Zehntes Kapitel. Der Körper des Schattens.


Zehntes Kapitel. Der Körper des Schattens.

»Ich, Alexander Manette, ein unglücklicher Arzt, gebürtig von Beauvais und später seßhaft in Paris, schreibe diesen Jammerbericht in einer schauerlichen Zelle der Bastille während des letzten Monats im Jahre 1767. Ich schreibe daran in verstohlenen Zwischenräumen und unter allen möglichen Erschwernissen. Die Schrift soll in der Kaminwand verborgen werden, in die ich langsam und mühevoll einen Versteck gearbeitet habe; vielleicht findet sie eine mitleidige Hand, wenn ich mit meinem Schmerz in Staub verfallen bin.

Die Worte sind im letzten Monate des zehnten Jahres meiner Gefangenschaft mit einem rostigen Nagel geschrieben und nur mit Mühe hingekritzelt. Als Tinte dienten mir Ruß und Kohle aus dem Kamin, die ich mit meinem Blute mischte. Die Hoffnung ist aus meiner Brust entschwunden. Ich weiß aus den schrecklichen Anzeichen, die ich schon an mir wahrgenommen habe, daß meine Vernunft nicht viel länger standhalten wird, erkläre aber feierlich, daß ich zur Zeit noch im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte bin, daß mein Gedächtnis mir treu ist bis ins einzelne und daß ich die Wahrheit schreibe, wie ich sie vertreten werde vor dem ewigen Richterstuhle, ob nun die Geschichte meiner Leiden je vor Menschenaugen kommen möge oder nicht.

An einem wolkigen, aber doch mondhellen Abend in der dritten Woche des Dezembers 1757 (ich glaube, es war der zweiundzwanzigste dieses Monats) erging ich mich an einem abgelegenen Punkte des Seine-Kais (er war fast eine Stunde von meiner Wohnung in der Straße der medizinischen Schule), um mich in der kalten Luft zu erfrischen. Da kam rasch eine Kutsche hinter mir hergefahren. Während ich in der Furcht, überfahren zu werden, beiseite trat und die Kutsche an mir vorbeilassen wollte, sah ein Kopf zu dem Fenster heraus und gebot dem Kutscher haltzumachen.

Der Mann hielt die Pferde an, und dieselbe Stimme rief nun meinen Namen. Ich antwortete. Der Wagen war so weit über mich hinausgefahren, daß zwei Herren Zeit hatten, den Schlag zu öffnen und auszusteigen, bis ich nachkam. Ich bemerkte, daß beide in Mäntel gehüllt waren und augenscheinlich sich vermummt halten wollten. Während sie Seite an Seite neben der Kutsche standen, bemerkte ich ferner, daß sie ungefähr von meinem Alter, vielleicht etwas jünger waren; auch schienen sie, soweit ich unterscheiden konnte, in Größe, Haltung, Stimme und Gesicht einander sehr ähnlich zu sein.

»Ihr seid der Doktor Manette?« sagte der eine.

»Ja.«

»Doktor Manette, früher in Beauvais«, ergriff der andere das Wort, »der junge Arzt, ursprünglich ein geschickter Chirurg, der in den letzten paar Jahren sich in Paris einen schönen Ruf errungen hat?«

»Meine Herren«, entgegnete ich, »ich bin der Doktor Manette, von dem ihr eine so vorteilhafte Meinung hegt.«

»Wir sind in Eurer Wohnung gewesen«, sagte der erste, »wo wir nicht so glücklich waren, Euch zu treffen. Man sagte uns, Ihr werdet wahrscheinlich in dieser Gegend zu finden sein, und so fuhren wir Euch nach in der Hoffnung, Euch einzuholen. Wollt Ihr so gut sein, in den Wagen zu steigen?«

Das Benehmen der beiden war gebieterisch, und sie nahmen, während sie sprachen, eine Stellung, daß sie mich zwischen sich und den Kutschenschlag brachten; auch führten sie Waffen, während ich unbewehrt war.

»Meine Herren, entschuldigt«, versetzte ich, »aber ich pflege zuerst zu fragen, wer mir die Ehre erweist, meinen Beistand zu suchen, und aus welchem Grunde ich gerufen werde.«

Die Antwort erfolgte aus dem Munde des zweiten Sprechers. »Doktor, Eure Klienten sind Personen von Stand. Was die Beschaffenheit des Falles betrifft, so gibt uns unser Vertrauen in Eure Geschicklichkeit die Versicherung, daß Ihr dies selbst besser werdet beurteilen können, als wir es zu beschreiben vermöchten. Genug. Wollt Ihr so gut sein, einzusteigen?«

Was konnte ich tun? Ich entsprach schweigend der Aufforderung. Die beiden kamen nach, der letzte mit einem Sprung, nachdem er den Tritt hinaufgeschlagen hatte; der Wagen wandte um und fuhr mit der früheren Eile von hinnen.

Ich wiederhole dieses Gespräch genau so, wie es stattgefunden hat, und zweifle nicht daran, daß ich es Wort für Wort wiedergegeben habe. Was vorgefallen ist, zeichne ich mit der größten Genauigkeit auf, und ich gebe mir angelegentlich Mühe, meinen Geist nicht von den Tatsachen abschweifen zu lassen. Wenn ich solche abgebrochenen Bemerkungen mache, so höre ich für den Augenblick auf und verwahre mein Papier in seinem Versteck.

Der Wagen verließ die Stadt an der Nordbarriere und fuhr auf der Landstraße weiter. Dreiviertel Stunden von der Barriere ich schätzte die Entfernung damals nicht, sondern erst später, als ich sie wieder zurücklegte lenkten wir von dem Hauptwege ab und machten bald vor einem einsamen Hause halt. Wir stiegen alle drei aus und gingen auf einem feuchten weichen Fußpfade durch einen Garten, in dem ein vernachlässigtes Springbrunnenbecken übergelaufen war, nach der Haustür. Sie wurde auf das Klingeln nicht sogleich geöffnet, und einer von meinen beiden Führern schlug den Mann, der endlich aufmachte, mit der Reitpeitsche über das Gesicht.

Es lag nichts in dieser Handlung, was mir besonders auffallen konnte, denn es war an der Tagesordnung, daß man einfache Leute ärger als Hunde behandelte. Der andere von den beiden, der auch zornig war, schlug den Mann in gleicher Weise mit der Hand; der Blick und die Haltung der Brüder zeigte bei jener Gelegenheit eine so große Ähnlichkeit, daß ich jetzt zum erstenmal bemerkte, sie seien Zwillingsbrüder.

Von der Zeit unseres Aussteigens am äußeren Tor an, das wir verschlossen gefunden und das von einem der Brüder geöffnet und wieder geschlossen wurde, hatte ich von einem oberen Gemach her schreien hören. Man führte mich geradewegs nach diesem Zimmer; das Geschrei wurde beim Hinaufsteigen immer lauter, und ich fand einen Patienten, der an einem Fieber mit heftigen Phantasiedelirien darniederlag.

Der Patient war ein junges Frauenzimmer von großer Schönheit, augenscheinlich nicht viel über zwanzig. Sie hatte ein wild zerrauftes Haar, und die Arme waren ihr mit Schärpen und Taschentüchern an den Leib gebunden. Ich bemerkte, daß diese Bande lauter Stücke von einem Herrenanzug waren. An einem derselben, einer Galaschärpe mit Fransen, sah ich das Wappen eines Adeligen und den Buchstaben E.

Dies war mir schon in der ersten Minute meiner Krankenuntersuchung aufgefallen; denn bei ihrem unruhigen Umherwerfen hatte die Patientin das Gesicht über den Rand des Bettes hinausgebracht und das Schärpenende im Munde nachgezogen, so daß sie zu ersticken drohte. Ich sorgte zuerst dafür, ihren Atem zu befreien, und als ich die Schärpe beiseite zog, fiel sogleich die Stickerei in der Ecke auf.

Ich rückte sie sanft ins Bett zurück, legte, um sie zu beruhigen und niederzuhalten, meine Hände auf ihre Brust und sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen traten wild aus ihren Höhlen hervor, und sie schrie ohne Unterlaß in durchbohrenden Lauten, wobei sie häufig die Worte wiederholte: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder! Dann zählte sie bis zwölf und sagte: Pst! Sie lauschte einen Augenblick, und dann kam das zeternde Geschrei wieder, der Ruf: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder‘, das Zählen und das Pst! So ging es fort ohne eine Abwechslung in der Art oder Ordnung kein Nachlassen als die regelmäßige augenblickliche Pause, ehe das Geschrei wieder von neuem anfing. ›Wie lange dauert dies schon?‹ fragte ich.

Um die Brüder zu unterscheiden, will ich den einen den Älteren und den andern den Jüngeren nennen; unter dem Älteren meine ich den, der die meiste Autorität übte. Dieser antwortete denn auch:

›Seit gestern abend um diese Zeit.‹

›Sie hat einen Mann, einen Vater und einen Bruder?‹

›Einen Bruder.‹

›Spreche ich vielleicht mit ihm?‹

Die Antwort war ein verächtliches Nein.

›Was hat sie in letzter Zeit mit der Zahl zwölf zu schaffen gehabt?

›Mit der Zahl zwölf? erwiderte ungeduldig der jüngere Bruder.

›Ihr seht, meine Herren‹, sagte ich, ohne meine Hände von der Brust der Kranken zu entfernen, wie nutzlos ich bin, nun ihr mich hierhergebracht habt. Hätte ich gewußt, um was sich’s handelt, so hätte ich mich vorsehen können; wie es aber jetzt steht, geht viele Zeit verloren. An diesem einsamen Platz sind keine Arzneien zu haben.

Der ältere Bruder sah den jüngeren an, der stolz erwiderte, es sei eine Hausapotheke hier. Er holte sie aus einem Kabinett herbei und stellte das Kistchen auf den Tisch.

Ich öffnete einige von den Flaschen, roch daran und brachte die Stöpsel an meine Lippen. Ich würde nichts davon in Verwendung genommen haben, wenn ich nicht einige narkotische Mittel gebraucht hätte, die ohnehin giftig sind.

›Traut Ihr ihnen nicht?‹ fragte der jüngere Bruder.

›Ihr seht, mein Herr, daß ich sie anzuwenden im Begriff bin, entgegnete ich, ohne etwas Weiteres beizufügen.

Mit Mühe gelang es mir endlich, die Kranke zu bewegen, daß sie die Dosis verschluckte, die ich ihr zu geben wünschte. Da ich sie nach einer Weile zu wiederholen beabsichtigte und es nötig war, ihre Wirkung zu beobachten, so setzte ich mich neben dem Bette nieder. Im Zimmer befand sich eine stille schüchterne Frauensperson, das Weib des unten wohnenden Mannes, die sich in eine Ecke zurückgezogen hatte. Das Haus war feucht und baufällig, ganz gewöhnlich möbliert und augenscheinlich erst seit neuerer Zeit bewohnt. Man hatte einige alte dicke Behänge vor die Fenster genagelt, um das Geschrei zu dämpfen. Letzteres währte im regelmäßigen Wechsel mit dem Rufe: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder, dem Zwölfzählen und dem darauf folgenden Pst fort. Das Phantasieren war so ungestüm, daß ich die Bande um die Arme nicht entfernen mochte, obschon ich Sorge dafür trug, daß sie ihr nicht weh taten. Den einzigen Funken von Hoffnung sah ich in dem Umstand, daß meine Hand, die ich auf der Brust der Kranken ruhen ließ, auf diese einen beschwichtigenden Einfluß übte und für Minuten wenigstens das wilde Umherwerfen bändigte. Das Schreien aber machte ungestört fort; kein Pendel hätte regelmäßiger sein können. Da, wie ich vermutete, meine Hand eine so günstige Wirkung übte, so blieb ich wohl eine halbe Stunde an dem Bette sitzen, während die beiden Brüder zusahen. Endlich sagte der ältere:

›Es ist noch ein Patient da.‹

Ich wurde betroffen und fragte, ob es ein dringlicher Fall sei.

›Es wird am besten sein, wenn Ihr selbst nachseht‹, antwortete er gleichgültig, indem er ein Licht aufnahm. *****

Der andere Patient lag eine Treppe höher in einer Hinterstube, und ich wurde dahin durch eine Art Bühne über dem Stall geführt, die teilweise eine niedrige gegipste Decke hatte, während seitlich sich das Ziegeldach mit seinem Sparren- und Balkenwerk anlegte. Es lag Heu und Stroh, auch Reisig hier aufgehäuft; desgleichen bemerkte ich einen Haufen Äpfel auf Sand. Ich mußte über diesen Teil der Bühne gehen, um zu dem andern zu gelangen. Mein Gedächtnis ist nicht erschüttert und erinnert sich der kleinsten Umstände; ich ersehe dies daran, daß hier in der Bastille, in meiner Zelle, nach fast zehnjähriger Gefangenschaft alle jene Einzelheiten noch so deutlich vor mir stehen, wie ich sie an jenem Abend sah.

Auf einem am Boden ausgebreiteten Heuhaufen lag, ein Kissen unter dem Kopf, ein schöner Bauernbursche, der höchstens siebzehn Jahre zählen mochte. Er lag auf dem Rücken, seine Zähne waren verbissen, die Rechte hielt er fest an seine Brust gedrückt, und seine wild funkelnden Augen starrten nach der Decke hinauf. Als ich mich neben ihm aufs Knie niederließ, konnte ich nicht sehen, wo er verletzt war; so viel aber wurde mir klar, daß er an einer Stichwunde rasch dahinstarb.

›Ich bin ein Arzt, mein armer Bursche‹, sagte ich zu ihm; ›laß mich dich untersuchen.

›Brauche keine Untersuchung‹, antwortete er. ›Laßt’s nur gehen.

Die Wunde befand sich unter seiner Hand, und ich brachte ihn so weit, daß er mich sie wegnehmen ließ. Die Verletzung rührte von einem Degenstoße her, den er vor etwa zwanzig oder vierundzwanzig Stunden empfangen haben mochte. Aber keine Geschicklichkeit hätte ihn retten können, selbst wenn augenblicklich Hilfe aufgeboten worden wäre. Er lag im Sterben. Als ich meine Blicke dem älteren Bruder zuwandte, der mich heraufbegleitet hatte, bemerkte ich, daß er auf den schönen Jungen, der so bald von dem Leben scheiden sollte, niederschaute, als sei derselbe nur ein verwundeter Vogel, ein Hase oder ein Kaninchen, nicht aber ein Mitmensch.

›Wie ging dies zu, Herr?‹ fragte ich.

›Ein verrückter, gemeiner junger Hund! Ein Leibeigener! Zwang meinen Bruder, gegen ihn zu ziehen, und fiel durch meines Bruders Degen wie ein Kavalier.

Es lag keine Spur von Mitleid, Bedauern oder einem verwandten menschlichen Gefühl in dieser Antwort. Der Sprecher schien nur anzuerkennen, daß es unbequem sei, wenn diese ganz andere Art von Wesen hier ende, und es viel besser sein würde, wenn er in der gewöhnlichen dunkeln Weise seines Wurmlebens hinstürbe. Einer Teilnahme für den Knaben oder sein Schicksal war er ganz unfähig. Während er sprach, hatten sich die Augen des jungen Menschen langsam auf ihn geheftet; dann aber wandten sie sich mir zu.

›Doktor, sie sind sehr stolz, diese Adligen; aber wir gemeinen Hunde sind bisweilen auch stolz. Sie plündern und beschimpfen uns, schlagen uns und bringen uns um; aber mitunter regt sich doch ein bißchen Ehrgefühl in uns. Sie Ihr habt sie gesehen, Doktor?

Das Geschrei war auch hier hörbar, obschon durch die Entfernung gedämpft; er bezog sich darauf, als ob die Kranke mit im Zimmer liege.

Ich antwortete ihm, daß ich sie gesehen habe.

›Sie ist meine Schwester. Diese Adligen haben ein verjährtes schändliches Recht auf die Zucht und die Tugend unserer Schwestern; aber es gibt auch wackere Mädchen unter uns. Ich weiß es und habe meinen Vater davon sprechen hören. Sie war ein braves Mädchen. Sie heiratete einen braven jungen Mann einen Grundholden 3 von ihm. Wir sind lauter Leibeigene dieses Mannes da, der hier steht. Der andere ist sein Bruder, der schlimmste aus einer schlimmen Sippschaft.

Der junge Mensch brachte nur mit Mühe die Worte hervor, da es ihm an körperlicher Kraft gebrach; aber sein Geist sprach mit einem furchtbaren Nachdruck.

›Wir sind diesen höheren Wesen gegenüber nur gemeine Hunde, und der Mann, der hier steht, beraubte uns nach Belieben, besteuerte uns ohne Erbarmen und zwang uns, für ihn zu arbeiten ohne Lohn; wir mußten Korn auf seiner Mühle mahlen, seine zahmen Vögel in Scharen auf unsern ärmlichen Feldern ernähren und durften unter Todesbedrohung keinen einzigen zahmen Vogel selbst halten. Dem Raub und der Plünderung in aller Weise ausgesetzt, aßen wir den Bissen Fleisch, den wir zufällig erhielten, hinter verschlossenen Türen und Läden, aus Furcht, seine Leute könnten ihn sehen und uns wegnehmen. Ja, so sehr sind wir armen Leute Bedrängnissen aller Art ausgesetzt, daß unser Vater uns sagte, es sei etwas Schreckliches, wenn uns ein Kind geboren werde, und wir sollen hauptsächlich darum beten, daß unsere Weiber unfruchtbar bleiben und unser armseliges Geschlecht aussterbe.

Ich hatte nie zuvor das Gefühl der Bedrückung in so heller Lohe aufflackern sehen. Wohl dachte ich mir, es müsse irgendwo im verborgenen glühen; aber zur Anschauung kam es mir nie, bis ich jenen sterbenden Knaben sah.

›Gleichwohl heiratete meine Schwester, Doktor. Ihr Liebhaber war um jene Zeit krank, und sie heiratete den armen Burschen, um ihn gemächlich in unserer Hütte unserm Hundestall, wie sie dieser Mann nennt pflegen zu können. Sie war noch nicht viele Wochen verheiratet, als der Bruder dieses Mannes sie sah, einen Gefallen an ihr fand und von diesem Mann verlangte, daß er sie ihm borge denn was gelten Ehemänner unter uns? Er war krank und schwach; aber meine Schwester war brav und tugendhaft und haßte seinen Bruder mit ebenso bitterem Haß wie ich. Was taten nun die zwei, um ihren Mann zu überreden, daß er seinen Einfluß auf sie übe und sie willig mache?

Die Augen des jungen Menschen, die bisher auf mir gehaftet hatten, wandten sich nun langsam dem Zuschauer zu, und ich las in den beiden Gesichtern, daß die Wahrheit gesprochen worden war. Ich kann mir selbst in der Bastille noch die verschiedenen Arten von Stolz vergegenwärtigen, die sich hier begegneten der Herr voll nachlässiger Gleichgültigkeit, der Bauer mit seinen in den Staub getretenen Gefühlen voll leidenschaftlicher Rachsucht.

›Ihr wißt, Doktor, daß es zu den Rechten dieser Adligen gehört, uns gemeine Hunde in den Karren zu spannen und auf uns loszupeitschen. Sie spannten ihn ein und ließen ihn die Peitsche fühlen. Ihr wißt, daß sie das Recht haben, uns die ganze Nacht durch auf ihren Feldern festzuhalten, wo wir die Frösche zum Schweigen bringen müssen, damit ihr edler Schlaf nicht gestört werde. Sie schickten ihn nachts hinaus in den ungesunden Nebel und ließen ihn bei Tag im Karren ziehen. Er wollte sich aber nicht bereden lassen. Nein! Eines Mittags aus dem Geschirr genommen, um sich abzufüttern, wenn er anders Nahrung finden konnte, schluchzte er zwölfmal einmal bei jedem Schlag der Glocke und starb an ihrer Brust.

(Kein menschliches Mittel hätte den armen Jungen so lange am Leben erhalten können; aber der Wunsch, all das erlittene Unrecht zu offenbaren, hielt ihn aufrecht. Er drängte die nahenden Schatten des Todes zurück, wie er seine Faust zwang, zusammengeballt zu bleiben und seine Wunde zu decken.)

›Dann nahm mit Erlaubnis und unter Beihilfe dieses Mannes sein Bruder sie weg trotz dem, was sie, wie ich weiß, seinem Bruder gesagt haben muß und was Euch nicht lange unbekannt bleiben wird, wenn Ihr nicht etwa jetzt schon davon Kunde habt nahm sein Bruder sie weg auf eine kurze Weile zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung. Ich sah sie auf der Straße an mir vorbeikommen. Als ich mit der Nachricht zu Hause anlangte, brach unserm Vater das Herz. Er vermochte nicht mehr zu sprechen, wie schwer ihm die Worte auch auf der Seele lagen. Ich schaffte meine jüngere Schwester (denn ich hatte noch eine) nach einem Platz, wo ihr dieser Mann nicht mehr beikommen kann; sie wenigstens wird nimmer seine Leibeigene sein. Dann folgte ich seinem Bruder hierher und kletterte gestern nacht herein wohl ein gemeiner Hund, aber mit einem Säbel in der Hand. Wo ist das Bühnenfenster? Es war hier irgendwo.

Das Gemach verdunkelte sich vor seinen Blicken: die Welt schloß sich immer enger vor ihm ab. Ich schaute umher und bemerkte, daß das Heu und Stroh in einer Weise niedergetreten war, als habe hier ein Kampf stattgefunden.

›Sie hörte mich und kam herbei. Ich sagte ihr, sie solle sich fernhalten, bis er tot sei. Er kam herein und warf mir anfangs einige Geldstücke zu; dann schlug er mich mit einer Peitsche. Aber ich, obschon ein gemeiner Hund, drang dermaßen auf ihn ein, daß er vom Leder zog. Mag er den Degen, den er mit meinem gemeinen Blut befleckte, in so viele Stücke zerbrechen, wie er will; er zog ihn, sich zu verteidigen, und brauchte alle seine Geschicklichkeit, um sein Leben zu schirmen.

(Mein Blick war einige Augenblicke vorher auf die Teile eines zerbrochenen Edelmannsdegens gefallen, die auf dem Heu lagen. An einer andern Stelle bemerkte ich einen alten Säbel, der einem Soldaten gehört haben mochte.)

›Helft mir auf, Doktor; helft mir auf. Wo ist er?‹

›Er ist nicht hier‹, sagte ich, den Knaben unterstützend, in der Meinung, daß seine Frage sich auf den Bruder beziehe.

›Ha! So stolz diese Adligen sind, fürchtet er sich doch, mich zu sehen. Wo ist der Mann, der hier war? Wendet mein Gesicht gegen ihn.

Ich tat so, indem ich den Kopf des Knaben mit meinem Knie unterstützte. Aber er fühlte für einen Augenblick eine außerordentliche Kraft und richtete sich vollständig auf, so daß auch ich mich erheben mußte, wenn ich ihn nicht ganz sich selbst überlassen wollte.

›Marquis‹, sagte der Knabe, die großen Augen auf ihn gerichtet und die Rechte erhoben, es kommt ein Tag, an dem für alle diese Dinge Rechenschaft abgelegt werden muß, und ich lade dann Euch bis auf den letzten Eures schändlichen Geschlechtes vor. Rede zu stehen für Eure Untaten. Und für die Tage, da Rechenschaft abgelegt werden muß für alle diese Dinge, lade ich Euren Bruder vor, den schlimmsten eures schlimmen Geschlechtes, daß er noch besonders sich dafür verantworte. Ich mache mit meinem Blut das Kreuz über ihn zum Zeichen, daß ich ihn vor Gottes Gericht verklagt habe.

Er langte zweimal mit der Hand in seine Brustwunde und machte mit dem Zeigefinger ein Kreuz in die Luft. So blieb er mit ausgestrecktem Finger noch einen Augenblick stehen; und als die Hand sank, brach auch er zusammen. Ich legte ihn tot auf die Streu nieder.

*

Als ich an das Lager des jungen Weibes zurückkehrte, fand ich sie ganz in ihrem alten Zustand. Ich wußte, daß dieses Rasen noch viele Stunden anhalten konnte und wahrscheinlich nur mit der Stille des Grabes endigte.

Ich gab ihr wieder Arznei und blieb bis tief in die Nacht hinein neben ihr sitzen. Das Geschrei war so durchbohrend wie immer, und auch in der Bestimmtheit und in der Ordnung der Worte trat kein Wechsel ein. Sie lauteten stetig: ›Mein Mann, mein Vater und mein Bruder! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf. Pst!

Dies währte von der Zeit meiner ersten Ankunft an sechsundzwanzig Stunden. Ich hatte mich zweimal entfernt, war wiedergekommen und saß neben ihr, als sie zu stottern begann. Ich tat das wenige, was sich tun ließ, um dieses Ermatten der Delirien zu unterstützen, und allmählich versank sie in eine Schlafsucht, in der sie wie eine Tote dalag.

Es war, als habe nach einem langen und furchtbaren Ungewitter der Sturm und der Regen endlich nachgelassen. Ich machte ihre Arme los und rief die Frau im Hause herbei, daß sie mir helfe, den Körper und die zerrissenen Kleider der Kranken in Ordnung zu bringen. Nun entdeckte ich erst, daß sich mit ihrem Zustand die Merkmale der werdenden Mutterschaft verbanden, und die kleine Hoffnung, die ich für die Kranke hegte, schwand mit dieser Wahrnehmung vollends.

›Ist sie tot?‹ fragte der Marquis, den ich noch immer als den älteren Bruder bezeichnen will, als er von einem Ausritt zurück gestiefelt in das Zimmer kam.

›Nicht tot, aber im Sterben‹, versetzte ich.

›Welche Kraft doch in diesen gemeinen Leibern liegt!‹ sagte er, wie mit Neugier auf sie niederschauend.

›Allerdings liegt eine wunderbare Kraft im Schmerz und in der Verzweiflung‹, entgegnete ich.

Anfangs lachte er über meine Worte; dann aber machte er ein finsteres Gesicht. Er rückte mit seinem Fuß einen Stuhl in die Nähe des meinigen, hieß dann die Frau fortgehen und sprach mit gedämpfter Stimme:

›Doktor, als ich fand, daß mein Bruder mit diesem Pack in Ungelegenheit gekommen war, forderte ich, daß man Euren Beistand aufbiete. Ihr habt einen Ruf und könnt es als junger Mann zu etwas bringen, wenn Ihr auf Euer Interesse Bedacht nehmt. Dinge, wie Ihr sie hier gesehen habt, sieht man, ohne davon zu sprechen.

Ich hörte auf den Atem der Patientin und umging so eine Antwort.

›Erweist Ihr mir die Ehre Eurer Aufmerksamkeit, Doktor?‹

›Monsieur‹, erwiderte ich, ›in meinem Beruf stehen die Mitteilungen von Patienten stets unter dem Siegel des Vertrauens.‹ Ich war vorsichtig in meiner Antwort; denn was ich gesehen und gehört, hatte meinen Geist tief erschüttert.

Ihr Atem ging so unmerklich, daß ich sorgfältig ihren Puls und Herzschlag untersuchte. Leben war noch da, aber kaum fühlbar. Als ich meinen Sitz wieder einnahm und mich umsah, bemerkte ich, daß die Brüder kein Auge von mir verwandten.

*

Das Schreiben wird mir schwer. Es ist so kalt, und eine Entdeckung würde mich einer unterirdischen Zelle und gänzlicher Finsternis überantworten. Ich muß daher aus Furcht vor diesem Schicksal meine Erzählung abkürzen. Mein Gedächtnis ist treu und frei von aller Verwirrung; ich kann mir jedes Wort, das zwischen mir und diesen Brüdern fiel, mit allen Einzelheiten vergegenwärtigen.

Sie trieb es noch eine Woche. Gegen das Ende konnte ich einige Silben, die sie zu mir sagte, verstehen, wenn ich mein Ohr dicht an ihre Lippen hielt. Sie fragte mich, wo sie sei – ich sagte es ihr, – wer ich wäre: auch darüber gab ich ihr Auskunft. Vergeblich erkundigte ich mich nach ihrem Familiennamen; sie schüttelte matt den Kopf auf ihrem Kissen und bewahrte ihr Geheimnis, wie es der Knabe getan hatte.

Ich fand keine Gelegenheit, ihr Fragen vorzulegen, bis ich den Brüdern sagte, daß es rasch mit ihr zu Ende gehe und sie keinen Tag mehr leben werde. Bis dahin hatte, wenn ich da war, stets einer von ihnen argwöhnisch hinter dem Vorhang zu den Häupten des Bettes gesessen, ohne sich übrigens der Kranken bemerklich zu machen, die nur von meiner und der Frau Anwesenheit Kunde hatte. Nachdem es so weit gekommen war, schien es ihnen gleichgültig zu werden, was sie mir sagen mochte, als ob sie der Gedanke ging mir durch den Sinn auch mich zu den Sterbenden zählten.

Ich bemerkte stets, wie bitter empfindlich es ihr Stolz nahm, wenn es ruchbar werden sollte, daß der jüngere Bruder, wie ich ihn nenne, seinen Degen mit einem Bauern, der noch obendrein nur ein Knabe war, gekreuzt habe. Das Lächerliche und für die Familie Herabwürdigende dieses Vorfalls schien allein für sie von Gewicht zu sein. Ich begegnete oft den Augen des jüngeren Bruders und las darin tiefen Widerwillen gegen mich, weil er wußte, was der junge Mensch in meiner Gegenwart gesprochen hatte. Dies entging mir nicht, obschon er sich glatter und höflicher gegen mich benahm als der ältere. Aber auch dieser sah in mir unverkennbar eine Last.

Meine Kranke starb zwei Stunden vor Mitternacht – meiner Uhr nach fast in derselben Minute, in der ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Ich war allein bei ihr, als das unglückliche junge Wesen sanft an meiner Seite niedersank und all ihr Erdenleiden ein Ende nahm.

Die beiden Brüder warteten in einem unteren Zimmer ungeduldig, da sie fortreiten wollten. Ich hatte, während ich neben der Sterbenden saß, gehört, wie sie mit ihren Reitpeitschen an ihre Stiefel schlugen und im Zimmer auf und ab gingen.

»Ist sie endlich tot?« fragte der ältere, als ich zu ihnen kam.

»Sie ist tot«, lautete meine Antwort.

»Ich gratuliere dir, Bruder«, sagte er und wandte sich um.

Er hatte mir schon früher Geld angeboten, das ich vorläufig ablehnte. Jetzt gab er mir eine Rolle mit Gold. Ich nahm sie und legte sie auf den Tisch. Nach reiflicher Erwägung des Falles war ich mit mir eins geworden, nichts anzunehmen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte ich. »Unter solchen Umständen, nein.«

Sie sahen einander an, verbeugten sich aber gegen mich, als ich ihnen mein Kompliment machte, und wir schieden, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.

*

Ich bin müde, müde, müde aufgerieben von meinem Elend. Ich kann nicht lesen, was ich mit dieser abgezehrten Hand geschrieben habe.

Am andern Morgen früh wurde die Goldrolle, die in ein Kistchen verpackt und an mich überschrieben war, an meiner Tür abgegeben. Ich hatte von Anfang an ängstlich bei mir erwogen, was ich in dieser Angelegenheit zu tun habe. Jetzt entschied ich mich dafür, privatim an den Minister zu schreiben, ihn über die beiden Fälle, die mir zur Kunde gekommen waren, zu unterrichten und ihm den ganzen Hergang zu melden. Wohl kannte ich den Hofeinfluß und die Vorrechte des Adels und erwartete davon nichts anderes, als daß die Sache vertuscht bleiben werde; aber ich wünschte, mein Gewissen zu erleichtern. Im übrigen bewahrte ich die Vorgänge als tiefes Geheimnis, selbst vor meiner Frau, und ich beschloß, dies in meinem Schreiben an den Minister anzuführen. Für mich selbst fürchtete ich keine wirkliche Gefahr, wohl aber für andere, wenn diese wußten, was ich wußte, und sich eine Blöße gaben.

Ich war an jenem Tag sehr beschäftigt und konnte mein Schreiben an jenem Abend nicht zu Ende bringen, weshalb ich am andern Morgen zu diesem Ende viel früher als gewöhnlich aufstand. Es war der letzte Tag des Jahres. Ich hatte eben die Feder niedergelegt, als mir angezeigt wurde, daß eine Dame warte und mich zu sprechen wünsche.

Ich werde mehr und mehr unfähig für die Aufgabe, die ich mir vorgesteckt habe. Es ist so kalt, so dunkel, die Sinne versagen mir, und ein schreckliches Düster umfängt mich.

Die Dame war jung und angenehm, aber augenscheinlich nicht für ein langes Leben bestimmt. Sie befand sich in einer großen Aufregung. Sie stellte sich mir als Gattin des Marquis St. Evrémonde vor. Ich brachte diesen Namen mit dem Titel, mit dem der Knabe den älteren Bruder angeredet, und mit dem gestickten Anfangsbuchstaben auf der Schärpe in Verbindung und zog daraus mit Leichtigkeit den Schluß, daß ich in letzter Zeit mit diesem Edelmann zu tun gehabt hatte.

Mein Gedächtnis ist noch genau, aber ich kann die Worte unseres Gesprächs nicht niederschreiben. Ich vermute, daß ich schärfer bewacht werde als früher, und bin keinen Augenblick vor einem Überfall sicher. Sie hatte die Hauptzüge der traurigen Geschichte, bei der ihr Mann beteiligt und mein Beistand aufgeboten worden war, zum Teil geargwöhnt, zum Teil entdeckt, wußte aber nicht, daß das arme Opfer tot war. Sie habe gehofft, sagte sie in großer Betrübnis, der Unglücklichen insgeheim weibliche Sympathie zuteil werden zu lassen und so den Zorn des Himmels von einem Hause abzuwenden, auf dem der Fluch so vieler Leidenden lastete.

Sie habe Grund zu glauben, daß noch eine jüngere Schwester am Leben sei, und es sei ihr sehnlichster Wunsch, ihr hilfreiche Handreichung zu tun. Ich konnte ihr keine andere Auskunft geben, als daß es mit dem Vorhandensein einer Schwester seine Richtigkeit habe; weiter wisse ich aber nichts von ihr. Die Dame war voll Vertrauen zu mir gekommen, in der Meinung, ich könne ihr den Namen und Aufenthalt der Verschwundenen angeben; aber bis auf diese Unglücksstunde habe ich weder von dem einen noch von dem andern etwas erfahren.

Es fehlen mir einige Papierstreifen. Der eine wurde mir gestern mit einer Verwarnung abgenommen. Ich muß meinen Bericht heute zu Ende bringen.

Sie war eine gute, mitleidige Frau und in ihrer Ehe nicht glücklich. Wie wäre dies möglich gewesen? Der Schwager traute ihr nicht, haßte sie und trat ihr mit seinem Einfluß überall entgegen; sie aber fürchtete ihn und ihren Mann. Als ich sie nach ihrem Wagen hinunterbegleitete, sah ich darin ein Kind, einen hübschen Knaben von zwei oder drei Jahren.

›Um seinetwillen, Doktor‹, sagte sie, mit Tränen auf den Knaben deutend, möchte ich so gern alles tun, was in meinen schwachen Kräften liegt, um für das Geschehene eine Sühne zu leisten. Sein Erbe wird ihm sonst nie Glück bringen. Ich habe eine Ahnung, daß, wenn nicht eine andere Genugtuung für diese Tat geleistet wird, er eines Tages dafür einzustehen hat. Was ich ihm einmal als mein Eigentum hinterlassen kann es ist außer einigen Juwelen von geringem Wert , soll er, ich lege es ihm als erste Lebensaufgabe ans Herz, um seiner armen Mutter willen dieser schwergekränkten Familie zuwenden, wenn sich die Schwester auffinden läßt.

Sie küßte den Knaben und sagte liebkosend zu ihm: Du tust’s auch zu deinem eigenen Besten. Nicht wahr, du willst mir Wort halten, kleiner Charles? Das Kind antwortete mit einem herzhaften Ja. Ich küßte ihr die Hand. Sie nahm den Knaben in die Arme, und während sie ihn liebkoste, fuhr der Wagen von hinnen. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Sie hatte mir den Namen ihres Gatten genannt, in der Meinung, daß ich ihn bereits kenne. Ich wollte ihn gleichwohl in meinem Schreiben nicht berühren, sondern siegelte es, wie es war, und gab es, da ich es keinen andern Händen anvertrauen mochte, im Laufe des Tages persönlich ab.

Denselben Abend (es war der letzte im Jahr) gegen neun Uhr läutete ein schwarzgekleideter Mann an meiner Tür, verlangte mich zu sprechen und folgte leise meinem Diener Ernst Defarge, einem jungen Menschen, die Treppe hinauf. Als der Diener in das Zimmer trat, in dem ich mit meiner Frau saß o, Geliebte meines Herzens, mein junges, schönes engelhaftes Weib! , sahen wir den Mann, den wir an der Haustür vermuteten, schweigend hinter ihm stehen.

Ein dringlicher Fall in der Straße St. Honoré, sagte er. Ich werde nicht lange aufgehalten werden: er habe eine Kutsche bei sich.

Sie brachte mich hierher, brachte mich zu meinem Grabe. Ich hatte kaum meine Wohnung verlassen, als man mir einen Knebel dicht über dem Mund zusammenzog und meine Arme band. Die beiden Brüder kamen aus einem dunkeln Winkel hervor über die Straße herüber und bezeichneten mich mit einer einfachen Gebärde als die rechte Person. Der Marquis nahm den von mir geschriebenen Brief aus seiner Tasche, zeigte ihn mir, verbrannte ihn an dem Licht einer Laterne, die man ihm vorhielt, und zertrat die Asche mit seinen Füßen. Kein Wort wurde gesprochen. Man brachte mich hierher und versenkte mich lebendig in mein Grab.

Hätte es Gott gefallen, im Laufe dieser schrecklichen Jahre es einem der Brüder ins Herz zu legen, daß sie mir Kunde von meinem teuren Weibe zugehen ließen oder mich nur mit einem Wort von ihrem Leben oder Tod unterrichteten, so würde ich geglaubt haben, er habe sie nicht ganz verworfen. Jetzt aber lebe ich der Überzeugung, daß das Zeichen des roten Kreuzes ihnen zum Verderben gereichte und sie keinen Anteil haben an seinem Erbarmen. Sie und ihre Abkömmlinge bis zum letzten ihres Geschlechts lade ich, der unglückliche Gefangene Alexander Manette, in meinem namenlosen Jammer am letzten Abend des Jahres 1767 vor den Richterstuhl, der solche Taten richten wird. Ich klage sie an vor dem Himmel und vor der Erde.«

Ein schreckliches Getümmel erhob sich, als die Vorlesung dieses Dokumentes zu Ende war. Ein gleichmäßiges hungriges Geschrei, in dem kein artikulierter Laut als das Wort Blut sich unterscheiden ließ. Die Erzählung hatte die rachgierigsten Leidenschaften der Zeit heraufbeschworen, und in dem ganzen Volk gab es kein Haupt, das nicht einer solchen Anklage gegenüber hätte fallen müssen.

Einem solchen Tribunal und einer solchen Zuhörerschaft gegenüber war es überflüssig, zu zeigen, daß die Defarges die Schrift nicht mit den andern in der Bastille eroberten Denkschriften, die in Prozession herumgetragen wurden, veröffentlicht, sondern für sich behalten hatten, um eine günstige Zeit abzuwarten … Und wozu ferner nachweisen, daß der Name jener verabscheuten Familie längst in St. Antoine mit Fluch beladen und in die verhängnisvollen Register eingetragen war? Es hat nie einen Menschen gegeben, der trotz aller möglichen Vorzüge und Verdienste einen Schutz gefunden hätte gegen eine solche Anklage zu solcher Zeit und an einem solchen Platze.

Und was das Schlimmste für den unglücklichen Gefangenen, der Ankläger war ein wohlbekannter Bürger, ein ihm treu anhängender Freund, der Vater seines Weibes. Zur wahnsinnigen Sucht des großen Haufens gehörte auch die affektierte Nachahmung der zweifelhaften öffentlichen Tugenden des Altertums und das Verlangen nach Opfern und Selbstaufopferungen auf dem Altar des Volkes. Als daher der Präsident sagte (er mußte es tun, wenn ihm nicht der eigene Kopf auf seinen Schultern wackeln sollte), der gute republikanische Arzt werde sich noch mehr um die Republik verdient machen durch Ausrottung einer gemeinschädlichen Aristokratenfamilie und ohne Zweifel eine heilige Wonne darin fühlen, seine Tochter zur Witwe und ihr Kind zu einer Waise zu machen, da wallte die patriotische Glut in wilder Erregung auf und erstickte jeden Hauch menschlicher Teilnahme.

»Der Doktor hat vielen Einfluß«, murmelte Madame Defarge, der Rache zulächelnd. »Rett‘ ihn jetzt, Doktor; rett‘ ihn!«

Nach jeder Abstimmung eines Geschworenen erscholl ein Gebrüll. Wieder eine, wieder eine. Gebrüll und Gebrüll.

Einstimmig verurteilt. Im Herzen und von Herkunft ein Aristokrat, ein Feind der Republik, ein berüchtigter Bedrücker des Volkes. Zurück nach der Conciergerie und Tod binnen vierundzwanzig Stunden!

  1. Freie, aber zur Fron verpflichtete Gutsinsassen.

Zweites Kapitel. Der Schleifstein.


Zweites Kapitel. Der Schleifstein.

Tellsons Bank befand sich in dem Saint-Germain-Viertel von Paris und hatte den einen Flügel eines großen Hauses inne, das vermittelst eines Hofes zugängig und gegen die Straße durch eine hohe Mauer und ein starkes Tor abgesperrt war. Das Haus gehörte einem vornehmen Adligen, der es bewohnt hatte, bis er sich in der Kleidung seines Koches den Unruhen entzog und über die Grenze ging. Jetzt ein gehetztes Wild, das vor den Jägern floh, war er doch trotz seiner Umwandlung kein anderer als derselbe Monseigneur, der für Mundgerechtmachung seiner Schokolade drei starke Männer brauchte, den Koch nicht mitgerechnet.

Monseigneur war fort, und die drei starken Männer taten für die Sünde, ihm einen hohen Lohn abgenommen zu haben, dadurch Buße, daß sie sich mehr als bereit und willig erwiesen, ihm am Altar der aufdämmernden einen und unteilbaren Republik mit dem Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod den Hals abzuschneiden. Monseigneurs Haus war anfangs mit Sequester belegt und dann vom Fiskus eingezogen worden. Es ging mit allen Dingen so schnell, und Dekret folgte auf Dekret mit so wilder Hast, daß jetzt in der dritten Nacht des herbstlichen Monats September patriotische Regierungskommissare im Besitz von Monseigneurs Haus waren, es mit der Trikolore bezeichnet hatten und in den Prunkzimmern Branntwein tranken.

Ein Geschäftsplatz in London, wie Tellsons Geschäftsplatz in Paris war, würde das Haus bald aus dem Häuschen und in die Zeitung gebracht haben. Denn was hätte wohl die gesetzte britische Achtbarkeit und Zahlungsfähigkeit zu den Kübeln mit Orangenbäumen in einem Bankhof, oder gar zu einem Liebesgott über dem Zahltisch gesagt? Doch so war es nun einmal. Tellsons hatten zwar den Kupido übertüncht; aber man konnte ihn noch immer in seiner leichten Leinwandbekleidung an der Decke sehen, wie er seinem nicht seltenen Brauche gemäß vom Morgen bis in die Nacht nach dem Geld zielte. In der Londoner Lombardstraße wäre durch den blinden Heiden 2, durch den mit einem Vorhang versehenen Alkoven hinter dem unsterblichen Knaben, durch den in die Wand eingelassenen Spiegel und durch die jungen Kontoristen, die bei jeder Gelegenheit an öffentlichen Tanzbelustigungen teilnahmen, unvermeidlich der Bankerott herbeigeführt worden. In Frankreich aber konnten Tellsons mit solchen Dingen recht gut fortfahren, ohne daß, solang die Zeit nicht aus ihrem Geleise kam, irgend jemand sich darüber entsetzte und sein Geld zurücknahm.

Welches Geld fortan gezogen wurde auf Tellsons und wieviel dort liegenblieb, verloren oder vergessen, welche Vorräte von Silbergeschirr und Geschmeide in Tellsons Verstecken lagen, während deren Inhaber in Gefängnissen moderten oder im Lause der Zelt einen gewaltsamen Tod fanden: wie viele Abrechnungen mit Tellsons in dieser Welt nimmer zum Abschluß kommen sollten, sondern in die andere hinübergeschleppt werden mußten niemand hätte in seiner Nacht mehr Auskunft darüber geben können als Mr. Jarvis Lorrn, obschon ihm diese Fragen schwer zu schaffen machten. Er saß bei einem frisch angezündeten Holzfeuer (das schlimme und unfruchtbare Jahr war frühzeitig kalt geworden), und auf seinem ehrlichen, mutigen Gesichte lag ein tieferer Schatten, als ihn die Hängelampe werfen oder irgendein Gegenstand im Zimmer verzerrt wiedergeben konnte ein Schatten des Entsetzens.

Er hatte die Räumlichkeiten der Bank bezogen, voll Treue gegen das Haus, von dem er ein Teil geworden wie der tiefwurzelnde Efeu. Sie erfreuten sich zufällig einer gewissen Sicherheit infolge der patriotischen Bestimmung des Hauptgebäudes. Aber das treue Herz des alten Ehrenmannes nahm dies nicht in Anschlag. Seiner Pflichterfüllung gegenüber waren ihm solche Nebenumstände gleichgültig. Auf der anderen Seite des Hofes, unter einer Kolonnade, befand sich ein ausgedehnter Kutschenraum, in dem noch immer Monseigneurs Kutschen standen. An zweien der Säulen waren zwei große flackernde Pechpfannen befestigt, und vor ihnen, im Freien, sah man einen mächtigen Schleifstein, eine rohe Maschine, die man augenscheinlich in der Eile aus einer benachbarten Schmiede oder sonstigen Werkstätte herbeigeschafft hatte. Mr. Lorry schauderte, wenn er beim Aufstehen durch das Fenster dieser harmlosen Gegenstände ansichtig wurde, und kehrte dann wieder zu seinem Sitz am Feuer zurück. Er hatte nicht nur das Glasfenster, sondern auch die Blenden davor geöffnet und mit zitternden Händen beide wieder geschlossen.

Von der Straße hinter der hohen Mauer und dem starken Tor her vernahm man das gewöhnliche Gesumm einer großen Stadt und daraus bisweilen unbeschreibliches Klingen, gespenstisch und unirdisch, als ob ungewohnte Töne von schrecklicher Beschaffenheit zum Himmel aufstiegen.

»Gott sei Dank«, sagte Mr. Lorry, die Hände zusammenschlagend, »daß niemand, der mir nah und teuer ist, sich heute nacht in dieser schrecklichen Stadt befindet. Möge Er Erbarmen haben mit allen, die in Gefahr sind!«

Bald nachher ertönte die Glocke an dem großen Tor. »Sie sind zurückgekommen«, dachte er und blieb lauschend sitzen. Aber es brach nicht geräuschvoll in den Hof herein, wie er erwartet hatte. Er hörte, wie das Tor wieder zuschlug: dann war alles still.

Die Bangigkeit, die seine Brust beengte, flößte ihm in bezug auf die Bank jene unbestimmte Unruhe ein, deren man sich unter solchen Umständen nicht erwehren kann, wenn man sich einer schweren Verantwortlichkeit bewußt ist. Wohl war alles gut gehütet, und er wollte eben bei den treuen Wächtern einen Umgang halten, als seine Tür plötzlich aufging und zwei Gestalten hereinstürzten, bei deren Anblick er erstaunt zurückfuhr.

Lucie und ihr Vater! Lucie, die ihre Arme ihm entgegenbreitete, mit jenem alten Nick, so voll des konzentriertesten und angespanntesten Ernstes, daß es den Anschein gewann, er sei ausdrücklich auf ihr Gesicht gestempelt, um ihm Kraft und Nachdruck zu verleihen in diesem einen Abschnitt ihres Leben«.

»Was soll dies?« rief Mr. Lorry in atemloser Verwirrung. »Was gibt es? Lucie! Manette! Was ist vorgefallen? Was führt euch hierher? Was ist los?«

Blaß und außer sich, mit flehentlicher Miene stürzte sie in seine Arme und rief:

»O mein teurer Freund mein Gatte!«

»Euer Gatte, Lucie?«

»Charles.«

»Was ist mit Charles?«

»Er ist hier.«

»Hier in Paris?«

»Ja, schon seit einigen Tagen seit drei oder vier ich weiß nicht, wie vielen; denn ich kann meine Gedanken nicht zusammenbringen. Eine edelmütige Absicht führte ihn ohne unser Vorwissen hierher: er wurde an der Barriere angehalten und ins Gefängnis geschickt.«

Der alte Mann stieß einen ununterdrückbaren Schrei aus. Jetzt im nämlichen Augenblick läutete die Glocke an dem großen Tore wieder, und tumultuarische Fußtritte und Stimmen drangen in den Hof.

»Was ist dies für ein Lärm?« fragte der Doktor, am das Fenster tretend.

»Seht nicht hinaus«, rief Mr. Lorry. »Seht ja nicht hinaus, Manette! So lieb Euch Euer Leben ist, rührt die Blende nicht an.«

Der Doktor wandte sich um, ohne die Hand von dem Fensterriegel zu entfernen, und sagte mit einem ruhigen, kühnen Lächeln:

»Mein teurer Freund, ich habe in dieser Stadt ein gefeites Leben: denn bin ich nicht ein Bastillegefangener gewesen? Es gibt keinen Patrioten in Paris in Paris? nein in ganz Frankreich, der, wenn er weiß, daß ich in der Bastille lag mich anders antasten würde, als um mich mit Umarmungen zu überhäufen und im Triumph umherzutragen. Mein altes Unglück hat mir eine Gewalt verliehen, die uns durch die Barriere half, uns dort Kunde von Charles verschaffte und uns hierher brachte. Ich wußte, daß dies der Fall sein würde wußte, daß es mir gelingen müsse, Charles von aller Gefahr zu befreien, und habe es Lucie zum voraus gesagt. Was ist doch dies für ein Getöse?«

Seine Hand machte sich aufs neue mit dem Fenster zu schaffen.

»Schaut nicht hinaus!« rief Mr. Lorry in heller Verzweiflung. »Nein, Lucie, meine Liebe, auch Ihr nicht!« Er umschlang sie mit den Armen und hielt sie zurück. »Erschreckt nicht so, meine Liebe: ich schwöre Euch feierlich, daß mir nichts von einem Unglück bekannt ist, das Charles betroffen haben könnte. Ja, ich hatte nicht einmal eine Ahnung, daß er in dieser unseligen Stadt sich befindet. In welchem Gefängnis ist er?«

»In der Force!«

»In der Force! Lucie, mein Kind, wenn Ihr je in Eurem Leben wacker und zu etwas brauchbar gewesen seid und Ihr wäret das ja immer so nehmt Euch jetzt zusammen und tut genau, was ich Euch heiße: denn es hängt mehr davon ab, als Ihr denkt oder ich Euch sagen kann. Heute abend kann ich Euch unmöglich aus dem Hause lassen, da alles, was Ihr auch jetzt tun möchtet, zu nichts führen würde. Ich muß Euch dies um Charles willen befehlen, obschon ich weiß, daß es das Schwerste ist, was man von Euch verlangen kann. Aber vorderhand müßt Ihr gehorsam, still und ruhig sein und mir erlauben, daß ich Euch in einem der hinteren Zimmer verberge. Ich wünsche, ein paar Minuten mit Eurem Vater allein zu sein, und da sich’s dabei um Leben und Tod handeln kann, so muß dies sogleich geschehen.«

»Ich will gern alles tun, was Ihr verlangt. Ich sehe in Eurem Gesicht, daß Ihr wohl wißt, wie ich nicht anders kann, da ich ja Euer treues Herz kenne.«

Der alte Mann küßte sie, schob sie in sein Zimmer und drehte den Schlüssel um; dann kam er hastig zurück, öffnete das Fenster und teilweise die Blende, legte die Hand auf den Arm des Doktors und sah mit ihm in den Hof hinunter.

Da war ein Gedränge von Männern und Weibern, nicht sehr zahlreich, aber doch nahezu genug, um den Hof zu füllen; es mochten im ganzen vierzig oder fünfzig Köpfe sein. Die Leute, die im Besitz des Hauses waren, hatten sie zum Tore hereingelassen, und sie eilten zur Arbeit an den Schleifstein, der wahrscheinlich da aufgestellt worden war, weil man den Platz für bequem und abgeschieden gehalten.

Aber welche schrecklichen Arbeiter – welche schreckliche Arbeit!

Der Schleifstein hatte eine doppelte Handhabe, an der sich wie toll ein paar Männer abmühten, deren Gesichter, wenn beim jeweiligen Auftauchen derselben das lange Haar zurückschlug, schrecklicher und grausamer sich ausnahmen als die Gesichter der wildesten Wilden in ihrem barbarischsten Kriegesschmuck. Falsche Augenbrauen und falsche Schnurrbärte klebten daran. Die gräßlichen Fratzen troffen von Blut und Schweiß, waren verzerrt vom Heulen und strotzten und glotzten von bestialischer Aufregung und Mangel an Schlaf. Während die Wüteriche drehten und drehten, fielen die verfilzten Haare bald über die Augen nieder, bald nach dem Nacken zurück. Weiber standen daneben und hielten ihnen zum Trinken Wein an den Mund: und unter dem niederträufelnden Blut, dem niederträufelnden Wein und den Funken, die dem Stein entsprühten, schien die ganze entsetzliche Atmosphäre nur aus Blut und Feuer zu bestehen. In der ganzen Gruppe konnte das Auge kein Gesicht entdecken, das nicht dieselbe gräßliche Bemalung gezeigt hätte. Bis zum Gürtel nackte Männer, die sich wechselseitig gegen den Schleifstein hindrängten, trugen die Blutmale über den ganzen Leib und die Glieder hin; andere zeigten in den elenden Lumpen ihrer Bekleidung überall Blut und Blut, und wieder andere hatten sich teuflisch mit geraubten Weiberkleidern, Spitzen und Bändern herausgeputzt, die durch und durch von Blut starrten. Auch die Äxte, die Messer, die Bajonette, die Säbel, die man zum Schärfen herbeibrachte, waren davon gerötet. Einige der zerhackten Säbel steckten an der Seite ihrer Eigentümer in Gurten von Stricken, Leinwandbinden oder abgerissenen Kleiderstreifen Bandeliere der verschiedensten Art, aber alle in demselben Bade gefärbt. Und während die Träger dieser Waffen sie zurückrissen aus dem Funkenstrome und hinausstürzten in die Straßen, glühte es von demselben Rot in ihren wahnsinnigen Augen Augen, die mit einem gezielten Schuß zu versteinern jeder nicht zum Vieh gewordene Zuschauer zwanzig Jahre seines Lebens gegeben haben würde.

Alles dies wurde geschaut in einem Augenblick, wie etwa der Gesichtskreis eines Ertrinkenden oder irgendeines anderen menschlichen Wesens bei einem ähnlich bedrohlichen Lebensabschnitt eine Welt umfassen würde, wenn sie da wäre. Sie zogen sich vom Fenster zurück, und der Doktor blickte fragend seinem Freund in das aschfahle Gesicht.

»Sie ermorden die Gefangenen«, flüsterte Mr. Lorry, sich furchtsam in dem Zimmer umsehend. »Wenn Ihr wirklich von dem überzeugt seid, was Ihr sagt wenn Ihr die Macht habt, die Ihr zu besitzen meint und ich glaube, daß es so ist , so gebt Euch diesen Teufeln zu erkennen und laßt Euch von ihnen nach La Force mitnehmen. Vielleicht ist es schon zu spät was weiß ich? aber zögert keine Minute länger.«

Doktor Manette drückte ihm die Hand, eilte ohne Kopfbedeckung aus dem Zimmer und befand sich schon im Hof, als Mr. Lorry die Blende wieder zurückschob.

Sein wallendes weißes Haar, sein merkwürdiges Gesicht und die ungestüme Zuversichtlichkeit seines Benehmens, als er die Waffen wie Wasser zurückdrängte, führte im Nu ihn bis in die Mitte des um den Stein versammelten Haufens. Für einige Augenblicke trat eine Pause ein. Lorry vernahm ein Gewühl, ein Gemurmel und den undeutlichen Ton seiner Stimme: dann sah er, wie alle ihn umringten und wie er in der Mitte einer zwanzig Mann langen Reihe unter dem Rufe hinausgedrängt wurde: »Es lebe der Bastillegefangene! Hilfe der Verwandtschaft des Bastillegefangenen in der Force! Platz da vorn für den Bastillegefangenen! Rettet den gefangenen Evrémonde in der Force!« Und tausend Stimmen antworteten auf das Geschrei.

Mit klopfendem Herzen schloß Mr. Lorry die Blende und das Fenster wieder und schob den Vorhang vor. Dann eilte er zu Lucie und teilte ihr mit, daß ihr Vater unter dem Beistand des Volkes hingegangen sei, um ihren Gatten aufzusuchen. Sie hatte ihr Kind und Miß Proß bei sich, aber es fiel ihm nicht ein, sich über diese ihre Gesellschaft zu wundern, und er erstaunte erst lange nachher darüber, als ihm die Nacht so viel Ruhe gestattete, den anderen Anwesenden seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Lucie war, seine Hand umfassend, in einem Zustand von Betäubung zu Boden gesunken. Miß Proß hatte das Kind auf sein Bett niedergelegt, und ihr Haupt ruhte erschöpft neben dem teuren Pflegling auf dem Kissen. Oh, die lange, lange Nacht mit dem Stöhnen des armen Weibes! Und oh, die lange, lange Nacht, ohne daß ihr Vater oder Kunde von ihm zurückkam!

Noch zweimal ertönte in der Dunkelheit die Glocke des großen Tores; die Unterbrechung der Stille wiederholte sich, und aufs neue ging und sprühte der Schleifstein.

»Was ist dies?« rief Lucie erschreckt.

»Pst! Die Soldaten schärfen dort ihre Säbel«, antwortete Mr. Lorry. »Das Haue ist jetzt Nationaleigentum und dient als eine Art Rüstplatz, meine Liebe.«

Noch zweimal im ganzen; aber das letztemal ging die Arbeit nur matt und krampfhaft von statten. Bald nachher begann der Tag aufzudämmern. Mr. Lorry machte sich sanft von der ihn umklammernden Hand los und schaute vorsichtig wieder hinunter. Ein Mann, der derart mit Blut überzogen war, daß er einen schwerverwundeten, auf dem Schlachtfeld wieder zum Bewußtsein gekommenen Soldaten hätte vorstellen können, richtete sich neben dem Schleifstein von dem Pflaster auf und schaute unstet um sich her. Der erschöpfte Mörder bemerkte in dem unvollkommenen Licht einen von den Wagen Monseigneurs, taumelte auf die prächtige Karosse zu, kletterte hinein und schloß den Schlag, um sich auf den üppigen Polstern auszuruhen.

Der große Schleifstein Erde drehte sich, als Mr. Lorry wieder hinaussah, und die Sonne schien rot in den Hof. Aber der kleine Schleifstein stand einsam da in der ruhigen Morgenluft, und das Rot auf ihm rührte nicht von der Sonne her, die es auch nimmer zu bleichen vermochte.

  1. Amor als Liebesgott wird oft blind dargestellt; daher »der blinde Heide«.

Der Schatten


Der Schatten

Eine der ersten Rücksichten, die bei dem Beginn der Geschäftsstunden in Mr. Lorrys Geschäftshirn auftauchten, galt dem Umstand, daß er nicht befugt sei, Tellsons zu gefährden, indem er der Frau eines gefangenen Emigranten unter dem Dach der Bank einen Zufluchtsort gestattete. Sein Privateigentum, seine Sicherheit, ja, sein Leben würde er bereitwillig und ohne Zögern für Lucie und ihr Kind aufs Spiel gesetzt haben; aber das in ihn gesetzte Vertrauen legte ihm auch eine schwere Verantwortung auf, der gegenüber er der strenge Geschäftsmann war.

Er dachte zunächst an Defarge, dessen Weinhaus er wieder aufsuchen wollte, um sich mit ihm über die sicherste Wohnstätte, die sich in der wildbewegten Stadt finden ließ, zu beraten. Nach einigem Erwägen aber besann er sich eines anderen. Defarge wohnte in dem gewalttätigsten Stadtteil und besaß in demselben ohne Zweifel großen Einfluß, ja, war wohl gar an dem wilden Treiben der Bewohner tief beteiligt.

Der Mittag kam, ohne daß der Doktor zurückkehrte. Da jede Minute Tellsons mehr bloßstellte, so ging Mr. Lorry mit Lucie zu Rate. Sie sagte, ihr Vater habe davon gesprochen, für kurze Zeit in der Nähe des Bankhauses eine Wohnung zu mieten. Da sich hiergegen nichts einwenden ließ und der wackere Alte voraussah, daß Charles, wenn alles gut mit ihm ging und er in Freiheit gelangte, doch nicht hoffen durfte, aus der Stadt fortzukommen, so machte er sich auf den Weg, um ein geeignetes Quartier zu suchen, das er dann auch richtig hoch oben in einer abgelegenen Nebenstraße fand, wo die geschlossenen Jalousien eines melancholischen Gebäude-Vierecks lauter verlassene Wohnungen anzeigten.

Dahin schaffte er nun ohne Säumen Lucie mit ihrem Kind und Miß Proß, indem er ihnen mehr Trost mit auf den Weg gab, als er selbst empfand. Er ließ Jerry bei ihnen, der, wenn er sich unter die Tür stellte, schon einen Stoß aushalten konnte, und kehrte an seine Arbeit zurück. Freilich brachte er eine verstörte, traurige Stimmung mit, und es wollte mit der Arbeit gar nicht recht vorwärtsgehen.

So lag es denn schwer und drückend auf seiner Seele, bis er endlich die Bank schließen konnte. Er war wieder wie am Abend zuvor allein in seinem Zimmer und machte sich eben Gedanken, was er jetzt anfangen sollte, als er auf der Treppe Tritte vernahm. Einige Augenblicke später stand ein Mann vor ihm, der ihn scharf ins Auge faßte und bei seinem Namen anredete.

»Euer Diener«, versetzte Mr. Lorry. »Kennt Ihr mich?«

Es war ein kräftig gebauter Mensch mit dunklem krausem Haar, der seine fünfundvierzig bis fünfzig zählen mochte. Statt aller Antwort wiederholte er nur ohne einen Wechsel in der Betonung die Worte:

»Kennt Ihr mich?«

»Ich muß Euch schon irgendwo gesehen haben.«

»Vielleicht in meinem Weinhaus?«

Mr. Lorry entgegnete mit großer Aufregung und Teilnahme:

»Ihr kommt von Doktor Manette?«

»Ja. Ich komme von Doktor Manette.«

»Und was sagt er? Was läßt er mich durch Euch wissen?«

Defarge legte in seine zitternde Hand einen offenen Papierstreifen, auf dem in des Doktors Handschrift die Worte zu lesen waren:

»Charles ist wohlbehalten, obwohl es im gegenwärtigen Augenblick für mich nicht geraten ist, diesen Ort zu verlassen. Ich habe die Gunst ausgewirkt, daß der Überbringer dieses auch ein paar Zeilen von Charles an seine Frau besorgen darf. Laßt ihn zu ihr.«

Das Billett war der Bezeichnung nach eine Stunde vorher in der Force geschrieben worden.

»Wollt Ihr mich in die Wohnung seiner Frau begleiten?« sagte Mr. Lorry mit froher Erleichterung, nachdem er die Zuschrift laut gelesen hatte.

»Ja«, antwortete Defarge.

Mr. Lorry hatte die seltsam zurückhaltende und mechanische Art, in der Defarge sprach, bis jetzt kaum beachtet. Er setzte seinen Hut auf, und sie gingen miteinander in den Hof hinunter. Dort fanden sie zwei Frauen, von denen die eine strickte.

»Wahrhaftig, Madame Defarge!« sagte Mr. Lorry, der sie vor siebenzehn Jahren genau in derselben Haltung zum letztenmal gesehen hatte.

»Sie ist es«, bemerkte ihr Gatte.

»Geht Madame mit uns?« fragte Mr. Lorry, als er sah, daß sie mit ihnen gleichen Schritt hielt.

»Ja. Sie muß imstande sein, Personen und Gesichter zu erkennen. Es geschieht um ihrer Sicherheit willen.«

Nachgerade begann das Benehmen Defarges Mr. Lorry aufzufallen: er sah ihn zweifelhaft an und ging weiter. Die beiden Frauen folgten; die zweite war die Rache.

Sie gingen mit möglichster Geschwindigkeit durch die dazwischenliegenden Straßen, stiegen die Treppe der neuen Wohnung hinan und wurden von Jerry eingelassen. Lucie war allein und weinte. Man denke sich ihr Entzücken, als Mr. Lorry ihr Nachricht von ihrem Mann brachte. Sie drückte krampfhaft die Hand, die ihr sein Billett überlieferte, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was dieselbe Hand während der letzten Nacht in seiner Nähe getan hatte und, ohne einen Zufall, wohl an ihm selbst verübt haben würde.

»Meine Teure fasse Mut. Ich bin wohl, und Dein Vater besitzt Einfluß auf meine Umgebung. Du kannst mir nicht antworten auf diese Zeilen. Küsse unser Kind in meinem Namen.«

Dies war die ganze Mitteilung. Der Empfängerin aber erschien sie von so hohem Wert, daß sie sich von Defarge an dessen Weib wandte und eine der strickenden Hände küßte. Es war eine leidenschaftliche, liebevolle, dankbare weibliche Handlung; aber die Hand hatte keine Erwiderung dafür sie sank kalt und schwer nieder und nahm ihr Stricken wieder auf.

In der Berührung lag etwas, was Lucie erschreckte. Wie sie eben das Blatt in ihrem Busen verbergen wollte, hielt sie, die Hände bereits an ihrem Hals, plötzlich inne und schaute angstvoll auf Madame Defarge. Diese setzte der gefurchten Stirn einen kalten, teilnahmlosen Starrblick entgegen.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Lorry, zur Erklärung das Wort nehmend, »es gibt häufig Aufstände in den Straßen, und obgleich es nicht wahrscheinlich ist, daß Ihr dadurch beunruhigt werden könntet, so wünscht doch Madame Defarge diejenigen zu sehen, die sie in solchen Zeiten zu beschützen die Macht hat, damit sie dieselben kenne und ihre Identität zu beweisen imstande sei. Ich glaube«, sagte Mr. Lorry, in seinen beruhigenden Worten innehaltend, da ihm das eisige Benehmen der drei mehr und mehr auffiel, »daß dies der Zweck des Besuche« ist, Bürger Defarge?«

Defarge warf einen düsteren Blick auf sein Weib und antwortete nur mit einem dumpfen Ton, den man für eine Bejahung nehmen konnte.

»Es wird gut sein, Lucie«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er in Ton und Benehmen alles aufbot, um die Szene traulicher zu machen, »wenn Ihr das liebe Kind und die gute Proß herkommen laßt. Unsere gute Proß ist eine Engländerin, Defarge, und versteht nicht französisch.«

Die fragliche Dame, die der festen Überzeugung lebte, daß sie es mit jeder Ausländerin aufnehmen könne, ließ sich weder durch Bedrängnis noch durch Gefahr einschüchtern: sie trat mit verschlungenen Armen ein und bemerkte gegen die Rache, die ihren Blicken zuerst begegnete, in englischer Sprache:

»Schockschwerenot, Madame Ohnesorge, ich hoffe. Ihr befindet Euch ordentlich.«

Dann beehrte sie Madame Defarge mit einem britischen Hüsteln: aber keine von den beiden Weibern schenkten ihr eine sonderliche Beachtung.

»Ist dies das Kind?« sagte Madame Defarge, zum erstenmal in ihrer Arbeit innehaltend und mit der Stricknadel, als sei diese der Finger des Schicksals, auf die kleine Lucie deutend.

»Ja, Madame«, antwortete Mr. Lorry. »Dies ist das Töchterlein und das einzige Kind des armen Gefangenen.«

Der Schatten, der auf Madame Defarge und ihrer Begleitung ruhte, schien so finster und drohend auf das kleine Wesen niederzufallen, daß die Mutter instinktartig neben demselben auf den Boden niederkniete und es an ihre Brust drückte, Und der Schatten von Madame Defarge und den beiden andern traf nun drohend und finster Mutter und Kind zugleich.

»Es ist genug. Mann«, sagte Madame Defarge. »Ich habe sie gesehen. Wir brauchen nicht länger zu verweilen.«

Aber das abgemessene Wesen hatte genug Drohendes in sich – nicht deutlich ausgesprochen, wohl aber unbestimmt und verhalten –, so daß die Unruhe Lucie, die ihre Hand flehend auf das Kleid der Madame Defarge legte, die Worte eingab:

»Ihr werdet gütig sein gegen meinen armen Gatten. Ihr werdet ihm nichts zuleide tun. Wollt Ihr mir, wenn Ihr könnt, behilflich sein, ihn zu sehen?«

»Ich habe hier nichts mit Eurem Gatten zu schaffen«, entgegnete Madame Defarge, mit vollkommener Fassung auf sie niederschauend. »Die Tochter Eures Vaters ist’s, die mich hergeführt hat.«

»So seid um meinetwillen barmherzig gegen meinen Mann um meines Kindes willen! Sie soll ihre Händchen zusammenlegen und Euch um Erbarmen bitten. Wir fürchten uns mehr vor Euch als vor diesen anderen.«

Madame Defarge nahm dies als ein Kompliment auf und sah ihren Mann an. Defarge, der inzwischen unruhig an seinem Daumennagel gebissen hatte, erwiderte ihren Blick und suchte seinem Gesicht einen strengeren Ausdruck zu geben.

»Was schreibt Euch Euer Mann in seinem Billett?« fragte Madame Defarge mit einem lauernden Lächeln. »Einfluß sagt er etwas von Einfluß?«

»Ja, daß mein Vater Einfluß besitze auf seine Umgebung«, versetzte Lucie, die hastig den Papierstreifen hervorzog, aber den geängstigten Blick nicht auf die Zeilen warf, sondern ihn unverwandt auf der Fragerin haften ließ.

»So wird er ihm zuverlässig loshelfen«, sagte Madame Defarge. »Ich wünsche Glück.«

»Als Gattin und Mutter flehe ich zu Euch«, rief Lucie aus tiefster Seele, »habt Erbarmen mit mir und gebraucht die Gewalt, die Ihr besitzt, nicht gegen, sondern für meinen unschuldigen Mann. Ihr seid auch ein Weib erbarmt Euch der Gattin und der Mutter!«

Madame Defarge schaute kalt wie immer auf die Flehende nieder und sagte, indem sie sich an ihre Freundin, die Rache, wandte:

»Die Weiber und Mütter, die wir seit der Zeit gesehen haben, als wir noch so klein wie dieses Kind oder noch kleiner waren, sind gemeiniglich nicht sehr berücksichtigt worden. Haben wir nicht oft genug gesehen, wie man ihre Gatten und Väter ins Gefängnis warf und von ihnen getrennt hielt? Sind wir nicht unser Leben lang Zeugen gewesen, daß man Weiber und Kinder der Armut, der Not, dem Hunger, dem Durst, der Krankheit und dem Elend, kurz Bedrückungen und Vernachlässigungen aller Art preisgab?«

»Wir haben nichts anderes gesehen«, versetzte die Rache.

»Wir haben dies lange Zeit getragen«, fuhr Madame Defarge fort, indem sie den Blick wieder zu Lucie senkte. »Urteilt selbst, ob die Not eines Weibes und einer Mutter uns jetzt sonderlich anfechten kann.«

Sie nahm ihre Strickerei wieder auf und entfernte sich. Die Rache folgte. Defarge war der letzte und machte die Tür hinter sich zu.

»Mut, meine teure Lucie«, sagte Mr. Lorry, indem er sie aufrichtete. »Mut, Mut! Bis jetzt ist alles gut gegangen viel, viel besser, als es in den letzten Tagen so vielen armen Seelen erging. Verzaget nicht, sondern danket vielmehr dem Himmel.«

»Ich hoffe, daß ich nicht undankbar bin: aber dieses schreckliche Weib scheint einen Schatten auf mich und alle meine Hoffnungen zu werfen.«

»Pst! pst!« sagte Mr. Lorry. »Wozu dieser Kleinmut in Eurem wackeren Herzen? Ein Schatten ja: aber auch nur ein wesenloser Schatten, Lucie.«

Aber der Schatten in dem Benehmen dieser Defarge lagerte trotzdem auch auf ihm schwarz genug, und seine Seele fühlte sich tief bekümmert.

Viertes Kapitel. Windstille im Gewitter.


Viertes Kapitel. Windstille im Gewitter.

Doktor Manette kehrte erst am Morgen des vierten Tages seiner Abwesenheit wieder zurück. Was sich von den Vorfällen jener schrecklichen Zeit vor Lucie geheimhalten ließ, blieb ihr sorgfältig verborgen, und sie wußte noch lange hernach, nachdem sie sich für immer von Frankreich getrennt hatte, nicht, daß elftausend wehrlose Gefangene jeden Geschlechts und Alters vom Pöbel ermordet worden waren, daß dieses entsetzliche Schlachten vier Tage und vier Nächte gewährt hatte, und daß die Luft um sie her den greulichen Duft eines Leichenfeldes in sich barg. Was sie wußte, beschränkte sich darauf, daß ein Angriff auf die Gefängnisse gemacht worden sei, der alle politischen Gefangenen in Gefahr brachte, und daß das Volk einige herausgerissen und ermordet habe.

Dem Mr. Lorry teilte der Doktor unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, daß die Mörderbande ihn durch eine Szene des Gemetzels nach dem Gefängnis La Force gebracht habe. Dort sei von einem Gerichtshofe, dessen Mitglieder sich selbst ernannt hatten, Sitzung gehalten worden. Man habe die Gefangenen einzeln vorgeführt und in Bausch und Bogen erkannt, ob sie sofort abgetan, in Freiheit gesetzt oder, wie bei einigen wenigen geschah, wieder in ihre Zellen zurückgebracht werden sollten. Durch seine Führer dem Tribunal vorgestellt, habe er seinen Namen und Beruf genannt und sich als einen Bastillegefangenen zu erkennen gegeben, den man ohne Urteil und Recht achtzehn Jahre eingekerkert. Von den Richtern sei sodann einer aufgestanden und habe seine Identität bezeugt, nämlich Defarge.

Nachdem er aus den auf dem Tische liegenden Registern die Überzeugung gewonnen, daß sein Schwiegersohn noch unter den lebenden Gefangenen sei, habe er für dessen Leben und Freiheit eine bewegliche Bitte an das Tribunal gerichtet, dessen Mitglieder zum Teil schliefen, zum Teil wachten, zum Teil blutig vom Mord, zum Teil rein, zum Teil nüchtern, zum Teil betrunken waren. Bei den ersten wilden Begrüßungen, mit denen man ein so denkwürdiges Opfer des gestürzten Systems überschüttete, sei ihm zugestanden worden, daß Charles Darnay vor den ungesetzlichen Gerichtshof gebracht und verhört werde. Auch habe dem Anschein nach wenig zu seiner alsbaldigen Befreiung gefehlt; aber dann sei ein Hindernis (welcher Art dieses gewesen, hatte der Doktor nicht aufklären können) dazwischengetreten, das eine kurze geheime Besprechung zur Folge hatte. Der Präsident des Tribunals habe sodann Doktor Manette erklärt, der Gefangene müsse in Haft bleiben, solle aber um seinetwillen in einen sicheren, unverletzlichen Gewahrsam kommen. Der Gefangene sei auf ein Zeichen sogleich wieder in das Innere des Gefängnisses zurückgeführt worden. Er aber, der Doktor, habe dann dringlich um die Erlaubnis gebeten, bei seinem Schwiegersohn bleiben und sich persönlich davon überzeugen zu dürfen, daß derselbe weder aus Haß noch aus Zufall in die Hände der Banden gerate, deren mordgieriges Gezeter vor dem Tor draußen die Verhandlungen so oft unterbrach. Nachdem ihm hierin willfahrt worden, sei er in der Mordhalle geblieben, bis die Gefahr vorüber gewesen.

Die Auftritte, die er dort erlebte und die nur kurze Ruhepunkte für ein dürftiges Mahl oder den Schlaf gestatteten, sollen unerzählt bleiben. Die wahnsinnige Freude der Gefangenen, die gerettet worden waren, hatte ihn kaum weniger betäubt als die tolle Wildheit, mit der man die anderen in Stücke hieb. Ein Gefangener sei dort gewesen, sagte er, den man entlassen habe, gegen den aber irrtümlich einer von den Mördern beim Hinausgehen einen Pikenstoß führte. Der Doktor war ersucht worden, zu ihm zu gehen und seine Wunde zu verbinden; als er aber zu demselben Tor hinauskam, fand er ihn in den Armen einer Gesellschaft von Samaritern, die auf den Leichen ihrer Opfer saßen. Mit einer Inkonsequenz, die so ungeheuerlich war als irgend etwas in diesem schrecklichen nächtlichen Traume, hatten sie dem Arzte willige Handreichung getan, den Verwundeten mit der größten Sorgfalt gepflegt, eine Tragbahre für ihn gemacht und ihn mit aller Behutsamkeit fortgeschafft, dann aber wieder ihre Waffen aufgegriffen und aufs neue so blutdürstig dreingeschlagen, daß der Doktor die Augen mit den Händen bedeckte und diesen Greueln gegenüber ohnmächtig wurde.

Während Mr. Lorry diese vertrauliche Mitteilung anhörte, beobachtete er sorgsam das Gesicht seines jetzt zweiundsechzigjährigen Freundes, und in seinem Innern regte sich die Furcht, solche schrecklichen Erfahrungen könnten das alte Übel wieder aufwühlen: aber er hatte Mr. Manette nie so gesehen wie jetzt, nie denselben in seinem gegenwärtigen Charakter gekannt. Jetzt zum erstenmal fühlte der Doktor, daß sein früheres Leiden ihm Kraft und Macht verlieh; zum erstenmal fühlte er, daß er in jenem scharfen Feuer langsam das Eisen geschmiedet, mit dem er die Tür zu dem Gefängnis des Gatten seiner Tochter erbrechen und ihn in Freiheit setzen konnte. »Alles hat sich zum besten gefügt, mein Freund, und nichts ist umsonst und verloren gewesen. Wie mein geliebtes Kind dazu behilflich war, mich mir selbst zurückzugeben, so will ich mich jetzt bemühen, ihr den teuersten Teil ihres Ichs wiederzuverschaffen, und unter Gottes Beistand wird es mir gelingen!« So Doktor Manette. Und Jarvis Lorry mußte ihm wohl glauben, wenn er die leuchtenden Augen, das entschlossene Gesicht, den ruhigen Blick und die kräftige Haltung des Mannes betrachtete, dessen Leben ihm stets in dem Licht eines Uhrwerkes vorgekommen war, das man für eine lange Reihe von Jahren abgestellt hatte, und das, nun es wieder im Gang war, durch verstärkte Energie für den langen Schlummer seiner Kräfte Ersatz leistete.

Selbst größere Kämpfe, als der Doktor damals zu bestehen hatte, würden sich an der Festigkeit seines Willens gebrochen haben. Von seiner Stellung als Arzt Gebrauch machend, dem seine Pflicht auferlegte, mit Menschen aller Art, Gefangenen und Freien, Reichen und Armen, Guten und Bösen zu verkehren, wußte er seinen persönlichen Einfluß so weise zu benutzen, daß er bald zum Inspektionsarzt von drei Gefängnissen, darunter der Force, ernannt wurde. Er konnte nun Lucie die Versicherung geben, daß ihr Gatte sich nicht mehr in Einzelhaft, sondern unter den übrigen Gefangenen befand; er sah Charles alle Wochen und konnte ihr Liebesbotschaften von seinen eigenen Lippen bringen; bisweilen wußte Charles sogar ihr ein Briefchen zuzustellen, obschon nie durch des Doktors Hand: aber sie durfte ihm nicht darauf antworten, denn der unsinnige Wahnglaube an Gefängniskomplotte zielte besonders auf jene Emigranten ab, von denen man wußte, daß sie im Ausland Freunde gewonnen oder dauernde Verbindungen eingegangen hatten.

Das neue Leben des Doktors war ohne Zweifel ein sorgenvolles, aber der schlaue Mr. Lorry bemerkte bald, daß ihm dabei ein gewisser Stolz zur Stütze diente. Es war ein natürlicher, ein ehrenwerter Stolz, frei von allem Ungehörigen; aber doch kam er ihm als eine Merkwürdigkeit vor. Der Doktor wußte, daß die Tochter und der Freund mit seiner Gefangenschaft bisher stets das Bild seiner geistigen Verwirrung, seiner Entbehrungen und seiner Schwäche in Verbindung gebracht hatten. Nun dies anders war und er sich um seiner alten Prüfungen willen mit Kräften versehen sah, von denen sich beide die endliche Bergung und Befreiung Darnays versprachen, fühlte er sich durch den Wechsel so gehoben, daß er die Leitung von allem übernahm und von ihnen, den Schwachen, verlangen konnte, ihm, dem Starken, zu vertrauen. Das Verhältnis zwischen ihm und Lucie hatte sich umgekehrt, jedoch nur, wie dies unbeschadet der innigsten Dankbarkeit geschehen konnte; denn sein höchstes Glück bestand darin, ihr, die ihm so viel geopfert hatte, einige Dienste zu leisten. »Ganz merkwürdig anzusehen«, dachte Mr. Lorry in seiner gemütlich schlauen Weise, »aber ganz natürlich und in der Ordnung. So nimm nur das Steuer, mein lieber Freund, und halt es fest; es könnte in keinen besseren Händen sein.«

Aber obgleich sich der Doktor unablässig alle Mühe gab, die Befreiung von Charles Darnay durchzusetzen oder es wenigstens dahin zu bringen, daß er vor Gericht gestellt wurde, war doch die Flut der Zeit zu schnell und zu mächtig für ihn. Die neue Ära begann. Der König wurde gerichtet, verurteilt und enthauptet, die Republik mit dem Wahlspruch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod erklärte sich für einen Kampf auf Leben und Tod gegen die Waffen einer ganzen Welt; das schwarze Banner flatterte Tag und Nacht über den hohen Türmen von Notre-Dame; dreimalhunderttausend Mann, die gegen die Tyrannen der Erde aufgeboten waren, erhoben sich aus den verschiedenen Teilen Frankreichs, als seien überall mit breiten Würfen die Drachenzähne gesät worden und gleich gut gediehen auf dem Berge und in der Ebene, im Felsgestein und im Alluvialschlamm, unter dem klaren Himmel des Südens wie unter den Wolken des Nordens, in Feld und Wald, in Weinbergen und Ölgärten, unter dem gemähten Gras und den Stoppeln des Ackers, die fruchtbaren Ufer der breiten Flüsse entlang und im Sande der Meeresküste. Welche Einzelsorge konnte etwas ausrichten gegen die Überschwemmung des Jahres Eins der Freiheit gegen eine Überschwemmung, die aus den Tiefen emporstieg, nicht von oben her kam und sich nicht wieder zerteilte, als sich die Fenster des Himmels schlössen.

Da war kein Halten, kein Erbarmen, kein Friede, kein Zwischenraum der Ruhe, kein Zeitmaß. Obgleich Tag und Nacht so regelmäßig einander folgten, wie in der Jugend der Zeit, als es Abend und Morgen ward, der erste Tag, gab es doch kein anderes Zählen. Der Anhaltspunkt war in dem tobenden Fieber einer Nation verlorengegangen wie in dem Fieber eines Kranken. Jetzt zeigte, die unnatürliche Stille einer ganzen Stadt unterbrechend, der Henker dem Volke den Kopf eines Königs und jetzt (es schien fast in demselben Atem zu geschehen) das Haupt seiner schönen Witwe, das in acht langen Monaten der Gefangenschaft und des Elends Zeit gehabt hatte, grau zu werden.

Und doch – wie seltsam macht sich das Gesetz des Widerspruchs in allen solchen Fällen geltend war es eine lange Zeit, die so schnell dahinflammte. Ein revolutionäres Tribunal in der Hauptstadt und vierzig- oder fünfzigtausend revolutionäre Komitees über das ganze Land; ein Gesetz gegen die Verdächtigen, das mit einem Federzug alle Sicherheit für Freiheit oder Leben austilgte und die Guten und Unschuldigen den Schlechten und Schuldigen überantwortete; Gefängnisse gepfropft voll mit Leuten, die kein Verbrechen begangen hatten und doch kein Gehör finden konnten dies waren lauter Dinge, die zur Tagesordnung und schon nach einigen Wochen zu selbstverständlichen Bräuchen wurden, als stammten sie aus unvordenklichen Zeiten her. Vor allem aber gewöhnte man sich schnell an eine gräßliche Gestalt so gut, als sei sie schon mit dir Schöpfung der Welt ins Dasein getreten an die Gestalt des scharfen Frauenzimmers, Guillotine genannt.

Sie war das populäre Thema für Scherze. Man nannte sie das beste Mittel gegen Kopfweh, ein untrügliches Präservativ gegen das Grauwerden der Haare. Sie verlieh dem Teint eine eigentümliche Zartheit und war das Nationalrasiermesser, das am schärfsten rasierte. Wer die Guillotine küßte, guckte durch das kleine Fenster und nieste in den Sack. Sie war das Zeichen für die Wiedergeburt des Menschengeschlechts und hatte das Kreuz ersetzt. Medaillen mit ihrem Bilde wurden auf der Brust getragen, von der das Kreuz entfernt worden; man beugte sich vor ihr und glaubte an sie, während man von dem Kreuze nichts mehr wissen wollte.

Sie schor so viele Köpfe ab, daß sie und der Boden, den sie am meisten befleckten, von moderndem Kot starrte. Man zerlegte sie in Stücke wie ein Spielzeug für einen jungen Teufel und setzte sie wieder zusammen, wenn sich Gelegenheit zu ihrem Gebrauch ergab. Sie brachte den Beredten zum Schweigen, schlug den Mächtigen nieder und vernichtete die Schönheit und die Tugend. Zweiundzwanzig Freunden von hoher öffentlicher Stellung, einundzwanzig lebenden und einem toten, hatte sie an einem Morgen in ebenso vielen Minuten die Köpfe abgehauen. Der Name des starken Mannes im Alten Testament war auf den Hauptwürdenträger übergegangen, der sie spielen ließ; und mit dieser Waffe war er stärker als sein Namensvetter und blinder; denn er riß jeden Tag die Tore von Gottes eigenem Tempel weg.

Unter diesen Schrecken und der zu ihnen gehörigen Brut ging der Doktor sicheren Hauptes umher; denn er vertraute seiner Macht, verfolgte behutsam seinen Zweck und zweifelte keinen Augenblick daran, daß es ihm endlich gelingen werde, Lucies Gatten zu retten. Aber der Strom der Zeit wühlte so schnell und tief und riß die Zeit so ungestüm mit sich fort, daß Charles schon ein Jahr und drei Monate im Gefängnis geschmachtet hatte, ohne daß der Doktor sich in seinem zuversichtlichen Vertrauen beirren ließ. In jenem Dezembermonat war die Revolution um so viel schändlicher und unsinniger geworden, daß die Flüsse des Südens anschwollen von den Leichen der gewaltsam Ertränkten und die Gefangenen in Reihen und Vierecken niedergeschossen wurden unter der südlichen Wintersonne. Gleichwohl ging der Doktor sicheren Hauptes unter den Schrecken umher. Niemand war zu jener Zeit besser in Paris bekannt als er; und niemand befand sich in einer befremdlicheren Lage. Still, menschenfreundlich, unentbehrlich im Spital und im Gefängnis, und seine Kunst mit gleichem Eifer übend an dem Meuchelmörder und dem Opfer, nahm er eine Ausnahmestellung ein. Wo es die Anwendung seiner Geschicklichkeit galt, schied ihn das Aussehen und die Geschichte des Bastillegefangenen von allen anderen Menschen aus. Er wurde ebensowenig beargwöhnt oder bezweifelt, als sei er in der Tat vor achtzehn Jahren wirklich vom Tode erweckt worden oder al« wandle er als ein Geist unter den Sterblichen.

Fünftes Kapitel. Der Holzspalter.


Fünftes Kapitel. Der Holzspalter.

Ein Jahr und drei Monate. Während dieser ganzen Zeit war Lucie keinen Augenblick sicher, ob nicht am anderen Tage die Guillotine ihrem Gatten den Kopf abschlage. Jeden Tag holperten schwerfällig die mit Verurteilten gefüllten Karren durch die gepflasterten Straßen. Liebliche Mädchen; glänzende Frauen, braunhaarig, schwarzhaarig und grau; Jünglinge, Männer und Greise; Hochgeborene und Geringe alles roter Wein für La Guillotine, alles täglich ans Licht gefördert aus den dunklen Kellern der eklen Gefängnisse und durch die Straßen geführt, um ihren brennenden Durst zu stillen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod der letzte ist am leichtesten zu erringen, o Guillotine!

Wenn die Plötzlichkeit des Unglücks und die wirbelnden Räder der Zeit die eines Resultats harrende Tochter zu dumpfer Verzweiflung getrieben hätten, so wäre es ihr ergangen wie so vielen; aber von der Stunde an, als sie in dem Dachstübchen von Saint Antoine das weiße Haupt an ihre frische junge Brust gedrückt, hatte sie unwandelbar den übernommenen Pflichten nachgelebt und blieb ihnen namentlich treu in der Zeit der Heimsuchung, wie es stets bei treuen und guten stillen Seelen der Fall ist.

Sobald die neue Wohnung eingerichtet war und ihr Vater sich in seinen Beruf wieder hineingefunden hatte, ordnete sie ihren kleinen Haushalt geradeso, als ob ihr Mann anwesend sei. Alles hatte seinen bestimmten Platz und seine bestimmte Zeit. Die kleine Lucie unterrichtete sie so regelmäßig, als wären sie noch in ihrer englischen Heimat beisammen. Die kleinen Kunstgriffe, mit denen sie sich in den Wahn hineintäuschte, daß sie bald wieder vereinigt sein würden, die leichten Vorbereitungen für seine baldige Zurückkehr, das Herrichten seines Stuhls und seiner Bücher dies und das feierliche Nachtgebet namentlich für einen lieben Gefangenen unter den vielen unglücklichen Seelen, die im Gefängnis und unter dem Schatten des Todes lebten, waren fast die einzigen ausgesprochenen Tröstungsmittel ihres schweren Herzens.

In ihrem Äußeren zeigte sie keine besondere Veränderung. Die einfachen, schwarzen, an Trauer mahnenden Kleider, die sie und ihr Kind trugen, waren so sauber und geordnet, wie in glücklicheren Tagen ihr hellerer Anzug. Sie sah bleich aus, und der alte ernste Zug in ihrem Gesicht kam nicht mehr bloß gelegentlich, sondern war bleibend geworden; in jeder andern Beziehung aber konnte man sie noch immer sehr hübsch und anmutig nennen. Bisweilen ließ sie abends, wenn sie ihren Vater küßte, ihren den ganzen Tag über unterdrückten Schmerz zum Ausbruch kommen, wobei sie ihm versicherte, daß er ihre einzige Stütze und Zuversicht sei unter der Sonne, und dann pflegte er mit Entschiedenheit darauf zu antworten: »Nichts kann ihm zustoßen ohne mein Vorwissen, und ich weiß, daß ich ihn zu retten vermag, Lucie.«

Sie hatten in dieser veränderten Lebensweise noch nicht viele Wochen verbracht, als ihr Vater eines Abends beim Nachhausekommen zu ihr sagte:

»Meine Liebe, in dem Gefängnis ist ein oberes Zimmer, zu dem Charles bisweilen um drei Uhr nachmittags Zutritt hat. Kann er hinkommen dies hängt freilich von manchen Ungewißheiten und Zufälligkeiten ab , so meint er, dich in der Straße sehen zu können, wenn du dich an einem gewissen Platz aufstellst, den ich dir zeigen will. Du wirst ihn freilich nicht sehen, mein armes Kind, und selbst wenn es der Fall wäre, würde es nicht rätlich sein, ein Zeichen des Erkennens zu geben.«

»Oh, zeigt mir den Platz, Vater, und ich will jeden Tag hingehen.«

Von dieser Zeit an wartete sie dort bei jedem Wetter täglich zwei Stunden. Sobald die Glocke zwei schlug, war sie an der Stelle, und um vier Uhr entfernte sie sich wieder voll Ergebung. Wenn es für ihr Kind nicht zu naß oder zu kalt war, so gingen sie miteinander; zu andern Zeiten tat sie es allein; unter allen Umständen aber ließ sie es keinen Tag fehlen.

Es war die dunkle schmutzige Ecke einer krummen Straße. Die Hütte eines Holzspalters stellte an diesem Ende die einzige wohnliche Stätte dar; alles übrige war Mauer. Am dritten Tage fiel dem Manne ihre Anwesenheit auf.

»Guten Tag, Bürgerin.«

»Guten Tag, Bürger.«

Diese Art der Anrede war jetzt durch ein Dekret vorgeschrieben. Die Ausbundpatrioten hatten sich ihrer schon einige Zeit vorher bedient, aber jetzt war sie Gesetz für jedermann.

»Wieder hierher einen Spaziergang gemacht, Bürgerin?«

»Wie Ihr seht, Bürger.«

Der Holzspalter, ein kleiner Mann mit einem schwunghaften Gebärdenspiel (er war früher Straßenarbeiter gewesen), warf einen Blick nach dem Gefängnis, deutete danach hin, hielt seine zehn Finger gegittert vor das Gesicht und schaute spaßhaft durch.

»Aber geht mich nichts an«, sagte er und ging seinem Gewerbe nach.

Am andern Tage sah er sich wieder nach ihr um und redete sie an, sobald sie erschien.

»Wie, schon wieder einen Spaziergang, Bürgerin?«

»Ja, Bürger.«

»Ah, und ein Kind dazu! Dies ist wohl deine Mutter, meine kleine Bürgerin?«

»Soll ich ja sagen, Mama?« flüsterte die kleine Lucie, sich dicht an sie anschmiegend.

»Ja, mein Kind.«

»Ja, Bürger.«

»Ah! Aber geht mich nichts an. Ich kümmere mich nur um meine Arbeit. Seht meine Säge da ich nenne sie meine kleine Guillotine. Ratsch, ratsch, ratsch; ratsch, ratsch, ratsch! Und herunter ist sein Kopf!«

Während er so sprach, fiel das Scheit, und er warf es in einen Korb.

»Ich nenne mich den Samson der Brennholz-Guillotine. Schaut wieder her. Ritsch, ritsch, ritsch; ritsch, ritsch, ritsch! Und ihr Kopf ist gefallen! Jetzt ein Kind. Retsche, retsche; retsche, retsche! Da kommt sein Kopf. Die ganze Familie!«

Lucie schauderte, als er zwei weitere Scheiter in seinen Korb warf; aber wenn der Holzspalter dort arbeitete, mußte sie notwendig von ihm gesehen werden. Sie redete ihn daher, um sich seine Geneigtheit zu sichern, immer zuerst an und gab ihm auch öfters ein Trinkgeld, das er sich recht gern gefallen ließ.

Er war ein neugieriger Bursche, und wenn sie bisweilen im Aufschauen nach dem Dach und den Gittern des Gefängnisses, in der Erhebung ihres Herzens zu dem Gatten seiner ganz vergessen hatte, konnte sie auf einmal bemerken, daß er, das Knie auf seine Bank gestützt und die Säge mitten in der Arbeit ruhen lassend, ihr zusah. »Aber geht mich nichts an«, pflegte er bei solchen Gelegenheiten zu sagen und ließ dann wieder hurtig seine Säge gehen.

Bei jedem Wetter, im Schnee und Winterfrost, in den schneidenden Frühjahrswinden, im heißen Sommersonnenschein, im Herbstregen und wieder im Schnee und Winterfrost verbrachte Lucie jeden Tag zwei Stunden an diesem Platz, und jeden Tag küßte sie, eh‘ sie sich entfernte, die Gefängnismauer. Ihr Gatte sah sie, wie sie von ihrem Vater erfuhr, einmal unter fünf oder sechs Malen, vielleicht auch zwei- oder dreimal hintereinander, dann aber wieder eine Woche oder zwei gar nicht. Es war genug, daß er sie sehen konnte, wenn er Gelegenheit dazu fand, und ergab sich diese auch nur einmal in der Woche, so machte sie um der Möglichkeit willen doch gern jeden Tag diesen Gang.

So verging der Monat Dezember, und ihr Vater wandelte noch immer sicheren Hauptes unter den Schrecken umher. Eines Nachmittags, als eben ein leichter Schnee fiel, war sie wieder an der gewöhnlichen Ecke angelangt. Es war ein Tag wilder Freude irgendein Fest. Sie hatte auf dem Herwege die Häuser mit kleinen Spießen, auf denen kleine rote Mützen ragten, auch mit dreifarbigen Bändern und meist in den beliebten dreifarbigen Buchstaben mit der unvermeidlichen Inschrift geziert gesehen: Eine und unteilbare Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod!

Die erbärmliche Hütte des Holzspalters war so klein, daß ihre ganze Oberfläche nur einen sehr unbedeutenden Raum bot für diese Inschrift. Gleichwohl hatte er jemanden aufgetrieben, der sie für ihn hinschmierte, obschon das Wort Tod kaum mehr einen Platz finden konnte. Über dem Giebel seines Hauses sah man den Spieß und die Mütze, an der es kein guter Bürger fehlen lassen durfte, und in einem Fenster hatte er seine Säge ausgestellt mit der Bezeichnung: »Kleine heilige Guillotine«; denn das große scharfe Frauenzimmer war inzwischen vom Volk heilig gesprochen worden. Sein Sägeschopf war geschlossen und er nicht zu Hause. Diese Einsamkeit gereichte Lucie zu großem Trost.

Aber er war nicht weit weg. Sie hörte bald das Gestampf von Füßen und näher kommendes Geschrei, das sie mit Furcht erfüllte Einen Augenblick später wogte ein Volkshaufe um die Ecke ter Gefängnismauer, und in der Mitte desselben befand sich der Holzspalter Hand in Hand mit der Rache. Es konnten nicht weniger als fünfhundert Menschen sein, und sie tanzten einher wie fünftausend böse Geister. Die Musik bildete ihr eigener Gesang. Sie tanzten zu dem beliebten Revolutionslied und hatten dazu einen wilden Takt, der wie ein gemeinsames Zähneknirschen klang. Männer tanzten mit Weibern, Weiber mit Weibern und Männer mit Männern, wie sie eben der Zufall zusammenführte. Anfangs nahmen sie sich nur wie ein Strom von groben roten Mützen und grobwollenen Lumpen aus. Aber als sie den Platz füllten und um Lucie her haltmachten, begann auf einmal eine gräßliche Tanzfigur in wildem Toben. Sie bewegten sich vorwärts und rückwärts, schlugen sich nach den Händen, packten sich bei den Köpfen, wirbelten allein umher, faßten sich dann und drehten sich paarweise, bis viele davon niedersanken. Während nun diese am Boden lagen, gaben die anderen sich die Hände und führten um sie her einen Reigen auf. Dann riß der Ring, und die einzelnen Partner bildeten wieder Ringe aus zwei und vier, die sich drehten und drehten, bis alle auf einmal haltmachten; dann fingen sie wieder von vorne an, klopften und packten sich, zerrten einander und kreisten dann in einer verkehrten Richtung. Plötzlich machten sie wieder halt, schlugen aufs neue ihren Takt an, bildeten Reihen von der Breite der Straße und fegten mit tiefgesenkten Häuptern und hocherhobenen Händen davon. Kein Ringkampf hätte nur halb so schrecklich aussehen können als dieser Tanz. Er war so ausdrücklich eine herabgekommene Belustigung ein Etwas, das, aus einem unschuldigen Ursprung herstammend, in wahre Teufelei ausgeartet war eine gesunde Ergötzlichkeit, umgewandelt in ein Mittel, das Blut aufzuregen, die Sinne außer sich zu bringen und das Herz zu stählen. Die Anmut, die sich darin noch sichtbar machte, ließ den Tanz nur um so häßlicher erscheinen, indem sie zeigte, wie verkehrt und verworfen alles von Natur aus Gute geworden war. Der jungfräuliche Busen so bloß, der hübsche, fast kindliche Kopf so verdreht, die feinen Füße, grob sich bewegend in dieser Pfütze von Kot und Blut, waren lauter Typen einer aus den Fugen gegangenen Zeit.

Dies war die Carmagnole. Während sie vorüberrauschte und Lucie entsetzt und verwirrt auf der Schwelle zu der Hütte des Holzspalters zurückblieb, fiel der flockige Schnee so ruhig und blieb so weiß und so weich liegen, als sei der Boden nie der Schauplatz einer solchen Szene gewesen.

»O mein Vater!« denn er stand vor ihr, als sie die Augen wieder aufschlug, die sie eine Weile mit der Hand verhüllt hatte »welch ein häßlicher, entsetzlicher Anblick!«

»Ich weiß es, meine Liebe, ich weiß es habe ihn schon oft mit angesehen. Doch fürchte dich nicht. Niemand von ihnen wird dir etwas zuleide tun.«

»Ich fürchte nichts für mich selbst, Vater. Aber wenn ich an meinen Gatten denke und an das Erbarmen dieses Volkes«

»Wir wollen ihn bald aus dem Bereiche seines Erbarmens geschafft haben. Ich verließ ihn, wie er zu dem Fenster hinankletterte, und komme her, es dir zu sagen. Es ist niemand hier, der dich sehen kann. Wirf ihm einen Kuß zu nach dem höchsten Dachsims hinauf.«

»Ich tue es, Vater, und meine Seele eilt mit hin.«

»Du kannst ihn nicht sehen, meine arme Tochter?«

»Nein, Vater«, versetzte Lucie mit sehnsüchtigen Tränen im Auge, während sie eine Kußhand nach dem Gefängnis hin sandte, »nein.«

Ein Fußtritt im Schnee. Madame Defarge.

»Ich grüße Euch, Bürgerin«, sagte der Doktor.

»Ich grüße Euch, Bürger.«

Dies im Vorübergehen. Weiter nicht. Madame Defarge war fort, hingeglitten wie ein Schatten über den weißen Weg.

»Gib mir deinen Arm, meine Liebe. Du kannst seinetwegen mit heiterem, mutigem Geist nach Hause gehen. Es war gut so«, bemerkte er, als sie den Platz verlassen hatten; »es wird nicht umsonst sein. Charles ist auf morgen vorgeladen.«

»Auf morgen?«

»Es ist keine Zeit zu verlieren. Ich bin gut vorbereitet; aber es müssen Vorkehrungen getroffen werden, die sich nicht besorgen ließen, ehe er vor das Tribunal geladen war. Bis jetzt hat er noch keine Mitteilung erhalten; ich weiß jedoch, daß er auf morgen vorbeschieden ist und nach der Conciergerie gebracht werden soll. Ich bin in guter Zeit unterrichtet worden. Du hast doch keine Angst?«

Sie vermochte kaum hervorzubringen:

»Ich verlasse mich auf Euch.«

»Dies kannst du unbedingt. Die Ungewißheit wird bald zu Ende sein, mein Herz. In wenigen Stunden ist er dir zurück gegeben. Ich habe ihm jeden erdenklichen Schutz gesichert. Jetzt muß ich Lorry aufsuchen.«

Er hielt inne. Man hörte ein schwerfälliges Gerassel von Rädern. Beide wußten nur zu gut, was es zu bedeuten hatte. Eins. Zwei. Drei. Drei Karren fuhren mit ihrer unglücklichen Ladung über den tondämpfenden Schnee.

»Ich muß Lorry sprechen«, wiederholte der Doktor, indem er sie in eine andere Richtung führte.

Der standhafte alte Ehrenmann hielt noch immer aus auf seinem Posten. Er und seine Bücher wurden häufig in Anspruch genommen, wenn es sich um beschlagnahmtes und der Nation zugefallenes Eigentum handelte. Was er für die Eigentümer retten konnte, das rettete er. In der ganzen Welt hätte sich kein besserer Mann finden lassen, um in aller Stille und Verschwiegenheit festzuhalten, was Tellsons zur Verwahrung übergeben war.

Ein trüber rotgelber Himmel und der von der Seine aufsteigende Nebel verkündeten den Einbruch der Dunkelheit. Es war schon finster, als sie die Bank erreichten. Der stattliche Palast von Monseigneur war verheert und verlassen. Über einem Haufen von Staub und Asche im Hofe las man die Inschrift: Nationaleigentum. Eine und unteilbare Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod.

Wer mochte dies wohl sein bei Mr. Lorry, der Eigentümer des Reitkleids auf dem Sessel, der nicht gesehen werden wollte? Von welchem neuen Ankömmling kam der Doktor voll Aufregung und Überraschung heraus, um seinen Liebling zu umarmen? Wem wiederholte er augenscheinlich ihre stotternden Worte, als er mit lauter Stimme und das Gesicht der Tür zugewendet, aus der er gekommen, sagte: »Nach der Conciergerie gebracht und auf morgen vorgeladen«?

Sechstes Kapitel. Triumph.


Sechstes Kapitel. Triumph.

Das gefürchtete Tribunal von fünf Richtern, der öffentliche Ankläger und ein entschiedenes Schwurgericht hielten jeden Tag Sitzung. Ihre Listen wurden jeden Abend ausgegeben und von den Kerkermeistern der verschiedenen Gefängnisse ihren Gefangenen vorgelesen. Der ständige Schließerwitz lautete: »Kommt heraus und hört die Abendzeitung, ihr da drinnen.«

»Charles Evrémonde, genannt Darnay!«

So begann endlich die Abendzeitung in der Force.

Wenn ein Namen verlesen war, trat der Bezeichnete beiseite auf einen Platz, der jenen vorbehalten blieb, die auf der verhängnisvollen Liste standen. Charles Evrémonde, genannt Darnay, kannte diesen Brauch aus langer Erfahrung; er hatte Hunderte so weggehen sehen.

Der gedunsene Kerkermeister, der zum Lesen eine Brille brauchte, schaute über die Gläser weg, um sich zu überzeugen, daß er seinen Platz eingenommen hatte, und fuhr dann in der Liste fort, indem er nach jedem Namen dieselbe Pause machte. Es waren ihrer dreiundzwanzig; aber nur zwanzig hatten geantwortet; denn einer von den so aufgebotenen Gefangenen war im Gefängnis gestorben und vergessen worden, die beiden andern hatte man bereits guillotiniert und gleichfalls vergessen. Die Liste kam zum Verlesen in der gewölbten Halle, wo Darnay am Abend seiner Ankunft der Gesellschaft der Gefangenen begegnete. Von jenen waren alle samt und sonders bei dem Gemetzel gefallen. Jedes Menschenwesen, an dem er seitdem Anteil genommen und das den Platz wieder verlassen, hatte den Tod auf dem Schafott gefunden.

Man tauschte hastig ein freundliches Lebewohl aus; aber das Abschiednehmen war bald vorüber. Es gehörte ja zu den alltäglichen Ereignissen, und die Gesellschaft in der Force hatte mit Vorbereitungen zu einem Pfänderspiel und einem kleinen Konzert für den Abend zu schaffen. Sie drängten sich wohl an die Gitter und vergossen da einige Tränen; aber bei der in Aussicht genommenen Unterhaltung gab es zwanzig Plätze auszufüllen, und die Zeit war so kurz bis zu der Stunde des Verschlusses, nach der die gemeinsamen Räume und Gänge den großen Hunden überantwortet wurden, die hier während der Nacht Wache hielten. Die Gefangenen waren gewiß nicht unempfindlich oder gefühllos; aber sie wollten die ihnen so kurz zugemessene Zeit ausnützen. In ähnlicher Art, obschon mit einem feinen Unterschied, ließen sich bekanntlich, ohne Zweifel in einer Art Fieber oder Trunkenheit, manche hinreißen, der Guillotine, die sie verschlang, unnötig zu trotzen, sicherlich nicht aus bloßer Prahlerei, sondern angesteckt von der wilden Zerrüttung, die allgemein die Gemüter befallen hatte. In Pestzeiten haben manche Leute eine besondere Empfänglichkeit für die Krankheit, eine schrecklich anziehende Neigung, an ihr zu sterben. Und in jeder Brust liegen ähnliche Wunden verborgen; es bedarf nur der Umstände, sie ins Leben zu rufen.

Der Korridor zu der Conciergerie war kurz und dunkel, die Nacht in ihren von Ungeziefer wimmelnden Zellen lang und kalt. Am andern Tage hatten fünfzehn Gefangene vor Gericht zu erscheinen, ehe Charles Darnays Name an die Reihe kam. Alle die fünfzehn wurden zum Tode verurteilt, und die Verhandlungen währten im ganzen anderthalb Stunden.

Charles Evrémonde, genannt Darnay, wurde endlich vorgeladen.

Die Richter auf der Bank hatten Federhüte auf; sonst herrschte die grobe rote Mütze und die dreifarbige Kokarde als Kopfbedeckung vor. Wenn man die Schwurrichter und das lärmende Publikum betrachtete, konnte man zu dem Glauben kommen, man lebe in der verkehrten Welt und die Verbrecher säßen zu Gericht über die ehrlichen Leute. Der gemeinste, schlechteste und blutdürstigste Pöbel einer Stadt, dem es gewiß nie an gemeinen und schlechten Bluthunden fehlte, hatte die Oberhand und machte lärmend seine Bemerkungen; er durfte Beifall klatschen, sein Mißfallen kundgeben, dem Urteile vorgreifen und das Resultat beschleunigen, ohne daß man ihm Einhalt tat. Die Männer waren großenteils in verschiedener Weise bewaffnet; von den Weibern trugen einige Messer, die andern Dolche, die einen aßen und tranken während des Zusehens, andere strickten. Unter den letzteren befand sich eine, die bei ihrer Arbeit noch ein lediges Strickzeug unter dem Arme hatte. Sie saß in einer vorderen Reihe an der Seite eines Mannes, den Darnay seit seiner Ankunft an der Barriere nicht mehr gesehen hatte und in dem er sogleich Defarge wiedererkannte. Er bemerkte, daß sie ihm ein- oder zweimal ins Ohr flüsterte und daß sie allem Anscheine nach sein Weib war; am meisten fiel ihm aber an den beiden auf, daß sie, obschon sie sich möglichst in seine Nähe gemacht hatten, doch nie nach ihm hinsahen. Sie schienen mit trotziger Entschlossenheit auf etwas zu warten und für nichts als für die Geschworenen ein Auge zu haben. Unter dem Präsidenten saß Doktor Manette in seinem gewöhnlichen ehrbaren Anzuge. Soviel der Gefangene wahrnehmen konnte, waren er und Mr. Lorry die einzigen nicht zum Gerichtspersonal gehörigen Männer, die ihre gewöhnlichen Kleider trugen und nicht das grobe Gewand der Carmagnole zur Schau stellten.

Charles Evrémonde, genannt Darnay, wurde von dem öffentlichen Ankläger als ein Emigrant bezeichnet, dessen Leben an die Republik verwirkt sei kraft des Dekrets, das alle zurückkehrenden Emigranten zum Tode verurteilte. Es wurde als belanglos angesehen, daß das Dekret erst in die Zeit nach seiner Rückkehr fiel. Er war da, das Gesetz war da, man hatte ihn in Frankreich aufgegriffen, und sein Leben wurde gefordert.

»Zur Guillotine mit ihm!« rief das Publikum. »Ein Feind der Republik!«

Der Präsident klingelte, um die Lärmenden zum Schweigen zu bringen, und fragte den Gefangenen, ob es wahr sei, daß er viele Jahre in England gelebt habe.

Es wurde nicht geleugnet.

Und dennoch wolle er kein Emigrant sein? Als was er sich denn bezeichne?

Hoffentlich nicht als einen Emigranten im Sinn und Geist des Gesetzes.

Warum nicht? wünschte der Präsident zu wissen.

Weil er freiwillig eine Stellung und einen Titel aufgegeben habe, der ihm verhaßt geworden. Er habe sein Vaterland verlassen, eh‘ das Wort Emigrant in dem Sinne, wie man es jetzt nehme, vor Gericht üblich war, weil er lieber von seinem eigenen Fleiße in England als von dem des mit Lasten überhäuften Volkes in Frankreich seinen Unterhalt ziehen wollte.

Welche Beweise konnte er dafür beibringen?

Er übergebe die Namen von zwei Zeugen: Theophil Gabelle und Alexander Manette.

Aber er habe in England geheiratet, erinnerte ihn der Präsident.

Ja, aber keine Engländerin.

Eine Bürgerin von Frankreich?

Ja. Von Geburt.

Ihr Name und ihre Familie?

»Lucie Manette, einzige Tochter des Doktor Manette, des wackeren Arztes, der hier sitzt.«

Diese Antwort machte einen günstigen Eindruck auf die Zuhörerschaft. Ein jubelndes Geschrei zu Ehren des wohlbekannten wackeren Doktors erfüllte die Halle. So sehr ließ sich das Volk von einer augenblicklichen Stimmung hinreißen, daß man Tränen sah auf mehreren wilden Gesichtern, die einen Augenblick vorher den Gefangenen noch angestiert hatten, als juckten ihnen die Fäuste, ihn auf die Straßen hinauszuzerren und totzuschlagen.

Diese paar Schritte auf seinem gefährlichen Wege hatte Charles Darnan ganz nach Doktor Manettes wiederholter Weisung getan. Derselbe vorsichtige Rat diente ihm auch weiter zur Richtschnur und hatte ihm jeden Zoll seines Weges vorbereitet.

Der Präsident fragte ihn, warum er eben zu einer solchen Zeit und nicht früher zurückgekehrt sei.

Er sei fortgeblieben, lautete die einfache Antwort, weil er in Frankreich keine anderen Mittel für seinen Unterhalt hatte als diejenigen, auf die er verzichtet habe, während er sich in England durch Unterricht in der französischen Sprache und Literatur fortbringen konnte. Seine Rückkehr sei auf die dringliche schriftliche Bitte eines französischen Bürgers erfolgt, der ihm vorstellte, daß durch seine Abwesenheit dessen Leben bedroht werde. Er sei gekommen, um das Leben eines Bürgers zu retten und, was auch daraus für ihn folgen mochte, der Wahrheit Zeugnis zu geben. Ob dies die Republik für ein Verbrechen ansehe?

Der Pöbel rief begeistert »Nein!«, und der Präsident rührte die Klingel, um Ruhe herzustellen. Vergeblich. Das Geschrei »Nein, nein!« machte fort, bis die Rufer genug hatten und von selbst nachließen.

Der Präsident fragte nach dem Namen dieses Bürgers. Der Angeklagte antwortete darauf, daß der Bürger sein erster Zeuge sei. Er bezog sich auch mit Zuversicht auf das Schreiben dieses Zeugen, das man ihm an der Barriere abgenommen und das sich ohne Zweifel unter den auf dem Gerichtstische liegenden Akten vorfinden werde.

Der Doktor hatte dafür Sorge getragen, daß es nicht fehlte, und sich persönlich davon überzeugt. Es wurde jetzt hervorgeholt und verlesen. An den Bürger Gabelle erging die Aufforderung, sich darüber zu äußern, und er beglaubigte seinen Brief. Er deutete ferner mit ungemeiner Zartheit und Höflichkeit an, daß er im Drange der Geschäfte, die den Gerichten durch die Menge der Feinde der Republik bereitet wurden, in seinem Abteigefängnis übersehen oder vielleicht in patriotischem Eifer vergessen worden sei bis vor ungefähr drei Tagen; man habe ihn dann vorgefordert und auf die Erklärung der Geschworenen hin, daß die Anklage gegen ihn, soweit sie ihn selbst betreffe, durch die Gestellung des Bürgers Evrémonde, genannt Darnay, erledigt sei, in Freiheit gesetzt.

Dann wurde Doktor Manette ins Verhör genommen. Seine große Beliebtheit bei dem Volke und die Klarheit seiner Antworten machten einen tiefen Eindruck. Als er aber im Verlaufe zeigte, wie der Angeklagte nach seiner Befreiung aus langer Kerkerhaft sein erster Freund gewesen, wie derselbe während seines Aufenthaltes in England sich immer treu und aufopferungsvoll gegen ihn und seine Tochter in ihrer Verbannung benommen, wie er, weit entfernt, bei der dortigen aristokratischen Regierung in Gunst zu stehen, von derselben sogar als ein Feind Englands und ein Freund der Vereinigten Staaten auf Leib und Leben verklagt worden als er alle diese Umstände mit großer Umsicht und mit der vollen Gewalt der Wahrheit und des Ernstes ins Licht stellte, wurden Geschworene und Pöbel eines Sinnes. Und als er sich endlich noch auf Monsieur Lorry, einen anwesenden englischen Gentleman, berief, der wie er selbst Zeuge jenes englischen Kriminalprozesses gewesen und seine Aussagen darüber bestätigen könne, erklärten die Geschworenen, daß sie genug gehört hätten und über ihre Abstimmung schon im reinen seien, wofern der Präsident sie anhören wolle.

Bei jeder abgegebenen Stimme (die Geschworenen verrichteten ihren Dienst laut und einzeln) brach der Pöbel in einen Beifallsjubel aus. Sämtliche Voten lauteten zugunsten des Gefangenen, und der Präsident erklärte ihn für frei.

Dann begann eine von jenen außerordentlichen Szenen, durch die bisweilen der große Haufe seinen Wankelmut kundtat, seine Empfänglichkeit für Gefühle der Großmut und des Erbarmens an den Tag legte, oder eine kleine Abschlagszahlung machen wollte an der hochangeschwollenen Schuld seiner grausamen Wut. Niemand vermag jetzt mehr zu entscheiden, aus welchem Beweggrunde solche merkwürdigen Auftritte sich erklären ließen, obschon wahrscheinlich alle drei Momente zusammenwirkten und das zweite darin die Oberhand behauptete. Kaum war die Freilassung ausgesprochen, als Tränen so reichlich flossen, wie zu andern Zeiten Blut, und der Gefangene von den Männern und Weibern, die an ihn gelangen konnten, mit so vielen brüderlichen Umarmungen beehrt wurde, daß er nach seiner langen und ungesunden Haft in Gefahr stand, von Erschöpfung ohnmächtig zu werden, um so mehr, da er recht wohl wußte, wie bereit und eifrig bei einer andern Wendung dasselbe Volk sich gezeigt haben würde, ihn in Stücke zu reißen und seine Gliedmaßen durch die Straßen zu streuen.

Er mußte jetzt andern Angeklagten Platz machen, die gerichtet werden sollten, und sein Abtreten bewahrte ihn für den Augenblick vor der Fortsetzung dieser Liebkosungen. Es kamen fünf zu gleicher Zeit an die Reihe, die als Feinde der Republik verurteilt wurden, weil sie ihr nicht durch Wort oder Tat Beistand geleistet hatten. Das Tribunal beeilte sich so sehr, sich und die Nation für die entgangene Augenweide zu entschädigen, daß diese fünf, die bestimmt waren, binnen vierundzwanzig Stunden hingerichtet zu werden, herunterkamen, ehe noch Darnay den Platz verlassen hatte. Der erste von ihnen teilte ihm sein Schicksal mit dem unter den Gefangenen üblichen Zeichen, einem aufgehobenen Finger, der »Tod« bedeutete, mit, während alle zusammen in den Ruf ausbrachen: »Lang lebe die Republik!«

Die fünf hatten allerdings kein Publikum gehabt, durch das die Verhandlungen über sie verlängert worden wären; denn als Charles mit dem Doktor durch das Tor herauskam, traf er davor ein großes Gedränge, in dem sich alle Gesichter, die er im Gerichtshof bemerkt hatte, zu befinden schienen, zwei ausgenommen, nach denen er sich vergeblich umsah.

Bei seinem Heraustreten machte sich der Volkshaufen wieder an ihn, weinte, umarmte ihn, jubelte und tat alles dies abwechselnd und durcheinander, bis sogar der Fluß, an dessen Ufer die tolle Szene spielte, toll zu werden schien wie die Menschen auf dem Lande.

Sie setzten ihn auf einen großen Sessel, den sie entweder aus dem Gerichtssaale selbst oder aus einem andern Gelasse des Gebäudes mitgenommen hatten, ließen darüber eine rote Fahne flattern und schmückten die Lehne mit einem Spieß und der roten Mütze darauf. Vergeblich wehrte der Doktor bittend ab. Die Männer nahmen ihn samt diesem Triumphwagen auf die Schulter und trugen ihn nach Hause. Um ihn her wogte ein wildes Meer von roten Mützen und warf aus seiner stürmischen Tiefe solche Wracks von Gesichtern in die Höhe, daß er mehr als einmal zweifelte, ob er auch wirklich bei Sinnen sei und ob er nicht auf dem Guillotinekarren dem Tode entgegenholpere.

In wilder traumartiger Prozession trugen sie ihn dahin, umarmten jedermann, dem sie begegneten, und zeigten aller Welt den Helden des Tages. Sie röteten durch den Tritt ihrer Füße die beschneiten Straßen mit der vorherrschenden republikanischen Farbe, wie sie den Boden unter dem Schnee mit einem noch tieferen Rot gefärbt hatten, und brachten ihn nach dem Hofe des Gebäudes, wo seine Gattin wohnte. Ihr Vater war vorausgegangen, um sie vorzubereiten, und wie Charles wieder auf eigene Füße zu stehen kam, sank sie ihm bewußtlos in die Arme.

Während er sie an seine Brust gedrückt hielt und ihr schönes Antlitz das seine vor der Menge verbarg, so daß seine Tränen und ihre Lippen sich ungesehen begegnen konnten, fingen einige aus dem Haufen zu tanzen an. Im Nu hatte dieselbe Manie auch alle andern ergriffen, und der Hofraum war überflutet von der Carmagnole. Sie setzten dann auf den freigewordenen Sessel ein junges Frauenzimmer aus ihrer Mitte, um sie als Göttin der Freiheit umherzutragen. Und nun strömte und flutete es in die benachbarten Straßen hinaus, das Flußufer entlang und über die Brücke. Wer des Weges kam, wurde von der Carmagnole aufgenommen und mit fortgerissen.

Charles drückte dem Doktor, der stolz und siegesbewußt vor ihm stand, und Mr. Lorry, der atemlos sich der Wasserhose der Carmagnole entrungen hatte, die Hand, küßte die kleine Lucie, die man zu ihm emporgehoben, damit sie mit ihren Ärmchen seinen Hals umschlingen konnte, drückte die immer eifrige und treue Miß Proß, die ihm das Kind dargeboten, an sich und nahm seine Gattin in die Arme, um sie nach ihrer Wohnung hinaufzutragen.

»Lucie! Mein Leben! Ich bin gerettet!«

»Oh, mein teurer Charles, laß mich Gott auf den Knien dafür danken, wie ich zu ihm gebetet habe.«

Alle beugten ehrfurchtsvoll die Häupter und die Herzen. Als er sie wieder in seinen Armen hatte, sagte er zu ihr:

»Und nun danke deinem Vater, meine Liebe. Kein anderer Mann in ganz Frankreich hätte für mich tun können, was er tat.«

Sie legte das Haupt an ihres Vaters Brust, wie er vor langer, langer Zeit seinen armen Kopf an die ihrige gelegt hatte. Er war glücklich, daß er ihr vergelten konnte, fühlte sich belohnt für seine Leiden und war stolz auf seine Stärke.

»Du mußt nicht schwach sein, mein Herz«, sagte er verweisend, »mußt nicht so zittern. Ich habe ihn gerettet.«

Siebentes Kapitel. Ein Klopfen an die Tür.


Siebentes Kapitel. Ein Klopfen an die Tür.

»Ich habe ihn gerettet.« Es war nicht einer von den Träumen, in die er so oft zurückverfallen war. Nein, er war wirklich da. Und doch zitterte sein Weib, und eine unbestimmte Angst lastete schwer auf ihr.

Die ganze Luft umher war so dick und düster, die Leute zeigten ein so fieberisches, leidenschaftlich rachsüchtiges Wesen, die Unschuldigen wurden so beharrlich auf einen hohlen Verdacht oder auf platte Anzeigen der Bosheit hin zum Tod geschleppt, und es war so rein unmöglich, zu vergessen, wie viele nicht minder makellose Personen als ihr Gatte, die von andern ebenso geliebt wurden, wie sie ihn liebte, jeden Tag das Schicksal erleiden mußten, dem er mit knapper Not entgangen war, daß ihr Herz sich nicht so frei und leicht fühlen konnte, wie es die Umstände gestatteten. Der Winterabend war im Begriff, in die Schatten der Nacht zu versinken, und noch immer rollten die schrecklichen Karren durch die Straßen. Ihr Geist folgte ihnen und schien ihn unter den Verurteilten zu suchen; dann schmiegte sie sich inniger an den Gegenwärtigen an und zitterte noch mehr.

Ihr Vater, der ihr ermunternd zusprach, trug dieser weiblichen Schwäche gegenüber, ob der er sich nicht genug wundern konnte, eine mitleidige Überlegenheit zur Schau. Kein Dachstübchen mehr, kein Schuhmachen, kein Hundertfünf, Nordturm! Er hatte die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, vollbracht, sein Versprechen gelöst und Charles gerettet. Alle konnten sich jetzt an ihn anlehnen.

In ihrer Haushaltung ging es sehr ärmlich her nicht nur, weil man dadurch am wenigsten beim Volke Anstoß erregte, sondern auch, weil sie nicht reich waren und Charles während seiner Gefangenschaft bedeutende Zahlungen hatte leisten müssen, für die eigene schlechte Kost und Bewachung sowohl wie für die der ärmeren Gefangenen. Zum Teil aus diesem Grund, zum Teil, um keinen Spion im Hause zu haben, hielten sie keine Magd. Der Bürger und die Bürgerin, die am Hoftor als Pförtner funktionierten, leisteten ihnen gelegentlich Dienste, und Jerry, der von Mr. Lorry fast ganz an sie abgetreten worden, spielte den Diener und schlief bei Nacht im Hause.

Auf Befehl der einen und unteilbaren Republik mit dem Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod mußte an der Tür oder dem Türpfosten eines jeden Hauses der Name der Bewohner mit leicht leserlicher Schrift von gewisser Größe in einer gewissen bequemen Höhe vom Boden angebracht sein. Mr. Jerry Crunchers Name schmückte daher gebührend den Türpfosten zu unterst, und bei einbrechender Nacht kam der Inhaber des Namens selbst von der Beaufsichtigung eines Flachmalers zurück, den Doktor Manette angewiesen hatte, der Liste den Namen Charles Evrémonde, genannt Darnay, beizufügen.

Bei der allgemeinen Furcht und dem Mißtrauen, in dem man zu jener Zeit lebte, war auch eine Änderung in die gewöhnlichen harmlosen Haushaltungsbräuche gekommen. In der kleinen Wirtschaft des Doktors wurden, wie in so vielen andern, die Gegenstände des täglichen Verbrauchs jeden Abend in geringen Mengen aus verschiedenen kleinen Läden zusammengetragen; denn jedermann wollte Aufsehen vermeiden und so wenig wie möglich Anlaß zu Neid und Nachrede geben.

Schon seit einigen Monaten hatten Miß Proß und Mr. Cruncher das Geschäft des Einkaufes besorgt, wobei erstere den Beutel führte und letzterer den Korb trug. Sie traten jeden Abend, sobald man die Straßenlaternen anzündete, diesen Dienst an, kauften das Nötige ein und brachten es nach Hause. Durch ihren langen Umgang mit einer französischen Familie wäre Miß Proß wohl in der Lage gewesen, das Französische so gut zu lernen, wie sie ihr Englisch kannte, wenn sie Lust dazu gehabt hätte. Aber eben an der Lust fehlte es ihr ganz und gar, und so verstand sie von »diesem Unsinn«, wie sie es zu nennen beliebte, nicht mehr als Mr. Cruncher. Die Art ihres Marktens bestand darin, daß sie dem Krämer ohne näheres Eingehen auf die Beschaffenheit des gewünschten Artikels irgendein Nennwort an den Kopf warf und, wenn es zufällig nicht das rechte war, sich im Laden nach der Ware umschaute, sie zu Händen nahm und nicht wieder losließ, bis der Handel geschlossen war. Ohne ein Handeln ging es dabei nicht ab, und bei der Würdigung des Preises hielt sie stets einen Finger weniger in die Höhe als der Verkäufer, wie viele dieser ihr auch vorzeigen mochte.

»Nun, Mr. Cruncher«, sagte Miß Proß, deren Augen ganz rot von Glück waren, »wenn Ihr bereit seid, so bin ich’s auch.«

Jerry versicherte heiser, daß er Miß Proß zu Diensten stehe. Sein Rost hatte sich längst abgetragen; aber nichts vermochte die Spieße seines Haares niederzufeilen.

»Wir brauchen alle möglichen Dinge und werden nicht so bald damit fertig werden«, sagte Miß Proß. »Unter anderm Wein. Diese Rotköpfe werden saubere Trinksprüche ausbringen, wo wir ihn auch kaufen mögen.«

»Soviel Ihr davon versteht, Miß«, entgegnete Mr. Jerry, »wird es so ziemlich aufs gleiche hinauslaufen, ob sie Eure Gesundheit trinken oder die des Meisters Urian.«

»Wer ist das?« fragte Miß Proß.

Mr. Cruncher erklärte ihr mit einiger Zaghaftigkeit die Bedeutung des Ausdrucks.

»Ha!« sagte Miß Proß, »es ist kein Dolmetscher nötig, um zu erraten, was diese Unholde sagen wollen. Sie haben nur einen Gedanken im Kopfe, und der ist Unfug und nächtliches Morden.«

»Pst, meine Liebe! Bitte, bitte, seid vorsichtig«, rief Lucie.

»Ja, ja, ja, ich will vorsichtig sein«, entgegnete Miß Proß; »aber unter uns darf ich wohl sagen, ich hoffe, daß wir auf der Straße keinem zwiebeligen oder tabakigen Ersticktwerden in der Form von Umarmungen in der Runde begegnen. Geht mir nur nicht von diesem Feuer weg, mein Vögelchen, bis ich wieder zurück bin. Nehmt den lieben Mann in acht, der Euch aufs neue geschenkt worden ist, und laßt Euer hübsches Köpfchen auf seiner Schulter ruhen, wie Ihr’s jetzt tut, bis ich Euch wiedersehe. Darf ich eine Frage an Euch stellen, Doktor Manette, eh‘ ich ausgehe?«

»Ich denke wohl, daß man Euch diese Freiheit gestatten kann«, antwortete der Doktor lächelnd.

»Um Gottes willen, sprecht mir nicht von Freiheit; wir haben von dieser Geschichte vollkommen genug gehabt«, sagte Miß Proß.

»Still, meine Liebe! Schon wieder?« bemerkte Lucie verweisend.

»Na, mein Herzchen«, sagte Miß Proß mit einem nachdrücklichen Kopfnicken, »das Lange und das Breite davon ist, daß ich eine Untertanin Seiner Allergnädigsten Majestät Georgs des Dritten bin«, Miß Proß knixte bei dem Namen, »und als solche halte ich mich an den Grundsatz: Zum Geier mit ihrer Politik! In die Hölle mit ihren Spitzbubentücken! Auf ihn setzen wir unsere Hoffnung! Gott erhalte den König!«

Mr. Cruncher sprach in einer Anwandlung von Loyalität Miß Proß mit knurrender Stimme die Worte nach, als respondiere er in einer Kirche.

»Es freut mich, daß Ihr so viel englisches Blut im Leibe habt, obschon ich wünschte. Eure Stimme hätte weniger von Erkältung gelitten«, sagte Miß Proß beifällig. »Aber um auf die Frage zu kommen, Doktor Manette. Wir haben« es lag in der Art der guten Person, über jeden Gegenstand, der ihnen allen besondere Sorge machte, eine gewisse Gleichgültigkeit zur Schau zu stellen und ihn gleichsam nur gelegentlich zu berühren, »wir haben jetzt doch gute Aussicht, von diesem Ort fortzukommen?«

»Ich fürchte, noch nicht. Es wäre jetzt noch gefährlich für Charles.«

»Heididum!« rief Miß Proß, unterdrückte aber gutmütig einen Seufzer, als sie nach dem im Widerschein des Feuers glänzenden Goldhaar ihres Lieblings hinblickte »nun, dann hilft nichts, als Geduld haben und warten. Wir müssen den Kopf oben behalten und Hände und Füße brauchen, wie mein Bruder Salomon zu sagen pflegte. Jetzt, Mr. Cruncher! Rührt Euch nicht von der Stelle, meine Vögelchen!«

Sie entfernten sich, und Lucie, ihr Gatte, ihr Vater und das Kind blieben bei dem hellen Feuer zurück. Mr. Lorry wurde mit jedem Augenblick von dem Bankhaus her erwartet. Miß Proß hatte die angezündete Kerze in eine Ecke beiseite gestellt, damit sie sich ungestört des behaglichen Feuerlichtes erfreuen konnten. Die kleine Lucie saß neben ihrem Großvater und hatte die Händchen um seinen Arm geschlungen, während er ihr in einem Ton, der kaum viel mehr als ein Flüstern genannt werden konnte, ein Märchen von einer großen mächtigen Fee zu erzählen begann, die eine Gefängnismauer sich auftun ließ und einen Gefangenen befreite, der ihr einmal einen Dienst geleistet hatte. Der Geist der Ruhe herrschte in dem Gemach und schien auch allmählich Eingang in dem Herzen Lucies zu finden.

»Was ist das?« rief sie plötzlich.

»Meine Liebe, nimm dich zusammen«, sagte ihr Vater, indem er seine Erzählung unterbrach und seine Hand auf die ihrige legte. »Du befindest dich in einem ganz verstörten Zustande. Du erschrickst vor jeder Kleinigkeit vor einem Nichts. Du, deines Vaters Tochter?«

»Ich meinte, Vater«, sagte Lucie sich entschuldigend, mit bleichem Gesicht und stotternder Stimme, »ich habe einen fremden Tritt auf der Treppe gehört.«

»Kind, auf der Treppe herrscht eine Totenstille.«

Er hatte kaum diese Worte ausgesprochen, als ein Schlag gegen die Tür geführt wurde.

»O Vater, Vater, was kann dies sein? Versteckt Charles rettet ihn!«

»Mein Kind«, sagte der Doktor, indem er aufstand und seine Hand auf ihre Schulter legte, »ich habe ihn ja schon gerettet. Welche Schwäche, meine Liebe. Ich will nach der Tür gehen.«

Er nahm das Licht auf, ging durch die beiden Vorderzimmer und öffnete. Es folgte darauf ein Füßegetrampel, und vier rauhe Männer in roten Mützen, die mit Säbeln und Pistolen bewaffnet waren, traten in das Gemach.

»Der Bürger Evrémonde, genannt Darnay«, sagte der erste.

»Wer sucht ihn?« versetzte Darnay.

»Ich suche ihn. Wir suchen ihn. Ich kenne Euch, Evrémonde; ich sah Euch heute vor dem Tribunal. Ihr seid wieder der Gefangene der Republik.«

Die vier umgaben die Stelle, wo er mit seinem Weib und seinem Kinde stand, die sich an ihn anklammerten.

»Sagt mir, wie das kommt. Warum bin ich wieder ein Gefangener?«

»Ihr habt einfach in die Conciergerie zurückzukehren und werdet es morgen erfahren. Ihr seid auf morgen vorgeladen.«

Auf Doktor Manette hatte dieser Besuch so versteinernd gewirkt, daß er mit dem Lichte in der Hand wie eine ausdrücklich zum Leuchten bestimmte Statue dastand. Nachdem diese Worte gesprochen waren, stellte er das Licht nieder, trat dem Manne gegenüber, nahm ihn nicht unsanft bei dem Bruststreif seines rotwollenen Hemdes und sprach:

»Ihr kennt ihn, habt Ihr gesagt. Kennt Ihr auch mich?«

»Jawohl, Bürger Doktor.«

»Wir alle kennen Euch, Bürger Doktor«, sagten die andern drei.

Er sah verwirrt bald den einen, bald den andern an und fuhr nach einer Pause mit gedämpfter Stimme fort:

»Wollt Ihr dann mir auf seine Frage antworten? Wie kommt das?«

»Bürger Doktor«, versetzte der erste mit Widerstreben, »er ist bei der Sektion von Saint Antoine angezeigt worden. Dieser Bürger«, er deutete auf den zweiten der Eingetretenen, »ist von Saint Antoine.«

Der bezeichnete Bürger nickte mit dem Kopfe und fügte bei:

»Er ist in Saint Antoine angeklagt.«

»Weshalb?« fragte der Doktor.

»Bürger Doktor«, entgegnete der erste mit dem früheren Widerstreben, »fragt nicht weiter. Wenn die Republik Opfer von Euch fordert, so werdet Ihr ohne Zweifel als ein guter Patriot Euch glücklich schätzen, sie zu bringen. Die Republik geht über alles. Das Volk ist das Höchste. Evrémonde, wir können nicht warten.«

Wieder verhaftet

»Noch ein einziges Wort«, bat der Doktor. »Wollt Ihr mir sagen, wer ihn angezeigt hat?«

»Es ist gegen die Regel«, antwortete der erste, »aber Ihr könnt den von Saint Antoine da fragen.«

Der Doktor richtete den Blick auf den Mann. Dieser scharrte unruhig mit den Füßen, rieb sich den Bart ein wenig und sagte endlich:

»Na, es ist freilich gegen die Regel; aber die Anklage und zwar eine schwere geht von dem Bürger und der Bürgerin Defarge und noch von einem Dritten aus.«

»Wer ist dieser Dritte?«

»Das fragt Ihr, Bürger Doktor?«

»Ja.«

»Dann«, versetzte der von Saint Antoine mit einem eigentümlichen Blicke, »werdet Ihr morgen die Antwort hören für jetzt bin ich stumm.«

Einundzwanzigstes Kapitel. Widerhallende Fußtritte.


Einundzwanzigstes Kapitel. Widerhallende Fußtritte.

Wie bereits bemerkt wurde, war die Ecke, an der der Doktor wohnte, eine wunderbare Ecke für Echos. Stets emsig bemüht, den goldenen Faden fortzuspinnen, der ihren Gatten, ihren Vater, sie selbst und ihre alte Beschützerin und Gefährtin zu einem Leben voll stillen Glückes verband, saß Lucie in dem stillen Hause an der ruhigen, dem Echo so zugänglichen Ecke und lauschte auf die widerhallenden Fußtritte.

Obschon sie eine vollkommen glückliche junge Frau war, gab es doch anfangs Zeiten, in denen die Arbeit langsam ihren Händen entsank und ihr Auge sich trübte. Denn in den Widerhallen klang etwas es war nur leicht, fernab und kaum vernehmlich; aber es regte doch ihr Herz sehr auf. Ein Schwanken zwischen Hoffen und Zweifel ein Hoffen auf eine Liebe, die ihr zurzeit unbekannt war, und der Zweifel, ob sie auf Erden bleiben werde, um sich dieser neuen Wonne zu erfreuen, machte ihr oft zu schaffen. Unter den Widerhallen erhob sich dann der Ton von Fußtritten an ihrem eigenen frühen Grabe, erhoben sich Gedanken an den Gatten, den sie trostlos und in bitterer Trauer um sie zurücklassen mußte; sie kamen in Wellenbewegungen auf sie zu, um sich an ihr zu brechen.

Diese Zeit entschwand, und die kleine Lucie lag an ihrem Herzen. Nun mischte sich unter die näher kommenden Echos der Tritt winziger Füßchen und kindliches Geplapper. Mochten die lauteren Halle sich hervordrängen, wie sie wollten, die junge Mutter an der Wiege hatte nur ein Ohr für diese. Sie kamen, und das schattige Haus wurde sonnig unter dem Lachen des Kindes, und der göttliche Kinderfreund, dem sie dasselbe in ihren Ängsten empfohlen hatte, schien wie vor alters das junge Wesen auf den Arm zu nehmen, so daß sie eine heilige Lust darüber empfand.

Immer eifrig an dem goldenen Faden beschäftigt, der sie alle zusammenhielt, und den Dienst ihres glücklichen Einflusses unbemerkt überall einflechtend in das Gewebe ihres gemeinsamen Lebens, hörte Lucie in den Echos der Jahre nur freundliche und beruhigende Laute. Der Tritt ihres Gatten klang darin stark und glückverkündend, der ihres Vaters fest und gleichmäßig. Und siehe, auch Miß Proß in ihrem Korsettgerüst weckte das Echo wie ein ungebärdiger Zelter unter der Peitsche, der neben der Platane im Garten schnaubte und die Erde stampfte.

Selbst wenn Töne des Leides sich unter die anderen mischten, so waren sie nicht hart oder grausam. Sogar als goldiges Haar, dem ihrigen gleich, auf einem Kissen lag und eine Glorie bildete um das abgezehrte Gesicht eines Knäbchens, das da mit einem strahlenden Lächeln sagte: »Lieber Papa und Mama, es tut mir leid, euch beide und mein hübsches Schwesterlein zu verlassen; aber ich bin gerufen und muß gehen« sogar damals, als die junge Seele sich den sorglichen Händen, denen sie vertraut gewesen, entzog, waren es nicht lauter Schmerzenstränen, die die Wange der Mutter befeuchteten. Lasset sie zu mir kommen und wehret ihnen nicht! Sie sehen das Angesicht meines Vaters. Oh, Vater beseligende Worte!«

So mengte sich das Rauschen eines Engelflügels in die anderen Widerhalle, die nicht mehr ausschließlich der Erde angehörten, sondern auch einen Hauch vom Himmel in sich aufgenommen hatten. Das Seufzen der Winde, die über ein kleines Grab im Garten wehten, trat gleichfalls dazu, und Lucie hörte beides deutlich wie ein leises Geflüster, wie das Atmen einer an dem sandigen Gestade schlafenden sommerlichen See, während die kleine Lucie, die in komischem Eifer ihre Morgenaufgabe lernte oder neben dem Schemel ihrer Mutter eine Puppe ankleidete, in den Zungen der beiden Städte plauderte, die in ihr Leben verwoben waren.

Die Echos bezogen sich nur selten auf die wirklichen Tritte Sydney Cartons. Im höchsten Fall ein Halbdutzendmal des Jahres machte er von seinem Privilegium, uneingeladen kommen zu dürfen, Gebrauch; und dann verlebte er den Abend unter ihnen, wie er früher oft getan hatte. Wenn er erschien, war er nie vom Wein erhitzt. Und noch einen anderen Umstand, von dem seit Menschenaltern alle wahren Echos geflüstert haben, brachten die lispelnden Widerhalle mit ihm in Verbindung.

Nie hat ein Mann wahrhaft ein Weib geliebt, sie verloren und der Frau und Mutter, wenn er sie sah, eine reine und unveränderliche Anhänglichkeit bewahrt, ohne daß von ihren Kindern eine eigentümliche Teilnahme, ein instinktartiges Gefühl des Mitleids für ihn an den Tag gelegt worden wäre. Welche zarten, geheimen Gefühle in einem solchen Falle berührt werden, erzählt kein Echo. Aber die Sache ist einmal so und verhielt sich hier in derselben Weise. Carton war der erste Fremde, dem die kleine Lucie ihre runden Ärmchen entgegenbreitete, und er behielt sein Plätzchen bei, als sie größer wurde. Auch das Knäblein hatte fast noch im letzten Augenblick von ihm gesprochen. »Der arme Carton! Küss ihn für mich!«

Mr. Stryver schuftete sich durch das Rechtsgeschäft wie ein mächtiges Dampfschiff durch trübes Wasser und zog seinen nützlichen Freund als ein Schleppboot in seinem Kielwasser nach. Da ein so begünstigtes Fahrzeuglein gewöhnlich arg umhergestoßen wird und sich meist unter Wasser befindet, so fehlte es auch Sydney nicht an entsprechender Überschwemmung. Aber gleichgültig und von den Banden der Gewohnheit umstrickt, die mächtiger auf ihn wirkten als irgendein spornendes Gefühl seiner Verlassenheit und Herabwürdigung, fand er sich in seine Lebensweise. Er dachte ebensowenig daran, sich aus seiner Schakalstellung erheben zu wollen, wie man von einem wirklichen Schakal annehmen kann, er trage sich mit der stolzen Absicht, selbst ein Löwe zu werden. Stryver war reich; er hatte eine noch blühende Witwe mit einem schönen Vermögen und drei Buben geheiratet, an denen sich jedenfalls nichts Glänzendes bemerken ließ als das glattgestrichene Haar auf ihren Knödelköpfen.

Diese drei jungen Gentlemen hatte Mr. Stryver, der aus jeder Pore Gönnerschaft der allerwiderlichsten Art schwitzte, wie ebenso viele Schafe vor sich her nach der stillen Ecke in Soho getrieben und Lucies Gatten mit den zarten Worten als Schüler angeboten: »Holla, da bring‘ ich drei Stücke Käsbrot zu Eurem ehelichen Picknick, Darnay.« Ob der höflichen Zurückweisung dieser Zugabe zum Diner war Mr. Stryver vor Entrüstung so aufgeschwollen, daß er später von dem Umstande eine stetige Nutzanwendung auf die Erziehung der gedachten jungen Gentlemen machte, indem er sie anwies, sich vor dem Bettelstolz, wie ihn dieses Schulmeisterlein zur Schau stelle, in acht zu nehmen. Er pflegte auch, wenn er bei seinem Rotwein saß, gegen Mrs. Stryver über die Kunstgriffe, die Mrs. Darnay früher in Anwendung brachte, um ihn zu »fangen«, und über den Diamantenschliff seiner eigenen Schlauheit zu deklamieren, die ihn vor den ihm gelegten Schlingen bewahrte. Einige seiner guten Freunde vom Kingsbench, die gelegentlich sich seinen Roten schmecken ließen und die Lüge mit anhörten, entschuldigten diese durch die Annahme, er habe sie so oft erzählt, daß er jetzt selbst daran glaube, obschon dies eigentlich nur eine so unverbesserliche Erschwerung eines ursprünglichen Vergehens wäre, daß man gut daran tun würde, einen derartigen Übeltäter nach einem gehörig verborgenen Plätzchen zu nehmen, um ihn abseits aufzuhängen.

Solche Stimmen machten sich unter den Echos bemerklich, auf die Lucie bisweilen gedankenvoll, bisweilen belustigt und lachend in ihrer widerhallenden Ecke lauschte, bis ihr Töchterlein sechs Jahre alt war. Wie nahe ihrem Herzen die Widerhalle von den Tritten ihres Kindes, ihres teuren, stets tätigen, geisteskräftigen Vaters und ihres geliebten Gatten gingen, brauchen wir nicht erst zu sagen ebensowenig, wie das leichteste Echo ihres gemeinsamen Haushalts, der unter ihrer weisen, das Zierliche wahrenden Wirtlichkeit sogar reicher erschien als bei einer verschwenderischen Ausstattung, Musik für ihr Ohr war. Besonders süß klangen ihr aber die Widerhalle, die ihr die Worte ihres Vaters zutrugen, daß er sie seit ihrer Verheiratung, wenn es möglich sei, sogar noch liebevoller gegen ihn finde als vorher, oder von ihrem Gatten ihr die Versicherung gaben, er bemerke nicht, daß irgendeine Sorge oder Pflicht ihrer Liebe zu ihm und ihrer treuen Handreichung Abtrag tue, sondern müsse vielmehr fragen, worin doch der geheime Zauber liege, daß sie einander so alles in allem sein können, als wären sie in eins verschmolzen, ohne daß es je den Anschein gewinne, es sei zuviel Geschäft vorhanden oder müsse etwas übereilt werden.

Es gab aber auch andere Echos, die während dieser ganzen Zeit aus der Ferne drohend sich vernehmlich machten. Und um die Zeit von Lucies sechstem Geburtstag waren sie allmählich in einen schrecklichen Ton übergegangen, als kämpfe in Frankreich ein mächtiger Sturm mit einer furchtbar hochgehenden See.

Gegen die Mitte des Juli, im Jahre Siebzehnhundertneunundachtzig, kam eines Abends Mr. Lorry noch spät von Tellsons her und setzte sich neben Lucie und Charles im Dunkeln an das Fenster. Es war ein drückend schwüler Abend, und alle drei gedachten jenes Sonntagabends, als sie von der nämlichen Stelle aus den Blitzen zugesehen hatten.

»Ich glaubte schon«, sagte Mr. Lorry, seine braune Perücke zurückschiebend, »ich werde die Nacht über bei Tellsons bleiben müssen. Wir haben den ganzen Tag so alle Hände voll zu tun gehabt, daß wir nicht wußten, wo wir anfangen und wo wir enden sollten. In Paris ist eine solche Unruhe, daß man uns vor lauter Vertrauen fast niederrennt. Unsere Kunden über dem Wasser drüben scheinen uns ihre Gelder nicht schnell genug zusenden zu können. Es ist eine wahre Manie unter ihnen, ihr Eigentum nach England zu schicken.«

»Das sieht schlimm aus«, versetzte Darnay.

»Schlimm, sagt Ihr, mein lieber Darnay? Ja, aber wir wissen nicht, ob Grund dafür vorhanden ist. Die Leute sind oft so unvernünftig. Wir bei Tellsons werden zum Teil alt, und man sollte uns nicht ohne genügende Veranlassung aus unserem gewohnten Gange bringen.«

»Ihr wißt ja«, sagte Darnay, »wie düster und drohend der Himmel ist.«

»Das weiß ich freilich«, pflichtete Mr. Lorry bei, indem er sich zu überreden suchte, daß er wirklich ärgerlich und brummig sei, »aber ich bin einmal entschlossen, nach der Plackerei des langen Tages verdrießlich zu sein. Wo ist Manette?«

»Hier«, sagte der Doktor, der eben in das dunkle Zimmer getreten war.

»Freut mich, daß ich Euch zu Hause treffe; denn das Gedränge und das Unkengeschrei, von dem ich den ganzen lieben Tag umgeben war, hat mich mehr, als sich der Mühe verlohnt, angegriffen. Ihr wollt doch hoffentlich nicht ausgehen?«

»Nein, ich bin bereit, mit Euch ein Brettspiel zu spielen, wenn Ihr wollt«, sagte der Doktor.

»Wenn ich aufrichtig sprechen soll, heut ist mir’s nicht darum zu tun. Ich bin nicht in der Stimmung, heute abend Euren Gegenpart zu machen. Ist das Teebrett noch da, Lucie? Ich seh‘ es nicht.«

»Natürlich. Man hat auf Euch gewartet.«

»Danke, meine Liebe. Ist mein Engelchen schon zu Bett gebracht?«

»Schläft schon gesund.«

»Recht so; alles gut und wohlbehalten. Gott sei Dank, ich weiß wahrhaftig nicht, warum hier nicht alles gut und wohlbehalten sein sollte. Aber man hat mir den ganzen Tag so zugesetzt, und ich bin nicht mehr so jung, wie ich war. Danke schön. Jetzt kommt und nehmt Euren Platz im Kreise; wir wollen ruhig zusammensitzen und auf die Echos lauschen, über die Ihr Eure eigene Theorie habt.«

»Keine Theorie, nur Phantasie.«

»Also schön, Phantasie also, mein weises Lämmlein«, sagte Mr. Lorry, ihre Hand streichelnd. »Sie sind sehr zahlreich und sehr laut, nicht wahr? Wir wollen hören.«

Ungestüme, tolle und gefährliche Fußtritte, die sich gewaltsam in das Leben anderer drängen Fußtritte, die nicht leicht wieder zu verwischen sind, wenn sie einmal ihre roten Spuren zeigen, toben weit weg in Saint Antoine, während der kleine Kreis zu London im dunkeln Stübchen am Fenster sitzt.

Saint Antoine war an jenem Morgen eine unabsehbare schwarze Masse hin und her wogender Vogelscheuchen gewesen, und über den Wellen von Köpfen sah man Stahlklingen und Bajonette in der Sonne blitzen und blinken. Ein furchtbares Getöse brüllte aus der Kehle von Saint Antoine, und ein Wald von nackten Armen in der Luft glich dürren Baumzweigen im Winterwinde: die Finger hielten krampfhaft jede Waffe oder jedes als Waffe brauchbare Gerät umkrallt, das aus der Tiefe unten, gleichviel wie weit weg, sich in die Höhe gearbeitet hatte.

Wer sie austeilte, woher sie kamen, wo es den Anfang nahm, durch welche Vermittlung sie schockweise zumal, fast mit Blitzesschnelle über den Häuptern der Menge so wirr zitterten und umherzuckten, darüber konnte der Haufen selbst keine Auskunft geben; aber Musketen waren verteilt worden, Patronentaschen, Pulver, Kugeln, eiserne und hölzerne Stangen, Messer, Äxte, Piken, kurz, was der Scharfsinn der Verzweiflung in eine Wehr umzuwandeln vermochte. Männer, die nichts anderes auftreiben konnten, rissen sich die Hände blutig an den Steinen und Ziegeln, die sie aus den Mauern brachen. Jeder Puls, jedes Herz in Saint Antoine verriet eine fieberhafte Spannung und loderte in wilder Fieberhitze. Jedes lebende Wesen achtete sein Leben gering und war im Wahnsinn der Leidenschaft bereit, es zu opfern.

Wie ein Wirbel kochenden Wassers einen Mittelpunkt hat, so umkreiste dieses tobende Gewühl Defarges Weinschenke, und jeder menschliche Tropfen in dem Kessel bekundete das Streben, sich nach der Stelle hintreiben zu lassen, wo Defarge selbst, bereits von Schweiß und Pulver geschwärzt, Befehle ausgab, Waffen verteilte, den einen zurückstieß, den andern vorwärtszog, dort einem die Wehr abnahm, um sie einem andern zu geben, und im wildesten Gewühl des Aufruhrs sich abarbeitete.

»Halt dich in meiner Nähe, Jacques Drei«, rief Defarge, »und ihr, Jacques Eins und Zwei, trennt euch und tretet an die Spitze von so vielen dieser Patrioten, wie sich euch anschließen wollen. Wo ist mein Weib?«

»Hier bin ich«, entgegnete Madame so ruhig wie immer, obschon sie diesmal nicht strickte. Ihre entschlossene Rechte hatte, statt der gewöhnlichen leichteren Beschäftigung, zu einer Axt gegriffen. Auch trug sie eine Pistole und ein Schlachtmesser im Gürtel.

»Wohin willst du, Frau?«

»Vorderhand mit dir«, versetzte Madame. »Gelegentlich wirst du mich an der Spitze der Weiber sehen.«

»So kommt!« rief Defarge mit dröhnender Stimme. »Patrioten und Freunde, wir sind bereit! Die Bastille!«

Mit einem Gebrüll, als habe aller Atem Frankreichs sich in diesem verabscheuten Worte zusammengedrängt, erhob sich die lebende See Woge an Woge und überflutete die Stadt nach dieser Richtung hin. Lärmglocken läuteten, Trommeln wirbelten, die See tobte und donnerte an ihr neues Gestade. Der Angriff begann.

Tiefe Gräben, eine doppelte Zugbrücke, dicke Steinmauern, acht feste Türme, Kanonen, Musketen, Feuer und Rauch. Durch Feuer und Rauch, im Feuer und Rauch denn die Masse warf ihn hinauf gegen eine Kanone, und im Nu war er der Kanonier arbeitete Defarge von der Weinschenke zwei heiße Stunden wie ein mannhafter Krieger.

Ein tiefer Graben, eine einfache Zugbrücke, dickes Steingemäuer, acht starke Türme, Kanonen, Musketen, Pulver und Rauch. Eine Zugbrücke niedergelassen! »Strengt euch an, ihr Kameraden alle, strengt euch an. Drauf, Jacques Eins, Jacques Zwei, Jacques Eintausend, Jacques Zweitausend, Jacques Fünfundzwanzigtausend; im Namen aller Engel oder aller Teufel, wie ihr wollt, ans Werk!« So rief Defarge von der Weinschenke, noch immer bei seiner Kanone stehend, die längst heiß geworden war.

»Mir nach, ihr Weiber!« rief Madame Defarge. »Wie, können wir nicht so gut totschlagen wie die Männer, wenn der Platz genommen ist?«

Und ihr nach strömten mit schrillem, durstigem Geschrei Schwärme von Weibern in verschiedener Bewaffnung, von Hunger und Rachsucht getrieben.

Kanonen, Musketen, Feuer und Rauch. Aber noch immer der tiefe Graben, die dicken Mauern und die acht festen Türme. Kleine Verschiebungen in dem wogenden Meere, veranlaßt durch das Stürzen der Verwundeten. Blitzende Waffen, hellodernde Fackeln, von nassem Stroh dampfende Lastwagen, unverdrossene Arbeit in allen Richtungen an den benachbarten Barrikaden, Geschrei, Musketensalven, Flüche, Tapferkeit sondergleichen, krachendes grobes Geschütz und Rottenfeuer, und das wütende Brüllen der lebendigen See. Aber noch der tiefe Graben, die einzelne Zugbrücke, das dicke Gemäuer und die acht festen Türme; Defarge von der Weinschenke noch immer an seiner Kanone, und die Kanone doppelt heiß nach einem Dienst von vier heißen Stunden.

Eine weiße Fahne aus dem Innern der Festung und Unterhandlung man bemerkte dies nur undeutlich im tobenden Sturme, und von Hören war gar nicht die Rede. Plötzlich hob sich die See unermeßlich weiter und höher und fegte Defarge von der Weinschenke über die niedergelassene Zugbrücke hin, an dem dicken steinernen Außengemäuer vorbei und hinein zwischen die übergebenen acht festen Türme.

So unwiderstehlich war die Gewalt des Meeres, das ihn dahin trug, daß er, als kämpfe er mit einer Brandung der Südsee, nicht zu atmen und den Kopf umzuwenden vermochte, bis er im äußeren Hofe der Bastille gelandet war. Hier hielt er sich an eine Mauerecke und versuchte umherzuschauen. Jacques Drei war in seiner Nähe. Madame Defarge, noch immer an der Spitze von einigen Weibern, befand sich, das Messer schwingend, weiter entfernt, gleichfalls im Innern. Überall war Tumult, Jubel, betäubende und tolle Verwirrung, haarsträubender Lärm und wütendes Gebärdenspiel.

»Die Gefangenen!«

»Die Listen!«

»Die geheimen Kerker!«

»Die Folterwerkzeuge!«

»Die Gefangenen!«

Unter all diesen Rufen und zehntausend andern, die man nicht verstand, wurde der, der »die Gefangenen« betraf, vorzugsweise aufgegriffen von der See, die hineinrauschte, als wäre die Menschenmenge so endlos wie Zeit und Raum. Als die vordersten Wogen vorbeirollten, die Gefängnisbeamten mit sich führten und sie mit augenblicklichem Tode bedrohten, wenn sie nicht auch über den verborgensten Winkel Aufschluß gaben, faßte Defarge mit starker Faust einen dieser Männer, einen Graukopf, der eine brennende Fackel in der Hand trug, an der Brust, riß ihn beiseite und brachte ihn zwischen sich und die Mauer.

»Zeigt mir den Nordturm!« sagte Defarge. »Rasch!«

»Recht gern«, versetzte der Mann, »wenn Ihr mit mir kommen wollt. Aber es ist niemand dort.«

»Was hat Einhundertundfünf, Nordturm, zu bedeuten?« fragte Defarge. »Nun, wird’s bald?«

»Was es zu bedeuten hat, Herr?«

»Ist’s ein Gefangener, eine Gefängnisnummer, oder will es so viel besagen, daß ich Euch den Schädel einschlagen soll?«

»Nieder mit ihm!« krächzte Jacques Drei, der gleichfalls herangekommen war.

»Monsieur, es ist eine Zelle.«

»Zeigt sie mir.«

»So folgt mir.«

Jacques Drei mit seiner gewöhnlichen Hungermiene, den es augenscheinlich verdroß, daß das Zwiegespräch nicht, wie es den Anschein gehabt, mit einem Blutvergießen endete, faßte Defarge am Arme, als dieser den Schließer festhielt. Sie hatten während des kurzen Gespräches die Köpfe ganz nahe zusammenstecken müssen, um sich verstehen zu können; so furchtbar war das Getöse des lebenden Meeres bei seinem Eindringen in die Festung und bei seinem Überfluten der Höfe, Gänge und Treppen. Und auch draußen schlug es gegen die Mauern mit heiserem Gebrüll, aus dem hin und wieder tumultuarische Einzelrufe wie weißer Gischt gen Himmel spritzten.

Durch finstere Gewölbe, die nie das Licht der Sonne erleuchtet hatte, vorbei an schrecklichen Türen zu dunklen Löchern und Keuchen, ausgetretene Treppenfluchten hinab und wieder aufwärts auf steilen, verwitterten Stein- oder Ziegeltreppen, die man mit trockengelegten Wasserfallbetten vergleichen konnte, eilten die drei aneinander geklammerten Männer, Defarge, der Schließer und Jacques Drei, dahin, so schnell es nur gehen mochte. Hin und wieder, namentlich anfangs, faßte sie die Flut und riß sie mit fort. Als es aber mit dem Abwärtssteigen ein Ende hatte und das Klettern im Turme begann, waren sie allein. Durch die dicken Mauern und Gewölbe vernahmen sie den Sturm, der in und außerhalb der Feste wütete, nur noch wie ein dumpfes Getöse, als seien sie durch den Lärm, aus dem sie kamen, taubhörig geworden.

Der Schließer machte vor einer niederen Tür halt, steckte einen Schlüssel in ein klirrendes Schloß, öffnete langsam und sagte, als sie mit gebeugten Köpfen hineingingen:

»Hundertundfünf, Nordturm.«

Hoch in der Wand befand sich eine kleine, stark vergitterte Fensteröffnung ohne Scheiben und davor ein steinerner Schirm, so daß man den Himmel nur sehen konnte, wenn man sich tief niederduckte und aufwärtsschaute. Ein kleiner, mit schweren Querstangen geschützter Kamin ragte um ein paar Fuß herein. Auf dem Herde sah man ein Häufchen alter, federiger Holzasche. Es war noch ein Schemel, ein Tisch und ein Strohbett vorhanden. In einer der vier geschwärzten Wände steckte ein rostiger eiserner Ring.

»Leuchtet mit der Fackel langsam an den Wänden herum, daß ich sie sehen kann«, sagte Defarge zum Schließer.

Der Mann gehorchte, und Defarges Augen folgten aufmerksam dem Lichte.

»Halt! Schau her, Jacques.«

»A.M.«!« krächzte Jacques Drei lesend.

»Alexander Manette«, sagte ihm Defarge ins Ohr, während er mit dem vom Pulver geschwärzten und verbrannten Zeigefinger den Buchstaben folgte. »Und hier steht geschrieben: »ein armer Arzt«. Ohne Zweifel war er es auch, der hier in den Stein einen Kalender einkritzelte. Was hast du in der Hand? Ein Hebeisen? Gib es mir!«

Er hatte noch den Zündstock seiner Kanone in der Hand; nachdem er diesen rasch gegen das andere Werkzeug ausgewechselt, machte er sich an den wurmstichigen Tisch und Schemel und schlug sie mit ein paar Streichen in Stücke.

»Halt das Licht höher!« rief er zornig dem Schließer zu. »Untersuche diese Trümmer sorgfältig, Jacques. Und sieh, da hast du mein Messer«, er warf es ihm hin; »schlitz‘ das Bett auf und untersuche das Stroh. Höher mit dem Licht, du!«

Mit einem drohenden Blick auf den Schließer kletterte er auf den Herd, sah sich im Kamin um, klopfte mit seinem Brecheisen an die Seiten desselben und machte sich dann über das darüber angebrachte eiserne Gitter her. Nach einigen Minuten löste sich stäubend der Mörtel ab, und er wandte sein Gesicht beiseite, um den niederfallenden Stücken auszuweichen. Dann tastete er mit vorsichtiger Hand in den Kamin, in der alten Holzasche und in einem Spalt des Kamins, in dem sein Werkzeug sich verfangen oder den es gerissen hatte, umher.

»Nichts in dem Holz und nichts in dem Stroh, Jacques?«

»Nichts.«

»So wollen wir’s mitten in die Zelle auf einen Haufen schaffen. Gut. Jetzt zünd‘ an, du!«

Der Schließer steckte das Holzhäuflein in Brand, das bald hoch und heiß aufloderte. Dann schlüpften sie wieder gebückt durch die niedere Türwölbung, ließen hinter sich brennen und kehrten nach dem Hofe zurück. Auf dem Wege dahin schien sich allmählich ihr Gehör wieder zu schärfen, bis sie sich aufs neue in dem tobenden Wellenspiele befanden.

Dort kochte und brandete es, um Defarge zu suchen. Saint Antoine wollte durchaus seinen Weinwirt an der Spitze der Wache über den Gouverneur sehen, der die Bastille verteidigt und auf das Volk geschossen hatte. Es stand sonst zu befürchten, derselbe möchte nicht an das Stadthaus zum Gericht abgeliefert werden, sondern er könnte entkommen und das Blut des Volkes, das nach so vielen Jahren der Mißachtung plötzlich einigen Wert gewann, ungerächt bleiben.

In dem heulenden Knäuel von Kampf und Leidenschaft um den verabscheuten Offizier her, der sich durch seinen grauen Rock und die roten Dekorationen auszeichnete, befand sich nur eine einzige feststehende Figur, und zwar die eines Weibes. »Seht, da ist mein Mann!« rief sie, auf ihn hindeutend. »Da ist Defarge!« Sie trat auf den schrecklichen alten Offizier zu und hielt sich beharrlich an seiner Seite, während Defarge und die übrigen ihn durch die Straßen schleppten. Sie wich nicht von ihm, als er in die Nähe seines Bestimmungsortes kam und ein schwerer Regen von Hieben und Stichen gegen ihn losbrach; und sie war ihm, als er endlich tot niedersank, so nah, daß sie, die nun plötzlich Leben zeigte, ihren Fuß auf seinen Nacken setzen und ihm mit dem lange bereit gehaltenen Schlachtmesser den Kopf vom Rumpf trennen konnte.

Die Stunde war da, in der Saint Antoine seinen schrecklichen Gedanken, statt der Laternen Menschen emporzuziehen, auszuführen gedachte, um zu zeigen, was er sein und tun konnte. Saint Antoines Blut wallte auf, während da der Tyrannei und des Herrschens mit der eisernen Hand drunten war drunten auf den Stufen des Stadthauses, wo der Leichnam des Gouverneurs lag – drunten an der Schuhsohle der Madame Defarge, als sie auf den Körper trat, um für die Verstümmelung festen Halt zu gewinnen. »Herunter mit der Laterne dort!« rief Saint Antoine, der mit blutgierigen Blicken sich nach neuen Todeswerkzeugen umsah. »Da ist einer von seinen Soldaten; er soll Wache bei ihm halten!« Der Posten ward in die Luft aufgepflanzt, und die See rauschte weiter.

Eine See schwarzen, drohenden Wassers, die zerstörend Welle gegen Welle schleuderte, unergründet in ihren Tiefen und unerkannt in ihrer Kraft! Eine erbarmenlose See wild hin und her bewegter Gestalten, rachedürstender Stimmen und in dem Glutofen der Leiden so sehr gehärteter Gesichter, daß der Finger des Mitleids keinen Eindruck mehr auf sie machen konnte!

Aber in dem Meer der Gesichter, auf denen Trotz und Wut einen so wild lebendigen Ausdruck gewonnen, gab es zwei Gruppen, je sieben an der Zahl, die so sehr gegen die übrigen abstachen, daß nie eine rollende See denkwürdigere Schiffstrümmer vor sich hergetrieben hatte. Sieben Gesichter von Gefangenen, plötzlich durch den Sturm befreit, der ihre Gräber zerbrochen, wurden über den Häuptern der Menge dahingetragen. Sie waren verschüchtert, verwirrt, erstaunt und verwundert, als sei der Jüngste Tag gekommen und als gehe der gräßliche Jubel um sie her von den Seelen der Verdammten aus. Dann gab es noch sieben andere Gesichter sie wurden noch höher getragen und waren die Gesichter von Toten, deren gesenkte Lider und halb sichtbare Augen des Jüngsten Tages harrten. Unbewegliche Gesichter, aber doch mit einem Ausdrucke von Spannung darauf, der sich nicht vernichten ließ; Gesichter gewissermaßen in einer schrecklichen Ruhe, als wollten sie bald die gesenkten Augen wieder erheben und mit blutlosen Lippen Zeugnis ablegen: »Das hast du getan!«

Sieben befreite Gefangene, sieben blutige Köpfe auf Piken, die Schlüssel zu dem fluchbeladenen Fort mit seinen acht festen Türmen, einige aufgefundene Papiere und andere Denkwürdigkeiten von Gefangenen aus alter Zeit, denen die Herzen längst im Tode gebrochen waren dies und Ähnliches mischte sich in den lauten Widerhall der Fußtritte, als Saint Antoine in der Mitte des Juli Eintausendsiebenhundertneunundachtzig durch die Straßen von Paris zog. O Himmel, zerstreue Lucies Phantasien und halte diese Fußtritte fern von ihrem Leben! Denn sie sind ungestüm, toll und gefährlich und lassen sich so lange nach der Zeit, da das Faß vor der Tür von Defarges Weinschenke barst, nicht leicht wieder säubern, wenn sie einmal rot geworden sind.

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.


Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.

Der ausgehungerte Saint Antoine hatte erst eine Jubelwoche durchgemacht, in der er seinen Bissen hartes bitteres Brot, so gut er konnte, mit dem Hochgenuß brüderlicher Umarmungen und Glückwünsche würzte, als Madame Defarge wieder wie gewöhnlich am Zahltisch vor ihren Kunden thronte. Sie trug keine Rose in ihrem Kopfputz, denn die große Brüderschaft der Spione war schon in dieser einen kurzen Woche so verschüchtert worden, daß sie es nicht wagte, sich der Gnade des Heiligen anzuvertrauen. Die Laternen in der Straße hatten einen gar zu bedeutsamen, elastischen Schwung.

Madame Defarge saß mit verschlungenen Armen in der heißen Morgensonne und betrachtete die Weinstube und die Straße. Da wie dort lungerten einige Gruppen schmutziger, erbärmlich aussehender Müßiggänger, jetzt augenscheinlich im Bewußtsein einer Gewalt, die sie ihrem Elend verdankten. Die zerlumpteste Nachtmütze, die der ungewaschenste Kopf schräg aufsitzen hatte, schien zu sagen: »Ich weiß, wie schwer es mir, dem Bedecker dieses, geworden ist, das Leben in mir zu erhalten: aber weißt du, wie es mir, dem Bedecker dieses, jetzt ein so Leichtes ist, das Leben in dir zu vernichten?« Jeder magere nackte Arm, der vorher ohne Arbeit war, hatte jetzt hinreichend Beschäftigung, wenn er nur zuschlagen wollte. Die Finger der strickenden Weiber waren boshaft lüstern geworden, seit sie wußten, daß sie zerreißen konnten. Saint Antoine sah anders als früher; das Bild, an dem seit Jahrhunderten gehämmert worden war, hatte durch die beendigenden Schläge der letzten Zeit mächtig an Ausdruck gewonnen.

Madame Defarge stand beobachtend da, und in ihren Zügen las man unterdrückten Beifall, wie sich dies von der Führerin der Weiber von Saint Antoine erwarten ließ. Eine aus ihrer Schar saß ihr strickend zur Seite. Diese, das kleine, gedrungene Weib eines verhungerten Krämers und Mutter von zwei Kindern, hatte sich als ihr Leutnant bereits den Ehrennamen »die Rache« erworben.

»Hör‘!« sagte die Rache. »Was ist das? Wer kommt?«

Als ob eine von der äußersten Grenze des Saint-Antoine-Viertelbis zur Tür des Weinhauses gelegte Zündschnur plötzlich angezündet worden sei, wälzte sich ein rasch weiter greifendes Murmeln heran.

»Es ist Defarge«, sagte Madame. »Stille, Patriotinnen!«

Defarge kam, die rote Mütze in der Hand, atemlos heran und sah sich um.

»Aufgemerkt überall da!« sagte Madame. »Hört ihn!«

Defarge blieb keuchend im Vordergrunde der gierigen Augen und der weit offenen Mäuler stehen, die sich vor der Tür draußen gesammelt hatten, während sie in der Weinstube aufgesprungen waren.

»Rede, Mann. Was gibt es?«

»Neuigkeiten aus der andern Welt.«

»Wie das?« versetzte Madame verächtlich. »Aus der andern Welt?«

»Erinnert sich jemand hier des alten Foulon, der dem verhungerten Volke zurief, es solle Gras fressen der da starb und zur Hölle fuhr?«

»Jeder!« antwortete es aus allen Kehlen.

»Die Neuigkeiten betreffen ihn. Er ist unter uns.«

»Unter uns?« klang wieder der allgemeine Ruf: »Tot?«

»Nicht tot. Er fürchtete uns so sehr und zwar mit Recht , daß er sich für tot ausgeben und zum Schein ein großartiges Leichenbegängnis halten ließ. Aber man hat ihn auf dem Land draußen versteckt lebend aufgefunden und hierher gebracht. Ich bin Zeuge gewesen, wie man ihn eben gefangen auf dem Stadthause ablieferte, und sagte ihm, daß er uns nicht ohne Grund fürchtete. Sprecht ihr alle hatte er nicht Ursache dazu?«

Wenn es der unglückselige, mehr als siebzigjährige alte Sünder nie zuvor gewußt hätte, so würde ihn der auf diese Frage antwortende gemeinsame Ruf aufs gründlichste belehrt haben.

Dann folgte ein Augenblick tiefer Stille. Defarge und sein Weib sahen einander scharf an. Die Rache beugte sich nieder, und es erscholl der wilde Ton einer hinter dem Zahltische stehenden Trommel, die sie anschlug.

»Patrioten!« rief Defarge mit entschiedener Stimme, »sind wir bereit?«

Im Nu hatte Madame Defarge ihr Messer in dem Gürtel. Die Trommel scholl durch die Straßen, als seien sie und der Trommler herbeigezaubert worden: die Rache rannte unter furchtbarem Gezeter, die Arme wie vierzig Furien zumal über dem Haupte zusammenschlagend, von Haus zu Haus, um die Weiber aufzubieten.

Die Männer waren schrecklich, wie sie in ihrem blutgierigen Zorn zu den Fenstern herausschauten, nach der nächsten besten Waffe griffen und in die Straßen herausstürzten: aber die Weiber boten einen Anblick, der dem Kühnsten das Blut erstarren machen konnte. Von den Geschäften ihrer armen und kahlen Haushaltung, von ihren Kindern und von ihren Alten und Kranken hinweg, die nackt und verhungert auf dem Boden lagen, stürmten sie mit aufgelösten Haaren hinaus und erregten sich gegenseitig durch die wildesten Rufe und Handlungen bis zum Wahnsinn. »Der Schurke Foulon ist gefangen, Schwester! Der alte Foulon gefangen, Mutter! Der elende Foulon gefangen, Tochter!« Dann stürzte ein Dutzend anderer in ihre Mitte, die sich die Brust zerschlugen, das Haar zerrauften und in den Ruf ausbrachen: »Foulon noch am Leben! Foulon, der den verhungerten armen Leuten sagte, sie sollen Gras fressen! Foulon, der meinen armen Vater Gras fressen hieß, als ich ihm kein Brot zu geben hatte! Foulon, der meinem Kinde Gras zu saugen empfahl, als diese Brüste versiegt waren vor Mangel! O Mutter Gottes, dieser Foulon! O Himmel, unsere Leiden! Höre mich, mein totes Kind und mein vor Elend verkommener Vater ich schwöre es auf meinen Knien, auf diesen Steinen, dich zu rächen an Foulon! Männer, Brüder, Jünglinge, wir verlangen das Blut, den Kopf Foulons! Gebt uns das Herz Foulons gebt uns Foulon mit Leib und Seele! Reißt Foulon in Stücke und verscharrt ihn, daß Gras wachse aus seinem Leibe!« Unter solchem Geschrei rannten die Weiber wie toll umher und schlugen auf ihre eigenen Freunde los, bis sie im Übermaß ihrer Leidenschaft ohnmächtig zusammenbrachen und nur die zu ihnen gehörigen Männer sie retten konnten, daß sie nicht unter den Füßen zerstampft wurden.

Gleichwohl ging kein Augenblick verloren; kein Augenblick! Dieser Foulon befand sich auf dem Stadthause und konnte wieder befreit werden. Nie, solange Saint Antoine seiner Leiden und des erfahrenen Unrechts eingedenk war! Bewaffnete Männer und Weiber strömten so schnell aus dem Viertel hinaus und zogen selbst die letzten Reste mit solcher Anziehungskraft nach, daß in einer Viertelstunde außer einigen alten Weibern und winselnden Kindern kein menschliches Wesen mehr in Saint Antoine zu finden war.

Nein. Sie hatten inzwischen den Gerichtssaal, in dem sich der häßliche, boshafte alte Mann befand, gefüllt, und was nicht hineinging, hielt den anstoßenden freien Platz und die benachbarten Straßen besetzt. Die Defarge, Mann und Frau, die Rache und Jacques Drei standen im Gedränge vornan und in nicht großer Entfernung von dem Gehaßten.

»Seht!« rief Madame, mit ihrem Messer nach ihm hinweisend. »Seht den alten Schurken mit Stricken gebunden. Es war gut, daß man ihm ein Bund Heu auf den Rücken schnürte. Ha, ha! Sehr gut. Er soll es jetzt fressen!«

Madame steckte ihr Messer unter den Arm und klatschte mit den Händen wie im Schauspiel.

Die hinter Madame Defarge Stehenden erklärten den weiter rückwärts Befindlichen die Ursache dieser Beifallsäußerung, und so ging die Erklärung von Mund zu Mund, bis weit hinaus in die Straßen, wo jetzt bis an den Saum der Menschenmassen hinaus ein wütendes Klatschen erscholl. So vergingen schleppende zwei oder drei Stunden, und Madame Defarges häufige ungeduldige Kundgebungen über das Zeugengedresche wurden mit wunderbarer Schnelligkeit in die Ferne fortgepflanzt um so schneller, als einige im Klettern wohlgeübte Männer nach den Fenstern hinaufgestiegen waren und, da sie Madame gut kannten, von hier aus zwischen ihr und dem Volke draußen Telegraphendienst leisteten.

Endlich stand die Sonne so hoch, daß ein freundlicher Strahl von ihr unmittelbar das Haupt des alten Gefangenen traf, als wolle sie ihn schirmen oder ihm Hoffnung einflößen. Dies war unerträglich mit anzusehen. Im Nu ging die Schranke wie von Sägmehl und Spreu, die überraschend lange bestanden hatte, in die Winde, und er befand sich in den Händen von Saint Antoine.

Es war schnell bekannt bis ans äußerste Ende der Volksmenge. Defarge hatte über ein Geländer und einen Tisch weggesetzt und den unglücklichen Elenden mit tödlicher Umarmung umschlungen. Madame Defarge, die ihm nachfolgte, machte sich alsbald mit einem der Stricke, die ihn gefesselt hielten, zu schaffen. Die Rache und Jacques Drei hatten sich ihnen noch nicht angeschlossen, und die Männer in den Fenstern waren noch nicht wie Raubvögel auf ihre Beute in die Halle hinuntergestoßen, als schon von der ganzen Stadt her der Ruf zu erschallen schien: »Bringt ihn heraus! Heraus mit ihm an die Laterne!«

Mit dem Kopfe voran, hinab und hinauf über die Treppen des Gebäudes: jetzt auf den Knien, jetzt auf den Beinen und jetzt auf dem Rücken; geschleppt, gezerrt und von Heu- und Strohwischen fast erstickt, die Hunderte von Händen ihm ins Gesicht stießen; zerrissen, zerbeult, blutend und doch ohne Unterlaß flehentlich um Gnade bittend, jetzt in der vollen Beweglichkeit der Todesangst, wenn ein kleiner Raum um ihn her dadurch gebildet wurde, daß die Hinteren die Vorderen zurückzogen, um ihn besser sehen zu können, jetzt wie ein Scheit Holz durch einen Wald von Beinen gezogen so brachte man ihn bis zu der nächsten Straßenecke, wo eine der verhängnisvollen Laternen stand. Madame Defarge ließ ihn los wie etwa die Katze eine Maus und betrachtete ihn still und ruhig, während die anderen sich bereit machten und er sie anflehte. Dabei schrien die Weiber ohne Unterlaß, und die Männer meinten allen Ernstes, man solle ihm so lange Gras in den Mund stopfen, bis er tot sei. Auf einmal ging es mit ihm in die Höhe. Der Strick riß, und sie fingen den Schreienden wieder auf. Zum zweitenmal wieder hinauf; abermals riß der Strick, und der Mann ward aufgefangen. Beim drittenmal war der Strick barmherzig und hielt. Bald nachher ragte sein Kopf auf einer Pike und hatte Gras genug im Munde, um ganz Saint Antoine zu jubelnden Tänzen zu veranlassen.

Doch das schlimme Werk des Tages war noch nicht zu Ende, Das Blut von Saint Antoine hatte sich bei dem Schreien und Tanzen so erhitzt, daß es wieder wild aufkochte, als abends sich die Kunde verbreitete, der Schwiegersohn des Hingeschlachteten, gleichfalls einer von den Feinden und Verächtern des Volkes, komme mit einer Bedeckung nach Paris, unter der sich nur von Kavallerie fünfhundert Mann befänden, Saint Antoine schrieb seine Verbrechen mit flammender Schrift nieder, bemächtigte sich seiner würde ihn aus dem Herzen einer Armee herausgerissen haben, die sich dazu hergab, einen Foulon zu beschützen steckte seinen Kopf und sein Herz auf Spieße und trug die drei Siegeszeichen des Tages in einer Wolfsprozession durch die Straßen.

Erst bei dunkler Nacht kamen die Männer und Weiber zu den brotlosen weinenden Kindern zurück. Nun wurden die ärmlichen Bäckerläden belagert, und sie warteten geduldig, bis die Reihe des Brotkaufens an sie kam. Während sie mit schwachem und leerem Magen harrten, vertrieben sie sich die Zeit damit, daß sie einander umarmten und die Triumphe des Tages in ihrem Geplauder nochmals genossen. Allmählich wurden die Reihen des zerlumpten Volkes kleiner. Ärmliche Lichter begännen in den hohen Fenstern sich zu zeigen, und in den Straßen wurden dürftige Feuer angemacht, an denen die Nachbarn gemeinschaftlich das Nachtessen kochten, das sie in den Häusern verzehrten.

Ein elendes ungenügendes Nachtessen, bei dem von Fleisch oder von einer Soße für ihr grobes Brot keine Rede war. Doch goß geselliges Beisammensein einigen Nährstoff in steinharte Speisen und wußte denselben einige Funken Heiterkeit zu entlocken. Väter und Mütter, die unter den Schlimmsten des Tages gewesen waren, spielten sanft mit ihren abgezehrten Kindern, und Liebende liebten und hofften trotz einer Welt wie die vor ihnen und um sie her.

Es war fast Morgen, als Defarges Weinschenke ihre letzten Kunden entließ, und Monsieur Defarge sagte, als er die Tür schloß, in heiserem Ton zu Madame:

»Endlich ist es gekommen, meine Liebe.« »Nun ja«, entgegnete Madame. »Nahezu.«

Saint Antoine schlief, die Defarge schliefen, und sogar die Rache schlief mit ihrem verhungerten Krämer, und die Trommel hatte Ruhe. Die Stimme der Trommel war die einzige in Saint Antoine, die durch Blut und Schrecken nicht verändert worden war. Die Rache als Hüterin der Trommel konnte sie wecken, und sie klang dann wieder wie zu der Zeit, ehe die Bastille fiel oder der alte Foulon ergriffen wurde; nicht so war es mit den heiseren Tönen der Männer und Weiber im Schoß von Saint Antoine.

Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten.


Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten.

Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes menschliche Wesen seiner Eigenart nach für andere zu einem tiefen Geheimnis wird. Wenn ich nachts in einer großen Stadt anlange, so erfüllt es mich mit hehren Gedanken, daß jedes von jenen dunkel aufeinander gehäuften Häusern sein eigenes Geheimnis einschließt und jedes klopfende Herz in den Hunderttausenden von menschlichen Wesen irgendeine heimliche, ihm besonders teure Vorstellung birgt. Selbst das Grausen, das uns der Tod einflößt, hat in diesem Umstand seinen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teuer gewordenen Buche blättern und darf nicht hoffen, es mit der Zeit zu Ende zu lesen. Ich soll nicht mehr schauen in die Tiefen des unergründlichen Wassers, in dem ich, je nachdem es durch augenblickliche Lichter erhellt wurde, manchen weit unter der Oberfläche befindlichen Schatz erschaute. Das Schicksal wollte es, daß das Buch sich schloß und für immer mit einer unlöslichen Klammer versehen ward, nachdem ich kaum eine Seite gelesen hatte. Es war bestimmt, daß das Wasser den starren Banden ewigen Eises verfiel, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich in ahnungsloser Unwissenheit am Ufer stand. Mein Freund ist tot, mein Nachbar ist tot, meine Liebe, der Schatz meiner Seele, ist tot. Wir haben da die unerbittliche Fortdauer eines Geheimnisses, das stets in jeder Persönlichkeit war und das ich bis zum Ende meines Daseins in die meinige übertragen habe. Und gibt es wohl auf irgendeinem Friedhof dieser Stadt, den ich durchwandle, einen Schläfer, der unerforschlicher wäre, als es mir der innern Persönlichkeit nach ihre rührigen Bewohner sind oder ich es ihnen bin?

Was dieses natürliche, unveräußerliche Erbe betrifft, so besaß es der Bote auf seinem Roß ebensogut wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann von London. Nicht anders erging es den drei im engen Raum einer holperigen alten Postkutsche eingeschlossenen Passagieren, die sich wechselseitig so vollkommene Geheimnisse waren, als führen sie stundenweit voneinander jeder in einer eigenen sechsspännigen Equipage.

Der Bote ritt in leichtem Trab wieder zurück und hielt dabei fleißig vor den Wirtshäusern, um sich einen Trunk zu holen, zeigte aber dabei eine entschiedene Neigung, nicht viel Worte zu verschwenden und den Hutrand über den Augen aufgestülpt zu tragen. Freilich hatte er Augen, denen eine solche Dekoration recht gut stand: denn sie waren dunkel auf der Oberfläche, ohne Tiefe in Form oder Farbe und viel zu nah beieinander, als fürchte jedes, über etwas ertappt zu werden, wenn sie nicht treu zusammenhielten. Sie hatten einen finstern Ausdruck, und der alte Hut saß über ihnen wie ein dreieckiger Spucknapf, während unter ihnen die Flügel der dicken, Kinn und Hals umhüllenden Halsbinde fast bis zu den Knien niederfielen. Wenn er zu einem Trunk haltmachte, drückte er, solange er mit der Rechten sich den Branntwein in die Kehle goß, mit der Linken seine Hülle nieder, zog sie aber, sobald er sich angefeuchtet hatte, augenblicklich wieder in die Höhe.

»Nein, Jerry, nein«, fuhr der Bote auf seinem Ritt in dem alten Thema fort, »das wäre nichts für dich, Jerry. Du bist ein ehrlicher Handwerksmann, Jerry, und dies paßt nicht in deinen Kram. Zurückgerufen –! Ei der Kuckuck, man sollte meinen, er sei ein Trinker gewesen.«

Der Auftrag verwirrte ihm den Sinn dermaßen, daß er mehrmal den Hut abnehmen mußte, um sich den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er ein steifes schwarzes Haar, das sich überall borstig emporsträubte und fast bis zu seiner stumpfen Nase bergab wuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen; denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Laubfroschspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.

Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen, während sie für sein Roß Umrisse gewannen, die aus dessen Privatbesorgnissen entsprangen. Letztere mußten wohl sehr zahlreich sein: denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.

Wie lange holterte und polterte, rasselte und schulterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Und wem enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die die schimmernden Augen und die unsteten Gedanken an die Hand gaben?

Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das ihrige tat, um ihn vor einem Zusammenstoß mit dem Nachbar oder vor einem Wurf in die Ecke zu bewahren, wenn die Kutsche einen besonders schweren Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitze nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die durch dieselben trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenübersitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel bezahlt, als Tellson trotz seiner ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewöhnt war. Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon – vor ihm auf. Er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.

Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Betäubungsmittel genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Weg, jemanden aus dem Grabe herauszugraben.

Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht. Dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens sich voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern folgten der Reihe nach. Ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Körperformen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:

»Wie lange schon begraben?«

Und jedesmal lautete die Antwort in der gleichen Weise:

»Fast achtzehn Jahre.«

»Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«

»Längst.«

»Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?«

»So höre ich.«

»Ich hoffe, dies hat noch einen Wert für Euch?«

»Ich weiß darauf nichts zu sagen.«

»Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?«

Die Antworten auf diese Frage waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: »Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe.« Ein andermal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und klang: »Nehmt mich zu ihr.« Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: »Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht.«

Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen Schlüssel, oder wohl gar mit den Händen – um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so verfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch den Regen und Nebel, die seine Wangen feuchteten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.

Doch selbst wenn seine Augen sich für den Nebel und Regen, für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die stoßweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurücksagen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstige Gesicht hervor, das er abermals anredete:

»Wie lange schon begraben?«

»Fast achtzehn Jahr.«

»Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch.«

»Weiß nicht.«

Und er grub, grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder aufziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.

»Wie lange schon begraben?«

»Fast achtzehn Jahre.«

»Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«

»Längst.«

Diese Worte klangen noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.

Er ließ das Fenster nieder und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits desselben sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.

»Achtzehn Jahre!« sagte der Passagier, zu der Sonne aufblickend. »Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben zu sein!«