Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Clown Bradbury. – Dessen freiwillige Einsperrung in einem Irrenhause. – Dessen Befreiung, seltsames Benehmen, späteres Leben und Hinscheiden. – Schreckliches Unglück im Sadlers-Wells-Theater. – Die nächtlichen Fahrten nach Finchley. – Reise nach Birmingham. – Schauspieldirektor Macready und dessen kuriose Theater-Utensilien. – Plötzliche Rückkehr nach London.

Kaum in London wieder eingetroffen, begab er sich sogleich nach Sadlers-Wells, wo ihm jedoch Mr. Dibdin zu seiner nicht geringen Überraschung die Mitteilung machte, daß man seiner für den Augenblick nicht bedürfe, da man den Kollegen Bradbury auf vierzehn Tage engagiert habe und hiervon noch nicht die Hälfte abgelaufen sei. Es müsse Grimaldi hierbei auch bemerkt werden, daß Bradbury sich beim Publikum in sehr große Gunst gesetzt und auch Furore gemacht habe.

Das verdroß Grimaldi lebhaft, denn er fürchtete natürlich, daß Bradbury ihn am Ende gar in der Gunst des Publikums ausstechen möchte. Sein Unmut wuchs aber noch mehr, als ihm die Direktion den Wunsch nahelegte, an Bradburys Benefiz-Abende in der nämlichen Pantomime mit diesem zusammen aufzutreten.

Nur mit großem Widerstreben erklärte er sich schließlich dazu bereit, denn er konnte sich der Befürchtung nicht verschließen, daß ihm die Gunst des Publikums durch den neuen Stern entzogen werden möchte.

Auch Bradbury war mit diesem Wunsche der Direktion gar nicht zufrieden, obgleich ihm vorgestellt wurde, daß die vereinigten Leistungen der beiden Clowns doch unbedingt ein volles Haus erzielen müßten, was ihm doch nur recht sein könne, da er doch Anspruch auf die Hälfte der Einnahme habe.

Die Pantomime sollte am Abend zur Aufführung kommen, der Clown durch Bradbury im ersten, durch Grimaldi im zweiten und durch Bradbury wieder im dritten Aufzuge gegeben werden. Den ganzen Tag über konnte Grimaldi den Gedanken nicht los werden, daß es mit ihm und seinen Leistungen vorbei, daß sein Stern nicht bloß im Niedergange begriffen, sondern überhaupt schon untergegangen sei.

Der Verlauf des Abends bestätigte seine Befürchtungen indessen nicht, denn schon sein erstes Auftreten wurde mit stürmischem Beifall begrüßt. Grimaldi setzte seine besten Kräfte ein, und der Beifall des Publikums wollte tatsächlich kein Ende nehmen.

Hierüber geriet nun Bradbury außer sich, wollte seinen Rivalen partout ausstechen, scheiterte aber gerade dadurch und wurde schließlich, trotzdem Freunde von ihm in Menge bei der Vorstellung anwesend waren, ausgepfiffen, so daß ihm nichts übrig blieb, als schleunigst von der Bühne zu verschwinden. Grimaldi mußte an seiner Stelle den letzten Akt übernehmen und gewann dabei erst recht die Überzeugung davon, daß seine Befürchtungen völlig grundlos gewesen. Bradbury gab selbst zu, daß gegen Grimaldi als Clown niemand aufkommen könne, daß Grimaldi der beste Clown sei, der jemals aufgetreten sei, und daß er, hätte er sein Spiel und sein Genie gekannt, sich unter keiner Bedingung dazu verstanden hätte, neben ihm in dem gleichen Stücke aufzutreten.

Dabei war Bradbury ein ausgezeichneter Darsteller und ein ganz vorzüglicher Clown, jedoch so durchaus verschiedenen Genres, daß im Grunde ein Vergleich zwischen ihm und Grimaldi ganz ausgeschlossen war. Seine Komik war von geringer Bedeutung, dagegen zeichnete er sich durch halsbrechende Sprünge und dergleichen Kraftstückchen aus. So sprang er beispielsweise einmal von dem obersten Range auf die Bühne hinunter. Um solche Manöver ohne Gefahr für sein Leben ausführen zu können, widmete er immer seinem Anzuge die peinlichste Sorgfalt und wattierte Kopf und Schultern, Hüften, Ellbogen und Knie, auch wohl Sohlen und Fersen. Wer ihn dann bei solch einem Exerzitium sah, ohne von diesen Vorbereitungen Kenntnis zu haben, konnte sich der Meinung unmöglich verschließen, daß er auf ernstliches Unglück mit Absicht ausginge.

Grimaldi machte auf dergleichen künstlerische Betätigung keine Ansprüche, verzichtete auf Wattierung und ähnliche Beihilfen, und suchte auf andere, ohne Frage genialere Weise, als Clown zu wirken. Er erreichte durch seine Ruhe weit größeren Eindruck, und elektrisierte das Publikum gemeinhin im Spielen.

Bradbury war jedoch ebenfalls sehr originell, und suchte eine besondere Stärke in dem Rufe, niemand zu kopieren; auch er hatte sich seine besondere Manier gebildet, von der er nie abwich.

Eine Zeitlang hörte Grimaldi nichts von seinem einstigen Nebenbuhler, bis er eines Tages zu seinem nicht geringen Erstaunen ein Schreiben aus einem Irrenhause in Hoxton bekam und dringend um einen recht baldigen Besuch angegangen wurde. Das Schreiben war von Bradbury. Eine engere Bekanntschaft hatte unter ihnen zu keiner Zeit stattgefunden. Unschlüssig zeigte er das Schreiben dem mit ihm befreundeten Kassenführer beim Surrey-Theater namens Lawrence, der ihm aber riet, die Aufforderung nicht beiseite zu schieben, sich auch zur Begleitung erbot.

Grimaldi machte sich zufolgedessen mit Lawrence auf den Weg nach Hoxton. In dem Irrenhause angelangt, wurden sie zu Bradbury geführt, der ganz dieselbe Behandlung genoß wie alle übrigen dort internierten Kranken. Auch ihm hatte man den Kopf ratzekahl geschoren. Auch ihn hielt man hinter Schloß und Riegel.

Grimaldi fing die Unterredung in der Weise an, wie man Irren gegenüber zu tun pflegt; worauf jedoch Bradbury in ein schallendes Gelächter ausbrach.

»Aber, liebster Grimaldi«, rief er, »reden Sie doch vernünftig mit mir, und nicht auf solch abgeschmackte Weise … Ich bin doch ganz ebensowenig närrisch wie Sie!« –

Grimaldi hegte indessen Zweifel, wußte er doch, daß der Wahn, nicht verrückt zu sein, bei Verrückten sich sehr häufig vorfindet. Er hielt sich infolgedessen in gemessenem Abstande von seinem Kollegen, mußte sich jedoch alsbald überzeugen, daß es sich um Bradbury tatsächlich so verhielt, wie dieser gesagt hatte.

In Kürze erzählt, waren die Umstände, die Bradbury ins Irrenhaus geführt hatten, die folgenden:

Bradbury lebte auf ziemlich großartigem Fuße, hatte sehr vornehmen Umgang, hielt sich ein Tandem, usw. Als er einst in Plymouth aufgetreten war, war von Portsmouth ein Kriegsschiff angekommen, unter dessen Offizieren er verschiedene zu Freunden hatte, die ihn mit sich an Bord nahmen. Man hatte verabredet, in Portsmouth zusammen zu soupieren, und verlebte den größten Teil der Nacht in ungebundener Heiterkeit.

Als Bradbury aufstand, um sich zu verabschieden, vermißte er seine wertvolle goldene Schnupftabakdose, die er aus Jux, oder um den anderen Tischgästen das Nehmen einer Prise recht bequem zu machen, auf den Tisch gestellt hatte. Er fragte, wo sie geblieben sei, aber niemand wußte um ihren Verbleib, und alles Suchen danach blieb vergeblich.

Es wurden alle möglichen Vermutungen angestellt. Endlich besann man sich, daß sich ein Tischkamerad, ein junger Mann, mit Anwartschaft auf die Grafenkrone, kurz nach dem Essen entfernt hatte, und meinte nun, er möge die Dose, um ihrem Besitzer, dem Clown Bradbury, einen heilsamen Schrecken einzujagen, aus Jux eingesteckt und mitgenommen haben.

Mit ein paar guten Bekannten begab sich nun Bradbury in die Wohnung des dereinstigen Herrn Grafen, der es aber schlechtweg in Abrede stellte, von der Dose auch nur das geringste zu wissen, Bradbury im Gegenteil die bittersten Vorwürfe machte und sie bat, ihn in solcher Angelegenheit lieber nicht mehr aufzusuchen.

Am andern Morgen ließ er seinen Bekannten in Pourtsmouth sagen, daß ihn ihr Verdacht, auch nur aus Jux eine Dose mitgenommen zu haben, dermaßen alteriere, daß er auf weiteren Verkehr mit ihnen verzichte und es vorzöge, ohne besondere Verabschiedung sich wieder nach London zurück zu begeben.

Bradbury schöpfte nun erst recht Verdacht gegen ihn und erwirkte einen Haftbefehl gegen ihn. Gerade in dem Augenblick, als der junge Mann in die Postkutsche steigen wollte, ließ er denselben vollstrecken. Als der Sheriff den Mantelsack durchsuchen ließ, kamen allerhand, den Portsmouther Bekannten des Jünglings gehörige, Gegenstände zum Vorschein, zuletzt auch Bradburys Dose. Bradbury zeigte ihn nun ohne weiteres beim Friedensrichter des Diebstahls an, denn er sah den adeligen Ursprung des jungen Leichtfußes keineswegs als Entschuldigung für den von ihm begangenen Diebstahl an.

Sobald die böse Affäre bei den Verwandten des Leichtfußes ruchbar wurde, bekam Bradbury ein hohes Schweigegeld angeboten. Aber er blieb solange unzugänglich, bis man ihm ein Jahresgehalt in beträchtlicher Höhe zusicherte, das ihn auf Lebenszeit aller Sorgen und Mühen enthob. Da erklärte er sich bereit, von der strafgerichtlichen Verfolgung Abstand zu nehmen.

Nun verfällt aber nach englischem Gesetz derjenige in Strafe, der, ohne vom Gerichtshofe hierzu die Vollmacht zu besitzen, um zeitlicher Vorteile willen die Anzeige eines Verbrechens unterläßt. Um nun dieser Gefahr aus dem Wege zu gehen, kam Bradbury auf den kuriosen Einfall, sich so wunderlich zu benehmen, daß ein Gerücht, das er über sich ausstreute: daß er nämlich durch Überanstrengung in seinem Berufe sich um seinen Verstand gebracht habe, allgemeinen Glauben fand und er auf Antrag verschiedener Mitbewohner seines Hauses dingfest gemacht und in ein Narrenhaus abgeschoben wurde. –

Natürlich konnte er sich dann bei der Gerichtsverhandlung wider den spitzbübischen Grafen in spe nicht einstellen – und wegen Mangels an einem öffentlichen Ankläger mußte das Verfahren gegen denselben eingestellt werden. Nun setzte aber Bradbury Himmel und Hölle in Bewegung, aus dem Narrenhause wieder herauszukommen. Es gelang ihm auch, die ärztliche Bewilligung zu seiner Entlassung zu erwirken, und Grimaldis Besuch fiel gerade auf den hierfür festgesetzten Tag. Da er weder lesen noch schreiben konnte, hatte er Grimaldi nur deshalb um seinen Besuch bitten lassen, weil er ihm den Gefallen tun sollte, an dem für sein Benefiz gewählten Abend statt seiner im Surrey-Theater aufzutreten.

Grimaldi sagte es ihm ohne weiteres zu, gab der Hoffnung Ausdruck, daß sich seiner Entlassung nicht letzterhand noch Schwierigkeiten entgegenstellen möchten, und verabschiedete sich wieder von ihm. Er spielte und sang nicht nur für Bradbury die ganze Woche über, sondern kassierte auch Gelder für ihn ein.

Bradbury war an dem auf Grimaldis Besuch folgenden Tage wirklich entlassen worden. Im Theater war alles mittlerweile gut gegangen; Grimaldi konnte Bradbury, da er immer volle Häuser erzielte, ein sehr hübsches Stück Geld übergeben, und so wäre dort alles auch weiterhin gut gegangen, hätte sich Bradbury nicht durch einen wunderlichen Einfall bestimmen lassen, wieder an dem einen Abend mit Grimaldi zusammen aufzutreten. Künstler-Ambition trieb ihn nun, seinen Kollegen zu überbieten, und dabei verfiel er in ein Extrem solch edler Dreistigkeit gegenüber dem Publikum, daß diesem die Geduld riß, und er kläglich ausgepfiffen und ausgezischt, ja sogar mit faulen Äpfeln und Eiern beworfen wurde.

Das bedeutete das Ende seiner Künstlerlaufbahn. Jahrelang trat er in London nicht wieder auf, sondern beschränkte sich auf vereinzeltes Mitwirken bei Provinzbühnen, erlangte aber niemals seinen früheren Ruf wieder. Das ihm von der Familie jenes jugendlichen Leichtfußes, der ihm die Tabakdose entwandt hatte, zugesicherte Jahresgehalt überhob ihn aber der Notwendigkeit, seinem Berufe nachzugehen, indessen scheint es ihm aber in späteren Jahren entzogen worden zu sein, oder er müßte allzu verschwenderisch gelebt haben; fest steht, daß er im Jahre 1828 in wenig erfreulichen Umständen, wenn nicht gar in wirklicher Dürftigkeit, gestorben ist.

Im Oktober eröffnete das Covent-Garden-Theater die Saison wiederum mit der »Mutter Gans«, und bis zu Weihnachten wurde diese Pantomime 29mal wiederholt.

Am 15. Oktober ereignete sich in Sadlers-Wells ein entsetzlicher Vorfall. Die Pantomime wurde zuerst von den anderen Stücken, die diesen Abend füllen sollten, gegeben, und da Grimaldi an diesem Abend in Covent-Garden nichts weiter zu verrichten hatte, konnte er beizeiten heimgehen, was er auch tat. Um Mitternacht wurde er durch lautes Klopfen an der Haustür aus dem Schlafe geschreckt.

Zuerst hatte er gemeint, es hätten sich lose Burschen auf der Heimkehr von einem Zechgelage im Übermut erfrecht, ihn des Juxes halber mit solchem Lärm zu behelligen; als das Klopfen aber gar nicht aufhören wollte, hatte er sich den Schlafrock angezogen, und war an die Tür hinunter geeilt, um nachzusehen, wer ihn denn eigentlich störe.

Die meisten der Leute, die vor seiner Tür standen, waren gute Bekannte vom Theater, die ihm sagten,, sie seien nur gekommen, sich von seinem Wohlbefinden zu vergewissern, und ihrer Freude Ausdruck zu geben, daß er der Gefahr so glücklich entronnen sei.

Als er sich erkundigte, was solche Reden denn eigentlich zu bedeuten hätten, wurde ihm erzählt, daß während des letzten Stückes nichtsnutziges Volk im Theater »Feuer, Feuer!« geschrien habe, wodurch unter dem Publikum eine Panik hervorgerufen worden sei. In dem wilden Gedränge, die wenigen Ausgänge zu gewinnen, hätten verschiedene Menschen ihr Leben eingebüßt.

Grimaldi eilte auf der Stelle nach dem Theater. Dort staute sich noch immer eine so dichte Menschenmenge, daß er nicht bis zum Eingange gelangen konnte. Da warf er sich kurz entschlossen in den Kanal, durchschwamm ihn und sprang durch das erste beste Fenster, das er offen fand, in einen der Räume hinein.

Wer beschreibt sein Entsetzen, als er sich zwischen einem Dutzend von Leichen sah? Ja, da lagen sie, die Überreste von einem Dutzend menschlicher Wesen, ohne Leben und doch fast noch warm, die er vor nur wenigen Stunden noch zu schallendem Gelächter gestimmt hatte!

Eine Zeitlang stand er wie gelähmt. Dann wankte er nach der Tür, um sich von dem schrecklichen Anblicke zu befreien. Die Tür war von außen verschlossen, und vergeblich bemühte er sich, sie zu öffnen. Es wollte ihm nicht gelingen, so kräftig er sich auch dagegen stemmte. Nun versuchte er es mit lautem und anhaltendem Klopfen. Die Hausangehörigen, und Mr. Hughes nicht zum wenigsten, gerieten erst in heftigen Schrecken, bis sie nach einiger Zeit Grimaldis Stimme erkannten. Nun sah er sich endlich zu seiner lebhaften Freude aus dem schrecklichen Räume erlöst.

Erst am andern Tage ließ sich feststellen, wieviel Menschen bei der schrecklichen Katastrophe ihr Leben eingebüßt hatten: es waren ihrer dreiunddreißig! Zahllose andere waren, viele davon lebensgefährlich, verletzt worden. In der Hauptsache war das Unglück auf den Unbedacht von Leuten zurückzuführen, die zuerst die Türen gewonnen hatten und, als sie gesehen, daß es sich bloß um blinden Lärm handelte, wieder auf ihre Plätze zurückzugelangen gesucht hatten. Die hinter ihnen herdrangen, hatten gemeint, die Ausgänge seien versperrt, und nun gesucht, sich um so gewaltsamer Bahn zu brechen. Mehrere hatten sich von der Galerie hinunter ins Parterre gestürzt und waren erstickt oder zertrampelt worden. Daher die schreckliche Katastrophe.

Sie hatte sich am vierten Abend vor dem Schlusse der Saison ereignet, und so hielt die Direktion es für geraten, das Theater überhaupt zu schließen. Wer von den Darstellern noch Anspruch auf ein Benefiz hatte, wurde durch ein solches im Zirkus entschädigt, und so nahm die Saison des Jahres 1807 ein so trübseliges Ende, wie man es in Sadlers-Wells noch gar nicht erlebt hatte.

Am 26. Dezember wurde zum ersten Male »Harlekin in seinem Elemente, oder Feuer, Wasser, Erde, Luft« gegeben. Bologna und Grimaldi traten darin als Harlekin und als Clown auf. Die Pantomime fand großen und, wie Grimaldi meinte, verdienten Erfolg. Grimaldi hielt sie für eins der besten Stücke, in denen er je aufgetreten war. Er spielte während dieser Saison auch in einem Melodrama »Bonifazio und Bridgetino« – das sich keines Beifalls zu erfreuen hatte – und in einem Pantomimenballett von Farley, aus Lewis‘ »Mönch« entlehnt, »Raymond und Agnes« – das mehrere Wiederholungen erlebte – die Rolle des Baptist.

Zu dieser Zeit bewohnte er ein kleines Landhaus in Finchley, wohin er sich nach dem Schlusse des Theaters in einem Gig zu begeben pflegte. Fand keine Probe statt, so verweilte er bis zum nächsten Nachmittage dort. War eine solche angesetzt, so kehrte er unmittelbar nach eingenommenem Frühstück in die Stadt zurück. Er hatte das Landhaus gemietet, um seinem Söhnchen, das er aufs zärtlichste liebte, den Genuß der Landluft zu verschaffen; er verlängerte aber seinen Mietsvertrag freiwillig um mehrere Jahre, weil ihm und seiner Frau der Landaufenthalt sehr behagte und sehr gut bekam.

Auf seinen nächtlichen Fahrten nach Finchley erlebte er mancherlei Abenteuer: so schlief er zuweilen ein, wenn er die Stadt hinter sich hatte, und erwachte aus seinem Schlummer erst wieder vor seinem Gartentore.

Eines Abends war er von dem angestrengten Spiel so erschöpft, daß er noch weiter schlummerte, als sein Pferd vor dem Tore schon etwa zehn Minuten gehalten hatte. Das Possierlichste aber war, daß der auf ihn wartende Bediente, etwa sechs Schritte von ihm entfernt, hinter dem Tore gleichfalls eingeschlafen war und auch erst wieder zu sich kam, als das Pferd laut zu schnauben anfing.

Ein anderes Abenteuer, das ihm auf der Finchleyer Chaussee passierte, soll weiter unten erzählt werden.

Im März 1808 passierte es ihm, daß er, ohne es im geringsten zu beabsichtigen, Mr. Fawcett zu nahe trat. Fawcett sprach eines Nachmittags auf dem Wege von seinem Wohnhause in Totteridge, das nur etwa anderthalb Stunden von Grimaldis Domizil entfernt war, bei ihm vor und bat ihn, zu seinem Benefiz mitzuwirken, das in kurzer Zeit stattfinden sollte. Grimaldi versprach es ihm ohne weiteres.

»Aber wohlverstanden«, sagte Fawcett, »ich will nicht, daß Sie den Clown oder solch eine Rolle, sondern den Brocket in O’Keefes »Schwiegersohne« darstellen.«

Darauf einzugehen, nahm Grimaldi Abstand, denn er sagte sich sehr richtig, daß es unvorsichtig sei, den hohen Ruf, den er im Clown-Fache errungen, dadurch zu gefährden, daß er sich auf seine alten Tage noch in einem andern Fache versuchen wollte, um vielleicht ein Fiasko zu erleben, das ihm seine ganze Existenz gefährden könnte. Er mochte aber anderseits Fawcett nicht vor den Kopf stoßen, sondern beschränkte sich auf den Bescheid, daß er ihm nur augenblicklich noch keine feste Zusage machen könne, ihm aber in einigen Tagen schreiben werde.

Er nahm mit einigen Kollegen Rücksprache über den Fall, die ihm aber sämtlich dringend davon abrieten, sich auf eine solche Rolle einzulassen, wie Fawcett sie von ihm wünschte.

Unter Geltendmachung aller Gründe, die ihn zu ablehnendem Verhalten bestimmten, schrieb er nach einigen Tagen an Fawcett, den aber – so seltsam es erscheinen mag, diese Weigerung Grimaldis so wider ihn aufbrachte, daß er allen Umgang mit ihm abbrach und ihm, wenn ihn der Zufall mit ihm zusammenführte, in den ersten drei Jahren nicht einmal einen Gruß vergönnte.

Am 14. erteilte ihm Kemble die Erlaubnis, zum Benefiz seiner Schwägerin auf dem Birminghamer Theater mitzuwirken, dessen Direktion damals Macready, der Vater des großen Tragöden, führte. Mr. Macready empfing Grimaldi äußerst zuvorkommend und machte ihm, und zwar unter sehr annehmbaren Bedingungen, den Vorschlag, nach dem Benefiz-Abende noch ein paarmal aufzutreten.

Grimaldi hatte ein solches Ansinnen geahnt und sich deshalb in London befragt, wie man sich dort dazu stellen wolle, und ob in Covent-Garden an den nächsten Abenden etwas für ihn vorläge – was jedoch, sofern es bei den erstgetroffenen Anordnungen blieb, nicht der Fall sein konnte.

Er einigte sich, da er auf Bescheid warten mußte, nun ohne weitere Rücksichten auf London, mit Macready, begab sich, sobald er sein Frühstück eingenommen, zur Probe, fand aber im Birminghamer Schauspielhause unter allen Requisiten, mit denen es hier überhaupt traurig bestellt war, kaum eine, die er für seine Pantomime hätte brauchen können. Umsonst sann er auf ein Auskunftsmittel, das ihn über diese Schwierigkeiten hinweghälfe, konnte aber keines ausfindig machen.

»Ach was, Theater-Requisiten!« rief Macready unwillig, als Grimaldi ihm seine Bedenken dieserhalb mitteilte; »ihr Londoner habt immer allerhand Wünsche bei Euren Auftritten, auf die wir Provinzmenschen im ganzen Leben nicht kommen. Sie sollen aber haben, was Ihnen am Herzen liegt, Mr. Grimaldi! Heda, Willi!« rief er seinem Theaterdiener zu, »gehen Sie doch auf den Markt und kaufen Sie dort ein Ferkelchen, eine Gans und zwei Enten. Mr. Grimaldi besteht darauf, daß er ohne diese Viecher nicht spielen könne, und da müssen wir sie schon anschaffen.«

Grimaldi meinte nicht anders, als Macready hätte sich nur einiger Theaterworte bedient, als er seinem Diener den Auftrag gegeben hatte, ein Ferkel, eine Gans und ein Paar Enten zu besorgen, war deshalb nicht wenig erstaunt, als er den Diener mit diesen Tieren in natura auf die Bühne kommen sah, begrüßt von dem schallenden Gelächter des Publikums. Es blieb ihm nun nichts weiter übrig, als ein paar Solonummern einzulegen, die er natürlich extemporieren mußte und deren eine auf die Mitteilung fußte, die ihm Macready durch seinen Diener machen ließ, es tat ihm leid, ihm mit weiteren Requisiten nicht dienen zu können, da er selbst keine anderen hätte.

Das Publikum kam an diesem Abend aus dem Lachen wieder einmal nicht heraus, und Grimaldi hatte von neuem seinen Ruhm als unerreichter Clown begründet, der ihm hinfort auch ungeschmälert bleiben sollte. –

Am zündendsten wirkte die Art, wie er sein »exit« mit diesen lebendigen Requisiten bewirkte. »Der alte Mann« in der Pantomime kehrte mit seiner Tochter vom Markte heim, und Clown Grimaldi, ihr Diener, einen alten Livreerock mit mächtigen Taschen über seinem Clown-Kostüm, und einen mächtigen Dreimaster auf dem Kopfe, trug ihnen die auf dem Markte gemachten Einkäufe hinterher. Auf dem Rücken schleppte er einen Korb mit Möhren, die lang über den Rand herüberhingen; in den beiden Seitentaschen steckten die Enten, so daß sie mit den Köpfen herausguckten; unter dem einen Arme schleppte er das Spanferkel, unter dem andern die Gans. Immer und immer wieder wurden die Lieder da capo verlangt, die er dabei sang, darunter das damals sehr beliebte, allerdings etwas zotige »Tippitewitchet«, und für keine Pantomime hätte man sich einen bessern Erfolg denken können.

Das Haus war alle vier Abende, an denen er als Scaramuz auftrat, bis auf den letzten Platz gefüllt. Als er sich am letzten Abend anschickte, mit seinen lebendigen Requisiten auf die Bühne zu gehen, wurde ihm eine expresse Botschaft aus London, vom selbigen Tage datiert, behändigt. Sie stammte von einem seiner besten Freunde und hatte folgenden Inhalt:

»Mein lieber Joe! – Es ist angezeigt worden, daß Sie morgen abend in Covent-Garden als Clown auftreten würden. Ich fürchte aber, daß dies in feindseliger Absicht wieder Sie inszeniert ist, denn man weiß doch, daß Sie noch nicht von Birmingham zurückgekehrt sind. Verlieren Sie also keinen Augenblick!«

Grimaldi eilte auf der Stelle zum Direktor Macready, zeigte ihm den Eilbrief und erklärte, so leid es ihm täte, seinen Birminghamer Freunden und Gönnern einen weiteren Abend nicht widmen zu können.

»Was?« rief Macready, »das wäre mir recht! Das gibt’s nicht! Ich könnte ja riskieren, daß man mir das Haus demolierte! Auftreten müssen Sie heute noch, das läßt sich nicht ändern, aber ich will eine Postchaise mit Vieren für Sie bestellen, die gleich nach Schluß der Vorstellung für Sie bereit stehen soll.«

Grimaldi ließ sich bestimmen zu bleiben und spielte wieder mit ganz ungeheurem Beifall. Der Abend brachte ihm eine Einnahme von 294 Pfund, und mit weit über 800 Pfund Gesamterlös aus seinem Birminghamer Spiel warf er sich nach Schluß der Vorstellung in die Postchaise, die vorm Schauspielhause bereit stand, und befand sich um zwölf Uhr, wenige Minuten, nachdem er die Bühne verlassen, auf der Rückfahrt nach London.

Das Wetter war stürmisch, die Straße befand sich im schlechtesten Zustande, Grimaldi geizte nicht mit Trinkgeldern an die Postillone, um sie zu schnellem Fahren anzuspornen, und die Folge davon war, daß die Burschen schließlich so sternhagel betrunken wurden, daß sie auf dem Bocke einschliefen. So kam es, daß sie verkehrt fuhren, einen Umweg von fünfzehn bis achtzehn Stunden machten und Salt Hill erst am andern Abend in der siebenten Stunde erreichten.

Grimaldi nahm sich in Salt-Hill sofort Extrapost und erreichte nun das Theater in London gerade in dem Augenblicke, als die Musiker mit der Ouvertüre begannen. Sein Freund erwartete ihn in tausend Ängsten. Grimaldi gab ihm seinen aus Birmingham mitgebrachten Schatz in Verwahrung und eilte in die Garderobe, wo er Farley schon bei den Vorbereitungen traf, für ihn einzuspringen.

Rechtzeitig und zum nicht geringen Erstaunen seiner Freunde, wie auch gewisser, in der Direktion vertretenen Herren, die ein ganz anderes Ergebnis von Grimaldis Auftreten in Birmingham erwartet hatten, erschien er noch auf der Bühne.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Sein Großvater und Vater. – Seine Geburt und erstes Erscheinen auf den Theatern in Drury-Lane und Sadlers-Wells. – Seines Vaters Strenge. – Der Earl von Derby und die Perücke. – Die Vermögensbüchse und der Guttätigkeit Lohn. – Seines Vaters Scheintod, und sein und seines Bruders Benehmen dabei.

Joseph Grimaldi’s Großvater väterlicherseits war sowohl dem französischen als italienischen Publikum als ein ausgezeichneter Ballett-Tänzer bekannt. Er war so gewandt und stark, daß man ihm den Beinamen »Eisen-Bein« gab. Dibbin erzählt in seiner Geschichte der Bühne mehrere hierauf bezügliche Anekdoten von ihm, wie denn auch deren viele im Umlaufe sind; die nachstehende ist vollkommen wahr. Eines Abends tat er auf der Bühne einen ungewöhnlich hohen Sprung, vielleicht in einem, durch die Anwesenheit des türkischen Gesandten, der sich mit seinem Gefolge in der Seiten-Loge befand, veranlagten absonderlichen Enthusiasmus. Er zerbrach dabei einen der Kronleuchter, die in jener Zeit über den Bühnen-Türen hingen, wobei dem Gesandten ein Stück vom Glasgehänge in das Auge oder doch das Gesicht flog. Da die Würde des gewichtigen Mannes verletzt war, wurde eine förmliche Klage bei dem französischen Hofe erhoben, der an Eisen-Bein das ernste Gebot ergehen ließ, um Verzeihung zu bitten, was Eisen-Bein auch in seiner gebührenden Form zu seiner eigenen, des Hofes, des Publikums und mit einem Worte, jedermanns großer Belustigung tat. Die große Angelegenheit endigte mit einem Kuplet.

Der erste Grimaldi in England war Eisenbein’s Sohn und Joseph’s Vater. Er kam im Jahre 1760 als Dentist der Königin Charlotte nach England. Er war in Genua geboren, war ausgezeichnet als Dentist, wendete sich aber mit noch größerer Vorliebe der Tanzkunst zu, bat die Königin bald nach seiner Ankunft in England, ihn zu entlassen, und fing an Tanz- und Fecht-Unterricht zu geben, wobei er seinen Schülern bisweilen kleine Proben seiner vormaligen Kunst gab. In jenen Tagen der Menuetts in Kotillons waren die Tanzübungen eine weit mühsamere und ernsthaftere Angelegenheit, als sie es jetzt sind, und die jüngeren Zweige des Adels und der Reichen beschäftigten Grimaldi fortwährend. Es wurde gesagt, er habe seine Stelle bei Hofe infolge unfeinen Benehmens und einer Respekt-Widrigkeit gegen den König verloren, welche Beschuldigung sein Sohn sich stets sehr zu Herzen nahm, und deren Grundlosigkeit zur Genüge daraus hervorging, daß sich der König und die Königin bei allen möglichen Gelegenheiten stets als seine huldreichen Beschützer erwiesen.

Grimaldi gelangte auf seiner neuen Laufbahn zu einem bedeutenden Rufe, und wurde daher zum Balett-Meister und ersten Buffon beim alten Drury Lane- und Sadlers Wells-Theater ernannt, in welcher Doppeleigenschaft er ein großer Liebling des Publikums und Ihrer Majestäten wurde, die fast wöchentlich die Aufführung einer Pantomime befahlen, deren Held Grimaldi war. Er stand in dem Rufe großer Rechtschaffenheit und Wohltätigkeit. Auch hatte man ihm – ein Umstand, dessen sein Sohn stets mit gerechtem Stolze erwähnte – niemals trunken gesehen; eine ziemlich seltene Tugend der Bühnenkünstler neuerer Zeit, deren sich zu befleißigen berühmtere als er sehr wohl tun würden.

Er scheint ein äußerst wunderlicher und exzentrischer Mann gewesen zu sein, was man bei den von ihm anzuführenden kleinen Charakter-Zügen nicht übergehen darf. Er kaufte einst einen Garten in Lambeth, nahm in einem ungewöhnlich unfreundlichen Winter Besitz davon, und konnte es schier nicht erwarten, wie sich derselbe in voller Blütenzeit ausnehmen würde, so daß er ihn mit einer Ungeheuern Menge künstlicher Blumen schmückte, und die Bäume mit den schönsten grünen Blättern, sowie mit Früchten bis zum Brechen belud, die natürlich gleichfalls künstliche waren.

Zu seinen sonderbaren Charakterzügen gehörte eine unbestimmte und heftige Furcht vor dem vierzehnten Tage jedes Monats. Er war bei dem Herannahen desselben stets reizbar, unruhig und ängstlich; unmittelbar nach ihm aber wieder ein ganz anderer Mann, und rief dann aus: »Ah! Jetzt sein ick wieder sicher auf einen Monat!« Es ist bemerkenswert, daß er wirklich an einem vierzehnten März starb, so wie er auch am vierzehnten dieses Monats geboren und getauft war und sich verheiratet hatte.

Man erzählt ähnliche Anekdoten von Heinrich dem Vierten und anderen; die hier erzählte ist vollkommen verbürgt, und kann dem Verzeichnisse der Ahnungen, oder wie man es nennen will, als ein wahrhaftes Beispiel hinzugefügt werden.

Grimaldi war krankhaft reizbar und trübsinnig im höchsten Grade, und hatte eine fast unbeschreibliche Furcht vor dem Tode. Er wanderte oft stundenlang auf Kirchhöfen oder Begräbnisplätzen umher, grübelte über die Krankheiten, an welchen die in den Gräbern um ihn her Liegenden gestorben sein möchten, malte sich ihre Sterbe-Betten vor, und überrechnete, wie viele von ihnen wohl lebendig begraben wären; eine Möglichkeit, an welche zu denken er schauderte, und die ihn sein Leben lang bis an sein Ende mit peinlicher Angst erfüllte. Er verfügte daher in seinem Testamente, daß man ihm, bevor sein Sarg verschlossen würde, den Kopf abschnitte, was auch in Gegenwart mehrerer Personen geschah.

Sonderbar genug wählte er den Tod, der ihm in seinen unbeschäftigten Augenblicken fast unaufhörlich und unter den düstersten und qualvollsten Gedanken und Empfindungen vor Augen schwebte, zum Gegenstande seiner beliebtesten Szenen in den Pantomimen der damaligen Zeit. Unter vielen andern derselben Art erfand er die wohlbekannte Skelett-Szene für den Clown, welche damals äußerst beliebt war und noch jetzt bisweilen dargestellt wird.1 Die Tatsache ist gleich merkwürdig, gleichviel ob es wahr ist, daß die Hypochondristen am geneigtesten sind, über die Dinge zu lachen, die ihnen insgeheim am meisten Verdruß, oder Bangigkeit erregen, sowie diejenigen, die an Geister-Erscheinungen glauben, sich am ungläubigsten auszusprechen pflegen; oder ob die erwähnten düsteren Vorstellungen das Gemüt des unglücklichen Mannes so unablässig beunruhigten, daß selbst seine Heiterkeit eine schauerlich düstere Färbung annahm, und seine Laune groteske Gegenstände in den Gräbern und Beinhäusern aussuchte.

Zur Zeit der Lord George Gordon-Aufläufe2, als die Londoner, um ihre Häuser vor der Wut des Pöbels zu schützen, an die Türen die Worte schrieben: »Kein Papsttum!« schrieb er, um es mit keiner Partei zu verderben und der Möglichkeit zu begegnen, irgend einen durch sein Glaubens-Bekenntnis zu beleidigen: »Gar keine Religion!« an die seinige, und erreichte seinen Zweck; wir wissen indes nicht zu sagen, ob durch den Humor seines Wahlspruchs, oder die Folge davon, daß der aufrührerische Haufen nicht durch die Straße kam, in welcher er wohnte.

Am 18. Dezember 1779, dem Jahre, in welchem Garrick starb, wurde Joseph Grimaldi, »der alte Joe«, in der Stunhope Straße, Clare Market, in welchem Stadtteile damals, wie jetzt, ein großer Teil des Theaterpersonals wegen der Nähe der Schauspielhäuser wohnt, geboren. Sein Vater war damals über siebenzig Jahre alt, und fünfundzwanzig Monate später wurde demselben noch ein Sohn geboren – Joseph’s einziger Bruder.

Das Knäblein blieb nicht eben lange im Zustande der hilflosen und uneinträglichen Kindheit, denn schon in dem Alter von einem Jahre und elf Monaten wurde es von seinem Vater auf dem alten Drury-Lane-Theater produziert, wo es seine erste Verbeugung machte und seinen ersten Purzelbaum schlug. Das Stück, in welchem es sein frühreifes Talent entfaltete, war die wohlbekannte Pantomime Robinson Crusoe, in welcher der Vater die Rolle des schiffbrüchigen Seemanns, und der Sohn die des kleinen Clown hatte. Des letzteren Erfolg war vollkommen; er wurde sofort engagiert, und erhielt ein wöchentliches Salär von fünfzehn Schillingen, und mit jedem Jahre eine neue und hervorstechende Rolle. Er wurde ein Liebling sowohl, beim Publikum, als hinter den Kulissen, und hieß im Garderobe-Zimmer der »kleine kluge Joe«; Joe wurde er bis an das Ende seiner Tage genannt.

Im Jahre 1782 trat er zuerst in Sadlers Wells in der schwierigen Rolle eines Affen auf, und war glücklich genug, in derselben soviel Beifall zu finden, als er in der eines Clowns in Drury Lane gefunden hatte. Auch in Sadlers Wells wurde er sogleich regelmäßiges Mitglied der Truppe, und blieb es (mit Ausnahme einer einzigen Saison) neunundzwanzig Jahre, bis an das Ende seines Künstler-Lebens.

Seine Mühen nahmen jetzt einen ernsten Anfang, da er zwei Engagements hatte, welche ihn verpflichteten, an demselben Abende und fast zu derselben Zeit auf zwei Theatern aufzutreten. Die Aufgabe, schwer genug schon für einen Mann, war es umsomehr für ein Kind, und man wird sehen, wenn zu irgend einer Periode seines Lebens seine Einnahmen sehr bedeutend waren, auch die Geistes- und Körper-Anstrengungen nicht minder groß genannt werden mußten, durch welche jene errungen wurden. Die schauspiel-närrischen jungen Leute, die unermüdlichen Besucher der öffentlichen und Privattheater, die es so sehnlich verlangt, auf die Bühne zu gehen, weil es »so leicht« sei, Schauspieler zu sein, lassen sich wenig von all den Sorgen, sauren Mühen und Entbehrungen träumen, welche die Summe des Lebens der meisten Schauspieler ausmachen.

Wir bemerkten oben, daß der Vater Grimaldi’s ein exzentrischer Mann gewesen wäre; er scheint es besonders und etwas unangenehm bei Züchtigung seines Sohnes gewesen zu sein. Der Knabe, der zu Possen aller Art auf dem Theater erzogen wurde, war überall ebenso sehr Clown, Affe, oder was sonst possierlich und lächerlich sein mochte, als auf der Bühne; die Damen und Herren im Garderobezimmer munterten ihn dazu auf, und er trieb seine Späßchen fast ebenso sehr zu ihrer, als zu des Publikums Ergötzlichkeit. Dieses alles wurde jedoch sorgfältig vor dem Vater geheim gehalten, der, wenn etwas davon zu seiner Kunde gelangte, Joe regelmäßig derb dafür abprügelte, ihn dann bei den Haaren aufhob und mit der Warnung, sich ja nicht von der Stelle zu, rühren, in einen Winkel trug. Joe rührte sich jedoch trotzdem von der Stelle. Mit dem Vater verschwanden auch seine Tränen, und mit vielen seiner komischen Gebärden und Mienen, welche später so beliebt wurden, begann er seine Possen von neuem und mit verdoppelter Lebhaftigkeit, worin ihn nur der Ruf: »Joe, Joe, Dein Vater kommt!« unterbrechen konnte, worauf er denn in seinen Winkel zurückeilte und wieder zu weinen anfing, als wenn er gar nicht aufgehört hätte.

Dies wurde allmählich eine regelmäßige Belustigung, und man rief: »Joe, Joe, Dein Vater kommt!« wenn der Vater auch nicht kam, um das Vergnügen zu haben, Joe in seinen Winkel zurücklaufen zu sehen. Joe merkte dies bald, verwechselte häufig die ernsthafte mit der scherzhaften Warnung, und empfing mehr Schläge als zuvor von seinem, wie er sich in seiner Handschrift ausdrückt, »strengen aber vortrefflichen Vater«.

Einst war er zu seiner Lieblingsrolle des kleinen Clown in Robinson Crusoe angekleidet, und sein Gesicht gerade so wie das seines Vaters bemalt, worauf zum Teil das Komische seiner Rolle beruhte, als ihn der alte Herr in das Garderobenzimmer brachte, ihn in seinen gewöhnlichen Winkel setzte, ihm streng anbefahl, sich kein Haar breit von der Stelle zu rühren und wieder hinausging. Zufällig trat in demselben Augenblicke, der das Garderobenzimmer zu jener Zeit beständig besuchende Earl von Derby3 herein, und rief den Knaben gutmütig zu sich, dessen trübselige Mienen mit seinem Anzug so wenig übereinstimmten. Joe schnitt ein höchst merkwürdiges Gesicht, blieb aber wo er war. Der Earl lachte und blickte nach einer Erklärung umher.

»Er darf nicht von der Stelle,« nahm Miß Farren das Wort, welcher Dame der Lord damals sehr den Hof machte und die er später ehelichte. »Sein Vater schlägt ihn sonst.«

»Schlägt ihn!« wiederholte der Lord, und Joe schnitt zur Bekräftigung der Aussage Miß Farren’s ein noch weit merkwürdigeres Gesicht.

»Ich glaube,« sagte der Lord abermals lachend, »er hat nicht soviel Furcht vor seinem Vater, als Sie glauben. Komm her, Kleiner!«

Bei diesen Worten hielt er ihm eine halbe Krone entgegen, und Joe, dem der Wert des Geldes sehr wohl bekannt war, sprang aus seinem Winkel hervor und bemächtigte sich mit pantomimischer Raschheit des Geldstücks und war im Begriff zurückzueilen, als ihn der Earl am Arme festhielt.

»Schau hier, Joe!« sagte der Earl. »Nimm Deine Perücke ab, wirf sie in das Feuer, und Du bekommst noch eine halbe Krone.«

Gesagt, getan. Joe schlenderte seine Perücke in das Feuer. Es entstand ein schallendes Gelächter. Der Knabe hüpfte mit einer halben Krone in jeder Hand im Zimmer umher, und der Earl, besorgt wegen der Folgen, war damit beschäftigt, mit Zange und Schüreisen die Perücke den Flammen zu entreißen, als der Vater im vollen schiffbrüchigen Seemanns-Anzug eilig hereintrat. Es war ein Glück für den kleinen Joe, daß Lord Derby kräftige Fürsprache für ihn einlegte, denn sonst hätte es leicht sein können, daß der Kleine lebendig begraben wurde. Vor einer tüchtigen Tracht Schläge war er indes doch nicht zu schützen. Die Tränen liefen ihm über die zolldick bemalten Wangen dermaßen hinab, daß die Farben gänzlich verwischt wurden und daß er fast so wenig einem kleinen Clown als einem menschlichen Wesen mehr ähnlich sah, mit welchen beiden Charakteren er nur noch die entfernteste Ähnlichkeit hatte. Er wurde fast unmittelbar darauf gerufen, und der heftig Erzürnte bemerkte die mit ihm vergangene Veränderung erst, als Joe auf die Bühne kam und ein allgemeines und schallendes Gelächter entstand. Er wurde noch wütender als vorhin, prügelte ihn sogleich noch tüchtiger ab, und das Kind schrie auf das Fürchterlichste. Die Zuschauer nahmen alles für einen höchst vortrefflichen Spaß, ein Gelächter- und Beifalls-Sturm erschütterte das Haus, und die Blätter erklärten am folgenden Morgen, daß es wahrhaft wunderbar gewesen wäre, wie natürlich das Kind gespielt hätte, was den Lehrgaben seines Vaters die größte Ehre machte.

Der Vorfall wirft ein bedeutsames Streiflicht auf die Schauspieler-Leiden. Scherze auf den Lippen und Tränen in den Augen, fröhliche Mienen und Wehe im Herzen haben hundertmal denselben Gelächter- und Beifallssturm hervorgerufen. Halbverhungerte werden fast ohne Ausnahme auf der Bühne belacht – die Zuschauer haben ihr Mittags- oder Abendessen gehabt.4

Die härteste Strafe für den Knaben bestand darin, daß er sich seiner fünf Schillinge beraubt sah, die der vortreffliche Vater in seine eigene Tasche steckte, vielleicht auch weil er Joe’s Salär in Empfang nahm, und mit Goldsmith´s Bärenführer meinte, daß »alles hübsch beieinander sein müßte«.5

Der Earl gab indes Joe eine halbe Krone, so oft er ihn späterhin sah, und Joe hatte große Ursache zum Kummer, als Seine Herrlichkeit Miß Farren heiratete und sich in der Garderobe nicht mehr blicken ließ.

Auf dem Sadlers Wells wurde er fast eben so schnell beliebt, als im Drury Lane-Theater. Der Schauspieler King, der Haupteigentümer des ersteren und Direktor des letzteren war, hielt nicht wenig von ihm, und schenkte ihm bisweilen eine Guinee, um sich ein Schaukelpferd, einen Wagen, oder anderes Spielzeug, das er sich eben wünschte, dafür zu kaufen. Bei einer der Vorstellungen des ersten Stückes, in welchem der kleine Joe in Sadlers Wells auftrat, machte er zum ersten Male ernstlich Effekt, wobei ihn jedoch nur das Glück, das ihn in solchen Fällen stets begleitet zu haben scheint, vor dem Schicksal bewahrte, unfähig zu werden, jemals wieder auftreten zu können. Er stellte einen Affen vor, und mußte in dem ganzen Stück um den Clown (seinen Vater) sein. In einer Szene hatte ihn der letztere an der Kette, und wirbelte ihn auf Armeslänge mit der größten Schnelligkeit in der Luft herum. Eines Abends zerriß die Kette, und Joe flog weit in das Parterre hinein, jedoch glücklicherweise ohne den mindesten Schaden zu nehmen, da er wie durch ein Wunder einem, mit gespannter Aufmerksamkeit zuschauenden Herrn in die Arme geschleudert wurde.

Zu den vielen Personen, die sich ihm in dieser frühen Periode seiner Laufbahn freundlich geneigt erwiesen, gehörte das berühmte Seiltänzerpaar, Mr. und Mrs. Ridge, zu jener Zeit der kleine Teufel und die schöne Spanierin genannt. Sie gaben ihm häufig eine Guinee, die ihm sein Vater regelmäßig wegnahm, in eine Büchse, auf welche des kleinen Joe’s Name geschrieben stand, hineinsteckte, und dieselbe sorgfältig verschloß, worauf er dann dem Knaben den Schlüssel gab und zu ihm sagte: »Merk, Joe, das sein Dein Vermögen, wenn ick tot sein.« Joe kam indes um die Büchse wie um sein ganzes Vermögen, wie wir bald sehen werden.

Da er beinahe vier Monate im Jahre Theaterferien hatte, indem die Weihnachtspantomime im Drury Lane selten länger als vier Wochen gegeben wurde, und die Vorstellungen in Sadlers Wells erst Ostern ihren Anfang nahmen, so schickte ihn sein Vater auf die genannte Zeit in eine Kostschule in Putney zu einem Mr. Ford, von dessen Herzensgüte und Zuneigung zu ihm er noch als ein alter Mann mit der gerührtesten Dankbarkeit sprach. Viele seiner damaligen Schulkameraden widmeten sich später auf die eine oder andere Weise gleichfalls dem Theaterfache, – unter ihnen z. B. Mr. Henry Harris6 vom Covent-Gardentheater – keiner derselben aber der Pantomime, und wir müssen uns, wenn wir der Laune und Lebhaftigkeit Joe’s gedenken, nur wundern, daß seine Schulkameraden nicht sämtlich Clowns geworden sind.

Weihnachten 1782 trat er in seiner zweiten Rolle in Drury Lane im »Harlequin dem Jüngeren oder dem Zaubergürtel« auf. Er stellte darin einen Dämon vor, der von einem feindlichen Zauberer abgeschickt war, der Macht Harlequins entgegenzuwirken. Er erwarb sich auch diesesmal großen Beifall, und sein Ruf stand von dieser Zeit an fest, nur daß er mit seinen Jahren an Kräften und Fortschritten natürlich zunahm.

Zu Ostern gab er abermals den Affen in Sadlers Wells, doch ohne daß ihm ein ähnliches Unglück, wie das erzählte, widerfahren wäre, und ging wieder nach Putney, als das Stück am Schlusse des Monats zurückgezogen wurde, und während der Saison nichts mehr für ihn zu tun war.

Weihnacht 1783 trat er abermals in Drury Lane in einer Pantomime, dem »Wirrwarr«, auf, und zwar nicht bloß in seiner alten Rolle als Affe, sondern außerdem noch in der einer Katze. In der letzteren betraf ihn ein Unfall, bei dem er so wenig bleibenden Schaden nahm, daß man fast glauben sollte, er hätte sich mit dem Charakter, den er darstellte, so vollkommen identifiziert, daß er ein wahres Katzenleben besessen. Sein Kostüm hatte den bedeutenden Mangel, daß er, wenn er in dasselbe hineingenäht war, nicht sehen konnte. So geschah es, daß er in eine gewöhnlich durch eine Falltür verschlossene Öffnung hineinfiel, welche offen gelassen war, um einen Brunnen vorzustellen. Er stürzte vierzig Fuß tief hinunter, zerbrach sich das Schlüsselbein und trug mehrere Kontusionen davon. Er wurde sogleich nach Hause geschafft und der Behandlung eines Wundarztes übergeben, war freilich erst nach Beendigung der Saison in Drury Lane wiederhergestellt, spielte aber Ostern in Sadlers Wells wie gewöhnlich. Im Sommer dieses Jahres erhielt er, als einen Beweis hoher und besonderer Gunst, die Erlaubnis, einen Sonntag um den anderen im Hause seines Großvaters von mütterlicher Seite zuzubringen, der, wie er selbst sagt,7 »in der Newtonstraße, Holborn, wohnte, ein Metzger en gros, und außerdem Inhaber des Schlachthauses in Bloomsbury war, das er bei seinem Tode einige sechszig Jahre inne gehabt hatte«. Joe war ein großer Liebling desselben, und da ihm im Hause des Großvaters viel nachgesehen und zu gut getan wurde, so sah er jedem seiner dortigen Besuche mit großer Sehnsucht entgegen. Sein Vater wünschte seinerseits ebenso lebhaft, daß Joe die Ehre seiner Familie bei diesen Gelegenheiten aufrecht erhalten möchte, und nach großer und langer Überlegung und Beratung mit Schneidern, wurde der »kleine Clown« für einen seiner Sonntagsausflüge folgendermaßen kostümiert; er trug einen grünen, mit fast so vielen künstlichen Blumen, als sein Vater in seinem Lambether Garten angebracht hatte, besetzten Leibrock; unter selbigem glänzte ein seidenes, blendend weißes Westchen, wozu noch weiter unten grüne tuchene Kniehosen (das Wort existierte zu jener Zeit) mit reichem Besatze und weißseidene Strümpfe und Schuhe mit blanken Schnallen kamen. Ebenso wenig fehlten ein Spitzenhemde, Halstuch und Manschetten, ein dreieckiger Hut, eine kleine Uhr mit Diamanten – mutmaßlich Theaterjuwelen – und ein Spazierrohr, das er so kecklich handhabte, wie es gegenwärtig unsere großen Clowns nur tun mögen.

Der Vater hielt Generalinspektion vor seinem Abmarsche, drückte die vollkommenste Billigung aus, küßte ihn, forderte ihm den Schlüssel zu seiner »Vermögensbüchse ab, gab ihm aus selbiger eine Guinee, sagte: »Sieh – jetzt sein Du ein Gentleman oder noch mehr – hast einen Guinee in der Tasche,« schärfte ihm ein, um acht Uhr wieder zu Hause zu sein, und entließ ihn, ohne zu gestatten, daß ihn jemand begleitete, und zwar weil er ein Gentleman, und demnach vollkommen imstande wäre, für sich selber zu sorgen.

Die Erscheinung Joe’s in den Straßen erregte ein beträchtliches Aufsehen, zumal da er ein öffentlicher Charakter war. Ein Gassenbube rief: »Hussa, da ist der kleine Joe!« ein zweiter: »Geht doch, ’s ist der Affe!« Ein dritter meinte, es wäre »der Bär, angekleidet zum Tanze«, und ein vierter behauptete, »es möchte die Katze sein, die in Gesellschaft ginge«; während größere und gesetztere Begegnende nicht umhin konnten, herzlich zu lachen und zu bemerken, daß es doch gar zu lächerlich wäre, ein Kind in einem solchen Anzuge allein durch die Straßen gehen zu lassen. Joe schritt indes unter jeweiligen verwunderlichen Grimassen unbekümmert weiter, bis ihm eine auf dem Straßenpflaster liegende Frau auffiel, deren elendes Aussehen bereits die Veranlassung gewesen war, daß sich ein Haufen gesammelt hatte. Der Knabe stand gleich anderen still, und wurde, als er die Leidensgeschichte der Verlassenen hörte, so gerührt, daß er in die Tasche griff, und ihr die Guinee, sein einziges Stück Geld, in die Hand drückte, worauf er sich noch mit feierlichen Schritten entfernte. Nunmehr sammelte sich ein Haufen um ihn und schrie und starrte ihn unendlich verwundert an, wodurch er sich jedoch nicht im mindesten aus der Fassung bringen ließ, sondern kecklich an der Spitze eines zwei Straßen langen Gefolges weiter schritt, bis ein Freund seines Vaters daherkam, ihn trotz seines Sträubens aufhob und auf den Armen nach des Großvaters Hause trug, wo er den Tag zu seiner und jedermanns Befriedigung hinbrachte.

Als er abends wieder anlangte, sah der Vater auf die Uhr, küßte und belobte ihn wegen seiner Pünktlichkeit, untersuchte seinen Anzug, war erfreut, keine Beschädigung daran zu finden, und forderte ihm zuletzt den Schlüssel zur »Vermögensbüchse« und die Guinee wieder ab. Der Knabe dachte zuerst an den Vorfall des Morgens nicht, durchsuchte seine Taschen, entsann sich endlich dessen, was er getan, fiel auf die Knie nieder, bekannte alles und flehte um Vergebung.

Der Vater wußte anfangs nicht, was er tun oder sagen sollte, da er selbst soviel Geld aus Guttätigkeit wegschenkte. Er blickte den Knaben ein paar Augenblicke ungewiß an, sagte darauf bloß: »Du bekommst eine Tracht Schläge,« und schickte ihn zu Bett.

Zu den Eigenheiten des alten Sonderlings – es war allerdings nicht die liebenswürdigste – gehörte die, daß er stets hielt, was er versprach, und wenn auch vielleicht in Fällen, wie diesem, Monate vergingen, bevor es geschah, wodurch denn die Strafe verdoppelt, verdrei- oder vervierfacht wurde, indem die verlängerte Furcht vor ihr, bei der Gewißheit, daß sie nicht ausbleiben würde, hinzukam. Es waren vier oder fünf Monate vergangen, und der Knabe hatte keine Veranlassung zum Unwillen gegeben, als ihn sein Vater eines Tages sehr unerwartet rief, und ihm ankündigte, daß er ihn sofort abzupeitschen dächte. Der Knabe fing an erbärmlich zu weinen, und stammelte die Frage hervor: »O Vater, wofür denn?« – »Denk an die Guinee!« sagte der alte Herr und prügelte ihn dermaßen, daß Joe sein Leben lang daran dachte.

Die Hausgenossenschaft bestand zu dieser Zeit aus den beiden Eltern, Joe, dessen einzigem Bruder John Baptist, drei oder vier weiblichen Domestiken, und einem Neger, der als Bedienter fungierte und durch die Benennung des »schwarzen Sam« honoriert wurde.

Der Vater war äußerst gastlich und sah ausnehmend gern Freunde bei sich. Er aß selten allein, und gab an gewissen Gala-Tagen und namentlich auch am Christabend, große Gesellschaften, bei welchen Gelegenheiten sein wirklich glänzendes Silberservice nebst verschiedenen Bijouterieartikeln zur Bewunderung der Gäste zur Schau gestellt wurde. An einem Christabend, als das Speisezimmer so glänzend als möglich geschmückt und ausgestattet war, stahlen sich die beiden Knaben in des schwarzen Sam Begleitung hinein, und drückten einander ihre Bewunderung all des Glanzes aus.

»Ah,« sagte Sam, »wenn alt Massa sterben, gehören allen die schönen Sachen Euch.«

Sam’s Bemerkung erregte in hohem Maße die Aufmerksamkeit der beiden Knaben, besonders aber John’s, des jüngeren, der noch sehr jung, wahrscheinlich weit weniger grauenvoll an den Tod dachte, als sein Vater und daher ohne den mindesten Rückhalt oder eine Spur von Zartgefühl ausrief, daß er außerordentlich froh sein würde, wenn ihm alle die schönen Sachen zufielen.

Es wurde nicht weiter darüber gesprochen. Der schwarze Sam ging an seine Geschäfte, die Knaben fingen an zu spielen, und niemand dachte mehr an den Vorfall, den Vater selbst ausgenommen, der zufällig ein unsichtbarer Hörer gewesen war. Er überlegte einige Tage, und faßte endlich, um die Sinnesart seiner beiden Knaben zu erforschen, den sonderbaren, doch bei dem ihn stets vornehmlich beschäftigenden Gedanken natürlichen Beschluß, sich tot zu stellen. Er ließ sich im verdunkelten Besuch-Zimmer als Leiche ankleiden, die Dienstboten erhielten ihre Verhaltungsmaßregeln, und den Kindern wurde vorsichtig angekündigt, daß ihr Vater plötzlich verstorben wäre, worauf man sie in das angebliche Totengemach führte.8

Joe war anfangs verwirrt, gewann aber bald die feste Überzeugung, daß sein Vater nicht tot wäre. Er hatte ihn noch vor kurzem vollkommen gesund gesehen, der schwarze Sam ließ es an heimlichen Winken und Andeutungen nicht fehlen und als er genau hinsah, bemerkte er, daß der Verstorbene atmete. Er gewahrte sogleich, was er zu tun hatte, begann auf das trübseligste zu ächzen und zu schluchzen, warf sich zu Boden und wälzte sich wie im schrecklichen Kummer umher.

John, der vom öffentlichen Leben noch nicht soviel gesehen hatte, als sein Brüder, war nicht so verschlagen, sah in des Vaters Absterben nur eine Befreiung von Schlägen und Büchern (vor welchen beiden er einen gleich großen Widerwillen hegte), freute sich des so bald erlangten Besitzes der schönen Silbersachen, sprang im Zimmer umher, sang und schlug Schnippchen, und erklärte, daß er froh wäre, den Vater tot zu sehen.

»O Du abscheulicher Junge,« sagte Joe unter einer Tränenflut. »Hast Du denn gar keine Liebe zu Deinem guten Vater? Ach, was würde ich darum geben, wenn ich ihn wieder lebendig sähe!«

»Papperlappapp!« sagte John; »sei doch nicht so ein Narr, zu weinen; jetzt gehört uns die Kuckucks-Uhr ganz allein.«

Dies war mehr, als der Abgeschiedene zu ertragen vermochte. Er sprang von seiner Totenbahre, öffnete die Fensterläden und bläuete den jüngeren Sohn unbarmherzig ab; während Joe, über sein eigenes Schicksal zweifelhaft, hinauslief und sich im Kohlenkeller versteckte, wo ihn der schwarze Sam ein paar Stunden darauf fest eingeschlafen fand, und ihn zu seinem Vater trug, der ihn ängstlich gesucht hatte und ihn als den zärtlich und wahrhaft liebenden Sohn auf das liebevollste empfing.

Joe war von dieser Zeit an bis zum Jahre 1788 für dieselben Saläre engagiert, die er von Anfang an sowohl in Drury Lane, als Sadlers Wells erhalten hatte.

  1. Wahrscheinlich ist das Harlequin-Gerippe gemeint, dessen in Humphrey Clinker Erwähnung geschieht.
  2. Sie entstanden auf Veranlassung der im Jahre 1780 vor geschlagenen Toleranz-Bill, gegen welche der Lord Gordon besonders heftig eiferte und daher Anführer des erwähnten gefährlichen Aufruhrs wurde.
  3. Lord Derby war der Großvater des jetzigen Lord Stanley. Seine erste Frau war die Schwester des berühmten Herzogs von Hamilton und die Halbschwester der jetzigen Lady Charlotte Bury, der Schriftstellerin, die sich durch einige Romane, und neuerdings durch ein Buch über die Königin Caroline berüchtigt gemacht hat.
  4. Man wolle sich erinnern, welch‘ eine vortreffliche Akquisition Smike im »Nickleby« dem Schauspiel-Direktor deuchte.
  5. In dem berühmten Lustspiele She stoops to conquer, in Szene, wo Tony Lumkin sein Lied singt.
  6. Dem Verfasser scheint es nicht bekannt gewesen zu sein (vielleicht trog auch Grimaldi sein Gedächtnis), daß dieser Mr. Henry Harris nie Schauspieler war. Er war der Sohn eines anderen sehr bekannten Mr. Harris, des Eigentümers des Covent-Gardentheaters Mr. Harris der Jüngere machte sich dadurch berüchtigt, daß er mit einer Schauspielerin, einer Mrs. Johnson lebte, die verheiratet war und mehrere Kinder hatte, und ferner dadurch, daß er derselben, dem Publikum zum Trotz, hervorstehende Rollen verschaffte, was er auch durchzusetzen wußte. – Mrs. Johnson’s Lebensgeschichte war sehr merkwürdig. Sie war die Tochter eines Kunstreiters und einer italienischen Dame, wie man sagte, von hohem Range; das Kind wurde dem Vater mit einer Summe Geldes zugeschickt, darauf nach England gebracht, und lernte seine Mutter niemals kennen.
  7. Es möchte nämlich nicht ohne Bedeutung für ihn sein. So häufig es in England verhältnismäßig, daß vornehme und reiche Herren Schauspielerinnen ehelichen, so ist es doch selten genug, daß Töchter wohlhabender und angesehener Eltern auf das Theater gehen, oder gar Tänzerinnen werden. Ein Londoner Metzger en gros ist aber schon eine bedeutende Person, Ich entsinne mich, daß die Tochter eines solchen 10 000 Pfund im Vermögen hatte, und sich mit dem jetzigen Lord Montford, einem Sprößlinge einer der ältesten Adelsfamilien des Landes, verheiratete.
  8. Auf der Bühne ist häufig eine ähnliche Szene dargestellt wurden, woher dem alten Grimaldi wahrscheinlich sein Einfall gekommen war.

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

1788 bis 1795

Des Vaters wirklicher Tod. – Sein Testament und des Testamentsvollstreckers Bankerott. – Edelmütiges Benehmen des Lehrers Grimaldi’s und des Schauspielers Wrougthon. – Sheridan’s Wohlwollen. – Grimaldi’s Mühen und Erholungen. – Insekten-Fangen. – Exkursion nach den »Dartford-Bläulingen.« – Mrs. Jordan. – Abenteuer aus Clapham Common; der blecherne Sixpence. – Grimaldis erste Liebe.

Nach verschiedenen öffentlichen Angaben starb Grimaldis Vater im Jahre 1787; aus mehreren Stellen der von dem Sohne diktierten Memoiren geht aber hervor, daß er am 14. März 1788 an der Wassersucht im siebenundachtzigsten Lebensjahre gestorben und auf dem Begräbnisplatze der Exmouthstraßen-Kapelle begraben ist, wo er – wenn der Platz zu jener Zeit nicht etwa größer als jetzt gewesen – bei seiner Lebzeit sehr wenig Raum zum grübelnden Umherwandeln gehabt hat. Er hinterließ ein Testament, und verordnete darin, daß seine sämtlichen Effekten und Juwelen in öffentlicher Versteigerung verkauft werden sollten; die daraus zu lösende Summe habe man seinem baren Vermögen, das sich auf mehr als 15 000 Pfund belief, hinzuzufügen, und das ganze zwischen den beiden Brüdern gleich zu verteilen, sobald sie zur Mündigkeit gelangten. Er hatte den schon genannten Mr. King zum Mit-Testamentsvollstrecker neben einem gewissen Mr. Joseph Hopwood ernannt, einen Spitzenfabrikanten in Long Acre, der in dem Rufe stand, nicht bloß Inhaber eins großen Geschäfts, sondern auch Besitzer eines beträchtlichen unabhängigen Vermögens zu sein. Mr. King lehnte die Mitwirkung ab, Mr. Hopwood legte das ganze Kapital der Brüder in seinem Geschäfte an, machte binnen Jahresfrist Bankerott, entfloh aus dem Lande, und man hat niemals wieder etwas von ihm gehört. So verloren die Brüder ihr Vermögen und waren wegen ihres Unterhalts auf ihre eigenen Hilfsquellen und Anstrengungen verwiesen.

Es ehrt sowohl die Freunde der Witwe und ihre Söhne, als es für den Charakter und das Benehmen der Familie Grimaldi zeugt, daß ihr sogleich von allen Seiten Beistand zuteil wurde. Mr. Ford, Grimaldi’s Lehrer, erbot sich, Joseph in seine Pensions-Anstalt aufzunehmen und ihn zu adoptieren. Die Mutter wies dieses Anerbieten zurück, und nun erhöhte Sheridan, der damals Eigentümer des Drury Lane Theaters war, des Knaben Gehalt aus freien Stücken auf ein Pfund wöchentlich und erlaubte der Mutter, die bei demselben Theater von Kindheit an Tänzerin gewesen war und noch war, ein ähnliches Engagement in Sadlers Wells anzunehmen, was der Tat nach einem doppelten Saläre gleichkam, da beide Schauspielhäuser während eines beträchtlichen Teils des Jahres zugleich geöffnet waren.

In Sadlers Wells, wo Joseph im Jahre 1788 kurz nach seines Vaters Tode wie gewöhnlich auftrat, war man weniger großmütig. Sein Gehalt wurde ohne alle Umstände von fünfzehn Schillingen wöchentlich auf drei heruntergesetzt, und der Mutter auf ihre Gegenvorstellungen erwidert, wenn die Änderung ihren Beifall nicht habe, so stehe es ihrem Sohne vollkommen frei, seine schätzbaren Dienste jedem beliebigen anderen Hause zu widmen. So gering indes das angebotene Gehalt war, sie konnte es nicht entbehren, und Joe blieb daher beim Sadlers Wellstheater drei Jahre lang für drei Schillinge wöchentlich, beaufsichtigte das Requisitenzimmer, leistete bald dem Zimmermanne, bald dem Maler Beistand und half, mit einem Worte, wo oder wie es gerade erforderlich war.

Als die Familie ihr Vermögen verloren hatte, mußte sie eine bescheidene Wohnung suchen, und fand sie im Hause eines Bekannten, Mr. Bailey’s in der Great-Wildstraße, wo sie mehrere Fahre wohnte. John war nicht zu bewegen, ein regelmäßiges Engagement anzunehmen, denn alle seine Gedanken und Träume drehten sich um den Plan, zur See zu gehen, und obenein hegte er den ausgemachtesten Widerwillen gegen die Bühne. Man ließ ihn bisweilen holen, wenn man in Drury Lane bei einer Vorstellung Knaben bedurfte, er erschien und erhielt einen Schilling für den Abend; allein seine Unlust und Abneigung war so offenbar, daß der Schauspieler Wroughton, der um diese Zeit nach Mr. King durch Kauf Eigentümer des Sadlers Wells-Theaters wurde, zu seinen Gunsten einschritt, und ihm eine Stelle an Bord eines Ostindien-Fahrers verschaffte, der soeben absegeln sollte.

John war fast außer sich vor Freude, die jedoch durch die Entdeckung getrübt wurde, daß eine Equipierung notwendig sei und über 13 Pfund kosten würde, eine Summe, welche die Mutter herbeizuschaffen außerstande war. Doch derselbe gutherzige Herr entfernte das Hindernis, gab mit einer Bereitwilligkeit, welche den Wert der Wohltat hundertfach erhöhte, ohne Sicherheit oder Handschrift die ganze erforderliche Summe her, und sagte nur: »Hör‘, John, wenn Du Kapitän wirst, mußt Du mir das Geld zurückzahlen.«

Nach zwei Tagen nahm John von den Seinigen Abschied und wurde an Bord gebracht, wo er, nachdem er gehört, daß das Schiff erst in acht bis zehn Tagen absegeln würde, ungeduldig und seine ganze Ausstattung zurücklassend, nach einem in der Nähe liegenden königlichen Flottenschiffe schwamm, das im Begriff war, die Anker zu lichten, sich unter einem angenommenen, den Seinigen nie bekannt gewordenen Namen als Matrose oder Kajütenjunge einschreiben ließ, verschwand, und vierzehn Jahre lang nichts von sich weder sehen noch hören ließ.

Joe war zu dieser Zeit weit entfernt, müßig zu sein. Er mußte jeden Morgen von Drury Lane nach Sadlers Wells wandern, um den Proben beizuwohnen, welche damals um zehn Uhr ihren Anfang nahmen; um zwei Uhr zum Mittagessen wieder in Drury Lane sein, wenn er nicht gar verhungern wollte; durfte abends sechs Uhr den Anfang der Vorstellungen in Sadlers Wells nicht versäumen, und war dann bis elf Uhr oder noch später so unablässig beschäftigt, daß er sich wohl zwanzigmal umzukleiden hatte.

So vergingen ihm einige Jahre im gewöhnlichen Gleise, nur daß er immer größere Fortschritte in seinem Fache und der Gunst beim Publikum machte, was denn auch Einfluß auf seine Einnahme hatte. Im Jahre 1794 wurde sein Gehalt in Drury Lane verdreifacht, während er in Sadlers Wells von drei Schillingen wöchentlich bis zu vier Pfunden gestiegen war. Er wohnte während dieser ganzen Zeit mit seiner Mutter in der Great-Wildstraße. Der Hauswirt war gestorben, und die Tochter der Witwe desselben hatte, indem sie Mrs. Grimaldi häufig nach Sadlers Wells begleitet, Mr. Robert Fairbrother, der sowohl dort als in Drury Lane engagiert war, kennen gelernt und geheiratet, worauf ihn Mrs. Bailey in ihr Kürschnergeschäft mit aufnahm, das er mit außerordentlichem Glück betrieb.

Grimaldi verdiente sich manche Guinee von Mr. Fairbrother, indem er demselben in seinen Mußestunden beim Rauchhandelgeschäft half und sich nebenher belehren ließ, ebenso wie er häufig, wenn in jenem nichts zu tun war, nach der Newtonstraße ging, und seinen Verwandten beim Schlachtgeschäfte umsonst Hilfe leistete: so groß war sein Widerwillen gegen das Müßig-Sein. Er sagt uns nicht, ob es praktischer Geschäftskenntnis bedurft, um jenes Geschick und die Gewandtheit zu zeigen, womit er späterhin in seiner Glanzperiode die Braten seiner Kunden als Bäcker verkürzte, oder das Gewicht des Fleisches als Fleischer künstlich vergrößerte, hoffen aber zur Ehre des Bäcker- und Metzger-Geschäfts, daß seine Moral in dieser Beziehung lediglich eine imaginäre gewesen ist.9

So stand es mit seinen Beschäftigungen, wobei es indes auch an Vergnügungen nicht fehlte. Er hatte Tauben, sammelte Insekten und brachte eine Sammlung von 4000 Fliegen zusammen, die ihn, wie er sagt, »viel Zeit, Geld und Mühe gekostet«, wofür ihn jedoch der Entomologist hinreichend belohnt erachten wird. Er erinnerte sich noch in seinem Alter mit Lust dieser Bestrebungen und rief sich gern eine Gegend in Surrey und eine andere in Kent zurück, wo sich zwei berühmte Fliegen fanden. Eine derselben hieß »die Schönheit von Camberwell« (sie war äußerst häßlich, wie er sagt) und die andere »Datford-Bläuling«, wovon er einen großen Vorrat sammelte und deren Fang er sich, als sie sich zeigten, im Juni nämlich, große Anstrengungen kosten ließ.

Da er jeden Abend in Sadlers Wells spielen mußte, war er genötigt, sich zu gedulden, bis seine Geschäfte auf dem Theater beendet waren. Er begab sich darauf nach Hause, aß zu Abend und machte sich um Mitternacht nach dem fünfzehn Meilen von London entfernten Dartford auf den Weg, wo er um fünf Uhr morgens bei einem Freunde, namens Brooks, anlangte, ausruhte und frühstückte, um dann auf den Feldern umherzustreifen. Er war nicht eben glücklich, denn er hatte nach einigen Stunden nur einen einzigen Dartford Bläuling gefunden, mit welchem er jedoch, vorläufig vollkommen befriedigt, zu dem Freunde zurückkehrte. Um ein Uhr nahm er von dem letzteren Abschied, langte in London um fünf an, kleidete sich um, trank seinen Tee und eilte nach Sadlers Wells. Es war keine Zeit zu verlieren (denn die Erscheinung der Dartford Bläulinge stand fest), wenn er noch mehr Exemplare erlangen wollte; sobald daher Pantomime und Abendessen beendet waren, marschierte er abermals nach Dartford ab, fing diesesmal vier Dutzend Bläulinge, spießte sie kunstgerecht auf, war um vier Uhr nachmittags wieder zu Hause und zur gehörigen Zeit auf dem Theater. Allein die notwendige Anzahl Bläulinge war noch nicht gefangen; er freute sich zu hören, daß die Pantomime zuerst gespielt werden sollte, konnte daher London schon um neun verlassen, erreichte Dartford um ein Uhr, aß, und legte sich ermüdet zu Bett. Der folgende Tag war ein Sonntag, er brauchte daher nicht nach der Stadt zurückzukehren, fing im Laufe des Morgens mehr Bläulinge, als er bedurfte, und brachte den Mittag und Nachmittag vergnüglich bei dem Freunde zu. Am Montag-Morgen stand er früh auf und hatte um Mittag seine Rolle, nachdem er der Probe beigewohnt, vollkommen inne.

Wir können annehmen, daß Grimaldi durch diese und ähnliche Bestrebungen, bei Mäßigkeit und Nüchternheit, einen großen Teil jener Körperkraft und Gewandtheit erlangte, ohne welche er es in seiner Kunst nicht so weit gebracht haben würde. Indes war seine Liebe zur Entomologie nicht der einzige Beweggrund bei seinen Ausflügen nach Dartford; ein anderer, stark wirkender war der, daß er »einer der liebenswürdigsten Frauen ihrer Zeit« – der unglücklichen Mrs. Jordan,10 welche damals beim Drury Lane-Theater engagiert war, eine kleine Insekten-Sammlung versprochen hatte.

Einst trug er während einer Vormittags-Probe eine Schachtel mit Insekten unter dem Arme. Mrs. Jordan neugierig zu wissen, was darin wäre, verlor sie nicht aus den Augen, fragte endlich, was sie Artiges enthielte, und seine Antwort bestand darin, daß er die Schachtel öffnete und ihr die Insekten zeigte. Er sagte nicht, ob es Dartford-Bläulinge gewesen, wohl aber, daß er große Geschicklichkeit, sie wohl zu erhalten und zu ordnen, besessen, und daß er die ganze Mühe aus ehrerbietiger Galanterie gegen die einnehmendste Dame ihrer Zeit übernommen und derselben, nach zuvor erhaltener Erlaubnis, am ersten Tage der neuen Saison und nachdem sie die Probe der Rosalinde in »Wie es Euch gefällt« beendigt, zwei Rahmen mit Insekten überreicht habe; daß Mrs. Jordan (und er selbst wenigstens ebenso sehr) entzückt gewesen, die Rahmen in ihrem Wagen mit nach Hause genommen und sein Herz durch die Mitteilung erfreut habe, daß seine Königliche Hoheit, der Herzog von Clarence, die Insekten so schön, wo nicht schöner gefunden, als irgend etwas der Art, das er jemals gesehen.

Sein einziger Begleiter, außer dem Dartforder Freunde, bei diesen Ausflügen war Nobert Gomery, oder »Freund Bob«, wie er von seinen näheren Bekannten genannt wurde, zu jener Zeit Schauspieler beim Sadlers Wells-Theater, und später während vieler Jahre ein Liebling des Publikums in den kleineren Theatern der Hauptstadt. Er lebt oder lebte wenigstens bis vor kurzem von seinem Gelde in Bath. Grimaldi hatte ein kleines Abenteuer mit ihm, das er mit großem Vergnügen zu erzählen pflegte.

Er war eines Tages mit Freund Bob vom frühen Morgen bis an den Abend auf der Insektenjagd gewesen, und sie hatten an nichts anderes gedacht.

»Bob,« sagte Grimaldi endlich, »ich bin sehr hungrig.«

»Ich auch,« erwiderte Bob.

»Da ist ein Wirtshaus,« bemerkte Grimaldi.

»Kommt uns gerade recht,« sagte Nobert Gomery.

Grimaldi war dessen minder gewiß. Es war ein sehr gutes Gasthaus, allein er hatte kein Geld, und zweifelte auch stark, ob sein Freund damit versehen wäre.

»Laß uns hineingehen,« fuhr Bob fort. »Es wird spät – Du bezahlst.«

»Nein, nein; Du!«

»Ich würde es gern tun, habe aber kein Geld bei mir.«

Grimaldi griff mit einem seiner lächerlichsten Gesichter erst in die rechte, dann in die linke, dann in die Rock- und die Westen-Taschen, nahm zuletzt den Hut ab und schaute hinein, allein nirgend wollte sich Geld finden.

Sie näherten sich inzwischen dem Gasthause, und berieten äußerst niedergeschlagen mit sich selbst, als Grimaldi plötzlich unter einem Baume ein Geldstück erspähte, es aufhob und unter vielen pantomimischen Freuden-Bezeugungen ausrief: »Ein Sixpence, ein Sixpence!«

Die Mienen des hungrigen Freundes erheiterten sich, nahmen jedoch bald wieder ihren trübseligen Ausdruck an. »Es ist ein Stück Blech,« sagte er.

Grimaldi rieb und beschaute den Fund um und um, und behauptete das Gegenteil. Der Freund drückte kopfschüttelnd fortwährend Zweifel aus.

»Ich will Dir etwas sagen,« entgegnete Grimaldi, »wir wollen hineingehen und den Wirt fragen. Diese Leute wissen dergleichen am besten.«

Bob stimmte bei; sie eilten weiter, und hörten nicht auf zu streiten, ob der Fund ein Stück Geld, oder ein Stück Blech wäre. Das Geld war zu jener Zeit so abgegriffen, daß über eine Frage dieser Art allerdings Zweifel obwalten konnten.

Der Wirt, ein munterer beleibter Mann, stand vor der Tür und sprach mit jemand. Das Haus sah so einladend aus, daß sich Gomery, als sie bis auf wenige Schritte herangekommen waren, nicht enthalten konnte, Grimaldi zuzuflüstern, es möchte das beste sein, daß sie sich vor allen Dingen Brot und Käse geben ließen und dann erst die große Frage an den Wirt richteten.

Grimaldi nickte ihm Billigung zu, sie gingen hinein und forderten Brot, Käse und einen Trunk Bier. Sobald sie die ungestümsten Forderungen ihres Hungers befriedigt hatten, bedienten sie sich eines Hellers, den Grimaldi noch in einer seiner Taschen entdeckt, um nach »Schrift oder Bild« entscheiden zu lassen, wer den Sixpence vorzeigen sollte. Das Los traf Grimaldi; er trat gravitätisch zu dem Wirte, legte die zweifelhafte Münze mit seiner ganzen eigentümlichen Würde vor ihm auf den Tisch und forderte ihn auf, sich davon bezahlt zu machen.

»Ganz recht, Sir,« sagte der Wirt, nach der wunderbaren Miene, die Grimaldi angenommen, statt nach dem Sixpence zu sehen.

»Ist es auch recht, Sir?« fragte Grimaldi.

»Allerdings, ich danke Ihnen, meine Herren,« erwiderte der Wirt und steckte die Münze, oder was es sonst war, in die Tasche.

Gomery sah Grimaldi an, und Grimaldi ging mit einer Miene und einem schlechterdings unbeschreiblichen Wesen, gefolgt von seinem Freunde, aus dem Hause hinaus.

»Solch ein Glück ist mir noch niemals begegnet,« sagte er. »Der Sixpence war eine wahrhaftige Gottesgabe.«

»Das Blechstück willst Du sagen,« bemerkte Gomery.

Ob der Fund das eine oder andere war, ist ungewiß, allein Grimaldi besuchte dasselbe Gasthaus späterhin noch öfter, und da der Sache nicht wieder erwähnt wurde, so hielt er sich vollkommen überzeugt, daß es ein guter wirklicher Sixpence gewesen sei.

Anfangs 1794 bezog er mit seiner Mutter ein sechs Zimmer enthaltendes Haus in Penton Place, Pentonville, mit einem Garten. Sie überließen einige der Zimmer einem Mr. Lewis und dessen Frau, welche in Sadlers Wells engagiert waren, lebten so drei Jahre. Da Grimaldi’s Gehalt eine Steigerung erfahren hatte, so fing er an, sich als vollkommen unabhängig zu betrachten. Zu Ostern nahmen die Vorstellungen in Sadlers Wells wie gewöhnlich ihren Anfang. Er machte Furore in einer neuen Rolle, und sein Ruf nahm rasch bedeutend zu. Er knüpfte zu dieser Zeit eine neue Bekanntschaft an, die für viele Jahre einen wesentlichen Einfluß auf sein Lebensglück gewann. Es ging damit folgendermaßen zu.

Wenn Probe in Sadlers Wells war, pflegte seine, bei dem dortigen Theater gleich ihm selbst engagierte Mutter den ganzen Tag im Schauspielhause zuzubringen, im Ankleidezimmer zu essen und sich mit Nähtereien zu beschäftigen. Sie hatte dies angefangen, weil die Great-Wildstraße von Sadlers Wells sehr weit entfernt war, und als sie in Penton Place dem Schauspielhause so viel näher wohnte, setzte sie es fort, weil sie sich einmal daran gewöhnt hatte. Mr. Hughes, der zu dieser Zeit Haupteigentümer des Theaters geworden war und ein anstoßendes Haus bewohnte, hatte mehrere Kinder. Das älteste derselben war eine Tochter. Miß Maria Hughes war eine ausgezeichnete junge Dame. Sie hatte immer sehr viel von Grimaldi’s Mutter gehalten und benutzte jede Gelegenheit, in ihrer Gesellschaft zu sein; sie pflegte bei ihr von drei oder vier bis sechs Uhr, mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt, im Ankleidezimmer zu verweilen, und ging, wenn die anderen beim Theater engagierten Frauenzimmer sich einstellten. Grimaldi pflegte sich zwischen vier und fünf Uhr einzufinden, trank zur letztgenannten Stunde den Tee mit seiner Mutter und blieb ebenso lange wie sie. So entstand zwischen ihm und Miß Hughes eine genauere Bekanntschaft, die allmählich wärmere Gefühle erweckte.

Den folgenden Tag, nachdem er in seiner neuen Rolle so großen Beifall geerntet, begab er sich wie gewöhnlich in das Ankleidezimmer, wo ihn seine Hausbewohnerin, Mrs. Lewis, die Garderobemeisterin, die zufällig anwesend war, mit Lobsprüchen überhäufte. Miß Hughes war gleichfalls zugegen, sagte aber lange Zeit nichts, und Grimaldi hörte so ungeduldig, als er konnte, Mrs. Lewis zu. Er hätte Miß Hughes lieber eine Minute, als die letztere eine Stunde reden hören. Endlich schwieg sie, um Atem zu schöpfen, wie die besten Redner von Zeit zu Zeit nicht umhin können, und nun blickte Miß Hughes auf und sagte mit einigem Stocken, Mr. Grimaldi hätte ihrer Meinung nach die Rolle außerordentlich gut gespielt, so gut, daß es ihm sicher niemand gleich tun könnte.

Grimaldi hatte auf dem Wege nach Sadlers Wells die Sache überlegt und beschlossen, wenn Miß Hughes sein Spiel loben würde, mit einer feinen und wohlgesetzten Schmeichelei zu erwidern, die eine Andeutung auf den Zustand seiner Gefühle enthielte. Er hatte mehrere ausgesonnen, vermochte aber, sobald ihm Miß Hughes ihr Lob ausgesprochen, kein Wort hervorzubringen, errötete stark, nahm eine sehr spaßhafte Miene an, fühlte sich äußerst verlegen, machte endlich eine ungeschickte Verbeugung und ging nach der Tür, um sich zu entfernen.

Es war sechs Uhr, und die Damen traten eben herein. Er war stets eine Art Liebling derselben gewesen, und ein paar der lebhaftesten und mutwilligsten – deren einige es in fast allen Schauspielerinnen – wie anderen Gesellschaften gibt – lobten zuerst sein Spiel und zogen ihn sodann mit einem anderen Gegenstande auf.

»Joe ist so unendlich beliebt geworden,« sagte die eine, »daß er sich nach einem Liebchen umsehen sollte.«

Hier blickte Joe nach Miß Hughes, und errötete noch weit stärker. »Sehr wahr,« fiel die zweite ein. »Was sagen Sie zu einer von uns, Joe?«

Joe wurde so betreten, daß sein Aussehen ein allgemeines Gelächter erregte.

»Wenn ich nicht sehr irre, meine Damen,« nahm Mrs. Lewis das Wort, »so hat Joe bereits ein Liebchen.«

Eine andere Dame sagte, sie wisse bestimmt, daß er deren zwei, noch eine andere, daß er deren drei hätte, und so fort. Er stand unterdessen mit gesenkten Blicken fast außer sich vor Unruhe und Verdruß da, zu denken, daß Miß Hughes diese Anklagen hörte und ihnen vielleicht gar Glauben schenkte.

Er eilte endlich hinaus, überlegte noch reiflicher, und gelangte bald zu dem Schlusse, daß Mr. Hughes‘ schöne Tochter einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Herz gemacht habe und daß er gar nicht heiraten möchte, wenn sie ihn nicht erhörte, in welchem Falle er für immer unglücklich sein würde; anderer ähnlichen Folgerungen nicht zu gedenken, wie sie von jungen Leuten aus gleichen Vorsätzen gezogen zu werden pflegen. Mehrfache Sorgen und Befürchtungen begleiteten jedoch die Entdeckung. Der gewünschten Verbindung schien sich in seinen und der Dame so verschiedenen Verhältnissen ein fast unüberwindliches Hindernis entgegenzustellen; er hatte keinen Grund zu glauben, daß Miß Hughes andere Gefühle für ihn hege, als solche, die sie gegen den Sohn einer Freundin, welche sie schon lange gekannt hatte, zu unterhalten geneigt sein möchte. Diese Betrachtungen machten ihn so unglücklich, als der leidenschaftliche Liebhaber zu sein wünschen konnte. Er aß wenig, trank wenig, schlief noch weniger, verlor seine heitere Laune und ließ mit einem Worte eine große Menge von Krankheitsanzeichen blicken, dergleichen unter allen Umständen bedenklich gewesen sein würden, es aber besonders bei einem Patienten waren, bei welchem die Erfüllung seiner schwachen Hoffnungen hauptsächlich davon abhing, daß er sich seine humoristische heitere Laune bewahrte.

  1. In den Pantomimen treten Harlequin und der Clown bisweilen zuerst als Handwerker oder Geschäftsleute irgend einer Art auf, z. B. als Bäcker und Bäckergesell. In dieser Rolle war Grimaldi äußerst komisch, wenn die Pasteten und Puddinge zum Backen gebracht wurden, und er dann von allen ein wenig stipitzte, wie es den Bäckern nachgesagt wird.
  2. Sehr bekanntgeworden besonders durch ihre merkwürdigen, nicht eben geheim gebliebenen Verhältnisse zu einer hohen Person. Die war eine unnachahmliche komische Schauspielerin, hatte eine wohlklingende Stimme und anmutvolle Manieren, obwohl ihre Redeweise bisweilen unfein war. Sie hatte dreizehn erwachsene Kinder, wohnte kurz vor ihrem Tode in Cadogan-Place (s. Nicklebys Schicksale – Mr. und Mrs. Wititterly), und sah sich genötigt, das Land zu meiden, um Gläubigern zu entfliehen. Sie starb in nichts weniger als glänzenden Umständen in St. Omers. Die Kosten ihrer Beerdigung mußten durch Subskription gedeckt werden.

65. Kapitel


65. Kapitel

Ein neues Leben

Die Session hatte begonnen, und mein Vormund erhielt die Meldung von Mr. Kenge, daß sein Prozeß übermorgen zur Verhandlung kommen würde. Da ich sehr gespannt war, wie die Sache ausfallen würde, kamen Allan und ich überein, an dem bestimmten Vormittag hinzugehen. Richard war außerordentlich aufgeregt und so schwach und matt, obgleich sich immer noch keine körperliche Krankheit an ihm nachweisen ließ, daß meine gute Ada der Unterstützung gar sehr bedurfte. Aber sie hoffte auf die Hilfe, die ihr jetzt binnen so kurzem in Aussicht stand, und ließ nie den Mut sinken.

Die Tagfahrt sollte in Westminster abgehalten werden. Der Prozeß war dort wohl schon hundert Mal verhandelt worden, aber ich konnte mich nicht von dem Gedanken befreien, daß es dies Mal zu einem Resultat kommen müßte. Wir eilten gleich nach dem Frühstück fort, um rechtzeitig nach der Westminsterhall zu gelangen, und gingen Arm in Arm – wie glücklich und seltsam es doch war! – durch die lebhaften Straßen dorthin.

Wir besprachen gerade, was wir für Richard und Ada tun könnten, da hörte ich jemanden rufen: »Esther! liebe Esther! Esther!« Und ich sah Caddy Jellyby, wie sie mir mit dem Kopf so lebhaft aus dem kleinen Wagen winkte, den sie in letzter Zeit gemietet hatte, um damit zu ihren Schülern zu fahren, deren sie jetzt eine große Anzahl hatte, als ob sie mich aus hundert Schritt Entfernung umarmen wollte.

Ich hatte ihr in einem Briefe alles erzählt, was mein Vormund getan, aber keinen Augenblick Zeit gefunden, sie zu besuchen. Natürlich kehrten wir um, und das herzensgute Kind war so entzückt und freute sich so sehr, von dem Abend sprechen zu können, wo sie mir die Blumen brachte, und war so sehr darauf erpicht, mein Gesicht – samt dem Hute – zwischen ihren Händen zu drücken und sich ganz wie außer sich zu benehmen und mir allerlei Kosenamen zu geben und Allan zu sagen, ich hätte, ich wisse gar nicht, was alles, für sie getan, daß ich mich durchaus einen Augenblick in den Wagen hineinsetzen und sie beruhigen mußte, indem ich ihre Zärtlichkeit über mich ergehen ließ. Endlich mußten wir aber doch gehen – die Zeit drängte –, und Caddy blickte uns aus dem Kutschenfenster nach, solange sie uns sehen konnte.

Dadurch verspäteten wir uns etwa eine Viertelstunde, und als wir die Westminsterhall erreichten, hatte die Verhandlung schon angefangen. Überdies war im Kanzleigericht ein so ungewöhnliches Gedränge, daß die Menschen bis an der Tür standen und wir weder hören noch sehen konnten, was drin vorging. Es schien etwas Komisches zu sein, denn dann und wann hörte man ein Lachen und den Ruf: Ruhe! Auch etwas Interessanteres als gewöhnlich, denn alles stieß sich und drängte vorwärts. Daß es etwas sein mußte, was den Herren vom Fach sehr spaßhaft vorkam, ersahen wir daraus, daß verschiedne junge Advokaten mit Perücken und Backenbärten, die abseits vom Gedränge standen, sich, während einer von ihnen die Sache erzählte, mit den Händen in die Taschen fuhren und sich geradezu vor Lachen krümmten und, mit den Füßen stampfend, in der Halle herumliefen.

Wir fragten einen Herrn in unsrer Nähe, ob er wisse, was für ein Prozeß verhandelt werde? Er sagte uns: »Jarndyce kontra Jarndyce.« Und ob er wüßte, wie die Sache stehe? Er sagte nein, das habe noch niemand gewußt, aber soviel er aus allem entnehmen könne, sei es vorbei damit.

»Vorbei für heute?« fragten wir.

»Nein«, sagte er, »vorbei für immer.«

Vorbei für immer!

Als wir diese überraschende Antwort hörten, sahen wir uns sprachlos vor Erstaunen an. Konnte es wirklich möglich sein, daß das neuaufgefundene Testament alles in Ordnung gebracht haben sollte und daß Richard und Ada jetzt reich seien? Es schien zu gut, um wahr zu sein. Und doch mußte es so sein.

Wir hatten nicht lange zu warten, denn das Gedränge geriet bald in Bewegung, und die Leute kamen mit roten erhitzten Gesichtern, mit einer förmlichen Wolke verdorbener Luft umgeben, herausgeströmt. Sie waren immer noch sehr lustig, wie Leute, die aus eine Komödie oder von einem Taschenspieler kommen, und nicht aus einem Gerichtshof. Wir traten beiseite und warteten, ob nicht ein Bekannter darunter wäre, und sahen, wie große Pakete Akten herausgetragen wurden, Pakete in Beuteln – Bündel, zu groß, um sie in Beutel zu stecken –, unermeßliche Papiermassen, zusammengeschnürt oder lose, unter deren Gewicht die Diener wankten und die sie vorläufig aufs Geratewohl aufs Pflaster der Halle warfen, wenn sie wieder hineingingen, um immer noch neue zu holen. Auch die Diener lachten. Wir warfen einen Blick auf die Bündel, und da wir überall »Jarndyce kontra Jarndyce« lasen, fragten wir einen wie eine Amtsperson aussehenden Mann, der mitten unter ihnen stand, ob der Prozeß aus sei. »Ja«, sagte er, »endlich hat er ein Ende gefunden!« und fing auch an zu lachen.

Endlich sahen wir Mr. Kenge, leutselig und würdevoll, aus dem Gericht kommen und Mr. Vholes zuhören, der sehr ehrerbietig auf ihn einsprach und seine Aktenmappe unter dem Arm trug. Mr. Vholes erblickte uns zuerst. »Hier ist Miß Summerson, Sir«, sagte er. »Und Mr. Woodcourt.«

»Was seh ich! Ja. Wahrhaftig!« rief Mr. Kenge und zog vor mir mit der größten Höflichkeit den Hut. »Wie steht das werte Befinden? Freut mich außerordentlich, Sie zu sehen. Mr. Jarndyce ist nicht hier?«

»Nein. Er kommt nie hierher«, erinnerte ich ihn.

»Nun«, sagte Mr. Kenge, »es ist vielleicht gut, daß er heute nicht hier ist, denn seine – soll ich in meines werten Freundes Abwesenheit sagen, seine hartnäckig verfochtene Ansicht? – wäre – wenn auch nicht mit Recht – heute bestärkt worden.«

»Bitte, was ist denn eigentlich geschehen?« fragte Allan.

»Ich bitte um Verzeihung, wie meinen?« fragte Mr. Kenge mit ausnehmender Höflichkeit.

»Was heute geschehen ist?«

»Was geschehen ist?« wiederholte Mr. Kenge. »Ja so. Hm. Nun, nichts Besonderes; hm, nichts Besonderes. Wir sind zu einem Stillstand gekommen – zu einem plötzlichen Stillstand auf der – wie soll ich sagen – auf der… Soll ich es – Schwelle nennen?«

»Ist das Testament als echt anerkannt, Sir?« fragte Allan. »Möchten Sie uns nicht wenigstens das sagen?«

»Gewiß würde ich das tun, wenn ich könnte«, sagte Mr. Kenge, »aber wir sind der Sache nicht weiter nachgegangen, nicht weiter nachgegangen.«

»Nicht weiter nachgegangen«, wiederholte Mr. Vholes mit seiner gedämpften Bauchrednerstimme wie ein fernes Echo.

»Sie müssen bedenken, Mr. Woodcourt«, bemerkte Mr. Kenge und schwenkte überredend und besänftigend seine silberne Kelle, »daß dies ein großer Prozeß, ein langer Prozeß, ein verwickelter Prozeß gewesen ist. Man hat ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ nicht mit Unrecht ein Denkmal der Kanzleigerichtspraxis genannt.«

»Und die Geduld hat lange darauf als Statue gesessen«, sagte Allan.

»Wahrhaftig, sehr gut, Sir«, entgegnete Mr. Kenge mit dem herablassenden Lächeln, das ihm eigen war. »Sehr gut! – Sie müssen ferner bedenken, Mr. Woodcourt«, – er wurde würdevoll bis zur Strenge – »daß auf die zahlreichen Schwierigkeiten, Zwischenfälle, meisterhaften Fiktionen und Einzelstadien in diesem großen Prozeß Studium, Geschicklichkeit, Beredsamkeit, Kenntnis und Geist, viel Geist, Mr. Woodcourt, verwendet worden sind. Viele Jahre lang hat ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ die – äh –, ich möchte sagen, die Blüte des Advokatenstandes – und die –äh –, ich möchte mir hinzuzusetzen erlauben, die gereiften herbstlichen Früchte des richterlichen Oberhauses in Anspruch genommen. Wenn die Allgemeinheit daraus Nutzen zieht und der Staat den Ruhm dieses großartigen Zusammenwirkens von geistigen Eigenschaften, so muß dafür bezahlt werden, Sir, in Geld oder Geldeswert.«

»Mr. Kenge«, sagte Allan, dem jetzt auf einmal ein Licht aufzugehen schien, »entschuldigen Sie mich, aber unsre Zeit ist gemessen. Wollen Sie damit sagen, daß die ganze Hinterlassenschaft in Kosten aufgeht?«

»Hm! Ich glaube«, entgegnete Mr. Kenge. – »Mr. Vholes, was meinen Sie?«

»Ich glaube auch«, bestätigte Mr. Vholes.

»Und daß auf diese Weise der Prozeß sozusagen in Rauch aufgeht?«

»Wahrscheinlich«, entgegnete Mr. Kenge. – »Mr. Vholes?«

»Wahrscheinlich«, sagte Mr. Vholes.

»Liebste Esther«, flüsterte mir Allan zu, »das bricht Richard das Herz.«

In seinem Gesicht drückte sich ein so plötzlicher Schrecken aus, und er kannte Richard so durch und durch, und auch ich hatte seinen allmählichen geistigen Verfall so deutlich bemerkt, daß mir die Worte, die meine Ada mit dem vorausahnenden Blick der Liebe zu mir gesprochen hatte, wie ein Totengeläute in den Ohren klangen.

»Im Falle Sie Mr. C. zu sehen wünschen sollten, Sir«, sagte Mr. Vholes, der hinter uns herkam, »so finden Sie ihn im Gerichtssaal. Ich ließ ihn dort, weil er ein wenig ruhen wollte. Guten Tag, Sir; guten Tag, Miß Summerson.« Wie er mich mit seinem langsam verzehrenden Blick ansah und dabei die Schnüre seines Aktenbeutels zusammendrehte, bevor er Mr. Kenge nacheilte, von dessen wohlwollendem Schatten er sich nicht gern zu trennen schien, schnappte er ein Mal, als schlänge er damit den letzten Bissen dieses Klienten hinunter. Dann glitt seine schwarze, zugeknöpfte, widerwärtige Gestalt hinweg nach der niedrigen Tür am Ende der Halle.

»Liebes Herz«, sagte Allan, »überlaß mir auf eine kleine Weile den, den du mir so lange anvertraut hast. Geh und melde alles zu Hause und komm dann zu Ada!«

Ich ließ ihn nicht erst einen Wagen holen, sondern bat ihn, ohne einen Augenblick Verzug Richard aufzusuchen und mich allein gehen zu lassen. Zu Hause angekommen, fand ich meinen Vormund vor und berichtete ihm schonend, was vorgefallen war.

»Kleines Frauchen«, sagte er, seinetwegen nicht im geringsten bekümmert, »den Prozeß endlich vom Halse zu haben, ist ein segensreicheres Resultat, als ich erwartet hätte. Aber das arme, arme junge Paar!«

Wir sprachen den ganzen Vormittag von Ada und Richard und berieten, was wir für sie tun könnten. Dann begleitete mich mein Vormund nach Symond’s-Inn und verließ mich an der Haustür. Ich ging hinauf. Als mein Liebling mich kommen hörte, kam sie auf den schmalen Gang heraus und warf sich an meine Brust; aber gleich faßte sie sich wieder und sagte mir, daß Richard mehrmals nach mir gefragt hätte. Wie sie mir erzählte, hatte ihn Allan in einer Ecke des Gerichtssaales sitzen gefunden, starr wie ein Steinbild. Als er ihn aus seinem Grübeln weckte, war er aufgesprungen und hatte eine Bewegung gemacht, als wollte er voll Zorn sich gegen die Richter wenden, aber ein Blutsturz hatte ihn daran gehindert, und er mußte nach Hause gebracht werden.

Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa, als ich eintrat. Medizinflaschen standen auf dem Tisch, das Zimmer war so luftig wie möglich gemacht und verdunkelt, sauber aufgeräumt und still. Allan stand hinter dem Kranken und beobachtete ernst sein Gesicht, in dem keine Spur von Farbe mehr war. Jetzt erst erkannte ich genau, wie hinfällig er war. Aber sein Gesicht war friedlicher, schöner, als ich es seit langem gesehen.

Ich setzte mich stumm neben ihn. Bald darauf schlug er die Augen auf und sagte mit schwacher Stimme und seinem alten Lächeln: »Mütterchen Durden, küssen Sie mich!«

Es war mir ein großer Trost, ihn in seinem geschwächten Zustande heiter und hoffnungsvoll zu sehen. Er sagte, unsre bevorstehende Heirat mache ihn glücklicher, als er mit Worten ausdrücken könne. Mein Bräutigam sei für ihn und für Ada ein Schutzengel gewesen, und er segne uns beide und wünsche uns alles Glück, das das Leben nur gewähren könnte.

Es war mir, als müsse mir das Herz brechen, als ich ihn Allans Hand ergreifen und an seine Brust drücken sah.

Wir sprachen so viel wie möglich von der Zukunft, und er sagte mehrere Male, daß er bei unsrer Hochzeit sein müsse, wenn er sich auf den Füßen halten könnte. Ada würde ihn schon irgendwie hinbringen, hoffte er. »Aber selbstverständlich, liebster Richard!« tröstete sie ihn. Aber wie sie ihm so hoffnungsvoll, so heiter und innig antwortete, aufrecht erhalten von der Hoffnung auf die Hilfe, von der sie zu mir gesprochen, da wußte ich, wie alles kommen werde.

Er durfte nicht zuviel sprechen; und wenn er schwieg, schwiegen wir ebenfalls. Wie ich neben ihm saß, tat ich, als ob ich etwas für mein Herzenskind arbeitete, da es ihm immer Spaß gemacht hatte, mich wegen meines Fleißes zu necken. Ada beugte sich über sein Kissen und hielt sein Haupt in ihrem Arme. Er fiel von Zeit zu Zeit in einen Halbschlummer; und so oft er aufwachte, war seine erste Frage: »Wo ist Woodcourt«, wenn er ihn nicht gleich sah.

Es war Abend geworden, als ich aufblickte und meinen Vormund in dem kleinen Vorzimmer stehen sah. »Wer ist da, Mütterchen Durden?« fragte mich Richard. Die Tür befand sich hinter ihm, aber er hatte es in meinem Gesicht gelesen, daß jemand da war.

Ich fragte Allan mit den Augen, und da er ein Ja nickte, beugte ich mich über Richard und sagte es ihm. Mein Vormund sah, was vorging, trat leise an mich heran und legte seine Hand auf Richards Hand.

»Ach, Vetter«, flüsterte Richard, »du bist so gut, so gut!« und brach zum ersten Mal in Tränen aus.

Mein Vormund, das Bild eines guten Menschen, nahm auf meinem Stuhle Platz und ließ seine Hand in Richards Hand ruhen.

»Lieber Rick«, sagte er, »die Wolken haben sich verzogen und es ist heller Tag geworden. Wir gingen alle irre, Rick, mehr oder weniger. Was liegt daran!… Und wie geht es dir, lieber Richard?«

»Ich bin sehr schwach, Vetter, aber ich hoffe, ich werde bald wieder zu Kräften kommen. Jetzt heißt es ein neues Leben beginnen.«

»Recht so, Rick.«

»Diesmal werde ich es nicht in der alten Weise anfangen«, sagte Richard mit einem trüben Lächeln. »Ich habe jetzt eine Lehre erhalten, Vetter. Es war eine harte Lehre, aber du kannst versichert sein, daß ich sie nicht vergessen werde.«

»Schon gut«, tröstete ihn mein Vormund. »Schon gut, lieber Junge!«

»Ich dachte mir eben, Vetter«, fing Richard wieder an, »daß ich nichts auf Erden so gern sehen würde als – Mütterchen Durdens und Woodcourts Haus. Wenn ich dorthin gebracht werden könnte, sobald ich wieder mehr Kraft habe, glaube ich, ich würde dort früher genesen als anderswo.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, Rick!« sagte mein Vormund. »Und unser kleines Frauchen auch; sie und ich haben erst heute darüber gesprochen. Ich glaube nicht, daß ihr Bräutigam etwas dawider haben wird. Was meinen Sie, Woodcourt?«

Richard lächelte und erhob den Arm und tastete nach Allan, der hinter ihm zu Häupten seines Bettes stand.

»Ich sage nichts von Ada, aber ich denke an sie und habe sehr viel an sie gedacht. Sieh her! Sieh her, wie sie sich so sorgsam über das Kissen beugt, wo sie doch selbst der Ruhe so dringend bedarf! Meine heißgeliebte, meine arme Ada!« Er schloß sie in seine Arme, und keines von uns sprach ein Wort. Allmählich ließ er sie los, und sie sah uns an, blickte hinauf zum Himmel und bewegte die Lippen.

»Wenn ich nach Bleakhaus komme«, flüsterte Richard, »werde ich dir viel zu erzählen haben, und wir müssen vieles besprechen. Du kommst, nicht wahr, Vetter?«

»Sei überzeugt, lieber Rick.«

»Ich danke dir. So bist du immer. Immer. Sie haben mir erzählt, was du alles für sie getan, und daß du nicht die kleinste ihrer Lieblingsgewohnheiten außer acht gelassen hast. Es wird mir sein, als ob ich wieder das alte Bleakhaus besuchte.«

»Und auch dorthin wirst du kommen, hoffe ich, lieber Rick. Ich bin jetzt ein alleinstehender Mann, wie du weißt, und ein Besuch wird mir eine Wohltat sein. Eine Wohltat, meine Liebe«, wiederholte er, zu Ada gewendet, streichelte sanft ihr goldenes Haar und drückte eine Locke davon an seine Lippen. Ich ahnte, daß er innerlich gelobte, sich ihrer anzunehmen, wenn sie allein zurückblieb.

»Nicht wahr, es war nur ein böser Traum?« sagte Richard und faßte bittend meines Vormundes beide Hände.

»Nichts sonst, Rick; nichts sonst.«

»Und du kannst in deiner Güte dem Träumer wirklich verzeihen, ihn bemitleiden und nachsichtig zu ihm sein und ihm Mut zusprechen, jetzt, wo er erwacht ist?«

»Gewiß, mein lieber Junge. Bin ich denn nicht selbst nur ein Träumer, Rick?«

»Ich will ein neues Leben anfangen«, sagte Richard, und seine Augen leuchteten.

Allan trat näher an Ada heran, und ich sah, wie er feierlich die Hand erhob, um meinen Vormund vorzubereiten.

»Wann werde ich diesen Ort hier mit dem schönen Lande vertauschen und die alten Zeiten wieder vor mir sehen und Kraft genug haben, zu sagen, was Ada mir gewesen ist, und imstande sein, meine vielen Fehler und meine Verblendung wieder gut zu machen und mich vorbereiten können, meinem Kind ein Führer zu sein?« sagte Richard. »Wann glaubst du, kann ich reisen?«

»Lieber Rick, sowie wir wieder ein wenig bei Kräften sind«, entgegnete mein Vormund.

»Ada, meine Herzens-Ada.« Er versuchte sich ein wenig zu erheben. Allan kam seinem Wunsch zuvor und hob ihn so, daß er seinen Kopf an ihre Brust legen konnte.

»Ich habe dir viel Leid zugefügt, mein Alles. Ich bin wie ein armer verirrter Schatten auf deinen Lebenspfad gefallen. Ich habe dich mit Armut und Sorgen vermählt und dein Vermögen vergeudet. Vergibst du mir, meine Ada, ehe ich ein neues Leben beginne?«

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, als sie sich niederbeugte, um ihn zu küssen.

Er ließ langsam sein Gesicht an ihre Brust sinken, schlang seine Arme fest um ihren Nacken und fing mit einem Abschiedsseufzer das neue Leben an. Das Leben, das über das Grab hinausreicht und alles irdische verwischt.

Abends spät, als alles still war, kam die arme verrückte Miß Flite weinend zu mir und sagte, daß sie allen ihren Vögeln die Freiheit geschenkt habe.

66. Kapitel


66. Kapitel

Unten in Lincolnshire

Ein Schweigen herrscht in diesen so anders gewordenen Tagen über Chesney Wold wie über einem Teil der Familiengeschichte. Das Gerücht geht, Sir Leicester habe sich die Verschwiegenheit der Leute erkauft, die sprechen könnten, wenn sie wollten, aber es ist eine flügellahme Geschichte, die nicht flügge werden kann, und ihr Lebensfunke ist bald erstorben. Nur soviel weiß man gewiß, daß die stolze Lady Dedlock im Mausoleum im Park ruht, wo sich dunkel die Bäume wölben und nachts die Eule durch den Wald schreit; aber von wo sie nach Hause gebracht worden, um unter den Echos dieses einsamen Ortes bestattet zu werden, und wie sie gestorben, das ist ein Geheimnis.

Einige von ihren alten Freundinnen, vorzüglich unter den Jungfrauen mit den Pfirsichwangen und den dürren Hälsen, sagten einmal, wie sie scherzend gespensterhaft mit großen Fächern spielten – wie Jungfrauen, die mit dem grimmen Tod kokettieren müssen, weil ihnen kein andrer Liebhaber treu geblieben –, gelegentlich, als die vornehme Welt sich versammelte, sie wunderten sich, daß die Asche der Dedlocks im Mausoleum sich niemals gegen die Entweihung durch Myladys Gesellschaft erhöbe. Aber die abgeschiedenen Dedlocks nehmen es sehr ruhig hin, und man hat nie von einem Protest von ihnen gehört.

Durch das Farnkraut in den Wegmulden und den Reitweg unter den Bäumen herauf nähert sich manchmal dieser einsamen Stelle der Schall von Hufschlägen. Dann erscheint Sir Leicester – gelähmt, gebeugt und fast blind, aber noch immer eine würdige achtunggebietende Erscheinung – im Sattel, und neben ihm reitet ein Mann mit Sehnen von Stahl dicht an seiner linken Hand. Und wenn sie eine gewisse Stelle vor der Tür des Mausoleums erreichen, bleibt Sir Leicesters Leibpferd von selbst stehen, und Sir Leicester entblößt schweigend das Haupt und wartet still einige Augenblicke, ehe sie weiter reiten.

Der Kampf mit dem kühnen Boythorn tobt immer noch, wenn auch mit Intervallen, und bald heiß und bald schläfrig, aufflackernd wie ein unstetes Feuer. Die Wahrheit ist, daß, als Sir Leicester krank nach Lincolnshire kam, Mr. Boythorn offen den Wunsch zeigte, sein Wegerecht aufzugeben und alles zu tun, was Sir Leicester wünschte; aber Sir Leicester, der dies für Mitleid mit seiner Krankheit oder seinem Unglück hielt, nahm es so übel auf und fühlte sich in seinem Stolz so verletzt, daß Mr. Boythorn sich in die Notwendigkeit versetzt sah, das nachbarliche Gebiet offen zu verletzen, um ihn wieder zu sich selbst zu bringen. So fährt daher Mr. Boythorn fort, furchtbare Drohungen an dem umstrittenen Wege anzuschlagen und, während der Vogel auf seinem Kopf sitzt, sich in dem Heiligtum seines Hauses in leidenschaftlichen Wutausbrüchen gegen Sir Leicester zu ergehen. Auch trotzt er ihm wie vor alters in der kleinen Kirche, indem er eine vollständige Unkenntnis der Anwesenheit seines Feindes zur Schau trägt. Aber man flüstert sich zu, daß er, wenn er sich gegen seinen Gegner am wildesten ausspricht, in Wirklichkeit am rücksichtsvollsten gegen ihn ist und daß Sir Leicester in seiner Würde als unversöhnlicher Feind wenig ahnt, wie sehr man ihm zu Gefallen lebt. Ebensowenig ahnt er, in wie enger Verbindung er und Mr. Boythorn durch die Schicksale zweier Schwestern gelitten haben; und sein Gegner, der es jetzt weiß, ist der letzte, der es ihm verraten würde. So wird also der Streit zur Befriedigung beider fortgesetzt.

In einem der Portiershäuser des Parks, in dem Häuschen, das man vom Fenster des Herrenhauses erblickt, wo zu jener Zeit, als das Wasser in Lincolnshire so hoch stand, Mylady das Kind des Parkwärters sah, wohnt jetzt der sehnige, stahlharte Mann, der ehemalige Kavallerist. Einige Reliquien von seinem alten Berufe her hängen an den Wänden; und sie hellpoliert zu erhalten, ist die Lieblingserholung eines kleinen, lahmen Mannes, den man immer bei den Ställen findet. Rastlos ist er vor Geschirrkammern tätig mit dem Polieren von Steigbügeln, Gebissen, Kinnketten, Geschirrteilen und allen andern irgendwie zu den Ställen gehörigen Sachen, die sich polieren lassen – und sein Leben ist ein fortwährendes Reiben und Putzen. Es ist ein kleiner, zottiger, mehrfach beschädigter Mann, nicht unähnlich einem alten schlechtrassigen Bastardhund, der sich viel in der Welt herumgeschlagen hat und auf den Namen Phil hört.

Ein erfreulicher Anblick ist es, die würdige alte Haushälterin, die jetzt noch schwerhöriger ist, am Arme ihres Sohnes in die Kirche gehen zu sehen und das Verhältnis zwischen ihnen und Sir Leicester zu beobachten. Allerdings haben nur wenige Gelegenheit dazu, denn das Haus sieht jetzt selten Gäste. In den heißen Sommertagen zuweilen kommt Besuch mit einem Regenschirm und einem grauen Mantel, der früher in Chesney Wold unbekannt war. Dann sieht man manchmal in abgelegenen Sägegruben und ähnlichen versteckten Winkeln des Parks zwei junge Damen herumspringen, und vor des Kavalleristen Tür kräuselt sich der Rauch zweier Pfeifen in die duftende Abendluft hinauf. Dann hört man von einer Querpfeife im Portierhäuschen die wilden begeisternden Klänge von Englands Grenadieren spielen; und wenn der Abend anbricht, sagt eine tiefe Baßstimme, während zwei Männer miteinander auf und abschreiten:

»Aber ich gebe es vor der Alten nie zu. Disziplin muß sein.«

Der Haupttrakt des Hauses ist zugeschlossen, und es wird nicht länger Fremden gezeigt, aber Sir Leicester hält auch jetzt noch Hof in dem langen Salon und ruht auf seinem alten Platze vor dem Bilde Myladys. Des Abends, von breiten Schirmen eingeschränkt und nur in diesem Teile des Hauses brennend, scheint das Licht des Salons immer mehr zusammenzuschrumpfen, bis es eines Tages ganz aufhören wird. Ja, binnen sehr kurzem wird es für Sir Leicester ganz verlöschen; und die dumpfige Pforte des Mausoleums, die so fest schließt und so hartherzig aussieht, wird sich auftun und ihn aufnehmen. – – –

Volumnia, die immer rosiger wird, je mehr die Zeit verrauscht, liest Sir Leicester an den langen Abenden vor und muß, um ihr Gähnen zu verbergen, ihre Zuflucht zu verschiedenen Kunstgriffen nehmen, deren vornehmster und wirksamster darin besteht, daß sie das Perlenhalsband zwischen ihre Blütenlippen nimmt. Hauptsächlich liest sie langatmige Abhandlungen über die Buffy- und Boodlefrage, die zeigen, daß Buffy ein unbefleckter Patriot und Boodle ein Schurke ist, und wie das Vaterland zugrunde gehen muß, wenn es nur für Boodle und nicht für Buffy stimmt, oder wie es gerettet werden kann, wenn es nur für Buffy und nicht für Boodle ist, denn einer von den beiden muß es sein, und andre kommen nicht in Betracht. Sir Leicester ist es ziemlich gleich, was sie vorliest, und er scheint ihr nicht sehr aufmerksam zu folgen, aber doch wird er auf der Stelle munter, sowie sie wagt, aufzuhören, und fragt, jedes Mal mit sonorer Stimme ihr letztes Wort wiederholend, verdrießlich, ob sie müde sei. Volumnia ist nun aber bei Gelegenheit ihres vogelartigen Herumhüpfens und Anpickens von Papieren auf die Notiz einer sie betreffenden Testamentsklausel gestoßen (im Fall ihrem Verwandten »etwas passieren sollte«), und solche Chancen vor Augen als Entschädigung für einen langen Vorlesekursus, nimmt sie sogar den Kampf mit dem Drachen Langeweile auf.

Die Vettern im allgemeinen fürchten sich ein wenig vor Chesney Wold in der stillen Zeit, wagen sich aber in der Jagdsaison heran, wo man dann Schüsse im Park hört und ein paar Treiber und Jagdgehilfen auf den alten Sammelplätzen auf zwei oder drei schwermütige Cousins warten. Der hinfällige Vetter, den die Eintönigkeit des Ortes immer gräßlicher mitnimmt, verfällt dann in eine schrecklich niedergedrückte Stimmung, stöhnt in seinen jagdfreien Stunden unter Sofakissen und beteuert, daß so ein –ah – höllischer oller Kerker – äh – Menschenleben kosten könne.

Die einzigen großen Lichtblicke für Volumnia in diesen veränderten Verhältnissen des Schlosses in Lincolnshire sind die seltenen Gelegenheiten, wo durch den Besuch eines öffentlichen Balles etwas für die Grafschaft oder das Vaterland getan werden muß. Dann zeigt sich die abgehetzte Sylphe in Feengestalt der Menschheit und fährt voller Freude unter vetterlicher Eskorte vierzehn lange Meilen weit nach dem alten Festlokale, das an dreihundertvierundsechzig Tagen und Nächten jedes Normaljahres eine Art antipodische Rumpelkammer voll auf den Kopf gestellter alter Tische und Stühle ist. Hier gewinnt sie alle Herzen durch ihre Leutseligkeit, ihre mädchenhafte Munterkeit und durch ihr Herumspringen, wie in den Tagen, wo der garstige alte General mit dem Prachtgebiß im Munde noch nicht einen einzigen der vierundsechzig falschen Zähne zu zwei Guineen das Stück sich hat einsetzen lassen müssen. Dann dreht und wirbelt sie als Hirtennymphe aus guter Familie durch das Gewühl der Tänzer, und die Schäfer nahen sich ihr mit Tee, Limonade, Sandwiches und Huldigungen. Dann kann sie freundlich und hartherzig sein, stolz und anspruchslos, veränderlich, reizend und jugendlich launenhaft, und eine auffallende Ähnlichkeit herrscht zwischen ihr und den kleinen gläsernen Armleuchtern aus einem vergangenen Zeitalter, die das Festlokal zieren und mit ihren dünnen Stengeln, ihren spärlichen Knöspchen, ihren kahlen Verästelungen und ihrem schwachen prismatischen Schillern wie lauter Volumnias erscheinen.

Im übrigen ist das Leben in Lincolnshire für Volumnia wie die ungeheure Leere des übergroßen Hauses, mit Bäumen davor, die seufzend die Hände ringen, die Köpfe senken und in eintöniger Trauer ihre Tränen gegen die Fensterscheiben werfen. Ein feierliches Labyrinth, das nicht mehr den letzten Repräsentanten einer alten Familie von menschlichen Wesen und ihren gespensterhaften Ebenbildern zu gehören scheint, sondern bewohnt wird von hallenden Klängen, die bei jedem Ton aus ihren Gräbern hervorkommen und durch das ganze Gebäude schallen. Eine Einöde von unbenutzten Korridoren und Treppen, wo, wenn man nachts einen Kamm auf den Boden des Schlafzimmers fallen läßt, es wie ein verstohlener Tritt erkundend durch das Haus geht. Ein Haus, wo es nicht jedermanns Sache ist, allein herumzugehen, wo das Dienstmädchen aufschreit, wenn eine Schlacke durch den Rost schlurrt, sich angewöhnt, zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten zu weinen, schließlich das Opfer einer krankhaften Schwermut wird, kündigt und den Dienst verläßt.

So ist Chesney Wold.

Fast ganz der Nacht und der Leere überlassen, unverändert im strahlenden Sommer und im trüben Winter; immer düster und still. Kein Banner weht mehr bei Tage; und keine Lichterreihen glänzen mehr bei Nacht; keine Familie kommt oder geht mehr, keine Besucher sind mehr die Seelen der blassen kalten Zimmer, und kein Leben regt sich mehr in ihm. – Leidenschaft und Stolz sind selbst für das Auge des Fremden in dem Herrensitz in Lincolnshire erstorben und haben toter Ruhe Platz gemacht.

67. Kapitel


67. Kapitel

Der Schluß von Esthers Erzählung

Volle sieben glückliche Jahre bin ich Herrin von Bleakhaus gewesen. Die wenigen Worte, die ich dieser Niederschrift noch hinzuzufügen habe, sind bald geschrieben. Dann werde ich das Buch schließen und von den Freunden und Freundinnen, für die ich schreibe, für immer scheiden. Nicht ohne manche teure Rückerinnerung meinerseits, und nicht ohne so manche, hoffe ich, ihrerseits.

Sie legten mir meinen schönen Liebling ans Herz, und viele Wochen lang verließ ich meine liebe Ada auch nicht einen Tag. Der Säugling, auf den sie so viel Hoffnung gesetzt, kam zur Welt, ehe der Rasen seines Vaters Grab bedeckte. Es war ein Knabe; mein Mann, mein Vormund und ich gaben ihm den Namen Richard.

Die Hilfe, auf die meine liebe Ada so gebaut, wurde ihr zuteil, wenn auch von der ewigen Allweisheit zu einem andern Zweck bestimmt. Als ich sah, wie die kleine schwache Hand des Kindchens mit seiner Berührung das wunde Herz meiner lieben Ada genesen machte und wieder Hoffnung in ihr aufkeimen ließ, fühlte ich in einer neuen Bedeutung die Güte und Barmherzigkeit Gottes walten.

Allmählich sah ich meine Herzens-Ada in meinen ländlichen Garten kommen und dort, mit dem Kinde auf dem Arm, umherwandeln. Ich war nun verheiratet und die Glücklichste der Glücklichen.

Um jene Zeit kam mein Vormund zu uns und fragte Ada, wann sie zu ihm kommen würde.

»Beide Häuser sind jetzt dein Heim, mein Kind«, sagte er, »aber das ältere Bleakhaus hat den Vorrang. Wenn du und dein Knabe kräftig genug sind, kommt ihr und nehmt Besitz von ihm.«

Ada nannte ihn ihren lieben, teuern Vetter John; aber er bat sie, in ihm ihren Vormund zu sehen. Und er war von da an ihr und dem Knaben ein Vormund und fühlte sich glücklich, sich so nennen zu hören. So nannte sie ihn denn Vormund und hat ihn seitdem stets so genannt. Die Kinder kennen ihn unter keinem andern Namen – ich sage die Kinder, denn ich habe zwei kleine Töchter.

Es ist kaum zu glauben, daß Charley, die immer noch runde Augen macht und immer noch schwach in der Grammatik ist, mit einem Müller unsrer Gegend verheiratet ist, und doch ist es wahr. Selbst jetzt, in diesem Augenblick, wenn ich von meinem Schreibtisch im Morgensonnenschein zum Fenster hinausschaue, sehe ich, wie ihre Mühle zu gehen anfängt. Ich hoffe nur, der Müller verdirbt mir Charley nicht, denn er hat sie sehr gern. Charley ist etwas eitel seinetwegen, denn er hat sein gutes Auskommen, und es war ein großes Gereiße um ihn. Was die Erinnerung an die Zeit, wo sie meine kleine Zofe war, betrifft, so möchte ich fast meinen, daß die Zeit sieben Jahre lang ebenso still gestanden haben müßte wie die Mühle noch vor einer halben Stunde, denn die kleine Emma, Charleys Schwester, ist ganz ihr früheres Ebenbild. Wie weit es Tom, Charleys Bruder, in der Schule im Rechnen gebracht hat, wage ich nicht zu entscheiden, aber ich glaube, bis zu den Dezimalbrüchen. Aber wie weit es auch gewesen sein mag, jedenfalls ist er jetzt Lehrling bei dem Müller und ein guter, schüchterner Junge, der immer in irgendein Mädchen verliebt ist und sich jedes Mal mächtig darüber schämt.

Caddy Jellyby verlebte die eben verflossenen Feiertage bei uns und war liebenswürdiger als je. Beständig tanzte sie mit den Kindern im Hause herum, als ob sie nie in ihrem Leben Lektionen gegeben hätte. Sie hat jetzt ihren eignen Wagen anstatt des gemieteten und ist von Newman-Street zwei ganze Meilen weiter westlich gezogen. Sie arbeitet sehr angestrengt, denn ihr Mann, ein vortrefflicher Gatte, ist gelähmt und kann nur sehr wenig tun. Dennoch ist sie zufriedener als je und kommt allen ihren Pflichten getreu und freudig nach. Mr. Jellyby verbringt seine Abende in ihrem neuen Hause und lehnt den Kopf an die Wand, genau wie im alten. Mrs. Jellyby soll lange Zeit sehr unter der Mesalliance und dem »entwürdigenden« Beruf ihrer Tochter gelitten haben, wie ich hörte, aber ich hoffe, sie hat sich mit der Zeit von ihrem Verdruß erholt. Mit Afrika hat sie Pech gehabt, denn das Unternehmen schlug fehl, weil der König von Borriobula-Gha jeden, den das Klima am Leben ließ, für Schnaps zu verkaufen strebte. Sie ist jetzt tätig, der Frau das Recht, im Parlamente zu sitzen, zu erwirken, und Caddy sagt mir, daß diese Mission einen noch größeren Briefwechsel nach sich zieht als die alte.

Fast hätte ich Caddys armes kleines Mädchen vergessen. Es ist nicht mehr so winzig klein, aber taubstumm. Ich glaube, es hat nie eine bessere Mutter gegeben als Caddy, die in ihren kargbemessenen Mußestunden unzählige Taubstummenkünste lernt, um dem Kinde sein Los erträglicher zu gestalten.

Als ob ich niemals mit Caddy fertig werden sollte, fallen mir hier Peepy und der alte Mr. Turveydrop ein. Peepy ist beim Zollamte angestellt und befindet sich dabei außerordentlich wohl. Der alte Mr. Turveydrop, sehr apoplektisch geworden, trägt seinen Anstand immer noch in der Stadt spazieren, genießt das Leben auf die alte Weise und wird immer noch wie ehedem mit Ehrfurcht und gläubigen Auges angesehen. Er ist ein großer Gönner Peepys und soll ihm seine Lieblingsstutzuhr im Ankleidezimmer, die nicht ihm gehört, vermacht haben.

Mit dem ersten Gelde, das wir uns ersparten, bauten wir an unser hübsches Haus ein kleines Brummstübchen für meinen Vormund an, das wir dann, als er uns besuchen kam, mit großem Glänze einweihten. Ich versuche, alles das leichten Sinnes hinzuschreiben, weil mein Herz jetzt, wo es zu Ende geht, übervoll ist; aber wenn ich von ihm schreibe, treten mir immer wieder die Tränen in die Augen.

Nie kann ich ihn ansehen, ohne daß ich nicht im Geiste unsern armen, lieben Richard ihn einen guten Menschen nennen höre. Ada und ihrem hübschen Knaben ist er der zärtlichste Vater, mir, was er mir immer gewesen ist, und mit welchem Namen kann ich das ausdrücken! Er ist meines Mannes bester und teuerster Freund, er ist der Liebling unsrer Kinder, der Mittelpunkt unsrer innigsten Liebe und Verehrung. Aber trotzdem ich fast ein höheres Wesen in ihm sehe, bin ich doch so vertraut und unbefangen zu ihm, daß es mir fast wie ein Wunder vorkommt. Wir beide, sowohl er wie ich, haben unsre alten Namen noch, und wenn er bei uns zu Besuch ist, nehme ich keinen andern Platz als meinen alten auf dem Stuhle neben ihm ein. Mütterchen Hubbard, Frau Spinnweb, kleines Frauchen, so heißt es immer noch; und ich antworte: Ja, lieber Vormund, ganz wie früher.

Ich wüßte nicht, daß der Wind auch nur einen einzigen Augenblick aus Osten geweht hätte seit dem Tage, wo er mich an unsre Pforte, auf der das Wort Bleakhaus stand, geführt. Ich brachte einmal gelegentlich die Sprache darauf, daß jetzt niemals mehr Ostwind zu herrschen scheine, und er sagte: Nein, gewiß nicht; er habe seit jenem Tage aufgehört, aus dieser Himmelsrichtung zu wehen.

Ich glaube, mein Herzenskind ist schöner als je. Der Gram, der eine Zeit in ihrem Gesicht gelegen – er ist jetzt verschwunden –, scheint sogar seinen unschuldigen Ausdruck noch geläutert und ihm etwas Heiliges gegeben zu haben. Manchmal, wenn ich sie in ihrem Trauerkleid, das sie immer noch trägt, meinen Richard unterrichten sehe, kommt es mir vor – wie soll ich nur sagen –, als ob es gut wäre, zu wissen, daß sie ihrer lieben Esther in ihren Gebeten gedenkt.

Ich nenne ihn meinen Richard! Aber er sagt, er hätte zwei Mamas, und ich sei die eine.

Wir sind nicht reich an Geld, aber es ist uns stets gut gegangen, und wir haben, was wir brauchen. Nie gehe ich mit meinem Gatten aus, ohne zu hören, wie ihn die Leute segnen. Nie trete ich in ein Haus, vornehm oder gering, ohne sein Lob zu hören oder in dankerfüllten Augen zu lesen. Nie lege ich mich nachts nieder, ohne zu wissen, daß er im Laufe des Tages Schmerzen gelindert oder einem Nebenmenschen in seiner Not beigestanden hat. Ich weiß, daß von dem Lager hoffnungslos aufgegebener Kranker oft in Sterbestunden ein Dankgebet für seine geduldige Pflege zum Himmel geschickt worden ist. Heißt das nicht reich sein?

Die Leute preisen mich, bloß weil ich seine Frau bin! Sogar mich haben die Leute gern, wenn ich zu ihnen komme, und machen soviel Aufhebens mit mir, daß ich mich ordentlich schäme. Und das verdanke ich alles ihm, meinem Geliebten, meinem Stolz! Sie haben mich seinetwegen gern, wie ich alles, was ich auf Erden tue, seinetwegen tue.

Vor ein oder zwei Abenden, nachdem ich für meine Herzens-Ada und für meinen Vormund und den kleinen Richard, die morgen kommen, allerlei vorgerichtet hatte, saß ich vor der Tür, die ich in so teuerm Andenken halte, als Allan nach Hause kam. Er sagte: »Nun, mein kleines Frauchen, was machst du hier?« und ich erwiderte, »der Mond scheint so hell, und die Nacht ist so köstlich, daß ich mich hergesetzt und nachgedacht habe.«

»Und worüber hast du nachgedacht, mein Schatz?«

»Wie neugierig du bist. Ich schäme mich fast, es zu sagen, aber du sollst es wissen. Ich habe an mein altes Gesicht gedacht, wie es früher war.«

»Und was hast du davon gedacht, mein kleines fleißiges Bienchen?« fragte Allan.

»Ich habe mir gedacht, daß ich für unmöglich hielte, du könntest mich mehr lieben, selbst wenn ich mein altes Gesicht behalten hätte.«

»Wie es früher war?« sagte Allan lachend.

»Natürlich, wie es früher war.«

»Mein liebes Mütterchen«, fragte Allan und zog meinen Arm durch den seinen, »schaust du manchmal in den Spiegel?«

»Du weißt, daß ich es tue; du siehst es ja.«

»Und du weißt nicht, daß du hübscher bist als je?«

Ich wußte es nicht; ich weiß nicht einmal, ob ich es jetzt weiß. Aber ich weiß, daß meine lieben Kleinen sehr hübsch sind, und daß meine Herzens-Ada sehr schön ist, und daß mein Mann sehr hübsch ist, und daß das Gesicht meines Vormundes von Heiterkeit und Herzensgüte strahlt wie kein andres auf der Welt, und daß sie sehr gut ohne viel Schönheit bei mir auskommen können – selbst vorausgesetzt –.

7. Kapitel


7. Kapitel

Der Geisterweg

Esther schläft, Esther wacht, und immer noch ist Regenwetter auf dem Landsitz in Lincolnshire.

Der Regen fällt: trip, trip, trip, Tag und Nacht auf die breiten Steinplatten der Terrasse, die der »Geisterweg« heißt. Das Wetter unten in Lincolnshire ist so schlecht, daß auch die lebhafteste Phantasie daran verzweifelt, es könne jemals wieder schön werden. Nicht etwa, daß ein besonderer Überschuß an Phantasie in dem Landhaus vorhanden wäre, denn Sir Leicester ist nicht da – und wenn er da wäre, würde das die Sache auch nicht wesentlich ändern –, sondern in Paris mit Mylady; und die Einsamkeit hockt brütend mit grauem Fittich über Chesney Wold.

Einige Regungen von Phantasie sind möglicherweise in den niederen Geschöpfen in Chesney Wold lebendig. Die Pferde in den Ställen – in den langgestreckten Ställen in einem roten kahlen Ziegelhof, wo im Turm eine Glocke hängt und eine Uhr mit einem großen Gesicht, das die Tauben in der Nähe, die gern dort auf dem Simse sitzen, immer zu fragen scheinen – malen sich im Geiste vielleicht manchmal doch ein Bild von schönem Wetter aus und sind darin bessere Künstler als ihre Stallknechte.

Der Rotschimmel, der sich so ausgezeichnet für einen Jagdritt über schwieriges Terrain eignet, denkt vielleicht, wenn er mit seinen großen Augen nach dem vergitterten Fenster nicht weit von seiner Krippe blickt, an die frischgrünen Blätter, die zu andern Zeiten dort glänzen, an die Wohlgerüche, die dort hereinströmen, und an einen feinen Galopp mit den Hatzhunden, während das Menschenkind, das den Stand daneben auskehrt, niemals über seine Heugabel und seinen Besen hinauskommt.

Der Grauschimmel, der der Tür gegenübersteht, ungeduldig am Halfter rüttelt und erwartungsvoll die Ohren spitzt, wenn die Tür aufgeht und der Stallknecht sagt: »Ruhig, Schimmel, ruhig, heut braucht dich niemand«, weiß das vielleicht so gut wie der Mann selber. Das scheinbar so stumme und ungesellige halbe Dutzend im Stall bringt vielleicht die langen nassen Stunden, wenn die Stalltür geschlossen ist, in lebhafterer Unterhaltung zu als das Gesinde in seiner Stube oder in der Ortsschenke; – vertreibt sich vielleicht gar damit die Zeit, das kleine Pony in der Ecke in die Schule zu nehmen, um es zu bilden – oder vielleicht gar zu verderben.

Und der Hofhund, der draußen in seiner Hütte, den großen Kopf auf den Pfoten, im Halbschlummer dröselt, träumt vielleicht von der heißen Sonne, die, wenn die Schatten der Stallgebäude seine Geduld durch ewiges Wechseln ermüdet haben, ihm um die Mittagszeit nicht mehr Zuflucht gewähren will als den Schatten seiner eignen Hütte, in dem er dann steif dasitzt und keucht und jault und gar zu gern noch an etwas anderm reißen möchte als an seiner Kette.

Jetzt träumt er sich vielleicht im Halbschlummer das Haus voller Gesellschaft, den Schuppen voller Wagen, die Ställe voller Pferde und die Dienerschaftsgebäude voller Reitknechte und Kutscher, bis er über die Gegenwart seine Zweifel bekommt und heraustritt, um nach der Wirklichkeit zu sehen. Dann knurrt er, sich ungeduldig schüttelnd, vielleicht innerlich: »Regen, Regen, Regen, nichts als Regen – und keine Familie«, wie er wieder in die Hütte geht und sich mit einem mürrischen Gähnen hinstreckt.

Und die Hunde im Zwinger hinten im Park, deren klagende Stimmen, wenn der Wind auf das Haus zusteht, zuzeiten selbst bis in Myladys Zimmer dringen, sie jagen jetzt vielleicht in der Einbildung die ganze Umgebung ab, während der Regen rings um sie niederschauert. Und die Kaninchen mit ihren verräterischen Schwänzchen, die zu Löchern unter Baumwurzeln heraus- und hineinschlüpfen, werden vielleicht munter bei dem Gedanken an die luftigen Tage, wo es um ihre Ohren weht, oder an die interessanten Jahreszeiten, wo es junge süße Pflänzchen zu nagen gibt.

Der Truthahn auf dem Hühnerhof, der sich immer über irgendein sein Geschlecht seit ewigen Zeiten verfolgendes Unrecht –wahrscheinlich die Weihnachtsfeier – zu ärgern scheint, denkt vielleicht an einen versäumten Sommermorgen, wo er in den dunkeln Heckengang unter die gefällten Bäume geriet und nicht loskonnte, während in der Scheune alles voll von Gerstenkörnern lag. Die mißgestimmte Gans, die sich jedes Mal bückt, wenn sie unter dem zwanzig Fuß hohen alten Torweg hindurchwackelt, schnattert vielleicht, wenn wir es nur verstünden, ihre Vorliebe für Wetter, wo der Torweg schwarze Schatten wirft, heraus.

All das mag ja sein, aber sonst lebt nicht viel Phantasie in Chesney Wold. Wenn in einem seltenen Augenblick ein bißchen davon vorhanden ist, so hallt es wie ein kleines Geräusch in dem alten Gebäude lange Zeit nach und endet meist mit Geistergeschichten und Geheimnissen.

Es hat so stark und anhaltend unten in Lincolnshire geregnet, daß Mrs. Rouncewell, die alte Wirtschafterin in Chesney Wold, schon mehrere Male ihre Brille abgenommen und abgewischt hat, um sich zu vergewissern, ob es wirklich noch regnet oder die Gläser nur so streifig aussehen.

Mrs. Rouncewell hätte sich durch das Rauschen und Plätschern hinreichend überzeugen lassen können, aber sie ist etwas taub und will das nicht zugeben.

Sie ist eine schöne alte Frau, stattlich und unendlich sauber, und hat einen Rücken und einen Brustkasten, daß sich niemand wundern würde, wenn sich nach ihrem Tode herausstellte, ihr Schnürleib sei ein großer altmodischer Familienkamin gewesen.

Um die Witterung kümmert sich Mrs. Rouncewell wenig. Das Haus steht immer da, ob es regnet oder nicht, und um das Haus, sagt sie, habe sie sich zu kümmern und sonst um nichts. Sie sitzt in ihrem Zimmer, in einem Seitengang im Erdgeschoß, mit einem Bogenfenster und der Aussicht auf einen geschorenen viereckigen Rasenflecken, in regelmäßigen Zwischenräumen mit glatten runden Bäumen und glatten runden Steinpfeilern verziert, daß es aussieht, als wollten die Bäume mit den Steinen Kegel schieben.

Das ganze Haus ist ihr anvertraut. Sie kann es gelegentlich öffnen, kann herumschäftern und sich erhitzen; aber jetzt ist alles abgeschlossen, und das Haus ruht auf Mrs. Rouncewells eisernem Brustkasten in majestätischem Schlummer.

Fast so unmöglich, wie an eine Aufheiterung des Wetters zu glauben, ist es, sich Chesney Wold ohne Mrs. Rouncewell vorzustellen. Aber sie ist auch erst fünfzig Jahre hier. Fragt sie heute an diesem Regentag: »Wie lange sind Sie hier?« und sie wird antworten:

»Fünfzig Jahre, drei Monate und vierzehn Tage werden es sein, wenn es Gott gefällt, daß ich bis Dienstag lebe.«

Mr. Rouncewell starb, kurz bevor die hübsche Mode der Zöpfe abkam, und versteckte den seinigen, wenn er ihn überhaupt mitnahm, bescheiden in einer Ecke des Parkkirchhofs, nicht weit von der altersgrauen Eingangspforte. Er war im Marktflecken geboren wie seine junge Witwe. Ihre Laufbahn in der Familie begann zur Zeit des letzten Sir Leicester in der Säuglingsstube.

Der gegenwärtige Repräsentant der Dedlocks ist ein vortrefflicher Herr. Er setzt bei allen seinen Leuten eine vollständige Abwesenheit individuellen Charakters und eigner Absichten und Meinungen voraus und ist überzeugt, daß er dazu da ist, seinerseits alle diese Mängel zu ersetzen. Sollte er einmal das Gegenteil entdecken, würde er einfach perplex sein und das Bewußtsein verlieren und wahrscheinlich nur wieder zu sich kommen, um noch einmal aufzuatmen und dann zu sterben. Aber er ist trotzdem ein vortrefflicher Herr und hält das für eine Pflicht seiner vornehmen Geburt. Er hat Mrs. Rouncewell sehr gern. Er nennt sie eine respektable, treffliche Frau. Er schüttelt ihr jedes Mal die Hand, wenn er nach Chesney Wold kommt oder wenn er abreist; und wenn er überfahren werden sollte oder ihm sonst ein Unfall zustieße, so würde er sagen, vorausgesetzt, daß er noch sprechen könnte: Laßt mich allein und schickt Mrs. Rouncewell her; denn er würde bei ihr seine Würde sicherer als bei andern aufgehoben wissen.

Mrs. Rouncewell hat Leid im Leben gar wohl erfahren. Der eine ihrer beiden Söhne schlug aus der Art, ging unter die Soldaten und ließ nie wieder etwas von sich hören. Selbst heute noch verlieren Mrs. Rouncewells ruhige Hände ihre Fassung, wenn sie von ihm spricht, und sie fahren unruhig hin und her, wenn sie sagt: »Was für ein hübscher Bursche, was für ein munterer, gutherziger, geschickter Junge er doch war!«

Ihr zweiter Sohn sollte in Chesney Wold untergebracht werden und wäre mit der Zeit Hausverwalter geworden; aber schon als Schuljunge hatte er die Gewohnheit, Dampfmaschinen aus Pfannen zu machen und Kanarienvögel dazu abzurichten, sich mit möglichst geringem Aufwand von Arbeit ihr Wasser selbst heraufzuziehen (und er kam ihnen dabei mit so raffiniert berechnetem hydraulischem Druck zuhilfe, daß ein Vogel, wenn er durstig war, sich nur mit der Achsel an das Rad zu lehnen brauchte, und die Sache war geschehen). Dieser Hang hatte Mrs. Rouncewell große Sorge gemacht. Mit der Herzensangst einer Henne, die Enteneier ausgebrütet hat, erkannte sie, daß das eine revolutionäre Richtung sei, denn sie wußte, daß Sir Leicester von jedem Hang für eine Kunst so denkt, die mit Rauch und einem hohen Schornstein irgend etwas zu tun hat. Aber da der verstockte junge Rebell, obwohl er sonst ein sanftes geduldiges Kind war, beim Älterwerden kein Zeichen der Besserung erkennen ließ, sondern im Gegenteil ein Modell zu einem Maschinenspinnstuhl baute, mußte sie sich doch endlich entschließen, unter Tränen dem Baronet seine Unverbesserlichkeit einzugestehen.

»Mrs. Rouncewell«, hatte Sir Leicester gesagt, »Sie wissen, ich kann mich mit niemandem herumstreiten. Schauen Sie, daß Sie den Jungen los werden; am besten ist, Sie stecken ihn in eine Fabrik. Die Eisenbaugegenden weiter nördlich wären, wie ich glaube, das beste für einen Jungen von solchen Neigungen.« Der Knabe ging also weiter nördlich und wuchs weiter nördlich auf, und wenn ihn Sir Leicester Dedlock jemals zu Gesicht bekam, oder jemals wieder an ihn dachte, so sah er in ihm jedenfalls nur ein Individuum von tausend ruß- und rauchgeschwärzten Verschwörern, die zwei oder drei Mal in der Woche nachts bei Fackelschein zu ungesetzmäßigem Treiben ausziehen.

Trotzdem ist Mrs. Rouncewells Sohn im Lauf der Zeit herangewachsen, hat geheiratet und sich selbständig gemacht und Mrs. Rouncewells Enkelseele aus dem Universum zu sich gerufen.

Dieser Enkel hat nun ausgelernt, ist von einer Reise nach fernen Ländern, wo er seine Kenntnisse erweitern und die Vorbereitungen für das Wagestück dieses Lebens auf Erden vollenden sollte, zurückgekehrt und steht jetzt, auf Besuch bei seiner Großmutter, an den Kamin gelehnt in deren Zimmer in Chesney Wold.

»Und nochmals und nochmals, es freut mich von Herzen, dich zu sehen, Watt! Und abermals, ich freue mich, dich zu sehen, Watt«, sagt Mrs. Rouncewell. »Du bist ein hübscher junger Bursche, deinem armen Onkel Georg so ähnlich. Ach!« – Mrs. Rouncewells Hände werden wie gewöhnlich bei Erwähnung dieses Namens unruhig.

»Man sagt, ich sei meinem Vater ähnlich, Großmutter.«

»Auch ihm, liebes Kind. Aber am ähnlichsten siehst du deinem armen, armen Onkel Georg; und dein lieber Vater« – Mrs. Rouncewells Hände werden wieder ruhig – »geht es ihm gut?«

»Sehr gut. In jeder Hinsicht, Großmutter.«

»Da bin ich dem Himmel dankbar!«

Mrs. Rouncewell liebt auch ihren zweiten Sohn, aber sie denkt an ihn mit einem gewissen Bedauern, so wie von einem Soldaten, der zwar tapfer ist, aber zum Feinde überging.

»Ist er glücklich?« fragt sie.

»Vollkommen.«

»Ich danke dem Himmel dafür. Also er hat dich in seinem Sinn erzogen und dich in fremde Länder geschickt und so? Nun, er wird es wohl am besten wissen. Es mag ja eine Welt außerhalb von Chesney Wold geben, die ich nicht verstehe, obgleich ich nicht mehr jung bin und doch auch viel gute Gesellschaft zu Gesicht bekommen habe.«

»Großmutter«, sagt der junge Mann und läßt das Thema fallen, »was war das für ein hübsches Mädchen, das vorhin bei dir war? Du nanntest sie Rosa.«

»Ja, Kind. Sie ist die Tochter einer Witwe im Dorf. Mädchen sind heutzutage so begriffsstutzig, daß ich sie schon als junges Ding zu mir genommen habe. Sie lernt gut, und es kann etwas aus ihr werden. Sie zeigt dem Fremden das Haus schon recht hübsch. Sie wohnt und ißt bei mir.«

»Ich hoffe, ich habe sie nicht vertrieben.«

»Sie glaubt wahrscheinlich, wir hätten Familienangelegenheiten zu besprechen. Sie ist sehr bescheiden. Eine gute Eigenschaft bei einem jungen Mädchen. Und gegenwärtig seltner«, sagt Mrs. Rouncewell und dehnt ihren Schnürleib zu seiner größten Breite aus, »als früher.«

Der junge Mann neigt das Haupt in Anerkennung der weisen Lehre. Mrs. Rouncewell lauscht. »Räder, horch!« sagt sie. Die jüngeren Ohren haben das Geräusch längst gehört. »Mein Himmel, was für ein Wagen kann das bei solchem Wetter sein?«

Nach einer kurzen Weile klopft es an die Tür.

»Herein!«

Eine schüchterne Dorfschöne mit dunkeln Augen und dunkelm Haar, so frisch in ihrer rosigen und doch zarten Blüte, daß die Regentropfen in ihrem Haar wie Tau auf einer frisch gepflückten Blume aussehen, tritt herein.

»Was sind das für Fremde, Rosa?«

»Zwei junge Herrn in einem Gig, Maam. Wollten das Haus sehen… Jawohl, ich sagte es ihnen schon«, setzt sie rasch als Antwort auf eine verneinende Gebärde der Wirtschafterin hinzu. »Ich ging an die Gartenpforte und sagte ihnen, es sei ein schlechter Tag und eine ungeeignete Stunde, aber der junge Mann, der kutschiert, zog den Hut bei dem Regen ab und bat mich, Ihnen diese Karte zu bringen.«

»Lies sie, lieber Watt!« sagt die Wirtschafterin.

– Rosa ist so verlegen, daß sie die Karte fallen läßt, wie sie sie dem jungen Mann geben will, und beide stoßen beinahe mit den Köpfen zusammen, als sie sich bücken. Rosa wird noch verlegner. –

»Mr. Guppy. Weiter steht nichts auf der Karte.«

»Guppy?« wiederholt Mrs. Rouncewell, »Mr. Guppy? Unsinn. Ich habe den Namen nie gehört.«

»Wenn Sie erlauben, dasselbe sagte er auch, aber er und der andre junge Herr wären erst gestern abend mit der Post von London gekommen zur Magistratsversammlung, zehn Meilen von hier. Und da sie bald fertig geworden seien und viel von Chesney Wold gehört hätten und beim besten Willen nicht wüßten, was sie mit der Zeit anfangen sollten, so wären sie trotz des Regens hierhergefahren. Sie sind Advokaten. Er sagt, er wäre zwar nicht bei Mr. Tulkinghorn, glaube aber, sich nötigenfalls auf Mr. Tulkinghorn berufen zu dürfen.«

– Als Rosa jetzt, wo sie fertig ist, bemerkt, daß sie eine lange Rede gehalten hat, wird sie noch verlegner. –

Mr. Tulkinghorn gehört gewissermaßen mit zu dem Edelsitz, und außerdem geht die Sage, daß er das Testament der Mrs. Rouncewell gemacht habe. Die alte Dame wird milder gestimmt, bewilligt den Gästen den Eintritt und entläßt Rosa. Der Enkel fühlt plötzlich in sich den Wunsch, ebenfalls das Haus anzusehen, rege werden und möchte sich der Gesellschaft anschließen. Die Großmutter freut sich, daß er sich dafür interessiert, und begleitet ihn, obgleich er sie dringendst bittet, sich ja nicht in ihrer Ruhe stören zu lassen.

»Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, Maam«, sagte Mr. Guppy und zieht in der Vorhalle seinen nassen, zottigen Überrock aus. »Wir Londoner Advokaten kommen nicht oft heraus, und wenn’s geschieht, nützen wir die Zeit so gut aus wie möglich.«

Die alte Wirtschafterin deutet mit gnädig stolzer Gebärde auf die große Treppe.

Mr. Guppy und sein Freund folgen Rosa, Mrs. Rouncewell und ihr Enkel kommen nach, und ein Gärtnerbursche eilt voraus, um die Jalousien aufzumachen.«

Wie es den meisten Leuten geht, wenn sie Häuser besichtigen, sind Mr. Guppy und sein Freund bereits tödlich abgespannt, ehe sie noch recht angefangen haben. Sie verlaufen sich in die falschen Gänge, besehen sich Überflüssigkeiten, kümmern sich nicht um wirkliche Sehenswürdigkeiten, gähnen, wenn neue Zimmerreihen aufgeschlossen werden, legen die größte Niedergeschlagenheit an den Tag und sind offenbar ganz und gar fertig. In jedem Zimmer, das gezeigt wird, zieht sich Mrs. Rouncewell, die so lotrecht steht wie das Haus selbst, in eine Fenstervertiefung oder sonst eine Nische zurück und hört mit stolzer Billigung Rosas Erklärungen zu. Ihr Enkel ist so aufmerksam, daß Rosa verlegner ist als je – und noch hübscher. So gehen sie von Zimmer zu Zimmer und beschwören die gemalten Dedlocks auf ein paar kurze Minuten herauf, wie der Gärtnerbursche das Tageslicht hereinläßt, und lassen sie wieder ins Grab sinken, wenn er wieder die Läden schließt.

Dem betrübten Mr. Guppy und seinem untröstlichen Freund kommt es vor, als ob es kein Ende nehmen wolle mit den Dedlocks, deren Familienruhm darin zu bestehen scheint, daß sie siebenhundert Jahre lang sich durch nichts ausgezeichnet haben.

Selbst der lange Gesellschaftssaal in Chesney Wold vermag Mr. Guppys Lebensgeister nicht aufzufrischen. Er ist so niedergeschlagen, daß er auf der Schwelle kleben bleibt und nicht Willenskraft genug aufbringen kann, um einzutreten. Aber ein Porträt über dem Kamin, von dem Modemaler des Tages gemalt, wirkt wie ein Zauber auf ihn. Er erholt sich im Augenblick. Er starrt es mit ungewöhnlichem Interesse an, er ist fasziniert davon und wie am Boden festgenagelt.

»Gott, wer ist das?« fragt er.

»Das Gemälde über dem Kamm stellt die gegenwärtige Lady Dedlock dar; es gilt für ausgezeichnet getroffen und als das beste Werk des Meisters«, leiert Rosa in einem Zug herunter.

»Ich will des Todes sein, wenn ich sie jemals gesehen habe«, flüstert Mr. Guppy und starrt seinen Freund erschrocken an, »und doch kenne ich sie! Gibt es Stahlstiche von dem Bild, Miß?«

»Das Porträt ist noch niemals vervielfältigt worden. Sir Leicester hat stets die Erlaubnis verweigert.«

»Hm«, sagt Mr. Guppy halblaut. »Ich will mich hängen lassen, wenn ich das Gesicht nicht schon irgendwo gesehen habe! So, so, das ist also Lady Dedlock.«

»Das Bild rechts stellt den gegenwärtigen Sir Leicester dar und das Bild links seinen Vater, den verstorbenen Sir Leicester.«

– Mr. Guppy hat kein Auge für die beiden Magnaten. –

»Es ist mir unerklärlich«, wiederholt er und starrt immer noch das erste Porträt an. »Wie gut ich das Bild kenne! Ich will verwünscht sein«, sagte er und sieht sich um, »wenn ich nicht glaube, ich muß von diesem Bilde geträumt haben.«

Da niemand von den Anwesenden ein besondres Interesse an Mr. Guppys Träumen nimmt, wird die Wahrscheinlichkeit nicht weiter erörtert. Aber der Herr ist so in das Porträt vertieft, daß er noch unbeweglich dasteht, als der Gärtnerbursche bereits die Läden zugemacht hat. Jetzt verläßt er das Zimmer ganz benommen und tritt mit den übrigen mit verwirrten, weitaufgerissenen Augen, als ob er sich überall nach Lady Dedlock umsähe, in die folgenden Gemächer.

Er bekommt nichts mehr von ihr zu Gesicht. Er sieht ihre Zimmer, die als besonders schön zuletzt gezeigt werden, und blickt aus dem Fenster hinaus, vor dem sie sich noch vor kurzer Zeit des Wetters wegen so tödlich langweilte.

Alle Dinge nehmen ein Ende, selbst die Besichtigung von Schlössern. Mr. Guppy hat das Ende der Sehenswürdigkeiten erlebt und die frische Dorfschöne das Ende ihrer Beschreibung, das da lautet:

»Die Terrasse unten findet die größte Bewunderung jedes Fremden; einer alten Familiensage zufolge nennt man sie den Geisterweg.«

»Wie?« fragt Mr. Guppy mit brennender Neugier. »Was ist das für eine Geschichte, Miß? Kommt etwas von einem Bild drin vor?«

»Bitte, erzählen Sie uns die Geschichte«, flüstert Watt halblaut.

»Ich weiß sie nicht, Sir«, – Rosa wird schon wieder verlegen.

»Sie wird den Fremden nicht erzählt und ist fast in Vergessenheit geraten«, meldet sich die Wirtschafterin dazwischentretend. »Sie ist niemals mehr als eine Familienanekdote gewesen.«

»Erlauben Sie mir nochmals die Frage, ob etwas von einem Bilde drin vorkommt, Maam«, forscht Mr. Guppy, »ich versichere Ihnen, je mehr ich an das Bild denke, desto bekannter kommt es mir vor, ohne daß ich einen Zusammenhang finden könnte.«

Ein Bild kommt in der Geschichte nicht vor, das kann die Wirtschafterin verbürgen.

Mr. Guppy ist ihr für die Auskunft sehr verbunden und außerdem für ihre Liebenswürdigkeit im allgemeinen. Er entfernt sich mit seinem Freund, wird von dem Gärtnerburschen eine andre Treppe hinabgeführt, und gleich darauf hört man ihn fortfahren.

Es dämmert bereits. Mrs. Rouncewell kann sich auf die Verschwiegenheit ihrer beiden jungen Zuhörer verlassen, und ihnen will sie daher gerne erzählen, wieso die Terrasse ihren gespenstischen Namen bekommen hat. Sie setzt sich in einen großen Lehnstuhl an dem rasch dunkel werdenden Fenster und erzählt:

»In den bösen Zeiten Karls I. – ich nenne sie natürlich nur deswegen böse, weil die Rebellen sich damals gegen den vortrefflichen König verschworen haben – war Sir Morbury Dedlock Besitzer von Chesney Wold. Ob man vor jener Zeit von einem Gespenst in der Familie gehört hat, weiß ich nicht. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich.«

– Mrs. Rouncewell ist dieser Meinung, weil sie überzeugt ist, daß eine Familie von so altem Adel und solcher Bedeutung ein Recht auf ein Gespenst hat. Sie betrachtet ein Gespenst als eines der Privilegien der höheren Stände, als eine vornehme Auszeichnung, auf die das gewöhnliche Volk keinen Anspruch hat. –

»Sir Morbury Dedlock stand, wie sich von selbst versteht, auf der Seite des heiligen Märtyrers. Aber man vermutet, daß seine Gemahlin, in deren Adern kein Tropfen des Familienblutes floß, die schlechte Sache begünstigte. Es geht die Sage, daß sie mit den Feinden König Karls in Verbindung stand, mit ihnen Briefe gewechselt und ihnen auf diese Weise Nachricht gegeben hat. Wenn Landedelleute von der Partei Seiner Majestät hier zusammenkamen, soll Mylady, wie man erzählt, der Tür des Beratungszimmers immer näher gewesen sein, als man ahnte… Hörst du nicht ein Geräusch wie Fußtritte auf der Terrasse, Watt?«

– Rosa rückt näher an die Wirtschafterin. –

»Ich höre den Regen auf die Steine tropfen«, gibt der junge Mann zu, »und ich höre ein sonderbares Echo –, ich glaube, es ist ein Echo. Es klingt fast wie ein hinkender Schritt.«

Die Wirtschafterin nickt ernst und fährt fort:

»Teils wegen dieser Gesinnungsverschiedenheit, teils aus andern Ursachen lebten Sir Morbury und seine Gemahlin nicht glücklich miteinander. Sie war von heftiger und stolzer Gemütsart. Sie paßten den Jahren und dem Charakter nach nicht zueinander und hatten keine Kinder, die zwischen ihnen hätten vermitteln können. Als ihr Lieblingsbruder als junger Mann von der Hand eines nahen Verwandten Sir Morburys fiel, empfand sie seinen Tod so tief, daß sie das ganze Geschlecht, in das sie geheiratet hatte, tödlich haßte. Als die Dedlocks im Begriff standen, von Chesney Wold für die Sache des Königs in den Kampf zu ziehen, soll sie mehr als ein Mal in der Stille der Nacht hinunter in die Ställe geschlichen sein und die Pferde lahm gemacht haben, und die Sage geht, ihr Gatte habe sie einmal zu solcher Stunde die Treppe hinunterschlüpfen sehen und sei ihr in den Stall gefolgt, wo sein Lieblingspferd stand. Er habe sie am Arm gepackt, und im Ringen oder Fallen oder durch das Pferd, das vielleicht erschrocken ausgeschlagen hat, getroffen, wurde sie lahm an der Hüfte und fing von dieser Stunde an zu siechen.«

Die Wirtschafterin hat ihre Stimme fast bis zum Flüsterton gedämpft.

»Sie war eine Dame von schöner Gestalt und edler Haltung gewesen. Sie klagte nie und sprach mit niemandem davon, daß sie ein Krüppel geworden war oder Schmerzen litt. Aber Tag für Tag versuchte sie auf die Terrasse zu gehen, und mit Hilfe eines Stocks und auf die steinerne Balustrade gestützt ging sie auf und ab, auf und ab, auf und ab, im Sonnenschein und im Schatten, und jeden Tag mit größerer Mühe. Da, eines Nachmittags, sah ihr Gatte, mit dem sie seit jener Nacht, mochte er sie bitten, wie er wollte, kein Sterbenswörtchen mehr gesprochen, aus dem großen Fenster an der Südseite, wie sie auf die steinernen Platten hinsank. Er eilte hinab, um sie aufzuheben, aber sie stieß ihn zurück, und als er sich über sie beugte, sah sie ihn fest und kalt an und sprach: ‚Ich will hier sterben, wo ich gegangen bin. Und ich will hier gehen, wenn ich auch im Grabe liege. Ich will hier gehen, bis der Stolz dieses Hauses gedemütigt ist. Und wenn Unglück und Schande es ereilen wird, dann sollen die Dedlocks meine Schritte hören.’«

Watt sieht Rosa an. Rosa blickt auf den im Dunkel verschwimmenden Fußboden nieder, halb von Grauen erfüllt, halb verlegen.

»Und auf dieser Stelle starb sie. Und aus jenen Tagen stammt der Name ‚Geisterweg‘. Wenn der Schritt ein Echo ist, so ist er ein Echo, das nur nach dem Dunkelwerden hörbar wird und selbst dann nur von Zeit zu Zeit. Aber manchmal kehrt es wieder, und jedes Mal hört man es, wenn Krankheit oder Tod der Familie bevorsteht.«

»– oder Schande, Großmutter«, ergänzt Watt.

»Schande kommt nie über Chesney Wold«, entgegnet die Wirtschafterin.

– Ihr Enkel macht seinen Vorstoß mit einem: »Natürlich! Natürlich!« wieder gut. –

»Das ist die Geschichte. Woher der Schall auch kommen mag, es ist ein angsterregendes Geräusch«, sagt Mrs. Rouncewell und steht vom Stuhle auf. »Und was das Merkwürdigste ist, man muß ihn hören. Mylady, die sich vor nichts fürchtet, gibt selbst zu, wenn er einmal da ist, sei man gezwungen, ihn zu hören. Man kann sich nicht verschließen dagegen. Watt, hinter dir steht eine große Stehuhr, sie hat einen sehr lauten Schlag und kann auch Musik machen. Du weißt mit solchen Dingen umzugehen.«

»So ziemlich, Großmutter.«

»Nun, so zieh sie auf.«

Watt zieht sie auf, das Musik- und das Schlagwerk.

»Jetzt komm hierher«, sagt die Wirtschafterin, »hierher an das Kopfkissen von Mylady. Ich weiß nicht, ob es schon dunkel genug ist, aber horch! Kannst du den Schall auf der Terrasse hören, durch die Musik und das laute Ticken und alles andre hindurch?«

»Ja!«

»Das sagt Mylady auch.«

8. Kapitel


8. Kapitel

deckt eine Menge Sünden zu.

Es war interessant, beim Ankleiden vor Tagesanbruch hinaus zum Fenster zu schauen, in dessen schwarzen Scheiben meine Kerzen sich wie zwei Leuchtfeuer spiegelten, und zu beobachten, wie beim Hellerwerden die Nacht draußen schwand.

Die Aussicht wurde allmählich deutlicher, und wie sich die Landschaft zeigte, über die der Wind die Nacht über hingestrichen, fand ich ein Vergnügen daran, die unbekannten Gegenstände zu entdecken, die mich im Schlafe umgeben hatten.

Anfangs waren sie im Nebel nur schwach erkennbar, und einige verspätete Sterne schimmerten über ihnen. Dann dämmerte das Bild schnell größer und voller hervor, unmerklich vertrugen sich meine Lichter mit der morgendlichen Umgebung nicht mehr, die Finsternis in den Ecken meines Zimmers verschwand, und hell schien der Tag auf eine heitere Landschaft, gekrönt von der alten Abteikirche mit ihrem dicken Turm.

Alles im Hause war so in Ordnung und jedermann so aufmerksam gegen mich, daß mir meine zwei Bund Schlüssel nicht viel Arbeit machten. Immerhin hatte ich so viel zu tun mit dem Aufschreiben des Inhalts jedes kleinen Faches und Kastens auf eine Schiefertafel und dem Notieren, was vorrätig war an Eingemachtem und Konserven, an Flaschen und Glaszeug, Porzellan und andern Dingen, daß ich gar nicht glauben wollte, es sei schon Frühstückszeit, als ich klingeln hörte.

Ich lief hinunter und bereitete den Tee, welches verantwortliche Amt mir bereits übertragen war, und da sich alle etwas verspätet hatten und sich noch nicht sehen ließen, wollte ich den Garten ein wenig kennenlernen. Wie allerliebst, vorn die hübsche Allee und die Auffahrt, hinten der Blumengarten, und meine liebe Freundin oben am Fenster mir zulächelnd, als ob sie mich aus der Ferne küssen wolle. In der Auffahrt waren die tiefen Einschnitte der Räder, die wir gestern bei der Ankunft mit dem Wagen gemacht hatten, noch sichtbar, und ich bat den Gärtner, den Sand wieder zu glätten. Hinter dem Blumengarten befanden sich Gemüsebeete, ein Grasplatz und hübsche kleine Ökonomiegebäude. Das Haus selbst mit seinen drei Giebeln auf dem Dach, seinen abwechslungsreich geschnittenen Fenstern – einige ganz groß, einige winzig klein, aber alle entzückend –, mit seinem Spalier aus Rosen und Jelängerjelieber an der Südfront und seinem heimlichen, behäbigen, gastfreundlichen Aussehen war, wie Ada sagte, als sie mir am Arm des Hausherrn entgegenkam, ihres Vetters John würdig. Ein gewagter Ausspruch, aber er kniff sie nur dafür in die Wange.

Mr. Skimpole war beim Frühstück wieder so gewinnend wie gestern abend. Es stand Honig auf dem Tisch, und er knüpfte daran eine Bemerkung über die Bienen. Er habe nichts gegen Honig einzuwenden – und das schien sehr wahr zu sein, denn er ließ sich ihn sehr gut schmecken –, aber er wolle den übermäßigen Fleiß der Bienen nicht als Vorbild gelten lassen. Jedenfalls müsse die Biene Gefallen am Honigsammeln finden, sonst würde sie sich doch damit nicht abgeben; es verlange es ja niemand von ihr. Es sei gar nicht notwendig, daß sie soviel Aufhebens von ihren Neigungen mache. Wenn jeder Zuckerbäcker in der Welt herumschwärmen und egoistischerweise alle Leute auffordern wolle, ihn ja nicht zu stören, würde die Welt zu einem ganz unerträglichen Aufenthalt werden. Im übrigen sei es doch wirklich eine lächerliche Sache, sich aus seinem Besitz, kaum daß man ihn erworben, herausräuchern zu lassen. Von einem Fabrikanten in Manchester würde man sehr gering denken, wenn er zu keinem andern Zweck Baumwolle spänne. – Die Drohne halte er dagegen für die Verkörperung einer viel schöneren und weiseren Idee. Die Drohne sage ganz ohne Ziererei: »Ihr müßt mich schon entschuldigen, ich kann mich wirklich nicht ums Geschäft bekümmern. Ich befinde mich in einer Welt, wo es so viel zu sehen gibt und so wenig Zeit dazu ist, daß ich mir schon die Freiheit nehmen muß, mich umzuschauen und zu bitten, daß jemand für mich sorgt, dem nichts daran liegt, sich umzuschauen.«

Das war nach Mr. Skimpole die Drohnenphilosophie, und sie erschiene ihm als eine sehr gute Philosophie – vorausgesetzt, daß es der Drohne passe, mit der Biene auf gutem Fuß zu stehen, und das sei, soviel er wisse, immer der Fall, wenn nur nicht der wichtigtuende fleißige Knirps zuweilen seinerseits Späne machen und sich soviel auf seinen Honig einbilden wolle. – Er malte das Bild bis ins Kleinste aus, und es belustigte uns sehr, obgleich er die Sache ungemein ernst zu nehmen schien. – Die andern hörten ihm noch zu, als ich mich entfernte, um meinen neuen Pflichten nachzukommen. Sie nahmen mich einige Zeit in Anspruch, und ich ging, das Schlüsselkörbchen am Arm, durch die Korridore, da rief mich Mr. Jarndyce in ein kleines Stübchen, das neben seinem Schlafzimmer lag und zum Teil eine kleine Bibliothek mit Büchern und Papieren war, teils ein kleines Museum von Stiefeln, Schuhen und Hutschachteln.

»Setzen Sie sich, liebes Kind«, sagte er. »Sie müssen wissen, das ist mein Brummstübchen. Wenn ich schlechter Laune bin, gehe ich hierher und brumme.«

»Dann müssen Sie also sehr selten hier sein, Sir«, sagte ich.

»O, Sie kennen mich noch nicht. Wenn ich enttäuscht bin oder verstimmt – es liegt am Wind –, so flüchte ich mich hierher. Das Brummstübchen wird von allen Zimmern im Hause am meisten benützt. Sie kennen meine Launen noch nicht zur Hälfte, aber Gott, wie Sie zittern, mein Kind.«

– Ich konnte nichts dafür, ich nahm mich sehr zusammen, aber als ich mich allein sah mit diesem gütigen Menschen und in seine wohlwollenden Augen blickte und mich so glücklich, so geehrt und mein Herz so voll fühlte, küßte ich ihm die Hand. –

Ich weiß nicht, was ich sagte, überhaupt nicht, ob ich sprach. Er geriet ganz außer Fassung und ging ans Fenster – ich glaubte fast in der Absicht hinauszuspringen –, dann drehte er sich um, und ich sah in seinen Augen, was er hatte verbergen wollen. Er streichelte mir sanft das Haar, und ich setzte mich.

»Gut, schon gut!« sagte er. »Es ist schon vorbei. Bah, seien Sie doch kein Kind!«

»Es soll nicht wieder geschehen, Sir«, stotterte ich, »aber anfangs ist es so schwer…«

»Unsinn, Esther. Es ist leicht, ganz leicht. Warum auch nicht? Ich höre von einem guten kleinen verwaisten Mädchen ohne Beschützer und setze mir in den Kopf, ihm beizustehen. Sie wächst, übertrifft noch meine gute Meinung, und ich bleibe ihr Vormund und ihr Freund. Was ist da weiter? Also! Jetzt haben wir die Geschichte erledigt.«

Ich sagte zu mir: Esther, ich wundere mich über dich. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Und die gute Wirkung war, daß ich die Hände über mein Körbchen faltete und wieder ganz ruhig wurde. Mr. Jarndyce sah sehr froh darüber aus und fing an, so vertraulich mit mir zu sprechen, als ob wir schon seit langem jeden Morgen beisammen gewesen wären.

»Diese Kanzleigerichtsgeschichte verstehen Sie natürlich nicht, Esther?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, wer sie überhaupt versteht«, fuhr er fort. »Die Advokaten haben sie so bodenlos verwirrt, daß die ursprüngliche Prozeßangelegenheit längst von der Erde verschwunden ist. Es handelte sich um ein Testament oder eine Hinterlassenschaft. Jetzt handelt es sich nur noch um Kosten. Wir werden beständig vorgeladen und wieder entlassen, müssen schwören, Eingaben machen und Gegeneingaben, irgend etwas beweisen, besiegeln, beantragen und berichten, uns um den Lordkanzler und alle seine Trabanten drehen und uns nach bestmöglicher Rechtsform in einen staubigen Tod walzen lassen. Alles nur wegen der Kosten. Darum handelt es sich jetzt. Alles übrige ist auf wunderbare Weise spurlos verschwunden.«

»Aber es handelte sich um ein Testament«, erinnerte ich ihn, da er wieder anfing, sich durch die Haare zu fahren.

»Nun ja, es handelte sich um ein Testament, wenn überhaupt um irgend etwas Greifbares. Ein gewisser Jarndyce erwarb sich in einer bösen Stunde ein großes Vermögen und machte ein langes Testament. Über der Frage, wie die durch dieses Testament gestifteten Legate zu verwalten seien, verfliegt das Vermögen selbst in der Luft; die Erben geraten in eine so jämmerliche Lage, als ob sie sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht hätten, und das Testament selbst sinkt zu einem toten Buchstaben herab. In dem ganzen beklagenswerten Rechtsstreit wird alles, was jeder der Beteiligten mit Ausnahme eines einzigen bereits weiß, an diesen einzigen, der es nicht weiß, gewiesen, um es herauszufinden. Jeder einzelne muß immer und immer wieder Abschriften des ganzen Falles bekommen, was sich zu Wagenladungen von Papier aufhäuft, und muß sie bezahlen, auch wenn er sie nicht bekommt, was gewöhnlich der Fall ist, denn niemand verlangt danach, muß aber den höllischen Tanz von Kosten und Spesen und Unsinn und Korruption durchtanzen, wie ihn noch kein Hexensabbat je ausgeheckt hat. Das römische Recht fragt das bürgerliche Recht, und das bürgerliche Recht fragt wieder das römische. Das bürgerliche Recht entdeckt, daß es dies, und das römische Recht, daß es jenes nicht tun kann. Beide entschließen sich aber nicht zu sagen, daß sie beide zusammen nichts tun können, ehe nicht für A ein Solizitor bestellt ist und ein Advokat erscheint und für B desgleichen. So geht es das ganze Alphabet hindurch. Auf diese Art dauert es Jahre und Menschenalter und fängt immer wieder von vorne an und wird nie fertig. Und wir können uns unter keinen Umständen von dem Prozeß freimachen, denn man hat uns zu Parteien gepreßt, und wir müssen Parteien sein, ob wir wollen oder nicht… Aber es ist nicht gut, daran zu denken. Als mein Großonkel, der arme Tom Jarndyce, daran zu denken anfing, war es der Anfang vom Ende.«

»Derselbe Mr. Jarndyce, dessen Geschichte ich gehört habe?«

Er nickte ernst.

»Ich war sein Erbe, und dies ist sein Haus gewesen, Esther. Als ich hierherkam, war es wirklich unheimlich hier. Darum heißt es Bleakhaus, das unheimliche Haus. Er hatte die Zeichen seines Jammers allerwärts hier aufgedrückt.«

»Wie verändert muß es jetzt sein«, sagte ich.

»Es hat vordem das Hohe Haus geheißen. Er gab ihm seinen jetzigen Namen und wohnte hier ganz zurückgezogen. Tag und Nacht brütete er über den niederträchtigen Aktenhaufen des Prozesses und wähnte, allem gesunden Menschenverstand entgegen, ihn entwirren und zu Ende bringen zu können. Dabei verfiel das Haus. Der Wind pfiff durch die gesprungenen Mauern, der Regen strömte durch das baufällige Dach, und das Unkraut verwehrte den Weg zu den verfaulenden Türen. Als ich seine Leiche hierherbrachte, schien auch dem Hause das Gehirn aus dem Kopf geschossen zu sein, so zerfetzt und trümmerhaft sah es aus.«

Er ging ein Weilchen auf und ab, nachdem er dies mit einem Schauder mehr zu sich selbst gesagt hatte… Dann sah er mich an, seine Mienen hellten sich auf, und er setzte sich wieder hin, die Hände in die Taschen gesteckt.

»Ich sagte Ihnen, dies sei das Brummstübchen, mein Kind. Wo bin ich stehen geblieben?«

Ich erinnerte ihn an die wohltätige Veränderung in Bleakhaus.

»Ja richtig, Bleakhaus. In der City von London haben wir auch noch eine Besitzung, die jetzt so aussehen muß wie damals Bleakhaus. Ich sage, wir haben eine Besitzung, das heißt, der Prozeß hat sie, denn die Kosten sind die einzige Macht auf Erden, die jemals etwas anderes davon bekommen wird als Augenweh oder Herzeleid. Der Besitz besteht aus einer Straße verfallender blinder Häuser, denen die Augen ausgeschlagen sind – ohne Glasscheiben, ohne Fensterrahmen, nur mit kahlen Läden versehen, die aus ihren Angeln herunterhängen und auseinanderfallen. Der Rost schält sich in Flocken von dem Eisengitter ab; die Schornsteine fallen zusammen, die steinernen Stufen vor jeder Tür sind mit grünem Moder überzogen, und selbst die Stützen, die die Ruinen am Zusammenstürzen hindern, fangen schon an zu faulen. Obgleich Bleakhaus keinen Kanzleiprozeß hatte, so führte doch sein Herr einen, und es ist gebrandmarkt mit demselben Siegel. Das sind die Abdrücke des Großen Siegels, das in ganz England jedes Kind kennt.

»Wie verändert es ist«, sagte ich wiederum.

»Nun ja, das ist es«, antwortete er viel heiterer jetzt als vorhin, »und es ist sehr weise von Ihnen, mich immer wieder auf die Lichtseite des Bildes aufmerksam zu machen. Übrigens, das sind Angelegenheiten, von denen ich nie spreche, an die ich kaum denke, außer im Brummstübchen hier. Wenn Sie es für angezeigt halten, Rick und Ada davon zu erzählen, so überlasse ich es ganz Ihrem Urteil, Esther.«

»Ich hoffe, Sir, daß…«

»Wollen Sie mich nicht du und Vormund nennen, liebe Esther?«

Ich fühlte wieder, daß mir etwas die Kehle zuschnürte. Aber er gab sich den Anschein, als sage er es nur so leichthin, als bloße Laune und nicht als überlegte, aus Herzensgrund kommende Güte.

Ich ließ meine Wirtschaftsschlüssel klingeln, um mich an meine Schuldigkeit zu erinnern, und faltete meine Hände noch ein wenig entschlossener über dem Körbchen und zwang mich, ihn ruhig anzusehen.

»Ich hoffe, Vormund«, sagte ich, »du wirst auf meine Klugheit nicht zu viel bauen, und ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen. Ich fürchte immer, du wirst unangenehm überrascht sein, wenn du herausfindest, daß ich nicht besonders gescheit bin – aber es ist wirklich so, und du würdest selbst bald dahinterkommen, wenn ich es dir jetzt nicht selbst eingestünde.«

Er schien von meinen Worten durchaus nicht unangenehm überrascht zu sein; ganz im Gegenteil. Er sagte mir, und sein Gesicht strahlte dabei vor Lächeln, daß er mich recht gut kenne und ich gescheit genug für ihn sei.

»Nun, so will ich hoffen, daß es wahr ist, aber ich fürchte doch, du irrst dich, Vormund.«

»Du bist gescheit genug, um unsre gute kleine Hausfrau hier zu sein, Kind«, versetzte er gutmütig, »kleine Alte aus dem Kinderlied.« Er trällerte:

‚Kleines altes Weibchen, und willst so hoch hinaus?
Willst die Spinnenweben fegen im blauen Himmelshaus?‘

»Du wirst sie im Lauf deiner Haushaltung, Esther, so rein von unserm Himmel fegen, daß wir einmal eines schönen Tages das Brummstübchen werden räumen und seine Tür zunageln müssen.«

Bei dieser Gelegenheit erhielt ich zuerst die Namen »altes Weibchen«, »kleine Alte« und »Spinnweb« und »Mutter Hubbard«, »Mütterchen Durden«, »Mrs. Shipton« und dergleichen, so daß »Esther« darüber ganz vergessen wurde.

»Um auf unsere frühere Rede zurückzukommen«, begann Mr. Jarndyce wieder. »Da haben wir Rick, einen vielversprechenden hübschen Jungen. Was sollen wir mit dem anfangen?«

– O du meine Güte, was für ein Einfall, mich deswegen um Rat zu fragen! –

»Er muß doch etwas lernen, Esther«, Mr. Jarndyce steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine aus. »Er muß sich einen Beruf wählen. Das wird noch eine lange komplizierte Zopfflechterei werden, das ahne ich schon, aber es muß geschehen.«

»Eine lange komplizierte… was, Vormund?«

»Zopfflechterei. Es ist das einzige Wort, mit dem man die Sache benennen kann. Er ist ein Kanzleigerichtsmündel, liebe Esther. Kenge & Carboy werden etwas davon zu erzählen wissen; Assessor Soundso – eine Art lächerlicher Totengräber, der in einem Hinterstübchen am Ende der Quality-Court, Kanzleigerichtsgasse, Gräber für Prozeßakten schaufelt – wird etwas dreinzureden haben; die Advokaten desgleichen; der Kanzler wird etwas drüber sagen, die Trabanten werden hineinreden, und jeder wird sich ein Honorar dabei machen, und die ganze Sache wird ausnehmend feierlich, wortreich, unzulänglich und kostspielig sein. Das nenne ich so im allgemeinen Zopfflechterei. Wie das Menschengeschlecht zu dieser Plage gekommen ist oder wessen Sünden diese jungen Leute abzubüßen haben, weiß ich nicht; aber es ist so.«

Er fing wieder an, sich wütend durch die Haare zu fahren und anzudeuten, daß er Ostwind zu spüren beginne. Es gab mir ein Beispiel seiner Herzensgüte, daß sein Gesicht, mochte seine Stimmung wechseln, wie sie wollte, mich immer mit gleich wohlwollendem Ausdruck ansah. Er wurde gleich wieder ruhig, steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine aus.

»Vielleicht wäre es das Beste, man würde Mr. Richard fragen, wozu er selbst am meisten Lust hat«, sagte ich.

»Sehr richtig. Das meine ich auch. Ich dächte, es wäre das Beste, wenn du mit ihm und Ada mit deinem angebornen Takt und deiner stillen Weise darüber sprechen würdest. Wir werden gewiß in dieser Angelegenheit durch deine Hilfe zum Ziele kommen, Frauchen.«

– Mir machte der Gedanke an die Verantwortung, die mir jetzt auferlegt wurde, und die vielen andern Dinge wirklich Sorge. –

Ich hatte das doch nicht gemeint; ich hatte gemeint, er solle mit ihm sprechen.

Natürlich sagte ich weiter nichts, als daß ich mein Bestes tun wolle, gab jedoch meiner Befürchtung Ausdruck, er halte mich für viel klüger, als ich in Wirklichkeit sei, aber er lachte nur herzlich darüber.

»Komm«, sagte er, stand auf und schob den Stuhl zurück. »Ich glaube, wir können das Brummstübchen für einen Tag zusperren. Und noch ein Wort zum Schluß, Esther: Wünschest du vielleicht irgend etwas von mir zu wissen?«

– Er sah mich aufmerksam an, und ich mußte ihm ebenso gespannt ins Auge schauen und fühlte gut, was er meinte. –

»Über mich selbst, Vormund?«

»Ja.«

»Vormund«, sagte ich und fühlte, daß meine Hände plötzlich kälter wurden, »Vormund, ich bin fest überzeugt, daß ich dich nicht erst zu bitten brauche, mir etwas zu sagen, wenn du es für nötig oder gut befindest. Wenn ich nicht meinen ganzen Glauben und mein ganzes Vertrauen auf dich setzte, müßte ich wahrhaftig wenig Gefühl haben. Ich habe dich wirklich nichts zu fragen. Gar nichts.«

Er zog meinen Arm durch den seinen, und wir gingen hinaus, nach Ada zu sehen. Von dieser Stunde an fühlte ich mich ihm gegenüber ganz unbefangen, war ganz zufrieden, nicht mehr zu wissen, und ganz glücklich.

Anfangs ging es in Bleakhaus ziemlich lebhaft zu, denn wir hatten Bekanntschaft mit den vielen nahen und entfernten Nachbarn, die Mr. Jarndyce kannten, zu machen. Es schien Ada und mir, als ob ihn jeder kenne, der etwas mit fremder Leute Geld anfangen wollte. Es setzte uns nicht wenig in Erstaunen, als wir frühmorgens anfingen, seine Briefe zu sortieren und im Brummstübchen einige derselben zu beantworten, daß das große Lebensziel fast aller seiner Korrespondenten zu sein schien, Komitees zu bilden und Geld zu sammeln und auszugeben. Die Damen waren darauf so versessen wie die Herren, ja, übertrafen sie noch bei weitem. Sie taten sich in leidenschaftlichster Weise zu Komitees zusammen und veranstalteten mit wahrer Wut Kollekten. Einige von ihnen schienen ihr ganzes Leben mit dem Verteilen von Subskriptionslisten, Schillingskarten, Halbkronenkarten, Halbsovereignkarten, Pennykarten usw. an das ganze Adreßbuch zuzubringen.

Sie baten um alles.

Sie baten um Kleider, um alte Leinwand, um Geld, um Kohlen, sie baten um Suppe, um persönliche Verwendung, sie baten um Autographen, um Flanell, kurz um alles, was Mr. Jarndyce hatte – oder nicht hatte. Ihre Zwecke waren so mannigfaltig wie ihre Wünsche. Sie wollten neue Gebäude errichten, Schulden von alten abzahlen, den mittelalterlichen Marienorden in einem malerischen Gebäude wieder aufleben lassen, sie wollten Mrs. Jellyby ein Ehrengeschenk überreichen, sie wollten den Sekretär des betreffenden Unternehmens malen lassen und das Porträt seiner Schwiegermutter schenken, deren große Verehrung für ihn allgemein bekannt sei; sie hatten vor, alles mögliche anzuschaffen, von fünfhunderttausend Traktätchen bis zu einer Leibrente und von einem Marmordenkmal bis zu einer silbernen Teekanne.

Und welche Menge von Namen sie annahmen. Da gab es: die Frauen von England, die Töchter von Britannien, die Schwestern jeder einzelnen Kardinaltugend, die Frauen von Amerika, die »Damen« von dem und jenen. Sie schienen beständig vor lauter Stimmwerben und Wählen außer sich vor Erregung zu sein. Unserm geringen Einblick und ihren eigenen Berichten nach schienen sie fortwährend Leute zehntausendeweis für ihre Wahlliste zu werben, aber nie ihre Kandidaten durchzubringen. Wir bekamen Kopfweh schon bei dem bloßen Gedanken, in welch fieberhafter Erregung ihr Leben vergehen müsse.

Unter den Damen, die sich ganz besonders durch solch habgierigen Wohltätigkeitstrieb auszeichneten, befand sich auch eine gewisse Mrs. Pardiggle, die, aus der Anzahl ihrer Briefe an Mr. Jarndyce zu schließen, eine ebenso gewaltige Briefschreiberin wie Mrs. Jellyby zu sein schien. Es fiel uns auf, daß sofort Ostwind eintrat, sowie die Rede auf Mrs. Pardiggle kam, und stets Mr. Jarndyce am Weiterreden hinderte. Er pflegte zu bemerken, daß es zwei Klassen wohltätiger Leute gäbe; die einen, die wenig tun und viel Lärm machen, die andern, die gar keinen Lärm machen und viel tun.

Wir waren daher sehr neugierig auf Mrs. Pardiggle, die wir für einen Typus der ersten Klasse halten mußten, und freuten uns sehr, als sie uns eines Tags mit ihren fünf jungen Söhnen einen Besuch abstatten kam.

Sie war eine Dame in gewaltigem Stil, mit einer Brille, einer Adlernase und einem lauten Organ behaftet, die den Eindruck machte, als habe sie sehr viel Platz nötig. Das war übrigens auch der Fall, denn sie verstand es, mit ihrer Schleppe kleine Stühle, selbst wenn sie in ziemlicher Entfernung standen, umzuwerfen. Da nur Ada und ich zu Hause waren, empfingen wir sie schüchtern, denn sie schien wie kaltes Wetter in das Haus zu kommen und den kleinen Pardiggles, die ihr nachfolgten, blaue Nasen zu machen.

»Hier sind, meine jungen Damen«, sprach Mrs. Pardiggle mit großer Geläufigkeit nach den ersten Begrüßungsphrasen, »meine fünf Knaben. Sie haben vielleicht ihre Namen auf einer der gedruckten Subskriptionslisten im Besitze unseres geschätzten Freundes Mrs. Jarndyce gelesen. Egbert, mein Ältester (zwölf), ist der Knabe, der sein ganzes Taschengeld, 5 sh. und 3 d., den Tokahupo-Indianern geschickt hat. Oswald, mein Zweiter (zehnundeinhalb), hat zu dem großen Nationalehrengeschenk für Smithers 2 sh. und 9 d. beigetragen; Francis, mein Dritter (neun), 1 sh. und 6½ d., mein Vierter (sieben) 8 d. für die altersschwachen Witwen, Alfred, mein Jüngster (fünf), ist freiwillig dem Kinderverein ‚Die Freude‘ beigetreten und hat gelobt, sich sein ganzes Leben hindurch des Tabaks in jeder Gestalt zu enthalten.«

Noch nie in meinem Leben sind mir so mißvergnügte Kinder vorgekommen. Sie waren nicht bloß schwächlich und welk, sondern sahen geradezu verbissen und haßerfüllt vor Unzufriedenheit aus. Bei der Erwähnung der Tokahupo-Indianer hätte ich wirklich Egbert für eines der wildesten Mitglieder dieses Stammes halten können, so wütend sah er mich an. Als die Beitragssumme der Kinder erwähnt wurde, nahm wohl das Gesicht jedes einzelnen einen besonders bösartigen Ausdruck an, aber bei ihm war es weitaus am schlimmsten. Nur den kleinen Rekruten des Kinderordens »Die Freude«, der sein Unglück in stumpfsinniger Ruhe zu tragen schien, muß ich ausnehmen.

»Sie haben Mrs. Jellyby einen Besuch gemacht, höre ich.«

Wir sagten ja, wir hätten eine Nacht dort zugebracht.

»Mrs. Jellyby«, fuhr die Dame in ihrem demonstrativen lauten harten Ton fort, so daß es mir vorkam, ihre Stimme habe auch eine Art Brille auf – ich möchte nicht zu bemerken versäumen, daß ihre Brille auf der Nase dadurch nicht verschönend wirkte, daß Mrs. Pardiggle gestielte Augen hatte, wie Ada sich ausdrückte –, »Mrs. Jellyby ist eine Wohltäterin der Menschheit und verdient hilfreiche Unterstützung. Meine Knaben haben zu dem afrikanischen Unternehmen beigetragen: Egbert 1 sh. und 6 d., das ganze Taschengeld für neun Wochen; Oswald 1 sh. und 1½ d., ebenfalls neunwöchentliches Taschengeld; die übrigen ihren bescheidenen Mitteln angemessen. Dessenungeachtet kann ich nicht in jeder Hinsicht mit Mrs. Jellyby übereinstimmen. Ich bin mit Mrs. Jellyby, was die Behandlung ihrer jungen Familie anbetrifft, nicht einverstanden. Es fängt übrigens an, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Man hat bemerkt, daß ihre junge Familie von der Teilnahme an der Sache, der sie sich widmet, ausgeschlossen ist. Sie kann recht haben, sie kann unrecht haben; aber ob sie nun recht oder unrecht hat, ich verfahre mit meinen Kindern anders. Ich nehme sie überallhin mit.«

Ich kam später zu der Überzeugung – ebenso wie Ada –, daß diese Worte es waren, die dem bösgelaunten Ältesten ein scharfes Geheul erpreßten. Er versteckte es schnell unter einem Gähnen, aber es fing als Geheul an.

»Sie gehen mit mir in die Frühmesse um halb sieben, das ganze Jahr hindurch mit Einschluß des tiefen Winters«, fuhr Mrs. Pardiggle im Galopp fort, »und sind um mich während der wechselnden Pflichten des Tages. Ich bin bei dem Schulkomitee, ich bin beim Besuchskomitee, ich bin beim Lehrkomitee, ich bin bei dem Almosenverteilungskomitee, ich bin Mitglied der lokalen Leinwandverteilungsgesellschaft und vieler allgemeiner Gesellschaften, und mit dem Wahlgeschäft hat vielleicht niemand soviel zu tun wie ich. Aber überall sind sie meine Begleiter und eignen sich auf diese Art die Kenntnis der Armen an und die allgemeine Geschäftskenntnis in Wohltätigkeitssachen – mit einem Wort, den Geschmack für diese Dinge, die ihnen im spätem Leben zur Befriedigung und ihren Nebenmenschen zur Hilfe gereichen werden. Meine Jungen sind nie leichtsinnig, sie verwenden ihr gesamtes Taschengeld unter meiner Anleitung zu Subskriptionen und haben so vielen öffentlichen Versammlungen beigewohnt, so viele Vorlesungen, Reden und Diskussionen mitangehört wie nur wenig Erwachsene. Alfred (fünf), der, wie Sie wissen, aus freier Wahl dem Kinderorden ‚Die Freude‘ beigetreten ist, war eins der wenigen Kinder, das nach einer zweistündigen, eindringlichen Anrede von dem Vorsitzenden des Abends bei dieser Gelegenheit noch bewußtes Empfinden an den Tag legte.«

– Alfred glimmerte uns so böse an, als ob er die Schmach dieses Abends nie vergessen könne noch wolle. –

»Sie werden bemerkt haben, Miß Summerson, daß auf einigen der erwähnten Listen im Besitz unseres geschätzten Freundes Mr. Jarndyce die Namensreihe meiner jungen Familie mit O. A. Pardiggle F. R. S. = 1 £ – schließt. Das ist ihr Vater. Wir beobachten meistens immer das gleiche Verfahren. Ich lege zuerst mein Scherflein hin, dann zeichnen meine Jungen ihre Beiträge je nach dem Alter und den bescheidnen Mitteln jedes einzelnen, und dann schließt Mr. Pardiggle den Zug. Mr. Pardiggle schätzt sich glücklich, unter meiner Anleitung seine kleine Gabe beizusteuern, und so gestalten wir die Sache nicht bloß für uns angenehm, sondern auch, schätze ich, erhebend für andere.«

Gesetzt, Mr. Pardiggle speise bei Mr. Jellyby und Mr. Jellyby schütte nach Tisch Mr. Pardiggle sein Herz aus, würde Mr. Pardiggle sich auch zu einer vertraulichen Mitteilung gegenüber Mr. Jellyby bewogen fühlen? Ich wurde ganz wirr, als ich mich bei diesem Gedanken ertappte; er kam mir so von selbst in den Kopf.

»Das Haus liegt sehr hübsch hier«, bemerkte Mrs. Pardiggle.

– Wir waren froh, daß die Rede auf etwas anderes kam, traten ans Fenster und machten die Dame auf die Schönheiten der Aussicht aufmerksam, aber ihre Brillengläser schienen mir mit auffallender Gleichgültigkeit hinzusehen. –

»Kennen Sie Mr. Gusher?«

Wir mußten leider eingestehen, daß wir nicht das Vergnügen von Mr. Gushers Bekanntschaft hätten.

»Da verlieren Sie viel«, versicherte uns Mrs. Pardiggle mit gebieterischem Blick. »Er ist ein höchst eindringlicher, leidenschaftlicher Redner – voller Feuer! In einem Wagen auf dieser Wiese hier, die nach der ganzen Terrainbildung von der Natur wie zu einer öffentlichen Versammlung geschaffen scheint, würde er fast jede mögliche Gelegenheit stundenlang benutzen! Nun, meine jungen Damen!« Mrs. Pardiggle trat von ihrem Stuhl zurück und warf wie durch unsichtbare magische Kraft das ziemlich entfernte runde Tischchen, auf dem mein Arbeitskörbchen stand, um… »Nun, meine jungen Damen, haben Sie mich jetzt ganz ergründet?« – Das war eine so verwirrende Frage, daß mich Ada ganz fassungslos ansah. Mein eignes Schuldbewußtsein nach dem, was ich gedacht hatte, muß sich in der Farbe meiner Wangen ausgesprochen haben. – »Ich meine, meinen hervorstechendsten Charakterzug ergründet. Ich weiß, er ist so hervorstechend, daß er auf der Stelle zu entdecken ist. Ich breite ihn selber offen hin. Ja, ich gestehe es frei und frank, ich bin eine Frau der Tat. Ich liebe anstrengende Arbeit, ich finde Genuß an anstrengender Arbeit. Aufregung tut mir gut. Ich bin anstrengende Arbeit so gewöhnt, daß ich nicht weiß, was Müdigkeit heißt.«

– Wir murmelten etwas, daß das erstaunlich und sehr hübsch sei, oder etwas derart. Wir wußten zwar nicht den Grund, warum es erstaunlich oder hübsch sei, aber taten es aus Höflichkeit. –

»Ich weiß nicht, was es heißt, müde zu sein. Sie können mich nicht müde machen, versuchen Sie es nur einmal!« fuhr Mrs. Pardiggle fort. »Die Menge von Anstrengungen, die mir keine sind, die Unsumme von Geschäften, die mir obliegen, setzen mich manchmal selbst in Erstaunen, aber sie werden für mich zu nichts. Manchmal sind meine Jungen und Mr. Pardiggle schon vom bloßen Zusehen aufs äußerste erschöpft, während ich mich noch rühmen kann, frisch wie eine Lerche zu sein.«

– Der finstere älteste Junge sah womöglich jetzt noch böswilliger aus als vorhin. Ich bemerkte, daß er die rechte Faust ballte und damit dem Deckel seiner Mütze, die er unter dem linken Arme trug, einen heimlichen Schlag versetzte. –

»Diese Eigenschaft kommt mir bei meinen Rundgängen vortrefflich zustatten. Wenn jemand nicht hören will, was ich ihm zu erzählen habe, so sage ich nur: Ermüdung kenne ich nicht, guter Freund; ich werde nie müde und werde fortreden, bis ich fertig bin. Dieses Verfahren versagt nie! Miß Summerson, ich hoffe, ich werde sogleich das Vergnügen Ihrer Begleitung auf meinem Rundgang haben, und Miß Clare wird doch auch mitkommen?«

Anfangs versuchte ich, mich mit dem Hinweis auf meine häuslichen Pflichten zu entschuldigen. Da ich damit nicht durchkam, wandte ich ein, ich zweifle an meiner Befähigung zu solchen Dingen, sei zu unerfahren darin, meinen Charakter anders Gearteten anzupassen, um vom passenden Gesichtspunkt aus auf sie einzuwirken, und daß mir die feine Kenntnis des menschlichen Herzens fehle, die doch eine wesentliche Erfordernis bei diesem Werke sei. Ich sagte, ich hätte selbst noch viel zu lernen, ehe ich andre lehren könnte, und daß mein guter Wille allein nicht ausreiche. Alles das brachte ich mit wenig Selbstvertrauen vor, denn Mrs. Pardiggle war viel älter als ich, hatte große Erfahrung und war höchst gebieterisch in ihrem Auftreten.

»Sie befinden sich im Irrtum, Miß Summerson«, sagte sie, »aber vielleicht können Sie anstrengende Arbeit oder die damit verbundene Aufregung nicht aushalten. Wenn Sie vielleicht sehen wollen, wie ich ans Werk gehe, so will ich Sie jetzt recht gern mitnehmen, denn ich bin eben im Begriff, mit meinen Jungen einen Ziegelstreicher in der Nähe hier, einen sehr schlechten Charakter, zu besuchen. Auch Miß Clare, wenn sie mir die Ehre erweisen will.«

Ada und ich wechselten einen Blick und nahmen, da wir ohnehin ausgehen wollten, das Anerbieten an. Wir setzten unsre Hüte auf, kehrten nach kurzer Abwesenheit zurück und fanden die »junge Familie« gelangweilt in einer Ecke hinschmachten, während Mrs. Pardiggle im Zimmer auf und nieder schritt und alle leichteren Gegenstände mit der Schleppe umfegte. Sie ergriff sofort von Ada Besitz, und ich folgte mit der »Familie«. Ada erzählte mir nachher, Mrs. Pardiggle habe ihr in ihrem lauten Ton auf dem ganzen Wege zu dem Ziegelstreicher von einem aufregenden Kampfe erzählt, den sie vor zwei oder drei Jahren gegen eine andre Dame ausgefochten habe. Es habe sich dabei um Vergebung einer Stelle in einem Stift an zwei rivalisierende Kandidaten gehandelt. Es sei außerordentlich viel gedruckt, geredet, bevollmächtigt und abgestimmt worden und habe große Lebhaftigkeit da und dort gesetzt, wenn auch die Folge war, daß keiner der beiden Kandidaten die Stelle erhielt.

Ich sehe es sehr gerne, wenn sich Kinder mir anvertrauen, und habe in dieser Hinsicht viel Glück, aber damals mußte ich viel darunter leiden. Kaum waren wir nämlich aus der Haustür draußen, forderte Egbert mit der Miene eines kleinen Straßenräubers einen Schilling von mir, weil ihm sein Taschengeld »von ihr« abgeschwindelt worden sei. Als ich ihn auf die Unangemessenheit dieses Wortes namentlich in Verbindung mit seiner Mutter aufmerksam machte, kniff er mich in den Arm und sagte: »O ja freilich! Würde es Ihnen vielleicht gefallen? Warum tut sie, als gäbe sie mir Geld, und nimmt es mir dann wieder weg? Warum heißt es mein Taschengeld, und ich darf es nicht ausgeben?« Diese aufregenden Fragen stiegen ihm und Oswald und Francis so zu Kopf, daß sie alle gleichzeitig an mir herumzwickten, und zwar auf so erschrecklich kunstfertige Weise, indem sie winzige Hautstücke auf meinen Armen zwischen die Nägel nahmen, daß ich mich kaum überwinden konnte, nicht laut aufzuschreien.

Überdies trat mir noch Felix auf die Zehen. Und das kleine Mitglied vom Orden der »Freude«, das sein gesamtes Einkommen schon im voraus unterzeichnet hatte und sich nicht nur des Tabaks, sondern auch des Kuchens enthalten mußte, raste so vor Schmerz und Wut, als wir bei einem Konditor vorbeigingen, daß es ganz feuerrot im Gesicht wurde und mich ordentlich in Schrecken versetzte.

– Ich habe noch nie auf einem Spaziergang mit Kindern an Leib und Seele so viel zu erdulden gehabt wie von diesen an Jugendfreude unterbundenen Jungen, die mir jetzt die Ehre erwiesen, natürlich zu sein. –

Ich war froh, als wir des Ziegelstreichers Wohnung erreichten, obgleich sie in einer Gruppe jämmerlicher Hütten vor einer Lehmgrube stand, mit einem Schweinestall dicht vor den zerbrochenen Fenstern und einem elenden kleinen Gärtchen neben der Tür, in dem nichts als lauter Pfützen gediehen. Hie und da war bei den Hütten ein altes Faß hingestellt, um das vom Dache abfließende Regenwasser aufzufangen. Die an den Türen und Fenstern lungernden Männer und Frauen beachteten uns nicht weiter, nur, daß sie manchmal einander anlachten oder bei unserm Vorbeigehen Worte über »vornehme Leute« fallenließen, die sich um ihre Sachen kümmern und sich mit den Angelegenheiten andrer nicht den Kopf zerbrechen sollten. Mrs. Pardiggle ging voran, trug sittliche Entschiedenheit zur Schau, ließ sich sehr wortreich über die unreinlichen Gewohnheiten der Leute aus – als ob irgend jemand an einem solchen Orte hätte reinlich sein können – und führte uns schließlich in eine Hütte am äußersten Ende, deren Stube wir fast ausfüllten.

Außer uns befanden sich in dem feuchten dumpfigen Zimmer eine Frau mit einem blaugeschlagenen Auge, die ein kleines ächzendes Kind am Feuer wiegte, ein Mann, ganz bedeckt von Lehm und Schlamm und von sehr liederlichem Aussehen, der lang hingerekelt auf dem Boden lag und eine Pfeife rauchte, ein athletischer junger Bursche, der einem Hunde ein Halsband umlegte, und ein frech aussehendes Mädchen, das in sehr schmutzigem Wasser irgend etwas wusch. Sie blickten alle auf, als wir hereintraten, und die Frau schien ihr Gesicht nach dem Feuer zu kehren, wie um ihr verletztes Auge nicht sehen zu lassen. Niemand hieß uns willkommen.

»Nun, meine Freunde«, begann Mrs. Pardiggle, aber ihre Stimme klang durchaus nicht freundschaftlich und viel zu geschäftsmäßig und systematisch, »wie geht es euch allen? Hier bin ich wieder. Ich habe euch schon gesagt, ich bin nicht müde zu machen. Ich liebe Anstrengung und halte Wort.«

»Kommen leicht noch mehr herein?« brummte der Mann auf dem Boden, den Kopf auf die Hand gestützt und uns anstierend.

»Nein, mein Freund«, sagte Mrs. Pardiggle, setzte sich auf einen Stuhl und fegte den andern um. »Wir sind alle hier.«

»Ich hab schon gmeint, es langt sonst net«, sagte der Mann mit der Pfeife im Mund und musterte uns.

Der junge Bursche und das Mädchen lachten. Zwei Bekannte von ihnen, die unser Kommen angelockt hatte, standen, die Hände in den Taschen, draußen vor der Tür und lachten laut mit.

»Ihr könnt mich nicht ermüden, liebe Leute«, sagte Mrs. Pardiggle zur Türe hinaus. »Ich habe Freude an angestrengter Arbeit, und je schwerer ihr sie mir macht, desto besser gefällt sie mir.«

»Dann machen wir sie ihr leicht«, brummte der Mann auf dem Boden, »damits schon ein End hat. Ich laß mir die Frechheiten in meinem Haus nicht mehr lang gefallen. Ich laß mich nicht länger verhören wie einen Spitzbuben. Jetzt wollen Sie wie gewöhnlich herumschnüffeln und herumspitzeln; ich weiß schon, woraufs hinausgeht. Schon gut, ich werd Ihnen keine Gelegenheiten geben, anzufangen. Ich will euch die Müh ersparen. Wascht meine Tochter? Ja, sie wascht. Schauen Sies Wasser an. Stinkts? Das trinken wir. Wie gfallts Ihnen und was halten Sie von Schnaps? Is meine Wohnung schmutzig? Ja, sie is schmutzig, sie ist von Natur schmutzig und ungsund, und wir haben fünf schmutzige und ungsunde Kinder ghabt; schon tot alle, und das ist für sie das beste und für uns auch. Ob ich Ihner kleines Buch glesen hab? Nein, ich hab Ihner kleines Buch nicht glesen. Hier kann keiner lesen, und dann paßts für ein Wickelkind, und ich bin kein Wickelkind. Und wie ich mich aufgführt hab? Drei Tag bsoffen gwesen! Und ich hätt mich vier Tag lang bsoffen, wenns Geld glangt hätt. Ob ich niemals dran denk in die Kirch zu gehen? Fallt mir net ein. Sie warten dort net auf mich. Der Kirchendiener ist zu vornehm für mich. Und woher hat meine Frau das blaue Äug? Hm. Von mir. Und wenn sie sagt nein, so lügts.«

Er hatte die Pfeife aus dem Mund genommen, während er sprach, legte sich jetzt auf die andre Seite und fing wieder an zu rauchen.

Mrs. Pardiggle, die ihn durch ihre Brille mit einer erkünstelten Fassung, die meiner Ansicht nach nur dazu angetan war, seine Widerspenstigkeit zu vermehren, angesehen hatte, zog jetzt ein Buch heraus wie einen Konstablerstab und nahm die ganze Gesellschaft in Haft. In geistige Haft natürlich. Aber sie tat es mit der Miene eines unerbittlichen Polizeimanns.

Ada und mir wurde es sehr unbehaglich zumute. Wir fühlten uns als Eindringlinge, und es kam uns beiden vor, als ob Mrs. Pardiggle viel mehr erreicht haben würde, wenn sie nicht so mechanisch zu Werke gegangen wäre. Die Kinder sahen mürrisch drein und starrten alles mit großen Augen an; die Familie nahm von uns nicht die geringste Notiz, außer, wenn der junge Bursche den Hund bellen ließ, was er meistens tat, wenn Mrs. Pardiggle mit besonderer Emphase sprach. Wir empfanden beide aufs schmerzlichste, daß zwischen uns und diesen Leuten eine eiserne unüberbrückbare Schranke bestand.

Durch wen oder wie sie beseitigt werden könnte, wußten wir nicht, aber durch Mrs. Pardiggle nicht, das sahen wir ein. Selbst was sie vorlas und sagte, schien uns für solche Zuhörer schlecht gewählt zu sein, selbst wenn man es ihnen noch so rücksichtsvoll und mit noch so viel Takt beigebracht hätte. Was das kleine Buch, von dem der Mann auf dem Boden gesprochen hatte, betraf, so bekamen wir es später zu Gesicht, und Mr. Jarndyce sagte, er zweifle, ob Robinson Crusoe es gelesen haben würde, auch wenn er kein andres auf seiner wüsten Insel gehabt hätte.

Unter diesen Umständen bedeutete es eine große, allgemeine Erleichterung, als Mrs. Pardiggle aufhörte. Der Mann auf dem Boden drehte wieder den Kopf und sagte mürrisch:

»Also sind S jetzt fertig?«

»Für heute ja, mein Freund. Aber ich werde nie müde. Ich werde regelmäßig wiederkommen«, antwortete Mrs. Pardiggle mit zur Schau getragener Leutseligkeit.

»Wenn S nur jetzt schon gehen«, sagte er, verschränkte mit einem Fluch die Arme und schloß die Augen, »können S von mir aus tun, was S mögen.«

Mrs. Pardiggle stand auf und erzeugte in dem engen Raum einen Wirbel, dem selbst die Pfeife des Mannes nur mit knapper Not entging. Sodann nahm sie zwei ihrer Jungen an der Hand, hieß die andern ihr auf dem Fuße folgen, sprach die Hoffnung aus, daß der Ziegelstreicher und sein ganzes Haus bei ihrem nächsten Besuche sich gebessert haben würden, und begab sich nach einer andern Hütte.

Sie glaubte wahrscheinlich, wir folgten ihr, aber als sie draußen war, gingen wir zu der am Feuer sitzenden Frau hin, um sie zu fragen, ob das Kleine krank sei.

Sie wandte keinen Blick von dem Kind, das jetzt auf ihrem Schoß lag. Wir hatten schon früher bemerkt, daß sie ihr verletztes Auge mit der Hand zudeckte, als wolle sie jede Erinnerung an Gewalttat und schlechte Behandlung von dem armen kleinen Wesen fernhalten.

Ada, deren weiches Herz bei dem Anblick gerührt wurde, beugte sich herab, um das kleine Gesicht zu berühren. Da bemerkte ich, was vor sich ging, und zog sie schnell zurück.

Das Kind starb.

»Ach, Esther!« rief sie und sank auf die Knie. »Sieh her! Ach, liebe Esther, das kleine Wesen! Das hübsche kleine stille Wesen! Es tut mir so leid. Und die Mutter tut mir so leid. Ich habe noch nie so etwas Trauriges gesehen. Ach das arme, arme Kind!«

Ihre Teilnahme und Milde, mit der sie sich weinend über das Kleine beugte und ihre Hand auf die der Mutter legte, hätten jedes Herz rühren müssen. Die Frau sah sie zuerst erstaunt an und brach dann in Tränen aus.

Ich nahm ihr die leichte Last von Schoße, tat, was ich konnte, um die kleine Leiche hübscher und friedlicher aussehen zu machen, legte sie auf ein Brett und deckte sie mit meinem Taschentuche zu. Wir versuchten die Mutter zu trösten und flüsterten ihr die Worte zu, die unser Heiland über die Kinder gesagt hatte. Sie antwortete nichts, sondern blieb sitzen und weinte – weinte bitterlich.

Als ich mich umdrehte, sah ich, daß der junge Bursche den Hund hinausgeführt hatte und an der Türe stand und auf uns blickte, mit trocknen Augen, aber still. Auch das Mädchen war stumm, saß in einer Ecke und blickte zu Boden. Der Mann war aufgestanden. Er rauchte noch immer mit trotziger Miene, aber er schwieg.

Ein häßliches Weib, sehr ärmlich angezogen, kam rasch herein, während ich noch die Szene betrachtete, ging auf die Mutter zu und rief: »Jenny, Jenny.« Die Mutter stand bei diesen Worten auf und fiel ihr um den Hals.

Auch diese Frau trug auf Gesicht und Armen die Spuren von Mißhandlungen. Sie hatte nichts Anmutiges an sich als die Anmut des Mitleids, aber wie sie die andere tröstete und ihr dabei die Tränen über die Wangen liefen, vermißte man die Schönheit nicht. Ich sage: tröstete; aber sie sagte nichts weiter als: »Jenny, Jenny.« Alles übrige lag in dem Ton, mit dem sie diese Worte sprach.

Es war rührend, wie diese beiden Frauen, arm, zerlumpt und zerschlagen, so einig waren, – zu sehen, was sie einander sein konnten, – wie sie füreinander fühlten, – wie ihre Herzen bei den harten Prüfungen des Lebens sanfter geworden waren. Ich glaube, die beste Seite solcher Leute bleibt uns fast immer verborgen. Was der Arme dem Armen ist, ist wenigen bekannt außer ihnen selbst und Gott.

Wir hielten es für das beste, uns zu entfernen und sie ungestört sich selbst zu überlassen. Wir stahlen uns still hinaus und wurden von niemand beachtet außer von dem Mann. Er stand an die Wand gelehnt, ganz nahe an der Tür, und als er bemerkte, daß wir nur mühsam an ihm vorbei konnten, ging er vor uns hinaus. Er schien nicht merken lassen zu wollen, daß er es unsertwegen tat, aber wir verstanden es gar wohl und dankten ihm. Er gab keine Antwort.

Ada war auf dem ganzen Nachhausewege so bekümmert, und Richard, den wir zu Hause fanden, schmerzte es so sehr, sie in Tränen zu sehen – wenn er auch einmal zu mir hinausging, um mir zu sagen, wie schön sie aussähe –, daß wir übereinkamen, abends ein paar Sachen mitzunehmen und unsern Besuch in der Hütte des Ziegelstreichers zu wiederholen. Wir sagten Mr. Jarndyce so wenig wie möglich davon, aber der Wind schlug sofort nach Osten um.

Richard begleitete uns abends nach dem Schauplatz unsres Morgenausfluges. Unterwegs mußten wir an einer lärmenden Schenke vorbei, wo eine Anzahl Männer um die Türe herumstanden. Unter ihnen und sich am lautesten herumstreitend der Vater des kleinen gestorbenen Kindes. Nicht weit davon trafen wir den jungen Burschen mit seinem Hund in ähnlich gestimmter Gesellschaft. Die Schwester lachte und plauderte mit ein paar andern Mädchen an einer Ecke der Hüttenreihe, aber sie schien sich zu schämen und wendete sich weg, als wir vorbeigingen.

Wir ließen Richard warten, als wir das Haus des Ziegelstreichers erblickten, und gingen allein weiter. Als wir die Tür erreichten, sahen wir das Weib, das die Mutter getröstet hatte, dort stehen und sich voll Angst umschauen.

»Ach so, Sie sinds, junge Damens«, sagte sie flüsternd. »Ich schau nach meinem Mann aus. Ich hab das Herz im Mund. Wenn er mich außer Haus trifft, schlägt er mich tot.«

»Ihr Ehegatte?« fragte ich.

»Ja, Miß, mein Mann. Jenny schläft. Sie ist todmüd. Seit sieben Tagen und Nächten ist das Kind kaum von ihrem Schoß gekommen, außer, wenn ich es ihr für ein paar Minuten hab abnehmen können.«

Sie machte uns Platz, wir traten leise ein und legten, was wir mitgebracht, neben das elende Bett, auf dem die Mutter schlief, hin. Man hatte keinen Versuch gemacht, die Stube zu reinigen; ihre Beschaffenheit schien jede Hoffnung auszuschließen, daß sie jemals rein werden könnte, aber die kleine starre Leiche, die soviel Feierlichkeit ringsum verbreitete, war gewaschen und reinlich in ein paar weiße Leinwandlappen gehüllt worden, und auf mein Taschentuch, das immer noch das arme Kind zudeckte, hatten dieselben rauhen narbenvollen Hände einen kleinen Strauß gelegt.

»Der Himmel möge es Ihnen vergelten!« sagten wir zu dem Weib. »Sie sind eine gute Frau.«

»Ich, junge Damens?« fragte sie mit Erstaunen. »Ruhig, Jenny!«

– Die Mutter hatte im Schlafe gestöhnt und bewegte sich. Der Klang der bekannten Stimme schien sie zu beruhigen. Sie war wieder ganz still. –

Ich ahnte nicht, als ich mein Taschentuch in die Höhe hob, um die kleine Leiche darunter zu betrachten, und Adas Haar, die sich mitleidig darüber gebeugt hatte, das Kind wie ein Glorienschein umgab – ich ahnte nicht, auf welch sturmdurchtobter Brust dieses Taschentuch noch einmal ruhen würde. Ich dachte nur daran, daß vielleicht der Engel des Kindes auf die Frau niederblicke, die es mit so mitleidiger Hand wieder darüber deckte und dann, als wir Abschied nahmen, an der Türe stehen blieb und sich abwechselnd umsah, in banger Angst hinauslauschte und wieder in ihrer beruhigenden Weise flüsterte: »Jenny, Jenny.«

9. Kapitel


9. Kapitel

Anzeichen

Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber es kommt mir vor, als erzählte ich stets von mir selbst. Ich denke stets, ich schreibe von andern Leuten, und will so wenig wie möglich an mich denken, und plötzlich bin ich wieder mitten in der Geschichte drin und bin ärgerlich und sage: Aber, aber, du zudringliches, unbedeutendes Geschöpf!

Mein Liebling und ich lasen und arbeiteten und waren die ganze Zeit über so beschäftigt, daß die Wintertage wie froh beschwingte Vögel an uns vorüberflogen. Meistens nachmittags und jeden Abend leistete uns Richard Gesellschaft. Obgleich er einer der ruhelosesten Menschen war, die es nur geben konnte, so fühlte er sich doch sehr wohl in unsrer Gesellschaft.

Er hatte Ada sehr, sehr gern. Ich weiß es, und es ist besser, ich sage es gleich. Ich hatte noch nie junge Leute sich ineinander verlieben sehen, aber ich wußte ziemlich bald, wie es mit ihnen stand. Ich konnte natürlich nicht sagen oder merken lassen, daß ich etwas davon wußte. Im Gegenteil, ich tat so ernsthaft und stellte mich so blind, daß ich manchmal, wenn ich an der Arbeit saß, bei mir dachte, ob ich mich denn nicht gar zu hinterlistig benähme.

Aber es ging nicht anders. Ich hatte weiter nichts zu tun als still zu sein und war so still wie eine Maus. Sie waren auch so still wie Mäuse, was das Reden anbelangte, aber die unschuldige Art, mit der sie sich mehr und mehr auf mich verließen und einander immer lieber gewannen, war so entzückend, daß es mir sehr schwer wurde, zu verbergen, wie sehr es meine Teilnahme erregte.

»Unser kleines altes Hausmütterchen ist so ein vortreffliches Frauchen«, pflegte Richard zu sagen, wenn er mir frühmorgens im Garten mit seinem gewinnenden Lachen und vielleicht nicht ohne ein wenig zu erröten entgegenkam, »daß es ohne sie gar nicht geht. Ehe ich meine wilde Tageshetze beginne, mich mit Büchern und Instrumenten herumschlage und dann wie ein Straßenräuber im Galopp bergauf, bergab die ganze Gegend durchstreife, tut es mir immer so wohl, einen ruhigen Spaziergang mit unserer guten Freundin zu machen, daß ich schon wieder hier bin.«

»Du weißt, liebes Hausmütterchen«, sagte dann vielleicht Ada wieder vor dem Schlafengehen, ihren Kopf auf meiner Schulter gelehnt, während der Schein des Feuers sich in ihren nachdenklichen Augen widerspiegelte, »ich habe nicht vor zu plaudern, wenn wir abends heraufgehen, aber mit deinem lieben Gesicht als Gesellschaft eine kleine Weile dazusitzen und zu träumen und den Wind zu hören und an die armen Seeleute auf dem Meer zu denken…«

So, so, wollte vielleicht Richard Seemann werden?!

Wir hatten schon öfter besprochen, was er werden sollte, und es war von seiner alten Neigung für die See die Rede gewesen. Mr. Jarndyce hatte an einen Verwandten der Familie, einen gewissen hochgestellten Sir Leicester Dedlock, geschrieben und ihn um seine Verwendung für Richard gebeten. Und Sir Leicester hatte sehr gnädig geantwortet, er werde sich glücklich schätzen, wenn sich ihm Gelegenheit bieten sollte – was aber keineswegs wahrscheinlich sei –, dem jungen Gentleman irgendwie förderlich sein zu können. Und Mylady sende dem jungen Herrn, an dessen Verwandtschaft sie sich noch recht gut erinnere, die besten Wünsche. Sie hoffe, er werde seine Pflicht in jedem Beruf, den er zu ergreifen gedenke, tun.

»Daraus scheint klar hervorzugehen«, sagte Richard zu mir, »daß ich mir meinen eignen Weg zu bahnen haben werde. Tut nichts! Viele haben das vor mir versuchen müssen und haben es zuwege gebracht. Ich wünschte nur, ich wäre schon jetzt Kapitän eines Kaperschiffs und könnte den Lordkanzler entführen und auf schmale Kost setzen, bis er ein Urteil in unserm Prozeß fällt. Er sollte bald mager werden, wenn er sich nicht dazu hält.«

Neben einer Elastizität, Hoffnungsfreudigkeit und einem fröhlichen Sinn, der kaum jemals müde wurde, legte Richard eine Sorglosigkeit an den Tag, die mich beunruhigte, besonders, weil er sie seltsamerweise für Klugheit hielt. Sie mischte sich auf ganz merkwürdige Art in alles, was mit Rechnen und Geld zusammenhing, die ich nicht besser glaube erklären zu können, als wenn ich für einen Augenblick wieder auf unser Mr. Skimpole vorgeschossenes Darlehen zurückkomme. Mr. Jarndyce hatte den Betrag entweder von Mr. Skimpole selbst oder von »Coavinses« in Erfahrung gebracht und mir das Geld mit dem Auftrag übergeben, ich möge meinen Anteil zurückbehalten und den Rest Richard aushändigen. Die Menge gedankenlosen Geldverzettelns im kleinen, die Richard durch die Wiedererlangung seiner zehn Pfund rechtfertigte, und die vielen Male, die er diese zehn Pfund als eine Ersparnis oder einen Gewinn aufzählte, würden, einfach addiert, schon eine beträchtliche Summe ergeben haben.

»Mein kluges Mütterchen Hubbard, warum nicht?« sagte er einmal zu mir, als er ohne die mindeste Überlegung dem Ziegelstreicher fünf Pfund schenken wollte. »Ich habe doch bei der Coavinsesgeschichte reine zehn Pfund verdient.«

»Wieso denn?« fragte ich.

»Nun, ich wurde zehn Pfund los, an denen mir nichts lag und auf die ich nie wieder rechnete. Das können Sie doch nicht leugnen.«

»Nein.«

»Also gut. Und dann bekam ich wieder zehn Pfund…«

»Dieselben zehn Pfund«, verbesserte ich.

»Das hat nichts damit zu tun! Ich habe zehn Pfund mehr bekommen, als ich erwarten konnte, und darf sie daher ausgeben, ohne mir viel daraus zu machen.«

Ganz in derselben Weise schrieb er sich fünf Pfund gut, als er von der Nutzlosigkeit, sie dem Ziegelstreicher zu schenken, überzeugt war, und addierte sie dazu.

»Schauen Sie mal her«, sagte er. »Ich habe fünf Pfund bei der Ziegelstreichergeschichte erspart. Wenn ich mir nun den Spaß mache und mit der Extrapost nach London und zurückfahre und dafür vier Pfund rechne, so erspare ich eins. Und es ist eine sehr hübsche Sache, ein Pfund zu sparen, behaupte ich; ein Penny gespart, ist ein Penny verdient.«

Ich glaube, Richard war eine so offne und hochherzige Natur, wie man sie nur irgend finden konnte. Temperamentvoll und mutig und bei all seiner wilden Ruhelosigkeit so mild und sanft, daß ich ihn in wenigen Wochen wie einen Bruder kannte. Seine Liebenswürdigkeit war ihm angeboren und hätte sich selbst ohne Adas Einfluß im besten Lichte gezeigt. Aber unter diesem wurde er einer der gewinnendsten Gesellschafter, immer zur Teilnahme geneigt und immer glücklich, hoffnungsfreudig und leichtherzig.

Wie ich mit ihnen zusammensaß, mich mit ihnen unterhielt und spazierenging und von Tag zu Tag sie sich immer mehr ineinander verlieben sah, trotzdem sie nichts davon zueinander verlauten ließen und ihre Liebe für das größte aller Geheimnisse hielten, war ich kaum weniger als sie von dem hübschen Traum bezaubert und erfreut.

In dieser Weise lebten wir fort, da erhielt Mr. Jarndyce eines Morgens beim Frühstück einen Brief, sagte mit einem Blick auf die Adresse: »Ah! Von Boythorn«, öffnete ihn mit sichtlichem Vergnügen und las ihn.

Ehe er noch damit zu Ende war, sagte er, Boythorn käme auf Besuch.

»Wer ist Boythorn?« fragten wir alle. Und ich glaube, wir dachten auch alle – ich wenigstens tat es –, wird Boythorn vielleicht einen Einfluß auf das, was jetzt, vorgeht, ausüben?«

»Ich bin mit Lawrence Boythorn in die Schule gegangen«, erzählte Mr. Jarndyce und legte den Brief auf den Tisch. Das sind jetzt mehr als fünfundvierzig Jahre. Er war damals der ungestümste Junge von der Welt und ist jetzt der ungestümste Mann. Er war damals der herzhafteste und wackerste Junge von der Welt und ist jetzt dasselbe als Mann. Er ist ein kolossaler Bursche.«

»An Wuchs, Sir?« fragte Richard.

»Auch in dieser Hinsicht, Rick. Er ist etwa zehn Jahre älter als ich und ein paar Zoll größer; er trägt den Kopf zurückgeworfen wie ein alter Soldat, die eiserne Brust frei heraus; Hände hat er wie ein Schmied, und Lungen!… Solche Lungen gibt es nur einmal. Mag er sprechen, lachen oder schnarchen, so zittern die Balken des Hauses.«

– Wie sich Mr. Jarndyce an dem Bilde seines Freundes Boythorn erfreute, bemerkten wir als günstiges Omen, daß sich nicht das mindeste Anzeichen von Ostwind zeigte. –

»Aber eigentlich meine ich die Seele des Mannes, das warme Herz, die Leidenschaftlichkeit, das feurige Blut des Mannes, Rick und Ada und auch du, kleine Spinnwebe, denn euch alle wird der Besuch interessieren. Seine Sprache ist so volltönend wie seine Stimme. Er bewegt sich immer in Extremen; er kommt nicht aus dem Superlativ heraus. In seinen Verdammungsurteilen kennt er keine Grenzen. Nach seinen Reden könnte man ihn für einen Menschenfresser halten, und ich glaube, einige Leute halten ihn auch dafür. So! Ich sage euch für jetzt nichts weiter von ihm. Ihr dürft euch nicht wundern, wenn er mich wie seinen Schützling behandelt, denn er kann nicht vergessen, daß ich in der Schule einer von den Kleinsten war und unsre Freundschaft damit begann, daß er meinem Obertyrannen vor der Frühstückspause zwei Zähne (er sagt sechs) ausschlug. Boythorn und sein Bedienter«, sagte er zu mir gewendet, »werden heute nachmittag hier eintreffen, liebe Esther.«

Ich trug Sorge, daß die nötigen Anstalten für Mr. Boythorns Empfang getroffen wurden, und wir sahen neugierig seiner Ankunft entgegen. Der Nachmittag verging jedoch, und er erschien nicht. Die Speisestunde kam, und er erschien immer noch nicht. Das Essen wurde eine Stunde verschoben, und wir saßen um den Kamin, ohne ein andres Licht als seine Glut, als das Haustor plötzlich aufgerissen wurde und die Halle von einer Stentorstimme erdröhnte, die mit größter Heftigkeit rief:

»Jarndyce, ein gottvergessener Schurke hat uns einen falschen Weg gewiesen. Rechts statt links. Er ist der bodenloseste Halunke, den die Erde trägt. Sein Vater muß ein vollendeter Schuft gewesen sein, daß er so einen Sohn bekommen konnte. Ich würde den Kerl ohne den leisesten Gewissensbiß erschießen lassen.«

»Hat er es absichtlich getan?« hörten wir Mr. Jarndyce fragen.

»Ich zweifle nicht im geringsten, daß der Schurke sein ganzes Leben lang nichts andres getan hat, als Reisende irrezuführen. Bei meiner Seele, er kam mir wie der falscheste Hund, den ich je gesehen, vor, als er uns riet, rechts zu fahren. Und dennoch hab ich dem Kerl gegenübergestanden, Auge in Auge, und ihm nicht das Gehirn herausgeschlagen.«

»Zähne, meinst du«, sagte Mr. Jarndyce.

»Hahaha!« lachte Mr. Lawrence Boythorn, daß die Wände zitterten. »Was, das hast du immer noch nicht vergessen? Hahaha!… Das war auch so ein unglaublicher Schuft! Bei meiner Seele, das Gesicht dieses Kerls war schon damals das schwärzeste Bild der Hinterlist, Feigheit und Grausamkeit, das man nur als Vogelscheuche in einem Felde von Halunken hätte aufstellen können. Und wenn ich morgen diesem beispiellosen Despoten auf der Straße begegnete, ich würde ihn fällen wie einen verfaulten Baum.«

»Ich zweifle nicht im geringsten«, sagte Mr. Jarndyce, »aber willst du nicht heraufkommen?«

»Bei meiner Seele, Jarndyce« – der Gast schien auf die Uhr zu sehen – »wenn du verheiratet wärst, würde ich lieber an der Gartentür umgekehrt sein und auf die entlegensten Gipfel des Himalayagebirges gegangen, als daß ich mich zu solch unpassender Stunde eingefunden hätte.«

»Doch wohl nicht ganz so weit«, sagte Mr. Jarndyce.

»Bei meinem Leben und bei meiner Ehre, ja! Um keinen Preis der Welt würde ich mich der unglaublichen Unverschämtheit schuldig machen, eine Dame vom Hause solang warten zu lassen. Lieber hinrichten würde ich mich lassen.«

Bei diesen Worten gingen sie die Treppen hinauf, und gleich darauf hörten wir den Gast oben in seinem Schlafzimmer losdonnern: »Hahaha!« und wieder »Hahaha!« bis das leiseste Echo in der Nachbarschaft davon angesteckt wurde und so lustig zu lachen schien wie er und wie wir.

Wir alle faßten ein Vorurteil zu Mr. Boythorns Gunsten, denn es lag ein gewisser innerer Wert in seinem Lachen, seiner kräftigen, gesunden Stimme und der Wucht, mit der jedes seiner Worte aus seinem Munde kam, und selbst in der Wut seiner Superlative, die wie blindgeladene Kanonen loszugehen und niemanden zu verletzen schienen, aber wir waren kaum daraufgefaßt, dieses Vorurteil so durch seine äußere Erscheinung gerechtfertigt zu sehen, als ihn Mr. Jarndyce vorstellte.

Er war nicht nur ein schöner alter Herr, aufrecht und kraftvoll, wie er uns beschrieben worden, mit einem massiven grauen Kopf, einer schönen Ruhe im Gesicht, wenn er schwieg, einer Gestalt, die ein wenig zur Korpulenz geneigt hätte, wenn er sie nicht so beständig in Leben erhalten haben würde, einem Kinn, das, ohne die heftige Emphase, in der er sich beständig befand, ein Doppelkinn hätte werden können – er war auch ein echter Gentleman in seinem Benehmen, so ritterlich höflich, das Gesicht von einem freundlichen liebenswürdigen Lächeln erhellt, und es schien so klar zu sein, daß er nichts zu verbergen hatte und sich immer so gab, wie er war –, unfähig, etwas in beschränktem Maßstabe zu tun, und immer die blindgeladenen Kanonen abfeuernd, weil er keine kleinern Waffen hatte, daß ich wirklich nicht anders konnte als ihn bei Tisch stets mit gleicher Freude anzusehen, mochte er nun lächeln, sich mit Ada oder mir unterhalten oder sich von Mr. Jarndyce zu einer großen Salve von Superlativen verleiten lassen oder den Kopf wie ein Bluthund emporwerfen und das gewaltige Hahaha ertönen lassen.

»Du hast doch deinen Vogel mitgebracht?« fragte Mr. Jarndyce.

»Bei Gott! Es ist der erstaunlichste Vogel in ganz Europa«, rief Mr. Boythorn. »Er ist das allerwunderbarste Geschöpf. Ich gebe diesen Vogel nicht für zehntausend Guineen her. Ich habe ihm in meinem Testament eine Leibrente ausgesetzt, falls er mich überleben sollte. Er ist, was Verstand und Anhänglichkeit betrifft, ein Phänomen. Und sein Vater war einer der fabelhaftesten Vögel, die jemals gelebt haben.«

Der Gegenstand dieser Lobeshymne war ein außerordentlich kleiner Kanarienvogel, so zahm, daß ihn Mr. Boythorns Bedienter auf dem Zeigefinger herunterbrachte und daß er jetzt seinem Herrn auf den Kopf flog, nachdem er vorher in der Stube herumgeflattert war.

Den alten Herrn die unversöhnlichsten und leidenschaftlichsten Aussprüche tun zu hören, während das winzige schwache Geschöpfchen ruhig auf seiner Stirne saß, war die beste Illustration zu seinem Charakter, wie mir vorkam.

»Meiner Seel, Jarndyce«, sagte Mr. Boythorn und hielt dem Kanarienvogel zärtlich ein Stückchen Brot zum Picken hin, »wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich alle Kanzleigerichtsassessoren morgen früh an der Kehle packen und sie schütteln, bis ihnen das Geld aus der Tasche fiele und die Knochen im Leibe schepperten. Ich würde mir eine Entscheidung erzwingen durch gute Mittel oder durch schlimme. Wenn du mich dazu ermächtigen willst, so werde ich es mit dem größten Vergnügen verrichten.«

– Die ganze Zeit über fraß ihm der winzige Kanarienvogel aus der Hand. –

»Ich danke dir, Lawrence«, lachte Mr. Jarndyce, »aber der Prozeß ist auf einem Punkt angelangt, wo ihn nichts weiter vorwärts bringen könnte, selbst wenn man das ganze Richterkollegium und das gesamte Barreau durchrütteln würde.«

»Es hat auf der ganzen Welt noch keinen so höllischen Hexenkessel gegeben wie dieses Kanzleigericht«, stimmte Mr. Boythorn bei. »Nur eine Mine darunter gelegt, während der Gerichtszeit, wenn alle Urkunden und Dekrete und Präzedenzien und alle dazugehörigen Beamten groß und klein, aufwärts und abwärts gezählt von dem Sohne, dem Generalrevisor, bis zu seinem Vater, dem Teufel, darin sind, und dann das Ganze mit zehntausend Zentnern Pulver in die Luft gesprengt, würde seinen Mängeln ein wenig abhelfen.«

Man konnte nicht anders, man mußte über den tiefen Ernst lachen, mit dem er diese umfassende Reformmaßregel vorschlug. Und er lachte mit, warf den Kopf in die Höhe und schüttelte die breite Brust, und wieder hallte ringsumher alles sein Hahaha wider.

Er störte damit nicht im mindesten den Vogel, der sich vollkommen sicher fühlte und auf dem Tische herumhüpfte und von Zeit zu Zeit das kleine Köpfchen auf die Seite legte und mit einem schnellen Blick seinen Herrn wie seinesgleichen ansah.

»Aber wie steht es mit dem Wegerecht, um das du dich mit deinem Nachbarn streitest?« fragte Mr. Jarndyce. »Du leidest doch selbst unter der Last der Gesetze.«

»Der Kerl hat mich wegen Eigentumsverletzung verklagt, und ich habe ihn wegen Eigentumsverletzung verklagt«, erwiderte Mr. Boythorn. »Bei Gott, er ist der stolzeste Bursche, der jemals gelebt hat. Es ist ganz unmöglich, daß er wirklich Sir Leicester heißt, er sollte Sir Lucifer heißen.«

»Ein Kompliment für unsern entfernten Verwandten«, sagte mein Vormund lachend zu Ada und Richard.

»Ich würde Miß Clare und Mr. Carstone um Entschuldigung bitten«, fuhr unser Besuch fort, »wenn mir nicht das freundliche Gesicht der Dame und das Lächeln des Herrn sagten, daß es nicht angebracht ist und sie sich ihren entfernten Verwandten in respektvoller Entfernung vom Leibe zu halten wissen.«

»Er hält sich uns vom Leibe«, verbesserte Richard.

»Meiner Seel«, gab Mr. Boythorn wieder eine Breitseite ab. »Dieser Kerl ist – und sein Vater und sein Großvater waren es ebenfalls – der steifnackigste, arroganteste, einfältigste, dickköpfigste Pinsel, der jemals durch ein unerklärliches Mißverständnis der Natur zu etwas anderm als zu einem Spazierstock geboren wurde. Die ganze Familie besteht aus den eingebildetsten Strohköpfen… Aber es macht nichts, er soll mir meinen Weg nicht versperren und wenn er der Extrakt von fünfzig Baronets wäre und in hundert Chesney Wolds, eins in das andre geschachtelt wie die geschnitzten chinesischen Elfenbeinkugeln, wohnte. Schreibt mir der Kerl durch seinen Agenten oder seinen Sekretär oder sonst jemanden: Sir Leicester Dedlock, Baronet, empfiehlt sich Mr. Lawrence Boythorn und macht ihn auf den Umstand aufmerksam, daß der Wiesenpfad bei dem alten Pfarrhause, gegenwärtig in Mr. Lawrence Boythorns Besitz, Sir Leicesters Wegerecht ist, da er in Wirklichkeit einen Teil des Parks von Chesney Wold bildet, und daß Sir Leicester es für angemessen erachtet, ihn zu schließen. Ich schreibe an den Kerl: Mr. Lawrence Boythorn empfiehlt sich Sir Leicester Dedlock, Baronet, und macht ‚ihn‘ auf den Umstand aufmerksam, daß er die Richtigkeit von Sir Leicester Dedlocks Ansprüchen auf irgend etwas in jeder Hinsicht leugnet und in bezug auf das Sperren des Wiesenpfades hinzusetzt, daß er sich freuen würde, den Mann zu sehen, der es zu unternehmen wagt.

Der Kerl schickt einen gottverlassenen Strolch mit einem Auge, um ein Gitter bauen zu lassen. Ich bearbeite den Burschen mit der Feuerspritze, bis er fast keinen Atem mehr im Leibe hat. Der Bursche baut während der Nacht ein Gitter. Ich hacke es um und verbrenne es am andern Morgen. Der Baronet schickt seine Myrmidonen, läßt sie über das Gehege klettern und schickt sie hin und her. Ich fange sie in unschädlichen Fallen, schieße ihnen gespaltene Erbsen in die Beine, bearbeite sie mit einer Feuerspritze und bin entschlossen, die Menschheit von der unerträglichen Last des Daseins dieser wegelagernden Schurken zu befreien. Er klagt wegen unrechtmäßigen Betretens fremder Grundstücke, ich tue desgleichen. Er klagt wegen Realinjurie; ich verteidige meinen Grund und Boden und fahre unbeirrt mit Realinjurien fort. Hahaha!«

Wer ihn das mit seiner unerhörten Energie sagen hörte, hätte ihn für den größten Wüterich halten müssen. Und wer ihn zur selben Zeit dem Vogel auf seinem Daumen die Federn glattstreichen gesehen hätte, würde ihn für den sanftmütigsten aller Menschen gehalten haben. Ihn lachen zu hören und sein offenes gutmütiges Gesicht zu sehen, hieß, überzeugt sein, daß er auf der Welt keine Sorge, keinen Streit, keine Abneigung kenne und daß sein ganzes Dasein ein sonniger Scherz sei.

»Nein, nein«, schwor er. »Meine Wege lasse ich mir von keinem Dedlock absperren, obgleich ich gerne zugestehe« – hier wurde er einen Augenblick milde – »daß Lady Dedlock eine vollendete Weltdame ist, der ich jede Huldigung darbringen würde, die ein einfacher Gentleman und kein Baronet mit einem siebenhundert Jahr alten Dickkopf darbringen kann. Ein Mann, der mit zwanzig Jahren zum Regiment kam und acht Tage darauf den frechsten und anmaßendsten Bengel von einem kommandierenden Offizier, der jemals durch eine geschnürte Taille Atem holte, forderte – und dafür kassiert wurde –, ist nicht der Mann, sich von allen Sir Lucifers zusammengenommen auf der Nase herumtanzen zu lassen. Hahaha!«

»Auch nicht der Mann, der duldet, daß man seinem Jüngern Kameraden auf der Nase herumtanzt«, fügte mein Vormund hinzu.

»Ganz gewiß nicht!« Mr. Boythorn schlug Mr. Jarndyce mit einer Gönnermiene, die, trotzdem er lachte, etwas Ernstes hatte, auf die Schulter. »Er wird stets dem kleinen Jungen beistehen, Jarndyce! Du kannst dich auf ihn verlassen. Aber, um wieder von der Eigentumsverletzung zu sprechen – ich muß Miß Clare und Miß Summerson um Verzeihung bitten, daß ich solange bei dem trocknen Thema verweile –, ist nichts von deinen Anwälten Kenge & Carboy für mich gekommen?«

»Ich glaube nicht, Esther?«

»Nichts, Vormund.«

»Sehr verbunden. Hätte nicht zu fragen brauchen, selbst bei meiner geringen Erfahrung von Miß Summersons Fürsorglichkeit für jeden, der in ihre Nähe kommt. Ich fragte nur, weil ich von Lincolnshire herüberfuhr und natürlich nicht in London gewesen bin. Ich glaubte, man habe vielleicht einige Briefe hierher geschickt. Wahrscheinlich wird morgen früh Nachricht kommen.«

Im Verlauf des Abends, der uns sehr angenehm verging, sah ich ihn oft Richard und Ada mit einer sympathischen Teilnahme und Befriedigung betrachten. Er saß in geringer Entfernung vom Piano und hörte der Musik zu, die er leidenschaftlich liebte, wie sein Gesicht verriet. Mein Vormund saß mit mir am Pochbrett, und ich fragte ihn, ob Mr. Boythorn jemals verheiratet gewesen sei.«

»Nein«, sagte er, »nein.«

»Aber er hat heiraten wollen?«

»Wie hast du das erraten?« fragte Mr. Jarndyce lächelnd.

»Siehst du, Vormund«, gab ich zur Antwort und mußte ein wenig erröten, »es liegt etwas so Zartes in seinem Benehmen, und er ist so höflich und liebenswürdig zu uns und…«

Mr. Jarndyce blickte nach ihm hin.

Ich sagte weiter nichts.

»Du hast recht, Mütterchen. Er stand einmal dicht vor dem Heiraten. Vor langer Zeit. Nur ein Mal.«

»Starb die Dame?«

»Nein… Aber sie starb für ihn. Diese Zeit hat auf sein ganzes späteres Leben Einfluß gehabt. Würdest du glauben, daß sein Kopf und sein Herz jetzt noch voll Romantik stecken?«

»Ich glaube, Vormund, ich hätte das angenommen. Aber jetzt läßt es sich leicht sagen, wo du es mir verraten hast.«

»Er ist seitdem nie gewesen, was er hätte sein können, und jetzt in seinem Alter hat er niemand um sich als seinen Bedienten und seinen kleinen, gelben Freund. – Du bist am Wurf, liebe Esther. Da hast du den Würfelbecher.«

Ich merkte an der Stimmung meines Vormunds, daß ich, sollte nicht Ostwind eintreten, das Thema nicht weiter verfolgen dürfe. Ich stand daher von weiteren Fragen ab. Meine Teilnahme war erregt, aber nicht meine Neugierde. Des Nachts, als mich Mr. Boythorns lautes Schnarchen weckte, mußte ich ein wenig über diese alte Liebesgeschichte nachdenken und versuchte etwas sehr Schweres, nämlich, mir alte Leute jung und in den Reizen der Jugend vorzustellen. Aber ich schlief wieder ein, ehe es mir gelang, und träumte von der Zeit, wo ich bei meiner Patin gewesen war. Ich bin in derlei Dingen nicht bewandert genug, um zu wissen, ob es überhaupt merkwürdig ist, daß ich fast immer von diesem Lebensabschnitt träumte.

Am Morgen kam ein Brief von den Herren Kenge & Carboy an Mr. Boythorn, worin sie ihn benachrichtigten, daß einer ihrer Angestellten ihm mittags seine Aufwartung machen werde. Da es der Tag in der Woche war, wo ich die Rechnungen bezahlte, meine Bücher abschloß und alle Wirtschaftsangelegenheiten soweit wie möglich in Ordnung brachte, blieb ich zu Hause, während Mr. Jarndyce, Ada und Richard den schönen Tag zu einem Ausflug benutzten. Mr. Boythorn wollte auf Mr. Kenge & Carboys Angestellten warten und ihnen dann zu Fuß entgegengehen.

Ich hatte vollauf zu tun, prüfte Rechnungsauszüge, addierte Zwischenreihen, zahlte Geld aus, ordnete Quittungen und sah ungeheuer beschäftigt aus, als Mr. Guppy angemeldet und hereingelassen wurde. Ich hatte so eine leise Ahnung gehabt, daß der erwartete Angestellte der junge Gentleman sein könnte, der mich im Postkutschenbureau abgeholt hatte, und ich freute mich, ihn wiederzusehen, weil er zu meiner gegenwärtigen glücklichen Lage in gewisser Beziehung stand.

Ich erkannte ihn kaum wieder, so hatte er sich herausgeputzt. Er trug einen funkelnagelneuen Anzug, einen glänzenden Hut, lila Glacehandschuhe, ein vielfarbiges Halstuch, eine große Gewächshausblume im Knopfloch und einen dicken goldnen Ring am kleinen Finger. Außerdem durchduftete er das ganze Speisezimmer mit Bärenpomade und andern Parfümerien. Er betrachtete mich mit einer Aufmerksamkeit, die mich ordentlich verwirrte, als ich ihn bat, sich zu setzen, bis der Bediente wieder herunterkomme. Er saß in einer Ecke, schlug abwechselnd ein Bein über das andre, und so oft ich aufsah, während ich ihn das und jenes fragte, bemerkte ich stets, daß er mich in derselben forschenden und sonderbaren Weise anstarrte.

Als der Bediente mit der Nachricht, Mr. Boythorn lasse bitten, herunterkam, sagte ich Mr. Guppy, er werde nach Erledigung seiner Geschäfte hier ein Frühstück vorfinden, das Mr. Jarndyce für ihn befohlen habe. Als er den Türgriff schon in der Hand hielt, fragte er ein wenig verlegen:

»Werde ich die Ehre haben, Sie hier zu finden, Miß?«

Ich bejahte, und er ging mit einer Verbeugung zur Türe hinaus.

Ich hielt ihn für etwas linkisch und schüchtern, denn er war sichtlich verwirrt, und glaubte, es sei das beste, zu warten und mich zu überzeugen, ob er alles habe, was er brauche, und dann ihn sich selbst zu überlassen.

Das Frühstück wurde bald aufgetragen und blieb einige Zeit auf dem Tische stehen. Die Unterredung mit Mr. Boythorn dauerte sehr lange und verlief, wie mir vorkam, sehr stürmisch, denn obgleich sein Zimmer ziemlich entfernt lag, hörte ich seine laute Stimme sich dann und wann wie einen Sturmwind erheben und offenbar volle Breitseiten von Beschuldigungen abgeben.

Endlich kam Mr. Guppy, wie es schien, von der Konferenz stark mitgenommen, wieder herunter. »O Gott, Miß«, sagte er halblaut zu mir, »das ist ja der reinste Menschenfresser.«

»Bitte nehmen Sie etwas zu sich, Sir«, sagte ich.

Mr. Guppy nahm am Tische Platz und begann nervös das Tranchiermesser an der Vorleggabel zu schärfen, wobei er mich immer noch in derselben ungewöhnlichen Weise ansah, wie ich recht wohl merkte, trotzdem ich nicht aufsah. Das Messerwetzen dauerte so lang, daß ich endlich eine Art Verpflichtung fühlte, aufzublicken, um den auf Mr. Guppy liegenden Zauber, der ihn gar nicht aufhören ließ, zu lösen.

Er blickte sofort auf die Gerichte und fing an, vorzuschneiden.

»Was darf ich Ihnen anbieten, Miß? Sie werden doch einen Bissen genießen?«

»Nein, ich danke Ihnen.«

»Darf ich Ihnen denn gar nichts vorlegen, Miß?« fragte Mr. Guppy und stürzte ein Glas Wein hinunter.

»Nein, ich danke Ihnen. Ich habe nur gewartet, um zu sehen, ob Sie alles haben, was Sie brauchen. Wünschen Sie noch irgend etwas?«

»Nein, ich danke Ihnen, Miß. Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden. Ich habe alles, was ich mir nur wünschen könnte… wenigstens… Alles, ach, das hab ich nie.« Er trank noch zwei Gläser Wein hintereinander aus.

Ich hielt es für angezeigt, zu gehen.

»Ich bitte um Entschuldigung, Miß«, sagte Mr. Guppy und stand ebenfalls auf, »aber würden Sie nicht die Liebenswürdigkeit haben, mir ein paar Worte unter vier Augen zu gestatten?«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, und nahm wieder Platz.

»Was ich sagen möchte, ist ohne Präjudiz, Miß«, sagte Mr. Guppy und schob in großer Aufregung einen Stuhl an meinen Tisch.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, bemerkte ich verwundert.

»Es ist einer unsrer juristischen Fachausdrücke. Sie werden doch von der Sache keinen Gebrauch zu meinem Schaden, weder bei Kenge & Carboy noch anderswo, machen? Wenn unsre Unterredung resultatlos verläuft, so bin ich, was ich früher war, und bitte Sie, mir in meiner Stellung oder meinen Zukunftschancen nicht zu schaden. Mit einem Wort, ich spreche im vollsten Vertrauen.«

»Ich kann mir durchaus nicht vorstellen, Sir, was Sie mir, wo Sie mich nur ein einziges Mal gesehen haben, so im strengsten Vertrauen mitteilen könnten, aber selbstverständlich würde es mir sehr leid tun, wenn ich Ihnen irgendwie einen Schaden zufügen sollte.«

»Ich danke Ihnen, Miß. Ich bin davon überzeugt… Das genügt vollkommen.«

Die ganze Zeit hindurch polierte sich Mr. Guppy entweder die Stirn mit seinem Taschentuch oder rieb sich sehr erregt die Hände.

»Wenn Sie mir gestatten würden, noch ein Glas Wein zu trinken, Miß, so würde es mich instand setzen, fortzufahren, ohne von dem beständigen Würgen in der Kehle gehindert zu werden, das für uns beide nur unangenehm sein kann.«

Er stand auf, trank und kam wieder zurück. Ich benützte die Gelegenheit, um mich möglichst hinter dem Tisch zu verschanzen.

»Sie würden mir also nicht erlauben, Ihnen ein Glas anzubieten, Miß?« fragte Mr. Guppy, sichtlich erfrischt.

»Ich danke.«

»Auch nicht ein halbes Glas? Ein Viertel?«

»Nein!«

»Also vorwärts. Mein gegenwärtiges Gehalt bei Kenge & Carboy, Miß Summerson, beträgt zwei Pfund wöchentlich. Als ich zuerst das Glück hatte, Sie zu sehen, betrug es 1 £ 15 sh. und war schon längere Zeit auf dieser Höhe geblieben. Seitdem hat eine Erhöhung von 5 sh. stattgefunden, und eine weitere von 5 sh. ist mir nach Ablauf eines Termins, der zwölf Monate vom heutigen Tag an nicht übersteigen soll, garantiert. Meine Mutter hat ein kleines Vermögen in Form einer kleinen Leibrente; sie lebt davon in unabhängiger, wenn auch bescheidener Weise in Oldstreet-Road. Sie eignet sich vortrefflich zu einer Schwiegermutter. Sie mischt sich nie ein, ist sehr für den Frieden und gutmütig. Sie hat ihre Fehler – wer hätte keinen –, aber ich wüßte nie, daß sie es in Gesellschaft getan hätte, und wenn Gesellschaft da ist, können Sie ihr hinsichtlich Wein, Likör oder Bier das vollste Vertrauen schenken. Ich selbst habe meine Zimmer in Penton-Place, Pentonville, und es ist eine bescheidene, aber luftige Wohnung nach hinten hinaus mit der Aussicht ins Freie und in einer der gesündesten Lagen… Miß Summerson!… Gelinde gesagt, ich bete Sie an! Wollen Sie mir freundlichst gestatten, Ihnen, um mich juristisch auszudrücken, eine Erklärung zu unterbreiten, Sie um Ihre Hand zu bitten?«

Mr. Guppy sank vor mir auf die Knie nieder. Ich fühlte mich hinter meinem Tisch sicher und war nicht sonderlich erschrocken. Ich sagte:

»Machen Sie dieser lächerlichen Szene ein Ende, Sir, oder Sie nötigen mich, mein gegebenes Versprechen zu brechen und zu klingeln.«

»Lassen Sie mich ausreden, Miß«, flehte Mr. Guppy und faltete bittend die Hände.

»Ich kann nicht ein Wort mehr anhören, Sir, wenn Sie nicht sofort aufstehen und sich wieder an den Tisch setzen.«

Er sah mich mit einem kläglichen Blick an, stand aber langsam auf und setzte sich an den Tisch.

»Welch ein Hohn des Schicksals, Miß«, sagte er, die Hand auf dem Herzen und mich über den Speisetisch hinüber melancholisch anblickend, »in einem solchen Augenblick am Eßtisch zu sitzen. Die Seele stößt in solchen Augenblicken die Nahrung von sich, Miß!«

»Ich bitte Sie, aufzuhören«, sagte ich. »Sie haben mich gebeten, Sie zu Ende zu hören, und ich muß Sie bitten, jetzt Schluß zu machen.«

»Ich will es tun, Miß. Wen ich liebe und ehre, dem gehorche ich auch. Wollte Gott, ich könnte Sie zum Gegenstand dieses Gelübdes vor dem Altare machen.«

»Das ist ganz unmöglich und vollkommen ausgeschlossen.«

»Ich weiß es«, sagte Mr. Guppy, beugte sich über das Servierbrett und starrte mich wieder mit dem alten gespannten Blick an, wie ich seltsamerweise fühlte, obgleich ich ihn nicht ansah. »Ich weiß allerdings, daß vom rein materiellen Gesichtspunkt aus alles, was ich zu bieten vermag, nur armselig ist. Aber Miß Summerson! Engel! – Nein, bitte klingeln Sie nicht! – Ich bin in einer harten Schule aufgewachsen und in allen möglichen Sätteln gerecht. Obgleich noch jung, habe ich schon mancherlei Beweise aufgespürt, Material gesammelt und das Leben vielfach kennengelernt. An Ihrer Seite, was könnte ich da nicht alles ausfindig machen, Ihre werten Interessen zu fördern. Was könnte ich nicht alles in Erfahrung bringen, was Sie nahe angeht! Allerdings weiß ich jetzt noch nichts, aber was könnte ich nicht alles herausbringen, wenn ich Ihr Vertrauen besäße und Sie mir ein Sporn wären!«

Ich sagte ihm, daß er sich an mein Interesse oder an das, was er für mein Interesse halte, ebenso erfolglos wende wie an meine Neigung und daß ich ihn jetzt auf das entschiedenste bitten müsse, sich gefälligst sofort zu entfernen.

»Grausames Fräulein. Nur noch ein einziges Wort! Ich glaube, Sie müssen gesehen haben, wie Ihre werten Reize schon an dem Tag, wo ich am Whytorseller wartete, mein Herz in Fesseln schlugen. Sie müssen doch bemerkt haben, daß ich Ihren werten Reizen meine ergebene Huldigung nicht versagen konnte, als ich den Tritt des Fiakers herunterließ. Es war nur ein schwacher Tribut, aber er kam von Herzen. Seitdem war dein Bild, Angebetete, auf ewig in mein Herz gegraben! Ich bin des Abends vor Jellybys Haus auf und ab gegangen, nur um die Ziegelmauer zu betrachten, die einst dich beschützte. Die heutige Reise, die bezüglich des in Rede stehenden Geschäftes ganz unnötig war, ist von mir allein ausgegangen. Wenn ich von Interessen sprach, so geschah es nur, um mich in meiner Armseligkeit in Ihren werten Augen zu heben. Liebe geht und ging dem allen voraus.«

»Es würde mir peinlich sein, Mr. Guppy«, unterbrach ich, stand auf und legte die Hand an den Klingelzug, »gegen Sie oder gegen wen immer, der es aufrichtig meint, so ungerecht zu sein, eine ehrlich gemeinte Empfindung zu verletzen, mag sie auch noch so unangenehm ausgedrückt sein. Wenn Sie wirklich beabsichtigt haben, mir einen Beweis Ihrer guten Meinung zu geben, so fühle ich mich, so schlecht auch Zeit und Ort gewählt sein mögen, verpflichtet, Ihnen zu danken. Ich habe keinen Grund, stolz zu sein, und bin es auch nicht. Ich hoffe, daß Sie mich jetzt verlassen werden, als ob Sie nie diesen törichten Streich begangen hätten, und sich Ihren Obliegenheiten bei Kenge & Carboy wieder zuwenden werden.«

»Nur eine halbe Minute, Miß!« rief Mr. Guppy mit einer abwehrenden Bewegung, als ich klingeln wollte. »Das war ohne Präjudiz?«

»Ich werde gegen niemanden etwas davon erwähnen«, sagte ich, »wenn Sie mir nicht selbst in Zukunft Veranlassung dazu geben.«

»Noch eine Viertelminute, Fräulein! Im Falle Sie sich’s doch noch überlegen sollten – zu jeder beliebigen Zeit, wenn sie auch noch so fern liegt, denn das hat nichts zu sagen, da meine Gefühle sich nie ändern können –, wenn Sie auf etwas, was ich gesagt habe, hauptsächlich über das, was ich alles tun könnte, einmal mehr Gewicht legen sollten, so wird Mr. William Guppy, 86, Pentonplace, oder wenn er ausgezogen oder an enttäuschten Hoffnungen oder dergleichen gestorben sein sollte: per Adresse Mrs. Guppy, 302, Oldstreet-Road, vollkommen genügen.«

Ich klingelte, der Bediente trat ein, und Mr. Guppy verabschiedete sich mit einer kummervollen Verbeugung, nachdem er seine selbst geschriebene Karte auf den Tisch gelegt hatte.

Als ich aufblickte, während er hinausging, fiel mir auf, daß er mich noch immer scharf anblickte, selbst, nachdem er bereits die Tür passiert hatte.

Ich blieb noch ein paar Stunden sitzen, ordnete meine Bücher und Zahlungen und erledigte eine ganze Menge. Dann räumte ich mein Schreibpult auf, schloß alles ab und war so gefaßt und heiter, daß ich den unerwarteten Zwischenfall ganz vergessen zu haben glaubte.

Aber als ich hinauf in mein Zimmer ging, da kam es zu meiner Überraschung über mich; ich mußte zuerst lachen und dann zu meiner noch größern Verwunderung weinen; mit einem Wort, ich war eine Weile lang ziemlich außer mir und hatte die Empfindung, als ob eine rauhe Hand eine alte Saite in mir berührt habe, rauher als jemals seit den Tagen meiner lieben, alten, im Garten begrabenen Puppe.

58. Kapitel


58. Kapitel

Ein Wintertag und eine Winternacht

Gleichgültig und unbewegt, wie es sich für wohlerzogene Leute geziemt, sieht das Dedlockpalais in der Stadt drein. Von Zeit zu Zeit kann man gepuderte Köpfe aus den kleinen Fenstern der Vorhalle auf den taxfreien Puder, der da den ganzen Tag lang gratis vom Himmel fällt, hinausschauen sehen; und in demselben menschlichen Gewächshaus wendet sich eine Lakaienpfirsichblüte melancholisch von dem Anblick des schneidend kalten Wetters draußen dem großen Feuer im Kamin zu. Die Parole ist ausgegeben, Mylady sei nach Lincolnshire gereist, werde aber bald zurückerwartet.

Die immerwache Fama hält es aber gar nicht für nötig, mit nach Lincolnshire zu gehen. Sie begnügt sich damit, in der Stadt herumzuflattern und zu schnattern. Sie weiß, daß der arme unglückliche Sir Leicester schwer hintergangen worden ist. Ja, ja, mein liebes Kind, sie weiß ganz schreckliche Dinge zu erzählen und hält die Welt fünf Meilen im Umkreise in Atem. Nicht zu wissen, daß bei den Dedlocks etwas faul ist, heißt soviel, wie zu den ganz unbekannten Leuten zu zählen. Eines der vielen entzückenden Geschöpfe mit den Pfirsichwangen und den dürren Hälsen kennt bereits alle Nebenumstände, die zur Sprache kommen müssen, wenn Sir Leicester um Ehescheidung einreichen wird.

Bei Blaze & Sparkle, den Juwelieren, und bei Sheen & Gloß, den Seidenhändlern, bildet es bereits stundenlang das Hauptgespräch und wird als eine Art Wendepunkt des Jahrhunderts angesehen. Die ehedem so hoch erhabnen und unantastbaren Patronessen dieser Etablissements, die hier so sorgsam wie alle andern Artikel gewogen und abgeschätzt werden, sind bei diesem plötzlichen Modeumschwung dem Verständnis sogar des jüngsten Kommis hinter dem Ladentische näher gerückt.

»Unsre Kunden, Mr. Jones«, sagen Blaze & Sparkle zu dem neuen Reisenden, den sie anstellen wollen, »unsre Kunden sind wie die Schafe, ganz wie die Schafe. Wo zwei oder drei Leithammel hingehen, da folgen die übrigen. Behalten Sie diese zwei oder drei beständig im Auge, Mr. Jones, und Sie haben die ganze Herde.«

Ebenso sprechen Sheen & Gloß zu ihrem Jones über die Art, wie man die fashionable Kundschaft fesseln kann und wie man in die Mode bringt, was die Firma für gut befindet.

Von ähnlichen unfehlbaren Prinzipien ausgehend, gibt Mr. Sladdery, der Kunsthändler und Hauptzüchter von Prunkschafen, an demselben Tage zu: »Nun ja, Sir, allerdings kursieren gewisse Gerüchte über Lady Dedlock unter meinen vornehmen Kunden. Meine vornehmen Kunden haben das Bedürfnis, von etwas zu sprechen, Sir; und Sie sehen, man braucht nur ein Thema durch ein oder zwei Damen, die ich nennen könnte, in Fluß zu bringen, und im Handumdrehen wird es in aller Munde sein. Gerade so, sehen Sie, wie ich es mit diesen Damen gemacht haben würde, Sir, wenn es sich mir darum gehandelt hätte, eine Novität in die Mode zu bringen; so haben in diesem Falle meine werten Kundinnen selbsttätig funktioniert, da sie mit Lady Dedlock verkehrten und vielleicht ein bißchen eifersüchtig auf sie waren, Sir. Sie werden finden, Sir, daß das Gesprächsthema bereits bei meinen sämtlichen vornehmen Kunden die Runde gemacht hat. Wäre es eine Spekulation gewesen, Sir, so hätte man viel Geld dabei verdient. Und wenn ich das sage, so können Sie sich darauf verlassen, daß ich recht habe, Sir. Ich habe es zu meinem Beruf gemacht, die vornehme Kundschaft zu studieren, um jederzeit imstande zu sein, sie aufzuziehen wie eine Uhr, Sir.«

So wächst und wächst das Gerücht in der Hauptstadt und will sich nicht mit dem Hinweis auf Lincolnshire abfinden lassen. Um halb sechs nachmittags, nach der Rennuhr gemessen, hat es sogar Hochwohlgeboren Mr. Stables ein neues bon mot entlockt, das sogar verspricht, das alte in den Schatten zu stellen, auf dem seit langem sein Ruf als geistreicher Kopf basierte. Er habe immer gewußt, lautet der witzige Einfalt, sie sei im ganzen Gestüt am besten im Geschirr gegangen; aber auf Sonnenkoller hätte er nie geraten. Auf dem Turf ist man entzückt über diesen Einfall.

Auch bei Festlichkeiten und Gelagen, an Firmamenten, die Mylady so oft geziert, und unter den Sternbildern, deren Glanz sie noch gestern in den Schatten gestellt, ist sie allgemeines Gesprächsthema. Was ist los? Wer ist’s ? Wann war’s ? Wo war’s ? Wie war’s ? Von ihren besten Freunden wird sie mit dem gentilsten Gigerlton, der gerade Mode ist, den allerneusten Ausdrücken, in der affektiertesten Manier und dem näselndsten Akzent, mit der vollkommen höflichsten Gleichgültigkeit besprochen.

Höchst auffallend ist, wie Leute, denen es sonst gar nicht liegt, bei dieser Gelegenheit vor Geist sprühen! William Buffy bringt eines dieser Witzworte von der Tafel, an der er soeben dinierte, mit ins Unterhaus; und der Einpeitscher seiner Partei läßt es mit seiner Tabakdose unter den Leuten, die es sonst vor Langeweile nicht mehr aushalten würden, mit solchem Erfolg zirkulieren, daß der Sprecher, dem es natürlich auch schon privatim unter dem Zipfel seiner Perücke ins Ohr geflüstert worden ist, drei Mal, ohne daß es den geringsten Eindruck machen würde, ausruft: »Zur Ordnung an den Schranken!«

Und nicht weniger erstaunlich ist es, daß Leute, die sich an den Grenzmarken von Mr. Sladderys vornehmen Kunden herumtreiben, Leute, die Mylady gar nicht kennen und sie niemals gesehen haben, es jetzt plötzlich für unumgänglich notwendig für ihren Ruf halten, ebenfalls von ihr zu sprechen und aus zweiter Hand mit dem allerneusten Witzwort im Gigerljargon untergeordneten Sonnensystemen und Sternen dritten bis letzten Grades aufzuwarten. Wenn ein Mann der Literatur oder der Kunst und Wissenschaft unter diesen Kleinhändlern ist, wie selbstverständlich, daß er dann nicht zurückstehen darf!

So vergeht der Wintertag außerhalb der Stadtwohnung der Dedlocks. Und wie innerhalb?

Sir Leicester liegt im Bett und kann ein wenig sprechen, aber schwer und undeutlich. Die Ärzte haben ihm Stillschweigen und Ruhe empfohlen und ihm ein Opiat eingegeben, um seine Schmerzen zu lindern, denn sein alter Feind, die Gicht, setzt ihm sehr hart zu. Er schläft nie, wenn er auch manchmal in einen schweren Halbschlummer zu sinken scheint. Er hat sich sein Bett näher ans Fenster schieben lassen, als er hörte, daß so rauhes Wetter sei, und sich den Kopf so legen, daß er das wilde Schneetreiben sehen kann. Den ganzen langen Wintertag sieht er zu, wie sich die Flocken jagen.

Beim geringsten Geräusch im Hause, in dem die größte Stille herrscht, fährt seine Hand nach dem Griffel. Die alte Haushälterin, die neben ihm sitzt, weiß, was er schreiben will, und flüstert ihm jedes Mal zu: »Nein, er kann noch nicht zurück sein, Sir Leicester. Er ist erst spät gestern nacht abgereist. Er ist erst kurze Zeit unterwegs.«

Und immer wieder zieht er die Hand zurück, und immer wieder sieht er zu, wie der Schnee fällt, bis vom langen Hinsehen das Gestöber so dicht und schnell zu fallen scheint, daß er vor dem schwindelnden Tanz der weißen Flocken eine Minute die Augen schließen muß.

Schon als der Morgen dämmerte, fing er an, ihnen zuzusehen. Der Tag ist noch nicht weit vorgerückt, als er bereits Befehle gibt, die Zimmer für Myladys Empfang herrichten zu lassen.

»Es ist sehr kalt und naß. Daß für gute Heizung gesorgt wird. Sagen Sie den Leuten, daß sie jeden Augenblick kommen kann. Bitte, sehen Sie selbst nach.« So schreibt er auf seine Schiefertafel, und Mrs. Rouncewell gehorcht mit schwerem Herzen.

»Ich fürchte, George«, sagt sie zu ihrem Sohn, der unten wartet, um ihr Gesellschaft zu leisten, wenn sie gelegentlich ein paar freie Minuten hat, »ich fürchte, lieber George, Mylady wird nie wieder ihren Fuß über diese Schwelle setzen.«

»Du siehst zu schwarz, Mutter.«

»Und auch nicht über die Schwelle von Chesney Wold, lieber George.«

»Noch schlimmer. Aber warum, Mutter?«

»Als ich gestern Mylady sah, George, lag in ihrem Blick etwas, als ob die Schritte auf dem Geisterweg ihr Herz zertreten hätten.«

»Aber Mutter! Du darfst diese alten Geschichten nicht so ernst nehmen. Du machst dir unnötige Sorgen.«

»Nein, gewiß nicht, lieber George. Nein, gewiß nicht. Es sind nun bald sechzig Jahre, daß ich in dieser Familie bin, und ich habe den Spuk nie allzu ernst genommen, aber jetzt geht es zu Ende, lieber George. Das alte Haus der Dedlocks fällt in Trümmer.«

»Man muß nicht gleich das Schlimmste befürchten, Mutter.«

»Ich danke dem Himmel, daß ich noch solange gelebt habe, um Sir Leicester Dedlock in Krankheit und Unglück beistehen zu können. Ich weiß, er sieht mich noch immer lieber als jeden andern um sich. Aber glaub mir, die Tritte auf dem Geisterweg haben Mylady erreicht; sie sind ihr lange Zeit gefolgt, und jetzt werden sie über sie hinwegschreiten.«

»Nun, liebe Mutter, ich wiederhole dir noch einmal, man muß nicht immer gleich das Schlimmste befürchten.«

»Ach, ich kann mir nicht helfen, George«, seufzt die alte Dame und schüttelt besorgt den Kopf. »Was, wenn meine Befürchtungen wahr werden und er es erfahren muß, wer wird es ihm sagen!«

»Sind das ihre Zimmer?«

»Das sind die Zimmer Myladys, unberührt, so, wie sie sie verlassen hat.«

»Wahrhaftig«, sagt der Kavallerist, sieht sich um und dämpft unwillkürlich den Ton seiner Stimme. »Ich fange an zu begreifen, wie du auf solche Gedanken kommst, Mutter. Es geht etwas Schauerliches von diesen verlaßnen Zimmern aus. Man muß immer an die denken, auf die sie warten und die entflohen ist, vielleicht auf Nimmerwiedersehen.«

– Er hat nicht so unrecht. Wie jeder Abschied nichts andres ist als der Schatten, den der letzte große Abschied von der Welt vorauswirft, so scheinen leere verlaßne Zimmer voll des Flüsterns zu sein, das von bangem unabwendbarem Schicksal raunt. Der anspruchsvolle Prunk der Gemächer hat in diesem düstern und verlaßnen Zustande etwas Hohles, Unheimliches, und in dem innern Zimmer, wo Mr. Bucket gestern nacht seine geheimen Nachforschungen anstellte, geben Myladys Kleider, ihre Schmucksachen und sogar die Spiegel, gewohnt, ihr Bild zurückzustrahlen, allem einen wüsten und leeren Anstrich. So finster und kalt der Wintertag auch draußen ist, so ist es doch in diesen verlaßnen Räumen dunkler und kälter als in so mancher Hütte, die ihre Bewohner kaum vor dem Winde schützt; und ob auch die Bedienten große Feuer auf den Rosten der Kamine prasseln machen und die Diwane und Stühle in den Bereich der warmen gläsernen Schirme rücken, die den rötlichen Schein der Glut bis in die fernsten Ecken schimmern lassen, eine schwere Wolke schwebt über den Zimmern, die kein Licht zerstreuen kann. –

Die alte Haushälterin bleibt mit ihrem Sohn, bis alle Vorbereitungen fertig sind, und geht dann wieder hinauf.

Volumnia hat unterdessen Mrs. Rouncewells Platz eingenommen, obgleich Perlenhalsbänder und Schminktöpfe, so sehr sie auch zur Verschönerung des leuchtenden Sterns von Bath geeignet sein mögen, einem Kranken unter den gegebenen Verhältnissen nur geringen Trost gewähren können.

Da Volumnia nicht den Anschein erwecken will, als wisse sie, was vorgefallen ist – und bei Licht betrachtet, weiß sie auch nichts davon –, war es für sie eine kitzlige Sache, den richtigen Ton zu finden, und sie hat sich darauf beschränkt, mit einem gewissen krampfhaften Eifer das Bettzeug glatt zu streichen, mit affektierter Vorsicht auf den Zehen herumzuschleichen und ihren Vetter wachsam anzulügen und ihn mit einem geflüsterten: »Ach, er schläft«, zu stören. Zur Widerlegung dieser höchst überflüssigen Bemerkung hat Sir Leicester jedes Mal ärgerlich auf die Schiefertafel geschrieben: »Nein.«

Volumnia überläßt jetzt den Stuhl neben dem Bett der alten Haushälterin, setzt sich an einen Tisch in der Nähe und seufzt teilnehmend. Sir Leicester sieht immer noch dem Schneetreiben zu und horcht aufgeregt, ob denn die Schritte, die er so sehnlich erwartet, noch immer nicht kommen wollen. Der alten Frau, die aussieht wie aus einem alten Bilderrahmen herausgetreten, um einem von dieser Welt Abschied nehmenden Dedlock den letzten Liebesdienst zu erweisen, klingt durch das Schweigen immer noch der Widerhall ihrer eignen Worte in den Ohren: »Wer wird es ihm sagen!«

Mit Hilfe seines Kammerdieners hat er diesen Morgen, so gut es gehen wollte, Toilette gemacht, und er sieht so schmuck aus, wie es die Umstände nur erlauben. Kissen stützen sein Haupt, das graue Haar ist auf die gewohnte Weise gebürstet und gekämmt, seine Wäsche ist ein Muster von Sauberkeit, und ein entsprechender Morgenanzug hüllt ihn würdevoll ein. Augenglas und Uhr liegen im unmittelbaren Bereiche seiner Hand. Es ist notwendig – vielleicht jetzt weniger seiner eignen Würde wegen als um Myladys willen –, daß er so wenig angegriffen und so unverändert wie möglich aussieht.

Frauen können nun einmal das Reden nicht lassen, und Volumnia, wenn auch eine Dedlock, macht keine Ausnahme. Es kann kein Zweifel bestehen, daß er sie nur um sich duldet, damit sie nicht anderswo aus der Schule schwatze. Er ist sehr, sehr krank, aber er hält mutig den Leiden des Körpers und der Seele stand.

Da die schöne Volumnia eines von den Wesen ist, die nicht lange stumm bleiben können, ohne nicht Gefahr zu laufen, von dem grimmen Drachen der Langeweile gepackt zu werden, so verrät sie bald die drohende Nähe dieses Ungeheuers durch wiederholte unüberwindliche Gähnkrämpfe. Außerstande, diese Anfälle anders zu unterdrücken als durch Plauderei, lobt sie gegen Mrs. Rouncewell deren Sohn und erklärt, daß er ganz bestimmt einer der schönstgewachsenen Männer sei, die sie jemals gesehen, und etwas so Soldatisches an sich habe, wie – wie hieß er doch nur – ihr Lieblingsleibgardist – na, der Mann, den sie anbete, der entzückende Mensch, der bei Waterloo fiel.

In Sir Leicesters Mienen spiegelt sich bei diesen Lobsprüchen eine solche Überraschung, und er blickt so verwirrt um sich, daß sich Mrs. Rouncewell genötigt sieht, ihm eine Erklärung zu geben.

»Miß Dedlock meint nicht meinen ältesten Sohn, Sir Leicester, sondern meinen jüngsten. Ich habe ihn wieder. Er ist heimgekommen.«

Sir Leicester unterbricht die Stille mit einem lauten Schrei.

»George? Ihr Sohn George ist wiedergekommen, Mrs. Rouncewell?«

Die alte Haushälterin wischt sich die Augen. »Gott sei Dank. Ja, Sir Leicester.«

Erfüllt ihn dieses Wiederfinden eines Verlorengeglaubten, diese Rückkehr eines so lange Verschollenen mit neuen Hoffnungen für sich selbst? Denkt er: »Und ich sollte sie nicht wiederfinden, wo mir so viel Mittel zu Gebote stehen? Wo in ihrem Falle weniger Stunden vergangen sind als Jahre in diesem?«

Alle Bitten sind vergebens; er ist jetzt fest entschlossen zu sprechen, und er spricht. Die Töne drängen sich verwirrt aus seinem Munde, aber dennoch kann man einige Sätze daraus verstehen.

»Warum haben Sie mir es nicht gesagt, Mrs. Rouncewell?«

»Es ist erst gestern geschehen, Sir Leicester, und ich fürchtete, es könne Ihrem Zustand schaden, wenn ich Ihnen solche Sachen mitteilte.«

Außerdem erinnert sich plötzlich die jugendlich unbesonnene Volumnia mit ihrem herzigen Lieblingsschrei, daß ja niemand wissen dürfte, daß es Mrs. Rouncewells Sohn sei, und sie es nicht habe sagen sollen. Aber Mrs. Rouncewell protestiert mit Wärme, daß sie es selbstverständlich Sir Leicester sofort gesagt hätte, sowie sich sein Zustand gebessert haben würde.

»Wo ist Ihr Sohn George, Mrs. Rouncewell?« fragt Sir Leicester.

Nicht wenig beunruhigt, daß er die Vorschriften des Arztes so wenig beachtet, antwortet sie: »In London.«

»Wo in London?«

Mrs. Rouncewell ist genötigt, einzugestehen, daß er sich im Hause befindet.

»Bringen Sie ihn her in mein Zimmer. Bringen Sie ihn sogleich.«

Die alte Dame muß ihm den Willen tun und ihren Sohn suchen. Sir Leicester legt sich, soweit das die Bewegungsfreiheit seiner Glieder zuläßt, zurecht, um ihn zu empfangen. Dann blickt er wieder hinaus in das Schneegestöber und horcht im Geiste auf die ersehnten Schritte; man hat die Straße unten mit Stroh belegt, um den Lärm zu dämpfen, und Mylady könnte vielleicht vor der Tür vorfahren, ohne daß er die Räder hörte. Er liegt ruhig da und denkt anscheinend nicht mehr an die neue und soviel weniger einschneidende Überraschung, als die Haushälterin, begleitet von ihrem Sohne, zurückkehrt. Mr. George nähert sich leise dem Bett, macht seine Verbeugung und bleibt militärisch stramm, das Gesicht von tief innerer Scham gerötet, stehen.

»Gott im Himmel, es ist wirklich George Rouncewell!« ruft Sir Leicester aus. »Erinnern Sie sich meiner noch, George?«

Der Kavallerist muß ihn erst eine Weile ansehen und sich die Worte innerlich wiederholen, ehe sie ihm klar bewußt werden, dann ermannt er sich aber, von seiner Mutter ein wenig ermuntert, und gibt zur Antwort:

»Ich müßte ein schlechtes Gedächtnis haben, Sir Leicester, wenn ich mich Ihrer nicht mehr erinnerte.«

»Wenn ich Sie ansehe, George Rouncewell«, bemerkt Sir Leicester mit schwerer Zunge, »muß ich wieder an den Jungen denken – in Chesney Wold – damals.«

Er sieht den Kavalleristen an, bis Tränen in seine Augen treten, und dann blickt er wieder hinaus auf das Wirbeln der Schneeflocken.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Leicester«, sagt der Kavallerist, »aber würden Sie mir vielleicht erlauben, Sie ein wenig in den Kissen aufzurichten? Sie würden bequemer liegen, Sir Leicester, wenn Sie mir gestatteten, Sie anders zu legen.«

»Bitte, George Rouncewell; wenn Sie so gut sein wollen.«

Der Kavallerist nimmt ihn in seine Arme wie ein Kind, hebt ihn mit Leichtigkeit empor und wendet ihn mit dem Gesicht mehr nach dem Fenster.

»Ich danke Ihnen, Sie haben die sanfte Hand Ihrer Mutter«, sagt Sir Leicester, »und sind so stark. Ich danke Ihnen.« Er gibt ihm mit der Hand ein Zeichen, nicht wegzugehen. George bleibt an seinem Bett stehen und wartet, bis er angeredet wird.

»Warum wünschten Sie denn, daß – Ihre Rückkehr – verschwiegen bliebe?« – Sir Leicester braucht einige Zeit, bis er die Frage herausbringt. –

»Man kann auf mich wohl kaum besonders stolz sein, Sir Leicester, und ich würde am liebsten noch eine Weile unbekannt im Dunkel geblieben sein, aber meine Mutter sagte mir, Sie wären krank; – aber hoffentlich geht das bald wieder vorüber. Ich müßte Ihnen da manches auseinandersetzen, was vielleicht nicht allzu schwer zu erraten ist, aber ich glaube, dazu ist die Zeit nicht besonders geeignet, und ich würde wohl auch nicht viel Ehre damit einlegen. Wenn auch in manchen Punkten die Meinungen vielleicht auseinander gehen mögen, eins ist wohl sicher, nämlich, daß wohl niemand Grund haben kann, auf mich stolz zu sein, Sir Leicester.«

»Sie sind Soldat gewesen«, bemerkt Sir Leicester, »und haben sich gut geführt, höre ich.«

George macht seine militärische Verbeugung. »Was das anbetrifft, Sir Leicester, so habe ich meine Pflicht im Dienst getan, aber das war wohl das wenigste, was ich tun konnte.«

»Sie finden mich durchaus nicht wohl wieder, George Rouncewell«, sagt Sir Leicester, der den Blick nicht von dem Kavalleristen wenden kann.

»Es tut mir sehr, sehr leid, das zu hören, Sir Leicester.«

»Ich glaube Ihnen. Ich bin davon überzeugt. Und zu meiner alten Krankheit ist noch ein plötzlicher und schlimmer Anfall dazugekommen. Etwas, das lahmt –«, er versucht mit der einen Hand an der einen Seite hinabzufühlen, »und verwirrt…«, er berührt seine Lippen.

Mit einem Blick voller Teilnahme und Verständnis verbeugt sich George abermals.

Die alten Zeiten, wo beide junge Leute waren, und der Kavallerist noch ein Knabe, und einander in Chesney Wold sahen, steigen vor ihnen empor und machen sie beide weich gestimmt.

Sir Leicester versucht – offenbar mit einem Entschluß ringend, etwas, das ihm auf der Seele liegt, in irgendeine Form zu bringen und zu sagen, ehe er wieder in Schweigen versinkt –, sich in seinen Kissen ein wenig aufzurichten. George bemerkt es sogleich, nimmt ihn wieder in seine Arme und legt ihn so, wie er es wünscht. »Ich danke Ihnen, George, Sie sind mir wie ein zweites Ich. Wie oft haben Sie mir unten in Chesney Wold mein Reservegewehr getragen, George. Ihr Anblick berührt mich so anheimelnd und vertraut in diesen fremdartigen Verhältnissen; so sehr vertraut.«

Er bleibt eine Weile auf des Kavalleristen Arm gelehnt, und es scheint ihm wohl zu tun.

»Ich wollte hinzusetzen«, fährt er gleich darauf wieder fort, »ich wollte in bezug auf diesen Anfall hinzusetzen, daß er unglücklicherweise mit einem kleinen Mißverständnis, das ich mit Mylady hatte, zusammenfiel. Ich meine nicht, daß ein Zwist zwischen uns stattgefunden hätte, das ist keineswegs der Fall, sondern lediglich ein Mißverständnis hinsichtlich gewisser Umstände, die nur für uns von Wichtigkeit sind, das mich aber für einige Zeit der Gesellschaft Myladys beraubt. Sie hat es für notwenig gefunden, eine Reise zu machen… Ich bin überzeugt, daß sie in Bälde zurück sein wird. Volumnia, mache ich mich verständlich? Ich habe die Worte noch nicht recht in der Gewalt.«

Volumnia versteht ihn vollkommen, und er spricht in der Tat mit viel größerer Deutlichkeit, als man noch vor einer Minute für möglich gehalten hätte. Die Anstrengung, die es ihn kostet, kann man ihm leicht an seinen gespannten und erregten Zügen ansehen. Nur der Wille ist’s, der ihn aufrecht erhält.

»Was ich sagen will, ist, Volumnia, daß ich hiermit in Ihrer Anwesenheit – und in der Anwesenheit meiner alten Dienerin und Freundin, Mrs. Rouncewell – und in der Anwesenheit ihres Sohnes George, der wie eine vertraute Erinnerung an meine Jugendzeit auf dem Wohnsitz meiner Ahnen in Chesney Wold zurückgekommen ist –, im Fall ich einen Rückfall erleiden –, im Fall ich nicht wieder genesen –, im Fall ich die Fähigkeit zu sprechen und zu schreiben ganz verlieren sollte, wenn ich auch auf Genesung hoffe…«

– Die alte Haushälterin weint still vor sich hin; Volumnia ist im höchsten Grade aufgeregt, und unvergängliches Rot blüht auf ihren Wangen; der Kavallerist steht mit übereinandergeschlagnen Armen, den Kopf ein wenig vorgeneigt, ehrerbietig und aufmerksam da. –

»Was ich ausdrücklich wünsche, ist, vor Ihnen allen als Zeugen feierlichst zu erklären, daß dasselbe unverändert gute Einvernehmen zwischen Lady Dedlock und mir weiterbesteht und niemals getrübt wurde. Daß ich mich in keiner Hinsicht über sie beschweren kann und auch nicht den geringsten Grund dazu hätte. Daß ich immer die stärkste Herzensneigung für sie gefühlt habe und noch fühle. Sagen Sie all das ihr selbst und jedermann, Volumnia. Und wenn Sie ein Wort davon weglassen, so machen Sie sich einer absichtlichen Falschheit gegen mich schuldig.«

Volumnia beteuert zitternd, daß sie seinen Befehlen bis aufs I-Tüpfelchen gehorsam sein wolle.

»Mylady steht zu hoch, ist zu schön, zu vollkommen in jeder Beziehung, zu sehr allen ihresgleichen überlegen, als daß sie nicht Feinde und Verleumder haben sollte. Sagen Sie diesen Leuten, wie ich es Ihnen hiermit sage, daß ich gegenwärtig bei klarem Verstande und ungeschwächtem Gedächtnisse auch nicht die kleinste zu ihren Gunsten getroffne Verfügung zurücknehme oder abändere oder eine Einschränkung hinsichtlich dessen treffe, was ich ihr vermacht habe. Mein Verhältnis zu ihr ist ungetrübt und so, wie es immer war, und ich widerrufe – wie Sie hören – nichts, was ich, um sie glücklich zu machen, verfügt habe.«

Die feierliche Umständlichkeit seiner Ausdrucksweise hätte zu jeder andern Zeit, wie so oft schon, lächerlich gewirkt, aber diesmal ist sie ergreifend und rührend. Die vornehme Würde, seine Treue, sein ritterliches Einstehen für sie, die Hochherzigkeit, mit der er ihretwegen die eigne erlittene Unbill und seinen Stolz vergißt, haben etwas erschütternd Schlichtes, Ehrenhaftes und Wahres. Solche Denkungsweise adelt den gewöhnlichsten Handwerker nicht weniger als den Vornehmsten und hebt beide gleich empor aus dem Staub der Erden zum strahlenden Licht.

Von der Anstrengung erschöpft, läßt Sir Leicester den Kopf auf die Kissen sinken und schließt die Augen, aber nur eine Minute, dann sieht er wieder hinaus in das Schneegestöber und horcht gespannt auf das leiseste Geräusch. Der Kavallerist hat sich bescheiden ein paar Schritte zurückgezogen, um nicht zu stören, und steht hinter seiner Mutter Stuhl Wache. Sir Leicester hat kein Wort darüber fallen lassen, wie unentbehrlich ihm die Dienste, die ihm George leistet, in der kurzen Zeit geworden sind, aber alle fühlen es.

Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Der Nebel und das dichte Fallen des mit Regen untermischten Schnees machen die Stunde noch finsterer, und lebhafter glänzt der Feuerschein an den Wänden und den Möbeln. Die Dunkelheit nimmt zu; Gasflammen zucken hell auf in den Straßen, und die altmodischen hartnäckigen Öllampen vor dem Palais mit halbgefrornem und halbaufgetautem Lebensborn flimmern schnappend, wie feurige Fische auf trockenem Land. Die vornehme Welt, die über das Stroh gerollt kam und die Klingeln gezogen hat, um »anzufragen«, begibt sich nach Hause und kleidet sich um zum Diner, um wieder von neuem im Stil der letzten Mode die teure Freundin zu begeifern.

Sir Leicesters Befinden verschlimmert sich, er wird unruhig, aufgeregt und leidet große Schmerzen. Volumnia zündet eine Kerze an – es scheint in ihrer Bestimmung zu liegen, stets das Unpassendste zu tun –, aber er läßt ihr befehlen, sie wieder auszulöschen, da es noch nicht dunkel genug sei. Dennoch ist es fast finster; so finster, wie es die ganze Nacht sein wird. Mit der Zeit versucht sie es abermals. »Nein! Auslöschen!« Noch immer ist es ihm nicht dunkel genug.

Die alte Haushälterin erkennt zuerst, daß er sich in dem Wahne erhalten will, es sei noch nicht spät.

»Lieber Sir Leicester, mein lieber guter Herr«, flüstert sie halblaut. »Denken Sie doch an Ihren Zustand. Es ist meine Pflicht, Sie inständigst zu bitten, sich doch nicht hier mit Wachen und Warten in der einsamen Finsternis durch die langen Stunden hinzuschleppen und sich so aufzureiben. Erlauben Sie mir, die Vorhänge zuzumachen und die Lichter anzubrennen, damit es gemütlicher im Zimmer wird. Die Zeit läuft deshalb nicht anders, Sir Leicester, und die Nacht wird schnell vorübergehen. Mylady kommt deshalb nicht früher und nicht später.«

»Ich weiß es wohl, Mrs. Rouncewell, aber ich bin schwach, und er ist schon so lange, lange weg.«

»Nicht so sehr lange, Sir Leicester. Kaum vierundzwanzig Stunden.«

»Aber das ist lange. Schrecklich lang!«

– Er sagt das mit einem Stöhnen, daß es ihr das Herz zerreißt. –

Sie fühlt, daß der Zeitpunkt nicht geeignet: ist, das grelle Licht auf sein Gesicht fallen zu lassen; seine Tränen sind ihr zu heilig, als daß er wissen dürfte, daß selbst sie sie sieht. Daher bleibt sie eine Weile stumm im Dunkeln sitzen; dann macht sie sich still im Zimmer zu schaffen, schürt das Feuer und tritt an das dunkle Fenster, um hinauszusehen. Endlich hat er seine Fassung wiedergewonnen und sagt zu ihr: »Sie haben recht, Mrs. Rouncewell, es wird nicht dadurch schlimmer, daß man es sich eingesteht. Es wird spät, und sie sind noch nicht da. Zünden Sie das Licht an!«

Als es hell im Zimmer wird und die Vorhänge zugezogen sind und das Wetter hinausgesperrt haben, bleibt ihm nur noch das Horchen.

Mrs. Rouncewell weiß, es tut ihm in seiner niedergedrückten Stimmung und seinen Leiden wohl, wenn man ihn merken läßt, daß man in Myladys Gemächern nach dem Feuer sieht und sich vergewissert, ob alles zu ihrem Empfange bereit steht. So armselig das Mittel ist, so erhalten doch diese kleinen Andeutungen, daß sie erwartet wird, die Hoffnung in ihm aufrecht.

Mitternacht kommt. Immer noch dieselbe öde leere Stimmung. Nur wenig Wagen mehr hört man auf den Straßen, und andre späte Geräusche gibt es in dieser Gegend nicht, außer daß vielleicht ein Mann, der so sinnlos betrunken ist, daß er sich in diese kalte nüchterne Zone des vornehmsten Stadtteils verirrt hat, johlend und brüllend über das Pflaster taumelt. In dieser Winternacht herrscht eine Stille, daß das Lauschen in das tote Schweigen so ist wie ein Hinaussehen in tiefste Finsternis. Wenn ein fernes Geräusch erwacht, so verklingt es durch die Nacht, wie ein schwacher Schein im Dunkel erstirbt, und alles ist dann noch tiefer und stiller als zuvor.

Die Dienerschaft ist zu Bett geschickt worden und geht nicht ungern, denn sie hat die ganze vorige Nacht aufbleiben müssen, und nur Mrs. Rouncewell und George wachen noch in Sir Leicesters Zimmer. Wie die Nacht langsam vergeht und zwischen zwei und drei Uhr fast still zu stehen scheint, stellen sich bei dem Kranken Ruhelosigkeit und der quälende Wunsch ein, zu erfahren, was für Wetter draußen ist, da er es nicht mehr sehen kann. Daher dehnt George, der regelmäßig jede halbe Stunde nach den so sorgfältig zum Empfang Myladys bereitgehaltnen Zimmern gesehen hat, seine Runde bis zur Pforte des Hauses aus und schildert sodann diese schlechteste aller Nächte in den bestmöglichen Farben. In Wirklichkeit aber fällt immer noch Schnee und Regen, und selbst auf dem Fußsteig liegt der halbgefrorne Schlamm knöcheltief.

Volumnia ist in ihrem Zimmer an einem entlegnen Treppenabsatz – dem zweiten über der Stelle, wo das Schnitzwerk und die Vergoldung aufhören –, einem Zimmer für Kusinen mit einer fürchterlichen Mißgeburt von einem Porträt Sir Leicesters – seiner Scheußlichkeit wegen hier herauf verbannt –, eine Beute schlimmster Befürchtungen. Was wird mit ihrem kleinen Einkommen geschehen, im Fall Sir Leicester »etwas zustoßen sollte«, wie sie sich ausdrückt? Wenn einem Baronet »etwas« passiert, so heißt das natürlich soviel wie das allerletzte, was einem Menschen auf dieser Erde widerfahren kann.

Eine Folge dieser Seelenqualen ist, daß Volumnia entdeckt, sie könne nicht in ihrem Zimmer zu Bett gehen und auch nicht am Kaminfeuer sitzen, sondern müsse ihr schönes Haupt mit einer Unzahl Schals umwinden und ihre junonische Gestalt in faltige Gewänder hüllen und durch das Haus wandeln wie ein Geist und vorzugsweise die warmen und luxuriösen Zimmer heimsuchen, die für die Eine bereitgehalten werden, die immer noch nicht zurückkehrt. Einsamkeit unter solchen Umständen ist natürlich ausgeschlossen, und so läßt sich Volumnia auf ihren Wanderungen von der Zofe begleiten, die, zu diesem Zweck aus dem Bett geholt, frierend, schlaftrunken und an und für sich schon zu Tod unglücklich über das harte Los, eine Kusine bedienen zu müssen, wo sie sich doch fest vorgenommen hat, es nicht billiger zu tun als mit einer Herrin von zehntausend Pfund Einkünften aufwärts, ein nichts weniger als freundliches Gesicht macht. Daß der Kavallerist bei seiner Runde von Zeit zu Zeit in diese Zimmer kommt, ist für Herrin und Zofe eine Bürgschaft des Schutzes und ein Lichtblick, der sein Erscheinen in den ersten Stunden nach Mitternacht sehr angenehm macht. Sooft man ihn kommen hört, nehmen beide einige flüchtige Verschönerungsversuche an sich vor, um ihn gebührend zu empfangen. Die Zwischenpausen vergehen teils in kurzem Schlummer, teils mit Zwiegesprächen, die einen gewissen ätzenden Charakter tragen, und manchmal sieht Miß Dedlock, die, immer die Füße auf das Kamingitter gestützt, dasitzt, aus, als stünde sie eben im Begriff, kopfüber ins Feuer zu fallen.

»Wie befindet sich jetzt Sir Leicester, Mr. George?« erkundigt sich soeben Volumnia und zupft sich dabei die Nachtmütze zurecht.

»Sir Leicesters Zustand ist ziemlich unverändert, Miß, er ist sehr schwach und phantasiert sogar bisweilen.«

»Hat er nach mir verlangt?« fragt Volumnia zärtlich.

»N-nein. Nicht, daß ich wüßte, Miß. Wenigstens habe ich es nicht gehört, Miß.«

»Das ist eine schlimme, schlimme Zeit, Mr. George.«

»Ja, wirklich, Miß. Aber möchten Sie nicht lieber zu Bett gehen?«

»Ich glaube auch, es wäre viel besser, wenn Sie zu Bett gingen, Miß Dedlock«, meint die Zofe scharf.

Aber Volumnia antwortet: Nein, nein! Er könne jeden Augenblick nach ihr verlangen. Sie würde es sich nie verzeihen können, wenn ihm »etwas« zustoßen sollte und sie wäre nicht bei der Hand, und zeigt gar keine Lust, auf die Frage der Zofe, warum sie denn dann gerade hier sein müsse, einzugehen, anstatt in ihrem eignen Zimmer (wo sie doch in Sir Leicesters Nähe sei); sie erklärt vielmehr mit großer Bestimmtheit, unbedingt hierbleiben zu wollen, und möchte es sich offenbar als ein besonderes Verdienst angerechnet wissen, die ganze Nacht »kein« Auge geschlossen zu haben, als ob sie deren zwanzig oder dreißig hätte und der Umstand, daß sie erst vor fünf Minuten zwei aufgemacht hat, nicht weiter ins Gewicht fiele.

Als es aber auf vier Uhr geht und immer noch alles still bleibt, bekommt Volumnias Standhaftigkeit einen Stoß, und sie hält es mit einem Mal für ihre Pflicht, sich lieber für morgen zu schonen, wo man sie wahrscheinlich sehr in Anspruch nehmen werde, und wird schwankend, ob sie nicht doch lieber das Opfer bringen solle, ihren Posten zu verlassen. Als daher der Kavallerist mit seinem »möchten Sie nicht lieber zu Bett gehen, Miß«, wieder erscheint und die Zofe mit größerer Schärfe als früher beteuert, »ich glaube auch, es wäre viel besser, Sie gingen zu Bett, Miß Dedlock«, steht sie geduldig wie ein Lamm auf und sagte resigniert: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen!«

Mr. George hält es jedenfalls für das Beste, sie bis an die Tür ihres Kusinenzimmers zu geleiten, und die Zofe hält es ebenso für das Beste, sie ohne viel Umstände ins Bett zu treiben. Das wickelt sich alles sodann zur allgemeinen Zufriedenheit ab, und der Kavallerist hat jetzt das ganze Haus für sich allein.

Das Unwetter hat noch immer nicht nachgelassen. Von dem Porticus, den Rinnen, dem Fries, von jedem Sims und jeder Säule und jedem Pfeiler sickert der tauende Schnee hernieder. Er ist, wie um Schutz zu suchen, in die Nischen der großen Vorhallentüre gekrochen, in die Ecken der Fenster, in jede verborgne Spalte und Lücke, und schmilzt dort und stirbt. Ohne Unterlaß fällt er auf das Dach, dringt durch das Fenster in der Decke und tröpfelt mit der Regelmäßigkeit des Schrittes auf dem Geisterwege auf den Boden der steinernen Halle herab.

Alte Erinnerungen an Chesney Wold erwachen in der Brust des Kavalleristen durch die feierliche Einsamkeit des vornehmen Hauses, und er geht die Treppen hinauf und durch die Hauptzimmer, die Kerze sorgsam in die Höhe haltend. Wie er an die Veränderung seines Schicksals in den letzten paar Wochen denkt, an seine auf dem Lande verlebte Kindheit und an die sich jetzt so seltsam über den weiten dazwischenliegenden Zeitraum hinüber die Hände reichenden zwei so einschneidenden Epochen seines Lebens und an den Ermordeten, dessen Bild noch so lebendig vor seiner Seele steht, an Mylady, die aus diesen Zimmern verschwunden ist und von deren Aufenthalt hier noch alles Zeugnis gibt, an den Herrn des Hauses oben in seinem Zimmer und an das ahnungsvolle »wer wird es ihm sagen?« – da sieht er sich überall um und stellt sich vor, was, wenn er jetzt plötzlich etwas erblicken würde, was all seinen Mut erforderte, darauf loszugehen, darnach zu greifen mit den Händen, um sich zu überzeugen, daß es nur ein Hirngespinst sei! Aber alles ist leer, öde und leer wie die Finsternis oben und unten, wie er wieder die große Treppe hinaufgeht; öde und einsam wie das bedrückende Schweigen.

»Ist alles bereit und hergerichtet, George Rouncewell?«

»Alles, Sir Leicester, alles in bester Ordnung.«

»Keine Nachricht? Noch immer nichts?«

Der Kavallerist schüttelt den Kopf.

»Kein Brief, der vielleicht übersehen worden sein kann?«

– Er weiß selbst nur zu gut, daß auf so etwas nicht zu hoffen ist, und läßt den Kopf, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder in die Kissen sinken. –

Wieder hebt ihn George Rouncewell von Zeit zu Zeit während des Restes der stillen Winternacht in bequemere Lagen und löscht, seinen stummen Wunsch erratend, das Licht aus und zieht die Vorhänge auf beim ersten verspäteten Morgengrauen.

Wie ein Gespenst kommt der Tag. Kalt, farblos und trübe sendet er einen fahlen leichenfarbenen Lichtschimmer voraus wie eine traurige Mahnung: »Seht ihr nicht, was ich euch bringe? Ihr, die ihr da wacht?

Wer wird es ihm sagen?«