Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.


Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.

Der ausgehungerte Saint Antoine hatte erst eine Jubelwoche durchgemacht, in der er seinen Bissen hartes bitteres Brot, so gut er konnte, mit dem Hochgenuß brüderlicher Umarmungen und Glückwünsche würzte, als Madame Defarge wieder wie gewöhnlich am Zahltisch vor ihren Kunden thronte. Sie trug keine Rose in ihrem Kopfputz, denn die große Brüderschaft der Spione war schon in dieser einen kurzen Woche so verschüchtert worden, daß sie es nicht wagte, sich der Gnade des Heiligen anzuvertrauen. Die Laternen in der Straße hatten einen gar zu bedeutsamen, elastischen Schwung.

Madame Defarge saß mit verschlungenen Armen in der heißen Morgensonne und betrachtete die Weinstube und die Straße. Da wie dort lungerten einige Gruppen schmutziger, erbärmlich aussehender Müßiggänger, jetzt augenscheinlich im Bewußtsein einer Gewalt, die sie ihrem Elend verdankten. Die zerlumpteste Nachtmütze, die der ungewaschenste Kopf schräg aufsitzen hatte, schien zu sagen: »Ich weiß, wie schwer es mir, dem Bedecker dieses, geworden ist, das Leben in mir zu erhalten: aber weißt du, wie es mir, dem Bedecker dieses, jetzt ein so Leichtes ist, das Leben in dir zu vernichten?« Jeder magere nackte Arm, der vorher ohne Arbeit war, hatte jetzt hinreichend Beschäftigung, wenn er nur zuschlagen wollte. Die Finger der strickenden Weiber waren boshaft lüstern geworden, seit sie wußten, daß sie zerreißen konnten. Saint Antoine sah anders als früher; das Bild, an dem seit Jahrhunderten gehämmert worden war, hatte durch die beendigenden Schläge der letzten Zeit mächtig an Ausdruck gewonnen.

Madame Defarge stand beobachtend da, und in ihren Zügen las man unterdrückten Beifall, wie sich dies von der Führerin der Weiber von Saint Antoine erwarten ließ. Eine aus ihrer Schar saß ihr strickend zur Seite. Diese, das kleine, gedrungene Weib eines verhungerten Krämers und Mutter von zwei Kindern, hatte sich als ihr Leutnant bereits den Ehrennamen »die Rache« erworben.

»Hör‘!« sagte die Rache. »Was ist das? Wer kommt?«

Als ob eine von der äußersten Grenze des Saint-Antoine-Viertelbis zur Tür des Weinhauses gelegte Zündschnur plötzlich angezündet worden sei, wälzte sich ein rasch weiter greifendes Murmeln heran.

»Es ist Defarge«, sagte Madame. »Stille, Patriotinnen!«

Defarge kam, die rote Mütze in der Hand, atemlos heran und sah sich um.

»Aufgemerkt überall da!« sagte Madame. »Hört ihn!«

Defarge blieb keuchend im Vordergrunde der gierigen Augen und der weit offenen Mäuler stehen, die sich vor der Tür draußen gesammelt hatten, während sie in der Weinstube aufgesprungen waren.

»Rede, Mann. Was gibt es?«

»Neuigkeiten aus der andern Welt.«

»Wie das?« versetzte Madame verächtlich. »Aus der andern Welt?«

»Erinnert sich jemand hier des alten Foulon, der dem verhungerten Volke zurief, es solle Gras fressen der da starb und zur Hölle fuhr?«

»Jeder!« antwortete es aus allen Kehlen.

»Die Neuigkeiten betreffen ihn. Er ist unter uns.«

»Unter uns?« klang wieder der allgemeine Ruf: »Tot?«

»Nicht tot. Er fürchtete uns so sehr und zwar mit Recht , daß er sich für tot ausgeben und zum Schein ein großartiges Leichenbegängnis halten ließ. Aber man hat ihn auf dem Land draußen versteckt lebend aufgefunden und hierher gebracht. Ich bin Zeuge gewesen, wie man ihn eben gefangen auf dem Stadthause ablieferte, und sagte ihm, daß er uns nicht ohne Grund fürchtete. Sprecht ihr alle hatte er nicht Ursache dazu?«

Wenn es der unglückselige, mehr als siebzigjährige alte Sünder nie zuvor gewußt hätte, so würde ihn der auf diese Frage antwortende gemeinsame Ruf aufs gründlichste belehrt haben.

Dann folgte ein Augenblick tiefer Stille. Defarge und sein Weib sahen einander scharf an. Die Rache beugte sich nieder, und es erscholl der wilde Ton einer hinter dem Zahltische stehenden Trommel, die sie anschlug.

»Patrioten!« rief Defarge mit entschiedener Stimme, »sind wir bereit?«

Im Nu hatte Madame Defarge ihr Messer in dem Gürtel. Die Trommel scholl durch die Straßen, als seien sie und der Trommler herbeigezaubert worden: die Rache rannte unter furchtbarem Gezeter, die Arme wie vierzig Furien zumal über dem Haupte zusammenschlagend, von Haus zu Haus, um die Weiber aufzubieten.

Die Männer waren schrecklich, wie sie in ihrem blutgierigen Zorn zu den Fenstern herausschauten, nach der nächsten besten Waffe griffen und in die Straßen herausstürzten: aber die Weiber boten einen Anblick, der dem Kühnsten das Blut erstarren machen konnte. Von den Geschäften ihrer armen und kahlen Haushaltung, von ihren Kindern und von ihren Alten und Kranken hinweg, die nackt und verhungert auf dem Boden lagen, stürmten sie mit aufgelösten Haaren hinaus und erregten sich gegenseitig durch die wildesten Rufe und Handlungen bis zum Wahnsinn. »Der Schurke Foulon ist gefangen, Schwester! Der alte Foulon gefangen, Mutter! Der elende Foulon gefangen, Tochter!« Dann stürzte ein Dutzend anderer in ihre Mitte, die sich die Brust zerschlugen, das Haar zerrauften und in den Ruf ausbrachen: »Foulon noch am Leben! Foulon, der den verhungerten armen Leuten sagte, sie sollen Gras fressen! Foulon, der meinen armen Vater Gras fressen hieß, als ich ihm kein Brot zu geben hatte! Foulon, der meinem Kinde Gras zu saugen empfahl, als diese Brüste versiegt waren vor Mangel! O Mutter Gottes, dieser Foulon! O Himmel, unsere Leiden! Höre mich, mein totes Kind und mein vor Elend verkommener Vater ich schwöre es auf meinen Knien, auf diesen Steinen, dich zu rächen an Foulon! Männer, Brüder, Jünglinge, wir verlangen das Blut, den Kopf Foulons! Gebt uns das Herz Foulons gebt uns Foulon mit Leib und Seele! Reißt Foulon in Stücke und verscharrt ihn, daß Gras wachse aus seinem Leibe!« Unter solchem Geschrei rannten die Weiber wie toll umher und schlugen auf ihre eigenen Freunde los, bis sie im Übermaß ihrer Leidenschaft ohnmächtig zusammenbrachen und nur die zu ihnen gehörigen Männer sie retten konnten, daß sie nicht unter den Füßen zerstampft wurden.

Gleichwohl ging kein Augenblick verloren; kein Augenblick! Dieser Foulon befand sich auf dem Stadthause und konnte wieder befreit werden. Nie, solange Saint Antoine seiner Leiden und des erfahrenen Unrechts eingedenk war! Bewaffnete Männer und Weiber strömten so schnell aus dem Viertel hinaus und zogen selbst die letzten Reste mit solcher Anziehungskraft nach, daß in einer Viertelstunde außer einigen alten Weibern und winselnden Kindern kein menschliches Wesen mehr in Saint Antoine zu finden war.

Nein. Sie hatten inzwischen den Gerichtssaal, in dem sich der häßliche, boshafte alte Mann befand, gefüllt, und was nicht hineinging, hielt den anstoßenden freien Platz und die benachbarten Straßen besetzt. Die Defarge, Mann und Frau, die Rache und Jacques Drei standen im Gedränge vornan und in nicht großer Entfernung von dem Gehaßten.

»Seht!« rief Madame, mit ihrem Messer nach ihm hinweisend. »Seht den alten Schurken mit Stricken gebunden. Es war gut, daß man ihm ein Bund Heu auf den Rücken schnürte. Ha, ha! Sehr gut. Er soll es jetzt fressen!«

Madame steckte ihr Messer unter den Arm und klatschte mit den Händen wie im Schauspiel.

Die hinter Madame Defarge Stehenden erklärten den weiter rückwärts Befindlichen die Ursache dieser Beifallsäußerung, und so ging die Erklärung von Mund zu Mund, bis weit hinaus in die Straßen, wo jetzt bis an den Saum der Menschenmassen hinaus ein wütendes Klatschen erscholl. So vergingen schleppende zwei oder drei Stunden, und Madame Defarges häufige ungeduldige Kundgebungen über das Zeugengedresche wurden mit wunderbarer Schnelligkeit in die Ferne fortgepflanzt um so schneller, als einige im Klettern wohlgeübte Männer nach den Fenstern hinaufgestiegen waren und, da sie Madame gut kannten, von hier aus zwischen ihr und dem Volke draußen Telegraphendienst leisteten.

Endlich stand die Sonne so hoch, daß ein freundlicher Strahl von ihr unmittelbar das Haupt des alten Gefangenen traf, als wolle sie ihn schirmen oder ihm Hoffnung einflößen. Dies war unerträglich mit anzusehen. Im Nu ging die Schranke wie von Sägmehl und Spreu, die überraschend lange bestanden hatte, in die Winde, und er befand sich in den Händen von Saint Antoine.

Es war schnell bekannt bis ans äußerste Ende der Volksmenge. Defarge hatte über ein Geländer und einen Tisch weggesetzt und den unglücklichen Elenden mit tödlicher Umarmung umschlungen. Madame Defarge, die ihm nachfolgte, machte sich alsbald mit einem der Stricke, die ihn gefesselt hielten, zu schaffen. Die Rache und Jacques Drei hatten sich ihnen noch nicht angeschlossen, und die Männer in den Fenstern waren noch nicht wie Raubvögel auf ihre Beute in die Halle hinuntergestoßen, als schon von der ganzen Stadt her der Ruf zu erschallen schien: »Bringt ihn heraus! Heraus mit ihm an die Laterne!«

Mit dem Kopfe voran, hinab und hinauf über die Treppen des Gebäudes: jetzt auf den Knien, jetzt auf den Beinen und jetzt auf dem Rücken; geschleppt, gezerrt und von Heu- und Strohwischen fast erstickt, die Hunderte von Händen ihm ins Gesicht stießen; zerrissen, zerbeult, blutend und doch ohne Unterlaß flehentlich um Gnade bittend, jetzt in der vollen Beweglichkeit der Todesangst, wenn ein kleiner Raum um ihn her dadurch gebildet wurde, daß die Hinteren die Vorderen zurückzogen, um ihn besser sehen zu können, jetzt wie ein Scheit Holz durch einen Wald von Beinen gezogen so brachte man ihn bis zu der nächsten Straßenecke, wo eine der verhängnisvollen Laternen stand. Madame Defarge ließ ihn los wie etwa die Katze eine Maus und betrachtete ihn still und ruhig, während die anderen sich bereit machten und er sie anflehte. Dabei schrien die Weiber ohne Unterlaß, und die Männer meinten allen Ernstes, man solle ihm so lange Gras in den Mund stopfen, bis er tot sei. Auf einmal ging es mit ihm in die Höhe. Der Strick riß, und sie fingen den Schreienden wieder auf. Zum zweitenmal wieder hinauf; abermals riß der Strick, und der Mann ward aufgefangen. Beim drittenmal war der Strick barmherzig und hielt. Bald nachher ragte sein Kopf auf einer Pike und hatte Gras genug im Munde, um ganz Saint Antoine zu jubelnden Tänzen zu veranlassen.

Doch das schlimme Werk des Tages war noch nicht zu Ende, Das Blut von Saint Antoine hatte sich bei dem Schreien und Tanzen so erhitzt, daß es wieder wild aufkochte, als abends sich die Kunde verbreitete, der Schwiegersohn des Hingeschlachteten, gleichfalls einer von den Feinden und Verächtern des Volkes, komme mit einer Bedeckung nach Paris, unter der sich nur von Kavallerie fünfhundert Mann befänden, Saint Antoine schrieb seine Verbrechen mit flammender Schrift nieder, bemächtigte sich seiner würde ihn aus dem Herzen einer Armee herausgerissen haben, die sich dazu hergab, einen Foulon zu beschützen steckte seinen Kopf und sein Herz auf Spieße und trug die drei Siegeszeichen des Tages in einer Wolfsprozession durch die Straßen.

Erst bei dunkler Nacht kamen die Männer und Weiber zu den brotlosen weinenden Kindern zurück. Nun wurden die ärmlichen Bäckerläden belagert, und sie warteten geduldig, bis die Reihe des Brotkaufens an sie kam. Während sie mit schwachem und leerem Magen harrten, vertrieben sie sich die Zeit damit, daß sie einander umarmten und die Triumphe des Tages in ihrem Geplauder nochmals genossen. Allmählich wurden die Reihen des zerlumpten Volkes kleiner. Ärmliche Lichter begännen in den hohen Fenstern sich zu zeigen, und in den Straßen wurden dürftige Feuer angemacht, an denen die Nachbarn gemeinschaftlich das Nachtessen kochten, das sie in den Häusern verzehrten.

Ein elendes ungenügendes Nachtessen, bei dem von Fleisch oder von einer Soße für ihr grobes Brot keine Rede war. Doch goß geselliges Beisammensein einigen Nährstoff in steinharte Speisen und wußte denselben einige Funken Heiterkeit zu entlocken. Väter und Mütter, die unter den Schlimmsten des Tages gewesen waren, spielten sanft mit ihren abgezehrten Kindern, und Liebende liebten und hofften trotz einer Welt wie die vor ihnen und um sie her.

Es war fast Morgen, als Defarges Weinschenke ihre letzten Kunden entließ, und Monsieur Defarge sagte, als er die Tür schloß, in heiserem Ton zu Madame:

»Endlich ist es gekommen, meine Liebe.« »Nun ja«, entgegnete Madame. »Nahezu.«

Saint Antoine schlief, die Defarge schliefen, und sogar die Rache schlief mit ihrem verhungerten Krämer, und die Trommel hatte Ruhe. Die Stimme der Trommel war die einzige in Saint Antoine, die durch Blut und Schrecken nicht verändert worden war. Die Rache als Hüterin der Trommel konnte sie wecken, und sie klang dann wieder wie zu der Zeit, ehe die Bastille fiel oder der alte Foulon ergriffen wurde; nicht so war es mit den heiseren Tönen der Männer und Weiber im Schoß von Saint Antoine.

Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten.


Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten.

Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes menschliche Wesen seiner Eigenart nach für andere zu einem tiefen Geheimnis wird. Wenn ich nachts in einer großen Stadt anlange, so erfüllt es mich mit hehren Gedanken, daß jedes von jenen dunkel aufeinander gehäuften Häusern sein eigenes Geheimnis einschließt und jedes klopfende Herz in den Hunderttausenden von menschlichen Wesen irgendeine heimliche, ihm besonders teure Vorstellung birgt. Selbst das Grausen, das uns der Tod einflößt, hat in diesem Umstand seinen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teuer gewordenen Buche blättern und darf nicht hoffen, es mit der Zeit zu Ende zu lesen. Ich soll nicht mehr schauen in die Tiefen des unergründlichen Wassers, in dem ich, je nachdem es durch augenblickliche Lichter erhellt wurde, manchen weit unter der Oberfläche befindlichen Schatz erschaute. Das Schicksal wollte es, daß das Buch sich schloß und für immer mit einer unlöslichen Klammer versehen ward, nachdem ich kaum eine Seite gelesen hatte. Es war bestimmt, daß das Wasser den starren Banden ewigen Eises verfiel, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich in ahnungsloser Unwissenheit am Ufer stand. Mein Freund ist tot, mein Nachbar ist tot, meine Liebe, der Schatz meiner Seele, ist tot. Wir haben da die unerbittliche Fortdauer eines Geheimnisses, das stets in jeder Persönlichkeit war und das ich bis zum Ende meines Daseins in die meinige übertragen habe. Und gibt es wohl auf irgendeinem Friedhof dieser Stadt, den ich durchwandle, einen Schläfer, der unerforschlicher wäre, als es mir der innern Persönlichkeit nach ihre rührigen Bewohner sind oder ich es ihnen bin?

Was dieses natürliche, unveräußerliche Erbe betrifft, so besaß es der Bote auf seinem Roß ebensogut wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann von London. Nicht anders erging es den drei im engen Raum einer holperigen alten Postkutsche eingeschlossenen Passagieren, die sich wechselseitig so vollkommene Geheimnisse waren, als führen sie stundenweit voneinander jeder in einer eigenen sechsspännigen Equipage.

Der Bote ritt in leichtem Trab wieder zurück und hielt dabei fleißig vor den Wirtshäusern, um sich einen Trunk zu holen, zeigte aber dabei eine entschiedene Neigung, nicht viel Worte zu verschwenden und den Hutrand über den Augen aufgestülpt zu tragen. Freilich hatte er Augen, denen eine solche Dekoration recht gut stand: denn sie waren dunkel auf der Oberfläche, ohne Tiefe in Form oder Farbe und viel zu nah beieinander, als fürchte jedes, über etwas ertappt zu werden, wenn sie nicht treu zusammenhielten. Sie hatten einen finstern Ausdruck, und der alte Hut saß über ihnen wie ein dreieckiger Spucknapf, während unter ihnen die Flügel der dicken, Kinn und Hals umhüllenden Halsbinde fast bis zu den Knien niederfielen. Wenn er zu einem Trunk haltmachte, drückte er, solange er mit der Rechten sich den Branntwein in die Kehle goß, mit der Linken seine Hülle nieder, zog sie aber, sobald er sich angefeuchtet hatte, augenblicklich wieder in die Höhe.

»Nein, Jerry, nein«, fuhr der Bote auf seinem Ritt in dem alten Thema fort, »das wäre nichts für dich, Jerry. Du bist ein ehrlicher Handwerksmann, Jerry, und dies paßt nicht in deinen Kram. Zurückgerufen –! Ei der Kuckuck, man sollte meinen, er sei ein Trinker gewesen.«

Der Auftrag verwirrte ihm den Sinn dermaßen, daß er mehrmal den Hut abnehmen mußte, um sich den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er ein steifes schwarzes Haar, das sich überall borstig emporsträubte und fast bis zu seiner stumpfen Nase bergab wuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen; denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Laubfroschspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.

Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen, während sie für sein Roß Umrisse gewannen, die aus dessen Privatbesorgnissen entsprangen. Letztere mußten wohl sehr zahlreich sein: denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.

Wie lange holterte und polterte, rasselte und schulterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Und wem enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die die schimmernden Augen und die unsteten Gedanken an die Hand gaben?

Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das ihrige tat, um ihn vor einem Zusammenstoß mit dem Nachbar oder vor einem Wurf in die Ecke zu bewahren, wenn die Kutsche einen besonders schweren Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitze nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die durch dieselben trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenübersitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel bezahlt, als Tellson trotz seiner ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewöhnt war. Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon – vor ihm auf. Er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.

Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Betäubungsmittel genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Weg, jemanden aus dem Grabe herauszugraben.

Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht. Dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens sich voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern folgten der Reihe nach. Ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Körperformen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:

»Wie lange schon begraben?«

Und jedesmal lautete die Antwort in der gleichen Weise:

»Fast achtzehn Jahre.«

»Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«

»Längst.«

»Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?«

»So höre ich.«

»Ich hoffe, dies hat noch einen Wert für Euch?«

»Ich weiß darauf nichts zu sagen.«

»Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?«

Die Antworten auf diese Frage waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: »Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe.« Ein andermal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und klang: »Nehmt mich zu ihr.« Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: »Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht.«

Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen Schlüssel, oder wohl gar mit den Händen – um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so verfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch den Regen und Nebel, die seine Wangen feuchteten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.

Doch selbst wenn seine Augen sich für den Nebel und Regen, für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die stoßweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurücksagen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstige Gesicht hervor, das er abermals anredete:

»Wie lange schon begraben?«

»Fast achtzehn Jahr.«

»Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch.«

»Weiß nicht.«

Und er grub, grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder aufziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.

»Wie lange schon begraben?«

»Fast achtzehn Jahre.«

»Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«

»Längst.«

Diese Worte klangen noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.

Er ließ das Fenster nieder und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits desselben sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.

»Achtzehn Jahre!« sagte der Passagier, zu der Sonne aufblickend. »Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben zu sein!«

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Feuer hoch!


Dreiundzwanzigstes Kapitel. Feuer hoch!

Es war anders geworden in dem Dorf, wo der Brunnen plätscherte und wo der Wegknecht täglich ausging, um aus den Steinen der Landstraße die Bissen Brot zu klopfen, die ihm als Flicken dienen mußten, um seine arme unwissende Seele und seinen armen ausgemergelten Leib zusammenzuhalten. Das Gefängnis auf dem Felsen war nicht mehr so dominierend wie früher: es hatte zwar noch eine Wache von Soldaten, aber nur eine kleine. Auch waren Offiziere vorhanden, um die Soldaten zu bewachen: aber keiner von ihnen wußte, was seine Leute tun würden als etwa dies, daß es wahrscheinlich das Gegenteil von ihren Befehlen sein dürfte.

Weit und breit hin lag ein zugrunde gerichtetes Land, auf dem man nichts sah als Verödung. Jedes grüne Laub, jeder Gras- oder Getreidehalm nahm sich so dürftig und mager aus wie die unglückliche Bevölkerung. Alles war gebeugt, niedergeschlagen, gedrückt und gebrochen. Wohnungen, Zäune, Haustiere, Männer, Weiber, Kinder und der Boden, der sie trug alles verkommen.

Monseigneur (oft als Individuum eine höchst würdige Person) war ein Nationalsegen, gab den Dingen einen chevaleresken Ton, ging mit dem Beispiel eines üppigen, prunkvollen Lebens voran und zeichnete sich überhaupt durch Handlungen in diesem Sinne aus. Dennoch hatte Monseigneur als Klasse, wie’s nun einmal kommen sollte, die Sachen so weit gebracht. Seltsam, daß die ausdrücklich für Monseigneur bestimmte Schöpfung so bald ausgedrückt und dürr war. Es mußte wahrhaftig eine große Kurzsichtigkeit den ewigen Anordnungen zugrunde liegen. Aber es war einmal so, und nachdem den Steinen der letzte Blutstropfen entlockt und die letzte Schraube der Maschine so ausgenützt war, daß sie in ewigem Umgang sich drehte, ohne etwas fassen zu können, begann Monseigneur fortzulaufen vor einer so gemeinen und unerklärlichen Erscheinung.

Aber das war nicht die Veränderung im Dorfe und in so vielen Dörfern, die wir meinen. Menschenalter um Menschenalter hatte es zwar Monseigneur gequetscht und ausgerungen und selten anders mit der Ehre seiner Gegenwart begnadigt als wegen des Jagdvergnügens, indem er bald Menschen, bald Tiere jagte, die zu hegen Monseigneur erbauliche Räume von barbarischer und unfruchtbarer Wildnis anlegte. Aber dies war’s nicht. Der Wechsel bestand nicht so sehr in dem Verschwinden der hohen Kaste, der gemeißelten und anderweitig beglückten und beglückenden Züge von Monseigneur, sondern vielmehr in dem Auftreten fremder, einer niedrigen Kaste angehörender Gesichter.

Denn als um jene Zeit der Wegknecht einsam im Straßenstaub arbeitete, ohne sich mit der Betrachtung zu bemühen, daß auch er selbst Staub war und wieder Staub werden würde; denn er mußte meist viel zu sehr daran denken, wie wenig er zu essen hatte und wieviel mehr er essen könnte, wenn er es hätte ich sage, als er um jene Zeit die Augen von seiner einsamen Arbeit aufschlug und sich die Aussicht betrachtete, sah er zu Fuß eine rauhe Gestalt einherkommen, dergleichen sonst eine Seltenheit, neuerdings aber eine häufige Erscheinung war in jener Gegend. Beim Näherkommen konnte der Wegknecht in dem Fremden einen langen zottelhaarigen Mann von fast barbarischem Aussehen unterscheiden, dessen rauhe, schwarze, von dem Kot und Staub vieler Straßen borkig und der sumpfigen Nässe vieler Moorgründe feucht gewordene Holzschuhe mit den sie besprenkelnden Dornen, Blättern und Moosen von vielen Waldwegen selbst dem Wegknecht als sehr plump erschienen.

Solch ein Mann kam um Mittag im Juli wie ein Gespenst auf ihn zu, während er auf einem seiner Steinhaufen saß und unter einer Erderhöhung sich möglichst gegen den niederschauernden Hagel zu schützen suchte.

Der Mann betrachtete ihn und sah dann nach dem Dorf im Tal, nach der Mühle und nach dem Gefängnis auf dem Felsen. Nachdem er über diese Gegenstände seine geistige Dunkelheit aufgeklärt hatte, sagte er in einem mit knapper Not verständlichen Dialekt:

»Wie geht es, Jacques?«

»Alles recht, Jacques.«

»Die Hand darauf!«

Sie leichten sich die Hände, und der Mann setzte sich neben den Wegknecht auf den Steinhaufen.

»Nichts zum Mittagessen?«

»Nein, nur etwas für die Nacht«, versetzte der Wegknecht mit hungrigem Gesicht. »Das ist jetzt Mode«, brummte der Mann. »Ich treffe nirgends auf ein Mittagessen.«

Er nahm eine schwarzgerauchte Pfeife heraus, stopfte sie, zündete sie mit Stahl und Stein an und sog daran, bis sie in heller Glut stand. Dann hielt er sie plötzlich in ewiger Entfernung von sich und ließ etwas, das er zwischen Finger und Daumen hielt, hineinfallen, so daß es hell aufloderte und ein qualmender Rauch in die Höhe stieg.

»Die Hand darauf!«

Diesmal war es an dem Wegknecht, nach Beobachtung der gedachten Operationen das Losungswort zu sagen. Sie reichten sich wechselseitig wieder die Hand.

»Heute nacht?« fragte der Wegknecht.

»Heute nacht«, antwortete der Mann und steckte seine Pfeife in den Mund.

»Wo?«

»Hier.«

Die beiden blieben, während der Hagel wie ein zwergenhafter Bajonettangriff gegen sie losschlug, auf dem Steinhaufen sitzen und sahen einander an, bis der Himmel sich über dem Dorfe aufzuhellen begann.

»Zeig‘ mir!« sagte dann der Fremde, nach der Höhe des Hügels hinansteigend.

»Sieh!« entgegnete der Wegknecht mit ausgestrecktem Finger, »Du gehst hier hinab, geradewegs über die Straße hinüber und an dem Brunnen vorbei «

»Zum Henker mit alledem«, unterbrach ihn der andere und ließ seine Augen über die Landschaft hinrollen. »Ich brauche deine Straßen und Brunnen nicht. Nun?«

»Ja. Ungefähr zwei Stunden jenseits des Berggipfels über dem Dorf.«

»Gut. Wann hörst du auf zu arbeiten?«

»Um Sonnenuntergang.«

»Du kannst mich wecken, ehe du aufbrichst. Ich bin zwei Nächte durch gewandert, ohne aufzuhalten. Laß mich meine Pfeife ausrauchen, dann werde ich schlafen wie ein Kind, Willst du mich wecken?«

»Ja.«

Der Wanderer rauchte seine Pfeife zu Ende, steckte sie dann in seine Brusttasche, streifte seine Holzschuhe ab und legte sich rücklings auf den Steinhaufen. Der Schlaf übermannte ihn schnell.

Während der Wegknecht in seiner staubigen Arbeit fortfuhr und die sich verziehenden Hagelwolken helle Streifen am Himmel erscheinen ließen, denen die Schlaglichter der Landschaft entsprachen, schien der kleine Mann, der jetzt eine rote Mütze trug statt einer blauen, ganz bezaubert zu sein von der Gestalt auf dem Steinhaufen. Seine Augen wandten sich ihm so oft zu, daß er sein Werkzeug nur mechanisch und, wie man sagen könnte, ziemlich erfolglos in Bewegung setzte. Das braune Gesicht, das zottelige Haar, der lange rauhe Bart, die grobe, rote Wollmütze, der gemischte Anzug von Hauslinnen und haarigen Tierhäuten, der kräftige, aber von Nahrungsmangel hagere Körper und der finstere, verzweifelte Schluß der Lippen im Schlafe flößten dem Wegknecht Furcht ein. Die Füße des weithergereisten Fremden waren wund, seine Knöchel aufgerieben und blutend: denn seine großen mit Laub und Gras ausgestopften Schuhe hatten ihm zu schaffen gemacht während der Wanderung von so vielen langen Stunden, und die Löcher in seinen Kleidern entsprachen den Schürfungen seiner Haut. Der Wegknecht bückte sich neben ihm nieder, um zu sehen, ob er in seiner Brust oder sonstwo nicht eine Waffe verborgen habe, aber vergeblich. Denn der Mann hatte seine Arme über der Brust ebenso fest verschlungen, wie seine Lippen zusammengepreßt waren. Feste Städte mit ihren Staketen, Wachhäusern, Gräben, Toren und Zugbrücken schienen dem Wegknecht nichts zu sein dieser Gestalt gegenüber. Und wenn er von ihr seine Augen zu dem Horizont erhob und umherschaute, so vergegenwärtigte ihm seine spärliche Phantasie ähnliche Gestalten, die unaufhaltsam über ganz Frankreich nach Mittelpunkten hinstrebten.

Der Mann schlief, gleichgültig gegen Hagelschauer und blauen Himmel, gegen Sonnenschein in seinem Gesicht und Schatten, gegen das Rasseln der Eiskörner auf seinem Leib und die Diamanten, in die die Sonne sie verwandelte, bis es Abend war und der westliche Himmel sich in Glutfarben tauchte. Jetzt raffte der Wegknecht sein Gerät zusammen, um sich nach dem Dorfe zu begeben, und weckte ihn.

»Gut«, sagte der Schläfer, sich auf seinen Ellbogen stützend. »Zwei Stunden jenseits des Berggipfels?«

»Ungefähr.«

»Ungefähr. Gut.«

Der Staub wehte, je nachdem der Wind ging, vor dem Wegknecht her, als er nach Hause zurückkehrte. Er hatte bald den Brunnen erreicht, drückte sich zwischen den mageren Kühen hindurch, die man zur Tränke hergeführt, und schien, während er dem ganzen Dorf zuflüsterte, auch sie mit zu meinen. Nachdem das Dorf sein dürftiges Nachtessen eingenommen hatte, kroch es nicht wie sonst zu Bette, sondern kam wieder zu den Türen heraus und blieb auf der Straße. Das Flüstern war merkwürdig ansteckend, und als das Dorf sich in der Dunkelheit um den Brunnen sammelte, machte sich eine weitere wunderliche Ansteckung bemerklich, sofern es erwartungsvoll nur in einer einzigen Dichtung nach dem Himmel aufschaute. Monsieur Gabelle, die bedeutendste Person im Orte, wurde unruhig; er stieg nach dem Giebel seines Hauses hinauf und schaute gleichfalls in diese Richtung. Dann blickte er hinter seinen Schornsteinen hervor nach den immer undeutlicher werdenden Gesichtern um den Brunnen und ließ dem Küster, der die Kirchenschlüssel bewahrte, sagen, daß er vielleicht die Sturmglocke zu läuten haben werde.

Die Nacht wurde immer dunkler. Die Bäume um das Schloß her, die in ihrem einsamen Prunk beiseite standen, bewegten sich in dem Winde, als drohten sie der schwarzen, schweren Gebäudemasse im Finstern. Der Regen schlug wild gegen die zwei Fluchten der Treppenterrasse und klopfte an das große Tor wie ein Eilbote, der die drinnen wecken will; Windstöße sausten durch die Halle, heulten unter den alten Speeren und Messern, jagten wehklagend die Stiegen hinan und rüttelten die Vorhänge des Bettes, wo der letzte Marquis geschlafen hatte. Von Ost, West, Nord und Süden her zertraten durch die Wälder die schweren Schuhe von vier ungekämmten Gestalten das hohe Gras und die dürren Zweige, bis sie sich vorsichtig in dem Hofe zusammengefunden. Dann sah man vier Lichter sich entzünden und nach verschiedenen Richtungen fortbewegen. Es war alles wieder dunkel.

Aber nicht auf lange. Plötzlich begann das Schloß sich von eigenem Licht seltsam zu erhellen, als ob es hinausleuchten wolle in die Landschaft. Dann spielte ein flackernder Streifen hinter der Vorderseite des Gebäudes, suchte sich durchscheinende Stellen auf und zeigte, wo sich die Geländer, die Bogen und die Fenster befanden. Er wurde höher, breiter und glänzender. Bald schlugen zu einem Dutzend der großen Fenster Flammen heraus, und die geweckten steinernen Gesichter glotzten großäugig durch da« Feuer.

Im Hause entstand einiger Lärm von den wenigen Leuten im Innern. Ein Pferd wurde gesattelt, und ein Reiter sprengte von hinnen. Das war ein Spornen und Klatschen durch die Dunkelheit, und der Zügel wurde erst angezogen auf dem Platze vor dem Brunnen, als das Roß schäumend vor Monsieur Gabelles Tür stand. »Zu Hilfe, Gabelle! Zu Hilf‘ ihr alle!« Die Sturmglocke läutete ungestüm. Aber dies war die einzige Hilfe, wenn man sie so nennen konnte. Der Wegknecht und zweihundertundfünfzig seiner besonderen Freunde standen mit verschlungenen Armen um den Brunnen her und schauten nach der Feuersäule am Himmel auf. »Sie muß vierzig Fuß hoch sein«, sagten sie grimmig; aber niemand rührte sich von der Stelle.

Der Reiter vom Schloß klapperte mit dem schäumenden Pferd durch das Dorf und galoppierte die Felsensteige zu dem Gefängnis hinan. Vor dem Tor sah eine Gruppe von Offizieren und in einiger Entfernung von ihnen ein Soldatenhaufen nach dem Feuer hin. »Hilfe, ihr Herrn Offiziere! Das Schloß brennt: wertvolle Gegenstände können noch den Flammen entrissen werden, wenn man etwas dagegen tut. Hilfe! Hilfe!« Die Offiziere blickten nach den Soldaten hin, die dem Feuer zuschauten, gaben aber keinen Befehl, sondern bissen sich auf die Lippen und antworteten achselzuckend: »Man muß es brennen lassen.«

Als der Reiter wieder den Berg hinunter und die Straße entlang galoppierte, war das Dorf beleuchtet. Der Wegknecht und die zweihundertundfünfzig besonderen Freunde waren wie ein Mann von dem Gedanken einer Illumination inspiriert, in die Häuser gestürzt und hatten hinter jede trübe Glasscheibe ein Licht gestellt. Die Armut an allem gab Anlaß, daß man in etwas trotziger Weise Lichter bei Monsieur Gabelle borgte; denn als dieser Würdenträger zögerte und keine Lust zeigte, warf der Wegknecht, sonst so unterwürfig gegen diese Obrigkeit, die Bemerkung hin, daß Kutschen prächtige Freudenfeuer geben und Postpferde, wenn man sie brate, gut zu essen seien.

Das Schloß blieb den Flammen preisgegeben und durfte fortbrennen. Die tobende Lohe, angefacht von einem glühend heißen, der Hölle selbst entströmenden Wind, schien das Gebäude wegzublasen. In dem Steigen und Fallen der Flamme nahmen sich die Steingesichter wie gequälte Teufel aus. Als eine große Stein- und Holzmasse zusammenfiel, wurde das Gesicht mit den zwei Grübchen in der Nase verdunkelt; bald aber kämpfte es sich wieder aus dem Rauch empor, als sei es das des grausamen Marquis, der auf dem Scheiterhaufen mit dem Feuer kämpfte.

Das Schloß brennend; die nächsten Bäume, die vom Feuer gefaßt wurden, welk und versengt; fernere Bäume, von den vier wilden Gestalten angezündet, die glostenden Trümmer mit einem neuen Wald von Rauch umgebend. Geschmolzenes Blei und Eisen kochte in dem Marmorbecken der Fontäne; das Wasser war versiegt; die Türme mit den Löschhorndächern verschwanden wie Eis vor der Hitze und träufelten in vier zackige Glutbrunnen nieder. Große Spalten liefen sich verzweigend und gleichsam Kristallkörper bildend durch das massive Gemäuer: Vögel schwirrten betäubt umher und fielen in den Schornstein; vier wilde Gestalten schritten auf den von Nacht umhüllten Straßen nach Ost, West, Nord und Süden, von dem durch sie geschaffenen Leuchtturm geleitet, ihrem nächsten Bestimmungsort zu. Das beleuchtete Dorf hatte sich unter Beseitigung des ordnungsmäßigen Läuters der Sturmglocke bemächtigt und ließ sie ein Freudengeläut anstimmen.

Nicht nur dies, sondern das von Hunger, Feuer und Glockengeläute schwindlige Dorf erinnerte sich auch, daß Monsieur Gabelle bei Einsammlung der Renten, Steuern und so weiter beteiligt gewesen war in der letzten Zeit waren die Steuern allerdings nur spärlich und die Renten gar nicht geflossen und wollte jetzt ein Wörtchen mit ihm sprechen. Sein Haus wurde umringt und er zu einer persönlichen Konferenz aufgeboten. Mr. Gabelle aber verriegelte seine Tür und zog sich zurück, um mit sich selbst zu Rate zu gehen. Infolge dieser Beratung stieg er wieder nach dem Dachgiebel hinauf hinter seine Schornsteine, diesmal entschlossen, wenn seine Tür eingeschlagen würde (er war ein kleiner Südländer von rachsüchtigem Temperament), sich köpflings über das Dach hinunterzustürzen und so unten einen oder zwei Mann zu zermalmen.

Wahrscheinlich wurde dem Monsieur Gabelte die Nacht recht lang da droben, wo ihm das ferne Schloß als brennende Kerze und das Schlagen an seine Tür samt dem Freudengeläute als Musik diente; des Umstandes gar nicht zu gedenken, daß vor dem Posthaustor das Seil einer unheilverkündenden Laterne, die das Dorf zu seinen Gunsten herunterzunehmen große Lust verriet, über die Straße hinüberlief. Eine peinliche Spannung, eine ganze Nacht an dem Rande des schwarzen Ozeans zubringen zu müssen, der bereit war, Monsieur Gabelle aufzunehmen, wenn er sein Vorhaben zur Ausführung brachte. Doch endlich erschien das freundliche Zwielicht: die Binsenlichter des Dorfes troffen ab, das Volk zerstreute sich, und Monsieur Gabelle kam diesmal mit dem Leben davon und wieder herunter.

Auf vierzig Stunden hin und in dem Licht von anderen Feuern gab es Beamte, die in jener Nacht und in mancher anderen lange nicht so glücklich waren, sondern bei aufgehender Sonne gefunden wurden, wie sie über den einst so friedlichen Straßen hingen, in denen sie geboren und erzogen worden waren. Auch Dorf- und Stadtbewohner gab es, denen es nicht so gut ging wie dem Wegknecht und seinen Kameraden: denn Beamte und Soldaten machten gelegentlich gleichfalls erfolgreiche Angriffe und knüpften ihrerseits auf. Aber wie dem sein mochte, die wilden Gestalten wandten sich stetig nach Ost, West, Nord und Süd: und wo einer ging, brach Feuer aus. Kein Beamter, auch der beste Mathematiker nicht, wäre imstande gewesen, die Höhe des Galgens zu berechnen, der solches Unwesen zunichte machen und dem Brande hätte steuern können.

Vierundzwanzigstes Kapitel. Hin nach dem Magnetfelsen.


Vierundzwanzigstes Kapitel. Hin nach dem Magnetfelsen.

Unter einem solchen Wogen von Aufruhr- und Brandwellen – die feste Erde schulterte unter dem Anschlagen eines zürnenden Ozeans, der jetzt zum Schrecken und Staunen der Zuschauer am Lande keine Ebbe mehr, sondern nur noch eine immer höher und höher steigende Flut zeigte waren drei Jahre des Sturmes entschwunden. Drei weitere Geburtstage der kleinen Lucie hatte der goldene Faden in dem friedlichen Gewebe ihres Heimatlebens angemerkt.

Manchen Tag und manche Nacht hatten die Bewohner der stillen Ecke mit zagem Herzen auf die Widerhalle der sich drängenden Füße gelauscht. Denn die Tritte erschienen ihrem Geist wie die von Leuten, die, unter der roten Fahne tumultuierend und das Vaterland in Gefahr erklärend, durch einen lang anhaltenden Zauber in wilde Bestien umgewandelt worden waren.

Monseigneur als Klasse hatte sich der Vorstellung, daß er nicht gehörig gewürdigt werde, entschlagen und einsehen gelernt, man bedürfe in Frankreich seiner so wenig, daß er selbst unter beträchtlicher Gefahr aus dem Lande und dem Leben darin fortzukommen suchte. Man erinnert sich dabei an den Bauern in der Fabel, der sich unsägliche Mühe gab, den Teufel heraufzubeschwören, durch seinen Anblick aber so erschreckt wurde, daß er keine Frage an ihn richten konnte, sondern augenblicklich Reißaus nahm. So hatte Monseigneur dreist viele, viele Jahre das Vaterunser rückwärts gebetet und hundert andere mächtige Zaubermittel angewendet, um den bösen Geist zum Erscheinen zu zwingen, denselben aber kaum erschaut, als er schon voll edlen Entsetzens Fersengeld gab.

Die gleißende Welle des Hofes war fort, da sie sonst die Zielscheibe eines Orkans von nationalen Kugeln geworden wäre. Ihr Stolz, ihre sardanapalische Üppigkeit und ihre Maulwurfsblindheit hatten lange die Gemüter empört: dies geschah jetzt nicht mehr. Der ganze von seinem innersten exklusiven Ring bis zu seinem äußersten Saum in Ränken, Bestechlichkeit und Heuchelei verfaulte Hof war fort und auch die Königswürde dahin; man hatte sie den neuesten Nachrichten zufolge in ihrem Palaste belagert und suspendiert.

Der August des Jahres Tausendsiebenhundertzweiundneunzig war gekommen und inzwischen Monseigneur weit und breit hin zerstreut.

In London galt natürlich Tellsons Bank als Hauptquartier und Hauptsammelplatz für Monseigneur. Man meinte, Geister spuken gern an Plätzen, wo ihre Leiber sich viel umgetrieben, und Monseigneur ohne eine Guinee spukte an dem Ort, wo sonst seine Guineen lagen. Außerdem konnte man hier am frühesten auf zuverlässige Nachrichten aus Frankreich zählen. Ferner: Tellson war ein prächtiges Haus und ungemein liberal gegen heruntergekommene alte Kunden. Dann konnten bedrängte Standesgenossen hier stets über jene Adligen Auskunft erhalten, die beizeiten den Sturm kommen sahen und in der Vorahnung von Raub und Konfiskationen ihre Guthaben an Tellsons Bank adressiert hatten. Dem ist noch beizufügen, daß als eine Sache, die sich fast von selbst verstand, jeder neue Ankömmling aus Frankreich sich und seine Nachrichten bei Tellsons meldete. Aus diesen verschiedenen Gründen war Tellson in Beziehung auf die französischen Angelegenheiten eine Art hohe Börse und dem Volk in dieser Eigenschaft so wohl bekannt, daß man bisweilen, um der zahlreichen Erkundigungen willen, die neuesten Berichte gedrängt niederschrieb und zum Besten aller, die durch Temple Bar kamen, in den Bankfenstern aufsteckte.

An einem dunstigen nebligen Nachmittag saß Mr. Lorry an seinem Pult, und Charles Darnay, der gegen dasselbe anlehnte, plauderte leise mit ihm. Der Pönitentialraum, der vordem den Besprechungen mit dem Hause hatte dienen müssen, war jetzt die Neuigkeitenbörse und zum Überströmen angefüllt, da in einer halben Stunde oder so geschlossen werden sollte.

»Aber obgleich Ihr noch jung seid wie nur einer«, sagte Charles Darnay mit einigem Stocken, »so muß ich Euch doch darauf aufmerksam machen «

»Ich verstehe. Daß ich zu alt sei?« versetzte Mr. Lorry.

»Schlechtes Wetter, eine weite Reise, unsichere Reisegelegenheiten, ein gesetzloses Land und eine Stadt, die vielleicht nicht einmal Euch ungefährdet läßt.«

»Mein lieber Charles«, sagte Mr. Lorry mit heiterer Zuversichtlichkeit, »Ihr berührt da einige von den Gründen, die für mein Gehen, nicht für mein Bleiben sprechen. Ich reise sicher genug; niemand wird sich um einen alten Burschen in den Achtzigern kümmern, wo es so viele Leute gibt, mit denen es sich eher der Mühe des Anbindens lohnt. Und wenn man es nicht mit einer gesetzlosen Stadt zu tun hätte, so brauchte man nicht jemanden aus unserem hiesigen Hause, der von alters her die Stadt und den Geschäftsgang kennt und in Tellsons Vertrauen steht, nach unserem dortigen zu senden. Was dann die Länge und Unsicherheit der Reise und das rauhe Wetter betrifft, wer soll sich denn solchen Unbequemlichkeiten unterziehen, wenn nicht ich um Tellsons willen es tue, denen ich so viele Jahre gedient habe?«

»Ich wollte, ich könnte selbst auch gehen«, sagte Charles Darnay etwas unruhig und wie in lauten Gedanken.

»Wirklich? Ihr seid mir der Rechte, der da Einwendungen erheben und Rat erteilen kann!« rief Mr. Lorry. »Möchtet selbst hingehen? Und Ihr, ein geborener Franzose? Ihr seid ein weiser Ratgeber.«

»Mein lieber Mr. Lorry, eben weil ich ein geborener Franzose bin, ist mir dieser Gedanke, den ich übrigens hier nicht laut werden zu lassen beabsichtigte, schon oft in den Sinn gekommen. Wenn man fühlt für dieses unglückliche Volk und ihm etwas gelassen hat (er sprach wieder in der früheren gedankenvollen Weise), so kann man sich der Vorstellung nicht erwehren, daß man vielleicht Gehör finden und so viel Macht gewinnen dürfte, es zu überreden, daß es sich mehr mäßige. Erst gestern abend, nachdem Ihr uns verlassen hattet, sprach ich mit Lucie «

»So, Ihr spracht mit ihr?« wiederholte Mr. Lorry. »Ja. Ich wundere mich, daß Ihr Euch nicht schämt, Lucies Namen zu nennen! Möchte in einer solchen Zeit nach Frankreich gehen!«

»Aber ich gehe ja nicht«, sagte Charles Darnay lächelnd. »Es ist sachgemäßer, daß Ihr sagt, Ihr wollet es tun.«

»Allerdings. Die Sache verhält sich nämlich so, mein lieber Charles« Mr. Lorry blickte nach dem fernen Hause hin und dämpfte seine Stimme: »Ihr habt gar keine Vorstellung, wie schwer uns gegenwärtig das Geschäft gemacht wird, und wie sehr dort drüben unsere Bücher und Papiere gefährdet sind. Der Himmel weiß, welche unglückseligen Folgen für viele daraus erwüchsen, wenn einige von unseren Dokumenten weggenommen oder zerstört würden; und Ihr begreift wohl, daß dies jeden Tag geschehen kann: denn wer vermag zu sagen, ob nicht Paris heute in Brand gesteckt oder morgen geplündert wird? Es muß daher so schnell wie möglich eine sorgfältige Auswahl getroffen werden, und niemand wird dies so hurtig besorgen und die Papiere vergraben oder sonst in Sicherheit bringen können als ich. Soll ich Bedenklichkeiten erheben, wenn Tellson dies weiß und es mir sagt Tellson, dessen Brot ich seit sechzig Jahren gegessen habe , weil meine Gelenke ein bißchen steif geworden sind? Ha, gegen ein halbes Dutzend von den alten Burschen hier bin ich noch ein Knabe, Sir.«

»Wie bewundere ich die Rüstigkeit Eures jugendlichen Geistes, Mr. Lorry.«

»Pst, Unsinn, Sir! Und, mein lieber Charles«, sagte Mr. Lorry, wieder nach dem Hause hinsehend, »Ihr müßt bedenken, daß es an die Unmöglichkeit grenzt, Dinge, welcher Art sie auch sein mögen, jetzt aus Paris fortzubringen. Im strengsten Vertrauen (denn es ist nicht geschäftsmäßig, es sogar Euch zuzuraunen) will ich Euch mitteilen, daß täglich Papiere und Geld durch die seltsamsten Vermittler, die Ihr Euch nur denken könnt, zu uns hergebracht werden, durch Leute, deren Leben beim Überschreiten der Barrieren an einem Faden hing. Zu anderen Zeiten gingen unsere Pakete so ungehindert ab und zu wie in dem geschäftsmäßigen alten England: aber jetzt wird alles angehalten.«

»Und Ihr wollt wirklich heute abend aufbrechen?«

»Ja, heute abend. Die Sache ist zu dringlich geworden, als daß eine längere Zögerung zulässig wäre.«

»Ihr nehmt niemand mit Euch?«

»Man hat mir alle Arten von Leuten vorgeschlagen: aber ich möchte keinen davon darum angehen, sondern gedenke nur den Jerry mitzunehmen. Er ist schon geraume Zeit an Sonntagabenden meine Leibwache gewesen, und ich bin an ihn gewöhnt. Niemand wird in Jerry etwas anderes vermuten als einen englischen Bullenbeißer, der für nichts einen Sinn hat als für die Waden anderer Leute, wenn sie seinem Herrn etwas anhaben wollten.«

»Ich muß wiederholen, daß mich Eure Rüstigkeit und Euer Jugendmut in Erstaunen setzen.«

»Und ich sage wieder: Unsinn, Unsinn! Wenn ich diesen kleinen Auftrag erfüllt habe, nehme ich vielleicht Tellsons Vorschlag an, mich in den Ruhestand zu begeben und meiner Muße zu leben. Dann ist’s Zeit genug, ans Altwerden zu denken.«

Dieses Zwiegespräch hatte an Mr. Lorrys gewöhnlichem Pulte stattgefunden, während Monseigneur sich einen oder zwei Schritte davon umhertrieb und großsprecherisch erklärte, wie er in Bälde an dem schurkischen Volk Rache nehmen wolle. Es lag zu sehr in der Art von Monseigneur in seiner Verbannung und Not, auch zu sehr in der Art der eingeborenen britischen Orthodoxie, jene schreckliche Revolution im Lichte der einzigen Ernte unter dem Himmel zu beurteilen, der keine entsprechende Saat vorausging als ob nie durch Tat oder Unterlassung dafür vorgearbeitet worden sei und die Beobachter der unglücklichen Millionen in Frankreich, die wußten, wie kläglich die Hilfsquellen, die letzteren zustatten kommen sollten, mißbraucht und vergeudet worden waren, nicht schon seit Jahren vorausgesehen und in dürren Worten prophezeit hätten, was notwendig kommen mußte. Solches windige Wesen in Verbindung mit den überspannten Anschlägen Monseigneurs, den Zustand von Dingen wiederherzustellen, die sich völlig überlebt hatten, konnte ein Mann von gesundem Urteil, der von dem wahren Sachverhalte unterrichtet war, kaum mit anhören und dazu schweigen. Auch schwirrten diese Prahlereien Charles Darnay so verwirrend um die Ohren und trieben ihm das Blut dermaßen zu Kopfe, daß die geheime Unruhe seines Innern noch erhöht und nachhaltiger gemacht wurde. Unter den Schwätzern befand sich auch Stryver von dem Kingsbench, der auf dem Wege der Beförderung zum Staatsdienst schon weit vorangeschritten war. Er ließ sich besonders laut über den Gegenstand vernehmen, indem er Monseigneur anspornte in seinen Plänen, das Volk in die Luft zu sprengen, vom Angesicht der Erde zu vertilgen und sich ohne dieses Pack zu behelfen, und erteilte dabei Ratschläge, ziemlich demjenigen ähnlich, der zu Ausrottung der Sperlinge empfiehlt, ihnen Salz auf die Schwänze zu streuen. Seine Ergießungen erschienen Darnay besonders widerlich; und der junge Mann war unschlüssig mit sich, ob er, um nicht weiter zu hören, fortgehen oder bleiben und ein Wörtchen darein reden sollte, als ein Umstand eintrat, der bei seiner Wahl den Ausschlag gab.

Das Haus näherte sich Mr. Lorry und schob ihm einen beschmutzten, unerbrochenen Brief zu mit der Frage, ob er von der Person, die in der Adresse bezeichnet war, noch keine Spuren aufgefunden habe. Dies geschah in einer Weise, daß Darnay die Überschrift lesen konnte, und seine Aufmerksamkeit wurde um so lebhafter gefesselt, als die Adresse auf seinen eigenen wahren Namen lautete. Sie war englisch geschrieben und als »sehr dringlich« bezeichnet, »An den weiland Marquis St. Evrémonde aus Frankreich, zur Besorgung empfohlen den Herren Tellson und Kompanie, Bankiers in London, England.«

Am Hochzeitmorgen hatte Doktor Manette an Charles Darnay das einzige dringende und ausdrückliche Ersuchen gestellt, daß das Geheimnis seines wahren Namens streng bewahrt bleiben solle, wenn nicht er, der Doktor, seinen Schwiegersohn dieser Verpflichtung enthebe. Niemand wußte daher, wie er eigentlich hieß: seine eigene Gattin hatte keine Ahnung davon, und noch viel weniger konnte Mr. Lorry es wissen.

»Nein«, erwiderte Mr. Lorry auf die Frage des Hauses: »ich habe, glaub‘ ich, bei allen, die hier sind, Umfrage gehalten: aber niemand konnte mir sagen, wo dieser Gentleman zu finden ist.«

Da der Minutenzeiger der Uhr sich dem Augenblick des Bankschlusses näherte, so strömten jetzt allgemein die Leute ab und zu ein, und die Schwatzenden fegten an dem Pulte des Mr. Lorry vorbei. Letzerer hielt den Brief fragend in die Höhe, und Monseigneur in der Person dieses oder jenes ränkeschmiedenden entrüsteten Flüchtlings betrachtete sich ihn, hatte aber dies, jenes und weiß Gott was sonst noch, kurz, in französischer oder englischer Sprache stets etwas Herabwürdigendes über den Marquis zu bemerken, der nicht aufzufinden war.

»Neffe, glaube ich, aber jedenfalls ein sehr entarteter Nachfolger des seinen Marquis, der ermordet wurde«, sagte der eine. »Gottlob, ich hab‘ ihn nie gekannt.«

»Ein Hundsfott, der vor Jahren von seinem Posten wich«, erklärte ein anderer, der in einen Heubündel gepackt, mit den Füßen nach oben und halb erstickt, aus Paris entkommen war.

»Von den neuen Lehren angesteckt«, bemerkte ein dritter, die Adresse lorgnettierend: »machte Opposition gegen den verstorbenen Marquis, verließ sein Familienerbe und gab es dem spitzbübischen Haufen preis. Man wird’s ihm jetzt hoffentlich lohnen, wie er’s verdient.«

»Wie?« blökte Stryver. »Hat er wirklich dies getan und ist er ein Kerl von solchem Schlag? Wie heißt der ehrlose Bursche? Zum Henker mit dem Menschen!«

Darnay, der sich nicht länger halten konnte, berührte Mr. Stryver an der Schulter und sagte:

»Ich kenne den Menschen.«

»Wirklich? Ha, beim Jupiter, das tut mir leid«, versetzte Stryver.

»Warum?«

»Warum, Mr. Darnay? Hört Ihr nicht, was er getan hat? Wer wird auch so fragen in solchen Zeiten!«

»Dennoch frage ich.«

»Dann will ich Euch wiederholt sagen, Mr. Darnay, daß es mir leid tut. Ich bedaure, aus Eurem Munde solche außerordentliche Fragen vernehmen zu müssen. Wir haben da einen Kerl, der, angesteckt von dem pestilenzialischsten und gotteslästerlichsten Gesetz, das je der Teufel ersann, sein Familiengut dem schändlichsten Abschaum der Erde preisgab, der je im großen mordete, und Ihr fragt mich, warum ich bedaure, daß ein Mann ihn kennt, der die Jugend unterrichtet? Gut! Ihr sollt meine Antwort haben. Es tut mir leid, weil ich glaube, daß der Umgang mit einem solchen Wicht ansteckend ist. Da habt Ihr das Warum.«

Eingedenk des Geheimnisses hielt Darnay mit Mühe an sich und erwiderte:

»Möglich, daß Ihr den Gentleman nicht versteht.«

»Jedenfalls verstehe ich Euch in die Enge zu treiben, Mr. Darnay«, sagte Stryver trotzig, »und das soll geschehen. Wie dieser Kerl ein Gentleman sein soll, begreife, wer da will. Ihr könnt ihm dies mit meinem Respekt vermelden und ihm zugleich von mir aus sagen, es wundere mich nur, daß er nicht an der Spitze des mordbrennerischen Pöbels steht, nachdem er ihm seine zeitlichen Güter und seine Stellung überlassen hat. Doch nein, meine Herren«, fügte Stryver bei, indem er in die Runde umherschaute und mit den Fingern schnippte, »ich verstehe mich auf die Menschennatur und sage euch, ihr werdet nie bei einem Kerl von seinem Schlag finden, daß er sich der Gnade solcher kostbaren Schützlinge anvertraut. Nein, meine Herren, ihr dürft darauf zählen, daß er ihnen gleich im Anfang des Kampfes ein sauberes Paar Fersen zeigte und sich dann davonschlich.«

Mit diesen Worten und einem schließlichen Fingerschnalzen schulterte sich Mr. Stryver unter dem allgemeinen Beifall seiner Zuhörer in die Fleetstraße hinaus. Nach dem allgemeinen Aufbruch der Bank blieben bloß noch Mr. Lorry und Charles Darnay an dem Pult zurück.

»Wollt Ihr den Brief besorgen?« sagte Mr. Lorry. »Ihr werdet wissen, wo man ihn abliefern muß.«

»Ja.«

»Wollt Ihr den Adressaten auch wissen lassen, daß wir vermuten, er sei in der Voraussetzung hierher gesandt worden, daß wir vielleicht die Besorgung vermitteln können, und habe schon einige Zeit hier gelegen?«

»Soll geschehen. Tretet Ihr von hier aus die Reise nach Paris an?«

»Von hier aus, um acht Uhr.«

»Ich komme wieder her, um Euch Adieu zu sagen.«

Sehr unruhig in seinem Innern und aufgebracht gegen Stryver und so viele andere, zog sich Darnay in die Stille des Temple zurück, erbrach den Brief und las. Der Inhalt lautete, wie folgt:

Abteigefängnis, Paris, den 21. Juni 1792.

»Weiland Herr Marquis!

Nachdem ich lange Zeit unter der Bevölkerung des Dorfes in Lebensgefahr geschwebt habe, bin ich gewaltsam und in höchst unwürdiger Weise zu Fuß den weiten Weg nach Paris transportiert worden. Auf dem Marsche hatte ich viel zu leiden. Aber dies ist nicht alles. Mein Haus wurde zerstört und von dem Erdboden vertilgt.

Das Verbrechen, um dessetwillen ich im Gefängnis sitze, vor Gericht gestellt werden soll und ohne Eure großmütige Hilfe, weiland Herr Marquis, der Todesstrafe entgegensehe, wird als Verrat an der Majestät des Volkes bezeichnet, gegen die ich mich durch mein Handeln für einen Emigranten versündigt haben soll. Vergeblich verteidigte ich mich damit, daß ich Euren Befehlen gemäß für das Volk und nicht gegen dasselbe handelte. Vergeblich stellte ich vor, daß ich schon vor Sequestration des Emigranteneigentums die rückständigen Abgaben erlassen, keine Grundrente erhoben und nach keiner Seite hin einen Prozeß angefangen habe. Die stetige Erwiderung lautet, ich habe für einen Emigranten gehandelt, und man wollte wissen, wo dieser Emigrant sei.

Ach, gnädigster weiland Herr Marquis, wo ist dieser Emigrant? Ich rufe in meinem Schlafe nach ihm und flehe zum Himmel, daß er komme und mich befreie. Keine Antwort. Ach, weiland Herr Marquis, ich sende meinen trostlosen Schrei über das Meer in der Hoffnung, er könnte durch die große, auch in Paris bekannte Bank von Tellson Euch zu Ohren kommen.

Um Gottes, um der Gerechtigkeit, um der Ehre Eures edlen Namens willen flehe ich Euch an, großmütigster weiland Herr Marquis, mir beizuspringen und mich zu erlösen. Mein Verbrechen ist, daß ich Euch treu war. Oh, weiland Herr Marquis, handelt Ihr nun auch treu an mir.

Von meinem schrecklichen Gefängnis aus, das mich in jeder Stunde mehr und mehr aufreibt, versichere ich Euch, weiland Herr Marquis, meiner schmerzvollen, unglücklichen Dienstbeflissenheit

Dero tiefbetrübter

Gabelle

Die geheime Unruhe in Darnays Innern wurde durch diesen Brief recht kräftig wachgerüttelt. Die Gefahr eines alten Dieners und wackeren Mannes, dessen einziges Verbrechen die Treue gegen ihn und seine Familie war, wurde ihm zu einer so vorwurfsvollen Mahnung, daß er, während er in Betrachtungen über die tunlichen Schritte in dem Temple auf und ab ging, vor den Vorüberwandelnden fast sein Gesicht verhüllte.

Er wußte sehr wohl, daß er in seinem Abscheu vor der Tat, durch die den Verbrechen und dem schlechten Ruf der alten Familie die Krone aufgesetzt wurde, unter dem hämischen Argwohn seines Onkels und in dem Widerwillen, den sein Gewissen gegen das morsche Gebäude hegte, dem er zur Stütze hätte dienen sollen, nur mit Halbheit gehandelt hatte. Durch seine Liebe für Lurie war der Verzicht auf seine gesellschaftliche Stellung, obschon er sich oft schon mit ähnlichen Gedanken getragen hatte, mit einer übereilten Hast und nur unvollständig geschehen. Die Sache hätte wohl geprüft und systematisch ausgeführt werden sollen: und obschon dies eigentlich in seiner Absicht gelegen, so war er doch nie dazu gekommen.

Das Glück seiner neugewählten englischen Heimat, die Notwendigkeit eines eifrigen Geschäftsbetriebs, der Umschwung und die Wirren der Zeit, die so rasch aufeinander folgten, daß die Ereignisse der nächsten Woche die unreifen Pläne der letzten wieder vernichteten und einen ganz neuen Zustand ins Leben riefen dies waren die Momente, deren Gewalt er gewichen war, allerdings nicht ohne Unruhe, aber doch ohne einen nachhaltigen und kräftigen Widerstand. Daß die Zeitläufte, während er zusah, um einen passenden Augenblick zum Handeln zu finden, wieder und wieder umschlugen, bis dieser Augenblick vorüber war, der Adel auf allen Land- und Nebenstraßen scharenweise Frankreich verließ, seine Güter der Beschlagnahme und Zerstörung anheimfielen und seine Namen aus der Liste des Volkes gestrichen wurden, war ihm so gut bekannt wie der nächsten besten Behörde in Frankreich, die ihn vielleicht für sein Säumen verantwortlich machte.

Doch er hatte sich nie als Bedrücker erwiesen, nie einen Menschen seiner Freiheit beraubt und, statt die ihm gebührenden Zahlungen mit Härte einzutreiben, lieber freiwillig sein Eigentum verlassen, sich der Ungunst der Welt anheimgegeben und darin ein Plätzchen errungen, das ihm das tägliche Brot abwarf. Monsieur Gabelle, der laut schriftlicher Vollmacht die verarmten und mit Schulden belasteten Güter verwaltete, war der gemessene Befehl hinterlassen worden, die Leute zu schonen und ihnen das bißchen zu geben, was noch übrigblieb das Holz, das den harten Gläubigern für den Winter, die Felderzeugnisse, die denselben gierigen Klauen während des Sommers abzuringen waren; und ohne Zweifel hatte er, um der eigenen Sicherheit willen, diesen Umstand gehörig ins Licht gestellt, so daß er jetzt kein Geheimnis mehr sein konnte.

Dies ermutigte Charles Darnay in seinem verzweifelten Gedanken, selbst nach Paris zu gehen.

Ja. Die Winde und Strömungen hatten ihn wie den Matrosen des alten Märchens in den Bereich des Magnetfelsens gebracht, der ihn anzog, und er mußte folgen. Alles, was in seinem Innern auftauchte, trieb ihn schneller und schneller, stetiger und stetiger nach dein schrecklichen Ziel hin. Seine geheime Unruhe hatte dem Umstand gegolten, daß in seinem unglücklichen Vaterland durch schlechte Werkzeuge schlechten Zwecken nachgestrebt werde, und er machte sich Vorwürfe, daß er, der besser war als sie, sich nicht dort befand und seine Kräfte aufbot, um dem Blutvergießen Einhalt zu tun und der Gnade und ^Menschlichkeit das Wort zu reden. In dieser Unruhe wurde er auf eine beschämende Weise bestärkt durch die Vergleichung seines Benehmens mit dem des wackeren alten Lorry, dem sein Pflichtgefühl keine Ruhe ließ: und unmittelbar darauf folgten die Hohnreden von Monseigneur, deren Stachel tief in seine Seele drang, und die rohen Bemerkungen Stryvers, der sich aus alten Gründen zu einer geringschätzigen Behandlung für berechtigt hielt; dann noch Gabelles Brief der Appell eines unschuldigen, mit dem Tode bedrohten Gefangenen an seine Gerechtigkeit, seine Ehre und seinen guten Namen.

Sein Entschluß war gefaßt. Er mußte nach Paris.

Ja. Der Magnetfelsen machte seinen Einfluß geltend; er mußte auf ihn zusegeln, bis er auf dem Strand saß. Allerdings dachte er nicht an eine Klippe und kaum an eine Gefahr. Die Absicht seines früheren Handelns, obschon es nur ein halbes gewesen, erschien ihm in einem Licht, daß sie von Frankreich dankbar anerkannt werden mußte, wenn er dort erschien und sie auseinandersetzte. Dann tauchten Gesichte von wohltätigem Wirken, die Fata Morgana so vieler sanguinischer edler Gemüter, vor ihm auf, und er sah in sich schon den Mann, der Einfluß gewann, um die tobende Revolution zu leiten, die einen so fürchterlich schnellen Gang nahm.

Während er unter solchen Gedanken auf und ab ging, erschien es auch als zweckmäßig, daß weder Lucie noch ihr Vater von seinen, Entschluß etwas erfahre, bis er fort war. Lucien wurde dadurch der Schmerz der Trennung erspart, und ihr Vater, der nie an den gefährlichen früheren Boden zurückdenken mochte, erfuhr dann von dem Schritt als von etwas Geschehenem und war somit des Schwebens zwischen Ungewißheit und Zweifel enthoben. Wieviel von der Halbheit seiner Lage eben auf Rechnung des alten Doktors kam, weil er in dessen Geiste keine schmerzlichen Erinnerungen an Frankreich wachrufen wollte, mochte er nicht weiter in Betracht ziehen, obschon auch dieser Umstand Einfluß auf sein Verhalten geübt hatte.

So ging er gedankenvoll hin und her, bis es Zeit war, zu Tellsons zurückzukehren und sich von Mr. Lorry zu verabschieden. Sobald er in Paris anlangte, wollte er diesen alten Freund wieder aufsuchen, vorläufig aber auch gegen ihn von seinem Vorhaben schweigen.

Vor der Tür des Bankhauses stand ein Wagen mit Postpferden bereit und Jerry gestiefelt und in Reisekleidung daneben.

»Ich habe jenen Brief abgeliefert«, sagte Charles Darnay zu Mr. Lorry. »Ich wollte nicht darauf eingehen, daß Euch eine schriftliche Antwort mitgegeben werde; aber vielleicht richtet Ihr eine mündliche aus?«

»Recht gerne, wenn es nicht gefährlich ist«, antwortete Mr. Lorry.

»Durchaus nicht, obschon sie einem Gefangenen in dem Abteigefängnis gilt.«

»Wie heißt er?« fragte Mr. Lorry, das Taschenbuch öffnend, das er in der Hand hielt.

»Gabelle.«

»Gabelle. Und was soll ich diesem unglücklichen Gabelle im Gefängnis sagen?«

»Einfach, er habe den Brief erhalten und werde kommen.«

»Keine Zeit genannt?«

»Er will morgen abend die Reise antreten.«

»Kein Name?«

»Nein.«

Er half Mr. Lorry sich in einige Röcke und Mäntel hüllen und trat mit ihm aus der warmen Atmosphäre der alten Bank in die neblige Luft der Fleetstraße hinaus, »Meine Grüße an Lucie und die kleine Lucie«, sagte Mr. Lorry beim Abschiede, »und nehmt mir sie fein in acht, bis ich wieder zurückkomme.« Charles Darnay schüttelte zweifelnd den Kopf und lächelte, als der Wagen dahinrollte.

Selbige Nacht – es war die des vierzehnten August – saß er noch spät an seinem Pult und schrieb zwei glühende Briefe. In dem einen setzte er Lucien auseinander, welche heilige Pflicht ihn nach Paris rufe, und welche guten Gründe er habe, bei dem Unternehmen keine Gefährdung seiner Person zu fürchten. Dem Doktor dagegen empfahl er Weib und Kind zu liebevoller Fürsorge, indem er ihm zugleich in Bezug auf sich dieselben tröstlichen Versicherungen gab, man werde sich aus den Briefen, die er unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris schreiben wolle, von der Richtigkeit seiner Voraussetzungen überzeugen.

Es war ein schwerer Tag für ihn, der erste Tag, an dem er unter ihnen weilte mit einem Geheimnis auf seiner Seele, und es wurde ihm schwer, den ahnungslosen Wesen gegenüber die wohlmeinende Täuschung durchzuführen. Doch ein liebevoller Blick auf seine Gattin, die so glücklich und emsig war, kräftigte seinen Entschluß, ihr zu verschweigen, was ihr bevorstand. Er war in allen seinen Handlungen so sehr an ihre ruhige Beihilfe gewöhnt, daß er es kaum verwinden konnte, derselben jetzt entbehren zu sollen. So entschwand der Tag rasch. Früh am Abend umarmte er sie und sein ihm nicht minder teures Töchterlein, schützte eine Bestellung vor, von der er bald wieder zurückkommen werde, nahm heimlich seinen mit Kleidern gefüllten Reisesack unter den Mantel und trat in den schweren Straßennebel mit noch schwererem Herzen hinaus.

Die unsichtbare Gewalt hatte ihn schon in ihrem Bereich, und Flut und Winde wirkten zusammen, um ihn rasch und schnurstracks nach dem Ausgangspunkt hinzutreiben. Er übergab seine beiden Briefe einem zuverlässigen Portier mit der Weisung, sie eine halbe Stunde vor Mitternacht, nicht früher, abzuliefern, nahm ein Pferd nach Dover und trat seine Reise an. »Um Gottes, um der Gerechtigkeit, um der Ehre Eures edlen Namens willen!« lautete der Ruf des armen Gefangenen. Mit ihm ermunterte er sein ganzes Herz, ließ alles hinter sich, was ihm auf Erden teuer war, und schwamm auf den Magnetfelsen zu.

Erstes Kapitel. Ins Geheimnis.


Erstes Kapitel. Ins Geheimnis.

 

Es ging langsam vorwärts, wenn man im Herbst des Jahres Siebzehnhundertzweiundneunzig von England nach Paris wollte. Mehr als genug schlechter Wege, schlechter Fuhrwerke und schlechter Pferde würden dem Reisenden die Ausführung seines Vorhabens erschwert haben, selbst wenn der unglückliche gestürzte König von Frankreich noch auf seinem Thron gesessen hätte. Aber die veränderlichen Zeiten hatten noch andere Hindernisse gebracht als diese. Um jedes Stadttor, um jedes Dorfsteuerhaus lungerten mit ihren stets zum Losgehen bereiten Nationalmusketen Banden patriotischer Bürger, die jeden Ab- und Zugehenden anhielten, ihn verhörten, seine Papiere untersuchten, nach seinem Namen in ihren Listen fahndeten, ihn wieder zurückschickten, laufen ließen, oder sogar anhielten und festnahmen, je nachdem es ihrem launenhaften Urteil am zweckmäßigsten zu sein schien für das Wohl der einen und unteilbaren Republik mit ihrem Motto: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod.

Charles Darnay hatte noch nicht viele Wegstunden auf französischem Boden zurückgelegt, als er zu bemerken begann, daß er auf diesen Landstraßen nicht wieder zurückkehren zu können hoffen durfte, ehe er in Paris für einen guten Bürger erklärt war. Was auch jetzt kommen mochte, er mußte seine Reise zu Ende bringen. Jedes elende Städtchen, das seine Tore hinter ihm schloß, jeder Schlagbaum, der unterwegs hinter ihm zuklappte, war, wie er bald merkte, ein weiteres eisernes Tor in der Reihe derjenigen, die ihn von England absperrten. Die allgemeine Wachsamkeit umgab ihn auf eine Weise, daß er den Verlust seiner Freiheit nicht gründlicher hätte fühlen können, wenn er seinem Bestimmungsort in einem Netz oder in einem Käfig zugesandt worden wäre.

Diese allgemeine Wachsamkeit gebot ihm auf der Landstraße nicht nur zwanzigmal zwischen je zwei Stationen Halt, sondern hinderte auch zwanzigmal des Tags am Vorwärtskommen, indem man ihm nachritt und ihn zurückholte, ihm vorausritt, um ihn anhalten zu können, oder neben ihm herritt, um ihn zu bewachen. Er hatte schon viele Tagereisen in Frankreich allein zurückgelegt, als er eines Abends, noch fern von Paris, in einem Städtchen an der Straße erschöpft sich zur Ruhe begab.

Er wäre nie soweit gekommen, wenn er nicht den Brief des bedrängten Gabelle aus dem Abteigefängnis hätte vorzeigen können. An dem Wachhaus dieses kleinen Platzes waren ihm so viel Schwierigkeiten bereitet worden, daß er fühlte, seine Reise sei zu einer Krisis gelangt. Es nahm ihn deshalb auch nicht wunder, als man ihn mitten in der Nacht in dem Wirtshäuschen weckte, nach welchem man ihn bis zum Morgen hatte ziehen lassen.

Die Wecker waren ein furchtsamer Ortsvorstand und drei bewaffnete, mit groben roten Mützen bedeckte Patrioten, die sich, die Pfeifen im Mund, auf sein Bett niedersetzten.

»Emigrant«, sagte der Ortsvorstand, »ich werde Euch unter Bedeckung nach Paris schicken.«

»Bürger, ich wünsche nichts sehnlicher, als nach Paris zu kommen, obschon ich die Bedeckung entbehren kann.«

»Stille!« brummte eine Notkappe, mit dem Musketenschaft auf die Decke klopfend, »’s Maul gehalten, Aristokrat.«

»Es ist, wie dieser gute Patriot sagt«, bemerkte der furchtsame Ortsvorstand. »Ihr seid ein Aristokrat und müßt eine Bedeckung haben natürlich auf Eure Kosten.«

»Ich habe keine Wahl«, sagte Charles Darnay.

»Wahl? Da höre man!« rief dieselbe brummige Rotkappe. »Als ob’s keine Gunst sei, wenn man ihn vor dem Laternenpfahl beschützt.«

»Es ist ganz so, wie der gute Patriot sagt«, bemerkte der Ortsvorstand. »Drum steht auf und kleidet Euch an, Emigrant.«

Darnay gehorchte und wurde nach dem Wachhause zurückgebracht, wo andere Patrioten in groben roten Mützen bei dem Wachfeuer rauchten, tranken und schliefen. Er mußte daselbst eine ansehnliche Summe für die Bedeckung erlegen und trat auf den nassen, nassen Wegen um drei Uhr morgens die Weiterreise an.

Die Bedeckung bestand aus zwei berittenen Patrioten mit roten Mützen und dreifarbigen Kokarden; sie waren mit Nationalmusketen und Säbeln bewaffnet und ritten rechts und links neben dem Reisenden her. Dieser lenkte sein Pferd selbst: aber an seinem Zaum war ein Strick befestigt, dessen anderes Ende einer der Patrioten sich um den Leib geschlungen hatte. So stampften sie, während der scharfe Regen ihnen ins Gesicht schlug, in schwerem Dragonertrab über das unebene Stadtpflaster und auf den grundlosen Straßen weiter. Und so legten sie ohne andern Wechsel als den der Pferde und der Geschwindigkeit alle die schlammigen Wegstunden zurück, die zwischen ihnen und der Hauptstadt lagen.

Sie reisten in der Nacht, machten eine Stunde oder zwei nach Tagesanbruch halt und blieben ruhig liegen, bis die Dämmerung einbrach. Die Bedeckungsmannschaft war so erbärmlich gekleidet, daß sie Stroh um ihre nackten Füße und ihre zerlumpten Schultern gewickelt hatte, um die Nässe abzuhalten. Abgesehen von der persönlichen Unbequemlichkeit einer solchen Begleitung und der Gefahr, die aus dem leichtsinnigen Handhaben der Musketen von seiten der wechselweise betrunkenen Patrioten hervorging, ließ sich Charles Darnay durch den ihm auferlegten Zwang nicht in Angst setzen; denn dieser konnte, wie er sich sagte, in keiner Beziehung zu dem individuellen Fall, der noch nicht erhoben, und zu den von dem Gefangenen in der Abtei zu bestätigenden Auseinandersetzungen stehen, die noch nicht vorgebracht waren.

Aber als sie die Stadt Beauvais erreichten – es war bereits Abend und eine große Menschenmenge in den Straßen , konnte er sich nicht verhehlen, daß das Aussehen der Dinge sehr beunruhigend wurde. Ein unheimlicher Schwarm sammelte sich um ihn und wollte im Posthof ihn absteigen sehen. Und viele Stimmen riefen laut: »Nieder mit dem Emigranten!«

Wie er sich eben aus dem Sattel schwingen wollte, ließ er sich wieder auf denselben nieder, da er ihm der sicherste Platz zu sein schien, und sagte:

»Emigrant, meine Freunde? Seht ihr denn nicht, daß ich aus eigenem freiem Antrieb hier in Frankreich bin?«

»Du bist ein verfluchter Emigrant!« rief ein Schmied, der, den Hammer in der Hand, mit Gewalt sich durch das Gedränge Bahn brach; »und ein verfluchter Aristokrat obendrein.«

Der Postmeister stellte sich zwischen den Mann und den Zügel des Rosses, auf das es dieser augenscheinlich abgesehen hatte, und sagte beschwichtigend:

»Laßt ihn gehen; laßt ihn in Frieden. Er wird in Paris gerichtet werden.«

»Gerichtet!« wiederholte der Schmied, seinen Hammer schwingend. »Ja, und verurteilt als Verräter.«

Die Menge brüllte ihm Beifall zu.

Der Postmeister wandte sich um und wollte das Pferd mit in den Hof hineinnehmen, wobei der betrunkene Patriot, der die Leine noch immer um seinen Leib gebunden hatte, ruhig von seinem Sattel aus zusah. Darnay hielt ihn zurück und rief, sobald er sich vernehmlich machen konnte:

»Freunde, ihr seid im Irrtum, oder ihr seid getäuscht. Ich bin kein Verräter.«

»Er lügt!«, entgegnete der Schmied. »Er ist ein Verräter seit dem Dekret. Er hat sein Leben an das Volk verwirkt. Sein verfluchtes Leben gehört nicht mehr ihm.«

Darnay sah es blitzen in den Augen des Haufens, der im nächsten Augenblick auf ihn losstürzen zu wollen schien Der Postmeister zog das Pferd in den Hof, und die Bedeckung ritt rechts und links mit ein, worauf ersterer die gebrechlichen Torflügel schloß und verriegelte. Der Schmied führte zwar noch einen Hammerschlag, und der Volkshaufe brüllte wild, aber dabei hatte es sein Verbleiben.

»Was ist das für ein Dekret, von dem der Schmied gesprochen hat?« fragte Darnay den Postmeister, nachdem er abgestiegen war und ihm gedankt hatte.

»Ein Dekret, das den Verkauf des Eigentums von Emigranten anbefiehlt.«

»Wann wurde es erlassen?«

»Am vierzehnten.«

»An demselben Tag also, an dem ich England verließ.«

»Jedermann sagt, es sei nur der Vorläufer von anderen, die noch nachfolgen würden wenn sie nicht vielleicht gar schon ausgegeben sind. Man spricht von Verbannung aller Emigrierten und von Todesstrafe gegen die Zurückkehrenden. Dies meinte er, als er sagte, daß Euch Euer Leben nicht mehr gehöre.«

»Aber es bestehen doch noch keine solchen Gesetze?«

»Was weiß ich«, versetzte der Postmeister. »Vielleicht sind sie schon ausgegeben, vielleicht geschieht es demnächst. Doch dies kommt wohl aufs gleiche heraus. Mit was kann ich aufwarten?«

Sie ruhten in einem Speicher auf Stroh aus bis gegen Mitternacht, und als die ganze Stadt im Schlaf lag, ritten sie wieder weiter. Unter den vielen seltsamen Veränderungen an bekannten Dingen, die während des unheimlichen Nachtritts auffielen, war nicht die geringste, daß der Schlaf so selten geworden zu sein schien. Nachdem sie lange einsam über verödete Wege hingetrabt waren, konnten sie auf eine Gruppe von Bauernhäusern treffen, die nicht in Dunkel gehüllt dalagen, sondern in hellem Lichtschimmer glänzten, während die Bewohner wie Nachtgespenster Hand in Hand um einen verdorrten Freiheitsbaum tanzten und Freiheitslieder dazu sagen. Zum Glück schlief man selbige Nacht in Beauvais, und sie kamen glücklich wieder hinaus in die freie Einsamkeit. Dahin ging es klappernd in dem vorzeitig kalten und feuchten Wetter über die ausgesogenen Felder, die in jenem Jahre keine Früchte gegeben hatten, und eine Abwechslung ergab sich nur, wenn da und dort die Trümmer niedergebrannter Häuser auftauchten oder ihnen ein Hinterhalt von patriotischen Streifwachen, die alle Straßen bestrichen, plötzlich den Weg vertritt.

Endlich langten sie bei Tag vor den Mauern von Paris an. Der Schlagbaum war geschlossen und scharf bewacht, als sie angeritten kamen.

»Wo sind die Papiere dieses Gefangenen?« fragte ein entschlossen aussehender Beamter, den die Wache herausgerufen hatte.

Das unangenehme Wort machte natürlich Charles Darnay betroffen; er ersuchte deshalb den Sprecher, zu berücksichtigen, daß er ein freier Reisender und französischer Bürger sei, der bei dem unruhigen Zustand des Landes auf eigne Kosten sich habe mit einer Bedeckung versehen müssen.

»Wo sind die Papiere dieses Gefangenen?« wiederholte dieselbe Person, ohne seine Einsprache auch nur im geringsten zu beachten.

Der betrunkene Patriot hatte sie in seiner Mütze und brachte sie zum Vorschein. Der Beamte überflog Gabelles Brief, zeigte dabei einige Unruhe und Überraschung und betrachtete dann Darnay mit großer Aufmerksamkeit.

Ohne übrigens ein Wort zu sprechen, kehrte er nach der Wachstube zurück, während der Bedeckte und die Bedeckung auf ihren Pferden vor der Barriere blieben. Verwirrt schaute Charles Darnay umher und bemerkte, daß das Tor von einer aus Soldaten und Patrioten bestehenden gemischten Wache besetzt war, in der jedoch die Bürgerlichen bei weitem die Mehrzahl bildeten. Dabei machte er die Wahrnehmung, daß die Karren der Bauern, die Lebensmittel und andere Vorräte herbeiführten, leicht genug Eingang fanden, aber es selbst dem Unscheinbarsten aus dem Volke schwer werden mußte, hinauszukommen. Ein zahlreiches Gedränge von Männern und Weibern, des Viehs und der verschiedenartigen Fuhrwerke nicht zu gedenken, harrte der Erlaubnis, wieder fort zu dürfen: aber die vorläufige Untersuchung war so streng, daß die Leute nur sehr langsam durch die Barriere durchsickerten. Einige davon, die wußten, daß die Visitation noch lange nicht an sie kommen werde, hatten sich auf den Boden niedergelegt, um zu schlafen oder zu rauchen, während andere miteinander plauderten oder umherlungerten. Die rote Mütze und die dreifarbige Kokarde war sowohl unter den Männern als unter den Weibern allgemein.

Nachdem Darnay ungefähr eine halbe Stunde im Sattel gesessen und sich, was um ihn vorging, betrachtet hatte, kam derselbe Beamte wieder und befahl der Wache, den Schlagbaum zu öffnen. Dann händigte er der Bedeckung einen Empfangsschein für Ablieferung des Bedeckten ein und forderte letzteren auf, abzusteigen. Darnay gehorchte. Die zwei Patrioten, der nüchterne wie der betrunkene, nahmen sein müdes Pferd zuhanden, wandten sich um und eilten von hinnen, ohne die Stadt zu betreten.

Darnay folgte seinem Führer in die nach schlechtem Wein und Tabak riechende Wachstube, wo einige Soldaten und Patrioten schlafend und wachend, betrunken und nüchtern, oder in verschiedenen neutralen Zuständen zwischen Schlafen und Wachen, Nüchternheit und Trunkenheit umherstanden und -lagen. Das Licht in der Wachstube, das halb von den erlöschenden Öllampen der Nacht, halb von dem umwölkten Tag herrührte, verbreitete eine entsprechend ungewisse Helle. Auf einem Tisch lagen einige aufgeschlagene Register, und hinter demselben saß ein finster blickender roher Beamter.

»Bürger Defarge«, sagte er zu Darnays Begleiter, indem er einen Streifen Papier vornahm, um zu schreiben, »ist dies der Emigrant Evrémonde?«

»Ja.«

»Euer Alter, Evrémonde?«

»Siebenunddreißig.«

»Verheiratet, Evrémonde?«

»Ja.«

»Wo verheiratet?«

»In England.«

»Kann mir’s denken. Wo ist Euer Weib, Evrémonde?«

»In England.«

»Natürlich. Man wird Euch in das Gefängnis La Force abführen, Evrémonde.«

»Gerechter Himmel!« rief Darnay. »Nach welchem Gesetz und wegen welchen Vergehens?«

Der Beamte sah einen Augenblick von seinem Papierstreifen auf. »Seit Ihr hier waret, Evrémonde, haben wir neue Gesetze und neue Vergehen«, sagte er mit einem harten Lächeln und fuhr zu schreiben fort.

»Ich bitte Euch zu bemerken, daß ich freiwillig hierher gekommen bin, um der schriftlichen Aufforderung eines Landsmanns, die Ihr vor Euch liegen habt, zu entsprechen. Ich verlange nichts als die Gelegenheit, Zeugnis für ihn abzulegen. Habe ich kein Recht dazu?«

»Emigranten haben keine Rechte, Evrémonde«, lautete die brutale Antwort.

Der Beamte schrieb fort, bis er fertig war, überlas dann das Geschriebene und händigte es Defarge mit den Worten ein:

»Ins Geheimnis.«

Defarge winkte dem Gefangenen mit dem Papier, um ihm anzudeuten, daß er ihm folgen müsse. Darnay gehorchte, und eine Wache von zwei Patrioten schloß sich ihnen an.

»Seid Ihr der«, sagte Defarge mit leiser Stimme, als sie die Treppe vor dem Wachhaus hinunterstiegen und sich der Stadt zuwandten, »der die Tochter des Doktors Manette heiratete, der ehedem in der jetzt zerstörten Bastille gefangensaß?«

»Ja«, antwortete Darnay, indem er ihn erstaunt anblickte.

»Mein Name ist Defarge. Ich halte ein Weinhaus in dem Viertel von Saint Antoine. Vielleicht habt Ihr schon von mir gehört?«

»Meine Frau kam in Euer Haus, um ihren Vater zurückzuholen? Ja.«

Das Wort »Frau« schien in Defarge eine düstere Erinnerung zu wecken: er sagte mit plötzlicher Ungeduld:

»Im Namen jener scharfen neugeborenen Frau, die man La Guillotine nennt, warum seid Ihr nach Frankreich gekommen?«

»Ihr habt vor einer Minute meinen Grund vernommen. Glaubt Ihr nicht, daß ich die Wahrheit sagte?«

»Eine schlimme Wahrheit für Euch«, bemerkte Defarge, die Stirne runzelnd und gerade vor sich hinschauend.

»In der Tat, ich kenne mich hier nicht mehr aus. Alles ist so ohne Vorgang, so verändert, so überraschend und so widrig, daß ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Wollt Ihr mich nicht ein wenig zurechtweisen?«

»Nein.«

Defarge schaute immer vor sich hin, wenn er sprach.

»Aber doch mir vielleicht auf eine einzige Frage antworten?«

»Vielleicht. Je nachdem sie ist. Redet: ich will hören.«

»Werde ich in dem Gefängnis, in das man mich ungerechterweise abführt, einigen freien Verkehr mit der Außenwelt haben?«

»Das werdet Ihr sehen.«

»Man wird mich dort doch nicht ohne Urteil begraben und mir Gelegenheit bieten, meine Sache vorzubringen?«

»Ihr werdet’s sehen. Und was liegt dann daran? Vor Euch sind andere Leute in viel schlimmeren Gefängnissen begraben worden.«

»Aber nie durch meine Schuld, Bürger Defarge.«

Defarge antwortete darauf nur mit einem finstern Blick und schritt festen Fußes weiter, ohne die Stille weiter zu unterbrechen. Dieses Schweigen schien Darnay eine schlechte Hoffnung zu geben, seinen Begleiter milder zu stimmen. Er sagte daher endlich:

»Es ist für mich von höchster Wichtigkeit Ihr wißt das sogar noch besser als ich zu beurteilen, Bürger , daß ich in die Lage komme, Mr. Lorry von Tellsons Bank, einem englischen Gentleman, der sich gegenwärtig in Paris aufhält, ohne weiteren Kommentar die einfache Tatsache mitzuteilen, ich sei in das Gefängnis La Force gesetzt worden. Wollt Ihr dies für mich vermitteln?«

»Ich will nichts für Euch tun«, versetzte Defarge stöckisch. »Meine Pflicht gehört meinem Land und dem Volk. Als beeidigter Diener von beiden bin ich gegen Euch. Ich werde nichts für Euch tun.«

Charles Darnay fühlte, daß es hoffnungslos sei, weiter in ihn zu dringen, und auch sein Stolz war verletzt. Während sie schweigend weitergingen, konnte er deutlich bemerken, wie das Volk bereits daran gewöhnt war, daß man Gefangene durch die Straßen führte. Nicht einmal die Kinder achteten auf ihn. Einige Vorübergehende wandten die Köpfe gegen ihn um oder schüttelten die Faust gegen ihn als einen Aristokraten. Sonst aber schien der Umstand, daß ein gutgekleideter Mensch ins Gefängnis geführt wurde, nicht auffallender, als wenn ein Arbeiter in seinen Werktagskleidern ans Geschäft ging. In einer engen, dunkeln und schmutzigen Straße, durch die sie kamen, stieg ein aufgeregter Redner auf einen Stuhl und erhitzte das Publikum mit den Verbrechen, die der König und die königliche Familie gegen das Volk begangen haben sollten. Aus den paar Worten, die Charles Darnay von der Rede des Mannes verstand, erfuhr er zum erstenmal, daß der König gefangensaß und die auswärtigen Gesandten samt und sonders Paris verlassen hatten. Auf dem ganzen Herweg hatte er, mit Ausnahme von Beauvais, rein nichts von dem Stand der Angelegenheiten erfahren. Durch die Bedeckung und die allgemeine Wachsamkeit war er völlig isoliert worden.

Natürlich wußte er jetzt, daß ihm weit größere Gefahren drohten, als er bei seiner Abreise aus England geahnt hatte: sie umringten ihn bereits dicht genug und kamen voraussichtlich noch schwerer und schwerer. Er mußte sich zugestehen, daß er die Reise wohl unterlassen haben würde, wenn er die Ereignisse einiger Tage hätte voraussehen können. Und doch waren seine Besorgnisse nicht so düster, als sie der Einbildungskraft in dem Lichte der letzten Zeit hätten erscheinen sollen. Obschon er sich kümmerte wegen der Zukunft, so war diese doch ein unbekanntes Etwas, in dessen dunklem Schoß die Hoffnung der Unwissenheit lag. Von dem schrecklichen, Tag und Nacht fortdauernden Schlachten, das innerhalb weniger Umläufe der Uhr die gesegnete Zeit der Herbsternte in eine große blutige Gedenktafel umwandeln sollte, hatte er so wenig eine Ahnung, als sei er durch Jahrtausende davon getrennt. Das »scharfe neugeborene Frauenzimmer, La Guillotine genannt«, kannte er und das Volk im allgemeinen kaum dem Namen nach, und die schrecklichen Taten, die bald durch sie geschehen sollten, schlummerten damals wahrscheinlich noch unbewußt in dem Gehirn ihrer Vollbringer. Wie hätten sie einen Platz finden sollen in den unbestimmten Vorstellungen eines edlen Gemüts? Das Unrecht, das man an ihm übte, wenn man ihn in harter Gefangenschaft hielt und ihn grausam von Weib und Kind trennte, wurde vielleicht zu einem nachhaltigen Akt; aber über dies hinaus fürchtete er nichts Bestimmtes. Allerdings war auch dieser Gedanke schon traurig genug, und unter diesem Eindruck langte er in dem Gefängnis La Force an.

Ein Mann mit einem gedunsenen Gesicht öffnete die feste Pforte. Defarge stellte ihm den »Emigranten Gorémonde« vor.

»Was der Teufel! Wieviel kommen denn noch?« rief der Mann mit dem gedunsenen Gesicht.

Defarge nahm seinen Ablieferungsschein in Empfang, ohne auf den Ausruf zu achten, und entfernte sich mit seinen beiden patriotischen Begleitern.

»Was der Teufel, sag‘ ich wieder«, bemerkte der Kerkermeister, sobald er mit seinem Weib allein war, »nimmt’s noch kein Ende?«

Die Frau Kerkermeisterin, die auf diese Frage mit keiner Antwort vorgesehen war, entgegnete nur: »Man muß Geduld haben, mein Lieber.« Drei Schließer, die auf den Ruf einer Klingel eintraten, waren derselben Meinung, und einer derselben fügte bei: »Um der Freiheit willen!« ein Ausdruck, der an einem solchen Ort gar nicht am Platze zu sein schien.

La Force war ein unheimliches Gefängnis, dunkel, schmutzig und mit dem abscheulichen Geruch ungesunden Schlafes angefüllt. Es ist außerordentlich, wie bald der widerliche Duft des Schlafs von Gefangenen an Plätzen sich bemerklich macht, die nicht ordentlich gehalten werden.

»Auch ins Geheimnis«, brummte der Kerkermeister, den Papierstreifen betrachtend. »Als ob es nicht schon voll wäre zum Platzen.«

Er steckte übellaunig das Papier an einen Drahtstift, und Charles Darnay wartete eine halbe Stunde, was man weiter mit ihm anfangen würde, wobei er bald in dem hochgewölbten Raume auf und ab ging, bald auf einem steinernen Sitz ausruhte. Diese ganze Zeit über war er ein Gegenstand der Studie für den Kerkermeister und seine Untergebenen, die seine Person ihrem Gedächtnis einprägen wollten.

»Kommt«, sagte endlich der Kerkermeister, indem er seine Schlüssel aufnahm; »kommt mit mir, Emigrant.«

Sein neuer Schützling begleitete ihn über Flur und Treppe durch die unheimliche Gefängnisdämmerung, und viele Türen schlugen hinter ihnen zu und wurden abgeschlossen, bis sie ein großes, niederes, gewölbtes Gelaß erreichten, das von Gefangenen beiderlei Geschlechts wimmelte. Die Frauen saßen lesend und schreibend, strickend, nähend und stickend an einem großen Tisch, und die Männer standen meist hinter ihren Stühlen oder schlenderten in dem Raume auf und ab.

In dem instinktartigen Gefühl, das mit Gefangenen nur schwere Verbrechen oder Vergehen in Verbindung bringt, schrak der neue Ankömmling vor dieser Gesellschaft zurück. Aber die befremdlichste Anknüpfung an seinen langen, ihm nur wie ein Traum vorkommenden Ritt war, daß sie sich alle erhoben, um mit der ganzen seinen Bildung der damaligen Zeit, mit der vollen gewinnenden Anmut und Höflichkeit des Lebens ihn zu empfangen.

Diese Feinheit war so seltsam umwölkt von den Manieren und dem Düster des Gefängnisses und nahm sich so gespenstisch aus in dem unharmonischen Qualm und Elend ihrer Umgebung, daß Charles Darnay in einer Gesellschaft von Toten zu stehen vermeinte. Lauter Gespenster! Das Gespenst der Schönheit, das Gespenst der Stattlichkeit, das Gespenst der Eleganz, das Gespenst des Stolzes, das Gespenst der Leichtfertigkeit, das Gespenst des Witzes, das Gespenst der Jugend, das Gespenst des Alters, alle harrten ihrer Erlösung von dem öden Gestade alle wandten ihm Blicke zu, verändert durch den Tod, den sie gestorben waren, als sie hierherkamen.

Er blieb regungslos stehen. Der Kerkermeister hielt sich an seiner Seite, und die Schließer gingen umher. Sie wären vielleicht in ihren gewöhnlichen dienstlichen Verrichtungen leidlich genug gewesen, im Gegensatz aber zu den anwesenden jammernden Müttern und blühenden Töchtern, zu den Bildern der Gefallsucht, der jugendlichen Schönheit und matronenhaften Würde nahmen sie sich so ungemein roh aus, sodaß das Widerspiel von aller seitherigen Erfahrung und Wahrscheinlichkeit, das die Szene darbot, auf den höchsten Höhepunkt getrieben zu sein schien. Sicherlich lauter Gespenster! Sicherlich hatte der lange Traum von dem Ritt, ein krankhaftes Phantasiegebild, ihn unter diese nächtigen Schatten geführt!

»Im Namen der versammelten Unglücksgefährten«, sagte ein Herr von höflichem Aussehen und Benehmen, der auf ihn zukam, »gebe ich mir die Ehre, Euch in La Force zu bewillkommnen und Euch unser Bedauern auszudrücken wegen des Unsterns, der Euch unter uns geführt hat. Möge es sich bald zum Bessern wenden! An jedem anderen Orte wäre es eine Ungebühr, aber hier darf ich Euch wohl nach Eurem Namen und Stand fragen?«

Charles Darnay raffte sich auf und gab die gewünschte Auskunft so gut, wie es eben gehen mochte.

»Ich will nicht hoffen«, sagte der Herr, dem Kerkermeister, der im Zimmer umherging, mit den Augen folgend, »daß Ihr ins Geheimnis sollt?«

»Ich weiß nicht, was ich unter diesem Ausdruck verstehen muß, habe ihn aber wirklich brauchen hören.«

»Ah, das ist schade! Wir bedauern es recht sehr! Doch fasset Mut: mehrere aus unserer Gesellschaft sind anfangs im Geheimnis gewesen, aber es hat nur kurze Zeit gewährt.« Dann fügte er, die Stimme erhebend, bei: »Es tut mir leid, der Gesellschaft mitteilen zu müssen ins Geheimnis.«

Ein Gemurmel des Bedauerns folgte Charles Darnay, als dieser nach einer vergitterten Tür hinging, wo der Kerkermeister ihn erwartete, und viele Stimmen, unter denen die weichen und mitleidigen der Frauen besonders bemerklich wurden, sandten ihm gute Wünsche und Worte der Ermutigung nach. An der vergitterten Tür wandte er sich um und sprach seinen herzlichen Dank aus; dann schloß sich der Riegel hinter ihm, und die gespenstischen Gestalten entschwanden seinen Blicken für immer.

Innerhalb der Tür befand sich eine aufwärts führende Steintreppe. Nachdem sie vierzig Stufen zurückgelegt (der Gefangene einer halben Stunde hatte sie bereits gezählt), öffnete der Kerkermeister eine niedere schwarze Tür, und sie gelangten in eine Einzelzelle. Es war kalt und feucht darin, aber nicht dunkel.

»Die Eurige«, sagte der Kerkermeister.

»Warum werde ich allein eingesperrt?«

»Wie kann ich dies wissen?«

»Darf ich mir Feder, Tinte und Papier kaufen?«

»Davon steht nichts in meiner Ordre. Man wird Euch besuchen, und Ihr mögt dann fragen. Vorläufig könnt Ihr für Euer Geld nur Lebensmittel haben, weiter nichts.«

In der Zelle befand sich ein Stuhl, ein Tisch und eine Strohmatratze. Der Kerkermeister nahm, ehe er sich entfernte, an diesen Gegenständen und an den vier Mauern eine allgemeine Besichtigung vor, und dem Gefangenen, der ihm gegenüber an der Wand lehnte, kam während dieses Geschäfts die wunderliche Vorstellung, der Mann sei im Gesicht und am Leib so ungesund gedunsen, daß er aussehe wie ein mit Wasser gefüllter Ertrunkener. Nachdem derselbe fort war, dachte er weiter in seiner träumerischen Weise: »Jetzt bin ich verlassen wie ein Toter.« Er beugte sich nieder, um die Matratze zu beaugenscheinigen, wandte sich aber mit Grauen davon ab und sagte zu sich selbst: »Und in diesen kriechenden Geschöpfen erkenne ich den ersten Zustand des Leibes nach dem Tode.«

»Fünf Schritte bei vier und ein halb, fünf Schritte bei vier und ein halb, fünf Schritte bei vier und ein halb.« Der Gefangene ging in der Zelle auf und ab, maß ihre Länge und Breite, und von der Stadt her vernahm er einen Lärm wie von gedämpften Trommeln, in den sich ein wildes Geschrei mengte. »Er machte Schuhe, er machte Schuhe, er machte Schuhe.« Der Gefangene zählte wieder sein Maß und schritt schneller, um jene Laute seinem Sinn zu entschlagen. Die Geister, die verschwanden, als die Tür geschlossen wurde es war einer darunter, der aussah wie eine schwarzgekleidete Frau; sie lehnte in einer Fenstervertiefung, das Licht schien wieder auf ihr goldiges Haar, und sie glich **** »Um Gotteswillen, machen wir, daß wir fortkommen aus diesen beleuchteten Städten, wo alle Leute wach sind! **** Er machte Schuhe, er machte Schuhe, er machte Schuhe. **** Fünf Schritte bei vier und ein halb.« So wogte es in den Tiefen seiner Seele auf und nieder. Der Gefangene ging schneller und schneller, hartnäckig fortzählend. Und der Lärm der Stadt änderte sich in solcher Weise, daß es immer noch klang wie gedämpfte Trommeln. Aber das Wehklagen ihm bekannter Stimmen überbot diese Töne.

Achtzehntes Kapitel. Neun Tage.


Achtzehntes Kapitel. Neun Tage.

Der Hochzeitsmorgen war herrlich angebrochen, und draußen vor der geschlossenen Tür zu dem Zimmer des Doktors, wo dieser noch mit Charles Darnay Rücksprache hielt, stand alles bereit. Man konnte mit jedem Augenblicke nach der Kirche aufbrechen. Da war die schöne Braut, Mr. Lorry und Miß Proß, für die das Ereignis, mit dem sie sich um seiner Unvermeidlichkeit willen allmählich ausgesöhnt hatte, ein unbedingt beseligendes gewesen wäre, wenn nicht in einem Winkel ihrer Seele der Gedanke gelauert hätte, daß der Platz des Bräutigams eigentlich ihrem Bruder Salomon gehörte.

»Deshalb also«, sagte Mr. Lorry, der die Braut nicht genug bewundern konnte und rund um sie herumgegangen war, um jedes Stück ihres hübschen bescheidenen Anzugs zu mustern, »deshalb also, meine holdselige Lucie, habe ich Euch als kleines Kind über den Kanal herüberbringen müssen. Gott behüt‘ mich, wie wenig dachte ich damals, was ich tat, und wie leicht schlug ich die Verpflichtung an, die ich seinerzeit meinem Freunde Mr. Charles auferlegen sollte.«

»Es lag nicht in Eurem Willen«, bemerkte die praktische Miß Proß, »und Ihr konntet’s ja nicht wissen. Unsinn!«

»Meint Ihr? Gut; aber Ihr müßt nicht weinen«, sagte der sanfte Mr. Lorry.

»Ich weine nicht«, versetzte Miß Proß: »aber Ihr tut es.«

»Ich, meine Proß?« (Mr. Lorry war nachgerade so dreist geworden, gelegentlich sich einen Scherz gegen sie zu erlauben.)

»Ja, gerade eben; ich sah es mit eigenen Augen und wundere mich auch nicht darüber. Ein solches Geschenk von Silbergeschirr, wie Ihr’s ihnen gemacht habt, ist übrigens wohl imstande, jedermann Tränen zu entlocken. Es ist keine Gabel, kein Löffel darunter, über die ich nicht gestern nacht, als der Korb kam, geweint hätte, bis ich sie nicht mehr sehen konnte.«

»Das gereicht mir zu hohem Vergnügen«, entgegnete Mr. Lorry, »obschon ich auf Ehre nicht die Absicht hatte, durch diese unbedeutenden Erinnerungszeichen jemand Sand in die Augen zu streuen. Du mein Himmel, bei solchen Anlässen mag ein Mann sich wohl Gedanken darüber machen, was er alles versäumt hat. Herrje, Herrje, wenn ich erwäge, daß es nun fast schon fünfzig Jahre eine Mrs. Lorry geben könnte!«

»Nicht im geringsten«, bemerkte Miß Proß.

»Ihr meint doch nicht, daß es keine Mrs. Lorry hätte geben können?« versetzte Mr. Lorry.

»Pah!« sagte Miß Proß. »Ihr waret ein Hagestolz schon in der Wiege.«

»Hum, das scheint mir auch wahrscheinlich«, erwiderte Mr. Lorry, mit strahlender Miene seine Stutzperücke zurechtrückend.

»Und Ihr truget den Schnitt des Hagestolzen«, fuhr Miß Proß fort, »noch ehe Ihr in die Wiege kamt.«

Ermunterung.

»Dann bin ich, sollt‘ ich meinen, sehr stiefmütterlich behandelt worden«, sagte Mr. Lorry; »man hätte mir doch bei der Wahl des Schnitts eine Stimme lassen sollen. Doch genug. Meine teure Lucie« er legte sanft den Arm um ihren Leib »ich höre, im nächsten Zimmer rührt sich’s, und Miß Proß und ich als ein paar förmliche Geschäftsleute wollen die letzte gute Gelegenheit nicht verlieren, Euch etwas zu sagen, was Ihr gern hört. Ihr laßt Euren guten Vater in Händen, die so sorglich und liebevoll sind wie die Eurigen; man wird ihm während der nächsten vierzehn Tage, die Ihr in Warwickshire und seiner Nachbarschaft zuzubringen gedenkt, alle mögliche Aufmerksamkeit widmen, und sogar Tellson soll beziehungsweise ihm nachstehen. Wenn er dann nach Ablauf der vierzehn Tage sich Euch und Eurem Gatten anschließt, um den weiteren zweiwöchigen Ausflug durch Wales mitzumachen, so werdet Ihr sagen, wir haben ihn Euch in der besten Gesundheit und in der glücklichsten Gemütsstimmung zugeschickt. Nun, ich höre einen Tritt sich der Tür nähern. Erlaubt mir, mein teures Mädchen, Euch mit einem altmodischen Junggesellen-Segen zu küssen, ehe dieser Jemand kommt, um sein Eigentum in Anspruch zu nehmen.«

Er hielt einen Augenblick das schöne Antlitz vor sich hin, um den wohlbekannten Ausdruck der Stirne zu betrachten, und hielt dann mit einer Zartheit, die, wenn man dergleichen Dinge altmodisch finden will, mit ihrem Alter jedenfalls bis auf Adam hinaufreichte, ihr helles Goldhaar gegen das braune seiner Stutzperücke.

Die Tür des Nachbarzimmers öffnete sich, und der Doktor kam mit Charles Darnay heraus. Er war so leichenblaß ganz anders als beim Hineingehen , daß keine Spur von Farbe sich auf seinem Gesicht wahrnehmen ließ. Aber in seiner Haltung und in seinem Benehmen zeigte sich keine Veränderung, etwa mit der einzigen Ausnahme, daß Mr. Lorrys scharfer Blick aus einem schattenhaften Zuge entnahm, die frühere Angst und Furcht müsse wie ein kalter Wind über ihn hingegangen sein.

Er gab seiner Tochter den Arm und führte sie die Treppe hinab nach dem Wagen, den Mr. Lorry zu Ehren des Tages gemietet hatte. Die anderen folgten in einem zweiten Wagen, und bald waren in einer benachbarten Kirche, wo keine fremden Augen zuschauten, Charles Darnay und Lucie Manette glücklich vermählt.

Außer den Tränen, die während des Trauungsaktes aus dem Lächeln der kleinen Gruppe hervorblitzten, glänzten auch einige feurige, funkelnde Diamanten, die kürzlich der Dunkelheit in Mr. Lorrys Taschen entwischt waren, an der Hand der Braut. Sie kehrten nach Hause zurück zum Frühstück. Alles war gut abgelaufen, und zur gehörigen Zeit vermischte sich das goldige Haar, wie in dem Pariser Dachstübchen, so abermals hier mit den weißen Locken im Lichte der Morgensonne auf der Schwelle der Tür zum Abschied.

Ein schwerer Abschied, obschon nicht auf lange. Ihr Vater aber sprach ihr Mut zu und sagte endlich, während er sich sanft aus ihren umschlingenden Armen losmachte: »Nehmt sie, Charles, sie ist Euer.« Ihre bebende Hand winkte noch aus dem Kutschenfenster, und dann war sie fort.

Da die Ecke nicht dem Anlauf von Müßiggängern und Neugierigen ausgesetzt war und man nur sehr wenige und einfache Vorbereitungen getroffen hatte, so standen der Doktor, Mr. Lorry und Miß Proß allein auf der Straße. Wie sie jedoch sich in den willkommenen Schatten der kühlen alten Halle zurückzogen, bemerkte Mr. Lorry, daß mit dem Doktor eine große Veränderung vorgegangen war, als habe der dort aufgehobene goldene Arm einen giftigen Schlag nach ihm geführt.

Natürlich hatte er viel in sich verschlossen, und es stand zu erwarten, daß es, wenn der Zwang vorüber war, zu einem Losbruch kommen müsse. Aber es war der alte, scheue, irre Blick, der Mr. Lorry beunruhigte, und die gedankenlose Art, wie er nach seinem Kopfe griff und traurig nach seinem Zimmer hinaufstieg, erinnerte seinen Freund an den Weinschenk Defarge und an die Fahrt in der sternenhellen Nacht.

»Ich denke«, flüsterte er nach ängstlicher Erwägung Miß Proß zu, »ich denke, es ist am besten, wenn wir jetzt nicht mit ihm reden, sondern ihn ganz ungestört lassen. Ich muß bei Tellsons ein wenig nachsehen und komme schnell wieder zurück. Wir führen ihn dann aufs Land hinaus, machen dort Mittag, und alles wird wieder recht sein.«

Mit dem Nachsehen bei Tellsons ging es übrigens nicht so hurtig; er wurde zwei Stunden aufgehalten. Als er zurückkam, stieg er ohne Anfrage allein die alte Treppe hinan. Auf dem Flur zu des Doktors Zimmern angelangt, machte er betroffen halt, da er einen Ton hörte wie dumpfes Klopfen!

»Gütiger Gott!« rief er erschrocken. »Was ist dies?«

Miß Proß kam entsetzt auf ihn zu.

»O weh! o weh! Alles ist verloren!« rief sie, die Hände ringend. »Was kann ich meinem Vögelchen sagen? Er kennt mich nicht und macht Schuhe!«

Mr. Lorry tat, was er konnte, um sie zu beruhigen, und ging selbst in des Doktors Zimmer. Die Bank war gegen das Licht gerückt, wie er sie früher gesehen, als der Schuhmacher darauf arbeitete; sein Haupt war niedergebeugt, und die Hände gingen fleißig.

»Doktor Manette. Mein lieber Freund, Doktor Manette!«

Der Doktor sah ihn einen Augenblick halb fragend, halb in einer Weise an, als sei er ärgerlich über die Störung; dann beugte er sich wieder zu seinem Geschäfte nieder.

Er hatte Rock und Weste abgelegt; sein Hemd stand am Halse offen, wie er es sonst bei dieser Arbeit gewöhnt gewesen, und selbst der alte hagere, verblichene Ausdruck lag wieder auf seinem Gesicht. Er arbeitete eifrig, ungeduldig sogar, als wolle er hereinbringen, was er durch die Störung versäumt hatte.

Mr. Lorry betrachtete, was er in der Hand hatte, und sah, daß es ein Schuh von der alten Größe und Form war. Er nahm den anderen, der neben ihm lag, auf und fragte ihn, was dies sei.

»Ein Schuh für ein junges Frauenzimmer«, murmelte er, ohne aufzusehen. »Er sollte schon längst fertig sein. Laßt ihn liegen.«

»Aber, Doktor Manette, so seht mich doch an.«

Er gehorchte in der früheren mechanischen, unterwürfigen Weise, ohne in seiner Arbeit auszusetzen.

»Ihr kennt mich doch, mein lieber Freund? Besinnt Euch. Dies ist keine Beschäftigung, die für Euch paßt. Nehmt Eure Gedanken zusammen, Freund.«

Nichts konnte ihn bewegen, weiterzusprechen. Er schaute, wenn man ihn dazu aufforderte, für einen Augenblick auf, aber keine Überredung war imstande, ihm ein weiteres Wort zu entlocken. Er arbeitete, arbeitete und arbeitete schweigend, und Worte machten auf ihn denselben Eindruck, als wären sie in die Luft oder gegen eine echolose Wand gesprochen. Den einzigen Hoffnungsstrahl glaubte Mr. Lorry in dem Umstand zu entdecken, daß er bisweilen verstohlen aufsah, ohne daß er gefragt wurde. Es schien darin wenigstens ein Ausdruck von Neugierde oder Verlegenheit zu liegen, als versuche er, mit einigen Zweifeln in seinem Geist zurechtzukommen.

Zwei Dinge schienen Mr. Lorry zunächst von besonderer Wichtigkeit zu sein, erstlich, man müsse den Sachverhalt vor Lucie, und zweitens, man müsse ihn vor allen geheimhalten, die den Doktor kannten. Zu Ausführung der letzteren Vorsichtsmaßregel tat er ohne Säumen gemeinschaftlich mit Miß Proß die geeigneten Schritte, indem er aussprengen ließ, daß Mr. Manette unwohl sei und einige Tage völliger Ruhe bedürfe. Um die wohlwollende Täuschung, die an der Tochter geübt werden sollte, zu unterstützen, mußte Miß Proß an sie schreiben, er habe eine Berufung zu einem Kranken erhalten, und sich dabei auf einen angeblich von ihm selbst geschriebenen, aus ein paar hastig hingeworfenen Zeilen bestehenden Brief beziehen, der mit der gleichen Post an sie abgegangen sei.

Diese Maßregeln, die sich für alle Fälle empfahlen, traf Mr. Lorry in der Hoffnung, daß die Geistesirre nur vorübergehend sein werde. Besserte sich’s bald wieder, so hatte er noch etwas anderes im Rückhalt; er wollte sich nämlich auf die beste Art ein sicheres ärztliches Gutachten von dem Zustand des Doktors verschaffen. In letzterer Absicht beschloß er, mit möglichst wenigem Aufsehen ihn persönlich zu überwachen; er traf daher zum erstenmal in seinem Leben Vorkehrungen, um eine Zeitlang von Tellsons wegbleiben zu können, und bezog seinen Posten an dem Fenster in demselben Zimmer.

Nach kurzer Zeit machte er übrigens die Wahrnehmung, daß es schlimmer als nutzlos war, ihn anzureden, da er, wenn man ihm zusetzte, ganz verstört wurde. Er gab deshalb diesen Versuch schon am ersten Tage wieder auf und beschloß, nur sich selbst stets ihm vorzuhalten als stillschweigenden Widerspruch gegen die Halluzination, in der er befangen war oder in die er verfallen wollte. So blieb er denn am Fenster auf seinem Sitz, wo er las und schrieb und in scherzhafter Weise seine Bemerkungen über den freien Platz vor dem Hause machte.

Doktor Manette genoß, was man ihm zu essen und zu trinken reichte, und arbeitete an jenem ersten Tage fort, bis es so dunkel wurde, daß er nichts mehr sah arbeitete sogar eine halbe Stunde länger, als es Mr. Lorry möglich gewesen wäre, zum Lesen oder Schreiben noch etwas zu sehen. Nachdem er sein Werkzeug als für diesen Abend nutzlos beiseite gelegt hatte, stand Mr. Lorry auf und sagte zu ihm:

»Wollt Ihr nicht ausgehen?«

Er schaute in der alten Weise rechts und links vor sich auf den Boden, schaute in der alten Weise auf und wiederholte mit der alten tonlosen Stimme:

»Ausgehen?«

»Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«

Er versuchte nicht, auf diese Frage zu antworten, und sprach auch kein Wort weiter. Aber Mr. Lorry meinte, er sehe, daß der Doktor, während er mit dem Ellenbogen auf den Knien und den Kopf mit den Händen unterstützend im Dunkeln sich vorwärtsbeugte, in irgendeiner nebligen Weise die Frage an sich stelle: »Warum nicht?« Die Schlauheit des Geschäftsmannes erkannte darin einen Vorteil, und er beschloß, ihn festzuhalten.

Miß Proß und er teilten die Nacht in zwei Wachen und beobachteten ihn von Zeit zu Zeit aus dem anstoßenden Zimmer. Er schritt lange auf und ab, eh‘ er sich niederlegte, und als er es endlich tat, versank er bald in Schlaf. Am Morgen stand er zeitig wieder auf und begab sich schnurstracks nach seiner Bank, um wieder zu arbeiten.

An diesem zweiten Tage grüßte ihn Mr. Lorry heiter bei seinem Namen und redete mit ihm über Dinge, die ihm in der letzten Zeit gut bekannt gewesen waren, es erfolgte aber keine Antwort darauf, obschon man sah, daß er hörte, was man sagte, und daß er, wennschon in wirrer Weise, über das Gesprochene nachdachte. Dies ermutigte Mr. Lorry, Miß Proß des Tages öfters mit ihrer Arbeit ins Zimmer kommen zu lassen, bei welcher Gelegenheit sie von Lucie und ihrem dabei anwesenden Vater ruhig und ganz in der gewöhnlichen Weise sprachen, als ob alles wie sonst sei. Dies geschah ohne demonstrative Zugaben, weder lang noch oft genug, um ihm damit lästig zu werden, und Mr. Lorrys wohlwollendes Herz fühlte sich glücklich in der vermeintlichen Wahrnehmung, daß er öfter aufschaue und daß ihm gelegentlich die Disharmonie seiner Umgebung mit seinem Treiben aufzufallen schien.

Als es dunkel wurde, fragte ihn Mr. Lorry wieder wie früher:

»Lieber Doktor, wollt Ihr nicht ausgehen?«

Und wie früher wiederholte er:

»Ausgehen?«

»Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«

Diesmal tat Mr. Lorry, als gehe er nach verweigerter Antwort allein aus; er blieb eine Stunde fort und kehrte dann wieder zurück. In der Zwischenzeit hatte der Doktor den Sitz am Fenster eingenommen: er saß da und schaute auf die Platane hinunter. Wie aber Mr. Lorry wieder eintraf, schlich er nach seiner Bank zurück.

Die Zeit entschwand sehr langsam, und Mr. Lorrys Hoffnungen verdüsterten sich mehr und mehr. Das Herz wurde ihm mit jedem Tage schwerer. Der dritte kam und ging, der vierte, der fünfte. Fünf Tage, sechs Tage, sieben Tage, acht Tage, neun Tage.

Mit immer trüberen Hoffnungen und immer schwerer werdendem Heizen verbrachte Mr. Lorry diese angstvolle Zeit. Das Geheimnis blieb bewahrt, und die nichts ahnende Lucie war glücklich; aber es konnte ihm nicht entgehen, daß der Schuhmacher, dessen Hand anfangs außer Übung gewesen, eine schreckliche Geschicklichkeit gewann, und daß er nie so sehr sich auf seine Arbeit erpicht gezeigt, seine Finger sich nie so gewandt und hurtig erwiesen hatten als in dem Zwielicht des neunten Abends.

Der ehrliche Gewerbsmann


Der ehrliche Gewerbsmann

Wenn Mr. Jeremias Cruncher mit seinem greulichen Zwerge neben sich in der Fleetstraße auf seinem Schemel saß, so sah er jeden Tag eine Menge der verschiedensten Gegenstände vor seinen Augen vorüberziehen. Und wer konnte auch irgendwo in der Fleetstraße während der geschäftigen Stunden des Tages seinen Platz haben, ohne stetig von zwei endlosen Prozessionen geblendet und betäubt zu werden, von denen eine westwärts der Sonne nach und die andere ostwärts der Sonne entgegenzog?

Seinen Strohhalm im Munde, betrachtete Mr. Cruncher die beiden Ströme gleich dem heidnischen Bauern, der vor Jahrhunderten die Obliegenheit hatte, einen Strom zu überwachen, nur mit dem Unterschiede, daß Jerry sich keine Aussicht machte, seine beiden je versiegen zu sehen. Es wäre dies auch keineswegs eine hoffnungsvolle Erwartung gewesen, sofern ein kleiner Teil seines Einkommens darin bestand, daß er furchtsame Weiber, meist schmuck herausgeputzte Personen, die die Hälfte des Lebens bereits hinter sich hatten, von der Tellsonschen Seite nach dem andern Ufer hinüberlotste. So kurz auch ein solcher Verkehr in dem einzelnen Falle war, versäumte doch Nr. Cruncher nie, sich für die Dame in einem Grade zu interessieren, daß er gegen sie den lebhaften Wunsch ausdrückte, es möchte ihm die Ehre zuteil werden, auf ihre Gesundheit zu trinken. Und mit den Gaben, die ihm zur Erfüllung dieser wohlwollenden Absicht gereicht wurden, verstärkte er, wie wir eben bemerkten, seine Finanzen.

Es gab eine Zeit, in der an einem öffentlichen Platze ein Dichter auf einem Schemel saß und angesichts der Menschen sich seine Gedanken machte. Mr. Cruncher saß auch an öffentlichem Platze auf einem Schemel; da er aber kein Dichter war, so dachte er so wenig wie möglich und schaute nur umher.

So war er auch zu einer Zeit beschäftigt, als die Menschenmassen spärlicher, der verspäteten Damen immer weniger wurden und seine Angelegenheiten sich im allgemeinen auf so wenig prosperierendem Fuße befanden, daß in seiner Brust der lebhafte Verdacht erwachte, Mrs. Cruncher müsse wieder aufs entschiedenste hingefallen sein. Da fügte sich’s denn, daß ein ungewöhnliches Gedränge nach Westen, das sich die Fleetstraße herunter bewegte, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Seine Blicke in diese Richtung entsendend, machte er die Wahrnehmung, daß eine Art Leichenzug einherkam, und daß der Lärm, der ihn begleitete, von protestierenden Volksmassen herrührte.

»Junger Jerry«, sagte Mr. Cruncher, sich an seinen Sprößling wendend, »’s ist eine Leiche.«

»Hurra, Vater!« rief der junge Jerry.

Der junge Gentleman stieß diesen jubelnden Ton mit geheimnisvoller Bedeutung aus; der alte aber nahm ihn so übel, daß er die Gelegenheit ersah, dem wackern Jüngling eine Ohrfeige zu geben.

»Was soll das heißen? Warum krakeelst du so, und was willst du deinem Vater damit sagen, du junger Rüpel? Der Bub wird mir allmählich zuviel«, sagte Mr. Cruncher, ihn vom Kopfe bis zu den Füßen betrachtend. »Ja, wohl da Hurra! Laß mich das nicht wieder hören, oder du sollst’s zu fühlen kriegen. Hast du mich verstanden?«

»Ich hab’s nicht bös gemeint«, versicherte der junge Jerry, den getroffenen Teil reibend.

»Das will ich hoffen, denn mit deinen Tücken kämst du mir übel an«, sagte Mr. Cruncher. »Da, steig‘ auf diesen Sitz hinauf und schau‘ mir nach den Leuten.«

Sein Sohn gehorchte. Das Gewühl kam näher. Man lärmte und zischte um einen unscheinbaren Trauerwagen und um eine unscheinbare Trauerkutsche her, in der nur ein einziger Leidtragender mit den für die Würde seiner Stellung unerläßlich scheinenden, schwarzen Florbehängen saß. Die Stellung gefiel ihm übrigens, wie man wohl sehen könnte, nicht sonderlich: denn es sammelte sich um die Kutsche immer mehr Pöbel, der Grimassen gegen ihn schnitt, spottete, zischte und ihm nebst vielen andern Komplimenten, die zu zahlreich und saftig für die Wiederholung sind, unablässig den Ehrentitel »Spion« zurief.

Leichenbegängnisse hatten für Mr. Cruncher stets eine merkwürdige Anziehungskraft besessen: er strengte immer alle seine Sinne an und geriet in Aufregung, wenn ein Leichenzug an Tellsons vorbeikam. Die Aufregung war natürlich um so größer, wenn ei von einem ungewöhnlichen Gefolge begleitet wurde, und unser Ehrenmann fragte daher den ersten besten, der gegen ihn anrannte:

»Was gibt’s da, Bruder? Was treibt man?«

»Ich weiß nicht«, versetzte der Mann. »Y-ha! Spion!«

Er fragte einen andern: »Wer ist’s?«

»Weiß nicht«, entgegnete der Gefragte, schlug aber gleichwohl die Hände zusammen und schrie aus Leibeskräften: »Y-ha! Spion! Y-ha! Spion!«

Endlich kugelte einer, der besser über das Nähere des Vorgangs unterrichtet war, gegen ihn an, und von diesem erfuhr Mr. Cruncher, daß das Leichenbegängnis einem gewissen Robert Cly galt.

»War der ein Spion?« fragte Cruncher.

»Old-Bailey-Spion«, erwiderte der Auskunftgeber. »Joho! Y-ha! Old-Bailey-Spi-i-on!«

»Der Tausend, ja«, rief Jerry, sich der Gerichtsverhandlung erinnernd, der er beigewohnt hatte. »Ich hab‘ ihn gesehen. Er ist also tot?«

»Tot wie eine Hammelkeule«, entgegnete der andere, »und kann nicht tot genug sein. Holt sie heraus da! Spione! Heraus mit ihnen! Spione!«

Diese Idee erschien bei der vorherrschenden Abwesenheit einer Idee überhaupt so annehmbar, daß die Menge sie mit Begier aufgriff: sie wiederholte das »Heraus!« so laut und bedrängte die beiden Fuhrwerke so sehr, daß sie nicht mehr weiter konnten. Man riß den Kutschenschlag auf, der einzige Leidtragende fiel von selbst heraus und befand sich für einen Augenblick in den Händen des Pöbels: er war jedoch so hurtig und wußte seine Zeit so gut zu benutzen, daß er im nächsten Augenblicke schon eine Nebenstraße hinaufeilte, nachdem er seinen Mantel, seinen Hut, seinen langen Hutflor, das weiße Taschentuch und anderes symbolisches Trauerzubehör im Stiche gelassen hatte.

Das Volk riß diese Hinterlassenschaft in Stücke und streute sie mit wilder Lust weit und breit umher, während die Gewerbsleute hastig ihre Buden schlössen; denn in jenen Zeiten war ein Pöbelhaufen ein gefürchtetes Ungeheuer und durch nichts zu halten. Man hatte sich bereits bis zum Öffnen des Wagens und Herunternehmen des Sarges verstiegen, als mit einem Male ein genialerer Geist den Vorschlag machte, man solle den Leichnam unter schallendem Jubel an den Ort seiner Bestimmung bringen. Praktische Andeutungen waten gewiß sehr am Platze, und so fand auch diese eine beifällige Aufnahme. Im Nu hatten acht Mann das Innere und ein Dutzend das Äußere der Kutsche eingenommen, während sich so viele, als nur immer hinaufgingen, auf das Dach des Leichenwagens setzten. Unter den erstgenannten Freiwilligen befand sich Jerry Cruncher selbst, der seinen spießigen Kopf bescheiden gegen eine Wahrnehmung von Tellsons aus in der hintersten Ecke der Trauerkutsche schützte.

Die diensttuenden Leichenbesorger erhoben zwar einige Einwendungen gegen diesen Wechsel in der Zeremonie, bestanden aber nicht lange darauf, denn der Fluß lag in beunruhigender Nähe, und einige Stimmen ließen die Andeutung fallen, daß ein kaltes Bad ein sehr wirksames Mittel sei, um widerspenstige Personen zur Vernunft zu bringen. Der umgemodelte Zug brach auf mit einem kutschierenden Schornsteinfeger auf dem Bock des Leichenwagens, während der Kutscher überwachend ihm zur Seite saß; in gleicher Weise vertrat den Dienst der Leitung ein von dem ordentlichen Kutscher unterstützter Pastetenbäcker auf der Trauerkutsche. Ein Bärenführer, damals ein populärer Straßencharakter, wurde, noch eh‘ der Zug den Strand erreicht hatte, als Zierobjekt in den öffentlichen Dienst gepreßt, und der Bär, der schwarz und sehr schäbig war, verlieh dem Teile der Prozession, in dem er marschierte, ein echtes und gerechtes Leichenbestattungsaussehen.

So ging unter Biertrinken, Tabakrauchen, Brüllen und karikierten Trauergebärden der unordentliche Zug seines Weges, bei jedem Schritte Zuwachs aufnehmend, während vor ihm her überall die Läden sich schlossen. Sein Bestimmungsort war die alte Sankt-Pankraz-Kirche, weit draußen in den Feldern. Man langte im Laufe der Zeit dort an; die Menge stürmte in den Kirchhof hinein und besorgte in ihrer Art und zu ihrer vollkommenen Zufriedenheit die Beerdigung des verstorbenen Robert Cly.

Nachdem der Tote bestattet war, sah sich die Masse genötigt, sich nach einem andern Zeitvertreib umzusehen, weshalb ein anderer genialer Geist (oder vielleicht der frühere) auf den Einfall kam, Leute, die zufällig vorübergingen, als Old-Bailey-Spione zu bezeichnen und die Volksrache auf sie zu lenken. Demgemäß wurden einige Dutzend harmloser Personen, die vielleicht in ihrem ganzen Leben Old Bailey nie gesehen hatten, hin und her gezerrt und mißhandelt. Der Übergang zu dem Spaße des Fenstereinwerfens und dann zum Plündern der Wirtshäuser war leicht und natürlich. Als endlich nach Ablauf mehrerer Stunden etliche Gartenhäuschen in Trümmern lagen und zur Bewaffnung der kriegerisch gesinnten Gemüter unterschiedliche Hofumzäunungen eingerissen waren, verbreitete sich das Gerücht von der Ankunft der Garden. Vor dieser bedrohlichen Kunde schmolz der Haufen allmählich zusammen. Vielleicht kamen die Garden, vielleicht auch nicht: genug, der Auflauf nahm das gewöhnliche Ende.

Mr. Cruncher hatte sich an den Schlußbelustigungen nicht beteiligt, sondern war auf dem Kirchhofe zurückgeblieben, um mit den Leichenbestattern sich zu unterhalten und ihnen sein Beileid auszudrücken. Der Platz übte einen beruhigenden Einfluß auf ihn. Er besorgte sich aus der nahen Schenke eine Pfeife, rauchte wacker drauf los, sah zu dem Gitter hinein und betrachtete sich wohlbedächtig die Stelle.

»Jerry«, sagte Mr. Cruncher, sich selbst anredend, »du siehst, daß man heute den Cly dort begraben hat, und du weißt aus eigener Anschauung, daß er ein junger, gutgebauter Bursche war.«

Nachdem er seine Pfeife ausgeraucht und noch eine Weile länger seinen Gedanken Gehör geschenkt hatte, trat er den Heimweg an, um vor der Schlußstunde sich wieder auf seinem Posten bei Tellsons zu zeigen. Ob seine Betrachtung über Sterblichkeit eine schlimme Einwirkung auf seine Leber geübt oder ob er vorher schon sich nicht recht wohl gefühlt hatte vielleicht wollte er auch nur einem ausgezeichneten Mann eine kleine Aufmerksamkeit erweisen; kurz, er machte unterwegs einen kleinen Besuch bei seinem ärztlichen Ratgeber, einem Chirurgen von hohem Ruf.

Der junge Jerry tröstete mit pflichtschuldiger Teilnahme seinen Vater und meldete, daß in seiner Abwesenheit kein Geschäft vorgekommen sei. Die Bank wurde geschlossen: die alten Kontoristen kamen heraus; es wurde die gewöhnliche Wache bestellt, und Mr. Cruncher begab sich mit seinem Sohn nach Hause zum Tee.

»Ich weiß jetzt, wo es steckt«, sagte Mr. Cruncher beim Eintreten zu seiner Frau. »Wenn mir, einem ehrlichen Geschäftsmann, heute nacht mein Ausgang mißglückt, so kann ich überzeugt sein, daß du gegen mich gebetet hast, und ich werde dich dafür so gut bearbeiten, als ob ich mit eigenen Augen zugesehen hätte.«

Die verzagte Mrs. Cruncher schüttelte den Kopf.

»Was, das tust du angesichts meiner?« rief Cruncher mit den Zeichen unwilliger Besorgnis.

»Ich sage ja nichts.«

»Gut: aber du sollst auch nichts denken. Du könntest mir ebensogut umfallen wie denken: denn das eine wie das andere geht gegen »mich. Ich sag‘ dir, laß es bleiben.«

»Ja, Jerry.«

»Ja, Jerry«, wiederholte Mr. Cruncher, sich zum Tee niedersetzend. »Es ist mir ernst, und darum kein Wort mehr. Du hast Ursache, zu sagen: Ja, Jerry.«

Mr. Cruncher hatte keine besondere Absicht bei dieser zänkischen Bekräftigung, sondern bediente sich ihrer nur, um, wie dies häufig von den Leuten geschieht, im allgemeinen eine ironische Unzufriedenheit kundzugeben. ,

»Du mit deinem Ja, Jerry«, sagte Mr. Cruncher indem er ein Stück aus seinem Butterbrot biß. »Ah, ich kann mir’s denken glaub’s wohl.«

»Du gehst heute nacht aus?« fragte sein anständiges Weib, als er abermals einen Biß tat.

»Ja.«

»Darf ich mitgehen, Vater?« fragte sein Sohn hastig.

»Nein, du darfst nicht. Ich gehe fischen, wie deine Mutter weiß. Ja, das ist der Zweck meines Ausgangs. Fischen.«

»Dein Fischzeug ist ziemlich rostig, nicht wahr, Vater?«

»Das kann dir gleichgültig sein.«

»Bringst du auch Fische nach Hause, Vater?«

»Wenn’s nicht geschieht, wird’s morgen schmale Kost geben«, versetzte der Ehrenmann mit Kopfschütteln. »Du hast doch jetzt genug gefragt. Ich werde erst ausgehen, nachdem du längst im Bett bist.«

Er beschäftigte sich für den Rest des Abends damit, daß er ein äußerst wachsames Auge auf Mrs. Cruncher hielt und sie durch stetiges Zanken hinderte, auch nur in Gedanken zu seinem Nachteil zu beten. In dieser Absicht drängte er auch seinen Sohn, seine Mutter stets im Atem zu halten, und die unglückliche Frau hatte schwer darunter zu leiden; denn Mr. Cruncher zog lieber jede Kleinigkeit an den Haaren herbei, um ihr Vorwürfe zu machen, als daß er ihr nur einen Augenblick Zeit zum Nachdenken gelassen hätte. Selbst der frömmsten Person wäre es unmöglich gewesen, der Wirksamkeit eines ehrlichen Gebetes tiefere Anerkennung zu zollen, als durch dieses Mißtrauen gegen das arme Weib geschah. Geradeso sieht man oft entschiedene Gespensterleugner durch eine Geistergeschichte in Zittern geraten.

»Und wohlgemerkt, keine Possen morgen«, sagte Mr. Cruncher. »Wenn es mir als einem ehrlichen Geschäftsmann gelingt, eine Hammelkeule oder zwei heimzubringen, so laß mich nicht hören, daß du nichts davon anrühren, sondern bei deinem Brot bleiben wollest. Und wenn ich als ehrlicher Geschäftsmann imstande bin, mir ein bißchen Bier kommen zu lassen, so schwatze mir nicht von Wasser. Wer in Rom ist, muß tun, wie man in Rom tut. Und tust du’s nicht, so wird dir Rom sauber über den Kopf fahren. Ich bin dein Rom, das weißt du.«

Und dann begann er wieder zu brummen:

»Kommst mir da immer mit deinem abgesonderten Essen und Trinken! Ich möchte nur wissen, wie du hier zu Essen und Trinken kommen wolltest mit deinem heuchlerischen Wesen und deinem gefühllosen Benehmen. Schau deinen Buben an gehört er nicht dir? Er ist so dünn wie ein Span. Du willst dich eine Mutter nennen und weißt nicht einmal, daß es die erste Pflicht einer Mutter ist, ihr Kind zum Wachsen zu bringen.«

Dies berührte bei dem jungen Jerry eine zarte Seite. Er beschwor seine Mutter, ihre erste Pflicht zu erfüllen und, was sie auch sonst darüber vernachlässigen mochte, besonders die Vollziehung der mütterlichen Pflicht sich angelegen sein zu lassen, auf die der Vater so liebevoll und fein hingedeutet hatte. So entschwand der Abend ln der Familie Cruncher, bis endlich der junge Jerry die Weisung erhielt, zu Bett zu gehen. An seine Mutter wurde der gleiche Befehl erlassen, dem sie demütig gehorchte. Mr. Cruncher kürzte sich die früheren Stunden der Nacht durch Pfeiferauchen und trat seinen Ausflug erst gegen ein Uhr an. Um diese kleinzahlige gespenstische Stunde erhob er sich von seinem Stuhl, zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete einen Schrein und holte einen Sack, ein Brecheisen von anständiger Größe, ein Seil, eine Kette und anderes derartiges Fischgerät heraus. Nachdem er diese Gegenstände geschickt bei sich versteckt hatte, warf er Mrs. Cruncher einen trotzigen Abschiedsblick zu und ging hinaus.

Der junge Jerry, der nur so getan hatte, als kleide er sich aus, war im Nu wieder aus seinem Bett und hinter dem Vater her. Im Schutz der Dunkelheit folgte er ihm zur Stube hinaus, die Treppe hinunter, in den Hof und auf die Straße. Wegen des Wiedernachhausekommens war ihm nicht bange, denn die Tür stand um der vielen Mietleute willen die ganze Nacht durch offen.

Von dem löblichen Ehrgeiz getrieben, die Kunst und das Geheimnis von seines Vaters ehrlichem Gewerbe zu studieren, ließ der junge Jerry, der sich so nahe, wie seine Augen beieinander standen, an die Häuser und Mauern hielt, seinen geehrten Erzeuger nicht aus dem Auge. Der geehrte Erzeuger steuerte nordwärts und war noch nicht weit gegangen, als sich ihm ein anderer Nachtgeselle anschloß, mit dem er gemeinschaftlich weitertrabte.

Nach einer halbstündigen Wanderung waren sie außer dem Bereiche neugieriger Lampen und der noch neugierigeren Nachtwächter draußen auf einsamer Landstraße. Hier wurde noch ein dritter Fischer aufgelesen, und zwar so in aller Stille, daß der junge Jerry, wenn er abergläubisch gewesen wäre, wohl hätte auf den Gedanken kommen können, daß der zweite Genosse der edlen Kunst sich plötzlich verdoppelt habe.

Die drei gingen weiter, und der junge Jerry folgte ihnen, bis sie unter einer Wegböschung haltmachten, auf der ein niedriges Backsteingemäuer mit einem eisernen Geländer bemerklich wurde. In dem Schatten der Böschung und des Gemäuers stahlen sie sich von der Straße ab, eine Sackgasse hinauf, die durch die acht bis zehn Fuß hohe Mauer begrenzt wurde. Der junge Jerry kauerte in einer Ecke nieder und schaute die Gasse hinauf. Der erste Gegenstand, dessen er ansichtig wurde, war sein geehrter Erzeuger, dessen Umrisse scharf gegen einen wässerigen, umwölkten Mond abstachen, wie derselbe hurtig ein eisernes Gittertor hinankletterte. Er war bald hinüber: darauf folgte der Zweite und dann der Dritte. Sie alle langten weich auf dem Boden hinter dem Gitter an und blieben eine Weile liegen, vielleicht, um zu horchen. Dann krochen sie auf Händen und Füßen weiter.

Jetzt war an dem jungen Jerry die Reihe, sich dem Gitter zu nähern, er tat dies mit verhaltenem Atem. Er duckte sich dort wieder in eine Ecke, sah hinein und bemerkte, daß die drei Fischer in dem hohen Grase weiterkrochen. Und alle die Grabsteine es war ein großer Kirchhof schienen wie weiße Gespenster zuzuschauen, und der Kirchturm selbst sah darein wie der Geist eines ungeheuren Riesen. Sie krochen nicht weit, sondern machten bald halt und richteten sich auf. Dann begannen sie zu fischen.

Anfangs fischten sie mit einem Spaten. Dann gewann es den Anschein, als setze der geehrte Erzeuger ein Instrument von der Gestalt eines großen Korkziehers an. Welcher Art indes die Werkzeuge sein mochten, die Leute arbeiteten mit allem Eifer, bis der schauerliche Schlag der Kirchenuhr den jungen Jerry so erschreckte, daß er mit einem Haar, so steif wie das seines Vaters, von dannen floh.

Aber der lang gehegte Wunsch, von diesen Dingen mehr zu erfahren, hielt ihn nicht nur in seinem Lauf an, sondern lockte ihn sogar wieder zurück. Sie fischten noch beharrlich fort, als er zum zweitenmal zum Gitter hineinsah, schienen aber jetzt etwas an der Angel zu haben. Es ging an ein Schrauben; von unten ließ sich ein ächzender Ton vernehmen, und die schattigen Gestalten strengten sich an, als höben sie eine schwere Last. Allmählich brach sich diese Last durch die Erde und kam an die Oberfläche. Der junge Jerry wußte recht gut, was jetzt kommen mußte; aber als er es wirklich sah und dabei bemerkte, wie sein Vater sich anschickte, es mit dem Stemmeisen aufzubrechen, wandelte ihn bei dem Anblick eine solche Angst an, daß er wieder Reißaus nahm und nicht eher haltmachte, bis er eine schöne Strecke Wegs hinter sich hatte.

Er würde auch dann noch nicht angehalten haben, wenn ihm nicht der Atem ausgegangen wäre; denn sein Rennen war eine Art Wettlauf mit Gespenstern, denen er aus dem Weg zu kommen zitterte. Es war ihm, als habe er gesehen, wie der Sarg ihm nachkam; er stellte sich vor, als hüpfe derselbe hinter ihm her, gerade auf seinem schmäleren Ende sich bewegend und stets auf dem Punkt, ihn einzuholen und an seiner Seite weiterzuhüpfen, vielleicht gar ihn am Arm zu nehmen kurz, es war ein fürchterlicher Verfolger. Dazu noch ein inkonsequenter, überall gegenwärtiger Dämon; denn da der Spuk die ganze Nacht hinter ihm mit Schrecken erfüllte, so stürzte er in die Straße hinaus, um die dunklen Alleen zu vermeiden, fürchtend, das Gespenst möchte wie ein wassersüchtiger Papierdrache ohne Schwanz und Flügel hinter den Bäumen hervor auf ihn zukommen. Auch in den Torwegen versteckte es sich, rieb seine schrecklichen Schultern an den Türpfosten und zog sie, als lache es, bis an die Ohren hinauf. Es versteckte sich im Schatten der Straße und blieb tückisch auf dem Rücken liegen, um ihm ein Bein zu stellen. Und diese ganze Zeit über hüpfte es ohne Unterlaß hart hinter ihm drein, so daß Jerry junior, als er endlich zu Hause anlangte, halbtot zu sein meinte. Ja, selbst da wollte es noch nicht von ihm ablassen, sondern es folgte ihm mit einem Gepolter auf jeder Stufe die Treppe hinauf, stieg mit ihm ins Bett hinein und plumpste schwer und tot ihm auf die Brust, bis er endlich einschlief.

Aus diesem angstvollen Schlummer wurde der junge Jerry in seinem Alkoven nach Tagesanbruch und vor Sonnenaufgang durch die Anwesenheit seines Vaters in dem Familienzimmer geweckt. Diesem mußte etwas nicht nach Wunsche gegangen sein; so schloß wenigstens der junge Jerry aus dem Umstand, daß der Alte Mrs. Cruncher an den Ohren hatte und ihr den Hinterkopf an dem Kopfbrett ihres Bettes zerbeulte.

»Ich hab‘ dir’s gesagt, ich wolle«, sagte Mr. Cruncher; »und jetzt hast du’s.«

»Jerry, Jerry, Jerry«, rief sein Weib flehentlich.

»Du hast ein Aber gegen den Profit des Geschäfts«, sagte Jerry, »und darunter haben ich und meine Kameraden zu leiden. Du sollst ehren und gehorchen warum zum Teufel tust du’s nicht?«

»Ich gebe mir ja alle Mühe, eine gute Frau zu sein«, versicherte die Arme unter Tränen.

»Ist man eine gute Frau, wenn man sich dem Geschäfte des Mannes widersetzt? Heißt es den Mann ehren, wenn man sein Gewerbe verachtet? Heißt es dem Manne gehorchen, wenn man ihm den Gehorsam verweigert in der Lebensfrage seines Geschäftes?«

»Du hast also wieder zu dem schrecklichen Gewerbe gegriffen, Jerry?«

»Für dich ist es genug«, versetzte Mr. Cruncher, »das Weib eines ehrlichen Geschäftsmanns zu sein, und du hast nicht nötig, deinen Weiberkopf mit Berechnungen anzustrengen, wenn er einem Beruf nachgeht oder nicht. Ein Weib, das ehrt und gehorcht, läßt ihn gewähren. Du willst eine fromme Frau sein? Wenn die religiösen so sind, so will ich lieber eine unreligiöse. Du hast so wenig ein natürliches Gefühl für deine Pflicht, als es dieses Themsebett da für einen Pfahl hat, und sie muß deshalb gleichermaßen in dich hineingeschlagen werden.«

Der Streit wurde mit gedämpfter Stimme geführt und endigte damit, daß der ehrliche Geschäftsmann die kotigen Stiefel vom Fuß schleuderte und der Länge nach sich auf den Boden legte. Nachdem sein Sohn einen scheuen Blick nach ihm, wie er so rücklings dalag mit den rostigen Händen als Kissen unter dem Kopfe, hingeworfen hatte, legte auch er sich wieder und schlief aufs neue ein.

Zum Frühstück gab es keinen Fisch und auch nicht viel anderes. Mr. Cruncher war verstimmt und mißmutig und hielt stets einen eisernen Topfdeckel in der Nähe als Korrektionsgeschoß für Mrs. Cruncher, im Falle sie Miene machte, ihren Morgensegen zu sprechen oder zu denken. Zu der gewohnten Stunde hatte er sich gewaschen und gekämmt und machte sich mit seinem Sohne auf den Weg, um seinen vorweisbaren Beruf anzutreten.

Der junge Jerry, der mit seinem Schemel unter dem Arm neben seinem Vater in dem Gedränge der sonnigen Fleetstraße dahinschritt, war ein ganz anderer junger Jerry als in der letzten Nacht, solange er durch Einsamkeit und Dunkel vor seinem schrecklichen Verfolger her nach Hause lief. Sein Geist hatte sich mit dem Tage aufgefrischt, und die Nebel waren mit der Nacht vergangen, eine Eigentümlichkeit, in der er an jenem schönen Morgen viele seinesgleichen hatte, in der Fleetstraße sowohl wie in der Stadt London überhaupt. »Vater«, sagte der junge Jerry unterwegs, indem er zugleich Sorge trug, sich auf Armeslänge fernzuhalten und den Schemel zwischen sich und den Alten zu bringen, »was ist ein Auferstehungsmann?«

Mr. Cruncher blieb wie auf das Pflaster gebannt stehen, ehe er antwortete:

»Wie soll ich dies wissen?«

»Ich dachte, du wüßtest alles, Vater«, lautete die arglose Erwiderung des Knaben.

»Hm! Nun«, entgegnete Mr. Cruncher, den Weg wieder aufnehmend und den Hut lüpfend, um seinen Spießen freies Spiel zu lassen, »er ist ein Geschäftsmann.«

»Und was erwirbt er?« fragte der schlaue junge Jerry.

»Was er erwirbt?« versetzte Mr. Cruncher nach einigem Besinnen. »Er handelt mit wissenschaftlichen Gegenständen.«

»Nicht wahr, mit Leichnamen, Vater?« fragte der aufgeweckte Knabe.

»Ich glaube, es ist etwas der Art«, antwortete Mr. Cruncher.

»Oh, Vater, ich möchte wohl auch ein Auferstehungsmann werden, wenn ich einmal groß bin.«

Mr. Cruncher fühlte sich beruhigt, schüttelte aber doch bedenklich und moralisierend den Kopf.

»Es hängt davon ab, wie du deine Talente entwickelst. Laß dir’s angelegen sein, deine Talente auszubilden, und sprich von solchen Dingen gegen niemand mehr, als gerade notwendig ist; denn vorderhand kann man noch nicht wissen, für was du mit der Zeit passen magst.«

Als der junge Jerry, in solcher Weise ermutigt, einige Schritte vorausging, um den Schemel in den Schatten der Bar aufzustellen, fügte Mr. Cruncher für sich selbst hinzu:

»Jerry, ehrlicher Geschäftsmann, es ist Hoffnung vorhanden, daß der Knabe noch ein Segen für dich und ein Ersatz werden wird für seine Mutter!«

Fünfzehntes Kapitel. Strickzeug.


Fünfzehntes Kapitel. Strickzeug.

Es gab früher als gewöhnlich Gäste in Monsieur Defarges Weinstube. Schon morgens um sechs Uhr hatten bleiche Gesichter, die durch die vergitterten Fenster hineinschauten, drinnen andere Gesichter bemerkt, die sich über ihre Weingläser niederbeugten. Selbst in den besten Zeiten verkaufte Monsieur Defarge nur sehr dünnen Wein, aber er schien eben jetzt ganz ungewöhnlich dünn zu sein. Ein saurer Wein obendrein, oder ein sauer machender, denn er übte auf die Stimmung der Trinker einen gar trüben Einfluß. Keine lebhafte barchanalische Flamme loderte aus der gepreßten Traube des Monsieur Defarge, sondern ein glostendes Feuer, das im verborgenen brannte, lag in ihrer Hefe verborgen. Es war der dritte Morgen dieser Frühtrunke in Monsieur Defarges Weinstube. Sie hatten am Montag begonnen, und heute war es Mittwoch. Man konnte es übrigens eher ein Morgenbrüten nennen als ein Trinken; denn seit die Tür geöffnet worden, hatten viele Leute zugehört, geflüstert und waren wieder fortgeschlichen, die, selbst wenn es ihren Seelen gegolten, keine Münze auf den Zahltisch hätten legen können. Sie waren jedoch in der Stube ebenso angesehen, wie wenn sie über ganze Fässer Wein zu verfügen vermocht hätten, und man sah sie von Sitz zu Sitz, von einer Ecke zur andern gleiten, wie sie mit gierigen Blicken statt des Trunks die Reden einsogen.

Ungeachtet des außerordentlichen Zulaufs von Gästen war der Inhaber des Weinschanks nicht sichtbar. Er wurde auch nicht vermißt; denn niemand von denen, die über die Schwellen schritten, sah sich nach ihm um oder fragte nach ihm. Niemand wunderte sich, daß nur Madame Defarge die Abgabe des Weines von ihrem Sitze aus überwachte, mit einem Teller voll Kleingeld vor sich, auf dem das ursprüngliche Gepräge so entstellt und abgerieben war wie auf der menschlichen Scheidemünze, aus deren zerlumpten Taschen es gekommen war.

Ein zurückhaltendes Interesse und eine vorherrschende Geistesabwesenheit wurde vielleicht bemerkt von den Spionen, die in die Weinstube hineinschauten; denn ihre Blicke reichen überall hin nach Hoch und Nieder, von dem Palaste des Königs an bis zu dem Kerker des Verbrechers. Die Spielkarten lagen müßig, Dominospieler bauten in Gedanken mit den Steinen Türme, Trinker zeichneten mit dem verschütteten Wein Figuren auf den Tisch, ja, sogar Madame Defarge stocherte mit ihrem Zahnstocher in dem Muster auf ihrem Ärmel und achtete nur auf etwas Unsichtbares und Unhörbares in weiter Ferne.

Saint Antoine verblieb in dieser eigentümlichen Weinlaune bis zum Mittag. Es war um die zwölfte Stunde, als zwei staubige Männer durch die Gassen der Vorstadt unter den Laternen vorbeikamen. In dem einen erkennen wir Monsieur Defarge, in dem andern einen Straßensteinschläger mit einer blauen Mütze. Voll Staub und Durst traten sie in die Weinstube. Ihre Ankunft hatte in der Brust von Saint Antoine eine Art Feuer angezündet, das, je weiter sie kamen, mehr und mehr um sich griff und an den meisten Türen und Fenstern in den Gesichtern flackernd hervorloderte. Aber niemand war ihnen gefolgt, und niemand ließ ein Wort verlauten, als sie in die Weinstube traten, obschon jedes Auge sich ihnen zuwandte.

»Guten Tag, meine Herren«, sagte Monsieur Defarge.

Dies war, scheint es, ein Signal, das allen die Zunge löste, denn es entlockte die Antwort im Chor: »Guten Tag.«

»Es ist schlimmes Wetter, meine Herren«, sagte Defarge den Kopf schüttelnd.

Hierauf sah jeder seinen Nachbar an; dann schlugen alle ihre Augen nieder und blieben stumm sitzen. Ein einziger machte davon eine Ausnahme; er stand auf und verließ das Zimmer.

»Frau«, sagte Defarge laut, sich an Madame Defarge wendend, »ich bin eine schöne Strecke gereist mit diesem wackeren Knecht, der Jacques heißt. Ich traf ihn zufällig anderthalb Tagmärsche von Paris. Er ist ein guter Mensch, dieser Knecht Jacques. Gib ihm zu trinken, Frau.«

Ein zweiter Mann stand auf und ging hinaus. Madame Defarge setzte dem Knecht namens Jacques Wein vor, worauf dieser gegen die Gesellschaft seine blaue Mütze lüftete und trank. Er zog aus der Brust seiner Bluse ein Stück rauhen, schwarzen Brotes heraus, brach sich in Zwischenräumen einen Bissen und kaute und trank in der Nähe von Madame Defarges Zahltisch. Ein Dritter stand auf und ging hinaus.

Defarge labte sich mit einem Schlucke Wein, genoß indes weniger, als es dem Fremden gereicht worden, da ihm als dem Hausherrn das Getränk keine Seltenheit war; dann blieb er wartend stehen, bis der Mann vom Lande seinen Imbiß gegessen hatte. Er sah von den Anwesenden niemand an, und auch von diesen hatte niemand ein Auge für ihn, nicht einmal Madame Defarge, die eifrig in ihrem Stricken fortfuhr.

»Seid Ihr fertig mit Eurem Mahle, Freund?« fragte er, nachdem er dem Fremden gehörig Zeit gelassen hatte.

»Ja; ich danke Euch.«

»So kommt. Ihr sollt das Gemach sehen, das Ihr, wie ich Euch sagte, haben könnt. Es wird Euch gewiß gut gefallen.«

Aus der Weinstube auf die Straße, von der Straße in den Hof, von dem Hofe eine steile Treppe hinan, von der Treppe in ein Dachstübchen früher das Dachstübchen, in dem ein weißhaariger Mann auf einer niedrigen Bank vorwärts gebeugt saß und Schuhe anfertigte.

Es war kein weißhaariger Mann mehr da, wohl aber harrten darin die drei, die einzeln die Schenkstube verlassen hatten. Und zwischen ihnen und dem in weiter Ferne sich befindenden grauhaarigen Manne bestand das einzige kleine Verbindungsglied, daß sie ihn einmal durch die Risse in der Mauer gesehen hatten.

Defarge schloß sorgfältig die Tür und begann mit gedämpfter Stimme:

»Jacques Eins, Jacques Zwei, Jacques Drei, dies ist der Zeuge, der mir, dem Jacques Vier, infolge der Verabredung, entgegengekommen ist. Er wird euch alles sagen. Sprecht, Jacques Fünf.«

Der Knecht, der seine blaue Mütze in der Hand hatte, wischte sich die braune Stirn damit und sagte:

»Wo soll ich anfangen, Herr?«

»Fangt von vorn an«, lautete Monsieur Defarges nicht unvernünftige Erwiderung.

»Gut, ihr Herren«, begann der Knecht: »ich sah ihn, laufenden Sommer ist’s ein Jahr, unter der Kutsche des Marquis, wie er in der Kette hing. Schaut, wie das war. Ich hatte meiner Arbeit den Rücken gekehrt, die Sonne ging unter, die Kutsche des Marquis fuhr langsam bergan, und er hing in der Kette so.«

Und der Knecht machte wieder das alte Kunststück, in dem er es seitdem zu einer großen Vollkommenheit gebracht haben mußte, da es während eines ganzen Jahres die unfehlbare und unentbehrliche Unterhaltungszuflucht seines Dorfes gewesen war.

Jacques Eins fiel ein und fragte, ob er den Mann je zuvor gesehen habe.

»Nie«, antwortete der Knecht, indem er wieder eine lotrechte Stellung annahm.

Jacques Drei wollte wissen, wie er ihn nachher wiedererkannt habe.

»An seiner langen Gestalt«, versetzte der Knecht halblaut, indem er den Finger an seine Nase legte. »Als Monsieur le Marquis an jenem Abend zu mir sagte: Sag‘, wie er aussah, gab ich ihm zur Antwort: Lang wie ein Gespenst«

»Ihr hättet sagen sollen, klein wie ein Zwerg«, bemerkte Jacques Zwei.

»Was wußte ich? Die Tat war damals noch nicht geschehen, und er hatte mich nicht zu seinem Vertrauten gemacht. Auch muß ich bemerken, daß ich selbst unter den obwaltenden Verhältnissen nicht mein Zeugnis anbot. Monsieur le Marquis deutet mit dem Finger auf mich, während ich neben unserem kleinen Brunnen stehe, und sagt: Bringt mir diesen Schurken her. Wahrhaftig, meine Herren, ich hab‘ nicht aus freien Stücken gezeugt.«

»Es ist so, Jacques«, bemerkte Defarge halblaut gegen den Mann, der ihn unterbrochen hatte. »Weiter.«

»Gut«, sagte der Knecht mit geheimnisvoller Miene. »Der lange Mensch verschwindet und wird gesucht wie viele Monate? Neun, zehn, elf?«

»Was liegt an der Zahl?« versetzte Defarge. »Er war gut verborgen, wurde aber zuletzt unglücklicherweise aufgefunden. Fahrt fort.«

»Ich bin wieder an dem Bergabhang bei meinem Steinhaufen, und die Sonne ist wieder am Untergehen. Ich nehme mein Werkzeug zusammen, um nach dem Dorfe und in mein Häuschen zurückzukehren, das schon im Dunkeln liegt. Wie ich meine Augen aufrichte, seh‘ ich über den Berg her sechs Soldaten kommen. In ihrer Mitte geht ein Mann, dem die Arme an die Seiten gebunden sind so.«

Mit Hilfe der unentbehrlichen Mütze stellte er einen Menschen dar, dem mit auf dem Rücken zugeknoteten Stricken die Ellenbogen an den Brustkorb befestigt sind.

»Ich trete von meinem Steinhaufen zurück, meine Herren, um die Soldaten und ihren Gefangenen vorbeikommen zu sehen (’s ist ein einsamer Weg, wo alles, was vorkommt, sich des Sehens verlohnt). Wie sie näher kommen, bemerke ich anfangs weiter nichts, als daß es sechs Soldaten sind mit einem gebundenen langen Mann; sie kommen meinem Auge fast schwarz vor, mit Ausnahme der Seite, wo die Sonne untergeht und wo sie einen roten Schein haben. Gut, meine Herren; ich sah, daß ihre langen Schatten über der Wegböschung weg sich an der entfernteren Berganhöhe abmalen und wie die Schatten von Riesen erscheinen. Ferner bemerke ich, daß sie mit Staub bedeckt sind und daß jeder ihrer Schritte, wie sie tramp, tramp einherkommen, neuen Staub aufwühlt. Aber sobald sie mir ganz nahe gekommen sind, erkenne ich den langen Mann, und er erkennt mich. Ach, wie gern wär‘ er wohl wieder über den Abhang hinuntergekugelt wie an dem Abend, als ich ihm fast an demselben Platz zum erstenmal begegnete.«

Er beschrieb es, als ob sie dort wären, und es war sichtbar, daß er es lebhaft vor Augen hatte; vielleicht war ihm in seinem Leben nicht viel zu Gesicht gekommen.

»Ich lasse die Soldaten nicht merken, daß ich den langen Mann kenne; und auch er gibt kein Zeichen, daß er mich erkannt hat; wir aber verständigen uns durch die Augen. Vorwärts! sagt der Führer der Abteilung und deutet auf das Dorf; macht, daß er zu seinem Grabe kommt. Und sie treiben ihn schneller an. Ich folge. Seine Arme sind geschwollen wegen der festen Bande; seine hölzernen Schuhe sind plump und schwer, so daß er kaum gehen kann. Weil es nun nicht recht vorwärts will, so helfen sie mit den Gewehren nach so.«

Er veranschaulichte das Vorwärtstreiben des Gefangenen durch Stöße mit den Musketenkolben.

»Während sie gleich wettrennenden Tollhäuslern den Berg hinabrasen, fällt er. Sie heben ihn wieder auf und lachen. Sein mit Staub bedecktes Gesicht blutet; aber er kann nicht danach hinlangen, und sie lachen wieder darüber. Sie bringen ihn nach dem Dorf; das ganze Dorf läuft zusammen, um ihn zu sehen. Man führt ihn an der Mühle vorbei und nach dem Gefängnis hinauf. Das ganze Dorf sieht, wie in der dunklen Nacht das Gefängnistor sich auftut und ihn verschlingt so.«

Er öffnete den Mund, so weit er konnte, und ließ ihn mit einem klappenden Ton der Zähne wieder zuschnappen. Als Defarge bemerkte, daß der Mann nicht Lust hatte, den gemachten Eindruck durch ein abermaliges Öffnen zu beeinträchtigen, so sagte er zu ihm: »Fahrt fort, Jacques.«

»Das ganze Dorf«, fuhr der Knecht mit gedämpfter Stimme fort, während er zugleich sich auf die Fußspitzen stellte, »zieht sich zurück; das ganze Dorf flüstert bei dem Brunnen; das ganze Dorf schläft; das ganze Dorf träumt von dem Unglücklichen, der auf dem Felsen hinter Schloß und Riegel sitzt und nur wieder aus dem Gefängnis herauskommen soll, um zu sterben. Am Morgen nehme ich mein Werkzeug auf die Schulter und meinen Bissen Schwarzbrot in die Tasche, um ihn unterwegs zu essen, und mache auf meinem Gang zur Arbeit einen Umweg nach dem Gefängnis. Da sehe ich ihn hoch oben hinter dem Gitter eines eisernen Käfigs blutig und staubig wie gestern hervorschauen. Er hat keine Hand frei, um mir zuzuwinken. Ich wage es nicht, ihn anzurufen, und er betrachtet mich mit Augen wie ein toter Mann.«

Defarge und die drei warfen einander finstere Blicke zu. Ihre Mienen waren unheimlich, zurückhaltend und rachgierig, während sie der Geschichte des Landmanns zuhörten; auch ließ sich in ihrer Haltung etwas Gebieterisches nicht verkennen. Sie nahmen sich wie ein roher Gerichtshof aus. Jacques Eins und Zwei saßen auf dem alten Lotterbett und hatten das Kinn auf die Hand gestützt, während ihre Augen unverwandt auf dem Knecht hafteten. Jacques Drei, der ebenso aufmerksam war, stützte sich hinter ihnen auf das eine Knie und fuhr ohne Unterlaß mit der Hand über die in Aufregung spielenden Muskeln seiner Lippen und Nase. Defarge stand zwischen ihnen und dem Erzähler, dem er seinen Platz im Licht des Fensters angewiesen, und ließ seine Blicke von ihm auf die drei und von den dreien wieder auf ihn zurückgleiten.

»Weiter, Jacques«, sagte Defarge.

»Er bleibt einige Tage droben in seinem Käfig. Das Dorf schaut nur verstohlen zu ihm hinauf, denn es fürchtet sich. Aber es betrachtet immer aus der Ferne das Gefängnis auf dem Felsen, und abends, wenn es sich nach vollbrachtem Tagewerk zum Plaudern am Brunnen versammelt, wenden sich alle Augen dem Gefängnis zu. Früher pflegten sie sich auf das Posthaus zu richten, jetzt aber ist der Fels ihr Ziel. Sie flüstern sich am Brunnen zu, obgleich der Mann zum Tode verurteilt sei, werde er doch nicht hingerichtet werden; sie sagen, es seien in Paris Bittschriften eingereicht worden, die auseinandersetzten, der Tod seines Kindes habe ihn geisteskrank gemacht; sie sagen, der König selbst habe eine solche Bittschrift in Empfang genommen. Was weiß ich? Es ist möglich. Vielleicht ja, vielleicht auch nicht.«

»So hört denn, Jacques«, fiel ihm stummer Eins dieses Namens ins Wort. »Eine Bittschrift ist dem König und der Königin wirklich überreicht worden. Wir alle, die wir hier zugegen sind, mit alleiniger Ausnahme von Euch, haben gesehen, wie der König sie in Empfang nahm, als er mit der Königin an seiner Seite durch die Straßen fuhr. Defarge, den Ihr hier seht, war es, der unter Lebensgefahr mit der Schrift in der Hand vor die Pferde hintrat.«

»Und hört weiter, Jacques«, sagte die kniende Nummer Drei mit erstaunlich gieriger Miene, als hungere sie nach etwas, was weder Speise noch Trank war, die Finger wieder und wieder über die Lippen hinführend, »die Garde, Reiter und Fußgänger umgaben den Bittsteller und mißhandelten ihn mit Schlägen. Hört Ihr’s?«

»Jawohl, ihr Herren.«

»Fahrt fort«, sagte Defarge.

»Andererseits munkelt man am Brunnen davon«, fuhr der Landmann fort, »er sei in unsere Gegend gebracht worden, um hier den Tod zu erleiden, und er werde ganz gewiß hingerichtet werden. Ja, man will sogar wissen, weil er Monseigneur umgebracht habe und Monseigneur der Vater seiner Leibeigenen sei, so werde ihn der Tod des Vatermörders treffen. Ein alter Mann sagt am Brunnen, man gebe ihm das Messer in die rechte Hand, haue sie ihm ab und verbrenne sie vor seinen Augen; dann reiße man Löcher in seine Arme, in seine Brust, in seine Beine und gieße kochendes Öl, geschmolzenes Blei, heißes Harz, Wachs und brennenden Schwefel hinein; endlich reiße man ihm mit vier starken Pferden Glied für Glied aus dem Leibe. Der alte Mann sagt, all dies sei wirklich einem Gefangenen geschehen, der einen Versuch auf das Leben des verstorbenen Königs Ludwig des Fünfzehnten machte. Aber wie kann ich wissen, ob er nicht lügt? Ich bin kein Studierter.«

»Hört mich noch einmal an, Jacques«, sagte der Mann mit der unruhigen Hand und der gierigen Miene. »Der Name jenes Gefangenen war Jacques Damíens, und der ganze Vorgang fand bei hellem Tage auf der offenen Straße dieser Stadt Paris statt. Und nichts war merkwürdiger in dem ungeheuren Zusammenlauf der Zuschauer als die Menge von hohen und vornehmen Damen, die kein Auge wandten von dem Schauspiel, solange es dauerte; es wurde nämlich bis in die Nacht hinein verlängert, und der Unglückliche hatte schon zwei Beine und einen Arm verloren, als er immer noch atmete. Dies ist geschehen na, wie alt seid Ihr?«

»Fünfunddreißig«, sagte der Knecht, der wie ein Sechziger aussah.

»Es ist also geschehen, wie Ihr schon über zehn Jahre alt waret. Ihr hättet es selbst noch mit ansehen können.«

»Genug«, sagte Defarge mit grämlicher Ungeduld. »Lang lebe der Teufel! Macht weiter.«

»Nun, die einen munkeln dies, die andern das; sie sprechen von nichts anderem, und selbst der Brunnen scheint in diesen Ton einzufallen. Endlich einmal Sonntags nachts, während das ganze Dorf im Schlaf liegt, kommen Soldaten den Schlangenweg vom Gefängnis herunter, und ihre Schüsse hallen von den Steinen der nahen Straße wieder. Werkleute graben, Werkleute hämmern, die Soldaten lachen und singen, und am Morgen steht neben dem Brunnen ein vierzig Fuß hoher Galgen und vergiftet das Wasser.«

Der Knecht sah eher durch die Decke hindurch als nach ihr hinauf und machte ein Zeichen, als sehe er den Galgen irgendwo am Himmel.

»Alle Arbeit bleibt liegen, alles versammelt sich da, niemand führt die Kühe aus, die Kühe sind da wie alles andere. Um Mittag Trommelwirbel. Soldaten sind während der Nacht ins Gefängnis marschiert, und er kommt in der Mitte vieler Soldaten. Er ist gebunden wie früher, und in seinem Munde steckt ein Knebel, der so fest und in einer Art angebracht ist, daß es fast aussieht, als ob er lache.« Er erläuterte dies damit, daß er mit den Daumen die Mundwinkel bis zu den Ohren zurückzog. »An dem obern Teil des Galgens ist das Messer mit der Klinge aufwärts und der Spitze in der Luft befestigt. Da hängt man ihn vierzig Fuß hoch und läßt ihn hängen und das Wasser vergiften.«

Sie sahen einander an, während er seine blaue Mütze zum Abwischen des Schweißes benutzte, den ihm die Erinnerung an das Schauspiel ausgetrieben hatte.

»Es ist schrecklich, meine Herren. Wie können die Weiber und die Kinder Wasser holen? Wer kann abends unter einem solchen Schatten plaudern? Darunter, habe ich gesagt? Als ich am letzten Montag um Sonnenuntergang das Dorf verließ und von dem Berge aus zurückschaute, fiel der Schatten quer über die Kirche hin, über die Mühle, an dem Gefängnis vorbei, und schien sich über die ganze Erde zu erstrecken, bis dahin, meine Herren, wo das Himmelsgewölbe ist.«

Der Hungrige nagte, während er die andern drei ansah, an einem von seinen Fingern, und die Finger zitterten unter der dem Manne innewohnenden Gier.

»Das ist alles, meine Herren. Ich verließ, wie mir angedeutet worden war, um Sonnenuntergang das Dorf und wanderte selbige Nacht und den halben andern Tag fort, bis ich, wie die Verabredung lautete, diesen Kameraden traf. Mit ihm reiste ich weiter, bald zu Fuß, bald fahrend, den Rest des gestrigen Tages und die ganze Nacht durch. Und nun seht ihr mich.«

Nach einem düsteren Schweigen sagte der erste Jacques:

»Gut: Ihr habt treu gehandelt und erzählt. Wollt Ihr vor der Tür draußen ein bißchen auf uns warten?«

»Recht gern«, versetzte der Knecht.

Defarge führte ihn an den Anfang der Treppe, hieß ihn dort niedersitzen und kehrte zurück. Als er wieder in dem Dachstübchen anlangte, waren die drei aufgestanden und steckten die Köpfe zusammen.

»Wie meinst du, Jacques?« fragte Nummer Eins. »Einzutragen?«

»Einzutragen als zum Untergang verurteilt«, versetzte Defarge.

»Großartig!« krächzte der Mann mit dem Hunger.

»Das Schloß und das ganze Geschlecht?« fragte der Erste.

»Schloß und Geschlecht«, entgegnete Defarge. »Vernichtung.«

Der hungrige Mann wiederholte mit entzücktem Krächzen sein »Großartig« und begann an einem andern Finger zu nagen.

»Seid Ihr gewiß«, fragte Jacques Zwei den Defarge, »daß uns aus der Art, wie das Register geführt wird, keine Verlegenheit erwachsen kann? Ohne Zweifel ist es sicher, da es außer uns niemand zu entziffern imstande ist: aber werden wir immer in der Lage sein, es zu tun oder, wie ich vielmehr sagen sollte, wird sie es immer können?«

»Jacques«, entgegnete Defarge, sich hoch aufrichtend, »wenn es meine Frau auf sich nehmen wollte, das Register nur in ihrem Gedächtnis zu führen, so würde kein Wort, keine Silbe davon verlorengehen; gestrickt aber mit ihren eigenen Maschen und ihren symbolischen Zeichen; ist es ihr stets so klar wie die Sonne. Ihr könnt euch auf Madame Defarge verlassen, für die elendeste Memme, die da lebt, wäre es viel leichter, sich aus dem Buch der Lebendigen zu streichen, als nur einen Buchstaben seines Namens oder seiner Verbrechen aus Madame Defarges gestricktem Register zu tilgen.«

Es folgte darauf ein Gemurmel des Beifalls und des Vertrauens; dann stellte der hungrige Mann die Frage:

»Soll dieser Bauer bald wieder zurückgeschickt werden? Ich hoffe es. Er ist sehr einfältig; könnte er nicht gefährlich werden?«

»Er weiß nichts«, sagte Defarge, »wenigstens nichts weiter, als was ihn leicht an einen Galgen von derselben Höhe bringen könnte. Ich nehm‘ ihn auf mich: laßt ihn bei mir bleiben. Ich will für ihn sorgen und ihm seinen Weg anweisen. Er wünscht die vornehme Welt zu sehen, den König, die Königin, den Hof; so mag er am Sonntag seinen Willen haben.«

»Wie?« rief der Mann mit dem Hunger, die Augen weit aufreißend. »Ist es ein gutes Zeichen, daß er das Königtum und den Adel zu sehen wünscht?«

»Jacques«, sagte Defarge, »bist du klug, so zeigst du einer Katze Milch, wenn du willst, daß sie danach dürsten soll. Bist du klug, so zeigst du einem Hunde seine natürliche Beute, wenn du willst, daß er sie eines Tages erjage.«

Weiter wurde nichts gesprochen, und man riet nun dem Knecht, den man bereits schlafend auf der obersten Treppenstufe fand, daß er ein wenig der Ruhe pflegen solle. Dazu war nicht viel Überredens notwendig; er schlief bald ein.

Für einen derartigen Sklaven aus der Provinz mochte es in Paris leicht schlimmere Quartiere geben als Defarges Weinhaus. Mit Ausnahme einer geheimnisvollen Furcht vor Madame, die ihm keine Ruhe ließ, verbrachte er sein neues Leben recht angenehm. Aber Madame saß den ganzen Tag an ihrem Zahltisch und achtete so merkwürdig wenig auf ihn, ja sie schien so fest entschlossen zu sein, nicht bemerken zu wollen, wie sein Dasein doch keine so ganz oberflächliche Bedeutung habe, daß er in seinen Holzschuhen zitterte, sooft sein Auge auf sie fiel. Denn er machte sich immer Gedanken darüber, wie unmöglich es sei, vorauszusehen, was die Frau zunächst sich herausnehmen werde, und fühlte die Überzeugung, wenn sie sich’s in ihren bunt geschmückten Kopf setzen sollte, zu behaupten, sie sei Zeuge gewesen, wie er einen Mord begangen und hintendrein seinem Opfer die Haut abgezogen habe, so müsse sie unfehlbar ihren Zweck erreichen bis zum vollen Ende des Spiels.

Als daher der Sonntag kam, war der Knecht, obschon er das Gegenteil behauptete, gar nicht erfreut über die Kunde, daß Madame und Monsieur ihn selbst nach Versailles begleiten wollten. Ein anderer verwirrender Umstand war, daß Madame auf dem ganzen Wege in dem offenen Wagen strickte, und am meisten brachte ihn in Verlegenheit, daß sie nachmittags, als sie auf die Kutsche des Königs und der Königin wartete, in dem Menschengewühl keinen Augenblick ihr Strickzeug aus der Hand legte.

»Ihr arbeitet recht fleißig, Madame«, sagte ein Mann in ihrer Nähe.

»Ja«, antwortete Madame Defarge: »ich habe viel zu tun.«

»Was fertigt Ihr, Madame?«

»Allerlei.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel«, erwiderte Madame Defarge schnell besonnen, »Leichentücher.«

Der Mann suchte, sobald es tunlich war, weiter von ihr wegzukommen, und der Knecht fächelte sich mit seiner blauen Mütze, da ihm die Luft gewaltig schwül und dunstig vorkam. Es bedurfte eines Königs und einer Königin, um ihn wieder aufzufrischen, und zum Glück brauchte er auf diese Stärkung nicht mehr lange zu warten. Der breitgesichtige König kam mit der schönen Königin in einer vergoldeten Kutsche angefahren, begleitet von den hellscheinenden Trabanten des Hofes, einem flimmernden Schwarme von lachenden Frauen und feinen Herren. Und von den Juwelen und Seidenstoffen, von dem Puder und der Pracht, von den stolzen Gestalten und den verächtlich umherblickenden schönen Gesichtern beiderlei Geschlechts schöpfte der Knecht in vollen Zügen bis zur Trunkenheit, so daß er, als hätte er nie von der damaligen Allgegenwart der Jacques‘ gehört, aus Leibeskräften rief: »Lang lebe der König! Lang lebe die Königin! Lang lebe alles und jedermann!« Dann kamen die Gärten, die Hofräume, Terrassen, Fontänen, grüne Dämme, wieder König und Königin, abermals glänzende Trabanten, noch mehr »Lang leben sie alle«, bis er absolut weinte vor Rührung. Während dieses ganzen Schauspiels, das etwa drei Stunden anhielt, hatte er im Schreien, Weinen und Gerührtsein viele Kameraden, und Defarge hielt ihn die ganze Zeit über am Kragen, als wolle er ihn abhalten, auf die Gegenstände seiner kurzen Verehrung loszustürzen und sie in Stücke zu reißen.

»Bravo!« sagte Defarge, nach dem Schluß der Szene ihm mit einer Gönnermiene auf den Rücken klopfend; »Ihr seid ein guter Bursch.«

Der Knecht kam nun wieder zu sich und kraute sich bedenklich den Kopf, ob er nicht mit seinen letzten Demonstrationen einen Fehlgriff getan habe. Doch nein.

»Ihr seid ein Kerl, wie wir ihn brauchen«, flüsterte ihm Defarge ins Ohr. »Ihr laßt diese Toren glauben, daß es immer so fort gehen werde. Dies macht sie um so unverschämter und führt desto schneller ihr Ende herbei.«

»Ei, das ist wahr«, entgegnete der Knecht nachdenklich.

»Das Narrenvolk weiß nichts. Während sie den Atem in Euch und Hunderten Euresgleichen geringer anschlagen als den ihrer Pferde und Hunde und ihm gern für alle Zeiten den Garaus machen möchten, erfahren sie doch nur, was dieser Atem ihnen sagt. Mögen sie immerhin noch eine Weile in ihrer Täuschung erhalten bleiben; man kann es hierin nicht zu arg machen.«

Madame sah mit hochmütiger Miene nach ihrem Klienten hin und nickte bestätigend.

»Was Euch betrifft«, sagte sie, »so könnt Ihr wahrscheinlich schreien und Tränen vergießen bei allem, wenn es nur prunkt und Lärm macht. Sprecht, ist es nicht so?«

»In der Tat, Madame, ich glaube es. Es ist mir für den Augenblick so.«

»Wenn man Euch einen Haufen Puppen zeigte und Ihr die Aufgabe hättet, zu Eurem Nutz und Frommen sie zu zerreißen und zu verderben, so würdet Ihr wohl mit den am reichsten und buntest gekleideten den Anfang machen. Sprecht, ist’s nicht so?«

»Wahrhaftig, ja, Madame.«

»Ja. Und wenn man Euch einen Schwarm Vögel wiese, die nicht fliegen können, und Euch erlaubte, ihnen zu Eurem Nutz und Frommen die Federn auszuraufen, so würdet zuerst Ihr nach denen mit dem schönsten Gefieder greifen. Ist’s nicht so?«

»Jawohl, Madame.«

»Ihr habt heute die Puppen und die Vögel gesehen«, sagte Madame Defarge, nach der Stelle zurückdeutend, wo der Zug zuletzt sich bewegt hatte. »Gehen wir jetzt nach Hause.«

Sechzehntes Kapitel. Noch mehr Strickzeug.


Sechzehntes Kapitel. Noch mehr Strickzeug.

Madame Defarge und ihr Herr Gemahl kehrten traulich miteinander in den Schoß von Saint Antoine zurück, während ein Fleck in einer blauen Mütze durch Dunkelheit und Staub die ermüdende Allee neben der Straße sich hinunterbewegte und langsam in die Kompaßrichtung strebte, wo das Schloß des jetzt in seinem Grabe liegenden Monsieur le Marquis auf das Flüstern der Bäume lauschte. Die steinernen Gesichter hatten nunmehr so reichlich Muße, den Bäumen und dem Brunnen zuzuhören, daß die Dorfvogelscheuchen, die bei ihrem Spähen auf eßbares Grün oder brennbares abgestorbenes Reis sich in die Nähe des steinernen Hofes und der Terrassentreppe verirrten, in ihrer ausgehungerten Einbildungskraft auf den Gedanken kamen, die Gesichter seien anders geworden. In dem Dorfe erhielt sich noch ein Gerücht freilich nur schwach und abnehmend wie die Einwohnerschaft selbst , die Gesichter haben, als das Messer gestoßen wurde, den Ausdruck des Stolzes in den von Zorn und Schmerz umgewandelt, und als die baumelnde Gestalt vierzig Fuß hoch über dem Brunnen hing, sei abermals eine Veränderung vorgegangen, denn sie trügen von da an und für immer die grausame Miene gesättigter Rache. Auf dem steinernen Gesicht über dem großen Fenster des Schlafgemaches, wo der Mord geschah, zeigten sich in der gemeißelten Nase zwei feine Grübchen, die jedermann erkennen konnte, vorher aber nie jemand gesehen hatte; und wenn bei seltenen Gelegenheiten zwei oder drei zerlumpte Bauern aus dem Haufen der andern auftauchten, um einen hastigen Blick nach dem versteinerten Monsieur le Marquis zu werfen, so konnte keiner auch nur eine Minute mit dem mageren Finger danach hindeuten, ohne daß die übrigen auseinanderstoben, um unter Moos und Gebüsch sich zu bergen wie die Hasen, die freilich, glücklicher als sie, da auch ihre Nahrung fanden.

Schloß und Hütte, Steingesicht und baumelnde Gestalt, der rote Fleck auf dem Steinboden und das reine Wasser in dem Dorfbrunnen, Tausende von Morgen Landes, eine ganze Provinz von Frankreich, ja sogar ganz Frankreich lag unter dem Nachthimmel zu einer schwachen haarbreiten Linie konzentriert. So liegt eine ganze Welt mit ihrer Größe und Kleinheit in dem flimmernden Punkt eines Sterns. Und da bloßes menschliches Wissen einen Lichtstrahl zu spalten und die Art seiner Zusammensetzung zu zergliedern vermag, so liest wohl ein höherer Verstand in dem schwachen Widerschein dieser unserer Erde jeden Gedanken und jede Tat, jede Tugend und jedes Laster in den Seelen der darauf lebenden verantwortlichen Geschöpfe.

Die Defarges, Mann und Frau, kamen unter dem Schein der Sterne in einem holpernden Fiaker zu dem Tor jenes Teils von Paris, nach dem natürlich ihre Reise ging. Wie gewöhnlich mußte vor dem Wachhaus der Barriere haltgemacht werden, und die gewöhnlichen Laternen kamen zu der gewöhnlichen Untersuchung aus dem Wachhaus heraus. Monsieur Defarge stieg aus. Er kannte ein paar von den Soldaten und einen von der Polizei. Mit letzterem stand er auf sehr vertrautem Fuße, weshalb er ihn aufs freundschaftlichste grüßte.

Saint Antoine hatte die Defarges mit seinen mächtigen Schwingen wieder umfangen, und sie suchten, da sie an der Grenzscheide des Heiligen ausgestiegen waren, zu Fuß ihren Weg durch den schwarzen Kot und den Unrat der Straßen. Da sagte Madame Defarge zu ihrem Mann:

»Rede, mein Freund; was hat Jacques von der Polizei dir mitgeteilt?«

»Heute sehr wenig, aber doch alles, was er weiß. Es ist wieder ein Spion für unsern Stadtteil aufgestellt worden. Vielleicht sind’s ihrer viel mehr, aber er hat nur von diesem einen Kenntnis.«

»Wirklich?« versetzte Madame Defarge mit kalter Geschäftsmiene, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Dann ist’s nötig, ihn einzutragen. Wie heißt der Mann?«

»Er ist ein Engländer.«

»Um so besser. Sein Name?«

»Barsad«, sagte Defarge, indem er durch die Aussprache ihn zu einem französischen machte; doch hatte er sich’s so angelegen sein lassen, ihn genau zu erfahren, daß in den Buchstaben kein Irrtum obwalten konnte.

»Barsad«, wiederholte Madame. »Gut. Taufname?«

»John.«

»John Barsad«, murmelte Madame ein paarmal vor sich hin. »Gut. Weiß man, wie er aussieht?«

»Alter ungefähr vierzig Jahre, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, dunkle Hautfarbe, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradstehend, sondern eigentümlich gegen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck.«

»Meiner Treu, das ist ein Porträt!« sagte Madame lachend. »Er soll morgen eingetragen werden.«

Sie hatten das Weinhaus erreicht, das, weil es bereits Mitternacht war, geschlossen war. Madame nahm drinnen ihren Posten alsbald an dem Pult ein, zählte die kleine Münze, die in ihrer Abwesenheit eingegangen, untersuchte die Vorräte, ging die Einträge im Buch durch, machte selbst weitere, befragte den Kellner über alles mögliche und ließ ihn endlich zu Bett gehen. Dann leerte sie den Inhalt der Geldschüssel zum zweitenmal aus und begann denselben, zu sicherer Aufbewahrung für die Nacht, partienweise in ihr Taschentuch zu knüpfen, so daß dadurch eine Kette getrennter Knoten gebildet wurde. Diese ganze Zeit über ging Defarge mit der Pfeife im Munde auf und ab und sah mit wohlgefälliger Bewunderung zu, ohne sich einzumengen. Ein solches Aufundabwandeln war überhaupt sein ganzer Lebensgang.

Die Nacht war heiß, und in der dumpfen, von einer ekelhaften Nachbarschaft umgebenen Weinstube roch es nicht am besten. Monsieur Defarges Geruchssinn gehörte zwar nicht zu den feinen, aber der Wein dünstete viel schärfer aus als sonst, und ebenso kam es ihm bei dem Rum, dem Anis und dem Branntwein vor. Er schnüffelte über das Gemisch dieser Gerüche, als er die ausgerauchte Pfeife weglegte.

»Du bist erschöpft«, sagte Madame, von ihren Geldknoten aufschauend. »Es riecht wie sonst auch.«

»Ich bin allerdings etwas müde«, räumte der Gatte ein.

»Und etwas niedergedrückt dazu«, sagte Madame, deren scharfes Auge nie so sehr in Anspruch genommen war, daß es nicht einige Blicke für ihn hätte erübrigen können. »Oh, die Männer, die Männer!«

»Aber meine Liebe«, begann Defarge.

»Nun, meine Liebe«, wiederholte Madame mit entschiedenem Kopfnicken »was soll meine Liebe? Du bist heute nacht sehr kleinmütig, mein Bester.«

»Nun ja«, sagte Defarge, als ob ein Gedanke sich von seiner Brust losrisse, »es ist in der Tat eine lange Zeit.«

»Ja, wohl eine lange Zeit«, versetzte seine Frau. »Und wenn es keine lange Zeit wäre? Rache und Vergeltung wollen Zeit haben; das ist die Regel.«

»Der Blitz, der auf einen Menschen niederfährt, braucht nicht lange«, sagte Defarge.

»Aber wie lange braucht’s«, fragte Madame ruhig, »um den Blitz vorzubereiten? Sag‘ mir dies.«

Defarge richtete gedankenvoll den Kopf auf, als ob auch in diesem etwas brüte.

»Es ist für ein Erdbeben keine lange Frist nötig«, sagte Madame, »eine Stadt zu zerstören. Wohlan, so sag‘ mir, wie lang das Erdbeben braucht, bis es zum Losbrechen fertig ist.«

»Vermutlich lange«, sagte Defarge.

»Aber wenn es einmal so weit ist, so kracht es und mahlt alles in Trümmer. In der Zwischenzeit schafft es vorbereitend, ohne daß man etwas davon hört oder sieht. Dies ist ein Trost für dich; halt ihn fest.«

Sie knüpfte mit flammendem Aug‘ einen Knoten, als ob sie einen Feind erdroßle.

»Ich sage dir«, fuhr Madame fort und streckte pathetisch die Hand aus, »daß es, wenn es auch lange braucht, doch schon auf dem Wege ist und kommen wird. Ich sage dir, es weicht nicht zurück und macht keinen Augenblick halt. Ich sage dir, es rückt ohne Unterlaß näher. Sieh umher und betrachte dir das Leben aller, die wir kennen, die Gesichter aller unserer Bekannten merke auf die Wut und die Unzufriedenheit, worin die Jacquerie mit jeder Stunde sich mehr befestigt. Könnten solche Zustände bleiben? Pah! wie närrisch du mir vorkommst.«

»Mein braves Weib«, erwiderte Defarge, der gesenkten Hauptes und mit auf dem Rücken verschlungenen Händen dastand, einem gelehrigen Schüler gleich, der seinem Katecheten aufmerksames Gehör schenkt, »ich beanstande von alledem nichts. Aber es hat schon so lange gedauert, und so mag es wohl kommen du weißt wohl, Frau, wie leicht dies möglich ist , daß wir’s nicht mehr erleben.«

»Nun und was dann?« fragte Madame, abermals einen Knoten drehend, als gelte es, einen neuen Feind zu erwürgen.

»Dann sehen wir eben den Triumph der Sache nicht«, antwortete Defarge mit einem halb kläglichen, halb apologetischen Achselzucken.

»So haben wir doch mitgeholfen«, sagte Madame, wieder mit dem Arme fuchtelnd. »Nichts, was wir tun, wird umsonst gewesen sein. Doch glaube ich aus voller Seele, wir können den Triumph noch mit ansehen. Und wenn es auch nicht sein sollte, und ich wüßte dies gewiß, so zeige man mir den Hals eines Aristokraten und Tyrannen, und ich will «

Madame biß jetzt die Zähne zusammen und drehte einen wahrhaft schrecklichen Knoten.

»Halt!« rief Defarge, ein wenig errötend, da ihn die Worte seiner Ehehälfte wie ein Vorwurf der Feigheit trafen, »auch ich werde mich durch nichts zurückschrecken lassen.«

»Ja; aber es ist eine Schwäche von dir, daß man dir zuweilen dein Opfer und die Gelegenheit zeigen muß, um deinen Mut aufrecht zu halten. Sei ein Mann auch ohne dies. Wenn die Zeit kommt, kannst du einen Tiger und einen Teufel loslassen, aber so lange mußt du warten und Tiger und Teufel an der Kette halten nicht zeigen, aber immer dafür vorbereitet sein.«

Madame verstärkte den Schluß dieses Stückchens Rat damit, daß sie mit ihrer Geldkette auf den kleinen Zahltisch schlug, als klopfe sie jemand das Gehirn heraus; dann nahm sie mit ruhiger Miene das Schnupftuch unter den Arm und bemerkte, es sei Zeit zum Schlafengehen.

Am nächsten Mittag sah man die merkwürdige Frau wieder in der Weinstube, mit emsigem Stricken beschäftigt, auf ihrem gewöhnlichen Platz. Eine Rose lag neben ihr, und wenn sie hin und wieder nach der Blume hinsah, so geschah es ohne einen Wechsel in ihrer gedankenvollen Miene. Einige Gäste saßen oder standen mit oder ohne Trunk umher. Es war ein sehr heißer Tag, und Scharen von Fliegen, die ihre neugierigen und gewagten Forschungen auf alle die klebrigen kleinen Gläser in der Nähe von Madame ausdehnten, fielen tot zu Boden. Ihr Untergang machte keinen Eindruck auf die außen herumspazierenden Fliegen, die in der gelassensten Weise auf sie niederschauten, als seien sie selbst Elefanten oder sonst etwas ebenso Verschiedenes, bis sie von dem gleichen Schicksal ereilt wurden. Merkwürdig, was für ein kopfloses Volk die Fliegen sind! Vielleicht dachten sie bei Hofe ebenso an jenem heißen Sommertage.

Eine durch die Tür eintretende Gestalt warf einen Schatten auf Madame Defarge; ohne hinzusehen, fühlte sie, daß dies ein neuer Gast war. Sie legte ihr Strickzeug nieder und steckte die Rose in ihren Kopfputz, ehe sie umschaute.

Es war seltsam. Sobald Madame Defarge die Rose aufgenommen hatte, hörten die Gäste auf zu sprechen und verloren sich allmählich aus der Weinstube.

»Guten Tag, Madame«, grüßte der neue Ankömmling.

»Guten Tag, Monsieur.«

Dies sprach sie laut, dann aber fügte sie innerlich hinzu, während sie wieder nach ihrem Strickzeug griff: »Ha, guten Tag. Alter ungefähr vierzig, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, dunkle Hautfarbe, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradstehend, sondern eigentümlich gegen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck! Guten Tag ein für allemal.«

»Darf ich um ein Gläschen alten Kognak und um einen Schluck frischen Wassers bitten, Madame?«

Madame willfahrte in höflicher Weise.

»Vortrefflicher Kognak dies, Madame.«

Es war das erstemal, daß ihm dieses Kompliment zuteil wurde, und Madame Defarge kannte sich zu gut aus, um es für etwas anderes zu nehmen. Sie sagte jedoch, daß dieses Lob dem Kognak schmeichelhaft sei, und nahm ihr Gestrick wieder auf.

»Ihr strickt ja recht geschickt, Madame.«

»Gewohnheit.«

»Auch ein recht hübsches Muster.«

»Meint Ihr?« versetzte Madame, mit einem Lächeln nach ihm hinsehend.

»Zuverlässig. Darf man fragen, was es geben soll?«

»Zeitvertreib«, sagte Madame, ihn noch immer lächelnd ansehend, während ihre Finger hurtig fortarbeiteten.

»Also nicht für den Gebrauch?«

»Je nachdem. Möglich, daß ich es eines Tages benutzen kann. Kommt die Zeit je nun«, fügte Madame bei, indem sie tief aufatmete und in einer Art ernster Koketterie mit dem Kopfe nickte, »so gedenke ich Gebrauch davon zu machen.«

Es war merkwürdig, aber der Geschmack von Saint Antoine schien sich durch eine Rose in dem Kopfputz der Madame Defarge verletzt zu fühlen. Zwei Männer, die gesondert nacheinander eintraten, hatten augenscheinlich Lust, etwas zu bestellen: als sie aber dieser Neuerung ansichtig wurden, stotterten sie, taten, als hätten sie einen Freund gesucht, der nicht da war, und entfernten sich wieder. Von den Gästen, die beim Eintritt des Fremden in der Weinstube gewesen, sah man keinen mehr; alle waren fortgegangen. Der Spion hatte seine Augen gut offen gehabt, aber nicht bemerken können, daß ein Zeichen gegeben worden wäre. Ihr Verschwinden war ganz natürlich und unverdächtig vor sich gegangen, als habe demselben durchaus keine Absicht, höchstens eine leere Börse zugrunde gelegen.

»John«, dachte Madame, in ihrer Arbeit innehaltend, obschon ihre Finger, während ihre Augen auf dem Fremden ruhten, automatisch sich fortbewegten. »Wenn du lange genug bleibst, so stricke ich in deinem Beisein das Wort Basard aus.«

»Ihr habt einen Mann, Madame?«

»Kinder?«

»Nein.«

»Das Geschäft scheint schlecht zu gehen.«

»Sehr schlecht. Die Leute sind so arm.«

»Ach, das unglückliche, bedauernswürdige Volk! Und noch obendrein so gedrückt, wie Ihr sagt.«

»Wie Ihr sagt«, versetzte Madame, ihn verbessernd und gewandt ein Extra-Etwas in seinen Namen strickend, was nichts Gutes für ihn bedeutete.

»Ich bitte um Verzeihung: allerdings habe ich so gesagt, aber, versteht sich, damit nur einen Gedanken von Euch ausgedrückt. Natürlich.«

»Einen Gedanken von mir ?« erwiderte Madame von oben herab. »Ich und mein Mann haben genug zu tun, diese Weinstube im Gang zu halten, ohne daß wir uns mit Gedanken plagen. Hier, denkt man an nichts weiter, als wie man sein Leben durchschlägt. Dies ist der Gegenstand unserer Gedanken, und er nimmt uns vom Morgen bis in die Nacht voll in Anspruch, ohne daß wir unsere Köpfe mit dem Denken für andere zu behelligen brauchen. Tue dies jeder für sich selbst: ich will nichts davon.«

Der Spion, der sich eingefunden hatte, um womöglich einige Krümlein aufzulesen oder etwas anzuspinnen, ließ auf seinem unheimlichen Gesicht nichts von dem Ärger seines Innern merken, sondern stand in galantem Geplauder da, lehnte seinen Ellenbogen auf Madame Defarges kleinen Zahltisch und schlürfte gelegentlich von seinem Kognak.

»Eine schlimme Geschichte, jene Hinrichtung Gaspards, Madame. Ach, der arme Gaspard!« fügte er mit einem mitleidigen Seufzer hinzu.

»Ei was«, entgegnete Madame leichthin und mit Kälte, »wenn die Leute in solcher Absicht zum Messer greifen, so müssen sie’s eben büßen. Er wußte im voraus, was ein solcher Luxus kostet, und hat den Preis dafür bezahlt.«

»Ich glaube«, sagte der Spion, seine Stimme zu einem Ton dämpfend, der zum Vertrauen einlud, und in jedem Muskel seines boshaften Gesichtes eine gekränkte revolutionäre Empfindlichkeit ausdrückend, »in Beziehung auf den armen Schelm herrscht viel Teilnahme und Unwille in diesem Stadtteil? Wir sprechen dies unter uns.«

»Wirklich?« versetzte Madame, sich einfältig stellend.

»Ist’s nicht so?«

»Da kommt mein Mann«, entgegnete Madame Defarge.

Der Inhaber der Weinstube blieb unter der Tür stehen. Der Spion grüßte, indem er an seinen Hut langte und unter einschmeichelndem Lächeln den Wirt mit den Worten anredete:

»Guten Tag, Jacques.«

Defarge sah ihn mit großen Augen an.

»Guten Tag, Jacques«, wiederholte der Spion mit etwas weniger Zuversicht oder mit einem weniger zutraulichen Lächeln unter dem Einfluß dieses Blickes.

»Ihr seid im Irrtum, Herr«, versetzte der Inhaber der Weinstube, »und haltet mich für jemand anders. Ich heiße nicht so. Mein Name ist Ernest Defarge.«

»Es kommt auf eines heraus«, sagte der Spion leichthin, obschon mit verbissenem Arger. »Guten Tag.«

»Guten Tag«, entgegnete Defarge trocken.

»Ich sagte eben zu Madame, mit der ich mich bei Eurem Eintritt zu unterhalten das Vergnügen hatte, man erzähle sich und es ist auch kein Wunder , daß das unglückliche Schicksal des armen Gaspard viel Teilnahme und Unwillen in Saint Antoine geweckt habe.«

»Gegen mich hat sich niemand in dieser Weise ausgesprochen«, sagte Defarge, den Kopf schüttelnd. »Ich weiß nichts davon.«

Nach diesen Worten trat er hinter den kleinen Zahltisch, legte seine Hand auf die Lehne des Stuhles, in dem Madame saß, und blickte über diese Schranke nach dem ihnen jetzt gegenüberstehenden Menschen hin, dem er sowohl wie sie von ganzem Herzen eine Kugel ins Hirn gegönnt hätte.

Der Spion, der sich auf sein Geschäft verstand, ließ sich in seiner nachlässigen Stellung nicht beirren, sondern trank sein Gläschen Kognak aus, nahm dann einen Schluck Wasser und bat um ein weiteres Glas. Madame Defarge bediente ihn, griff dann wieder zu ihrem Strickzeug und summte eine Arie vor sich hin.

»Ihr scheint Euch in diesem Viertel gut auszukennen das heißt, besser als ich«, bemerkte Monsieur Defarge.

»Durchaus nicht; aber ich hoffe bekannt zu werden. Ich fühle eine tiefe Teilnahme für seine unglücklichen Bewohner.«

»Ha!« murmelte Defarge.

»Das Vergnügen, mich mit Euch zu unterhalten, Monsieur Defarge, erinnert mich daran«, fuhr der Spion fort, »daß ich die Ehre habe, Euren Namen mit interessanten Vorgängen der Vergangenheit in Verbindung bringen zu können.«

»So?« versetzte Defarge gleichgültig.

»Jawohl. Ich weiß, daß Ihr nach der Freilassung des Doktor Manette Euch als sein alter Diener seiner angenommen habt. Er wurde Euch übergeben. Ihr seht, daß ich von den Verhältnissen unterrichtet bin.«

»Dies scheint in der Tat der Fall zu sein«, sagte Defarge.

Madame hatte ihm nämlich durch eine gelegentliche Berührung mit dem Ellenbogen, während sie im übrigen fortstrickte und trillerte, ihre Meinung angedeutet, daß er am besten tun werde, zu antworten, aber nur kurz.

»Zu Euch kam auch seine Tochter«, fuhr der Spion fort, »die ihn Euch abnahm und mit ihm nach England zurückkehrte; sie wurde begleitet von einem sauberen braunen Herrn wie hieß er doch? in einer Stutzperücke Lorry bei der Bank von Tellson und Kompanie.«

»Ganz richtig«, erwiderte Defarge.

»Sehr interessante Erinnerungen«, sagte der Spion. »Ich habe Doktor Manette und seine Tochter in England kennengelernt.«

»So?« entgegnete Defarge.

»Ihr hört wohl nicht mehr viel von ihnen?« fragte der Spion.

»Nein«, entgegnete Defarge.

»Eigentlich nie«, fiel Madame ein, die ihr Summen einstellte und von ihrer Arbeit aufsah. »Wir erfuhren, daß sie gut in England angelangt waren, und erhielten noch einen oder vielleicht zwei Briefe; aber seitdem sind sie ihren eigenen Lebensweg gegangen und wir den unsrigen. Wir haben keine Korrespondenz unterhalten.«

»Es ist vollkommen so, Madame«, sagte der Spion. »Sie wird demnächst heiraten.«

»Demnächst?« wiederholte Madame. »Sie war hübsch genug, daß man glauben sollte, sie hätte das längst getan. Ihr Engländer seid kalt, scheint mir.«

»Oh, Ihr wißt, daß ich ein Engländer bin?«

»Ich bemerke es an Eurer Sprache«, entgegnete Madame; »nach ihr beurteile ich den Mann.«

Er schien diese Identifikation nicht für ein Kompliment aufzunehmen; doch machte er gute Miene dazu und lachte. Nachdem er seinen Kognak ausgeschlürft hatte, fügte er hinzu:

»Ja, Miß Manette ist im Begriff, sich zu verehelichen. Aber nicht an einen Engländer, sondern an einen Mann, der wie sie selbst durch seine Geburt Frankreich angehört. Und da wir von Gaspard gesprochen haben – ach der arme Gaspard! es war grausam, sehr grausam – seltsamerweise muß es sich fügen, daß sie den Neffen des Herrn Marquis heiratet, um dessentwillen Gaspard um so viele Fuß erhöht wurde mit andern Worten, den gegenwärtigen Marquis. Aber er lebt unbekannt in England und ist dort kein Marquis, sondern läßt sich Mr. Charles Darnay nennen. D’Aulnais heißt die Familie seiner Mutter.«

Madame Defarge strickte stetig fort; aber die Kunde machte einen sichtlichen Eindruck auf ihren Gatten. Er mochte hinter dem kleinen Zahltisch tun, was er wollte – Licht schlagen oder seine Pfeife anzünden seine Unruhe verbarg sich nicht, und seine Hand blieb unsicher. Der Spion hätte kein Spion sein müssen, wenn dies ihm entgangen wäre und sich nicht seinem Gedächtnis eingeprägt hätte.

Nachdem Mr. Barsad wenigstens dieses Körnchen vielleicht ließ sich doch etwas daraus machen aufgefischt hatte, zahlte er, da kein anderer Gast kam, um ihm zu einem weiteren zu verhelfen, seine Zeche und verabschiedete sich, wobei er in höflicher Weise das Vergnügen fernerer Besuche bei Monsieur und Madame Defarge in Aussicht nahm. Er hatte sich schon einige Minuten in den Gassen von Saint Antoine verloren, während Mann und Frau noch immer für den Fall, daß er wieder zurückkäme, die gleiche Haltung bewahrten wie bei seinem Abgange.

»Kann es wahr sein, was er von Mamselle Manette gesagt hat?« begann endlich Defarge, der noch immer rauchend hinter seiner Frau stand und die Hand auf der Stuhllehne liegen hatte, mit gedämpfter Stimme.

»Da er’s gesagt hat«, versetzte Madame, ihre Augenbrauen ein wenig in die Höhe ziehend, »so ist es wahrscheinlich eine Lüge. Indes wäre es wohl möglich.«

»Wenn’s so wäre « sagte Defarge und hielt wieder inne.

»Wenn’s so wäre?« wiederholte seine Frau.

»Und wenn es so weit kommt, daß wir den Triumph erleben, so hoffe ich um ihretwillen, daß die Vorsehung ihren Mann von Frankreich fernhält.«

»Ihren Mann«, sagte, Madame Defarge mit ihrer gewöhnlichen Fassung, »wird das ihm bestimmte Schicksal ereilen, wo er auch sei, und seinem Ziele zuführen. Was kümmert uns dies?«

»Ja, aber doch sonderbar oder ist es wenigstens nicht jetzt sehr sonderbar«, versetzte Defarge, gewissermaßen unterhandelnd mit seiner Frau, als möchte er sie zu einem Zugeständnis bewegen, »daß bei aller unserer Sympathie für ihren Herrn Vater und sie der Name ihres Gatten in diesem Augenblick neben dem des höllischen Schurken, der uns eben verlassen hat, eingezeichnet werden mußte?«

»Wenn es so weit kommt, werden sich noch seltsamere Dinge zutragen«, antwortete Madame. »Ich habe allerdings beide hier, und sie stehen da um ihrer Verdienste willen. Das genügt.«

Während sie so sprach, rollte sie ihre Strickerei zusammen und nahm die Rose aus dem Tuche, das sie sich um den Kopf gebunden hatte. Entweder ahnte Saint Antoine instinktartig die Beseitigung des anstößigen Schmuckes, oder hatte er darauf gelauert; kurz, der Heilige faßte bald nachher den Mut, wieder einzutreten, und die Weinstube erhielt abermals das gewohnte Aussehen.

Abends, um die Zeit, als Saint Antoine vorzugsweise sein Inneres nach außen kehrte, indem er sich auf die Türstufen und Fenstersimse setzte oder um die Ecken der stinkenden Straßen und Sackgassen kam, um ein wenig frischere Luft zu suchen, konnte man Madame Defarge ordnungsmäßig mit dem Strickzeuge in der Hand von einer Stelle, von einer Gruppe zur andern gehen sehen als einen Missionar ihresgleichen hat es schon viele gegeben , den die Welt hervorzubringen besser unterlassen hatte. Alle die Weiber strickten. Sie strickten unnütze Dinge, aber die mechanische Arbeit war ein mechanischer Ersatz für Essen und Trinken; die Hände bewegten sich statt der Kiefer und statt des Verdauungsapparats. Hätten die klapperdürren Finger geruht, so würden die Magen das Kneifen des Hungers schwerer empfunden haben.

Aber wie die Finger gingen, so gingen auch die Augen und die Gedanken. Und während Madame Defarge von Gruppe zu Gruppe wandelte, gingen alle drei rascher und eifriger unter jedem Weiberhaufen, mit dem sie gesprochen hatte.

Ihr Mann rauchte unter der Tür und sah ihr mit Bewunderung zu. »Eine große Frau«, sagte er, »eine starke Frau, eine großartige Frau, eine schrecklich großartige Frau!«

Die Dunkelheit brach herein; dann kam da« Läuten der Kirchturmglocken und der ferne Zapfenstreich der königlichen Garde. Die Weiber saßen da und strickten und strickten. Es wurde Nacht um sie her. Eine andere Dunkelheit brach ebenso sicher herein, wenn einmal die Kirchenglocken, die von vielen stolzen Türmen lieblich über Frankreich hinläuteten, zu donnernden Kanonen umgeschmolzen waren und der Trommelschlag erscholl, um eine unglückliche Stimme zu ersticken jene Nacht, allgewaltig wie die Stimme der Macht und des Überflusses, der Freiheit und des Lebens. Es dunkelte so sehr um die Weiber her, die strickend und strickend dasaßen, daß sie ihr eigenes Ich umgaben mit dem tiefen nächtigen Schatten eines noch nicht errichteten Gebäudes, in dem sie sitzen wollten, um zu stricken, zu stricken und fallende Köpfe zu zählen.

Siebzehntes Kapitel. Ein Abend.


Siebzehntes Kapitel. Ein Abend.

Nie ging an der stillen Ecke in Soho die Sonne glänzender und herrlicher unter als an jenem denkwürdigen Abend, den der Doktor mit seiner Tochter unter der Platane verbrachte. Nie warf der Mond einen milderen Glanz über das große London als an jenem Abend, während sie noch unter dem Baume saßen und er durch die Blätter auf ihre Gesichter niederschien.

Lucie sollte am andern Morgen vor den Altar treten. Diesen letzten Abend hatte sie ihrem Vater vorbehalten, und sie saßen allein unter der Platane.

»Du bist glücklich, mein lieber Vater?«

»Vollkommen, mein Kind.«

Sie hatten wenig miteinander gesprochen, obschon sie bereits eine geraume Zeit dasaßen. Auch als es noch hell genug war, um zu arbeiten oder zu lesen, hatte sie weder ihr gewöhnliches Geschäft aufgenommen noch ihm vorgelesen. Unter solchem Zeitvertreib war ihr oft und vielmal unter dem Baum der Abend an seiner Seite entschwunden; aber der heutige glich den anderen nicht ganz, und es ließ sich da nichts erzwingen.

»Auch ich bin heute abend sehr glücklich, lieber Vater. Ich fühle mich selig in der Liebe, mit der der Himmel mich gesegnet hat in meiner Liebe zu Charles und in Charles‘ Liebe zu mir. Aber wenn nicht gleichwohl mein Leben fortwährend dir gewidmet sein dürfte, oder wenn diese Heirat es nötig machte, getrennt von dir zu leben, wäre es auch nur um einige Straßenlängen, so würde ich mich unglücklicher fühlen, als ich dir sagen kann, und müßte mir stets Vorwürfe machen. Selbst so, wie es ist «

Selbst so, wie es war, vermochte sie nicht weiter über ihre Stimme zu gebieten.

In dem melancholischen Mondlicht – es ist immer melancholisch, während das der Sonne oder jenes Licht, das man Menschenleben nennt, nur beim Kommen und Gehen diesen Charakter zeigt schlang sie den Arm um seinen Hals und legte das Gesicht an seine Brust.

»Teuerster Vater, kannst du mir dieses letztemal sagen, daß du dich ganz und vollkommen überzeugt fühlst, keine neue Liebe, keine neuen Pflichten von meiner Seite werden je den alten einen Abtrag tun? Ich weiß es wohl: aber weißt auch du es? Sagt dir dein Herz, daß du ruhig sein darfst?«

Ihr Vater antwortete mit einer heitern Überzeugungsfestigkeit, die keine erkünstelte sein konnte: »Vollkommen ruhig, mein Leben. Ja, mehr als dies«, fügte er hinzu, indem er sie zärtlich küßte; »meine Zukunft erscheint mir in dem Lichte deiner Verheiratung weit glänzender, als sie es ohne diese sein könnte, oder als je die Vergangenheit war.«

»Wenn ich dies hoffen könnte, mein Vater!«

»Glaube es nur, meine Liebe, es ist in der Tat so. Und es ist ja ganz einfach, daß es so sein muß. Du, die du so jung und aufopferungsvoll bist, hast freilich keinen Sinn für die Angst, die mich stets quälte, dein Leben könnte ein verfehltes sein «

Sie führte ihre Hand nach seinen Lippen; er aber nahm sie in die seinige und wiederholte das Wort.

»Verfehlt, mein Kind um meinetwillen der natürlichen Ordnung der Dinge entrückt. Bei deiner Uneigennützigkeit kannst du nicht begreifen, wie schwer mir dies auf der Seele gelegen hat; aber frage dich selbst – wie kann mein Glück vollkommen sein, wenn zu dem deinigen etwas fehlt?«

»Wenn ich Charles nie gesehen hätte, mein Vater, so wäre ich an deiner Seite vollkommen glücklich gewesen.«

»Aber du hast ihn gesehen, mein Kind, und es ist Charles. Wäre er’s nicht, so wär‘ es ein anderer gewesen. Wo nicht, so müßte ich mich selbst als die Ursache betrachten, und dann hätte die Nachtseite meines Lebens ihren Schatten über mich hinausgeworfen, um dich zu treffen.«

Es war seit der Gerichtsverhandlung das erstemal, daß sie ihn auf seine Leidensperiode anspielen hörte. Die Worte weckten in ihr ein neues befremdliches Gefühl, dessen sie sich noch lange nachher erinnerte.

»Sieh«, sagte der Doktor von Beauvais, seine Hand gegen den Mond erhebend, »ich habe von meinem Gefängnisfenster zu ihm aufgeschaut, obschon ich sein Licht nicht ertragen konnte. Ich habe nach ihm gesehen, als mich der Gedanke, er beleuchte das, was ich verloren, mit einer solchen Qual erfüllte, daß ich mit dem Kopfe gegen die Kerkerwände rannte. Ich sah nach ihm in einem so starren und des Lebens baren Zustande, daß ich an nichts zu denken vermochte als an die Zahl von Horizontallinien, die sich durch seine volle Scheibe ziehen ließen, und an die Zahl der senkrechten, mit denen man sie schneiden konnte.« Dann fügte er in seiner in sich gekehrten, gedankenvollen Weise bei: »Ich erinnere mich, es waren ihrer zwanzig so wie so, und die zwanzigste wollte nur noch mit Not hineingehen.«

Das unheimliche Gefühl, da« sie beschlich, als sie hörte, daß er auf diese Zeit zurückkam, beengte ihre Brust desto mehr, je länger er dabei verweilte, obschon in der Art seiner Rückblicke nichts lag, was Besorgnis einflößen konnte. Er schien einfach sich den Gegensatz seines dermaligen heiteren und glücklichen Zustandes zu den schweren Leiden der Vergangenheit vorzuführen.

»Ich sah nach ihm und machte mir dabei tausendmal Gedanken über das noch ungeborene Kind, dem man mich entrissen hatte. Lebte es noch war es lebend ans Licht gekommen oder hatte es der Jammer der Mutter getötet? War es ein Sohn, der mit der Zeit seinen Vater rächte? (Es gab während meiner Haft eine Zeit, in der mein Rachedurst unerträglich war.) War es ein Sohn, der vielleicht von meiner Geschichte nie etwas erfuhr und am Ende wohl gar auf den Gedanken kam, sein Vater sei aus der Welt geschieden durch eigenen Willen und eigene Tat? Oder war es eine Tochter, die zum Weibe heranwuchs?«

Sie zog ihn näher an sich und küßte ihn auf die Wange und auf die Hand.

»Ich habe mir meine Tochter vorgestellt, wie sie meiner ganz vergessen oder vielmehr, wie sie nichts von mir wußte oder ahnte. Jahr um Jahr verzeichnete ich mir die Fortschritte ihres Alters. Ich sah sie mit einem Manne verheiratet, der nichts wußte von meinem Schicksal. War ich doch ganz weggewischt aus der Erinnerung der Lebenden, und in der nächsten Generation nahm bloß ein leerer Raum meine Stelle ein.«

»Mein Vater, wenn ich nur anhören soll, daß du so von einer Tochter dachtest, die nicht vorhanden war, so schnürt es mir das Herz zusammen, als sei ich dieses Kind gewesen.«

»Du, Lucie? Eben aus dem Trost und der Stärkung, die ich dir verdanke, quellen solche Erinnerungen und ziehen zwischen uns und dem Monde dieses letzten Abends hin. Was habe ich eben gesagt?«

»Sie wußte nichts von dir. Sie kümmerte sich nicht um dich.«

»Richtig. Aber in anderen mondhellen Nächten, wenn die Trauer und das Schweigen mich in einer andern Weise ansprachen und eine Art kummervollen Friedens in meine Seele ausgossen, wie dies jede Erregung tun konnte, die den Schmerz zu ihrer Unterlage hatte bildete ich mir ein, sie komme in meine Zelle und führe mich hinaus aus den Kerkermauern ins Freie. Ich habe ihr Bild oft im Mondlicht gesehen, wie ich dich jetzt sehe, mit dem Unterschiede, daß ich sie nie in den Armen hatte; es stand zwischen dem kleinen vergitterten Fenster und der Tür. Aber du begreifst wohl, daß dies nicht das Kind war, von dem ich spreche?«

»Die Gestalt war nicht wesenhaft; das das Bild, die Vorstellung?«

»Nein. Es war etwa« anderes. Es stand vor meinem verstörten Gesichtssinn, ohne sich zu bewegen. Das Phantom, das meinem Geiste keine Ruhe ließ, war ein anderes und wirklicheres Kind. Dem Äußeren nach unterschied ich weiter nichts, als daß es seiner Mutter glich. Das andere hatte auch diese Ähnlichkeit wie du, war aber nicht dasselbe. Kannst du mir folgen, Lucie? Ich glaube, kaum. Du müßtest auch eine einsame Gefangene gewesen sein, um solche wirre Unterschiede zu begreifen.«

Sein gefaßtes ruhige« Wesen konnte nicht hindern, daß ihr das Blut kalt durch die Adern lief, als er in solcher Weise seinen alten Zustand zu zergliedern versuchte.

»In jener friedlicheren Mondlichtstimmung bildete ich mir ein, sie komme zu mir und führe mich hinaus, um mir zu zeigen, wie ihr ehelicher Hausstand voll war von liebenden Erinnerungen an den verlorenen Vater. Mein Bild hing in ihrem Zimmer, und ich lebte in ihren Gebeten. Ihr Leben war tätig, heiter, nützlich, aber in allem lag ein Zug aus meiner kläglichen Geschichte.«

»Mein Vater, jenes Kind war ich. An Güte kann ich mich zwar nicht mit ihm messen, aber in meiner Liebe war ich es.«

»Und sie zeigte mir ihre Kinder«, fuhr der Doktor von Beauvais fort, »und sie hatten von mir gehört und hatten gelernt, mich zu bemitleiden. Wenn sie an einem Staatsgefängnis vorbeikamen, wagten sie es nicht, sich seinen finstern Mauern zu nähern; aber sie blickten zu den Gittern in die Höhe und sprachen flüsternd miteinander. Sie konnte mich nie befreien, und es kam mir vor, sie führe mich immer wieder zurück, nachdem sie mir solche Dinge gezeigt hatte. Dann aber sank ich, meiner Seele in Tränen Erleichterung schaffend, auf die Knie nieder und segnete sie.«

»Mein Vater, ich hoffe, ich bin dies Kind. O mein teurer Vater, wirst du mich morgen mit der gleichen Inbrunst segnen?«

»Lucie, ich führe diese alten Leiden meinem Geiste vor, weil ich heute abend Grund habe, dich mehr zu lieben, als ich in Worten auszudrücken vermag, und Gott für mein Glück zu danken. In meinen wildesten Träumen habe ich mich nie zu dem Glück erhoben, das mir an deiner Seite wurde und das uns fortan bevorsteht.«

Er umarmte sie, empfahl sie feierlich dem Himmel und dankte Gott, daß er sie ihm geschenkt hatte. Dann gingen sie in das Haus zurück.

Zu der Vermählung war niemand gebeten als Mr. Lorry; nicht einmal eine Brautjungfer sollte mitgehen, die hagere Miß Proß ausgenommen. Wegen der Heirat brauchte die alte Wohnstätte nicht geändert zu werden: sie hatten dieselbe ausdehnen können, indem sie die oberen Zimmer, die früher dem apokryphischen Mieter gehörten, für sich nahmen, und weiter verlangten sie nichts.

Doktor Manette war bei dem kleinen Nachtessen sehr heiter. Sie saßen nur zu drei am Tisch, er, Lucie und Miß Proß. Er bedauerte, daß Charles nicht da war, hatte mehr als halb Lust, dem kleinen Komplott der Liebe, das ihn fernhielt, zu zürnen, und trank aus der Fülle seines Herzens auf seine Gesundheit.

So kam für ihn die Zeit, Lucie gute Nacht zu sagen, und sie trennten sich. Aber in der Stille der dritten Morgenstunde ging sie leise die Treppe hinunter nach seinem Zimmer, da sie nicht frei war von unbestimmten Befürchtungen.

Alles stand an seinem Platze; alles war ruhig, und er lag in sanftem Schlaf, das weiße Haar malerisch über das wenig zerdrückte Kissen hingegossen, während seine Hände auf der Decke lagen. Sie stellte ihr unnötiges Licht in einen beschattenden Winkel, schlich an sein Bett und berührte seine Lippen mit den ihrigen: dann beugte sie sich zu ihm nieder und betrachtete ihn.

Sein schönes Gesicht war von den bitteren Wassern der Gefangenschaft durchwühlt; er aber hatte die Spuren ihres Ganges mit dem Ausdruck einer so festen Entschlossenheit bedeckt, daß er selbst im Schlaf Gewalt über sie behielt. In selbiger Nacht sah man wohl durch das ganze weite Gebiet des Schlafs kein Gesicht, das in seinem ruhigen, willenskräftigen und behutsamen Kampfe mit einem unsichtbaren Feinde mehr Interesse geboten hätte.

Sie legte schüchtern die Hand auf die teure Brust und betete zu Gott, er möge ihre Liebe gegen ihn so treu erhalten, wie sie es wünsche und wie es sein Unglück verdiene. Dann nahm sie die Hand wieder weg, küßte ihn nochmal auf die Lippe und entfernte sich. Und als endlich die Sonne aufging, zitterten die Laubschatten der Platane auf seinem Gesicht so leicht, wie ihre Lippen sich bewegt hatten, als sie für ihn betete.