Vierunddreißigstes Kapitel


Schluß

Am nächsten Morgen gingen wir in aller Frühe an die Arbeit; denn es war eine anstrengende Aufgabe für eine so kleine Zahl von Arbeitern, diese große Masse Gold beinahe eine Meile weit über Land an den Strand zu schaffen und von dort noch drei Meilen zu Wasser bis auf die Hispaniola. Um die drei Meuterer, die sich noch auf der Insel herumtrieben, kümmerten wir uns nicht weiter; eine einzige Schildwache auf der Staffel des Berges genügte, um uns gegen einen plötzlichen Überfall zu sichern; außerdem waren wir der Meinung, sie hätten vom Fechten mehr als genug bekommen.

So ging es also mit der Arbeit schnell voran. Gray und Ben Gunn kamen und gingen mit dem Boot, während die übrigen in den Zwischenpausen den Schatz am Strande aufstapelten. Zwei von den Goldbarren, in ein Tau eingeschlungen, waren eine gute Traglast für einen Erwachsenen – eine Last, mit der er gerne langsam ging. Da ich beim Tragen nicht viel helfen konnte, wurde ich den ganzen Tag in der Höhle beschäftigt, indem ich das gemünzte Geld in Zwiebackbeutel verpackte.

Es war eine merkwürdige Sammlung, die an Verschiedenheit der Münzen Billy Bones‘ Schatz glich; aber sie war sehr viel größer und noch abwechslungsreicher, so daß ich glaube, ich hatte in meinem Leben noch nie soviel Vergnügen gehabt wie bei dem Aussuchen der einzelnen Stücke. Englische, französische, spanische, portugiesische Goldmünzen, mit den Bildnissen der Könige George und Louis, Dublonen und Doppelguineen und Moidore und Zechinen mit den Köpfen aller europäischen Könige, die in den letzten hundert Jahren geherrscht hatten; seltsame morgenländische Münzen mit Stempeln, wie wenn sie mit einem Spinngewebe überzogen wären, runde Münzen und viereckige Münzen, und Münzen mit einem Loch in der Mitte, wie wenn sie um den Hals getragen werden sollten – wohl so ziemlich alle Arten von Münzen auf der Welt müssen, glaub‘ ich, in dieser Sammlung vertreten gewesen sein, und zahlreich waren sie gewiß, wie dürre Blätter im Herbst, so daß mir mein Rücken von der gekrümmten Haltung und meine Finger von dem Sortieren weh taten.

Tag auf Tag ging diese Arbeit fort; jeden Abend war ein Vermögen an Bord verstaut worden, aber immer noch war ein Vermögen für den nächsten Tag vorhanden; und während dieser ganzen Zeit hörten wir nichts von den drei am Leben gebliebenen Meuterern.

Ich glaube, es war am dritten Abend, da machten der Doktor und ich einen kleinen Spaziergang nach der Staffel des Berges, wo wir einen Ausblick über die tieferen Teile der Insel hatten; da trug aus der dichten Finsternis unter uns der Wind einen Ton herüber. War es ein Schreien? War es ein Singen? Nur ein einziger Laut schlug an unsere Ohren, und dann war alles wieder still wie zuvor.

»Vergebe ihnen der Himmel!« sagte der Doktor; »das sind die Meuterer!«

»Alle betrunken, Herr!« sagte Silvers Stimme hinter uns.

Ich habe zu erwähnen vergessen, daß Silver vollständig frei herumging; obgleich er täglich zurückgewiesen wurde, schien er sich doch wieder als einen gern gesehenen Freund und Diener zu betrachten. Es war wirklich bemerkenswert, mit welcher guten Art er diese Zurückweisungen hinzunehmen wußte und mit welcher unermüdlichen Höflichkeit er immer wieder versuchte, sich allen angenehm zu machen. Trotzdem behandelten ihn alle, glaube ich, nicht viel besser als einen Hund, abgesehen von Ben Gunn, der immer noch eine fürchterliche Angst vor seinem alten Schiemann hatte, oder vielleicht auch von mir, der ihm wirklich in mancher Hinsicht dankbar sein mußte. Allerdings hatte ich ja auch gewisse Gründe, schlechter von ihm zu denken als irgendeiner von den anderen; denn ich hatte gesehen, wie er auf der Hochebene auf neue Verräterei sann.

So antwortete der Doktor ihm ziemlich kurz angebunden:

»Betrunken oder verrückt.«

»Da haben Sie recht, Herr Doktor!« antwortete Silver; »aber das macht wohl für Sie wie für mich verdammt wenig Unterschied aus.«

»Ihr werdet von mir wohl kaum erwarten, daß ich Euch für einen menschlich fühlenden Mann halte,« antwortete der Doktor mit einem ironischen Lächeln; »darum werden meine Gefühle Euch vielleicht überraschen, Meister Silver. Aber wenn ich bestimmt wüßte, daß sie wahnsinnig wären – wie ich innerlich überzeugt bin, daß wenigstens einer von ihnen fieberkrank ist –, so würde ich unser Lager verlassen und ohne Rücksicht auf die Gefahr für meinen eigenen Leib ihnen die Hilfe meiner Kunst zuteil werden lassen.«

»Bitte um Verzeihung, Herr, da hätten Sie sehr unrecht!« sprach Silver. »Sie würden Ihr kostbares Leben verlieren – und darauf können Sie Gift nehmen! Ich stehe jetzt mit Herz und Hand auf Ihrer Seite, und ich möchte nicht gern, daß unsere Partei geschwächt würde – ganz abgesehen davon, daß ich doch weiß, was ich Ihnen zu verdanken habe. Aber diese Menschen da unten, die können ja gar nicht ihr Wort halten – nein, sie könnten es nicht, selbst angenommen, sie möchten es; und was noch mehr ist: sie könnten gar nicht glauben, daß Sie es könnten.«

»Nein!« sagte der Doktor. »Ihr seid der Mann, der sein Wort hält – das wissen wir.«

Nun, das war so ziemlich das letzte, was wir von den drei Piraten hörten. Nur einmal fiel in weiter Entfernung von uns ein Flintenschuß; wir nahmen an, daß sie auf der Jagd wären. Es wurde eine Beratung abgehalten und darin beschlossen, daß wir sie auf der Insel zurücklassen müßten – zum großen Vergnügen Ben Gunns, wie ich sagen muß, und mit der ausdrücklichen Zustimmung Grays. Wir hinterließen ihnen einen guten Vorrat Pulver und Blei, den Hauptteil des eingepökelten Ziegenfleisches, einige Arzneien und ein paar andere Notwendigkeiten, Werkzeuge, Kleider, ein Segel, das wir entbehren konnten, ein paar Klafter Tau und, auf den besonderen Wunsch des Doktors, ein hübsches Geschenk an Tabak.

Dies war ungefähr das letzte, was wir auf der Insel taten. Wir hatten inzwischen den Schatz verstaut und genug Wasser, sowie für den Notfall den Rest des Ziegenfleisches an Bord genommen.

Und eines schönen Morgens lichteten wir den Anker, wozu unsere vereinigten Kräfte kaum ausreichten, und segelten aus der Nordbucht heraus. Vom Hauptmast wehte dieselbe Flagge, die der Kapitän auf dem Blockhaus aufgezogen hatte und unter der wir gekämpft hatten.

Die drei Rebellen müssen uns schärfer beobachtet haben, als wir geglaubt hatten. Hiervon sollten wir bald einen Beweis erhalten. Denn als wir durch den engen Sund fuhren, mußten wir uns der Südspitze nähern, und da sahen wir sie alle drei mit flehend ausgestreckten Armen auf einer sandigen Landzunge knien. Ich glaube, es ging uns allen zu Herzen, sie in so erbärmlichem Zustande zurückzulassen. Aber wir konnten es auf eine neue Meuterei nicht ankommen lassen; und sie in Ketten nach Hause zu bringen, um sie dem Galgen zu überliefern, das wäre eine grausame Güte gewesen! Der Doktor rief ihnen zu, wo sie die Vorräte finden konnten, die wir für sie zurückgelassen hätten, aber sie riefen uns trotzdem bei unseren Namen an und flehten, wir sollten um Gottes willen barmherzig sein und sie nicht an einem solchen Ort umkommen lassen.

Als sie sahen, daß das Schiff weitersegelte und bald außer Rufweite kommen mußte, sprang einer von ihnen – ich weiß nicht, wer es war – mit einem heiseren Ausruf auf, legte die Muskete an und feuerte. Die Kugel pfiff über Silvers Kopf hinweg und machte ein Loch in das Hauptsegel.

Da gingen wir alle hinter der Schanzkleidung in Deckung, und als ich wieder hervorsah, waren sie von der Landzunge verschwunden, und die Landzunge selbst verschwand bereits in der Ferne.

Dies war für uns das Ende der Piraten, und bevor es Mittag wurde, war zu meiner unaussprechlichen Freude der höchste Berggipfel der Schatzinsel hinter dem blauen Horizont des Meeres versunken.

Wir waren so knapp an Mannschaft, daß jeder an Bord mit Hand anlegen mußte – nur der Kapitän lag auf einer Matratze im Stern und gab seine Befehle aus; denn obgleich er sich schon sehr erholt hatte, bedurfte er doch noch der Ruhe.

Wir segelten nach dem nächsten Hafen von Spanisch-Amerika; denn wir konnten es nicht wagen, ohne frische Mannschaft nach der Heimat zu fahren. Widrige Winde und ein paar Stürme ermüdeten uns so, daß wir ganz erschöpft waren, als wir den Hafen erreichten.

Die Sonne ging gerade unter, als wir in einem wunderschönen, von Bergen umschlossenen Golf unseren Anker auswarfen. Wir waren sofort von Hafenbooten voll von Negern umringt, mexikanischen Indianern und Mulatten, die Obst und Gemüse zum Verkauf brachten und uns anboten, für kleine Geldstücke zu tauchen.

Der Anblick so vieler lustiger Gesichter (besonders der Schwarzen), der Geschmack der Tropenfrüchte und vor allen Dingen der Anblick der Lichter von der Stadt her – das alles bildete einen zauberhaften Gegensatz zu unseren düsteren und blutigen Erlebnissen auf der Insel. Der Doktor und der Squire gingen an Land, um den Abend in der Stadt zu verbringen, und nahmen mich mit. Hier trafen sie den Kapitän eines englischen Kriegsschiffes, kamen mit ihm ins Gespräch und gingen an Bord seines Schiffes, wo wir so freundlich bewirtet wurden, daß der Tag bereits angebrochen war, als wir wieder an der Hispaniola anlegten.

Ben Gunn war allein auf Deck. Sobald wir an Bord kamen, begann er unter den wunderlichsten Verrenkungen seines Leibes ein Geständnis abzulegen: Silver war fort! Ben war ihm behilflich gewesen, ein paar Stunden vorher, in einem Hafenboot zu entwischen, und er versicherte uns jetzt, er hätte das nur getan, um unsere Leben zu schützen, die sicherlich verwirkt gewesen wären, »wenn der Mann mit dem einen Bein an Bord geblieben wäre«.

Aber das war noch nicht alles! Der Schiffskoch war nicht mit leeren Händen fortgegangen. Er hatte, ohne daß jemand es gemerkt hatte, eine Planke durchgesägt und einen von den Geldsäcken an sich genommen, um ein bißchen Reisegeld zu haben. Der Beutel enthielt vielleicht drei- oder vierhundert Guineen. Ich denke, wir waren alle froh, daß wir ihn so billig los wurden.

Na, um eine lange Geschichte kurz zu beenden: wir bekamen ein paar Mann an Bord, hatten eine gute Heimfahrt, und die Hispaniola traf in Bristol ein, als Herr Blandly gerade dran dachte, das zweite Schiff auszurüsten. Nur fünf Menschen von allen, die auf der Hispaniola ausgesegelt waren, kamen auf ihr nach Hause.

»Suff und der Teufel holten den Rest« – das konnte man wohl sagen! Allerdings war es uns nicht ganz so schlimm gegangen, wie jenem anderen Schiff, von dem es in dem Liebe hieß:

›Nur ein einziger Mann am Leben blieb
Von fünfundsiebzig an Bord!‹

Jeder bekam einen reichlichen Anteil von dem Schatz und wandte ihn weise oder töricht an, je nach seiner Veranlagung.

Kapitän Smollett hat sich jetzt vom Seeleben zurückgezogen.

Gray legte nicht nur sein Geld auf die Kante, sondern er fing an, eifrig seinen Beruf zu studieren, da in ihm plötzlich der Wunsch erwachte, es weiter zu bringen; er ist jetzt Steuermann und Mitbesitzer eines schönen Vollschiffs; außerdem ist er verheiratet und Familienvater. Ben Gunn bekam tausend Pfund, die er in drei Wochen vergeudete oder verlor – oder genauer gesagt: in neunzehn Tagen; denn am zwanzigsten war er wieder da und bettelte uns an. Da bekam er einen Posten als Parktorwächter, genau so, wie er auf der Insel es vorausgesehen hatte. Er ist noch am Leben, ein großer Liebling aller Kinder, obgleich sie sich manchmal über ihn lustig machen, und ein hervorragender Kirchensänger an allen Sonn- und Feiertagen.

Von Silver haben wir nichts mehr gehört. Der gefährliche Seemann mit dem einen Bein ist spurlos aus meinem Leben verschwunden; aber ich vermute, daß er seine alte Negerin wieder getroffen hat; vielleicht lebt er noch ganz behaglich mit ihr und seinem Papagei, Käpp’n Flint, zusammen. Man muß es wohl hoffen – denn seine Aussichten auf Behaglichkeit in einer anderen Welt sind sehr gering.

Die Silberbarren und die Waffen liegen, soviel ich weiß, noch an derselben Stelle, wo Flint sie vergraben hatte; und sicherlich sollen sie meinetwegen dort liegen bleiben. Ochsen und Wagenseil könnten mich nicht mehr auf diese verfluchte Insel bringen, und meine schlimmsten Träume sind es, wenn ich die Brandung am Strande der Schatzinsel donnern höre, oder wenn ich im Bett auffahre und Käpp’n Flints gellende Stimme mir noch in den Ohren klingt:

»Piaster! Piaster!«

Dreiundzwanzigstes Kapitel


Die Ebbströmung

Das Korakel war – wie ich reichlich erfahren sollte, bevor ich mit ihm fertig war – ein sehr wasserfestes Boot für einen Menschen von meiner Größe und von meinem Gewicht; es war leicht und hielt sich gut auf dem Wasser; aber es war ein höchst eigensinniges Fahrzeug, das schwer zu lenken war. Man konnte es anfangen, wie man wollte, das Korakel trieb immer nach Lee ab, und sich fortwährend rund im Kreise herumzudrehen, war sein Lieblingsmanöver. Sogar Ben Gunn hat zugegeben, sein Korakel sei eben ein etwas sonderbares Boot, bis man mit ihm Bescheid wüßte.

Jedenfalls wußte ich nicht mit ihm Bescheid. Es drehte sich nach allen Richtungen, nur nicht nach der, in die ich es bringen mußte; die meiste Zeit fuhren wir mit der Breitseite nach vorn, und ich bin fest überzeugt, daß ich niemals das Schiff erreicht haben würde, wenn die Ebbströmung mir nicht geholfen hätte. Zu meinem guten Glück brachte sie mich auf den rechten Weg, auf den ich mit allem meinem Paddeln nicht gekommen wäre, und auf einmal lag die Hispaniola mitten in meinem Kurs, so daß ich sie kaum verfehlen konnte.

Zuerst tauchte sie vor mir auf wie etwas, das noch schwärzer war als die Finsternis; hierauf begannen ihre Spieren und ihr Rumpf Gestalt anzunehmen, und gleich darauf – denn, je weiter ich kam, desto schneller wurde die Ebbströmung – lag ich vor ihrer Reling und kriegte das Ankertau zu fassen.

Dieses war so straff gespannt wie eine Bogensehne – so stark zog die Hispaniola an ihrem Anker. Rings um ihren Rumpf herum blubberte in der Finsternis die Strömung, daß es sich anhörte wie ein murmelnder Gebirgsbach. Ein einziger Schnitt mit meinem Matrosenmesser, und die Hispaniola mußte von dem Strom abtreiben.

Soweit war alles schön in Ordnung; aber plötzlich fiel mir ein, daß ein straff gespanntes Ankertau, wenn es plötzlich durchgeschnitten wird, ungefähr so gefährlich ist wie ein ausschlagendes Pferd. Wenn ich so tollkühn war, die Hispaniola von ihrem Anker loszuschneiden, so war zehn gegen eins darauf zu wetten, daß ich mitsamt meinem Korakel einen Purzelbaum durch die Luft schlagen würde.

Infolgedessen hütete ich mich wohl, das Ankertau zu kappen, und wenn das Glück mich nicht wiederum ganz besonders begünstigt hätte, so hätte ich mein Vorhaben aufgeben müssen. Aber der leichte Wind, der anfangs aus Süden und Südosten geweht hatte, schlug nach dem Anbruch der Nacht in einen Südwester um. Während ich noch darüber nachdachte, was ich tun sollte, kam plötzlich ein Windstoß, packte die Hispaniola und trieb sie in die Strömung hinein. Zu meiner großen Freude fühlte ich das Kabel, das ich gepackt hielt, locker werden, und meine Hand tauchte für eine Sekunde in das Wasser hinein.

Da entschloß ich mich sofort, holte mein Matrosenmesser aus der Tasche, öffnete es mit meinen Zähnen und schnitt einen Strang des Ankertaues nach dem anderen durch, bis das Schiff nur noch von zwei Strängen gehalten wurde. Dann blieb ich ruhig liegen, um abzuwarten und diese beiden letzten Stränge erst durchzuschneiden, wenn die Spannung wieder durch einen neuen Windstoß gelockert würde.

Während dieser ganzen Zeit hatte ich von der Kajüte her laute Stimmen gehört; aber, die Wahrheit zu sagen, ich war so vollständig mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen, daß ich kaum darauf geachtet hatte. Da ich jetzt aber nichts anderes zu tun hatte, so begann ich etwas schärfer hinzuhören.

An der Stimme erkannte ich, daß der eine von den beiden Piraten der Schaluppmeister Israel Hands war, der früher Flints Kanonier gewesen war. Der andere war natürlich mein Freund mit der roten Nachtmütze. Die beiden Leute waren offenbar schwer betrunken, aber sie tranken immer noch weiter; denn während ich lauschte, öffnete einer von ihnen mit trunkenem Geschrei die Sternluke und warf etwas hinaus, ohne Zweifel eine leere Flasche.

Aber sie waren nicht nur bezecht, sondern offenbar auch in einem wütenden Streit begriffen. Es hagelte Flüche, und alle Augenblicke gab es einen solchen Wutausbruch, daß ich dachte, jetzt würde gleich die Prügelei losgehen. Aber jedesmal wurde der Streit für kurze Zeit wieder beigelegt, die schimpfenden Stimmen wurden leiser, bis die nächste Krisis kam, die dann auch wieder ergebnislos verlief.

Am Strande konnte ich das große Lagerfeuer brennen sehen, dessen warmer Schein durch die Bäume fiel. Irgendeiner von den Piraten sang ein altes Matrosenlied nach einer schleppenden Melodie mit einem langen Schnörkel am Ende jedes Verses; ein endloses Lied, das nur aufhörte, wenn der Sänger schließlich die Geduld verlor. Ich hatte es während der Überfahrt mehr als einmal gehört und erinnerte mich noch der Worte:

Nur ein einziger am Leben blieb
Von fünfundsiebzig Mann.

Ich dachte so bei mir selber, es sei eigentlich ein recht trübseliges Lied für eine Gesellschaft, die am Morgen so furchtbare Verluste gehabt hatte. Aber diese Piraten waren nach allem, was ich gesehen hatte, so gefühllos wie das Meer, über das sie fuhren.

Endlich kam die Brise; der Schoner kam im Dunkeln näher an mich heran; ich fühlte das Kabel wieder schlaff werden und schlug mit einem kräftigen Hieb die beiden letzten Stränge durch.

Der Ebbstrom trieb mich beinahe augenblicklich über das Bugspriet der Hispaniola. Gleichzeitig begann der Schoner sich langsam um sich selber zu drehen und mit der Strömung abzutreiben.

Ich paddelte wie ein Verzweifelter; denn ich erwartete jeden Augenblick, daß mein Boot kentern würde; und da ich fand, daß ich das Korakel nicht vom Schiff losbringen konnte, so suchte ich jetzt an den Stern der Hispaniola heranzukommen. Endlich war ich aus meiner gefährlichen Nachbarschaft heraus; aber gerade, als ich zum letztenmal abstoßen wollte, berührten meine Hände ein dünnes Tau, das über die Sternschanzbrüstung der Hispaniola herunterhing. Augenblicklich packte ich es.

Warum ich das tat, kann ich kaum sagen. Anfangs handelte ich rein triebmäßig; aber sobald ich das Tau in den Händen hatte und merkte, daß es fest hielt, begann meine Neugierde die Oberhand zu gewinnen, und ich beschloß, mal durch das Kajütenfenster hineinzusehen.

Ich zog mich mit den Händen an dem Tau hoch, und als ich nahe genug zu sein glaubte, wagte ich es, einen halben Klimmzug zu machen, so daß ich die Decke und ein Stück von dem Inneren der Kajüte übersehen konnte.

Mittlerweile glitten der Schoner und sein kleiner Begleiter ziemlich schnell durch das Wasser; wir befanden uns bereits auf gleicher Höhe mit dem Lagerfeuer. Das Schiff »redete laut«, wie die Seeleute das nennen, wenn die unzähligen kleinen Wellen unablässig gegen die Planken anklatschen; und erst als ich mein Auge über die Fensterbrüstung erhob, konnte ich begreifen, warum die beiden Wachtposten nichts gemerkt hatten. Aber ein einziger Blick genügte mir; übrigens durfte ich auch nur diesen einzigen Blick wagen, da das Korakel unter mir meinen Füßen keinen Halt bot. Dieser Blick zeigte mir Hands mit seinem Kameraden in einem Kampf auf Leben und Tod: sie hielten sich gegenseitig an der Kehle gepackt.

Ich sprang in mein Korbboot und setzte mich auf die Ruderbank; es war höchste Zeit, denn ich wäre beinahe an dem Boot vorbeigesprungen. Ich konnte in dem kurzen Augenblick weiter nichts sehen als diese beiden wütenden, purpurroten Gesichter unter der qualmenden Lampe. Ich schloß meine Augen, damit sie sich wieder an die Finsternis gewöhnten.

Die endlose Schifferballade war schließlich doch zu Ende gekommen, und die ganze, so stark gelichtete Gesellschaft am Lagerfeuer hatte wieder das Lied angestimmt, das ich so oft gehört hatte:

Fünfzehn Mann bei des Toten Kist –
Johoho, und ’ne Buddel, Buddel Rum!
Suff und der Teufel holten den Rest –
Johoho, und ’ne Buddel, Buddel Rum!

Ich mußte unwillkürlich denken, wie eifrig gerade in diesem Augenblick Suff und der Teufel in der Kajüte beschäftigt waren – da überraschte mich plötzlich eine scharfe Wendung des Korakels. Das Boot drehte sich um sich selbst und schien dann einen anderen Kurs einzuschlagen. Die Geschwindigkeit war inzwischen außerordentlich gestiegen. Ich schlug sofort meine Augen auf. Rund um mich herum waren kleine Kräuselwellen, die ein scharfes, plätscherndes Geräusch verursachten und ein wenig phosphoreszierten. Die Hispaniola selbst, hinter deren Stern ich mich immer noch in einer Entfernung von ein paar Ellen befand, schien zu taumeln, und ich sah ihre Spieren in der Finsternis der Nacht sich ein wenig bewegen; ja, als ich länger hinsah, überzeugte ich mich, daß auch das Schiff sich nach Süden herumdrehte. Ich warf einen Blick über meine Schulter, und mein Herz schlug gegen die Rippen. Unmittelbar hinter mir war die Glut des Lagerfeuers. Die Strömung hatte eine Wendung in einem rechten Winkel gemacht, und ihr waren der große Schoner und das kleine hüpfende Korakel gefolgt: in immer schnellerer Fahrt bewegte die Hispaniola sich durch den engen Sund nach der offenen See hinaus.

Plötzlich machte die Hispaniola vor mir wieder eine scharfe Wendung – vielleicht zwanzig Grad, und in demselben Augenblick hörte ich von Bord her einen Schrei nach dem anderen; ich konnte schwere Seemannsstiefel die Kajütstreppe hinaufstampfen hören und wußte nun, daß die beiden Trunkenbolde endlich in ihrem Zank aufgehört und das Unglück bemerkt hatten, das über sie hereingebrochen war.

Ich legte mich flach auf den Boden des armen Bootes und empfahl in einem frommen Gebet meine Seele ihrem Schöpfer. Ich war überzeugt, daß am Ausgang der engen Meeresstraße Schiff und Boot in eine wilde Brandung hineingeraten müßten, wo alle meine Sorgen ein schnelles Ende nehmen würden; und obgleich ich vielleicht zu sterben bereit war, so war ich doch nicht imstande, meinem herannahenden Schicksal ins Gesicht zu sehen.

So muß ich stundenlang gelegen haben, ständig von den Wogen hin und her geworfen, alle Augenblicke von einer Sprühwelle durchnäßt und in steter Erwartung des Todes von der nächsten Woge. Allmählich überwältigte mich die Müdigkeit; trotz meiner Todesangst kam eine Art von Betäubung über mich – bis ich schließlich einschlief.

Da lag ich in meinem von den Wellen hin und her geschleuderten Korakel und träumte von der Heimat und dem alten »Admiral Benbow«.

Vierundzwanzigstes Kapitel


Die Irrfahrt des Korakels

Es war heller Tag, als ich erwachte und mich an dem Südwestende der Schatzinsel auf den Wogen sah. Die Sonne war aufgegangen, befand sich aber noch hinter der gewaltigen Felsmasse des »Fernrohrs«, das auf dieser Seite mit furchtbar steilen Wänden beinahe bis an das Meer heranreichte. Die beiden anderen großen Berge der Insel sah ich ganz nahe. Ich war kaum eine Viertelmeile nach der See hinaus und dachte sofort daran, mich an das Land heranzupaddeln.

Diesen Gedanken gab ich aber bald auf. Die Brandung tobte furchtbar zwischen den Felsblöcken, die von den Bergen herab an den Strand gerollt waren. Von Sekunde zu Sekunde prallte schäumend eine Riesenwoge gegen die Klippen an, und ich sah, daß ich an dieser Küste zerschmettert werden mußte, wenn ich mich heranwagte.

Aber das war noch nicht alles: auf flachen Felsvorsprüngen sah ich ungeheuer große, schleimige Ungeheuer kriechen – Weichschnecken von unglaublicher Größe, mindestens vierzig bis fünfzig an der Zahl, deren bellendes Geheul den Widerhall der Felsen weckte.

Ich habe später erfahren, daß es Seelöwen waren – vollkommen harmlose Tiere. Aber der Anblick dieser Ungeheuer in Verbindung mit der tosenden Brandung war mehr als genug, um mich von einem Landungsversuche an dieser Stelle abzuhalten. Lieber wollte ich auf dem Wasser verhungern, als es mit solchen Gefahren aufnehmen.

Übrigens hatte ich noch eine andere und bessere Aussicht auf Rettung vor mir. Nach Norden zu erstreckt sich eine lange ebene Fläche, die bei tiefem Wasserstande einen Streifen gelben Sandes zutage treten läßt. Und noch weiter nördlich davon befindet sich ein anderes Vorgebirge – das Waldkap, wie es auf der Karte bezeichnet war – mit hohen grünen Fichten, die bis an den Strand heranreichten.

Ich erinnerte mich, was Silver von der Strömung gesagt hatte, die längs der ganzen Westküste der Schatzinsel nach Norden fließt; da ich an meiner Lage erkannte, daß ich bereits in diese Strömung hineingeraten war, so zog ich es vor, alle meine Kraft auf einen Versuch zu verwenden, das freundlicher aussehende Waldkap zu erreichen.

Ich befand mich in einer großen sanften Dünung. Da der Wind beständig und nicht stark nach Süden blies, so fand kein Kampf zwischen ihm und der Strömung statt, und die Wogen hoben und senkten sich, ohne sich zu brechen.

Wäre es anders gewesen, so hätte ich längst umkommen müssen; aber unter diesen günstigen Umständen erwies mein kleines, leichtes Boot sich als überraschend sicher. Ich lag immer noch auf dem Boden ausgestreckt, und wenn ich einmal ein Auge über das Dollbord hob, sah ich oft eine gewaltige, blaue Höhe dicht über mir; aber das Korakel machte nur einen kleinen Sprung, tanzte wie auf Sprungfedern und glitt auf der anderen Seite, leicht wie ein Wasservogel, in das Wellental hinab.

Nach einer kleinen Weile wurde ich sehr kühn und richtete mich auf, um meine Geschicklichkeit im Paddeln zu versuchen. Aber selbst eine kleine Veränderung in der Verteilung des Gewichtes macht für ein Korakel sehr viel aus. Kaum hatte ich die Bewegung gemacht, so gab das Boot sofort seine sanfte, hüpfende Bewegung auf und fuhr in einen so steilen Wellenabgrund hinunter, daß mir schwindlig wurde. Dann bohrte es seinen Bug tief in die Seite der nächsten Woge, daß das Wasser um mich herumspritzte. Ich wurde völlig durchnäßt und bekam einen großen Schreck. Sofort nahm ich meine alte Lage auf dem Boden des Bootes wieder ein, woraufhin das Korakel offenbar wieder zur Besinnung kam und mich so sachte wie zuvor durch die Wellen trug. Es war klar, daß man es nicht stören durfte; da ich aber auf diese Weise den Kurs meines Bootes nicht lenken konnte, was für eine Hoffnung blieb mir da noch, das Land zu erreichen?

Ich begann eine entsetzliche Furcht zu bekommen; aber ich behielt trotzdem noch meinen Kopf oben. Zunächst schöpfte ich, mit Anwendung aller Vorsicht, das Wasser aus dem Korakel mit Hilfe meiner Mütze aus; dann blinzelte ich wieder über das Dollbord hinüber und fing an darüber nachzudenken, wie mein Boot es anfinge, so ruhig durch die hohen Wogen zu schlüpfen.

Ich fand, daß jede Woge keineswegs ein großer, glatter Berg ist, wie es vom Lande oder vom Deck eines Schiffes aus den Anschein hat, sondern daß eine ruhige Dünung genau einer Reihe von Hügeln auf dem trockenen Lande gleicht, wo es Höhen und Tiefen gibt. Wenn das Korakel sich selber überlassen wurde, suchte es sich sozusagen seinen Weg durch diese tieferen Stellen und vermied die steilen Abhänge und die hohen Gipfel der Wogen.

Nun, dachte ich bei mir selber, es ist klar, daß ich ruhig liegenbleiben muß und das Gleichgewicht nicht stören darf; ebenso klar ist es aber, daß ich mit dem Paddelruder von Zeit zu Zeit und an geeigneten Stellen dem Boot einen kleinen Stoß geben könnte, der es dem Lande näher bringt.

Gedacht, getan. Ich stützte mich auf die Ellenbogen und tat ab und zu einen kleinen Schlag, der das Boot der Küste näher brachte.

Es war eine sehr ermüdende und langwierige Arbeit, aber ich gewann sichtbar Raum; als wir uns dem Waldkap näherten, sah ich zwar, daß ich dieses auf keinen Fall erreichen konnte, aber doch mehrere hundert Ellen weiter nach Osten gekommen war. Ich befand mich in der Tat dicht am Lande. Ich konnte die kühlen, grünen Baumwipfel sehen, wie sie in der Brise schwankten, und ich war überzeugt, daß ich das nächste Vorgebirge unfehlbar erreichen würde.

Es war höchste Zeit; denn jetzt begann der Durst mich zu quälen und brennende Sonnenglut von oben, die tausendfache Widerspiegelung ihrer Strahlen von den Wellen, das Meerwasser, das auf meiner Haut trocknete, so daß sogar meine Lippen mit einer Salzkruste überzogen waren – alle diese Umstände im Verein machten, daß mir die Kehle brannte und der Kopf schmerzte. Der Anblick der so nahen Bäume hatte mich beinahe krank vor Sehnsucht gemacht; aber die Strömung hatte mich bald an der Landspitze vorbeigetragen, und als ich wieder in das offene Wasser hinauskam, hatte ich einen Anblick, der meinen Gedanken eine ganz neue Richtung gab.

Gerade vor mir, keine halbe Meile entfernt, sah ich die Hispaniola unter Segel. Ich war sofort überzeugt, daß die Piraten mich jetzt fangen würden; aber infolge des Wassermangels war mir so schlimm zumute, daß ich kaum wußte, ob diese Gedanken mich freuten oder betrübten. Aber bevor ich zu einem Entschluß kam, war ich so voll Verwunderung, daß ich nur immer das Schiff anstarren konnte.

Die Hispaniola fuhr unter ihrem Hauptsegel und zwei Klüversegeln, und die schöne weiße Leinwand glänzte in der Sonne wie Schnee oder wie Silber. Als ich den Schoner zuerst erblickte, waren alle Segel gebläht; er fuhr ungefähr nordwestlich, und ich nahm an, daß die beiden Leute an Bord um die Insel herum nach dem Ankergrund zurückfahren wollten. Plötzlich begann das Schiff immer mehr nach Westen abzufallen, so daß ich dachte, sie hätten mich gesehen und machten auf mein Korakel Jagd. Schließlich aber fuhr die Hispaniola gerade in den Wind hinein und stand eine Weile mit killenden Segeln ganz hilflos still.

»Ungeschickte Kerle!« sagte ich vor mich hin, »sie müssen immer noch betrunken wie Tümpelkröten sein!« Und ich dachte, wie Kapitän Smollett sie an die Arbeit gebracht haben würde.

Mittlerweile fiel der Schoner allmählich wieder ab, dann blähten die Segel sich wieder, das Schiff lief ein paar Minuten in schneller Fahrt, fuhr dann in den Wind hinein und stand still.

Dies wiederholte sich immer und immer wieder. Hin und her, auf und ab, nach Norden, Süden, Osten und Westen segelte die Hispaniola stoßweise, und jedesmal endete es damit, daß die Leinwand gegen den Mast klatschte. Mir wurde klar, das niemand steuerte. Aber wenn es so war – wo waren dann die beiden Piraten? Ich dachte mir, sie müßten entweder sinnlos betrunken sein oder das Schiff verlassen haben, und wenn ich vielleicht an Bord gelangen könnte, wäre ich möglicherweise imstande, das Schiff dem Kapitän zurückzubringen.

Die Strömung trug Korakel und Schoner mit gleicher Geschwindigkeit südwärts. Aber die Hispaniola segelte so wild hin und her und blieb, wenn sie wieder in den Wind hineinfuhr, jedesmal so lange auf einem Fleck, daß sie sicherlich nicht vorwärts kam, wenn sie nicht sogar zurückgetrieben wurde. Ich war sicher, daß ich sie einholen könnte, wenn ich es nur wagen dürfte, mich aufrecht zu setzen und zu paddeln. Der Plan hatte etwas Abenteuerliches an sich, das mich begeisterte, und der Gedanke an die Wassertonne neben der Vorderkajüte verdoppelte meinen wachsenden Mut.

Ich setzte mich aufrecht und wurde sofort von einer neuen Sprühwelle begrüßt; aber diesmal ließ ich mich dadurch nicht abschrecken, sondern begann mit aller Kraft und Vorsicht mich an die steuerlose Hispaniola heranzupaddeln. Einmal schlug eine so schwere Sturzsee in mein Boot, daß ich haltmachen und das Wasser ausschöpfen mußte; das Herz klopfte mir dabei wie einem Vogel, aber allmählich gewöhnte ich mich an die Lage und lenkte mein Korakel so geschickt durch die Wellen, daß nur ab und zu ein Wogenschlag seinen Bug traf und mir den Schaum ins Gesicht warf.

Ich kam jetzt dem Schoner schnell näher; ich konnte den Messingbeschlag an der Ruderpinne sehen, wenn diese hin und her geworfen wurde. Auf Deck war immer noch keine Menschenseele zu erblicken. Ich konnte nichts anderes annehmen, als daß das Schiff verlassen war. Wenn nicht, so lagen wahrscheinlich die beiden Leute betrunken in der Kajüte; dann konnte ich sie vielleicht überwältigen und hatte das Schiff zu meiner Verfügung.

Seit einiger Zeit hatte der Schoner das Schlimmste gemacht, was es geben konnte, er war stillgestanden. Er fuhr ziemlich genau nach Süden, wobei er natürlich fortwährend gierte. Jedesmal, wenn der Schoner abfiel, füllten die Segel sich zum Teil, und dadurch kam er wieder im Nu gerade in den Wind. Dies war für mich am allerschlimmsten, denn so hilflos das Schiff in dieser Lage aussah – die Segel krachten wie Kanonenschüsse, und auf dem Verdeck rollten die Blöcke hin und her –, so lief es trotzdem von mir weg, nicht nur mit der Geschwindigkeit der Strömung, sondern auch mit der ganzen Abtrift, die naturgemäß groß war.

Aber endlich kam eine Aussicht auf Erfolg für mich. Der Wind setzte mehrere Sekunden lang aus, und durch die Wirkung der Strömung drehte sich die Hispaniola um sich selber; ich sah endlich ihren Stern, in dem das Kajütenfenster immer noch weit offen stand; die Lampe über dem Tisch brannte in den hellen Tag hinein. Das Hauptsegel hing schlaff herunter wie ein Banner. Der Schoner war bewegungslos, abgesehen von der Strömung.

In der letzten Zeit war ich sogar zurückgeblieben; jetzt aber gelang es mir durch verdoppelte Anstrengung, dem Schiff immer näher zu kommen.

Ich war keine hundert Yards mehr von ihm entfernt, da kam wieder ein Windstoß, die Segel füllten sich, und die Hispaniola flog wie eine Schwalbe in die Wogen.

Mein erstes Gefühl war Verzweiflung – mein zweites aber Freude! Denn der Schoner drehte sich herum, bis er mir die Breitseite zugedreht hatte –, drehte sich noch weiter herum, bis er die Hälfte, dann zwei Drittel, dann drei Viertel der Entfernung zurückgelegt hatte, die uns noch voneinander trennte. Ich konnte die weißen Wellen an seinem Bug schäumen sehen. Unermeßlich groß schien mir das Schiff von meiner Tiefe aus in meinem kleinen Korakel.

Und dann begann ich plötzlich zu begreifen. Ich hatte kaum noch Zeit zu denken – kaum Zeit zu handeln und mein Leben zu retten. Ich war oben auf einer Woge, als der Schoner die nächste Woge hinaufschwebte. Das Bugspriet befand sich über meinem Kopf, ich sprang auf und in die Höhe und trat dabei das Korakel unter Wasser. Mit der einen Hand erfaßte ich den Klüverbaum, während mein Fuß zwischen Stag und Brasse einen Halt fand; während ich noch keuchend so hing, verkündete ein dumpfer Schlag mir, daß der Schoner über das Korakel hinweggesegelt war, und daß ich mich jetzt ohne jede Möglichkeit eines Rückzugs auf der Hispaniola befand.

Fünfundzwanzigstes Kapitel


Ich hole den Jolly Roger herunter

Ich hatte mich kaum auf das Bugspriet hinaufgeschwungen, da füllte das Klüversegel sich auf dem neuen Gang, mit einem Knall, wie wenn eine Kanone abgeschossen würde. Der Schoner zitterte von dem Gegenstoß bis an den Kiel hinab; im nächsten Augenblick aber, während die anderen Segel noch gefüllt waren, klatschte das Klüversegel wieder zurück und hing leer herab.

Dies hätte mich beinahe in die See geworfen; aber jetzt verlor ich keine Zeit mehr, sondern kroch am Bugspriet entlang und warf mich kopfüber auf das Deck herab.

Ich befand mich auf der Leeseite des Vorderkastells, und das Hauptsegel, das noch gefüllt war, versperrte mir den Ausblick auf einen Teil des Achterdecks. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Planken, die seit dem Ausbruch der Meuterei nicht aufgewaschen waren, trugen die Spuren vieler Füße, und eine leere Flasche mit abgebrochenem Hals rollte wie ein lebendes Wesen in den Speigatten hin und her.

Plötzlich kam die Hispaniola gerade in den Wind. Die Klüversegel hinter mir krachten laut; das Steuerruder schlug zur Seite; das ganze Schiff stöhnte und ächzte laut, und in demselben Augenblick schwang der Giekbaum sich über das Deck hinüber und ich, erblickte die Leeseite des Achterdecks.

Ja, da waren die beiden Wächter: Rotmütze lag auf seinem Rücken, steif wie eine Handspake, mit ausgestreckten Armen wie ein Kruzifix; zwischen den offenen Lippen waren die weißen Zähne zu sehen. Israel Hands saß an das Bollwerk angelehnt; sein Kinn war auf die Brust gesunken, seine Hände lagen flach auf dem Deck; sein Gesicht war unter der gegerbten Haut so weiß wie ein Talglicht.

Eine Weile bäumte das Schiff sich wie ein störrisches Pferd; die Segel füllten sich bald auf dem einen Gang, bald auf einem anderen, und der Giekbaum schwang hin und her, daß der Mast laut stöhnte. Ab und zu kam eine Sprühwelle über die Schanzkleidung, und der Bug des Schiffes schlug mit einem dumpfen Schlag gegen die Dünung an; es war eben ein großer Unterschied zwischen diesem großen aufgetakelten Schoner und meinem kleinen leichten Korakel, das jetzt auf dem Meeresgrunde lag.

Bei jedem Sprunge, den die Hispaniola machte, wurde Rotmütze hin und her geworfen; dabei war gräßlich anzusehen, daß trotz alledem seine Lage immer die gleiche blieb, und daß seine fest aufeinandergebissenen Zähne immerzu aus dem halboffenen Munde hervorgrinsten. Und bei jedem Aufbäumen des Schiffes schien auch Hands immer mehr in sich zusammenzusinken und über das Deck herunterzugleiten; seine Füße spreizten sich mehr auseinander, und der ganze Körper glitt allmählich nach dem Stern abwärts, so daß ich allmählich immer weniger von seinem Gesicht sehen konnte, und schließlich nur noch sein Ohr und die eine Hälfte seines geringelten Backenbartes für mich sichtbar blieb.

Gleichzeitig bemerkte ich rund um beide Piraten herum dunkle Blutflecken auf den Planken, so daß ich schließlich annahm, sie hätten sich gegenseitig in ihrer trunkenen Wut getötet.

Während ich auf diese Weise mich umblickte und Vermutungen nachhing, drehte in einem ruhigen Augenblick, als das Schiff nicht schwankte, Israel Hands sich halb herum und rutschte mit einem leisen Stöhnen in die Stellung zurück, in der ich ihn zuerst erblickt hatte. Dieses Stöhnen, das ein Zeichen von Schmerz und großer Schwäche war, und der Anblick seiner schlaff herunterhängenden Kinnlade taten mir herzlich leid. Als ich mich aber erinnerte, wie gemein und blutdürstig er gesprochen hatte, als ich in der Apfeltonne saß, da verschwand alles Mitleid aus meinem Herzen.

Ich ging nach dem Achterdeck, und als ich den Hauptmast erreicht hatte, sagte ich ironisch:

»Melde mich an Bord, Herr Hands.«

Er machte erstaunte Augen, aber er war viel zu schwach, um seine Verwunderung auszusprechen. Mit Mühe brachte er nur ein einziges Wort hervor!

»Branntwein!«

Mir dünkte, es sei keine Zeit mehr zu verlieren; ich schlüpfte unter dem Giekbaum durch, als er sich wieder über das Deck bewegte, lief nach achtern und über die Kajütstreppe in die Kajüte hinunter.

In dieser herrschte eine Unordnung, wie man sich kaum vorstellen kann. Die Meuterer hatten alle verschlossenen Behälter erbrochen, um nach der Karte zu suchen. Der Fußboden war hoch mit Schlamm bedeckt, den die Kerle an ihren Stiefeln von der sumpfigen Erde vom Lagerfeuer mitgebracht hatten. Die Vertäfelung der Kajüte, die sauber in Weiß gemalt gewesen war mit goldenen Randleisten, trug die Abdrücke schmutziger Finger. Dutzende von leeren Flaschen lagen in den Ecken und klirrten gegeneinander an, wenn das Schiff rollte. Auf dem Tisch lag eins von den medizinischen Büchern des Doktors aufgeschlagen; die Hälfte der Blätter waren herausgerissen; wahrscheinlich hatten sie als Fidibusse für die Pfeifen gedient. Diese ganze Anordnung wurde von der qualmenden Lampe beleuchtet.

Ich ging in den Keller hinunter; die Fässer waren verschwunden, und von den Flaschen war eine überraschend große Anzahl leer getrunken und weggeworfen worden. Seit dem Beginn der Meuterei konnte kein einziger von den Piraten kaum einen Augenblick nüchtern gewesen sein.

Nach einigen Minuten fand ich eine Flasche, in der noch etwas Branntwein war; diese bestimmte ich für Hands; für mich selber trieb ich einige Zwiebacke, eingemachte Früchte, eine große Traube Rosinen und ein Stück Käse auf. Hiermit ging ich an Deck, legte meine eigenen Eßvorräte am Steuerruder nieder, wo der Schaluppmeister sie nicht erreichen konnte, ging dann an die Wassertonne und trank mich so richtig satt; und erst dann gab ich Hands den Branntwein.

Er muß eine Viertelpinte getrunken haben, bevor er die Flasche wieder absetzte. Dann sagte er:

»Ha! Zum Donner – das hatte ich aber sehr nötig!«

Ich hatte mich inzwischen in meine eigene Ecke hingesetzt und zu essen begonnen.

»Schlimm verwundet?« fragte ich ihn.

Er grunzte, ich möchte beinah sagen: er bellte und sagte:

»Wenn der Doktor da an Bord wäre, hätte er mich im Handumdrehen wieder zurecht; aber ich habe nun mal gar kein Glück, siehst du, das ist nun mal so mit mir. Der Waschlappen da, der ist tot und erledigt,« fuhr er fort, indem er auf den Mann mit der roten Mütze zeigte, »war überhaupt kein Seemann! Und wo kommst du denn her?«

»O, ich bin an Bord gekommen, um von dem Schiff Besitz zu ergreifen, Herr Hands; und Sie werden bis auf weiteres so gut sein, mich als Ihren Kapitän anzusehen.«

Er zog ein recht schiefes Gesicht, sagte aber nichts. Seine Wangen waren wieder etwas rot geworden, doch sah er immer noch sehr krank aus und glitt auf dem Deck entlang, sooft das Schiff einen neuen Stoß bekam.

»Übrigens, was ich sagen wollte,« fuhr ich fort, »ich kann diese Flagge hier nicht haben, Herr Hands, und will sie herunterholen, wenn Sie nichts dagegen haben; besser gar keine als diese.«

Ich kroch wieder unter den Giekbaum durch, lief an die Flaggenleine, holte ihre verfluchte schwarze Flagge herunter und warf sie über Bord. Dann schwenkte ich meine Mütze im Wind:

»Gott erhalte den König! Und somit ist es aus mit Käpp’n Silver!«

Er sah mich von unten auf scharf an; sein Kinn lag immer noch auf der Brust.

»Ich rechne,« sagte er nach einer Weile – »ich rechne, Käpp’n Hawkins, Sie werden jetzt wohl gerne an Land wollen. Was meinen Sie dazu, wenn wir mal darüber sprechen?«

»Oh, gewiß, ja!« sagte ich, »von Herzen gern, Herr Hands. Schießen Sie los!«

Und ich machte mich wieder über meine Mahlzeit her und aß mit gutem Appetit.

»Dieser Mann da,« begann er mit einer schwachen Kopfbewegung nach der Leiche hinüber, »O’Brien war sein Name – ein richtiger frecher Irländer –, dieser Mann und ich brachten den Schoner unter Segel; dachten, wir wollen wieder zurückfahren. Na, der ist nun tot, das ist er – mausetot; und wer das Schiff segeln soll, das weiß ich nicht. Wenn ich dir nicht einen Wink gebe oder zwei, so bist du nicht der Mann, soweit ich sehen kann. Na, nun höre mal zu: Du gibst mir Essen und Trinken und einen alten Lappen oder ein Taschentuch, um meine Wunde zu verbinden; und ich will dir dafür sagen, wie du steuern sollst; und so ist es wohl recht und billig, denk ich.«

»Ich will Ihnen bloß eins sagen,« sagte ich: »ich habe nicht die Absicht, nach Käpp’n Flints Ankergrund zurückzusegeln. Ich gedenke nach der nördlichen Bucht zu segeln und den Schoner da ruhig auf den Strand laufen zu lassen.«

»Kann ich mir denken!« rief er. »Nu, ich bin doch kein gottverdammter Schafskopf, habe doch Augen im Kopf zu sehen, nicht wahr? Habe versucht, mir ’nen Jux zu machen, und ’s ist schief gegangen, und du hast mir den Wind abgelaufen. Nordbucht? Na, ich habe ja keine Wahl! Ich würde dir helfen, nach Execution Dock in London zu segeln – zum Donner, das tätlich!«

Nun, was er sagte, schien mir ganz vernünftig zu sein. Wir machten also sofort unseren Handel ab. Binnen drei Minuten segelte die Hispaniola leicht vor dem Winde längs der Küste der Schatzinsel, und wir hatten gute Hoffnung, noch vor Mittag um die Nordspitze herumzukommen und vor der hohen Flut an der Nordbucht zu sein; da konnten wir den Schoner sicher auf den Strand laufen lassen und dann warten, bis das Wasser so weit abgelaufen war, daß ich an Land gehen konnte.

Ich band das Steuerruder fest und ging unter Deck zu meiner Kiste, aus der ich ein weißes seidenes Halstuch herausnahm, das meine Mutter mir gegeben hatte. Hiermit verband unter meinem Beistande Israel den tiefen klaffenden Messerstich, den er von dem Irländer in den Oberschenkel bekommen hatte; und nachdem er ein bißchen gegessen und noch ein paar Schluck Branntwein getrunken hatte, begann er sich sichtlich zu erholen: er saß straffer aufgerichtet, sprach lauter und deutlicher und war in jeder Beziehung ein anderer Mensch.

Die Brise kam uns vortrefflich zustatten. Wir flogen wie ein Vogel vor ihr her; die Küste der Insel flitzte an uns vorbei und zeigte jede Minute ein neues Bild. Bald waren wir an den Bergen vorüber und fuhren an einem niedrigen, sandigen Landstrich herunter, der spärlich mit verkrüppelten Fichten bestanden war, und bald waren wir auch darüber wieder hinaus und um das felsige Vorgebirge herum, das die Nordspitze der Insel bildet.

Ich fühlte mich sehr stolz in meiner neuen Kapitänswürde und sehr behaglich in dem hellen, sonnigen Wetter und freute mich über die wechselnden Landschaften der Küste. Ich hatte jetzt Überfluß an Wasser und guten Lebensmitteln, und mein Gewissen, das mich wegen meines Weglaufens gepeinigt hatte, war jetzt beruhigt, da ich eine so große Eroberung gemacht hatte. Es wäre mir nichts zu wünschen übriggeblieben, wenn nicht der Schaluppmeister mich fortwährend mit höhnischen Blicken angesehen hätte und mit einem eigentümlichen Lächeln, das alle Augenblicke auf seinem Gesicht erschien. Es war ein Lächeln, worin etwas von Schmerz und Schwäche lag – ein grimmiges Lächeln eines alten Mannes; außerdem aber lag eine Beimischung von Hohn und von Hinterlist in dem Ausdruck, womit er mich an meiner Arbeit beobachtete und immerzu beobachtete.

Sechsundzwanzigstes Kapitel


Israel Hands

Der Wind schlug jetzt nach Westen um – gerade, wie wir ihn brauchen konnten. Auf diese Weise kamen wir viel bequemer von der nordöstlichen Spitze der Insel nach der Mündung der Nordbucht. Nur hatten wir keine Leute, um den Anker auszuwerfen, und da wir den Schoner nicht auf den Strand setzen durften, bis die Flut bedeutend höher gestiegen war, so hatten wir überflüssige Zeit. Der Schaluppmeister sagte mir, wie ich den Schoner beilegen sollte, was mir endlich nach manchem vergeblichen Versuch gelang. Hierauf besorgte ich wieder etwas zu essen, und wir saßen lange Zeit da und sagten kein Wort.

»Käpp’n,« sagte Israel schließlich mit seinem unangenehmen Lächeln, »da ist mein alter Schiffsmaat, O’Brien. Wie wäre es, wenn Sie ihn über Bord schmissen? Ich bin sonst nicht so heikel und mache mir auch nichts daraus, daß ich ihm den Rest gegeben habe; aber mir dünkt, er ist nicht gerade ornamental – oder was meinen Sie?«

»Ich bin nicht stark genug, und es paßt mir nicht, ihn anzurühren; meinetwegen bleibt er liegen, wo er ist.«

»Das ist ein unglückliches Schiff, diese Hispaniola,« fuhr Israel fort und zwinkerte dabei mit den Augen. »Da sind eine Masse Leute tot gemacht worden, auf dieser Hispaniola – eine Masse armer Seeleute, tot und dahin, seitdem wir zwei beide in Bristol zu Schiff gingen. Habe nie so’n dreckiges Glück gesehen, wahrhaftig! Da war dieser O’Brien, na – er ist tot, nicht? Na, ich bin doch kein Gelehrter, und du bist ein Junge, der lesen und rechnen kann; na, um es gerade herauszusagen: was meinst du – ist ein toter Mann richtig tot, oder kommt er nochmal wieder?«

»Sie können den Leib töten, Herr Hands, aber nicht den Geist; das müßten Sie doch schon wissen! O’Brien da ist in einer anderen Welt und sieht vielleicht zu, was wir hier treiben.«

»Aha! Na, das ist schade – sieht aus, als ob es Zeitverschwendung wäre, Leute totzuschlagen. Indessen dennoch – Geister gelten nicht viel, nach allem, was ich gesehen habe. Ich will es auf die Geister ankommen lassen, Jim. Aber, danke für die Auskunft! Möchtest du nun so gut sein, mal in die Kajüte hinunterzugehen und mir ein – ach, Himmeldonnerwetter, ich kann nicht auf den Namen kommen; na, einerlei; hole mir eine Flasche Wein, Jim, einerlei, wie er heißt. Dieser Branntwein hier ist zu stark für meinen Kopf.«

Nun, diese Redensarten des Schaluppmeisters kamen mir unnatürlich vor; und daß er lieber Wein als Branntwein haben wollte, davon glaubte ich ihm kein Wort. Die ganze Geschichte war bloß ein Vorwand. Er wünschte, daß ich vom Deck herunterginge – soviel war klar; aber welchen Zweck er damit verfolgte, das konnte ich mir durchaus nicht vorstellen.

Seine Augen vermieden mich; sie fuhren hin und her, auf und ab – bald mit einem Blick nach dem Himmel hinauf, bald mit einem schnellen Seitenblick auf O’Briens Leiche. Dabei lächelte er fortwährend und leckte sich mit einer so verlegenen Miene die Lippen, ein Kind hätte merken müssen, daß er eben eine Täuschung vorhatte. Ich war aber schnell mit meiner Antwort bei der Hand, denn ich sah sofort, wo mein Vorteil lag; einem so dummen Menschen gegenüber konnte ich meinen Verdacht leicht verbergen.

»Ein bißchen Wein,« sagte ich. »Das ist auch viel besser. Wollen Sie weißen oder roten haben?«

»Nu, ich denke, das ist mir so ziemlich Wurscht, Schiffsmaat! Wenn er nur stark ist und recht reichlich – das andere ist einerlei!«

»Schön! Ich will Ihnen Portwein bringen, Herr Hands. Aber ich werde danach suchen müssen.«

Hierauf polterte ich, so laut ich konnte, die Kajütstreppe hinunter, streifte meine Schuhe ab, lief leise den Verbindungsgang entlang, stieg die Leiter des Vorderkastells hinauf und steckte meinen Kopf aus der Vorderluke heraus. Ich wußte, daß er nicht erwarten würde, mich dort zu sehen; trotzdem benahm ich mich so vorsichtig wie möglich.

Ich sah sofort, daß mein schlimmster Verdacht nur zu berechtigt gewesen war. Der Schaluppmeister hatte sich herumgedreht und auf Hände und Knie aufgestützt; obgleich sein Bein ihm offenbar sehr weh tat, als er sich bewegte – denn ich konnte ihn stöhnen hören –, so schleppte er sich doch recht schnell über das Deck. In einer halben Minute hatte er das Backbord-Speigatt erreicht und aus einem Tauring ein langes Messer, oder besser gesagt, einen Dolch herausgeholt, der bis ans Heft von Blut gerötet war. Er sah ihn einen Augenblick an, wobei er die Kinnlade vorschob, prüfte die Spitze auf seiner Hand, verbarg ihn hastig in der Brusttasche seiner Jacke und kroch wieder nach seinem alten Platz an der Schanzbrüstung zurück.

Weiter brauchte ich nichts zu wissen. Israel konnte sich bewegen; er war jetzt bewaffnet; und wenn er sich so große Mühe gemacht hatte, mich fortzuschicken, so war es klar, daß ich als Opfer fallen sollte. Was er später tun würde – ob er versuchen würde, von der Nordbucht quer über die Insel nach dem Lagerplatz der Piraten zu kriechen, oder aber vielleicht den langen Neunpfünder abfeuern würde, in der Erwartung, daß seine Kameraden kommen würden, um ihm zu helfen – das war natürlich mehr, als ich sagen konnte.

Bei alledem war ich überzeugt, daß ich in einer bestimmten Hinsicht ihm trauen konnte, weil darin unser beider Vorteil übereinstimmte – und das war die Lenkung des Schoners. Wir hatten beide den Wunsch, ihn an einer geschützten Stelle sicher auf den Strand zu lassen, so daß er, wenn die Zeit gekommen wäre, mit möglichst geringer Mühe und Gefahr wieder flottgemacht werden könnte. Ich nahm deshalb an, daß er sicherlich mein Leben schonen würde, bis wir es so weit gebracht hätten.

Während ich mir die Sache in meinem Kopf überlegte, war mein Körper nicht müßig gewesen. Ich hatte mich nach der Kajüte zurückgeschlichen, meine Schuhe wieder angezogen, die erste beste Flasche Wein ergriffen und erschien nun mit dieser wieder auf Deck.

Hands lag, ganz zu einem Bündel zusammengesunken, genau in derselben Stellung, wie ich ihn verlassen hatte – mit geschlossenen Augenlidern, wie wenn er zu schwach wäre, um das Licht vertragen zu können. Er blickte jedoch auf, als ich kam, schlug der Flasche ihren Hals ab, und zwar mit der Geschicklichkeit eines Mannes, der so etwas schon oft getan hat, und nahm einen tüchtigen Schluck, nachdem er seinen Lieblingsspruch ausgebracht hatte:

»Auf gut Glück!«

Dann lag er eine kleine Weile ruhig, und auf einmal holte er ein Stück Tabak aus der Tasche und bat mich, ihm einen Priem abzuschneiden.

»Schneide mir ein Endchen ab, denn ich habe kein Messer – und hätte ich eins, so würde ich wohl kaum Kraft genug haben. Oh, Jim, Jim! ich bin wohl böse ausgerutscht! Schneid mir ein Priemchen ab – wird wohl das letzte sein; denn ich bin auf dem Marsch in die Ewigkeit, daran ist nicht zu zweifeln.«

»Na, ich will Ihnen etwas Tabak abschneiden; aber wenn ich an Ihrer Stelle wäre und glaubte, daß es schlecht mit mir stände, dann würde ich mich ans Gebet halten als ein rechter Christenmensch!«

»So? Na, sage mir doch, warum?«

»Warum?« rief ich. »Gerade in diesem Augenblick haben Sie nach dem Toten gefragt. Sie haben die Treue gebrochen; Sie haben in Sünden und Lügen und Blut gelebt; ein Mensch, den Sie getötet haben, liegt in diesem Augenblick zu Ihren Füßen – und Sie fragen mich, warum! Bei Gottes Gnaden, Herr Hands – darum

Ich sprach etwas hitzig; denn ich dachte an den blutigen Dolch, den er in seine Tasche gesteckt hatte und mit dem der Bösewicht mir den Garaus zu machen gedachte. Israel nahm einen großen Schluck Wein und sagte dann mit ganz ungewöhnlicher Feierlichkeit:

»Dreißig Jahre lang habe ich die Meere befahren, habe Gutes und Böses gesehen, Besseres und Böseres, schön Wetter und schlechtes; habe Hungersnot erlebt und Wassermangel, mit Messern ist gestochen worden, und was nicht sonst noch alles! Nun, ich sage dir das: ich habe noch nie gesehen, daß von Güte etwas Gutes kam. Wer zuerst zuschlägt, das ist mein Mann, und tote Hunde beißen nicht. Das ist meine Meinung – Amen, so sei es. Und nun hör‘ mal,« fuhr er in einem ganz anderen Tone fort, »wir haben jetzt von diesem dummen Zeug genug gehabt. Das Wasser ist jetzt hoch genug. Sie brauchen bloß meine Befehle auszuführen, Käpp’n Hawkins, und wir segeln glatt in die Bucht hinein, und damit fertig!«

Wir hatten alles in allem kaum zwei Meilen zu segeln; aber das Schiff zu steuern, war nicht so einfach, denn die Einfahrt zu diesem nördlichen Ankergrund war nicht nur schmal und seicht, sondern lief außerdem in der Richtung von Osten nach Westen, so daß der Schoner vorsichtig gesteuert werden mußte, um hineinzugelangen. Ich glaube, ich war ein guter, aufmerksamer Untergebener, und ganz gewiß war Hands ein ausgezeichneter Lotse; denn wir wendeten und streiften dabei an den Klippen vorüber mit einer Sicherheit und Genauigkeit, daß es ein Vergnügen anzusehen war. Kaum waren wir zwischen den beiden Vorsprüngen der Landspitzen hindurch, so waren wir dicht von Land eingeschlossen. Die Küsten der Nordbucht waren ebenso dicht bewaldet wie die des südlichen Ankerplatzes; aber die Wasserfläche war länger und schmäler; sie glich einer Flußmündung, was sie ja auch in Wirklichkeit war.

Gerade vor uns, am südlichen Ende, sahen wir das Wrack eines Schiffes, das sich im letzten Zustande des Verfalls befand. Es war ein großes Schiff mit drei Masten gewesen, aber es war so lange aller Unbill des Wetters ausgesetzt gewesen, daß große Gewebe triefenden Seetangs rings herumhingen, und auf dem Deck hatten Landpflanzen Wurzeln geschlagen und blühten jetzt in reicher Farbenpracht. Das Schiff war traurig anzusehen, aber es bot uns einen Beweis, daß der Ankergrund geschützt war.

»Nun hör‘ mal zu,« sagte Hands zu mir; »hier ist eine wunderschöne Stelle, um ein Schiff auf den Strand zu setzen: schöner flacher Sand, keine Katzenpfote auf dem Wasser, Bäume rundrum, und auf dem alten Schiff, da blühen die Blumen wie in einem Garten!«

»Und wenn wir sie auf dem Strande haben,« fragte ich, »wie sollen wir sie dann wieder herunterkriegen?«

»Oh, das ist ganz einfach: du gehst mit einer Leine an Land, da ans Ufer, wenn das Wasser niedrig ist, du legst die Leine um eine von den großen Fichten; kommst wieder mit ihr aufs Schiff, legst sie um die Ankerwinde herum und wartest ganz einfach ab, bis die Flut kommt. Kommt hohes Wasser, so ziehen alle Mann an der Leine, und los kommt das Schiff, daß es eine wahre Freude ist. Und nun, Junge! Wir sind dicht an der Stelle, aber wir fahren ein bißchen zu schnell. Steuerbord ein bißchen – so – gut so – Steuerbord – Backbord ein bißchen – gut so – gut so!«

So gab er seine Befehle aus, die ich mit angehaltenem Atem verfolgte, bis er plötzlich rief:

»Nun, mein Herzchen, man los!«

Ich legte mit aller Kraft das Steuerruder herum, die Hispaniola schwang sich mit einem Ruck herum und sauste auf die niedrige Waldküste los.

In der Erregung dieser letzten Manöver hatte ich in der Aufmerksamkeit nachgelassen, womit ich bisher den Schaluppmeister sehr scharf beobachtete. Ich erwartete mit solcher Spannung das Auflaufen des Schiffes auf den Sand, daß ich die über meinem Haupte schwebende Gefahr ganz vergessen hatte; ich sah mit langem Halse über die Steuerbordschanzkleidung hinüber auf die Wellen, die der Bug des Schoners aufwarf. Ich wäre vielleicht ohne jeden Kampf gefallen, wenn nicht plötzlich eine Unruhe über mich gekommen wäre, die mich veranlaßte, mich umzusehen. Vielleicht hatte ich ein Knattern gehört, oder ich hatte aus dem Augenwinkel seinen Schatten sich bewegen sehen, vielleicht war es auch ein triebmäßiges Gefühl, wie eine Katze es hat – kurz und gut: als ich mich umsah, hatte Hands schon die Hälfte der Entfernung bis zu mir zurückgelegt und kam mit dem Dolch in der rechten Hand auf mich los.

Wir müssen beide laut aufgeschrien haben, als unsere Blicke einander begegneten; aber während ich einen schrillen Entsetzensschrei ausstieß, brüllte er vor Wut wie ein angreifender Stier. In demselben Augenblick sprang er vorwärts, und ich machte einen Seitensprung nach dem Bug zu. Dabei ließ ich das Steuerruder los, das mit einem scharfen Ruck leewärts flog; und ich glaube, dies rettete mein Leben – denn die Ruderpinne traf Hands gegen die Brust und warf ihn für einen Augenblick zurück.

Bevor er sich wieder aufraffen konnte, war ich aus der Ecke heraus, in der er mich wie in einer Falle gehabt hatte, und konnte mich jetzt auf dem ganzen Verdeck frei bewegen. Beim Hauptmast blieb ich stehen, zog eine Pistole aus der Tasche, zielte kaltblütig, obgleich er sich bereits umgedreht hatte und wieder auf mich los kam, und dann drückte ich ab. Der Hahn schlug auf, aber es folgte weder Blitz noch Knall; das Zündkraut war von dem Seewasser unbrauchbar gemacht worden. Ich verwünschte mich selber über meine Nachlässigkeit. Warum hatte ich nicht längst meine einzigen Waffen frisch geladen und mit neuem Zündkraut versehen? Dann hätte ich jetzt nicht wie ein Schaf vor seinem Schlächter zu fliehen brauchen.

Es war erstaunlich, wie schnell er trotz seiner Wunde sich bewegen konnte! Sein graues Haar hing ihm über das Gesicht herab, und dieses Gesicht war feuerrot vor Aufregung und Wut. Ich hatte keine Zeit, meine zweite Pistole zu versuchen; übrigens auch nicht viel Lust dazu, denn ich war überzeugt, daß sie nicht losgehen würde.

Soviel sah ich deutlich: ich durfte nicht einfach vor ihm davonlaufen; denn er würde mich bald am Bug in der Ecke gehabt haben, wie er mich soeben am Stern schon in der Klemme gehabt hatte. Sobald dies geschah, würden neun oder zehn Zoll kaltes Eisen meine letzte Erfahrung diesseits der Ewigkeit gewesen sein! Ich legte meine Hände flach gegen den Hauptmast, der recht dick war, und wartete mit straff gespannten Nerven.

Er merkte sofort meine Absicht und blieb ebenfalls stehen; ein paar Augenblicke vergingen mit Finten von seiner Seite und mit entsprechenden Bewegungen von der meinigen.

Es war ein Spiel, wie ich es zu Hause unter den Felsen an der Bucht oft gespielt hatte, aber ganz gewiß niemals mit einem so wild klopfenden Herzen wie diesmal. Indessen, es war wie gesagt ein Knabenspiel, und ich dachte, ich könnte es darin wohl gegen einen ältlichen Seemann mit einem verwundeten Bein aufnehmen. Mein Mut war inzwischen so gewachsen, daß ich mir sogar ein paar blitzschnelle Gedanken an den mutmaßlichen Ausgang erlaubte; da sah ich allerdings, daß ich dieses Ende noch länger hinausziehen könnte, daß ich aber kaum eine Hoffnung hätte, schließlich mit heiler Haut davonzukommen.

Während nun die Dinge so standen, stieß plötzlich die Hispaniola auf den Strand: sie bekam einen Ruck, streifte einen Augenblick knirschend über den Sand und legte sich dann blitzschnell nach Backbord über, bis das Deck einen Winkel von 45 Grad bildete; eine gute Menge Wasser drang durch die Speigatten ein und bildete eine Lache zwischen Deck und Schanzkleidung.

Wir verloren beide den Halt und rollten fast gleichzeitig in die Speigatten hinein; hinter uns her der tote Pirat mit der roten Mütze! Wir waren einander so nahe, daß mein Kopf an den Fuß des Schaluppmeisters anschlug. Ich bekam einen Stoß, daß meine Zähne klapperten.

Trotz diesem Stoß war ich aber zuerst wieder auf den Beinen, denn Hands mußte sich erst von der Leiche losmachen. Infolge der schrägen Lage des Schiffes konnte ich auf dem Deck nicht mehr laufen; ich mußte einen anderen Rettungsweg finden, und zwar augenblicklich, denn mein Feind war unmittelbar bei mir. Schnell wie ein Gedanke, sprang ich in die Besanwanten hinein, klomm Hand über Hand hinauf, ohne einen Atemzug zu tun, bis ich auf der Rahe saß.

Meine Schnelligkeit hatte mich gerettet, denn während ich hinaufkletterte, war Israels Dolch keinen halben Fuß unter mir vorbeigefahren; und da stand nun Israel Hands mit offenem Munde und sah zu mir hinauf– ein Bild der Überraschung und Enttäuschung. Da ich jetzt einen Augenblick Zeit hatte, so schüttete ich unverzüglich neues Pulver auf die Pfanne meiner Pistole; nachdem ich auf diese Weise eine schußfertig gemacht hatte, lud ich zur größeren Sicherheit die andere ganz frisch, nachdem ich die alte Ladung herausgezogen hatte.

Als Hands dies sah, begann er zu merken, daß das Blatt sich gewandt hatte. Nach einem kurzen Zögern kletterte er selber schwerfällig, den Dolch zwischen den Zähnen, die Wanten hinauf; es ging langsam, er hatte offenbar viele Schmerzen. Mit lautem Stöhnen zog er sein verwundetes Bein nach; ich hatte in aller Ruhe meine Pistolen geladen, bevor er den dritten Teil der Strecke zurückgelegt hatte. Dann nahm ich eine Pistole in jede Hand und rief ihm zu:

»Noch einen Schritt näher, Herr Hands, und ich schieße Ihnen eine Kugel vor den Kopf! Tote Hunde beißen nicht, wissen Sie!« setzte ich mit einem Kichern hinzu.

Er machte sofort halt. Ich konnte ihm am Gesicht ansehen, daß er zu denken versuchte, und das ging so langsam und machte ihm offenbar solche Mühe, daß ich in dem Gefühl meiner Sicherheit laut auflachte.

Er schluckte ein paarmal, und ich sah ihm an seinem verdutzten Gesicht an, daß er etwas sagen wollte. Um sprechen zu können, mußte er den Dolch aus dem Munde nehmen; sonst aber rührte er kein Glied. Endlich sagte er:

»Jim, ich rechne, wir haben uns alle beide festgefahren, du und ich, und werden einen Vergleich schließen müssen. Ich hätte dich gekriegt, wenn nicht der Stoß gekommen wäre! Aber ich habe ja nun mal kein Glück! Und ich rechne, ich werde die Flagge streichen müssen, und das ist ein hartes Ding für einen alten, seebefahrenen Schaluppmeister einem Jüngelchen gegenüber, wie du’s bist, Jim!«

Seine Worte waren für mich eine Wonne, und ich lächelte und war so eitel wie ein Hahn auf einer Gartenmauer. Da warf er plötzlich seine rechte Hand über die Schulter, etwas schwirrte wie ein Pfeil durch die Luft – ich fühlte einen Schlag und dann einen scharfen Schmerz, und siehe: ich war mit der Schulter an den Mast gespießt. In dem fürchterlichen Schmerz und in der Überraschung des Augenblicks – ich kann kaum sagen, daß ich es mit freiem Willen tat, und sicherlich habe ich nicht gezielt – gingen meine beiden Pistolen los, und beide fielen mir aus den Händen. Sie fielen nicht allein: mit einem erstickten Schrei ließ der Schaluppmeister die Wanten los und stürzte rücklings ins Wasser.

Siebenundzwanzigstes Kapitel


»Piaster!«

Infolge der schrägen Lage des Schiffes hingen die Masten weit über das Wasser hinüber, und deshalb saß ich auf meiner Rahe über dem Wasserspiegel. Hands, der sich tiefer befunden hatte, war infolgedessen dem Schiff näher und stürzte zwischen mir und der Schanzkleidung ab. Er kam noch einmal in einer Lache von Schaum und Blut nach oben und sank dann endgültig. Als das Wasser wieder ruhig wurde, konnte ich seine gekrümmte Leiche auf dem reinen, weißen Sand im Schatten der Schiffswand liegen sehen. Ein paar Fische schwammen um ihn herum. Ein paarmal hatte es den Anschein, wie wenn er sich ein wenig bewegte und aufzustehen versuchte. Dies schien aber nur so infolge der Bewegung des Wassers: er war tot genug; denn er war erschossen und ertrunken und lag nun als Speise für die Fische an derselben Stelle, an der er mich hatte ermorden wollen.

Kaum war ich seines Todes gewiß, so begann ich mich krank und elend zu fühlen. Heißes Blut lief mir über Rücken und Brust. Der Dolch, der meine Schulter an den Mast gespießt hatte, schien wie glühendes Eisen zu brennen. Aber es waren nicht so sehr diese wirklichen Schmerzen, die mich unglücklich machten – denn diese, so schien es mir, hätte ich ohne einen Klagelaut ertragen können; es war die Angst, daß ich von meiner Rahe in das stille, grüne Wasser hinabstürzen und dann neben der Leiche des Schaluppmeisters liegen würde.

Ich klammerte mich mit beiden Händen fest, bis mir die Nägel weh taten, und schloß meine Augen, wie wenn ich dadurch die Gefahr mir selber verbergen könnte. Allmählich aber kam ich wieder zur Besinnung, mein Pulsschlag wurde wieder ruhig, und ich hatte meine Selbstbeherrschung zurückerlangt.

Vor allen Dingen wollte ich den Dolch herausreißen; aber entweder stak dieser zu fest, oder ich verlor die Nerven; jedenfalls ließ ich mit einem heftigen Schauder von meinem Beginnen ab. Merkwürdigerweise brachte gerade dieser Schauder mir, was ich wollte: das Messer hätte mich nämlich auf ein Haar überhaupt gefehlt; es war unmittelbar unter der Haut durch das Fleisch hindurchgefahren, und dieses Stück Haut zerriß, als ich zusammenzuckte. Die Blutung wurde allerdings stärker, aber ich war wieder mein eigener Herr und war nur noch mit Jacke und Hemd an den Mast gespießt.

Meine Kleider riß ich mit einem starken Ruck los und kletterte dann an den Steuerbord-Wanten wieder auf das Deck herab. Um alles in der Welt hätte ich mit meinen zitternden Gliedern es nicht gewagt, an den überhängenden Besanwanten herunterzuklettern, von denen Israel Hands herabgestürzt war.

Ich ging in die Kajüte hinunter und verband meine Wunde, so gut ich konnte. Sie schmerzte mich stark und blutete immer noch heftig; aber sie war weder tief noch gefährlich und behinderte mich nicht sehr im Gebrauch meines Armes.

Dann sah ich mich um, und da das Schiff jetzt gewissermaßen mein eigenes war, so begann ich daran zu denken, es von seinem letzten Passagier zu säubern – dem toten O’Brien.

Er war, wie ich gesagt habe, gegen die Schanzkleidung geworfen worden und lag dort wie eine gräßliche, unheimliche Puppe – wie eine Puppe in Lebensgröße, aber ohne Lebensfarbe! Da er so dicht an der Schanzkleidung lag, hatte ich es bequem mit ihm, und da die Gewohnheit tragischer Abenteuer mich so ziemlich gegen alles Grausen vor dem Tode abgestumpft hatte, so packte ich ihn um den Rumpf, wie wenn er ein Sack voll Spreu wäre, und warf ihn mit einem kräftigen Schwung über Bord.

Mit einem lauten Klatschen schlug er auf das Wasser auf; die rote Mütze löste sich von seinem Kopf und schwamm auf der Oberfläche; und sobald die Ringe sich im Wasser geglättet hatten, konnte ich ihn und Israel Hands Seite an Seite liegen sehen, beide in der zitternden Bewegung des Wassers zuckend. O’Brien war zwar noch ein ganz junger Mann, aber schon sehr kahlköpfig gewesen. Da lag er nun, sein kahler Kopf zwischen den Knien des Mannes, der ihn getötet hatte, und die schnellen Fische schossen über den beiden hin und her.

Ich war jetzt allein auf dem Schiff; es war gerade eben Hochflut gewesen, und die Ebbe hatte wieder eingesetzt. Die Sonne war so dicht am Untergehen, daß bereits der Schatten der Fichten auf dem Westufer über den Ankergrund fiel und ihre Umrisse auf dem Verdeck abzeichnete. Die Abendbrise hatte sich aufgemacht, und obgleich der Berg mit den beiden Gipfeln von Osten her den Wind abhielt, summte es im Tauwerk, und die schlaff herabhängenden Segel knatterten leise.

Ich merkte, daß das Schiff in Gefahr kommen konnte. Die Klüversegel konnte ich leicht losmachen, so daß sie auf das Deck fielen; aber mit dem Hauptsegel ging es schwerer. Als der Schoner sich auf die Seite legte, hatte der Giekbaum natürlich sich über Bord gedreht, und seine Spitze und ein paar Fuß von dem Segel waren unter Wasser. Mir schien, daß dadurch die Gefahr noch größer würde; aber das Segel war so straff gespannt, daß ich mich nicht getraute, daran zu rühren. Schließlich zog ich mein Messer heraus und schnitt die Aufholer durch. Die Spitze sank augenblicklich, und eine große Fläche Leinwand schwamm auf dem Wasser; da ich aber trotz aller Anstrengung den Giekbaum nicht weiter losmachen konnte, so war ich mit meinem Witz zu Ende. Die Hispaniola mußte sich, wie ich selber, auf gut Glück verlassen.

Mittlerweile lag der ganze Ankergrund im Schatten – die letzten Strahlen der Sonne fielen durch eine Waldlücke und lagen, hell wie Juwelen, auf dem Wrack mit seinen blühenden Büschen. Es begann kühl zu werden; der Ebbstrom zog reißend schnell seewärts, und der Schoner legte sich mehr und mehr auf die Seite.

Ich kroch an die Schanzkleidung heran und sah über Bord. Das Wasser schien seicht genug zu sein. Ich hielt mich zur Sicherheit mit beiden Händen an dem gekappten Ankertau fest und ließ mich sachte über Bord gleiten.

Das Wasser reichte mir kaum bis an die Brust; der Sand war fest, und ich watete guten Mutes an Land und ließ die Hispaniola auf ihrer Seite liegen, das Hauptsegel weit über die Wasserfläche dabei ausgebreitet. Fast in demselben Augenblick ging die Sonne unter, und der Abendwind pfiff leise durch die wiegenden Fichten in der Dämmerung.

Endlich, endlich war ich wieder vom Wasser herunter! Und nicht mit leeren Händen kehrte ich zurück! Da lag der Schoner, endlich den Piraten entrissen, und unsere eigenen Leute brauchten nur an Bord zu gehen und konnten wieder in See stechen!

Ich weidete mich an dem Gedanken, zum Blockhaus zurückzukehren und meine Heldentaten zu verkünden. Vielleicht konnte ich wegen meiner Waghalsigkeit einen kleinen Tadel bekommen, aber die Zurückeroberung der Hispaniola war eine Antwort, die jeden Mund schließen mußte, und ich hoffte, sogar Kapitän Smollett würde zugeben, daß ich meine Zeit nicht verloren hätte.

Unter solchen Gedanken lenkte ich in vergnügter Stimmung meine Schritte dem Blockhaus und meinen Kameraden zu. Ich erinnerte mich, daß der östlichste von den Bächen, die in Kapitän Kidds Ankergrund münden, auf dem zweigipfeligen Berg zu meiner Linken entsprang; deshalb ging ich in dieser Richtung, um den Bach an einer schmalen Stelle überschreiten zu können. Der Wald war ziemlich licht, und indem ich mich an dem unteren Rande hielt, hatte ich rasch den Berg umgangen, und bald darauf konnte ich durch den Bach waten, dessen Wasser mir nur bis an die Waden reichte.

Auf diese Weise kam ich in die Nähe der Stelle, wo ich Ben Gunn getroffen hatte. Ich sah mich deshalb nach allen Seiten um, als ich vorsichtig weiterging. Es war inzwischen tiefe Nacht geworden, und als ich aus der Kluft zwischen den beiden Berggipfeln ins Freie trat, bemerkte ich am Himmel eine wabernde Lohe. Ich dachte mir, der Inselmann koche wahrscheinlich an einem hellen Feuer sein Abendessen. Indessen wunderte ich mich im geheimen über eine solche Sorglosigkeit. Denn wenn ich diesen Feuerschein sehen konnte, so mußte wohl auch Silver ihn von dem Lager an der sumpfigen Wiese erblicken können.

Es wurde allmählich immer finsterer; es kostete mir große Mühe, auch nur einigermaßen die Richtung einzuhalten. Der Doppelberg hinter mir und das »Fernrohr« wurden immer undeutlicher in ihren Umrissen; nur wenige Sterne waren am Himmel und schimmerten mit schwachem Glanz. Ich wanderte in einem tiefen Talgrunde und geriet fortwährend in Gebüsche hinein oder stürzte in Sandgruben.

Plötzlich wurde es um mich herum heller. Ich blickte auf; ein bleicher Schimmer von Mondstrahlen hatte den Gipfel des Fernrohrs getroffen, und bald darauf sah ich etwas Breites, Silberglänzendes sich hinter den Bäumen bewegen. Da wußte ich, daß der Mond aufgegangen war.

Dies war für mich eine große Hilfe. Schnell legte ich jetzt den noch übrigen Teil meiner Wanderung zurück; bald gehend, bald laufend, strebte ich ungeduldig dem Blockhaus zu. Doch war ich, als ich in den Wald unmittelbar vor dem Pfahlwerk kam, nicht so gedankenlos, daß ich nicht meinen Schritt verlangsamt hätte. Vorsichtig ging ich weiter. Es wäre auch ein dummes Ende meiner Abenteuer gewesen, wenn meine Kameraden mich aus Versehen niedergeschossen hätten.

Der Mond kletterte immer höher und höher am Himmel empor; sein Licht fiel hier und dort in breiten Streifen auf die Waldlichtungen. Gerade vor mir aber erschien zwischen den Bäumen ein Licht von anderer Farbe: es war glühend rot und verdunkelte sich von Zeit zu Zeit ein wenig – wie wenn es die glühenden Kohlen eines heruntergebrannten Holzfeuers wären.

So sehr ich mir den Kopf zerbrach, konnte ich mir nicht vorstellen, was dies sein möchte.

Endlich erreichte ich den Saum der Lichtung. Das westliche Ende lag bereits im hellen Mondlicht, alles übrige aber um das Blockhaus selbst im schwarzen Schatten, in den nur einzelne silberweiße Streifen hineinfielen. Auf der anderen Seite des Hauses war ein gewaltiges Feuer bis auf die Kohlen herabgebrannt; diese verbreiteten einen roten Schein, der seltsam gegen das bleiche Mondlicht abstach. Keine Seele regte sich, und es war kein Ton zu hören außer dem Sausen der Nachtbrise.

Voller Verwunderung im Herzen und vielleicht mit einem auch etwas ängstlichen Gefühl, blieb ich stehen. Es war nicht unsere Gewohnheit gewesen, große Holzfeuer anzuzünden; im Gegenteil, wir waren auf Befehl des Kapitäns eher etwas geizig mit unserem Brennholz umgegangen, und ich begann zu befürchten, daß während meiner Abwesenheit etwas schief gegangen sein könnte.

Ich schlich mich nach der Ostseite herum, indem ich mich vorsichtig im Schatten hielt, und als ich eine passende Stelle gefunden hatte, wo die Finsternis am dicksten war, kletterte ich über die Palisade.

Um ganz sicher zu gehen, kroch ich auf Händen und Füßen auf die Ecke des Hauses zu – ganz leise und geräuschlos. Als ich näher kam, fühlte plötzlich mein Herz sich sehr erleichtert. Es ist an und für sich nicht gerade ein angenehmes Geräusch, und ich habe zu anderer Zeit mich oft darüber geärgert; aber in jenem Augenblick klang es mir wie die schönste Musik, als ich meine Freunde alle miteinander so laut und friedlich schnarchen hörte. Der Ruf der Schiffswache auf See, das schöne »Alles wohl!« war niemals beruhigender an mein Ohr geklungen.

Indessen stand eins außer allem Zweifel: sie hielten niederträchtig schlecht Wache! Wenn jetzt Silver und seine Kerle an sie herangekrochen wären, wie ich es tat – keine Menschenseele hätte das Morgenlicht gesehen! Das kommt davon – so dachte ich bei mir selber –, wenn man einen verwundeten Kapitän hat! Und wieder machte ich mir bittere Vorwürfe, sie in der Gefahr verlassen zu haben, da doch so wenige nur auf Wache ziehen konnten.

Mittlerweile hatte ich die Tür erreicht und richtete mich auf. Drinnen war alles dunkel, so daß mein Auge nichts zu unterscheiden vermochte. Zu hören war weiter nichts als das gleichmäßige Schnarchen der Schläfer und ab und zu ein eigentümliches Geräusch, das ich mir nicht erklären konnte – eine Art von leisem Flattern oder Picken.

Meine Pistolen vor mich hinhaltend, betrat ich festen Schrittes das Blockhaus. Mit einem leisen Kichern dachte ich bei mir selber, ich wollte mich ohne ein Wort zu sagen auf meinen gewöhnlichen Platz zum Schlafen legen und mich dann über ihre erstaunten Gesichter freuen, wenn sie am anderen Morgen mich plötzlich erblickten.

Mein Fuß stieß gegen etwas Weiches, das nachgab. Es war offenbar das Bein eines Schläfers. Er drehte sich um und grunzte – aber ohne aufzuwachen.

Und dann schrie ganz plötzlich eine schrille Stimme aus der Finsternis heraus:

»Piaster! Piaster! Piaster! Piaster! Piaster!« – unaufhörlich immer dasselbe, ohne Unterbrechung, ohne Abwechslung, wie das Klappern einer Kaffeemühle.

Silvers grüner Papagei – Käpp’n Flint!

Ihn hatte ich an einem Stück Baumrinde knabbern und picken hören!

Der Papagei hatte besser Wache gehalten als alle die Menschen drinnen, und meldete jetzt meine Ankunft mit seinem unermüdlichen Geschnatter.

Mir wurde keine Zeit gelassen, mich zu besinnen. Von dem scharfen Gekreisch des Vogels erwachten alle Schläfer. Sie sprangen auf, und mit einem mächtigen Fluch schrie Silver:

»Wer da?!«

Ich drehte mich um und wollte hinausspringen, lief aber gegen einen Menschen an, prallte von ihm ab und fiel einem zweiten in die Arme, die sich sofort um mich schlossen und mich nicht wieder losließen. »Bring ’ne Fackel, Dick!« sagte Silver, als auf diese Weise meine Gefangennahme gesichert war.

Einer von den Leuten verließ das Blockhaus und kam gleich darauf mit einer Fackel wieder herein.

Achtundzwanzigstes Kapitel


Im feindlichen Lager

Der rote Schein der Fackel, die das Innere des Blockhauses erleuchtete, zeigte mir, daß meine schlimmsten Befürchtungen sich verwirklicht hatten: die Piraten waren im Besitz des Blockhauses und der Vorräte: da stand, wie vor meinem Fortgehen, das Faß Kognak, da waren die Speckseiten und die Zwiebacksäcke; aber – und diese Beobachtung verzehnfachte mein Entsetzen – keine Spur von einem Gefangenen!

Ich konnte nur annehmen, daß sie alle umgekommen waren, und es gab mir einen scharfen Stich ins Herz, daß ich nicht dabei gewesen war, um mit ihnen unterzugehen.

Die Piraten waren, alles in allem, sechs Mann. Das waren alle, die von ihnen noch am Leben waren! Fünf von ihnen waren auf den Beinen – mit aufgedunsenen, roten Gesichtern, eben aus ihrem ersten trunkenen Schlaf aufgestört. Der sechste hatte sich nur aufgerichtet und sich auf seine Ellenbogen aufgestützt; er war totenbleich, und die blutige Binde zeigte an, daß er kürzlich erst verwundet und vor noch kürzerer Zeit verbunden sein mußte. Ich erinnerte mich des Piraten, der bei dem großen Angriff verwundet worden war und sich so schnell in den Wald geflüchtet hatte, und ich bezweifelte nicht, daß es dieser Mann gewesen war.

Der Papagei saß, sein Gefieder aufblähend, auf Long Johns Schulter. Dieser selber sah, so kam es mir vor, etwas bleicher und ernster aus, als für gewöhnlich. Er trug immer noch seinen schönen Tuchanzug, den er damals als Parlamentär angehabt hatte; aber er war arg abgetragen, mit Lehm beschmiert und von den Dornen der Waldsträucher zerrissen.

»So!« sagte er, »da ist ja Jim Hawkins – hol‘ mich der Kuckuck! ’n bißchen ins Fettnäpfchen getreten, was? Na, sei man nicht bange – es freut mich!«

Und mit diesen Worten setzte er sich auf das Branntweinfaß und begann sich eine Pfeife zu stopfen, »Gib mir mal den Kien rüber, Dick!« sagte er. und als seine Pfeife ordentlich brannte, fuhr er fort:

»Gut, mein Junge; steck‘ die Fackel man in den Holzhaufen hinein; und ihr, meine Herren, hört mal alle Mann zu! Ihr braucht vor Herrn Hawkins nicht aufzustehen; das verlangt er gar nicht von euch – könnt es mir glauben! Und so, Jim,« – dabei drückte er den Tabak herunter – »bist du also hier und ’ne angenehme Überraschung für den armen alten John. Daß du helle warst, sah ich dir auf den ersten Blick an; aber dies hier geht mir doch rein über die Hutschnur – jawoll!«

Auf all dies Gerede antwortete ich keine Silbe, wie man sich wohl denken kann. Sie hatten mich inzwischen an die Wand gestellt; und da stand ich nun und sah Silver ins Gesicht – äußerlich wenigstens kühn genug, so will ich hoffen, aber mit schwärzer Verzweiflung im Herzen.

Silver tat sehr bedächtig ein paar Züge aus seiner Pfeife und fing dann wieder an:

»Na, siehst du, Jim, da du nun doch einmal hier bist, so will ich dir mal was sagen. Ich habe dich immer gern gehabt, das hab‘ ich, als einen mutigen Bengel und als das Abbild von mir selber, als ich noch ein junger und hübscher Kerl war. Ich hatte stets gewünscht, du solltest zu uns kommen und deinen Anteil haben und als Gentleman sterben, und nun, mein Hähnchen, wirst du das müssen! Käpp’n Smollett ist ein famoser Seemann, das will ich bis zu meinem Ende jeden Tag beschwören, aber er ist stramm mit den Disziplinen. ›Pflicht ist Pflicht!‹ sagt er. Geh du, mein Lieber, Käpp’n Smollett aus dem Wege! Sogar der Doktor ist ganz und gar wild auf dich – ›Undankbarer Bengel!‹ war, was er sagte; und das Kurze und das Lange von der ganzen Geschichte ist ungefähr dies: zu deinen eigenen Leuten kannst du nicht zurück, denn sie wollen dich nicht haben; und wenn du nicht ganz für dich allein eine dritte Schiffsmannschaft bilden willst, was hier auf die Dauer wohl ein bißchen einsam werden würde, wirst du wohl zu Käpp’n Silver gehen müssen.«

So weit war das ganz gut. Meine Freunde waren also noch am Leben, und wenn ich auch zum Teil an Silvers Behauptung glaubte, daß die Kriegspartei wegen meiner Desertion mir grollte, so fühlte ich mich durch die Worte, die ich vernommen hatte, doch mehr erleichtert als betrübt.

»Ich sagte nichts davon, daß du in unserer Hand bist,« fuhr Silver fort; »indessen hier bist du nun mal, und das ist sicher. Ich bin ganz und gar dafür, daß man sich im guten einigt; habe nie gesehen, daß aus Drohungen etwas Gutes kommt. Wenn dir der Dienst paßt, na, dann trittst du bei mir ein; und wenn er dir nicht paßt, Jim – oh, dann steht es dir frei, nein zu sagen – ganz nach deinem Belieben, diesmal; und wenn irgendein Seemann auf Erden anständiger zu dir reden kann, so soll mich der Kuckuck holen!«

»Muß ich also antworten?« fragte ich mit sehr unsicherer Stimme. Durch alle diese spöttischen Worte hindurch hörte ich deutlich die beabsichtigte Todesdrohung, und meine Wangen brannten, und das Herz klopfte in meiner Brust, daß es mir weh tat.

»Mein Junge,« sagte Silver, »kein Mensch zwingt dich. Mach‘ es ganz, wie du willst. Keiner von uns wird dich drängen, Maat; die Zeit verstreicht so angenehm in deiner Gesellschaft – verstehst du?«

»Nun,« sagte ich, und beim Sprechen wurde ich ein bißchen kühner, »wenn ich wählen soll, so habe ich gewiß ein Recht, zu wissen, was los ist, und warum ihr hier seid, und wo meine Freunde sind!«

»Was los ist?« wiederholte einer von den Piraten in tiefem Baß. »Oh, wer das wüßte, der könnte von Glück sagen!«

»Du wirst vielleicht deine Klappe halten, bis Du gefragt wirst, mein Freund!« rief Silver drohend dem Sprecher zu. Und dann antwortete er mir in seinem alten liebenswürdigen Ton:

»Gestern morgen, Herr Hawkins, in der Hundewache, kam Dr. Livesey zu uns runter mit ’ner weißen Flagge und sagte: ›Käpp’n Silver, ‹ sagt er, ›Ihr seid angeschmiert. Das Schiff ist weg.‹ Na, vielleicht hatten wir wohl ein Gläschen genommen und ein Liedchen dabei gesungen, ich will dazu nicht nein sagen. Wir guckten aus, und beim Donner – das alte Schiff war weg. Habe nie in meinem Leben einen Haufen Schafsköpfe solche dummen Augen machen sehen! Und das kannst du mir glauben, denn ich selber machte das allerdümmste Schafsgesicht. ›Na,‹ sagte der Doktor, ›laß uns einen Tausch machen!‹ Wir machten den Tausch ab, er und ich, und hier sind wir nun: Essen, Branntwein, das Blockhaus, das Brennholz, das ihr so freundlich wart zurechtzumachen, alles ist unser – sozusagen das ganze Schiff von der Mastspitze bis zum Kiel. Die andern sind ausgezogen; wo sie sind, weiß ich nicht.«

Er sog eine Weile ruhig an seiner Pfeife; dann sagte er:

»Und wenn du dir vielleicht einbilden solltest, du seist in dem Vertrag mit eingeschlossen – hier ist das letzte Wort, das gesagt wurde: ›Wieviel seid ihr,‹ fragte ich, ›die das Blockhaus verlassen wollen?‹ – ›Vier,‹ sagte er – ›vier, und einer von uns ist verwundet. Wo der Bengel ist, das weiß ich nicht, hol‘ ihn der Kuckuck!‹ sagte er, ›und es ist mir auch Wurscht, wir haben ihn satt gekriegt!‹ Dies waren seine Worte.«

»Ist das alles?«

»Na, es ist wenigstens alles, was du zu hören kriegen sollst, mein Sohn,« antwortete Silver.

»Und jetzt habe ich zu wählen?«

»Und jetzt hast du zu wählen, darauf kannst du dich verlassen,« sagte Silver.

»Nun – ich bin nicht so ein Dummkopf, daß ich nicht ziemlich genau wüßte, was ich zu erwarten habe. Mag das Schlimmste nun kommen – daraus mach‘ ich mir wenig. Ich habe zu viel Menschen sterben sehen, seitdem ich mit Euch zu tun gehabt habe. Aber da ist ein Ding oder zwei, was ich Euch zu sagen habe,« rief ich, und ich war inzwischen ganz aufgeregt geworden. »Das erste ist dies: hier seid Ihr übel dran: Schiff verloren, Schatz verloren, Mannschaft verloren; Euer ganzes Vorhaben zu Trümmern gegangen; und wenn Ihr wissen wollt, wer das getan hat, – ich hab’s getan. Ich war in der Apfeltonne, in jener Nacht, als wir die Insel sichteten. Und ich hörte Euch, John, und Euch, Dick Johnson, und Hands, der jetzt auf dem Meeresgrunde liegt, und bevor eine Stunde rum war, hatte ich jedes Wort berichtet, das Ihr gesprochen hattet. Und wenn Ihr wissen wollt, wie es mit dem Schoner hergegangen ist – ich war es, der das Ankertau durchschnitt, und ich war es, der die Leute tötete, die Ihr an Bord gelassen hattet, und ich war es, der die Hispaniola an einen Ort brachte, wo Ihr sie niemals wiedersehen werdet – kein einziger von Euch! Das Lachen ist auf meiner Seite; ich bin von Anfang an bei dieser Geschichte obenauf gewesen; ich habe nicht mehr Furcht vor Euch als vor einer Fliege. Tötet mich, wenn Ihr Lust habt, oder laßt mich am Leben. Aber eins sage ich Euch, und weiter nichts: wenn Ihr mich am Leben laßt, so ist geschehen geschehen, und wenn Ihr wegen Piraterei vor Gericht kommt, so will ich Euch retten, soviel es mir möglich ist. Nun habt Ihr zu wählen. Nehmt einem Mitmenschen das Leben, wovon Ihr gar keinen Nutzen habt, oder laßt mir das Leben und bewahrt Euch dadurch einen Zeugen, der Euch vorm Galgen erretten kann.«

Ich schwieg – denn ich war völlig außer Atem, und zu meiner Verwunderung rührte kein einziger von den Piraten sich, sondern alle saßen da und starrten mich an wie ebenso viele Schafe. Und während sie mich noch anstarrten, brach ich wieder los und rief:

»And nun, Herr Silver, ich glaube, Sie haben hier zu sagen, und wenn es zum Schlimmsten kommt, so bin ich Ihnen dankbar, Sie sagen es dem Doktor, wie ich mich benommen habe!«

»Ich will daran denken,« sagte Silver mit einer so sonderbaren Betonung, daß ich mit dem besten Willen nicht wußte, ob er mich wegen meiner Bitte verhöhnte, oder ob mein Mut einen guten Eindruck auf ihn gemacht hatte.

»Ich will dazu bloß was sagen!« rief der alte Matrose mit dem mahagonibraunen Gesicht – Morgan hieß er –, der, den ich in Long Johns Taverne an den Kajen in Bristol gesehen hatte: »Er war es, der den Schwarzen Hund kannte.«

»Schön, und hört mal zu,« sagte der Schiffskoch: »Ich will noch was dazu sagen, beim Donner! Dieser selbe Junge war es, der Billy Bones die Karte klaute. Kurz und gut, wir haben mit Jim Hawkins ein Huhn zu rupfen!«

»Denn man los!« sagte Morgan mit einem Fluch. Und er sprang auf und zog sein Messer, so flink wie ein junger Bursche von zwanzig.

»Weg da!« rief Silver. »Wer bist du, Tom Morgan? Vielleicht dachtest du, du wärst Käpp’n hier, vielleicht! Beim Deuker, das will ich dir beibringen! Komm mir in die Quere, und du gehst dahin, wo mancher gute Mann vor dir hingegangen ist in diesen letzten dreißig Jahren – einige an die Rahnocke, hol‘ dich der Kuckuck! Und einige über die Laufplanke und alle in die Tiefe, die Fische zu füttern. Da war noch nie ein Mensch auf der Welt, der mir zwischen die Augen gesehen hat und hinterher noch einen guten Tag sah, Tom Morgan – und darauf kannst du Gift nehmen!«

Morgan blieb stehen; aber die anderen erhoben ein heiseres Murren.

»Tom hat recht,« sagte einer.

»Ich habe mich lange genug schurigeln lassen,« rief ein anderer, »und ich will mich hängen lassen, wenn ich mich von dir schurigeln lasse, John Silver!«

»Will einer von euch Herren was von mir?« brüllte Silver, indem er sich weit vornüber beugte, die brennende Pfeife in der rechten Hand. »Sagt geradeheraus, was ihr wollt! Ihr seid ja nicht stumm, denk ich; wer was braucht, kann es kriegen! Hab‘ ich so viele Jahre gelebt, und so ein Schafsgesicht soll mir zuletzt über den Weg laufen? Ihr wißt Bescheid; ihr seid alle Glücksgentlemen. Nun, ich bin bereit! Wer den Mut hat, soll einen Säbel in die Hand nehmen, und ich will, trotz Krücke und allem, die Farbe seiner Eingeweide sehen, bevor ich diese Pfeife ausgeraucht habe!«

Kein Mensch rührte sich; kein Mensch antwortete.

»Aha! Also solche Bande seid ihr?« fuhr er fort und steckte seine Pfeife wieder in den Mund. »Na, ihr seid eine nette Gesellschaft, das muß ich sagen! Zum Fechten taugt ihr nicht viel! Aber vielleicht versteht ihr ein Wort, wenn ich’s deutlich ausspreche: ich bin euer Käpp’n, weil ihr mich erwählt habt. Ich bin hier Käpp’n, weil ich bei weitem der beste Mann bin. Ihr wollt nicht fechten, wie Glücksgentlemen tun sollten; dann, beim Donner, sollt ihr gehorchen – und darauf könnt ihr Gift nehmen! Mir gefällt der Junge; ich habe nie einen besseren Jungen gesehen als Jim Hawkins hier. Er ist mehr Mann als ein paar von euch Ratten hier in diesem Hause, und was ich sage, ist dies: den will ich sehen, der ihn anrührt – das sage ich euch, und darauf könnt ihr Gift nehmen!«

Hierauf entstand eine lange Pause. Ich stand hochaufgerichtet an der Wand; mein Herz klopfte noch wie ein Schmiedehammer, aber in meine Brust schien jetzt ein Hoffnungsstrahl. Silver lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand zurück, seine Pfeife in dem einen Mundwinkel, so ruhig, wie wenn er in der Kirche gewesen wäre. Aber ich bemerkte wohl, wie seine Augen verstohlen in dem Raum herumwanderten und wie er seine unruhige Gefolgschaft beobachtete.

Die anderen Piraten traten nach und nach am anderen Ende des Blockhauses zusammen, und mein Ohr vernahm, wie sie unablässig miteinander flüsterten. Einer nach dem anderen sah sich um, und der rote Schein der Fackel fiel für eine Sekunde auf seine gespannten Gesichtszüge; aber nicht auf mich kehrten sich ihre Blicke, sondern auf Silver.

»Ihr habt, scheint’s eine Masse zu sagen,« bemerkte Silver, indem er in hohem Bogen ausspuckte. »Man los, und laßt mich’s hören, oder legt das Schiff bei!«

»Bitte um Verzeihung, Herr!« antwortete einer von den Leuten; »Ihr geht ziemlich nach Eurem Belieben mit einigen von den Regeln um; vielleicht werdet Ihr so gut sein, die übrigen im Auge zu behalten. Diese Mannschaft ist nicht zufrieden; diese Mannschaft will vom Anschnauzen nichts wissen; diese Mannschaft hat ihre Rechte wie andere Mannschaften. Das wollte ich mir nur erlauben, zu bemerken. Und nach Euren eigenen Regeln bin ich der Meinung, daß wir miteinander sprechen dürfen. Bitte Euch um Verzeihung, Herr, indem daß ich Euch als Käpp’n für die gegenwärtige Zeit anerkenne; aber ich verlange mein Recht und geh hinaus zu einer Beratung.«

Und mit einer kunstvollen Matrosenverbeugung samt Kratzfuß trat der Mann, ein langer, übel aussehender, gelbäugiger Bursche von fünfunddreißig Jahren, an die Tür heran und verschwand aus dem Hause. Einer nach dem anderen folgten die übrigen seinem Beispiel, jeder mit einer Matrosenverbeugung, als er an Silver vorüberkam; jeder mit einer Entschuldigung: »Regelgemäß,« sagte einer von ihnen. »Vorderschiffsberatung,« sagte Morgan. Und so marschierten sie alle mit dieser oder jener Bemerkung hinaus und ließen Silver und mich mit der Fackel allein.

Der Schiffskoch nahm sofort seine Pfeife aus dem Mund und sagte in einem Flüstertone, der gerade nur noch eben hörbar war:

»Nun, sieh mal her, Jim Hawkins! Du bist einen halben Fuß breit vom Tode entfernt, und, was noch viel schlimmer ist, von Folterung. Sie werden mich absetzen, aber merke dir: ich halte zu dir durch dick und dünn. Ich wollte das eigentlich nicht; nein, erst als du deine Rede hieltest, da kam ich auf andere Gedanken. Ich war beinah verzweifelt, all das schöne Geld zu verlieren und obendrein noch an den Galgen zu kommen! Aber ich sag‘, du bist von der rechten Sorte. Ich sagte zu mir selber: du stehst Hawkins bei, John, und Hawkins wird dir beistehen. Du bist sein letzter Trumpf, und beim Donner, John, er ist deiner jetzt! Rücken gegen Rücken, sag‘ ich! Rette du deinen Zeugen, und er wird dir deinen Hals retten – so sag‘ ich dir!«

Mir stieg eine Ahnung auf, und ich fragte: »Ihr meint, für Euch ist alles verloren?«

»Ei jawoll, beim Kuckuck, das mein‘ ich! Schiff verloren, Kragen verloren – so steht die Sache! Als ich über die Bucht guckte, Jim Hawkins, und keinen Schoner mehr sah, na, ich bin ein zäher Kerl, aber da war’s alle. Die Kerle da draußen mit ihrer Beratung, glaube mir, – das sind lauter Schafsköpfe und Feiglinge. Ich will dich vor ihnen retten, wenn es in meiner Macht steht. Aber, hörst du, Jim – Wurst wider Wurst – du rettest dafür Long John, daß er nicht an den Galgen kommt!«

Ich war ganz verdutzt; was er von mir verlangte, schien völlig aussichtslos zu sein – er, der alte Pirat, der Rädelsführer bei dem ganzen Komplott. Aber ich sagte:

»Was ich tun kann, will ich tun!«

»Abgemacht!« rief Long John. »Sprich nur frei von der Leber weg, und beim Donner, ich habe eine Aussicht!«

Er humpelte an die Fackel heran, die in den Brennholzhaufen gesteckt war, und zündete sich eine frische Pfeife an. Dann setzte er sich wieder auf das Branntweinfaß und sagte:

»Versteh mich, Jim! Ich habe doch einen Kopf zwischen den Schultern! Ich bin jetzt auf des Squires Seite. Ich weiß, du hast das Schiff irgendwohin in Sicherheit gebracht. Wie du das gemacht hast, weiß ich nicht – aber in Sicherheit ist es. Ich denke mir, Hands und O’Brien sind umgefallen. Ich habe zu keinem von den beiden jemals viel Vertrauen gehabt. Nun hör‘ auf mich: ich stelle keine Fragen und lasse auch andere keine stellen. Ich weiß, wenn eine Sache verspielt ist, und wenn ich einen Jungen sehe wie dich, so weiß ich auch, daß er Schneid hat. Ah, du, der du so jung bist – du und ich, was hätten wir beide miteinander nicht alles aufstellen können?« Er zapfte etwas Branntwein aus dem Faß in ein Zinnkännchen und fragte mich:

»Willst du einen Schluck?«

Und als ich den Branntwein ablehnte, sagte er:

»Na, ich will selber einen kippen, Jim. Ich muß mich etwas kalfatern; denn es ist Trubel in Sicht. Und da wir von Trubel sprechen – warum gab der Doktor mir die Karte, Jim?«

Auf meinem Gesicht stand Verwunderung so deutlich geschrieben, daß er sofort die Zwecklosigkeit weiterer Fragen erkannte und sagte:

»Tscha – er gab sie mir. Und da ist sicherlich irgendein Haken bei – sicherlich hatte er damit was im Sinn, Jim – was Schlechtes oder was Gutes.«

Und er nahm noch einen Schluck von dem Branntwein und schüttelte seinen großen blonden Kopf wie einer, der auf das Schlimmste gefaßt ist.

Neunundzwanzigstes Kapitel


Noch einmal der schwarze Fleck

Die Beratung der Meuterer hatte eine ziemliche Zeit gedauert, als einer von ihnen wieder in das Haus kam und mit einer Wiederholung desselben Kratzfußes, der mir etwas Höhnisches zu haben schien, die Bitte aussprach, ihm für einen Augenblick die Fackel zu leihen. Silver sagte kurz ja, und der Abgesandte entfernte sich wieder mit der Fackel, so daß wir nun ganz im Finstern saßen.

»Es zieht eine Brise auf, Jim!« sagte Silver, der jetzt sehr freundlich und vertraulich mit mir sprach.

Ich trat an die nächste Schießscharte und blickte hinaus. Die Holzkohlen des großen Feuers waren beinahe ausgebrannt und glühten so dunkel und schwach, daß ich wohl verstehen konnte, warum die Verschwörer eine Fackel zu haben wünschten. Etwa auf dem halben Wege nach der Einzäunung hinunter standen sie in einer Gruppe beisammen; einer hielt die Fackel; ein anderer lag in ihrer Mitte auf den Knien, und ich sah die Klinge eines offenen Messers in seiner Hand, und sie funkelte in dem Mondschein und dem Fackellicht. Die übrigen beugten sich alle etwas vornüber, wie wenn sie dem Knienden bei seinem Tun zusähen. Ich konnte gerade jeden erkennen, daß er in der einen Hand das Messer und in der anderen ein Buch hatte, und ich wunderte mich darüber, wie etwas so Merkwürdiges wie ein Buch hatte in ihren Besitz kommen können – da sprang der Kniende wieder auf, und die ganze Gesellschaft ging auf das Blockhaus zu.

»Da kommen sie,« sagte ich; und dann nahm ich meine frühere Stellung wieder ein, denn es schien mir unter meiner Würde zu sein, wenn sie fänden, daß ich sie beobachtete.

»Na, laß sie man kommen, Jungs – laß sie man kommen,« sagte Silver fröhlich. »Ich habe noch einen Schuß in meiner Flinte!«

Die Tür öffnete sich, und die fünf Leute, die dicht davor auf einem Klumpen standen, schoben einen von ihnen vorwärts. Unter anderen Umständen wäre es ein komischer Anblick gewesen, wie er langsam näher kam, bei jedem neuen Schritt zögernd, aber dabei die geschlossene rechte Hand immer vor sich hinstreckend.

»Komm man her, Junge!« rief Silver. »Ich werde dich nicht fressen. Gib es man her, Schafskopf. Ich kenne die Regeln – was meinst du denn? Ich werde doch einem Abgesandten nichts zuleide tun!«

Durch diese Worte ermutigt trat der Pirat mit schnelleren Schritten näher, drückte Silver irgend etwas in die Hand und eilte dann noch hurtiger wieder hinaus und zu seinen Kameraden zurück.

Der Schiffskoch sah sich das Ding an, das ihm überreicht worden war, und bemerkte dann:

»Der schwarze Fleck! Ich dachte es mir. Wo habt ihr denn wohl das Papier hergekriegt? Ach so! Aber hört mal, das bringt kein Glück: ihr seid beigegangen und habt es aus einer Bibel rausgeschnitten. Wer ist denn so ein Narr und zerschneidet eine Bibel?«

»Na, seht ihr?« rief Morgan. »Da haben wir’s! Was sagte ich? Nix Gutes nicht wird danach kommen, sagte ich!«

»Na, das habt ihr nun untereinander abzumachen,« begann Silver wieder. »Ihr werdet nun wohl alle baumeln, rechne ich. Was für ein Schafskopf hatte denn eine Bibel?«

»Das war Dick« sagte einer von ihnen.

»So, so? Dick war das? Dann soll Dick sich man aufs Beten legen. Glück wird er nicht mehr haben, der Dick, darauf könnt ihr Gift nehmen!«

Aber jetzt mischte der lange Mann mit den gelben Augen sich ein und sagte:

»Laß das Geschwätz, John Silver. Diese Mannschaft hat dir den schwarzen Fleck geschickt, wie in voller Versammlung nach Recht und Billigkeit beschlossen war. Drehe es um, wie es recht und billig ist, und sieh dir an, was da geschrieben steht. Dann kannst du sprechen.«

»Dank schön, George,« antwortete Silver! »Du warst immer fix in Geschäften und weißt die Regeln auswendig, George, wie ich mit Vergnügen bemerke. Na, was ist es denn? Aha! ›Abbgesetzt!‹ – also das ist es? Sehr hübsch geschrieben, keine Frage! Gewiß und wahrhaftig wie gedruckt! Deine Handschrift, George? Sieh mal an! Du wirst ja richtig der erste Mann bei der Mannschaft hier. Sollte mich gar nicht wundern, wenn du nächstens Käpp’n würdest. Ach, sei doch so gut und gib mir nochmal die Fackel! Meine Pfeife hat keine Luft.«

»Hör‘ mal!« rief George. »Halte lieber die Mannschaft hier nicht zum besten! Du bist ja ein großer Spaßvogel, wie du selber glaubst; aber mit dir ist es jetzt aus, und du wirst vielleicht so gut sein und von deinem Faß herunterkommen und mit abstimmen!«

»Ich glaubte, du sagtest, daß du die Regeln kenntest,« antwortete Silver verächtlich. »Jedenfalls, wenn du die Regeln nicht kennst, so kenne ich sie; und ich bleibe hier sitzen – und ich bin immer noch euer Käpp’n, merkt euch das! – und warte, bis ihr mit euren Beschwerden herauskommt, und in der Zwischenzeit antworte ich euch, daß euer schwarzer Fleck keinen Zwieback wert ist. Was dann weiter kommt, werden wir sehen.«

»Oh!« antwortete George, »mache dir nur keine Sorgen – wir sind alle einig! Erstens hast du diese Kreuzfahrt verpfuscht – du wirst nicht den Mut haben, das zu leugnen. Zweitens ließest du den Feind für nichts und wieder nichts aus dieser Falle heraus, in der er saß. Warum wollten sie heraus? Das weiß ich nicht; aber es ist ziemlich klar, daß sie heraus wollten. Drittens hast du uns versprochen, sie auf dem Marsch zu überfallen. Oh, wir sehen dich durch und durch, John Silver: du möchtest mit ihnen unter einer Decke spielen – das ist es! Und dann, viertens, mit diesem Jungen hier.«

»Ist das alles?« fragt Silver ruhig.

»Jawoll, und wohl auch genug. Wir werden deinetwegen alle an den Galgen kommen und an der Sonne trocknen.«

»Nun, hört mich an! Ich will auf diese vier Punkte antworten – auf einen nach dem andern. Ich habe die Kreuzfahrt verpfuscht? So? Nun, ihr alle wußtet, was ich verlangte; und ihr alle wißt, daß wir noch heute an Bord der Hispaniola wären, wenn es so gemacht worden wäre, wie ich es haben wollte, und daß alle am Leben gewesen wären, fidel und munter und mit gutem Plumpudding im Leibe, und im Schiffsraum hätten wir den Schatz gehabt, beim Donner! Nun, wer war mir in meinem Wege? Wer zwang mich, der ich euer rechtmäßiger Käpp’n war, das zu tun, was ich nicht wollte? Wer schickte mir den schwarzen Fleck an dem Tage, als wir landeten, und begann diesen Tanz? Ah, ein schöner Tanz ist es! Da geb‘ ich dir recht! Es sieht verdammt danach aus, daß es einen Hornpipe an einem Seilende im Execution Dock zu London der Stadt geben wird. Aber wer hat das gemacht? Das waren Anderson und Hands und du, George Merry! Und du, der du der letzte bist von diesem Kleeblatt, du hast die Deukers-Unverschämtheit, hier aufzutreten und den Käpp’n spielen zu wollen – du, durch den die meisten von uns kaputt gegangen sind! Beim Donner nochmal! Das geht aber übers Bohnenlied!«

Silver machte eine Pause, und ich konnte seinen früheren Kameraden und auch George am Gesicht ansehen, daß seine Worte nicht vergeblich gesprochen waren.

»Soviel für Nummer eins!« rief der Angeklagte und wischte sich den Schweiß von der Stirn; denn er hatte mit einer Heftigkeit gesprochen, daß das ganze Blockhaus dröhnte. »Oh, ich geb euch mein Wort, es ist mir zum Ekel, zu euch zu sprechen! Ihr habt keinen Verstand und kein Gedächtnis, und ich möchte wissen, was ihr für Mittel gehabt habt, daß sie euch zu See gehen ließen! Zu See! Glücksgentlemen! Schneider seid ihr, glaub‘ ich!«

»Man weiter, John,« sagte Morgan, »sage den anderen deine Meinung!«

»Oh, den anderen! Eine schöne Gesellschaft! Ihr sagt, diese Kreuzfahrt ist verpfuscht; oh! wenn ihr begreifen könntet, wie sie verpfuscht ist, ihr würdet Augen machen! Wir sind dem Galgen so nahe, daß mir der Hals weh tut, wenn ich bloß daran denke. Ihr habt sie vielleicht gesehen, in Ketten hängend, Vögel um sie rumfliegend, und die Schiffer zeigen mit den Fingern nach ihnen, wenn sie mit der Ebbe auslaufen. ›Wer ist das?‹ sagt einer. ›Das? Ei, das ist John Silver, ich hab‘ ihn gut gekannt!‹ sagt ein anderer. Und ihr könnt die Ketten rasseln hören, wenn ihr vorbeifahrt, bis ihr zur nächsten Bake kommt. Ja, so steht’s mit uns, mit jedem Muttersohn von uns – dank ihm und Hands und Anderson und anderen von euch, die uns kaputt gemacht haben; und wenn ihr wissen wollt, was ich euch zu Nummer vier zu sagen habe und über den Jungen da – herrje, Gott verdamm mich – ist er nicht eine Geisel? Sollen wir vielleicht eine Geisel totschlagen? So dumm sind wir doch nicht! Er kann vielleicht für uns das letzte Mittel zur Rettung sein – sollte mich gar nicht wundern! Den Jungen totschlagen? Ich tu’s gewiß nicht, Kameraden! Und Nummer drei? Oh – da ist eine Masse zu sagen, zu Nummer drei! Vielleicht rechnet ihr das für nichts, daß ein richtiger Doktor, der auf Universitäten gelernt hat, jeden Tag herkommt und nach euch sieht – nach dir, John, mit deinem Loch im Kopf – oder nach dir, George Merry, den das Fieber geschüttelt hat, noch keine sechs Stunden ist es her, und dessen Augen noch in dieser Minute so gelb sind wie Zitronenschale! Und vielleicht habt ihr auch nicht gewußt, daß ein zweites Schiff kommt? Aber so ist es, und gar nicht so lange wird’s dauern, und dann werden wir sehen, wer froh sein wird, daß wir eine Geisel haben, wenn’s so weit ist. Und Nummer zwei, und warum ich mit ihnen einen Tausch gemacht habe – na, ihr lagt ja vor mir auf den Knien, daß ich ihn machen sollte – auf euren Knien kamt ihr zu mir herangerutscht, solche Angst hattet ihr – und verhungert wärt ihr außerdem, wenn ich den Vergleich nicht gemacht hätte. Aber das sind bloß Nebensachen – warum ich ihn machte? Darum

Und er warf ein Papier auf den Fußboden, ein Papier, das ich augenblicklich erkannte – denn es war nichts Geringeres als die Karte mit dem gelben Papier, mit den drei roten Kreuzen –, die Karte, die ich in dem Wachstuchpaket ganz unten in des Kapteins Schifferkiste gefunden hatte. Warum der Doktor sie ihm gegeben hatte, das war mehr, als ich erraten konnte.

Aber wenn es mir unerklärlich war, auf die Meuterer hatte der Anblick dieser Karte eine ganz unglaubliche Wirkung. Sie sprangen auf sie zu wie Katzen auf eine Maus, sie ging von Hand zu Hand, und einer riß sie dem andern weg. Nach den Flüchen und dem Geschrei und dem kindischen Gelächter, womit sie die Untersuchung der Karte begleiteten, hätte man glauben sollen, sie hätten nicht nur den Goldschatz schon in ihren Fingern, sondern wären sogar sicher damit auf See.

»Ja,« sagte einer, »die ist von Flint, das ist sicher. F. F. und ein Schnörkel drunter mit einem Schwanz dran – so machte er’s immer!«

»Wunderschön!« sagte George. »Aber wie sollen wir den Schatz nach Hause bringen? Wir haben ja kein Schiff?«

Plötzlich sprang Silver auf, stützte sich mit der einen Hand gegen die Wand und rief:

»Jetzt warn‘ ich dich, George! Noch ein Wort von deinem Gequassel, und ich fordere dich, und du mußt dich mit mir schlagen! Wie wir damit wegkommen sollen? Tscha – woher soll ich das wissen? Das hättest du mir sagen sollen – du und die übrigen, die mich um meinen Schoner gebracht haben! Hättet ihr euch nicht eingemischt, zum Kuckuck! Aber du, du kannst mir das nicht sagen! Hast ja nicht so viel Erinnerungsgabe wie eine Küchenschabe! Aber höflich kannst du sprechen, und das sollst du, George Merry – darauf kannst du Gift nehmen!«

»Das ist nicht mehr als recht und billig,« sagte der alte Matrose, Tom Morgan.

»Recht und billig! das will ich meinen,« sagte Silver. »Ihr habt das Schiff verloren – ich habe den Schatz gefunden. Wer ist nun der bessere Mann? Aber jetzt trete ich ab, beim Donner! Wählt, wen ihr wollt, zu eurem Käpp’n! Ich hab‘ es satt!«

»Silver!« riefen sie. »Barbecue auf ewig! Barbecue bleibt unser Käpp’n!«

»So? Bläst der Wind auf einmal aus dem Loch?« rief Long John. »George, ich rechne, du wirst noch etwas warten müssen, mein Freund; und es ist ein Glück für dich, daß ich nicht nachtragend bin. Aber das war nie in meiner Art. Und nun, Schiffsmaate, was ist mit diesem schwarzen Fleck? Der hat nun wohl keinen Zweck mehr! Dick hat sich um sein Glück gebracht und hat seine Bibel ausgeschändet – und weiter hat es keinen Zweck gehabt!«

»Meine Bibel ist doch noch gut genug, sie zu küssen – was?« 7 murrte Dick, der sich offenbar unbehaglich fühlte wegen des Fluches, den er über sich gebracht hatte.

»Eine Bibel, wo was ausgeschnitten ist!« antwortete Silver höhnisch. »Keine Spur! Die bindet nicht mehr als ein Liederbuch.«

»Aber doch noch so viel also?« rief Dick mit einer gewissen Freude. »Na, ich denke, das ist immer noch etwas wert!«

»Hier, Jim – hier hast du ’ne Kuriosität!« sagte Silver und gab mir das Papier.

Es war ein rundes Stück Papier, ungefähr von der Größe eines Kronentalers. Die eine Seite war weiß, denn es war aus dem letzten Blatt herausgeschnitten; auf der anderen Seite standen ein paar Verse aus der Offenbarung – darunter diese Worte, die mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben sind: »Draußen sind Hunde und Mörder.« Die gedruckte Seite war mit Holzkohle geschwärzt; die schwarze Farbe begann bereits herunterzugehen, wie ich an meinen Fingern sah. Auf der weißen Seite stand, ebenfalls mit Holzkohle geschrieben, nur das eine Wort: »Abbgesetzt!« 8

Dieses kuriose Papier liegt in diesem Augenblick vor mir; aber von der Schrift ist keine Spur mehr zu sehen, außer einer einzigen Schramme, wie wenn einer mit dem Daumennagel darüber hingefahren wäre.

Dies war das Ende der nächtlichen Beratung. Jeder bekam einen Schluck zu trinken, und wir legten uns alle schlafen. Silvers Rache bestand darin, daß er George Merry draußen Posten stehen ließ und daß er ihm mit dem Tode drohte, wenn er nicht seine Pflicht täte.

Es dauerte lange, bis ich ein Auge schließen konnte, und der Himmel weiß, ich hatte Gedanken genug, die mich beschäftigten: da war der Mann, den ich am Nachmittag getötet hatte; da war meine eigene gefährliche Lage; und da war vor allen Dingen das merkwürdige Spiel, das ich Silver in diesem Augenblick treiben sah: mit der einen Hand die Meuterer zusammenzuhalten und mit der anderen nach jedem möglichen und unmöglichen Mittel zu greifen, mit der Kajütspartei seinen Frieden zu machen und sein erbärmliches Leben zu retten.

Silver selbst schlief friedlich und schnarchte laut. Aber so schlecht der Mann war, er tat mir doch im Herzen leid, wenn ich an die düsteren Gefahren dachte, die ihn umgaben, und an das ehrlose Ende am Galgen, das ihn erwartete.

  1. In England (auch in Amerika, Australien usw.) muß ein Eid vor Gericht durch einen Kuß auf ein Bibelbuch bekräftigt werden.
  2. »Depposed«.

Einundzwanzigstes Kapitel


Der Angriff

Sobald Silver verschwand, wandte der Kapitän, der ihn scharf beobachtet hatte, sich dem Inneren des Hauses zu und fand keinen einzigen von uns außer Gray auf seinem Posten.

Es war das erstemal, daß wir ihn wirklich zornig sahen.

»Auf eure Posten!« brüllte er. Und dann, als wir alle an unsere Plätze zurückschlichen, sagte er:

»Gray, ich will Euren Namen ins Logbuch eintragen; Ihr seid zu Eurer Pflicht und Schuldigkeit gestanden wie ein echter Seemann. Herr Trelawney, ich wundere mich über Sie! Doktor, ich glaubte, Sie hätten des Königs Rock getragen! Wenn Sie auf diese Weise bei Fontenay Ihren Dienst versahen, Herr, so wären Sie besser in Ihrem Bett geblieben!«

Wir von des Doktors Wache standen alle wieder an unseren Schießscharten; die übrigen luden eifrig die überzähligen Musketen, und jeder hatte, wie man sich denken kann, einen roten Kopf und einen Floh im Ohr, wie man zu sagen pflegt.

Der Kapitän sah eine Weile schweigend zu. Dann nahm er das Wort und sagte:

»Jungens! Ich habe dem Silver eine Breitseite gegeben. Ich schoß absichtlich mit Brandkugeln, und bevor eine Stunde rum ist, werden sie zu entern versuchen, wie er ganz richtig gesagt hat. An Zahl sind sie uns überlegen, das brauche ich euch nicht zu sagen; aber wir fechten in Deckung, und vor einer Minute würde ich noch gesagt haben: wir fechten mit Mannszucht. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß wir sie verdreschen können, wenn ihr nur wollt!«

Hierauf machte er die Runde und sah, daß alles zum Gefecht klar war.

Auf den beiden schmalen Seiten des Hauses, nach Osten und nach Westen zu, waren nur zwei Schießscharten, auf der Südseite, die den Vorbau hatte, waren ebenfalls zwei; auf der Nordseite aber waren fünf. Wir sieben Mann verfügten über rund zwanzig Musketen; das Brennholz war zu vier Haufen aufgeschichtet, die sozusagen Tische bildeten – einen vor der Mitte jeder Wand, und auf jedem dieser Tische lagen vier geladene Musketen nebst einiger Reservemunition in Reichweite der Verteidiger. In der Mitte jedes Tisches lagen die Stutzsäbel bereit.

»Löscht das Feuer aus!« sagte der Kapitän; »die Kälte hat aufgehört, und wir dürfen keinen Rauch in die Augen bekommen.«

Herr Trelawney trug mit eigenen Händen den eisernen Feuerbehälter hinaus, und die glühenden Kohlen wurden draußen in dem Sande ausgelöscht.

»Hawkins hat noch nicht gefrühstückt. Nimm dir etwas, Hawkins, aber geh sofort auf deinen Posten zurück und iß es dort,« sagte Kapitän Smollett. »Nun, ein bißchen fix, Jim! Du wirst es nötig haben, bevor du fertig bist. Hunter, gebt jedem ein Glas Branntwein!«

Während das Getränk verteilt wurde, machte der Kapitän sich seinen Verteidigungsplan zurecht.

»Sie, Doktor, werden die Tür übernehmen,« sagte er. »Geben Sie sich ja keine Blöße, sondern halten Sie sich drinnen und feuern Sie durch den Vorbau. Hunter, Ihr übernehmt die Ostseite; Joyce, Ihr kommt hierhin nach Westen, mein Mann. Herr Trelawney, Sie sind der beste Schütze; Sie und Gray werden die lange Nordseite übernehmen, mit den fünf Schießscharten; auf dieser Seite ist die Gefahr. Wenn sie an uns herankommen könnten und durch unsere eigenen Schießscharten auf uns feuerten, dann sähe die Sache dreckig für uns aus. Hawkins, du und ich, wir kommen als Schützen nicht sehr in Betracht, wir werden die abgeschossenen Musketen laden und überall zur Hand gehen, wo es nötig ist.«

Die Kälte hatte aufgehört, wie der Kapitän gesagt hatte. Sobald die Sonne über den Gipfel der Waldbäume hinübergeklettert war, strahlte sie mit aller Macht auf die Lichtung und schluckte im Nu die Nebeldünste ein. Bald war der Sand glühend heiß, und das Harz im Holz des Blockhauses begann zu schmelzen. Jacken und Röcke wurden abgeworfen, die Hemden am Halse geöffnet und die Ärmel bis an die Achseln aufgestreift. Und jeder stand an seinem Posten, fieberhaft glühend von der Hitze und von der Erwartung.

Eine Stunde verging.

»Hol‘ sie der Teufel!« sagte der Kapitän. »Dies ist so langweilig wie in den Doldrums. 6 Gray, pfeift mal nach einem Wind!«

Aber gerade in diesem Augenblick kam das erste Anzeichen des Angriffes.

»Verzeihen Sie, Herr,« sagte Joyce, »wenn ich irgendeinen sehe, soll ich dann feuern?«

»Das sagte ich Euch ja!« rief der Kapitän.

»Danke Ihnen, Herr,« antwortete Joyce mit derselben ruhigen Höflichkeit.

Eine Zeitlang erfolgte nichts; aber die Bemerkung hatte uns alle aufgemuntert; wir strengten unsere Augen an und spitzten die Ohren – die Schützen hielten ihre Musketen schußfertig in der Hand, der Kapitän stand mit sehr fest geschlossenen Lippen und gerunzelter Stirn mitten im Blockhaus.

So vergingen einige Sekunden. Da legte Joyce plötzlich seine Muskete an und feuerte. Der Knall war noch nicht verklungen, so antwortete schon von draußen eine rollende Salve; Schuß folgte auf Schuß, wie Wildgänse in ihrem Fluge, von allen vier Seiten der Palisaden. Mehrere Kugeln trafen das Blockhaus, aber keine einzige drang durch die Wände; und als der Rauch sich wieder verzogen hatte, sah die Umpfählung mit dem Walde ringsum so ruhig und leer aus wie zuvor. Kein Busch bewegte sich, kein Aufblitzen eines Musketenlaufes verriet die Anwesenheit unserer Feinde.

»Habt Ihr Euren Mann getroffen?« fragte der Kapitän.

»Nein, Herr,« antwortete Joyce, »ich glaube nicht.«

»Wenigstens gut, daß Ihr die Wahrheit sagt,« murmelte Kapitän Smollett. »Lade sein Gewehr, Hawkins! Wie viele waren nach Ihrer Meinung auf Ihrer Seite, Doktor?«

»Das kann ich ganz genau sagen,« sagte Doktor Livesey. »Auf dieser Seite wurden drei Schüsse abgefeuert. Ich sah es dreimal aufblitzen – zwei Blitze waren dicht beieinander, der dritte war da nach Westen zu.«

»Drei,« sagte der Kapitän. »Und wie viele auf Ihrer Seite, Herr Trelawney?«

Aber diese Frage war nicht so leicht zu beantworten. Auf der Nordseite waren viele Schüsse gefallen. – Nach des Squires Berechnung sieben, nach Grays Meinung acht oder neun. Von Westen und Osten war nur je ein einziger Schuß gefallen. Hieraus ging klar hervor, daß der Angriff von der Nordseite kommen würde und daß wir auf den drei anderen Seiten nur durch einen Scheinangriff beschäftigt werden sollten. Aber Kapitän Smollett änderte trotzdem nichts an seinen Anordnungen. Er meinte: wenn es den Meuterern gelänge, über die Lichtung zu kommen, würden sie jede unbesetzte Schießscharte benutzen, um uns wie Ratten in unserer eigenen Festung niederzuschießen.

Übrigens hatten wir nicht mehr viel Zeit, darüber nachzudenken. Plötzlich brach mit einem lauten Hurra ein kleines Häuflein der Piraten aus dem Walde an der Nordseite hervor und lief stracks auf die Palisaden los. In demselben Augenblick wurde vom Walde aus das Feuer wieder eröffnet; eine Büchsenkugel pfiff durch die Eingangstür und zerschmetterte des Doktors Muskete.

Die Angreifer kletterten mit affenartiger Behendigkeit über den Zaun. Der Squire und Gray feuerten jeder mehrere Male; drei von den Meuterern fielen: einer auf der Lichtung, zwei stürzten von dem Zaun nach der Außenseite herab. Aber von diesen war der eine offenbar nicht ernstlich verwundet; denn er war im Nu wieder auf den Füßen und verschwand sofort unter den Bäumen.

Zwei hatten in den Sand gebissen, einer war geflohen, vieren war es geglückt, in unsere Verteidigungswerke einzudringen, während aus ihrer Deckung im Walde sieben oder acht Piraten, von denen augenscheinlich jeder mit mehreren Musketen versehen war, ein lebhaftes, jedoch unwirksames Feuer gegen das Blockhaus unterhielten.

Die vier, die über den Zaun gekommen waren, rannten mit Geschrei auf das Haus los, und die Leute unter den Bäumen erwiderten das Geschrei, um ihre Kameraden zu ermutigen. Mehrere Schüsse wurden abgefeuert, aber unsere Schützen waren zu hastig und hatten wahrscheinlich niemanden getroffen. Im Nu waren die vier Piraten den Hügel hinaufgerannt und fielen über uns her.

An der mittelsten Schießscharte erschien der Kopf des Bootsmanns Hiob Anderson.

»Auf siel Auf sie, alle Mann!« brüllte er mit Donnerstimme.

In demselben Augenblick packte ein anderer Pirat Hunters Muskete an der Mündung, riß sie ihm aus der Hand, zog sie durch die Schießscharte heraus und streckte mit einem Kolbenschlag den armen Burschen zu Boden. Unterdessen war ein dritter Pirat um das Haus herumgelaufen, erschien plötzlich an der Eingangstür und fiel mit seinem kurzen Säbel über den Doktor her.

Unsere Lage hatte sich völlig verändert. Einen Augenblick vorher feuerten wir aus Deckung auf einen Feind, der unseren Schüssen bloßgestellt war; jetzt aber lagen wir ohne Deckung und konnten keinen Schlag erwidern.

Das Blockhaus war voll von Pulverdampf, und diesem Umstand verdankten wir unsere verhältnismäßige Sicherheit. Geschrei und Getümmel, Aufblitzen und Knall von Pistolenschüssen und ein lautes Stöhnen klangen mir in die Ohren.

»Auf, Jungens, auf! packt sie draußen an! Nehmt die Säbel!« rief der Kapitän.

Ich ergriff einen Stutzsäbel von dem Haufen und bekam dabei von einem anderen, der gleichzeitig nach einer Waffe griff, einen Schnitt über die Fingerknöchel, den ich aber kaum fühlte. Ich sprang aus der Türe in den hellen Sonnenschein hinaus; irgendeiner lief dicht hinter mir – ich wußte nicht, wer. Gerade vor mir verfolgte der Doktor seinen Angreifer den Berg hinunter; gerade als ich hinsah, schlug er ihm die Parade durch und der Mann stürzte mit einer großen klaffenden Wunde über das ganze Gesicht zu Boden und streckte alle viere von sich.

»Ums Haus herum, Jungens! Ums Haus herum!« schrie der Kapitän, und ich bemerkte trotz dem Getümmel, daß seine Stimme einen merkwürdigen Klang hatte.

Mechanisch gehorchte ich, wandte mich nach Osten und lief mit geschwungenem Säbel um die Ecke des Hauses herum. Im nächsten Augenblick sah ich mich Anderson gegenüber. Er brüllte laut auf, und seine Klinge, die er über dem Kopf schwang, blitzte in der Sonne. Ich hatte keine Zeit, mich zu fürchten; da aber der Schlag nicht sofort fiel, sprang ich im Nu zur Seite, glitt in dem losen Sand aus und rollte den Abhang hinunter.

Als ich aus der Tür gesprungen war, kletterten die anderen Meuterer bereits auf die Palisaden hinauf, um uns den Garaus zu machen. Einer von ihnen, ein Bursche mit einer roten Nachtmütze auf dem Kopf, der seinen Stutzsäbel zwischen den Zähnen hielt, war sogar schon oben und hatte das eine Bein auf der Innenseite. Nun, alles ging so ungeheuer schnell, daß alles sich noch in derselben Stellung befand, als ich wieder auf meinen Füßen war: der Kerl mit der roten Nachtmütze war immer erst halb über den Zaun hinüber, und ein anderer streckte gerade seinen Kopf über die Palisaden. Indessen in diesem Nu war der Kampf schon vorüber, und der Sieg war unser.

Gray, der mir auf dem Fuße gefolgt war, hatte den großen Bootsmann niedergeschlagen, bevor dieser Zeit hatte, seine Klinge wieder hoch zu bringen. Ein anderer Pirat war an einer Schießscharte erschossen worden, als er gerade in das Blockhaus hineinfeuerte; er lag im Todeskampf, die rauchende Pistole noch in der Hand. Einen dritten hatte der Doktor, wie ich gesehen hatte, mit einem Hiebe niedergestreckt. Von den vieren, die über die Palisaden geklettert waren, blieb nur ein einziger übrig, und dieser, der seinen Säbel verloren hatte, kletterte jetzt in Todesangst wieder über die Pfähle.

»Schießt! Schießt aus dem Haus heraus!« rief der Doktor. »Und ihr, Jungens, zurück in die Deckung!«

Aber seine Worte wurden nicht beachtet; es wurde kein Schuß gefeuert, und der letzte Angreifer entrann und verschwand mit den übrigen im Walde. Binnen drei Sekunden blieben von den Angreifern nur die fünf Gefallenen zurück – vier auf der Innenseite, einer auf der Außenseite der Palisade.

Der Doktor, Gray und ich rannten im vollen Lauf nach dem Blockhaus, um Deckung zu suchen. Die Überlebenden mußten bald wieder unter den Bäumen sein, wo sie ihre Musketen zurückgelassen hatten, und das Feuer konnte jeden Augenblick wieder eröffnet werden.

Der Rauch hatte sich inzwischen aus dem Blockhaus einigermaßen verzogen, und wir sahen auf den ersten Blick, welchen Preis wir für den Sieg bezahlt hatten. Hunter lag betäubt neben seiner Schießscharte; Joyce lag an der seinigen – er war durch den Kopf geschossen und rührte sich nicht mehr. In der Mitte des Raumes stützte der Squire den Kapitän; einer war so bleich wie der andere.

»Der Kapitän ist verwundet,« sagte Herr Trelawney.

»Sind sie davon?« fragte Smollett.

»Alle, die es konnten – das können Sie glauben,« antwortete der Doktor; »aber fünf von ihnen werden niemals wiederkommen.«

»Fünf!« rief der Kapitän. »Na, das ist besser! Fünf gegen drei – so bleiben wir vier gegen neun. Das ist für uns ein besseres Verhältnis als im Anfang. Damals waren wir sieben gegen neunzehn – oder glaubten wenigstens, daß das Verhältnis so stehe, und das war für unsere Rechnung ebenso schlimm.«

Übrigens waren die Meuterer bald nur noch acht an der Zahl; denn der Mann, den Herr Trelawney bei der Kanone auf Deck des Schoners niedergeschossen hatte, starb an demselben Abend an seiner Wunde. Aber dies war natürlich der Partei im Blockhaus damals noch nicht bekannt, sondern stellte sich erst später heraus.

  1. Doldrums wird ein Teil des Ozeans nahe dem Äquator genannt, wo häufig Windstillen, Böen und schwache (schlabernde), unstete Winde vorkommen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel


Der Beginn meines Seeabenteuers

Die Meuterer kamen nicht wieder – es fiel nicht einmal mehr ein Schuß aus dem Walde. Sie hatten »ihre Ration für den Tag bekommen«, wie der Kapitän sich ausdrückte. So hatten wir Ruhe in unserem Blockhaus und konnten nach den Verwundeten sehen und etwas zum Essen zurechtmachen. Der Squire und ich kochten draußen im Freien – trotz der Gefahr; und selbst draußen wußten wir vor Entsetzen über das laute Stöhnen der Patienten, die der Doktor unter den Händen hatte, kaum, was wir taten.

Von den acht Männern, die im Gefecht gefallen waren, atmeten nur noch drei: der eine Pirat, der an der Schießscharte verwundet worden war, Hunter und Kapitän Smollett; und von diesen waren die beiden ersten so gut wie tot. Der Meuterer starb unter des Doktors Messer, und Hunter kam trotz allen unseren Bemühungen auf dieser Welt nicht mehr zum Bewußtsein. Er lag noch den ganzen Tag und röchelte schwer, wie damals zu Hause im »Admiral Benbow« der alte Seeräuber, als er seinen Schlaganfall bekam. Hunters Brustkorb war von dem Kolbenschlag eingedrückt worden, und bei dem Sturz hatte er einen Schädelbruch erlitten, und die folgende Nacht ging er, ohne noch ein Zeichen zu geben oder ein Wort zu sprechen, zu seinem Schöpfer ein.

Die Wunden des Kapitäns waren allerdings schwer, aber nicht lebensgefährlich. Es war kein edler Teil tödlich verletzt. Andersons Kugel – denn Hiob hatte zuerst auf ihn geschossen – hatte das Schulterblatt zerschmettert und die Lunge gestreift, aber nicht gefährlich; der zweite Schuß hatte nur einige Muskeln in der Wade zerrissen. Der Doktor sagte, er werde bestimmt mit dem Leben davonkommen, aber er dürfe noch wochenlang weder gehen noch seinen Arm bewegen; ja, wenn möglich, solle er kein Wort sprechen.

Mein eigener Schmiß über die Fingerknöchel war bloß ein Flohstich. Doktor Livesey klebte ein Pflaster darüber und zupfte mich noch obendrein an den Ohren.

Nach dem Essen setzten der Squire und der Doktor sich zum Kapitän, um mit ihm zu beratschlagen. Als sie sich ausgesprochen hatten, war es kurz nach zwölf Uhr. Da griff der Doktor nach Hut und Pistolen, schnallte einen Säbel um, steckte die Karte in seine Tasche und schulterte eine Muskete. Dann kletterte er an der Nordseite über die Palisade und ging mit schnellen Schritten in den Wald.

Gray und ich saßen am anderen Ende des Blockhauses beisammen, um unsere Offiziere nicht in ihrem Gespräch zu stören. Als nun der Doktor in dieser Ausrüstung verschwand, nahm Gray seine Pfeife aus dem Mund und vergaß vor Erstaunen, sie wieder hineinzustecken.

»Hol‘ mich dieser und jener!« rief er; »ist Doktor Livesey verrückt geworden?«

»Wohl kaum,« sagte ich. »Er wäre von uns wohl der letzte, dem das passieren würde, denke ich.«

»Na, Schiffsmaat! Vielleicht ist er nicht verrückt; aber wenn er es nicht ist, merk‘ auf meine Worte, so bin ich es!«

»Denke mir,« antwortete ich, »der Doktor hat seine Idee; und wenn ich mich nicht irre, ist er jetzt ausgegangen, um Ben Gunn zu treffen.«

Wie sich später herausstellte, hatte ich recht. Aber im Hause war eine Hitze zum Ersticken, und der kleine Sandfleck innerhalb der Einzäunung glühte von der Mittagssonne. Infolgedessen bekam ich einen anderen Gedanken in den Kopf, und damit hatte ich durchaus nicht so recht. Ich begann nämlich den Doktor zu beneiden, der im kühlen Schatten des Waldes unter dem Gesang der Vögel und in dem würzigen Harzduft der Fichten spazieren ginge, während ich hier in der Hitze geröstet würde. Und meine Kleider blieben an dem heißen Harz hängen, und rings um mich herum war so viel Blut, und so viele arme Leichen lagen überall herum, daß ich einen Ekel vor dem Platz bekam.

Während ich das Blockhaus aufwusch und dann die Eßgeräte reinigte, wurden dieser Ekel und dieser Neid immer stärker in mir. Da ich gerade bei einem Sack mit Zwiebäcken stand und niemand auf mich achtete, so tat ich den ersten Schritt zu meiner Flucht und füllte beide Taschen meiner Jacke mit Zwieback.

Meinetwegen mag man sagen, daß ich ein Narr war, und ganz gewiß stand ich im Begriff, eine törichte und mehr als tollkühne Handlung zu begehen; aber ich war entschlossen, dabei alle Vorsicht anzuwenden, die mir zu Gebote stände. Sollte mir irgend etwas zustoßen, so würden diese Zwiebäcke mich zum mindesten bis zum nächsten Abend vor Hunger bewahren.

Sodann nahm ich mir ein paar Pistolen, und da ich bereits ein Pulverhorn und Kugeln hatte, so fühlte ich mich mit Waffen wohl versehen.

Der Plan, den ich in meinem Kopfe hatte, war an und für sich nicht schlecht. Ich wollte nach der sandigen Landzunge hinuntergehen, die den Ankerplatz nach Osten gegen die offene See abschließt, wollte den weißen Felsen aufsuchen, den ich am Abend vorher bemerkt hatte, und mich vergewissern, ob Ben Gunn an dieser Stelle sein Boot versteckt hatte oder nicht. Das war wohl der Mühe wert, wie ich auch jetzt noch glaube.

Da ich aber sicher war, daß man mir nicht erlauben würde, das Pfahlwerk zu verlassen, so bestand mein Plan zunächst nur darin, mich auf französisch zu empfehlen und hinauszuschlüpfen, wenn niemand auf mich achtgäbe; und das war so unrecht von mir, daß meine ganze Handlungsweise dadurch schlecht wurde. Aber ich war nur ein Knabe und hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt.

Nun, es fügte sich so, daß ich eine wundervolle Gelegenheit fand. Der Squire und Gray waren damit beschäftigt, den Kapitän zu verbinden. Die Küste war klar – ich kletterte über die Pfähle und sprang in den dichtesten Wald hinein, und bevor meine Abwesenheit bemerkt wurde, befand ich mich außer Rufweite meiner Kameraden.

Dies war meine zweite Torheit, und die war viel schlimmer als die erste; denn es blieben nur zwei gesunde Menschen zur Bewachung des Hauses zurück; aber wie die erste Dummheit, als ich mit den Meuterern an Land gefahren war, half auch diese zweite dazu, uns alle zu retten.

Ich lief stracks nach der Ostküste der Insel; denn ich hatte mich entschlossen, auf der Seeseite der Landzunge am Strande entlang zu gehen, um jede Möglichkeit zu vermeiden, daß ich vom Ankerplatz her bemerkt werden könnte.

Es war schon spät am Nachmittag, aber immer noch warm und sonnig. Während ich durch den Hochwald ging, konnte ich in der Ferne vor mir nicht nur das unausgesetzte Donnern der Brandung hören, sondern ein gewisses Rauschen und Rascheln der Zweige zeigte an, daß die Seebrise stärker als gewöhnlich rauschte.

Bald verspürte ich einen kalten Luftzug, und ein paar Schritte weiter hin kam ich an den offenen Rand des Waldes und sah die See blau und in der Sonne glänzend vor mir liegen, und die Brandung schleuderte ihren Schaum über den Strand.

Ich habe rund um die ganze Schatzinsel herum niemals die See ganz ruhig gesehen. Die Sonne konnte am Himmel glühen, die Luft ganz regungslos sein, die Oberfläche des Meeres glatt und blau – und trotzdem rollten diese großen Wogen unaufhörlich an der ganzen Küste entlang, und ich glaube, es gibt auf der ganzen Insel kaum eine Stelle, wo einer das Tosen der Brandung nicht hören könnte.

Ich ging frohen Mutes an der Brandung entlang, bis ich glaubte, weit genug nach Süden gekommen zu sein, da ging ich in ein dichtes Gebüsch in Deckung und kroch vorsichtig bis zur Höhe der Landzunge hinauf.

Hinter mir lag die offene See, vor mir der Ankergrund. Die Seebrise hatte bereits aufgehört, wie wenn sie durch ihre außergewöhnliche Heftigkeit sich um so schneller ausgeblasen hätte; ihr war ein leichter, veränderlicher Wind von Süden und Südosten her gefolgt, der große Nebelschwaden vor sich her trieb, und der Ankergrund auf der Leeseite der Skelettinsel lag still und bleigrau da wie an dem Tage, als wir zuerst eingefahren waren. Die Hispaniola spiegelte sich auf der glatten Fläche von der Wasserlinie bis zur Mastspitze, an der der Jolly Roger schlaff herabhing.

An der Linksseite des Schiffes lag eine von den Gigs, auf deren Heckbank Silver saß – ihn konnte ich stets erkennen –, während ein paar von den Piraten sich über das Bollwerk des Schiffes lehnten; einer von ihnen trug eine rote Mütze; es war derselbe Schurke, den ich ein paar Stunden vorher rittlings auf den Palisaden hatte sitzen sehen. Offenbar sprachen sie miteinander und lachten, doch konnte ich in der Entfernung, die mehr als eine Meile betrug, natürlich kein Wort von ihrem Gespräch hören. Plötzlich begann ein entsetzliches, unirdisches Kreischen; ich bekam einen fürchterlichen Schreck, doch fiel mir gleich darauf ein, daß es Silvers Papagei, Käpp’n Flint, sein müßte; ich glaubte sogar den Vogel an seinem bunten Gefieder zu erkennen, wie er auf dem Handgelenk seines Herrn saß.

Bald darauf stieß die Gig ab und ruderte nach dem Strande zu, und der Mann mit der roten Mütze und sein Kamerad gingen die Kajütstreppe hinunter.

Gerade zur selben Zeit war die Sonne hinter dem »Fernrohr« untergegangen, und da gleich darauf der Nebel sich zusammenballte, begann es schon dunkel zu werden. Ich sah, daß ich keine Zeit verlieren durfte, wenn ich das Boot noch an diesem Abend finden wollte.

Die weiße Klippe, die ich deutlich durch das Gebüsch sehen konnte, war noch ungefähr eine achtel Meile weiter draußen auf der Landzunge, und ich brauchte ziemlich lange Zeit, an sie heranzukommen, da ich mich durch die Gebüsche schleichen und oft genug auf allen vieren kriechen mußte.

Es war beinahe finstere Nacht, als meine Hände den rauhen Fels berührten. Unmittelbar unter demselben befand sich eine ganz kleine grüne Rasenmulde, deren Ränder von etwa knietiefem Unterholz bedeckt waren, das an dieser Stelle sehr reichlich wuchs, und mitten in der Mulde sah ich richtig ein kleines Zelt aus Ziegenfellen, ähnlich wie die Zelte, mit denen die Zigeuner in England herumziehen.

Ich sprang in die Mulde hinab, hob die Seitenwand des Zeltes hoch und sah Ben Gunns Boot – eine richtige Hausarbeit: ein plumper Rahmen von zähem Holz, der mit Ziegenfellen überzogen war; die Haare waren nach außen gekehrt. Das Ding war winzig klein, selbst für einen Knaben wie mich, und ich konnte mir kaum vorstellen, daß es einen ausgewachsenen Mann hätte tragen können. Es hatte eine einzige Ruderbank in der Mitte, eine Art Sperrholz im Bug und als Fortbewegungsmittel ein Doppelruder.

Ich hatte damals noch kein Korbboot gesehen, wie die alten Britannier sie machten; seitdem habe ich eins gesehen und kann von Ben Gunns Boot keine bessere Vorstellung geben, als indem ich sage, daß es aussah wie das erste und unbeholfenste Korbboot, das ein Mensch geschaffen hat. Aber den Hauptvorzug eines solchen Korbbootes oder Korakels besah es allerdings: es war außerordentlich leicht und tragbar.

Da ich nun das Boot gefunden hatte, so möchte man vielleicht denken, ich wäre jetzt lange genug von meinem Posten fortgeblieben. Aber mittlerweile war ich auf eine andere Idee gekommen, die mir so ungeheuer verlockend schien, daß ich glaube, ich würde sie ausgeführt haben, selbst wenn Kapitän Smollett es mir ausdrücklich verboten hätte: ich wollte im Schutze der Dunkelheit mit meinem Korakel an die Hispaniola heranfahren, ihr Ankertau durchschneiden, und sie auf den Strand gehen lassen, wo sie Lust hatte. Ich war fest überzeugt, daß die Meuterer, nachdem sie am Morgen ihre blutigen Schläge erhalten hatten, keinen sehnlicheren Wunsch hatten, als Anker zu lichten und in See zu stechen. Und dies zu verhindern, schien mir eine großartige Heldentat zu sein. Da ich jetzt gesehen hatte, daß ihre Wache auf dem Schiff kein Boot zur Verfügung hatte, so glaubte ich, es sei kein großes Wagnis, ihnen diesen Streich zu spielen.

So setzte ich mich denn nieder, um die völlige Finsternis abzuwarten, und aß mich tüchtig an meinen Zwiebäcken satt. Es war eine Nacht, wie ich sie mir unter tausend Nächten für mein Vorhaben nicht besser geeignet hätte denken können. Der Nebel hatte jetzt den ganzen Himmel überzogen. Als der letzte Schimmer des Tages verschwand, senkte völlige Finsternis sich auf die Schatzinsel herab. Und als ich schließlich das Korakel auf meine Schulter nahm und mich aus der kleinen Mulde heraustastete, wo ich meine Abendmahlzeit verzehrt hatte, waren auf dem ganzen Ankergrunde nur zwei Punkte sichtbar.

Der eine war das große Feuer am Strande, an welchem die von uns geschlagenen Piraten lagen und ein wildes Zechgelage hielten. Der andere, ein winziges Lichtfünkchen in der schwarzen Finsternis, zeigte die Lage des verankerten Schiffes an. Die Hispaniola hatte sich in der Ebbströmung gedreht, so daß ihr Bug jetzt mir zugekehrt war; das einzige Licht an Bord brannte in der Kajüte, und was ich sah, war nur ein Widerschein des hellen Lichtes, das aus der Sternluke herausfunkelte.

Die Ebbe hatte schon seit geraumer Zeit eingesetzt und ich mußte über einen breiten Streifen sumpfigen Sandes waten, in dem ich mehrere Male bis über die Knöchel einsank, bevor ich das Wasser erreichte. Ich watete noch ein kleines Stück in die See hinaus, und es gelang mir mit einer gewissen Kraftanstrengung, mein Korakel so auf das Wasser zu setzen, daß es auf seinem Kiel schwamm.