein paar Kritzeleien, wie einer sie mit der Feder macht, um sich zu üben, oder weil er Langeweile hat. Einer von den Sätzen lautete genau so wie die tätowierte Inschrift auf des Kapitäns Arm: »Billy Bones sein Liebchen.«

Ferner stand da: »Mister W. Bones, Steuermann.« – »Kein Rum mehr.« – »Vor Palm Key kriegte er’s.«

Außerdem allerlei Schnörkel und einzelne Wörter, die zum größten Teil unverständlich waren. Ich muß so unwillkürlich bei mir denken, wer es wohl gewesen sein möchte, der es »kriegte«, und was das für ein »es« war, das er kriegte. Höchstwahrscheinlich ein Messer in den Rücken.

»Hieraus ist nicht viel zu entnehmen,« sagte Doktor Livesey und schlug das Blatt um.

Die nächsten zehn oder zwölf Seiten enthielten eine merkwürdige Reihenfolge von Eintragungen. Am einen Ende der Zeile stand ein Datum und an dem anderen eine Geldsumme, wie in einem gewöhnlichen Kontobuch; aber statt geschriebener Erklärungen stand zwischen den beiden Aufzeichnungen nur eine verschieden große Anzahl von Kreuzen. So war zum Beispiel am zwölften Juni 1746 offenbar ein Betrag von siebzig Pfund Sterling irgend jemandem gutgeschrieben; als Erklärung, wofür, waren aber nur sechs Kreuze verzeichnet. Zn einigen wenigen Fällen war allerdings eine Ortsbestimmung beigefügt, zum Beispiel: »Höhe von Caracas«, oder es war auch nur Länge und Breite eingetragen, zum Beispiel: 62° 17′ 29″, 19° 2′ 40″.

Die Eintragungen erstreckten sich über beinahe zwanzig Jahre; die einzelnen Beträge wurden immer größer, und zum Schluß war nach fünf- oder sechsmaligem falschem Zusammenzählen eine Endsumme hingeschrieben, und dieser waren die Worte beigefügt: »Bones sein Anteil.«

»Darauf kann ich mir keinen Vers machen,« sagte Dr. Livesey.

»Die Geschichte ist so klar wie Kloßbrühe!« rief der Squire. »Dies ist das Kassenbuch des schwarzherzigen Schurken. Diese Kreuze stehen an Stelle der Namen von Schiffen oder Städten, die sie versenkten oder plünderten. Die Geldbeträge sind die Anteile des Schuftes, und wo er fürchtete, es könnte eine Zweideutigkeit entstehen, da fügte er etwas zur Erklärung hinzu. Hier zum Beispiel: ›Höhe von Caracas‹ – verstehen Sie? Da wurde irgendein unglückliches Schiff in der Nähe dieser Küste genommen. Gott sei den armen Seelen gnädig, die es bemannten – sie sind längst zu Korallen geworden.«

»Richtig!« sagte der Doktor. »Sehen Sie mal, wie gut es ist, ein Reisender zu sein. Richtig! und die Beträge wachsen, wie Sie sehen, je höher er im Range steigt.«

In dem Büchlein stand außerdem nicht viel mehr als ein paar Eintragungen von Hafennamen auf den weißen Blättern am Ende des Bandes, und eine Tabelle, um französisches, englisches und spanisches Geld umzurechnen.

»Ein betriebsamer Mann!« rief der Doktor. »Der ließ sich nicht betrügen!«

»Und nun zu dem Papier!« sagte der Squire.

Das Papier war an verschiedenen Stellen versiegelt, und als Petschaft hatte dazu ein Fingerhut gedient – vielleicht eben der Fingerhut, der sich in des Kapteins Taschen gefunden hatte. Der Doktor löste die Siegel mit großer Sorgfalt, und aus dem Umschlag fiel eine Karte von einer Insel, mit Angabe von Länge und Breite, von Tiefenlotungen, Namen von Bergen, Buchten und Flußmündungen und überhaupt von allen Einzelheiten, die notwendig sein konnten, um ein Schiff auf sicheren Ankergrund an eine Küste zu bringen. Die Insel war ungefähr neun Meilen lang und fünf Meilen breit, von Gestalt ungefähr wie ein aufrecht stehender dicker Drache; sie hatte zwei schöne, sichere Häfen, und ein Berg im mittleren Teil der Insel war als »Das Fernrohr« bezeichnet. Verschiedene Zusätze waren offenbar in späterer Zeit gemacht; darunter vor allen Dingen drei Kreuze mit roter Tinte – zwei im nördlichen Teil der Insel, eins im südwestlichen, und neben diesem letzteren stand mit derselben roten Tinte in sauberer, kleiner Handschrift, die von des Kapteins zitternden Buchstaben sehr verschieden war, der Satz geschrieben: »Hier der Hauptteil des Schatzes.«

Auf der Rückseite der Karte hatte dieselbe Hand folgende Weisungen geschrieben:

»Großer Baum, Staffel des Fernrohrs, Nord-Nordost bei Nord.

»Skelettinsel Ost-Südost bei Ost.

»Zehn Fuß.

»Das Barrensilber ist in der nördlichen Grube; du findest es am Abhang des östlichen Gipfels, zehn Faden südlich von der schwarzen Klippe, dieser gegenüber.

»Die Waffen sind gleich in dem Sandhügel zu finden, Nord-Nordost bei Nord vom Vorsprung an der Flußmündung, dann östlich und ein viertel nördlich. J. F.«

Das war alles; aber so kurz und für mich unverständlich es war, der Squire und Dr. Livesey waren ganz entzückt darüber.

»Livesey,« sagte der Squire, »Sie werden diese erbärmliche Praxis sofort aufgeben. Morgen fahre ich nach Bristol. In Zeit von drei Wochen – ach was, drei Wochen! in zwei Wochen, in zehn Tagen! – haben wir das beste Schiff, Doktor, und die beste Mannschaft in ganz England. Hawkins kommt als Kajütsjunge mit. Du wirst einen famosen Kajütsjungen abgeben, Hawkins. Sie, Livesey, sind Schiffsdoktor, ich bin Admiral. Wir nehmen Redruth, Joyce und Hunter mit. Wir werden günstige Winde haben, eine schnelle Überfahrt und nicht die geringste Schwierigkeit, die Stelle zu finden. Und dann gibt’s Geld – scheffelweise, genug, um sich darauf zu wälzen, und Guineen zum Fenster hinauszuwerfen, wenn Sie Lust haben.«

»Trelawney,« sagte der Doktor, »ich will mit Ihnen gehen; Jim kommt auch mit, dafür stehe ich ein, und er wird bei der Unternehmung von Nutzen sein. Nur vor einem einzigen Mann habe ich Angst.«

»Und wer ist das?« rief der Squire. »Wie heißt der Hund, Doktor?«

»Sie sind es,« antwortete der Doktor; »denn Sie können Ihren Mund nicht halten. Wir sind nicht die einzigen, die etwas von diesem Papier wissen. Diese Kerle, die heute abend den Angriff auf den ›Admiral Benbow‹ machten, waren ganz gewiß mutige, verzweifelte Burschen, und die übrigen, die auf dem Ewer an Bord waren und ganz sicher noch andere, die nicht weit sind, die werden alle miteinander durch dick und dünn gehen, um das Geld zu kriegen! Deshalb darf keiner von uns allein sein, bis wir in See stechen. Jim und ich werden in der Zwischenzeit beisammen bleiben; Sie nehmen Joyce und Hunter mit, wenn Sie nach Bristol fahren, und vom ersten bis zum letzten Augenblick darf keiner von uns ein Wort von unserem Fund verlauten lassen.«

»Livesey,« antwortete der Squire, »Sie treffen immer den Nagel auf den Kopf. Ich werde stumm sein wie das Grab!«