48. Kapitel

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf

Das Schloß in Lincolnshire hat seine hundert Augen wieder geschlossen, und das Haus in der Stadt ist aufgewacht. In Lincolnshire träumen die Dedlocks der Vergangenheit in ihren Bilderrahmen, und leise seufzt der Wind durch den langen Salon, als ob die Toten regelmäßig atmeten im Schlaf. In der Stadt rasseln die Dedlocks der Gegenwart in ihren feueräugigen Karossen durch die Dunkelheit der Nacht, und die Dedlock-Merkure, Asche oder vielmehr Puder auf dem Haupt zum Zeichen ihrer großen Unterwürfigkeit, verdämmern die schläfrigen Morgenstunden in den kleinen Fenstern der Vorhalle. Die fashionable Welt – fast fünf Meilen im Umkreis – ist in voller Bewegung, und das Sonnensystem kreist um sie ehrfurchtsvoll in der gebührenden Entfernung.

Wo das Gewühl am dichtesten ist, die Lichter am hellsten und den Sinnen mit dem größten Luxus gehuldigt wird, da ist Lady Dedlock. Sie fehlt nie auf der glänzenden Höhe, die sie erstürmt und erobert hat, wenn auch ihr alter Glaube, sie könne unter dem Mantel ihres Stolzes alles, was sie will, verbergen, verschwunden ist. Wenn sie auch nicht weiß, ob das, was sie den andern scheint, morgen noch sein wird, liegt es doch nicht in ihrem Naturell, sich schwach zu zeigen, solange neidische Augen auf sie gerichtet sind. Man sagt von ihr, sie sei in der letzten Zeit noch schöner und stolzer geworden. Der hinfällig aussehende Cousin sagt, sie sei »schön jenuch, um nem janzen Schock Weiber auf die Beene zu helfen, – aber sie is von ner dollen Sorte –, erinnere an – das ekliche Frauenzimmer, das im Schlaf – äh – Bett verläßt und im Hause – äh –rumfuhrwerkt – äh – Shakespeare«.

Mr. Tulkinghorn sagt nichts.

Weder mit Worten noch mit Blicken.

Jetzt wie jemals sieht man ihn an den Türen der Säle mit dem locker umgebundnen weißen Halstuch mit der altmodischen Schleife. Er wird vom Hochadel begönnert und gibt kein Zeichen der Anerkennung von sich. Von allen Menschen möchte man von ihm am letzten glauben, er könne Einfluß auf Mylady haben. Von allen Frauen ist sie noch immer die letzte, der man zutrauen könnte, sie fürchte ihn.

Seit dem Gespräch im Turmzimmer in Chesney Wold liegt ihr ununterbrochen eine Sache auf der Seele. Sie ist jetzt entschlossen und bereit, die Last von sich zu werfen.

Es ist Morgen in der großen Welt, das heißt, Nachmittag in der kleinen gewöhnlichen. Die Merkure, erschöpft vom Zumfensterhinaussehen, ruhen aus in der Vorhalle und lassen ihre schweren Köpfe hängen – diese prachtvollen Geschöpfe – gleich überreifen großen Sonnenblumen. Wie diese scheinen sie mit ihren Fangschnüren und dem übrigen glitzernden Behänge Wassertriebe angesetzt zu haben.

Sir Leicester ist in der Bibliothek über dem Bericht eines Parlamentskomitees zur Hebung vaterländischer Interessen eingeschlafen.

Mylady sitzt in dem Zimmer, wo sie dem jungen Mann namens Guppy einmal Audienz gegeben hat. Rosa ist bei ihr, hat nach dem Diktat ihrer Herrin geschrieben und ihr vorgelesen. Rosa ist jetzt mit einer Stickerei oder einer ähnlichen niedlichen Arbeit beschäftigt, und während sie sich darüber beugt, beobachtet Mylady sie schweigend. Nicht zum ersten Mal heute.

»Rosa!«

Die kleine Dorfschöne blickt munter auf. Aber als sie Myladys ernste Miene sieht, nimmt ihr Gesicht einen verlegnen und überraschten Ausdruck an.

»Sieh mal nach, ob die Türe geschlossen ist.«

»Ja.«

Sie geht, überzeugt sich und sieht noch überraschter drein.

»Ich will dir etwas anvertrauen, mein Kind. Ich weiß, daß ich mich auf deine Anhänglichkeit, wenn nicht auch auf dein Urteil, verlassen kann. In dem, was ich jetzt vorhabe, will ich dir gegenüber ohne alle Verkleidung erscheinen. Aber ich verlasse mich ganz auf dich. Verrate niemandem ein Wort von dem, was ich dir jetzt sage!«

– Die schüchterne kleine Schöne verspricht mit innigem Ernst, sich des geschenkten Vertrauens würdig zu erweisen. –

»Hast du bemerkt«, – Lady Dedlock winkt ihr, mit dem Stuhle näher zu rücken – »hast du bemerkt, Rosa, daß ich gegen dich anders bin als gegen irgend jemanden sonst.«

»Ja, Mylady. Viel gütiger. Aber dann denke ich mir oft, ich kenne Sie eben, wie Sie wirklich sind.«

»Du denkst oft, du kennst mich, wie ich wirklich bin? Armes Kind, armes Kind!«

– Mylady sagt das mit einer Art Hohn – der jedoch nicht Rosa gilt –und sitzt dann eine Weile brütend da mit versonnenem Gesicht. –

»Bist du überzeugt, Rosa, daß du mir ein Trost und eine Erquickung bist? Bist du überzeugt, daß es mir Freude macht, dich in meiner Nähe zu haben, bloß, weil du jung und natürlich bist und mich lieb hast?«

»Ich weiß es nicht, Mylady; ich kann es kaum hoffen. Aber von ganzem Herzen wünsche ich, es wäre so.«

»Es ist so, Kleine!«

– Das freudige Erröten Rosas wird gehemmt durch den düstern Ausdruck Myladys. Schüchtern fragend blickt sie auf. –

»Und wenn ich heute sagte: Geh! Verlaß mich! würde ich etwas sagen, was mir sehr schmerzlich wäre und mich ganz und gar einsam machen würde.«

»Mylady, habe ich Sie beleidigt?«

»Durchaus nicht. Komm zu mir!«

– Rosa kniet vor Myladys Fußbank nieder. Wie damals in der Nacht nach dem denkwürdigen Gespräch mit dem Eisenwerksbesitzer legt Lady Dedlock mütterlich die Hand auf das dunkle Haar der Kleinen und läßt sie sanft dort ruhen. –

»Ich sagte dir damals, Rosa, ich möchte dich glücklich machen, wenn ich überhaupt imstande bin, jemanden auf Erden noch glücklich zu machen. Ich habe jetzt Gründe, an denen du keine Schuld trägst, die es aber ratsam machen, daß du nicht mehr bei mir bleibst. Du darfst nicht hier bleiben! Ich bin fest dazu entschlossen. Ich habe an den Vater deines Geliebten geschrieben, und er wird heute hierher kommen. Ich habe es deinetwegen getan.«

Weinend bedeckt das Mädchen die Hand ihrer Herrin mit Küssen und sagt, sie wisse nicht, was sie tun solle, wenn sie von einander scheiden müßten. Mylady küßt sie auf die Wange und gibt keine Antwort.

»Mögest du unter bcssern Verhältnissen glücklich sein, Kind. Sei geliebt und glücklich!«

»Ach, Mylady, ich habe mir manchmal gedacht – verzeihen Sie mir, daß ich mir eine solche Freiheit herausnehme –, daß Sie selbst nicht glücklich sind.«

»Ich!«

»Würden Sie glücklicher sein, wenn ich nicht mehr bei Ihnen bin? Bitte, bitte, bedenken Sie das noch einmal. Lassen Sie mich nur noch eine kurze Zeit bleiben.«

»Ich habe dir gesagt, mein Kind, daß, was ich tue, nur deinetwillen geschieht. Es ist geschehen. So, wie ich jetzt zu dir bin, Rosa, so bin ich wirklich, und nicht so, wie du mich in einer kleinen Weile sehen wirst. Vergiß das nicht und verschließe in deinem Herzen, was ich dir anvertraut habe. Tue es um meinetwillen, und dann sind alle Bande zwischen uns zerschnitten.«

Sie macht sich von dem Mädchen los und verläßt das Zimmer. Als sie spät nachmittags wieder auf der Treppe erscheint, hat sie ihre stolzeste und kälteste Miene auf; so teilnahmslos ist sie, als ob Leidenschaft, Gefühl und Interessen jeder Art längst in ihrer Seele seit vorsintflutlichen Epochen gestorben wären.

Der Merkur hat Mr. Rouncewell angemeldet. Deshalb erscheint sie jetzt. Mr. Rouncewell ist noch nicht im Bibliothekzimmer, aber sie begibt sich dorthin. Sir Leicester ist dort, und sie wünscht zuerst mit ihm zu sprechen.

»Sir Leicester, ich wollte mit Ihnen… Aber wie ich sehe, sind Sie beschäftigt.«

»Oh, durchaus nicht, Mylady. Nur Mr. Tulkinghorn ist hier.«

– Immer anwesend! Überall lauert er herum! Keinen Augenblick Sicherheit vor ihm! –

»Ich bitte um Entschuldigung, Lady Dedlock. Darf ich mich entfernen?«

Mit einem Blick, der deutlich sagt: Sie wissen doch ganz gut, daß Sie die Macht haben, zu bleiben, wenn Sie wollen, bedeutet sie ihm, es sei nicht nötig, und geht zu einem Sessel. Mr. Tulkinghorn tritt ihr mit seiner altmodischen Verbeugung ein paar Schritte entgegen und zieht sich dann in ein gegenüberliegendes Fenster zurück.

Er steht zwischen ihr und dem sinkenden Licht des Tages, und sein Schatten fällt auf sie und macht alles vor ihr dunkel. So, wie er auch ihr Leben verdüstert.

Auch im besten Fall ist das eine langweilige Straße draußen, in der die beiden langen Häuserzeilen sich gegenseitig mit einer solchen Strenge anstarren, daß ein halbes Dutzend ihrer größten Paläste schon unter solchen Blicken langsam zu Stein geworden wären, wenn man sie nicht schon vorher aus diesem Material gebaut hätte. Es ist eine Straße von so eisiger Größe, so entschlossen, sich nie zum atmenden Leben herabzulassen, daß die Türen und Fenster, staubbedeckt und schwarz, düster Cercle halten – und die hallenden Marställe dahinter ausgestorben und massiv aussehen, als wären sie bestimmt, die steinernen Schlachtrosse der adligen Statuen in sich aufzunehmen. Labyrinthisches eisernes Gitterwerk schlingt sich um die Vortreppen in dieser Ehrfurchtschauer erregenden Straße, und in steinernen Wölbungen gähnen die Auslöscher für die aus der Mode gekommenen Fackeln den Emporkömmling »Gas« an. Hie und da hat ein schwacher eiserner Ringbügel, durch den tagsüber kecke Jungen die ihren Spielgefährten herabgerissnen Mützen zu werfen sich bemühen, seinen Platz unter dem verrosteten Laubwerk behauptet und denkt trauervoll an lang entschwundne Zeiten. Ja sogar das Öl, das noch hie und da in kleinen sonderbaren Glasnäpfchen, mit einem Fleck auf dem Boden gleich einer Auster, übrig geblieben ist, blinzelt jeden Abend die neuen Lichter an, nicht so ganz unähnlich seinen hochgestellten Herren im Oberhaus.

Es ist daher wohl nicht gut möglich, daß Lady Dedlock von ihrem Stuhl aus durch das Fenster, in dessen Nische Mr. Tulkinghorn steht, besonders viel zu sehen wünschen sollte, und doch wirft sie einen Blick in diese Richtung, als ob es ihr innigster Herzenswunsch wäre, daß seine Gestalt sich von dort entfernte.

Sir Leicester bittet Mylady um Verzeihung: sie habe etwas sagen wollen?

»Bloß, daß Mr. Rouncewell da ist – ich habe ihn kommen lassen –, und daß wir am besten der Angelegenheit mit dem Mädchen ein Ende machen sollten. Ich bin der Sache endlich müde.«

»Was kann ich – dabei – tun?« fragt Sir Leicester zögernd und unsicher.

»Empfangen wir ihn hier und machen wir der Sache ein Ende. Möchten Sie ihn nicht herauf kommen lassen?«

»Mr. Tulkinghorn, würden Sie vielleicht die Güte haben, zu klingeln – danke bestens –, lassen Sie den… Eisengentleman«, sagt Sir Leicester zu dem Merkur und kann nicht gleich das richtige Wort finden, »lassen Sie den Eisengentleman heraufkommen.«

Der Merkur entfernt sich, um den »Eisengentleman« zu suchen, findet ihn und bringt ihn. Sir Leicester empfängt ihn sehr gnädig.

»Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Mr. Rouncewell? Nehmen Sie Platz. – Hier mein Anwalt, Mr. Tulkinghorn. – Mylady wünscht mit Ihnen zu sprechen.« Sir Leicester überweist ihn geschickt mit einem feierlichen Wink seiner Hand Lady Dedlock. »Hem.«

»Es wird mir eine Ehre sein, allem, was Lady Dedlock mir mitzuteilen geruhen wird, mit der größten Aufmerksamkeit zuzuhören.«

– Wie sich Mr. Rouncewell zu Mylady wendet, scheint sie ihm einen weniger angenehmen Eindruck zu machen als damals. Ein gewisses abweisendes geringschätziges Benehmen verbreitet eine eisige Atmosphäre um sie, und in ihrer ganzen Haltung ist nicht mehr das zu entdecken, was ihn bei seinem ersten Besuch zur Offenherzigkeit aufmunterte. –

»Würden Sie mir gestatten, zu fragen«, sagt Lady Dedlock gleichgültig, »ob zwischen Ihnen und Ihrem Sohn in bezug auf dessen Grille etwas vorgefallen ist?«

– In ihrer gelangweilten Stimmung scheint es ihr fast Mühe zu machen, Mr. Rouncewell einen Blick zu schenken, während sie diese Frage stellt. –

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Lady Dedlock, sagte ich, als ich zuletzt die Ehre hatte, Sie zu sehen, daß ich meinem Sohn allen Ernstes raten würde, dieser – Grille Herr zu werden.«

– Der Eisenwerksbesitzer legt auf das Wort einen gewissen Nachdruck. –

»Und haben Sie das getan?« »Ja, natürlich.«

– Sir Leicester nickt billigend. »Sehr schicklich.« – Da der Eisengentleman doch gesagt hatte, er würde es tun, war er auch dazu verpflichtet. In dieser Hinsicht ist zwischen edlen und unedlen Metallen kein Unterschied. »Sehr schicklich.« –

»Und hat er Ihren Rat beherzigt?«

»Darüber kann ich Ihnen wirklich keine bestimmte Antwort geben, Lady Dedlock. Ich fürchte, nein. Wahrscheinlich sogar nicht. Wir in unserm Stande verbinden manchmal mit unsern – unsern Grillen einen Entschluß, der nicht so leicht wankend zu machen ist. Ich glaube, es ist so unsre Art, die Sachen ernst zu nehmen.«

– Sir Leicester hat das unangenehme Gefühl, daß sich unter diesen Worten eine gewisse revolutionäre Bedeutung verbergen könne, und es wird ihm ein bißchen heiß. Mr. Rouncewell ist vollkommen guter Laune und sehr höflich, aber innerhalb dieser Grenzen paßt er offenbar seinen Ton dem Empfang an, den man ihm bereitet hat. –

»Ich habe nämlich über die Sache nachgedacht«, fährt Mylady fort, »und sie ennuyiert mich.«

»Das tut mir wirklich sehr leid.«

»Und auch über das, was Sir Leicester darüber sagte, womit ich ganz übereinstimme.« – Sir Leicester fühlt sich geschmeichelt. – »Und wenn Sie uns nicht die Versicherung geben können, daß die Grille vergessen ist, bin ich zu der Ansicht gekommen, daß es besser ist, wenn das Mädchen geht.«

»Ich kann eine solche Versicherung nicht geben, Lady Dedlock.«

»Dann ist es besser, sie geht.«

»Mylady wolle entschuldigen«, bemerkt Sir Leicester rücksichtsvoll, »aber vielleicht würden wir auf diese Art dem Mädchen ein Unrecht zufügen, das es nicht verdient hat. Wir haben hier ein junges Mädchen«, sagt Sir Leicester und unterbreitet Mr. Rouncewell die Sache großartig wie ein silbernes Service, »das das Glück gehabt hat, die Beachtung und Gunst einer vornehmen Dame zu gewinnen. Die verschiednen Vorteile, die ihr eine solche Stelle gewährt und die unzweifelhaft sehr groß sind, geben zu bedenken. Es fragt sich nun, soll dieses junge Mädchen so vieler Vorteile und einer so glücklichen Lebensstellung verlustig gehen, bloß weil sie« – Sir Leicester schließt mit einer würdevollen Neigung seines Kopfes – »die Aufmerksamkeit von Mr. Rouncewells Sohn auf sich gezogen hat? Hat sie diese Strafe verdient? Ist es gerecht gegen sie gehandelt? Haben wir das vorher wohl bedacht?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, unterbricht ihn Mr. Rouncewell. »Sir Leicester, würden Sie mir ein Wort gestatten? Ich glaube, dazu beitragen zu können, die Sache abzukürzen. Wenn Sie etwas so Unbedeutendes im Gedächtnis behalten haben sollten – was nicht zu erwarten ist –, werden Sie sich vielleicht entsinnen, daß mein erster Gedanke war, sie nicht hier zu lassen.«

– Die Gunst der Dedlocks nicht in Erwägung zu ziehen! O! – Sir Leicester müßte einem Paar Ohren, die er von einer solchen Reihe von Ahnen geerbt hat, mißtrauen, wenn er nicht so deutlich gehört hätte, was der Eisenwerksbesitzer soeben selbst sagte. –

»Es ist nicht notwendig«, bemerkt Mylady mit eisiger Kälte, ehe Sir Leicester noch etwas andres tun kann, als erstaunt Atem zu holen, »näher auf die Sache einzugehen. Rosa ist ein sehr gutes Mädchen, und ich habe ihr durchaus nicht auch nur das Geringste nachzusagen, aber sie ist insofern für all ihre Vorteile hier und ihr Glück unempfänglich, als sie eben – armes Närrchen – verliebt ist oder es zu sein glaubt.«

Sir Leicester erlaubt sich zu bemerken, daß das allerdings die Sache vollständig ändere. Er hätte gleich überzeugt sein können, daß Mylady die besten Gründe für ihre Ansicht habe, und er stimme vollständig mit Mylady überein. Ja, es sei tatsächlich besser, daß das junge Mädchen gehe.

»Wie Sir Leicester schon das letzte Mal bemerkte, wo uns diese Angelegenheit fatiguierte«, fährt Lady Dedlock gelangweilt fort, »können wir Ihnen nichts vorschreiben. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist das Mädchen hier durchaus nicht an seinem Platz, und es ist das Beste, sie geht. Ich habe ihr das selbst gesagt. Ziehen Sie vor, daß wir sie in das Dorf zurückschicken, oder wollen Sie sie selbst mitnehmen?«

»Lady Dedlock, wenn ich offen sprechen darf –«

»Ich bitte darum.«

»– so würde ich den Weg vorziehen, der Ihnen die Last am ehesten abnimmt und das Mädchen am frühesten aus seiner gegenwärtigen Lage entfernt.«

»Und um ebenso offen zu sprechen«, erwidert Mylady mit derselben einstudierten Gleichgültigkeit, »würde ich in Ihrer Lage auch so handeln. Verstehe ich Sie recht, Sie wünschen sie gleich mit sich zu nehmen?«

Der Eisengentleman macht eine steife Verbeugung.

»Sir Leicester, würden Sie wohl die Güte haben, zu klingeln?«

Mr. Tulkinghorn tritt aus der Fensternische und zieht die Klingel. »Ich habe Sie ganz vergessen, ich danke Ihnen.« Der Advokat macht seine gewohnte Verbeugung und tritt wieder ruhig in die Fenstervertiefung zurück. Der Merkur erscheint auf der Stelle, nimmt seine Instruktion, wen er zu bringen habe, entgegen, schwebt fort, bringt das Verlangte und verschwindet.

Rosa hat geweint und ist noch immer sehr bekümmert. Bei ihrem Eintritt steht der Eisenwerksbesitzer von seinem Sessel auf, zieht ihren Arm durch seinen und bleibt mit ihr bei der Tür stehen, bereit, sich zu empfehlen.

»Sie sind in guter Obhut, wie Sie sehen«, sagt Mylady in ihrer müden Weise, »und verlassen uns, verläßlichen Händen anvertraut. Ich habe Ihnen das Zeugnis ausgestellt, daß Sie sehr brav waren, und Sie haben keine Veranlassung zu weinen.«

»Immerhin«, bemerkt Mr. Tulkinghorn und tritt ein wenig aus der Nische hervor, »scheint es ihr leid zu tun, daß sie fortgeht.«

»Wohlerzogen ist sie allerdings nicht«, entgegnet Mr. Rouncewell ein wenig rasch und laut, als sei er froh, wenigstens über den Advokaten herfallen zu können. »Sie ist ein unerfahrnes junges Ding und weiß es nicht besser. Wenn sie hier geblieben wäre, Sir, würde sie sich sicher mehr Schliff angewöhnt haben.«

»Ohne Zweifel«, gibt Mr. Tulkinghorn gelassen zur Antwort.

Rosa schluchzt, es tue ihr sehr, sehr leid, Mylady zu verlassen, und sie sei so glücklich in Chesney Wold gewesen und so glücklich bei Mylady. Und immer und immer wieder dankt sie Mylady.

»Schweig doch schon, Kindchen«, redet ihr der Eisenwerksbesitzer leise und freundlich zu. »Du mußt dich ein wenig fassen, wenn du Wat gern hast.«

Mylady winkt ihr bloß gleichgültig und sagt: »Schon recht, schon recht, Kind! Sie sind ein gutes Mädchen. Gehen Sie nur!«

– Sir Leicester hat sich würdevoll von der Sache losgemacht und sich in das Heiligtum seines blauen Fracks zurückgezogen. Mr. Tulkinghorns unbestimmte Umrisse heben sich gegen die dunkle Straße, in der jetzt vereinzelte Lampen brennen, ab, und Myladys Augen scheinen noch größer und schwärzer als zuvor. –

»Sir Leicester und Lady Dedlock«, beginnt Mr. Rouncewell nach einigen Augenblicken, »ich bitte um Erlaubnis, mich verabschieden zu dürfen, und um Entschuldigung, wenn ich Sie, zwar nicht auf meine Veranlassung, aber doch immerhin noch ein Mal, belästigt habe. Ich kann mir recht gut vorstellen, ich versichere Ihnen, wie ermüdend eine solche nebensächliche Angelegenheit auf Lady Dedlock gewirkt haben muß. Wenn ich mir zweifelhaft bin, ob ich mich richtig dabei benommen habe, so ist dies nur hinsichtlich dessen der Fall, daß ich nicht gleich anfangs im stillen meinen Einfluß geltend machte, meine junge Freundin hier, ohne Sie vorher zu inkommodieren, wegzunehmen. Aber ich habe eben die Wichtigkeit der Sache überschätzt und glaubte mir schuldig zu sein, Ihnen das Verhältnis auseinandersetzen und Ihre Meinung darüber einholen zu müssen. Ich hoffe, Sie werden meine geringe Kenntnis der Gebräuche der feinen Welt entschuldigen.«

Sir Leicester glaubt bei dieser Bemerkung aus seinem Heiligtum heraustreten zu müssen. »Mr. Rouncewell, bitte, sprechen Sie nicht weiter davon. Eine Rechtfertigung ist, hoffe ich, auf keiner Seite nötig.«

»Es freut mich, das zu hören, Sir Leicester, und wenn ich als letztes Wort noch einmal auf das zurückkommen darf, was ich damals von der langjährigen Stellung meiner Mutter bei der Familie sagte, und auf den Wert, von dem sie auf beiden Seiten Zeugnis ablegt, so möchte ich jetzt auch auf dieses kleine Beispiel hier neben mir weisen, das beim Scheiden soviel Gefühl und Anhänglichkeit an den Tag legt und in dem gewiß meine Mutter zur Erweckung solcher Empfindungen, glaube ich, sagen zu dürfen, das ihre getan hat. Obgleich natürlich Lady Dedlock bei ihrer aus dem Herzen kommenden Teilnahme und ihrer gütigen Herablassung noch viel mehr getan hat.«

– Wenn er dies auch ironisch meint, so ist doch im Grunde mehr Wahres daran, als er selbst wissen kann. Er wendet sich bei seinen Worten zu dem Halbdunkel hin, in dem Mylady sitzt. –

Sir Leicester steht auf, um seine Verbeugung zu erwidern. Mr. Tulkinghorn klingelt wieder; wieder schwebt der Merkur herein und hinaus, und Mr. Rouncewell und Rosa verlassen das Haus.

Lichter werden gebracht.

Immer noch steht Mr. Tulkinghorn, die Hände auf dem Rücken, im Fenster, und immer noch sitzt Mylady da, und seine Gestalt benimmt ihr die Aussicht auf die Nacht und auf den Tag. Sie ist sehr blaß. Mr. Tulkinghorn bemerkt es, als sie aufsteht, um zu gehen, und denkt sich:

»Sie hat –wahrhaftig Ursache dazu. Ihre Seelenstärke ist wirklich erstaunlich. Die ganze Zeit über hat sie eine eingelernte Rolle gespielt.«

Aber auch er kann seinerseits eine Rolle spielen – seine gewohnte unveränderliche Rolle. Und wie er dieser Frau die Tür öffnet, könnten auch fünfzig Paar Augen, jedes einzelne fünfzig Mal schärfer als das Sir Leicesters, keine Spur von Rachsucht in ihm entdecken.

Lady Dedlock speist heute allein auf ihrem Zimmer. Sir Leicester muß schleunigst der Doodle-Partei gegen die Coodle-Faktion beispringen. Als sich Lady Dedlock zu Tisch setzt, immer noch totenblaß, fragt sie, ob er schon fort ist.

Ja.

Ob Mr. Tulkinghorn auch schon fort ist.

Nein.

Womit er sich beschäftige?

Der Merkur glaubt, er schreibe Briefe im Bibliothekszimmer, und ob Mylady ihn zu sprechen wünsche?

Keineswegs!

Aber er wünscht Mylady zu sprechen. Nach wenigen Minuten läßt er sich durch den Diener empfehlen und bei Mylady anfragen, ob er nach dem Essen ein paar Worte mit ihr sprechen könne. Mylady wünscht es gleich jetzt.

Er kommt, bittet um Entschuldigung, daß er störe, und sie bleibt am Tisch sitzen. Als sie allein sind, winkt Mylady mit der Hand, allen Firlefanz sein zu lassen. »Was wünschen Sie, Sir?«

»Wirklich, Lady Dedlock«, sagt der Advokat, nimmt auf einem Stuhl in einiger Entfernung von ihr Platz und reibt sich die rostigen Beinkleider auf und ab, auf und ab, auf und ab. »Wirklich, ich bin sehr erstaunt über Ihr Vorgehen.«

»Wirklich?«

»Ja, ganz entschieden. Ich sehe darin eine Verletzung unsres Übereinkommens und Ihres gegebnen Versprechens. Es versetzt uns in eine neue Lage, Lady Dedlock. Ich fühle mich vor die Notwendigkeit gestellt, zu sagen, daß ich es nicht billige.«

Er hält mit dem Reiben inne und sieht sie an, die Hände auf die Knie gestützt.

So undurchdringlich und unverändert er scheinbar ist, so liegt doch in seinem Benehmen eine gewisse Freiheit, die an ihm neu ist und Myladys Blick nicht entgeht.

»Ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Ich glaube doch. Ich bitte Sie, Lady Dedlock, wollen wir jetzt nicht mit Worten kämpfen. Sie wissen selbst, daß Sie dieses Mädchen gern haben.«

»Nun, und, Sir?«

»Und Sie wissen – ebenso wie ich –, daß Sie das Mädchen nicht aus den Gründen, die Sie angegeben haben, entließen, sondern um sie soviel wie möglich von – entschuldigen Sie, daß ich es als etwas rein Geschäftliches erwähne – vor jeder Bloßstellung, die Ihnen droht, zu trennen.«

»Nun, und, Sir?«

»Nun, Lady Dedlock«, der Advokat schlägt die Beine übereinander und faltet die Hände auf dem Knie, »dagegen habe ich gar mancherlei einzuwenden. Ich halte diesen Schritt für gefährlich. Erstens ist er nicht nötig, zweitens geeignet, Zweifel, Gerüchte und ich weiß nicht, was sonst alles noch im Hause zu erwecken, und drittens ist es ein Bruch unsrer Vereinbarung. Sie hatten genau so zu bleiben, wie Sie vorher waren. Und es ist Ihnen doch selbst klar, daß Sie an diesem Abend dem zuwiderhandelten. Mein Himmel, Lady Dedlock, einfach zuwiderhandelten!«

»Wenn ich in der Erkenntnis meines Geheimnisses…«

Mr. Tulkinghorn unterbricht sie: »Ich muß bitten, Lady Dedlock, das ist eine Geschäftssache, und in einer solchen kann man die Worte nicht präzis genug wählen. Es ist nicht länger Ihr Geheimnis. Sie entschuldigen schon, aber darin liegt eben der Irrtum. Es ist mein Geheimnis, Sir Leicester und der Familie gegenüber. Wenn es Ihr Geheimnis wäre, Lady Dedlock, säßen wir nicht hier und hielten nicht diese Unterredung miteinander.«

»Das ist sehr wahr, Mr. Tulkinghorn. Aber eben, weil ich das Geheimnis kenne, tue ich mein möglichstes, damit nicht auf ein unschuldiges Mädchen ein Schatten von der mir drohenden Schande fällt… Wenn ich an Ihre eigne Äußerung denke, als Sie meine Geschichte den versammelten Gästen in Chesney Wold erzählten, liegt doch das im Bereich der Möglichkeit. Ich habe also nach einem festen Entschluß gehandelt, und nichts in der Welt und kein Mensch auf Erden könnten mich darin wankend machen oder hätten mich bestimmen können, anders zu handeln.«

– Sie sagt dies mit großer Überlegung und Deutlichkeit und ebenso leidenschaftlich, wie er selbst ist. –

»Wirklich? Dann, Lady Dedlock«, entgegnet er ganz methodisch, als ob sie irgendein empfindungsloses Rad in seinen Machinationen sei, »müssen Sie selbst einsehen, daß kein Verlaß auf Sie ist. Sie selbst haben die Sache ganz unverschleiert dargestellt.«

»Vielleicht werden Sie sich erinnern, daß ich hinsichtlich dieses Punktes, als wir damals in Chesney Wold miteinander sprachen, eine gewisse Angst an den Tag legte, Mr. Tulkinghorn?«

»Ja«, sagt Mr. Tulkinghorn, steht gleichgültig auf und lehnt sich an den Kamin. »Ja. Ich erinnere mich, Lady Dedlock, daß Sie allerdings von dem Mädchen sprachen, aber das geschah, bevor wir unsre Übereinkunft trafen, und sowohl der Buchstabe wie der Geist unsrer Abmachung schließt jeden freien Schritt Ihrerseits, insofern er mit der Entdeckung, die ich gemacht habe, irgendwie zusammenhängt, vollständig aus. Darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Sie sprechen von notwendiger Schonung des Mädchens, aber ich frage, welche Wichtigkeit oder welchen Wert hat diese Person? – Schonen! – Lady Dedlock, die Ehre eines Familiennamens steht auf dem Spiel! Man hätte doch denken sollen, der Weg hätte geradeaus, über alles hinweg, weder nach rechts noch nach links, gehen müssen, ohne Rücksicht auf irgend etwas zu nehmen, und ohne Schonung.«

– Mylady hat bisher den Tisch angesehen und wendet dem Advokaten nun ihre Augen zu. Ein finsterer Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht, und man sieht, wie sie die Zähne zusammenbeißt. »Diese Frau versteht mich«, denkt Mr. Tulkinghorn, während sie wieder wegsieht. »Sie rechnet nicht auf Schonung. Warum schont sie andre?« –

– Eine kleine Weile schweigen beide. Lady Dedlock hat keinen Bissen gegessen und nur ein paar Mal mit fester Hand einen Schluck Wasser genommen. Sie steht vom Tische auf, nimmt einen Lehnstuhl und legt sich darin zurück. Nichts in ihren Mienen drückt Schwäche aus oder bittet um Mitleid. Sie ist gedankenvoll auf sich selbst konzentriert. –

»Diese Frau«, denkt Mr. Tulkinghorn, der jetzt vor dem Kamin steht und wieder als schwarzer Hintergrund ihr die Aussicht versperrt, »ist ein Studium.«

Er studiert sie in Muße und spricht eine Zeitlang nicht. Auch sie grübelt über irgend etwas nach. Es ist so unwahrscheinlich, daß sie das erste Wort spräche, und wenn er auch bis Mitternacht noch dastünde, daß er sich schließlich genötigt sieht, das Stillschweigen zu brechen.

»Lady Dedlock. Es bleibt uns noch der unangenehmste Teil dieser geschäftlichen Unterredung zu erledigen. Aber es ist eben eine Geschäftssache. Unsre Abmachung ist nicht eingehalten worden. Eine Dame von Ihrer Einsicht und Charakterstärke wird darauf vorbereitet sein, daß ich sie jetzt als aufgehoben erkläre und meinen eignen Weg gehen werde.«

»Ich bin auf alles gefaßt.«

Mr. Tulkinghorn verneigt sich.

»Ich habe Sie mit nichts weiter mehr zu belästigen, Lady Dedlock.«

Als er das Zimmer verlassen will, hält sie ihn noch mit der Frage zurück:

»Das soll wohl die versprochne Benachrichtigung sein? Ich wünsche nicht, Sie mißzuverstehen.«

»Nicht genau in dem Sinn, Lady Dedlock, wie ich Sie Ihnen zugesagt habe, da das voraussetzte, daß unsre Abmachung eingehalten würde, aber im Grunde genommen ist sie es. Ein Unterschied ist nur in den Augen eines Juristen vorhanden.«

»Sie beabsichtigen also, mir keine andre Warnung zukommen zu lassen?«

»So ist es. Nein.«

»Beabsichtigen Sie, Sir Leicester heute abend aufzuklären?«

»Eine Frage, die auf den Kern losgeht«, sagt Mr. Tulkinghorn mit einem schwachen Lächeln und schüttelt vorsichtig den Kopf. »Nein, heute nicht.«

»Morgen?«

»Wenn ich mir alles genau überlege, muß ich die Beantwortung dieser Frage verweigern, Lady Dedlock. Wenn ich sagte, ich wüßte nicht genau, wann, würden Sie mir nicht glauben, und das hätte also keinen Zweck. Es könnte morgen sein. Ich will lieber nichts weiter sagen. Sie sind vorbereitet, und ich will keine Hoffnungen erwecken, die die Umstände vielleicht nicht rechtfertigen könnten. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Sie entfernt die Hand von ihrer Stirn, wendet ihm ihr bleiches Gesicht zu, und wie er schweigend zur Türe geht und sie eben öffnen will, ruft sie ihn noch ein Mal zurück.

»Gedenken Sie noch einige Zeit im Haus zu bleiben? Ich hörte, Sie schrieben in der Bibliothek Briefe. Gehen Sie wieder dorthin?«

»Nur um meinen Hut zu holen. Ich gehe nach Hause.«

Sie grüßt mehr mit den Augen als mit dem Kopf, so leise und seltsam ist ihre Bewegung, und er zieht sich zurück. Draußen sieht er auf seine Uhr und scheint zu mutmaßen, sie könne eine Minute oder zwei falsch gehen, und vergleicht sie daher mit einer prachtvollen Wanduhr auf der Treppe, die, was bei solchen Prunkstücken selten vorkommt, wegen ihres genauen Ganges berühmt ist. »Und was sagst du?« fragt Mr. Tulkinghorn diese Uhr. »Was sagst du?«

Was, wenn sie jetzt sagte: Geh nicht nach Hause?! Was für eine berühmte Uhr würde sie erst werden, wenn sie gerade heute nacht von allen Nächten, die sie schon abgezählt hat, gerade zu diesem alten Mann von all den jungen und alten Leuten, die schon vor ihr gestanden haben, sagen würde: Geh nicht nach Hause!

Mit ihrer lauten hellen Glocke schlägt sie dreiviertel nach sieben und tickt dann weiter.

»Was, du bist ja schlimmer, als ich dachte«, sagt Mr. Tulkinghorn tadelnd zu seiner Taschenuhr. »Zwei Minuten falsch ? Auf diese Art wirst du nicht bei mir bis zu meinem Lebensende aushalten können.«

Wie schön von ihr, vergälte jetzt die Uhr Böses mit Gutem, wenn sie ihm zur Antwort geben würde: Geh nicht nach Hause.

Er tritt auf die Straße und geht, die Hände auf dem Rücken, im Schatten der hohen Häuser dahin, von deren Geheimnissen, Verlegenheiten, Schulden und delikaten Angelegenheiten jeder Art so manches hinter seiner schwarzen Atlasweste aufgespeichert liegt. Er scheint sogar mit den bloßen Mauern im vertrauten Verhältnis zu stehen, und – wer weiß – vielleicht telegraphieren ihm die hohen Schornsteine Familiengeheimnisse zu. Aber keiner von ihnen hat eine Stimme, die ihm zuflüstern würde: Geh nicht nach Hause.

Durch das Leben und Treiben der weniger nobeln Straßen, durch das Geräusch und Getümmel vieler Fuhrwerke, zahlloser Füße und Stimmen, an den grellen beleuchteten Ladenfenstern vorbei, dem Westwind entgegen, schiebt ihn das Gedränge erbarmungslos vorwärts, und nichts ist da, was zu ihm träte und ihm zuflüsterte: Geh nicht nach Hause.

Und wie er endlich sein stilles Zimmer erreicht und die Kerzen anzündet und um sich schaut und den Römer von der Decke herunterdeuten sieht, da ist in dessen Hand keine andre Bedeutung als sonst und warnt ihn nicht: Bleib nicht hier.

Es ist eine helle Nacht, aber der Mond, der eben im Abnehmen begriffen ist, geht erst jetzt über der großen Wildnis von London auf. Die Sterne glänzen wie damals über dem bleiernen Turmdach von Chesney Wold, und die Frau blickt wieder zu ihnen auf wie damals, und in ihrer Seele stürmt es wild. Ihr Herz ist krank und ruhelos. Die großen Zimmer sind ihr zu schwül und eng. Sie kann es nicht länger in ihnen aushalten und will in einem benachbarten Garten allein spazieren gehen. Zu launenhaft und herrisch in allem, was sie tut, als daß sich irgend jemand über etwas verwundern sollte, was sie für gut befindet, geht sie, einen Plaid um die Schultern, in den Mondschein hinaus.

Der Merkur begleitet sie mit dem Schlüssel. Nachdem er die Gartenpforte geöffnet hat, übergibt er ihn Mylady auf ihr Verlangen und erhält den Befehl, wieder hineinzugehen. Sie wolle hier eine Zeitlang spazieren gehen, weil sie Kopfweh habe. Vielleicht eine Stunde, vielleicht länger. Sie bedürfe keiner weitern Begleitung.

Die Gitterpforte fällt klirrend zu, und sie schreitet hinaus in den dunkeln Schatten der Bäume.

Eine schöne Nacht, ein heller Vollmond, unzählige Sterne.

Mr. Tulkinghorn hat zu seinem Keller mit den widerhallenden vielen Türen über einen kleinen gefängnisartigen Hof zu gehen. Er blickt unwillkürlich empor und denkt: Was für eine schöne Nacht, der Vollmond so hell, und die Millionen von Sternen! Eine stille herrliche Nacht!

Ja, eine sehr stille Nacht!

Wenn der Mond besonders hell scheint, so ist es, als gösse er eine Einsamkeit und Stille über die Erde, die selbst menschenreiche und belebte Orte beeinflußt. Die Nacht ist nicht nur still auf staubigen Landstraßen und Hügelgipfeln und auf der weiten Strecke Land ringsum, die stiller und stiller wird, wie sie in einem Waldsaum in den Himmel verläuft mit dem grauen Gespenst des Nachtnebels darüber. In Ruhe liegen die Wälder und Gärten und die frischen grünen Wiesen, an denen das Wasser murmelnd zwischen lieblichen Inseln, flüsterndem Schilf und über Fischwehre dahinglitzert. Überall ist stille Nacht. Auch wo der Strom vorüberfließt an den dicht sich drängenden Häusern, unter den vielen Brücken hindurch, die ihre Bogen in seiner Fläche widerspiegeln, an den Werften vorüber, wo die vor Anker liegenden Schiffe ihm ein schwarzes und schauerliches Aussehen geben. Stille der Nacht überall auf dem Marschland, dessen Signalstangen wie an das Ufer geschwemmte Gerippe aussehen – auf sanft geflügeltem Land, reich an Kornfeldern, Windmühlen und Kirchtürmen. Stille Nacht auf dem ewig wogenden Meer –, an der Küste, wo der Wächter steht und das Schiff mit ausgebreiteten Fittichen quer über seinen Lichtpfad gleiten sieht – Stille selbst über der Wildnis Londons. Die Kirchtürme und der große, große Dom werden ätherischer, die verräucherten Giebel der Häuser verlieren ihre Körperlichkeit in dem bleichen Glanz, das Lärmen auf der Straße wird gedämpfter, und die Schritte auf dem Pflaster gehen ruhiger vorüber als sonst. In diesen Gefilden, wo Mr. Tulkinghorn wohnt und die Schäfer auf ihren Kanzleigerichtspfeifen spielen, unablässig, ohne Pause, und ihre Schafe wohl oder übel festzuhalten wissen, bis sie ganz kahl geschoren sind, verschwimmt jedes Geräusch in dieser Mondnacht in ein ferntönendes Gesumm, als wäre die Stadt ein großes vibrierendes Glas.

Was ist das? Jemand hat eine Flinte oder Pistole abgeschossen. Wo?

Ein paar verspätete Fußgänger fahren zusammen, bleiben stehen und sehen sich erstaunt um. Hie und da gehen Fenster und Türen auf, und Leute treten heraus, um spähend umherzublicken. Es war ein lauter Knall mit schwerem rollendem Echo.

»Das Haus hat förmlich gezittert«, sagt ein Mann, der vorüberging.

Der Schuß hat alle Hunde in der Nachbarschaft aufgeweckt, und sie bellen heftig. Erschrockne Katzen huschen über die Straße. Noch bellen die Hunde, und einer heult wie ein Dämon – da fangen die Turmuhren zu schlagen an, als seien auch sie erschrocken. Das Summen auf den Straßen scheint einen Augenblick zu einem Toben anzuschwellen. Aber es ist bald vorbei. Noch ehe die letzte Uhr anfängt, zehn zu schlagen, nimmt das Geräusch schon ab. Und als sie aufgehört hat, senken die schöne Nacht, der klare Vollmond und das Abertausend von Sternen wieder den alten Frieden herab.

Hat es Mr. Tulkinghorn gestört?

Seine Fenster sind dunkel und still, und seine Türe geschlossen. Ja, das müßte etwas ganz Ungewöhnliches sein, was ihn veranlassen würde, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. Man hört und sieht nichts von ihm. Ob wohl ein Kanonenschuß den verrosteten alten Mann aus seiner unerschütterlichen Fassung bringen könnte?

Seit vielen Jahren hat der beharrliche Römer, ohne damit etwas Besonderes haben sagen zu wollen, von der Decke heruntergedeutet. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er heute nacht damit etwas Besonderes meint. Wer ein Mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht, ob’s jetzt ein Römer oder sogar ein Brite ist. Darum bleibt er jetzt in seiner unmöglichen Stellung und deutet und deutet – erfolglos – die ganze Nacht herunter.

Mondlicht, Dunkelheit, Dämmerung, Morgenrot, Tag. Immer noch deutet er eifrig herunter, und niemand achtet auf ihn.

Aber kurz nach Tagesanbruch kommen Leute, um die Zimmer zu reinigen. Entweder sagt der Römer jetzt wirklich die Wahrheit, oder der erste der Leute, die hereinkommen, ist plötzlich verrückt geworden, denn wie er hinaufblickt zur Decke und dem ausgestreckten Finger folgt, schreit er auf und läuft davon. Die andern blicken ins Zimmer, so wie der erste hineinblickte, und auch sie schreien auf und laufen davon. Alarm entsteht in den Straßen.

Was hat das zu bedeuten? Man läßt kein Licht in das verfinsterte Zimmer, und Leute, die sonst nie hineinkommen, treten auf den Fußspitzen ein und kommen schweren Tritts wieder heraus, tragen etwas in das Schlafzimmer und legen es hin. Den ganzen Tag geht ein Flüstern der Verwunderung durch die Straßen. Nachforschung wird gehalten in jeder Ecke, Fußstapfen auf Fußstapfen aufmerksam verfolgt und sorgfältig die Stellung jedes Stücks Hausrat betrachtet. Aller Augen blicken hinauf zu dem Römer, und Stimmen murmeln: Wenn der reden könnte!

Er deutet beharrlich auf einen Tisch mit einer fast noch vollen Flasche Wein und einem Glas darauf und zwei Kerzen, die kurz nach dem Anbrennen ausgeblasen worden sein müssen. Er deutet auf einen leeren Stuhl und auf einen Fleck auf dem Fußboden davor, den man mit einer Hand bedecken kann. Eine aufgeregte Phantasie könnte sich einreden, es läge darin etwas so Schreckliches, daß das ganze Deckengemälde samt den dickbeinigen Amoretten, samt Wolken, Blumen und Pfeilern, kurz, die ganze Allegorie an Leib und Seele, verrückt werden müßte. Jeder, der in das verdunkelte Zimmer tritt und sich diese Sachen ansieht, blickt auch hinauf zu dem Römer, der jetzt in aller Augen etwas Geheimnisvolles und Schauerliches hat und aussieht wie ein vom Schlag getroffner stummer Zeuge.

Viele Jahre lang noch werden Schauergeschichten von dem Fleck auf dem Fußboden erzählt werden, der so leicht zu bedecken und so schwer wegzuwaschen war; und der Römer wird, solange Staub und Feuchtigkeit und Spinnen ihn verschonen, mit viel größerer Bedeutung als jemals zu Mr. Tulkinghorns Lebzeiten, vom Tode berichtend, herunterdeuten.

Mr. Tulkinghorns Zeit ist vorüber für immer, und der Römer deutete auf die Mörderhand, die sich gegen das Leben erhoben, und deutete rastlos auf den, der den Abend bis Morgen mit dem Gesicht auf dem Fußboden dagelegen hat, mitten durch das Herz geschossen.