Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt.


Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt.

Um dieselbe Zeit, als die zweiundfünfzig ihr Schicksal erwarteten, hielt Madame Defarge eine unheildrohende Beratung mit der Rache und Jacques drei von dem revolutionären Schwurgericht. Der Platz, wo Madame Defarge sich mit diesen ihren Ministern ins Einvernehmen setzte, war nicht die Weinstube, sondern der Schuppen des Holzspalters, weiland Wegknechts. Der letztere nahm keinen Teil an der Konferenz, harrte aber in einiger Entfernung als eine viel niedriger stehende Person, die nicht unaufgefordert sprechen und nur eine Ansicht kundgeben durfte, wenn sie darum befragt wurde.

»Aber unser Defarge ist doch unbezweifelt ein guter Republikaner, he?« fragte Jacques Drei.

»Es gibt keinen besseren in ganz Frankreich«, versicherte die zungenfertige Rache in schrillen Lauten.

»Still, meine kleine Rache«, sagte Madame Defarge, mit einem leichten Schmunzeln, die Hand auf die Lippen ihres Leutnants legend, »laß mich reden. Mein Mann, Mitbürger, ist ein guter Republikaner und ein kühner Mann; er hat sich wohl um die Republik verdient gemacht und besitzt ihr Vertrauen. Aber er hat auch seine Schwächen, und zu diesen gehört seine Anhänglichkeit an den Doktor.«

»Das ist recht schade«, krächzte Jacques Drei mit einem zweifelhaften Kopfschütteln, während seine grausamen Finger sich an seinem hungrigen Munde abarbeiteten; »es ziemt einem guten Bürger nicht und ist sehr zu bedauern.« »Ihr seht, ich für meine Person kümmere mich nichts um diesen Doktor«, sagte Madame. »Was liegt mir daran, ob er seinen Kopf behält oder verliert? Mir ist es gleichgültig. Aber die Evrésmondes sollen vertilgt werden, und das Weib mit ihrem Kinde muß dem Manne und Vater folgen.«

»Sie hat einen schönen Kopf dafür«, krächzte Jacques Drei. »Ich habe dort schon blaue Augen und goldiges Haar gesehen; sie nahmen sich prächtig aus, als Samson sie in die Höhe hielt.« Bei seiner Wolfsnatur sprach er wie ein Epikuräer.

Madame Defarge schlug ihre Augen nieder und sann eine Weile nach.

»Auch das Kind«, bemerkte Jacques Drei mit beschaulicher Lust, »hat goldiges Haar und blaue Augen, und wir sehen selten ein Kind dort. Es gibt einen allerliebsten Anblick.«

»Mit einem Wort«, sagte Madame Defarge, sich aus ihrem Nachsinnen aufraffend, »ich kann in dieser Sache meinem Manne nicht trauen. Seit gestern abend fühle ich, daß ich ihn nicht nur in die Einzelheiten meiner Pläne nicht einweihen darf, sondern auch, daß jede Zögerung die Gefahr der Warnung für sie in sich schließt und ihr Entkommen begünstigt.«

»Das darf nicht geschehen«, krächzte Jacques Drei. »Niemand darf entkommen. Wir haben noch nicht halb genug. Es müssen zehn Dutzend pro Tag werden.«

»Mit einem Wort«, sprach Madame Defarge weiter, »mein Mann hat nicht meine Gründe, diese Familie bis zur Vernichtung zu verfolgen, und seine Empfindsamkeit gegen diesen Doktor berührt mich nicht. Ich muß daher für mich handeln. Kommt her, kleiner Bürger.«

Der Holzspalter, der sie hoch in Ehren und aus heller Furcht sich selbst in tiefster Unterwürfigkeit hielt, trat mit seiner roten Mütze in der Hand heran.

»Wir sprechen von den Zeichen, die sie den Gefangenen gemacht hat, kleiner Bürger«, sagte Madame Defarge streng. »Ihr seid bereit, noch heute Zeugnis gegen sie abzulegen?«

»Ei ja, warum nicht?« versetzte der Holzspalter. »Jeden Tag, bei jedem Wetter von zwei bis vier Uhr; und stets Zeichen machend; bisweilen mit der Kleinen, bisweilen ohne sie. Ich weiß, was ich weiß, und hab‘ es mit eigenen Augen gesehen.«

Während seiner Rede machte er Gebärden aller Art, gleichsam in zufälliger Nachahmung einiger von den vielen und verschiedenen Signalen, die freilich nur in seinem Hirn spukten.

»Das ist sonnenklar eine Verschwörung«, sagte Jacques Drei. »Nicht anders möglich.«

»Das Schwurgericht wird doch darüber keinen Zweifel hegen?« fragte Madame Defarge, mit einem unheimlichen Lächeln ihre Augen auf ihn heftend.

»Verlaßt Euch auf die patriotischen Geschworenen, meine liebe Bürgerin. Ich stehe für meine Kollegen in der Jury.«

»Nun, laß mich sehen«, sagte Madame Defarge, abermals nachdenkend. »Um noch einmal auf diesen Doktor zu kommen kann ich ihn um meines Mannes willen schonen? Ich habe nichts für und nichts gegen ihn. Kann ich ihn schonen?«

»Er würde doch als ein Kopf zählen«, bemerkte Jacques Drei mit gedämpfter Stimme. »Wir haben wahrhaftig nicht Köpfe genug. Es wäre schade, mein‘ ich.«

»Er machte mit ihr Signale, als ich sie sah«, fuhr Madame Defarge fort, »und ich kann nicht von ihr sprechen, ohne auch ihn zu erwähnen. Schweigen darf ich nicht und will daher die ganze Sache diesem kleinen Bürger hier überlassen; denn ich bin kein schlechter Zeuge.«

Die Rache und Jacques Drei wetteiferten miteinander in warmen Versicherungen, daß sie der trefflichste, der bewundernswürdigste Zeuge sei, und der kleine Bürger, der sich von ihnen nicht überbieten lassen wollte, erklärte sie geradezu für einen himmlischen Zeugen.

»Wir müssen ihn für sich selbst sorgen lassen«, sagte Madame Defarge. »Nein, ich kann ihn nicht schonen. Ihr seid um drei Uhr in Anspruch genommen; Ihr geht doch hin, um heute den Hinrichtungen beizuwohnen Ihr?«

Diese Frage galt dem kleinen Holzspalter, der hastig mit Ja antwortete und die Gelegenheit benutzte, um hinzuzufügen, daß er der eifrigste Republikaner sei und sich wirklich als den unglücklichsten Republikaner fühlen würde, wenn ihn irgend etwas des Vergnügens beraubte, im Anblick des possierlichen Nationalbarbiers seine Nachmittagspfeife zu rauchen. Er benahm sich derart übertrieben, daß man ihn hätte beargwöhnen können (vielleicht lag auch dieser Sinn in dem Blick der Verachtung, den ihm die dunkeln Augen in Madame Defarges Kopf zuwarfen), er sei jede Stunde des Tages ein bißchen um seine, persönliche Sicherheit in Angst.

»Ich werde auch an dem gleichen Platz zu tun haben«, sagte Madame, »Wenn es vorüber ist ich will sagen, um acht Uhr heute abend , kommt Ihr zu mir nach Saint Antoine; wir wollen dann unsere Klage gegen diese Leute bei meiner Sektion vorbringen.«

Der Holzspalter versicherte, er werde stolz darauf sein und sich geschmeichelt fühlen, der Bürgerin zu dienen. Als die Bürgerin ihn ansah, wurde er verlegen; er wich ihrem Blick aus wie ein kleiner Hund, zog sich hinter sein Holz zurück und verbarg seine Verwirrung hinter dem Griff seiner Säge.

Madame Defarge winkte die Geschworenen und die Rache etwas näher an die Tür und erklärte ihnen ihre weiteren Absichten:

»Sie wird jetzt zu Hause sein und dort den Augenblick seines Todes erwarten. Natürlich trauert sie und grämt sich um ihn. Ich werde sie in einer Stimmung finden, in der sie die Republik der Ungerechtigkeit zeiht und mit den Feinden derselben sympathisiert. Ich will zu ihr gehen.«

»Welche wunderbare Frau welche anbetungswürdige Frau!« beteuerte Jacques Drei entzückt.

»Oh, meine Teuerste!« rief die Rache mit einer Umarmung.

»Nimm mein Strickzeug mit«, sagte Madame Defarge, indem sie den Knäuel ihrem Leutnant übergab, »und halt es mir auf meinem gewöhnlichen Sitz bereit. Hüte mir meinen Stuhl. Geh unverweilt hin; denn wahrscheinlich wird es heute einen größeren Zusammenlauf geben als sonst.«

»Ich gehorche bereitwillig den Befehlen meines Chefs«, erwiderte die Rache, indem sie Madame auf die Wange küßte. »Du wirst dich doch nicht verspäten?«

»Ich werde dort sein, noch ehe es anfängt.«

»Und bevor die Karren anlangen. Sieh zu, meine Seele«, rief ihr die Rache nach, denn sie war bereits auf der Straße draußen, »daß du noch vor dem Eintreffen der Karren dort bist.«

Madame Defarge winkte leicht mit der Hand, um ihr damit anzudeuten, sie möge sich darauf verlassen, daß sie in guter Zeit kommen werde, trabte durch den Staub und verschwand an der Ecke der Gefängnismauer. Die Rache und der Geschworene sahen ihr nach und belobten höchlich ihre schöne Figur und ihren hohen Sinn.

Es gab in jener Zeit viele Weiber, die die Hand eben dieser Zeit furchtbar verzerrt hatte, aber keine darunter, die schrecklicher gewesen wäre als das erbarmenlose Wesen, das gerade jetzt durch die Straßen schritt. Mit einem festen und furchtlosen Charakter, einer schnell sich zurechtfindenden Schlauheit, einem sehr entschiedenen Geist und jener Art von Schönheit begabt, die sich nicht nur mit Festigkeit und Leidenschaftlichkeit recht gut verträgt, sondern auch bei andern eine Anerkennung solcher Eigenschaften erzwingt, mußte sie unter allen Umständen in einer Periode wilder Erregung eine Rolle spielen. Da sie aber von Kindheit auf aus dem Gefühle erlittenen tiefen Unrechts den bittersten Haß gegen eine gewisse Klasse gesogen, so hatte die Gelegenheit sie zu einer Tigerin umgewandelt. Das Mitleid war ihr ein durchaus fremdes Gefühl, und wenn sie je einer solchen Regung zugänglich gewesen, so war diese doch längst in ihrer Seele erstorben.

Es machte ihr nichts aus, wenn ein Unschuldiger für die Verbrechen seiner Vorfahren starb; sie sah nicht ihn, sondern sie. Sie kehrte sich nicht daran, daß sein Weib zur Witwe, sein Kind zur Waise wurde. Ja, die Strafe genügte ihr nicht einmal, denn auch sie zählte sie zu ihren Feinden, die sie opfern wollte und die in ihrem Auge kein Recht zu leben hatten. Eine Berufung an ihr Herz wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, denn sie war sogar grausam gegen sich selbst. Hätte sie in einem der vielen Straßengefechte, in denen sie mitkämpfte, eine Todeswunde niedergestreckt, so hätte sie sich nicht bemitleidet, und wäre sie morgen zur Guillotine geführt worden, so würde sie auf dem Gange dahin keinem sanfteren Gefühle als dem wilden Wunsche Raum gegeben haben, ihren Platz mit dem Menschen zu wechseln, der sie hierher geliefert.

Solch ein Herz trug Madame Defarge unter ihrem rauhen Gewand, das trotz seiner Abnützung in einer gewissen unheimlichen Weise sich anständig genug ausnahm. Unter ihrer groben roten Mütze quoll reich das dunkle Haar hervor. In ihrem Busen hatte sie eine geladene Pistole und in den Schößen ihres Kleides einen scharfen Dolch verborgen. So ausgerüstet ging Madame Defarge mit dem zuversichtlichen Tritt eines solchen Charakters und mit der behenden Ungezwungenheit eines Weibes, das in seiner Kindheit barfuß den Seesand zu treten gewohnt war, die Straßen entlang.

Als am Abend vorher die Vorbereitungen zu der Reise erwogen wurden, für deren Antritt man jetzt nur noch das Eintreffen der letzten Person erwartete, hatte die Schwierigkeit, Miß Proß sogleich mitzunehmen, Mr. Lorrys Geist angelegentlich beschäftigt. Es war nicht bloß wünschenswert, ein Überladen der Kutsche zu vermeiden, sondern auch von höchster Wichtigkeit, daß die Personenkontrolle an der Barriere auf das geringste Zeitmaß beschränkt wurde, sofern der Erfolg ihrer Flucht vielleicht nur von dem Gewinn einiger Sekunden da oder dort abhing. Nach vielem ängstlichen Besinnen entschied er sich endlich dafür, daß Miß Proß und Jerry, die die Stadt beliebig verlassen konnten, um drei Uhr in dem leichtesten Gefährt jener Periode ihnen nachkommen sollten. Da sie nicht mit Gepäck belastet waren, so konnten sie die Kutsche bald einholen und ihr sogar vorausfahren. Dies setzte das Dienstpersonal in die Lage, für die Flüchtlinge im voraus Pferde zu bestellen und die Fahrt während der kostbaren Stunden der Nacht, in der Zögerung am meisten zu befürchten stand, zu beschleunigen.

Miß Proß willigte mit Freuden in diese Anordnung, die es ihr möglich zu machen schien, in dem obwaltenden dringlichen Falle wirklich nützlich zu werden. Sie und Jerry hatten die Kutsche abfahren sehen und, da sie den Mann, den Salomon brachte, recht gut kannten, zehn Minuten in der äußersten Spannung verlebt. Sie besprachen eben, wie sie es einrichten wollten, um der Kutsche zu folgen, als Madame Defarge auf ihrem Gang durch die Straßen der jetzt verlassenen Wohnung, in der sie ihre Beratung hielten, immer näher kam.

»Was meint Ihr, Mr. Cruncher«, sagte Miß Proß, die vor Aufregung nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte, »was meint Ihr, wenn wir unsere Reise nicht von diesem Hofe aus antreten? Da heut schon ein Wagen von hier abgegangen ist, so könnte es Argwohn erregen.«

»Ich bin der Ansicht, Miß«, versetzte Mr. Cruncher, »daß Ihr recht habt. Indes halt‘ ich’s unter allen Umständen mit Euch, auf Recht oder Unrecht.«

»Ich bin vor Furcht und Hoffnung wegen unserer kostbaren Herrschaft so von Sinnen«, sagte Miß Proß, in ein krampfhaftes Weinen ausbrechend, »daß ich außerstande bin, mir einen Plan zu bilden. Ihr könnt dies wohl eher, mein lieber guter Mr. Cruncher?«

»Was meinen künftigen Lebenspfad betrifft. Miß«, entgegnete Mr. Cruncher, »so hoffe ich, ja. Aber ich glaube nicht, daß für unsere gegenwärtige Lage mein alter Kopf etwas auszudenken imstande ist. Wollt Ihr mir den Gefallen erweisen. Miß, mich seinerzeit an zwei Versprechen oder Gelübde zu erinnern, die ich in unserer kritischen Lage hier abzulegen gedenke?« »Oh, um des Himmels willen!« erwiderte Miß Proß, noch immer in ihrem Weinen, »so legt sie ab und erleichtert Euer Herz wie ein ordentlicher Mann.«

»Zuerst«, sagte Mr. Cruncher mit aschfahlem feierlichem Gesicht, während er am ganzen Leibe zitterte, »daß ich jenen armen Dingern, die mit dem Zeitlichen fertig sind, nie mehr etwas tun will gewiß nie mehr.«

»Ich bin überzeugt, Mr. Cruncher«, erwiderte Miß Proß »daß Ihr’s nie wieder tun werdet, was es auch sein mag, und ich bitt‘ Euch, seht es für unnötig an, mir noch Weiteres auseinanderzusetzen, was es auch sei.«

»Nein, Miß, es soll nicht gegen Euch genannt werden«, versetzte Jerry. »Zweitens, abgesehen von jenen armen Dingern will ich nie mehr etwas aussetzen gegen Mrs. Crunchers Hinsacken nie mehr.«

»Was dies auch für eine Haushaltungseinrichtung sein mag«, sagte Miß Proß, die ihre Augen zu trocknen und ruhiger zu werden versuchte, »so zweifle ich nicht, daß man am besten tut, wenn man Mrs. Cruncher ganz ihren freien Willen läßt. O, meine Lieblinge!«

»Ich geh‘ noch obendrein so weit, um zu sagen«, fuhr Mr. Cruncher in seiner höchst beunruhigenden Manie, eine Art Kanzelvortrag zu halten, fort »und bitte Euch, meiner Worte zu gedenken und sie selbst Mrs. Cruncher zu hinterbringen , daß meine Ansichten vom Hinsacken ganz andere geworden sind und daß ich aus dem Grunde meiner Seele hoffe, Mrs. Cruncher möge eben jetzt hingesackt sein.«

»Recht, recht, recht so! Ich hoffe es auch, mein guter Mann«, rief Miß Proß außer sich, »und so Gott will, findet sie Erhörung ihrer Wünsche.«

»Gott verhüte«, sagte Mr. Cruncher mit besonderer Feierlichkeit, Langsamkeit und predigtartiger Salbung, »daß irgend etwas, was ich je gesagt oder getan habe, jetzt an meinen ernsten Wünschen für jene armen Geschöpfe heimgesucht werde. Verhüte Gott, daß wir nicht alle gerne hinsacken sollten (wenn es irgend anginge), um aus den schrecklichen Gefahren hier herauszukommen. Gott verhüt‘ es und noch einmal, Gott verhüt‘ es!«

So lautete Mr. Crunchers Schlußsatz, nachdem er lange vergeblich sich besonnen, um einen besseren zu finden.

Und immer näher und näher kam die die Straßen durchwandelnde Madame Defarge.

»Wenn wir je wieder in die Heimat zurückkommen«, sagte Miß Proß, »so dürft Ihr Euch darauf verlassen, daß ich Mrs. Cruncher von dem, was Ihr mir so ausdrücklich gesagt habt, so viel mitteilen will, wie ich behalten kann oder zu verstehen vermochte. Und jedenfalls dürft Ihr darauf bauen, daß ich Euch bezeugen werde, wie gründlich ernst es Euch gewesen sei in dieser schrecklichen Zeit. Aber jetzt müssen wir uns besinnen. Mein geschätzter Mr. Cruncher, laßt uns nachdenken.« Noch immer wandelte Madame Defarge durch die Straßen und kam näher und näher.

»Meint Ihr nicht«, sagte Miß Proß, »es war‘ am besten, wenn Ihr vorausginget und das Gefährt nicht hierherkommen, sondern irgendwo auf mich warten ließet?«

Mr. Cruncher hielt es für das beste.

»Wo könntet Ihr auf mich warten?« fragte Miß Proß.

Mr. Cruncher war so außer sich, daß er sich auf keine andere Örtlichkeit als auf Temple Bar besinnen konnte. Aber leider lag Temple Bar Hunderte von Meilen entfernt, und Madame Defarge war in der Tat schon sehr nahe.

»An der Domkirchentür«, sagte Miß Proß. »Wär‘ es sehr abseitig, wenn Ihr mich an der Tür, die sich zwischen den zwei Türmen befindet, aufnehmen müßtet?«

»Nein, Miß«, antwortete Mr. Cruncher.

»Dann seid ein guter Mann«, sagte Miß Proß, »und geht unverweilt nach dem Posthause, um diese Abänderung zu bestellen.«

»Ich bin zweifelhaft, seht Ihr«, entgegnete Mr. Cruncher zögernd und den Kopf schüttelnd, »ob ich Euch verlassen darf. Wir wissen nicht, was vorfallen kann.«

»Du mein Himmel, wir wissen das freilich nicht«, erwiderte Miß Proß; »aber habt keine Sorge um mich. Nehmt mich um drei Uhr oder ungefähr um diese Zeit bei dem Dom auf, und ich bin überzeugt, es ist besser, als wenn wir von hier aus abfahren. Ja, ich weiß es gewiß. So; jetzt behüt‘ Euch Gott, Mr. Cruncher! Denkt nicht an mich, sondern an die Leben, die vielleicht von uns beiden abhängen.«

Diese Einleitung und die beiden Hände, mit welchen Miß Proß in ihrer Herzensangst flehentlich die seinigen umfaßte, wirkten bestimmend auf Mr. Cruncher, der sofort mit einem ermutigenden Kopfnicken sich auf den Weg machte, um die beschlossene Abänderung anzuzeigen, und es ihr überließ, ihrem eigenen Vorschlag gemäß nachzukommen.

Es gereichte Miß Proß zu großer Erleichterung, Anlaß zu einer Vorsichtsmaßregel gegeben zu haben, deren Ausführung eben im Gange war. Die Notwendigkeit, ihr Äußeres so zu ordnen, daß sie in den Straßen keine besondere Aufmerksamkeit erregte, gab weiteren Anlaß zur Zerstreuung. Sie sah auf ihre Uhr und fand zwanzig Minuten über zwei. Da war keine Zeit mehr zu verlieren; sie mußte sich beeilen.

Während sie in ihrer äußersten Verstörung sich vor der Einsamkeit der verlassenen Zimmer fürchtete und durch jede offene Tür eingebildete Gesichter hereinschauen sah, holte sie ein Becken mit kaltem Wasser und begann sich ihre geschwollenen roten Augen zu waschen. Aber in ihrer fieberhaften Angst konnte sie es nicht ertragen, ihren Gesichtssinn für eine Minute über einmal durch das triefende Wasser verdunkelt zu sehen: sie hielt daher alle Augenblicke inne und schaute zurück, um sich zu überzeugen, ob sie nicht beobachtet werde. In einer von diesen Pausen fuhr sie zusammen und schrie laut auf; denn sie sah eine Gestalt in dem Zimmer stehen.

Da« Becken fiel zerbrochen zu Boden, und das Wasser strömte zu Madame Defarges Füßen hin, als fühle es, daß es hier gelte, viele Blutflecken abzuwaschen.

Madame Defarge sah kalt nach ihr hin und fragte:

»Wo ist Evrémondes Weib?«

Miß Proß schoß plötzlich der Gedanke durch das Gehirn, daß sämtliche Türen offen standen und sogleich auf eine Flucht schließen ließen; sie ging daher alsbald ans Werk, diese zuzumachen. Dann stellte sie sich vor die Tür des Gemaches, das Lucie bewohnt hatte.

Madame Defarges dunkle Augen folgten ihr bei allen diesen hastigen Bewegungen und blieben auf ihr haften, als sie fertig war. Miß Proß hatte nichts Schönes an sich. Das Wilde und Abenteuerliche ihres Aussehens war durch die Jahre nicht gezähmt oder gemildert worden. Aber auch sie konnte in ihrer Art als ein entschlossenes Frauenzimmer angesehen werden und maß die andere Zoll für Zoll mit ihren Augen.

»Du magst deinem Aussehen nach Madame Luzifer selber sein«, sagte Miß Proß für sich: »aber gleichwohl sollst du mir nichts anhaben können. Ich bin eine Engländerin.«

Madame Defarge betrachtete sie verächtlich, aber doch mit einer gewissen Ahnung, daß sie in Miß Proß eine Widersacherin habe. Sie sah dieselbe kräftige, eiserne Person vor sich wie Mr. Lorry, als er vor Jahren ihre starke Hand zu fühlen bekam, und wußte recht wohl, daß Miß Proß eine aufopferungsfähige Freundin der Familie war, während Miß Proß ihrerseits in dieser Madame Defarge den bösen Engel der Familie erkannte.

»Auf meinem Wege nach dem Orte«, sagte Madame Defarge mit einer leichten Bewegung der Hand nach der Richtstätte hin, »wo man mir meinen Stuhl und mein Strickzeug aufbewahrt, bin ich heraufgekommen, um ihr mein Kompliment zu machen. Ich wünsche sie zu sprechen.«

»Ich weiß, daß Ihr schlimme Absichten habt«, sagte Miß Proß, »und Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß ich ihnen entgegenarbeiten werde.«

Jede bediente sich ihrer eigenen Sprache, so daß keine die Worte der andern verstand; aber beide suchten wechselseitig aus Miene und Gebärden sich deutlich zu machen, was die andere sagen wollte.

»Es wird ihr nicht zu Frommen dienen, wenn sie sich in diesem Augenblick vor mir verbirgt«, fuhr Madame Defarge fort. »Gute Patrioten werden wissen, was dies heißen soll. Laßt mich zu ihr. Geht und bedeutet ihr, daß ich sie zu sprechen wünsche. Hört Ihr?«

»Wenn diese deine Augen Bohrer wären«, erwiderte Miß Proß, »und ich ein englischer Bettpfosten, so sollen sie doch keinen Splitter aus mir herauskriegen. Nein, du boshaftes Weibsbild; dir bin ich schon gewachsen.«

Madame Defarge war nicht in der Lage, diesen in der Heimatsprache gemachten Bemerkungen ins einzelne zu folgen, entnahm aber doch so viel daraus, daß ihr Wille keine Beachtung fand.

»Blödsinniges Schwein!« rief Madame Defarge zürnend: »ich verlange keine Gegenrede von dir, sondern will sie sehen. Entweder sag‘ ihr dies oder tritt von dieser Tür weg und mir aus dem Wege, damit ich zu ihr kann.«

Sie begleitete diese zornige Anrede mit einem Winken ihres rechten Armes.

»Ich habe nie daran gedacht«, sagte Miß Proß, »daß ich je nötig haben könnte, deine unsinnige Sprache zu verstehen; aber ich gäbe gerne alles, was ich habe, die Kleider auf meinem Leibe ausgenommen, darum, wenn ich wüßte, ob du eine Ahnung hast von der Wahrheit oder von einem Teil derselben.«

Sie verwandten nicht einen Moment die Augen voneinander. Madame Defarge war bisher auf derselben Stelle stehengeblieben, auf der Miß Proß sie zuerst erblickt hatte; jetzt aber kam sie um einen Schritt näher.

»Ich bin eine Britin«, sagte Miß Proß, »und in der Verzweiflung zu allem fähig. Ich kümmere mich kein englisches Zweipencestück um mich selbst; und je länger ich dich hier festhalte, desto größere Hoffnung ist für mein Vögelchen vorhanden. Du sollst mir keine Handvoll von deinem schwarzen Haar davontragen, wenn du mich nur mit einem Finger anrührst.«

So Miß Proß, die zwischen jedem Satz ihren Kopf schüttelte und ihre Augen blitzen ließ, während ihre Atemzüge hastig gingen dieselbe Miß Proß, die in ihrem ganzen Leben nie einen Schlag ausgeteilt hatte.

Aber ihr Mut war von jener erregbaren Beschaffenheit, der so gern seinen Besitzer in eine Tränenexaltation versetzt. Einen solchen Mut begriff Madame Defarge so wenig, daß sie ihn irrtümlich für Schwäche nahm. »Ha, ha!« lachte sie, »du erbärmliches Geschöpf, was soll ich mich mit dir einlassen? Ich will mich selbst an diesen Doktor wenden.« Dann erhob sie ihre Stimme und rief: »Bürger Doktor! Weib von Evrémonde! Wer da mich hört, außer dieser ärmlichen Törin, antworte der Bürgerin Defarge!«

Das nun folgende Schweigen, vielleicht auch ein geheimer Zug in dem Ausdruck von Miß Proß‘ Gesicht, vielleicht auch eine plötzliche, nicht von den Umständen an die Hand gegebene Ahnung mochte Madame Defarge auf den Gedanken bringen, daß sie fort seien. Sie öffnete hastig drei von den Türen und sah hinein.

»Diese Zimmer sind in Unordnung; man hat hier hastig gepackt, und es liegt allerlei durcheinander auf dem Boden. In dem Zimmer hinter Euch ist niemand. Laßt mich sehen!«

»Nein!« rief Miß Proß, die diese Aufforderung so gut verstand wie Madame Defarge ihre Antwort.

»Wenn sie sich nicht in diesem Zimmer befinden, sind sie fort und können verfolgt und zurückgebracht werden«, sagte Madame Defarge zu sich selbst.

»Solange du nicht weißt, ob sie in diesem Zimmer sind oder nicht, kannst du nicht handeln«, lautete das Selbstgespräch der Miß Proß: »und du sollst mir’s nicht erfahren, wenn ich’s hindern kann. Aber magst du’s nun wissen oder nicht, du kommst mir nicht von der Stelle, solange ich dich zu halten imstande bin.«

»Ich bin vom Anfang an bei den Straßenkämpfen gewesen: nichts hat mich zu hindern vermocht, und ich reiße dich in Stücke, wenn du nicht von dieser Tür weggehst«, sagte Madame Defarge.

»Wir sind allein in dem Giebelstock eines hohen, in einem einsamen Hofe stehenden Hauses, und man wird uns wahrscheinlich nicht hören. O Himmel, gib mir Kraft, sie hier aufzuhalten, denn jede Minute, die ich sie hier habe, ist für meinen Liebling hunderttausend Guineen wert«, sagte Miß Proß.

Madame Defarge wollte auf die Tür zu. Miß Proß, die sich instinktartig diese Bewegung deutete, faßte sie plötzlich mit beiden Armen um den Leib und hielt sie fest. Vergeblich kämpfte sich Madame Defarge ab und schlug um sich: Miß Proß umschlang sie mit der zähen Kraft der Liebe, die immer viel stärker ist als die des Hasses, noch fester und hob sie bei dem Ringen vom Boden auf. Madame Defarge zerarbeitete ihr mit ihren Fäusten das Gesicht; aber Miß Proß, die ihren Kopf senkte, hielt fortwährend ihren Leib mit der Gewalt eines Ertrinkenden umfaßt.

Bald hörte übrigens Madame Defarge auf, um sich zu schlagen, und tastete nach ihrem Gürtel.

»Er ist unter meinem Arme«, sagte Miß Proß mit erstickter Stimme, »und du sollst mir ihn nicht herausbringen. Ich bin stärker als du, Gott sei Dank, und ich will dich festhalten, bis eine von uns die Besinnung verliert oder tot ist.«

Madame Defarge fuhr mit der Hand nach ihrem Busen. Miß Proß schaute auf, sah, was es war, und schlug danach. Sie schlug einen Blitz, ein Krachen heraus und stand allein, von Rauch geblendet.

All dieses war das Werk einer Sekunde. Wie der Rauch sich verzog, herrschte eine schauerliche Stille; er schwebte in die Luft hinaus, als sei er die Seele des wütenden Weibes, deren Körper leblos am Boden lag.

In dem ersten Schrecken ihrer Lage eilte Miß Proß so fern als möglich an der Leiche vorbei und die Treppe hinunter, in ein vergebliches Hllfegeschrei ausbrechend. Zum Glück besann sie sich bald auf die Folgen ihres Tuns: sie hielt an und kehrte zurück. Es war freilich etwas Schreckliches, wieder zu dieser Tür hineinzugehen; aber sie tat es dennoch und machte sich ganz in ihre Nähe, um ihren Hut und andere Dinge, die sie brauchte, zu holen. Sie vollendete auf der Flur draußen ihren Anzug, schloß die Tür ab und zog den Schlüssel heraus. Eine kurze Weile setzte sie sich auf der Treppe nieder, um zu Atem zu kommen und ein Stückchen zu weinen; dann stand sie wieder auf und eilte von hinnen.

Zu gutem Glück hatte sie einen Schleier auf ihrem Hut, da sie sonst nicht durch die Straßen gekommen wäre, ohne angehalten zu werden. Ein weiteres Glück war, daß bei ihrem besonderen Äußeren die Unordnung nicht so auffiel wie an anderen Frauenspersonen. Sie bedurfte dieser Vorteile recht wohl, denn sie hatte in ihrem Gesicht tiefe Nägelrisse; ihr Haar war zerrauft und ihr Anzug, den sie nur hastig und mit unsteter Hand hatte ordnen können, zerrissen und kläglich zerknüllt.

Als sie über die Brücke kam, ließ sie den Schlüssel zu der Tür in den Fluß fallen. Sie mußte vor dem Dom einige Minuten auf ihr Geleite warten und quälte sich in der Zwischenzeit mit Vorstellungen ab, der Schlüssel könne bereits durch ein Netz aufgefischt und als der rechte erkannt worden sein. Ihre geängstigte Phantasie malte ihr bereits die geöffnete Tür, die Entdeckung der Leiche, ihre Verhaftung am Tor, Gefängnis und die Anklage auf Mord vor. Während noch solche Gedanken ihrem Gehirn zu schaffen machten, erschien das Gefährt, nahm sie, auf und fuhr weiter.

»Ist ein Lärm in den Straßen?« fragte sie ihren Begleiter.

»Nicht mehr als gewöhnlich«, versetzte Mr. Cruncher und sah sie erstaunt ob dieser Frage und ihrem Äußeren an.

»Ich höre Euch nicht«, fuhr Miß Proß fort. »Was habt Ihr gesagt?«

Vergeblich wiederholte Mr. Cruncher, was er gesagt hatte. Miß Proß konnte ihn nicht hören. »So will ich mit dem Kopfe nicken«, dachte Mr. Cruncher bestürzt; »jedenfalls wird sie dies sehen.« Er hatte damit nicht unrecht.

»Ist jetzt Lärmen in den Straßen?« fragte Miß Proß wieder.

Und Mr. Cruncher nickte wieder mit dem Kopfe.

»Ich höre ihn nicht.«

»Taub geworden in einer Stunde?« sagte Mr. Cruncher verstört vor sich hin. »Was mag an sie gekommen sein?«

»Ich meine, einen Blitz gesehen und ein Krachen gehört zu haben«, sagte Miß Proß, »und es ist mir, als sei dieses Krachen das letzte gewesen, was ich je in meinem Leben hören soll.«

»Ich will des Henkers sein, wenn dies nicht ein kurioser Zustand ist«, sagte Mr. Cruncher, in dessen Gehirn es immer unklarer wurde. »Hat sie vielleicht etwas zu sich genommen, um sich den Mut aufrechtzuerhalten? Horch! Da kommen die schrecklichen Karren einhergerollt! Die könnt Ihr doch hören. Miß?«

»Ich höre gar nichts«, versetzte Miß Proß, die es seinem Munde absah, daß er sprach. »O, mein guter Mann, zuerst kam ein schreckliches Krachen, und darauf folgte eine tiefe Stille; und diese Stille scheint so fest und wandellos zu sein, als solle sie nie mehr unterbrochen werden, solange ich lebe.«

»Wenn sie das Gerassel dieses schrecklichen Karren, die jetzt dem Ende ihrer Fahrt so nahe sind nicht hört«, sagte Mr. Cruncher über seine Schulter zurücksehend, »so ist wahrhaftig meine Meinung, daß sie in dieser Welt nichts anderes mehr hören wird.«

Und so war es auch.

Fünfzehntes Kapitel. Die Fußtritte verhallen für immer.


Fünfzehntes Kapitel. Die Fußtritte verhallen für immer.

Durch die Straßen von Paris rasseln die Karren des Todes hohl und rauh. Ihrer sechs führen den Wein des Tages nach der Guillotine. Alle die menschenfresserischen und unersättlichen Ungeheuer, die je der Phantasie entsprangen, sind verschmolzen in der einen Wesenheit Guillotine. Und doch konnte selbst in Frankreichs abwechslungsreichem Boden und Klima kein Grashalm, kein Blatt, keine Wurzel, kein Zweig, kein Pfefferkorn sicherer seine Reise finden als die Saat, die diese Schrecken veranlaßt hat. Ist die Menschheit einmal mit solchen Hämmern formlos geschlagen, so wird sie stets dieselben verzerrten Gestalten wieder annehmen. Streu‘ aufs neue den Samen ungezügelter Habsucht und Bedrückung aus, und er wird zuverlässig in seiner Art die nämlichen Früchte bringen.

Sechs Karren rollen durch die Straßen. Wandle sie, o mächtige Zauberin Zeit, wieder um in das, was sie waren, und sie stellen sich vielleicht dar als die Prachtwagen absoluter Monarchen, die Karossen großer Herren, die Putztische flunkernder Mätressen, die Kirchen, die nicht meines Vaters Haus sind, sondern Räuberhöhlen, die Hütten von Millionen hungernder Bauern! Nein; der große Magier, der majestätisch die von dem Schöpfer gesetzte Ordnung ausführt, ist nicht rückhaltig mit seinen Wandlungen. »Bist du durch den Willen Gottes in diese Gestalt versetzt«, sagen die Seher in Tausendundeiner Nacht zu dem Verzauberten, »so bleibe darin; trägst du sie aber nur als Folge einer Beschwörung, so nimm dein früheres Aussehen wieder an!« Unwandelbar und hoffnungslos rollen die Karren dahin.

Während die unheimlichen Näher der sechs Todesfuhren sich drehen, scheinen sie eine lange krumme Furche durch die Volksmassen in den Straßen zu pflügen. Rechts und links werden Gesichterreihen aufgewühlt, und die Pflüge gehen stetig fort. Die regelmäßigen Bewohner der Häuser sind an das Schauspiel so gewöhnt, daß viele Fenster leer stehen oder die dahinter Sitzenden ihre Handarbeit nicht unterbrechen, während ihre Augen die Gesichter auf den Karren mustern. Hier und da hat ein Hausbesitzer Gäste, die das Spektakel mit ansehen wollen; er deutet mit der Selbstgefälligkeit eines legitimierten Raritätenvorzeigers bald auf diesen, bald auf jenen Karren und scheint ihnen zu erzählen, wer gestern und wer vorgestern dagesessen hat.

Von den Fahrenden blicken einige auf diese Dinge und auf alles, was um sie vorgeht, mit einem teilnahmlosen Starren, während andere noch einiges Interesse für das Leben und Treiben der Menschen verraten. Einige, die mit gesenkten Häuptern dasitzen, brüten in stummer Verzweiflung vor sich hin, andere sind auf ihre äußere Erscheinung so sorgfältig bedacht, daß sie der Menge Blicke zuwerfen, wie sie solche auf Bildern und in Theatern gesehen haben. Mehrere schließen die Augen und suchen ihre irren Gedanken zusammenzuhalten. Nur einer, ein kläglich aussehendes Geschöpf, ist so verstört und trunken von Entsetzen, daß er singt und zu tanzen versucht. Aber niemand von der ganzen Schar läßt durch einen Blick oder eine Gebärde einen Appell an das Mitleid des Volkes ergehen.

Eine Wache von Berittenen zieht den Karren voraus, und oft erheben sich Gesichter zu ihnen und stellen Fragen an sie. Die Fragen scheinen immer die gleichen zu sein; denn stets erfolgt darauf ein Drängen des Pöbels nach dem dritten Karren hin. Die Reiter vor dem Karren deuten häufig mit ihren Säbeln nach einem Mann auf demselben. Jedermann will wissen, welcher es ist: er steht hinten in dem Karren, hat den Kopf gesenkt und unterhält sich mit einem einfachen Mädchen, das seitwärts sitzt und seine Hand festhält. Die Szene um ihn her ist ihm gleichgültig; er spricht ohne Unterlaß mit dem Mädchen. Da und dort erhebt sich in der langen Straße von St. Honoré ein Geschrei gegen ihn: wenn es anders einen Eindruck auf ihn macht, so entlockt es ihm bloß ein ruhiges Lächeln und ein Schütteln des Kopfes, das ihm das lose Haar tiefer ins Gesicht wirft. Er kann seinem Gesicht nicht leicht beikommen, da seine Arme gebunden sind. Auf den Stufen einer Kirche steht das Gefängnisschaf und erwartet die Karren. Er sieht in den ersten hinein nicht da; in den zweiten nicht da. Schon fragt er sich selbst: »Hat er mich geopfert?« Aber wie er den dritten erblickt, klärt sich sein Gesicht auf.

»Welches ist Evrémonde?«! fragt ein Mann hinter ihm.

»Der dort hinten.«

»Dessen Hand das Mädchen hält?«

Der Mann ruft: »Nieder mit Evrémonde. Zur Guillotine mit allen Aristokraten! Nieder mit Evrémonde!«

»Pst! Pst!« flüstert ihm der Spion schüchtern zu.

»Warum, Bürger?«

»Er geht hin, um seine Vergehen mit seinem Leben zu sühnen. In fünf Minuten hat er gebüßt. Laß ihn im Frieden.«

Da der Mann zu schreien fortfährt: »Nieder mit Evrémonde!«, so wendet ihm für einen Augenblick Evrémonde das Gesicht zu. Er sieht den Spion, betrachtet ihn aufmerksam und fährt weiter.

Die Uhren schlagen drei; die in dem Volkshaufen gepflügte Furche wendet um, und die aufwärts gerichteten Gesichter ziehen den letzten Karren nach, der Guillotine zu. Um das Gerüst her sitzt wie in einem öffentlichen Belustigungsgarten auf Stühlen eine Anzahl emsig strickender Weiber. Auf einem der vordersten Stühle steht die Rache und sieht sich nach ihrer Freundin um.

»Therese!« ruft sie mit ihrer schrillen Stimme. »Wer hat sie gesehen? Therese Defarge!«

»Sie hat sonst nie gefehlt« sagte eine von den Strickerinnen.

»Nein, und wird auch heute nicht fehlen«, versetzt die Rache ärgerlich. »Therese!«

Auf dem Weg zur Guillotine.

»Lauter!« bemerkt das Weib.

Ja! Lauter, Rache, viel lauter; und doch wird sie dich kaum hören. Noch lauter, Rache, und einen kleinen Fluch oder so etwas dazu; es wird sie kaum herbringen. Schick‘ die Weiber aus, um die Zögernde auf und ab zu suchen; die Sendlinge sind zwar vor dem Schrecklichsten nicht zurückgescheut, werden aber kaum aus freien Stücken dahin gehen wollen, wo sie sie finden können!

»Wie fatal!« ruft die Rache, auf dem Stuhl mit dem Fuße stampfend, »und die Karren sind schon alle da! Evrémonde wird abgefertigt sein im nächsten Augenblick, und sie fehlt. Seht da ihr Strickzeug in meiner Hand und ihren Stuhl, den ich ihr reserviert habe. Ich möchte weinen vor Verdruß und Ärger.«

Während die Rache von ihrem erhöhten Standpunkt herabsteigt, um ihren Unmut in der gedachten Weise austoben zu lassen, beginnen die Karren ihre Ladungen abzusetzen. Die Priester der Guillotine sind in ihrem Ornat und bereit. Ritsch! Ein Kopf wird in die Höhe gehalten, und die Strickerinnen, die kaum die Augen erhoben und nach ihm hingeschaut hatten, als er noch denken und sprechen konnte, zählen Eins.

Der zweite Karren entleert sich und fährt weiter. Der dritte kommt heran. Ritsch! Und die Strickerinnen, die sich keinen Moment in ihrer Arbeit stören lassen, zählen Zwei.

Der vermeintliche Evrémonde steigt ab, und nach ihm wird die Näherin heruntergehoben. Er hat beim Aussteigen ihre ungeduldige Hand nicht losgelassen und hält sie noch immer, wie er ihr versprochen. Er gibt ihr eine Stellung, daß sie der unheimlichen Maschine, die stets auf- und niedergeht, den Rücken zuwende; sie sieht zu ihm auf und dankt ihm.

»Ohne Euch, mein teurer Fremder, wäre ich nicht so gefaßt, denn ich bin von Natur ein furchtsames armes Geschöpf. Ich hatte nicht vermocht, meine Gedanken Dem zuzuwenden, der in den Tod gegangen ist, damit wir heute in ihm Trost und Hoffnung finden. Wahrhaftig, Euch hat der Himmel mir zugesendet.«

»Oder Euch mir«, sagt Sydney Carton. »Haltet Eure Augen auf mich gerichtet, mein liebes Kind, und achtet nicht auf die andern Dinge.«

»Ich habe keinen Sinn für sie, solange ich Eure Hand festhalte; und lass‘ ich sie los, so werden sie wohl rasch machen.«

»Sie machen rasch; seid unbesorgt.«

Die beiden stehen in dem schnell sich lichtenden Gedränge der Opfer, sprechen aber miteinander, als ob sie allein seien. Auge in Auge, Stimme gegen Stimme, Hand in Hand und Herz gegen Herz; die beiden Kinder der gemeinsamen Mutter, sonst so weit voneinander getrennt, haben sich zusammengefunden auf der dunkeln Heerstraße, um miteinander einzugehen in die Heimat und in ihrem Schoße auszuruhen.

»Wackerer, edler Freund, wollt Ihr mir noch eine letzte Frage erlauben? Ich bin so gar unwissend, und ein Umstand beunruhigt mich noch ein wenig.«

»Sprecht.«

»Ich habe ein Bäschen, eine einzige Verwandte, eine Waise wie ich, und ich liebe sie zärtlich. Sie ist fünf Jahre jünger als ich und lebt auf einem Bauernhofe im Süden. Die Armut hat uns getrennt, und sie weiß nichts von meinem Schicksale denn ich kann nicht schreiben , und wenn ich’s auch könnte, wie sollte ich’s ihr beibringen? Es ist besser so, wie es ist.«

»Ja, ja, es ist besser so.«

»Ich habe mir im Herfahren Gedanken gemacht, und ich beschäftige mich noch damit, während ich Kraft hole aus der Seelenstärke, die aus Eurem wohlwollenden Antlitze spricht ob sie wohl noch lange leben und vielleicht alt werden wird, wenn die Republik wirklich den Armen zugut kommt und dafür sorgt, daß sie weniger hungern und überhaupt weniger leiden müssen?«

»Wie kommt Ihr auf dies, meine sanfte Schwester?«

»Glaubt Ihr« die nicht klagenden Augen, die so viel Standhaftigkeit ausdrücken, füllen sich mit Tränen, und die Lippen öffnen sich bebend etwas weiter , »die Zeit werde mir dann lang vorkommen, wenn ich auf sie warte in dem besseren Land, wo wir beide, wie wir hoffen, einen barmherzigen Schutz gefunden haben werden?

»Unmöglich, mein Kind; dort gibt es keine Zeit und keine Sorge mehr.«

»Ihr werdet mir zum großen Troste. Ich bin so unwissend. Darf ich Euch jetzt küssen? Ist der Augenblick gekommen?«

»Ja.«

Sie küßt seine Lippen und er die ihrigen. Sie segnen einander feierlich. Die freie Hand zittert nicht, nachdem er sie losgelassen hat, und in den holden, strahlenden Mut des geduldigen Gesichts mischt sich kein unedler Zug. Sie geht unmittelbar vor ihm hin es ist vorbei. Die strickenden Weiber zählen Zweiundzwanzig.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben.«

Gemurmel vieler Stimmen. Viele Köpfe richten sich mehr in die Höhe; von dem äußeren Rande der Volksmasse drängen Fußtritte näher heran, so daß es massenhaft sich vorwärts arbeitet wie eine ungeheure, alles mit sich fortreißende Woge. Dreiundzwanzig.

Man sagte an jenem Abend in der Stadt von ihm, nie habe man dort ein friedvolleres Menschenantlitz gesehen. Ja, viele wollten sogar eine prophetische Erhabenheit darin erkannt haben.

Eines der denkwürdigsten Schlachtopfer der Revolution eine Frau hatte nicht lange vorher am Fuße des Schafotts um die Erlaubnis gebeten, die Gedanken niederzuschreiben, die sie erfüllten. Hätte er den seinigen sie waren prophetisch Ausdruck leihen wollen, so würden sie folgendermaßen gelautet haben.

»Ich sehe Barsad und Cly, Defarge, die Rache, den Geschworenen, den Richter und lange Reihen von neuen Unterdrückern, die aus dem Untergang der alten hervorsprossen, unter diesem vergeltenden Instrument fallen, ehe es seinem gegenwärtigen Gebrauch entzogen wird. Ich sehe eine schöne Stadt und ein prächtiges Volk aus diesem Abgrunde sich erheben; und in seinen Kämpfen um wahre Freiheit, in seinen Triumphen und Niederlagen durch eine lange Reihe von Jahren hindurch sehe ich das Böse dieser Zeit und der vergangenen, aus der es naturgemäß hervorwuchs, allmählich sich sühnen und untergehen.

Ich sehe die Leben, für die ich das meinige opferte, im Frieden und Wohlstand, nützlich und glücklich verrinnen in jenem England, das mein Auge nicht mehr schauen wird. Ich sehe sie mit einem Kind auf ihrem Schoße, das meinen Namen trägt. Ich sehe ihren Vater, alt und gebeugt, aber sonst vollkommen genesen, wie er prunklos und getreu die Pflichten seines Berufes gegen jedermann übt. Ich sehe, wie zehn Jahre später der wohlwollende alte Mann, der so lange ihr Freund war, ruhig in die Ewigkeit eingeht zu seinem Lohn, nachdem er sie mit seinem ganzen Besitztum bereichert hat.

Ich sehe, daß ich mir ein Heiligtum erbaut habe in ihren Herzen und in den Herzen ihrer Nachkommen auf Generationen hinein. Ich sehe sie, wie sie als eine alte Frau bei jeder Wiederkehr dieses Tages mir eine Träne weiht. Ich sehe, wie sie nach vollbrachtem Laufe an der Seite ihres Gatten in ihrem letzten Erdenbette ruht, und weiß, daß keines das andere in seinem Herzen mehr ehrte und heiliger hielt, als beide mich ehrten und heilig hielten.

Ich sehe das Kind, das auf ihrem Schoß ruhte und meinen Namen trägt, zum Manne gereift, wie er sich aufwärts schwingt auf dem Pfad, der vordem der meinige war. Ich sehe ihn meinen Namen herrlich machen durch das Licht des seinigen und sehe, wie die Flecken, die ich ihm anheftete, verblichen sind. Ich sehe ihn zuvörderst unter gerechten Richtern und geehrten Männern sehe, wie er einen Knaben meines Namens mit dem goldigen Haar und der Stirn, die ich kenne, zu diesem Platz bringt er ist jetzt schön anzusehen und zeigt keine Spur mehr von der Entstellung der Vergangenheit , und höre, wie er mit weicher, bebender Stimme dem Kleinen meine Geschichte erzählt.

Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe; und die Ruhe, in die ich eingehe, ist eine weit, weit bessere, als mir je zuteil wurde.«

Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.


Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.

Ein großes Weinfaß war auf die Straße gefallen und geborsten. Der Unfall hatte sich zugetragen, als man es abladen wollte; man konnte es nicht mehr halten. Durch die Gewalt des Anpralls sprangen die Reifen, und da lag es nun unmittelbar vor der Kellertüre wie eine Nußschale zerschellt auf den Steinen.

Wer in der Nähe war, gab seine Arbeit oder seinen Müßiggang auf und eilte nach der Stelle, um von dem Wein etwas abzufangen. Die rauhen, unregelmäßigen Pflastersteine, mit denen die Straße überall belegt war und die ausdrücklich dazu bestimmt zu sein schienen, die Annäherung aller lebenden Wesen zu lähmen, hatten die kostbare Flüssigkeit in kleine Lachen abgedämmt, die nach dem Maßstab ihrer Größe von lärmenden Banden umlagert wurden. Dort knieten einige Männer nieder, machten aus den aneinandergefügten beiden Händen Löffel und schlürften daraus, oder versuchten den Weibern, die sich über ihre Schultern niederbeugten, zu etwas zu verhelfen, ehe der Wein zwischen ihren Fingern durchgelaufen war. Hier brauchten Männer und Weiber alte Topfscherben als Trinknäpfe oder tauchten die Kopftücher der Frauen ein, um sie in den Mund der Kinder auszuwringen. Die einen bauten kleine Schlammdämme, um den entströmenden Wein aufzuhalten, andere stürzten nach der Weisung von Leuten, die von den Fenstern aus zusahen, da und dorthin, um die Bächlein abzuschneiden, die eine neue Richtung einschlagen wollten, und wieder andere hielten sich an die mit Hefe gefärbten Faßdauben, deren vom Wein getränkte Teile sie mit besonderem Hochgenuß beleckten und sogar benagten. Man bedurfte keiner Rinnen, um den Wein abzulassen; aber gleichwohl verschwand er und mit ihm so viel Staub, daß kein Gassenkehrer sauberer hätte fegen können.

Während der Dauer dieses Weinspiels tönte helles Gelächter und der Schall fröhlicher Stimmen aus dem Mund von Männern, Weibern und Kindern durch die Straße. Es ging zwar ziemlich roh, aber auch spaßhaft genug her; denn rasch hatte sich geselliges Wesen und die augenfällige Neigung eines jeden, sich dem andern anzuschließen, entwickelt, so daß es namentlich unter den Glücklicheren oder Leichtherzigeren bald zu fröhlichen Umarmungen, wechselseitigen Toasten, Händedrücken und selbst zu lustigen Tänzen kam, zu denen man sich zu Dutzenden vereinigte. Die Demonstrationen hörten übrigens ebenso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten, sobald der Wein ausgeschlürft war und die rechenartig arbeitenden Finger jede Stelle, wo er besonders massenhaft gestanden, mit der Zeichnung eines Bratrostes versehen hatten. Der Holzspalter setzte die Säge, die er in dem Scheit hatte stecken lassen, wieder in Bewegung. Die Frau kehrte nach ihrem auf der Türschwelle abgesetzten Aschentopf zurück, mit dem sie an sich selbst oder an ihrem Kinde den Schmerz der durchfrorenen Finger und Zehen zu beschwichtigen versuchte; Männer mit nackten Armen, verfilzten Haaren und leichenfahlen Gesichtern, die aus Kellergeschossen an das winterliche Licht emporgekommen waren, verschwanden wieder in ihren Höhlen, und über den Schauplatz verbreitete sich ein Düster, das ihm weit natürlicher stand als der Sonnenschein.

Es war ein Rotwein gewesen und die Stelle, wo er ausgeflossen war, eine enge Straße der Vorstadt Saint Antoine in Paris. Er hatte auch viele Hände, viele Gesichter, manchen nackten Fuß und manchen Holzschuh gefärbt. Die Hände der Holzhacker ließen rote Fingerabdrücke an den Scheiten zurück, und die Stirn des Weibes mit dem Kind war von dem alten Lumpen befleckt, den sie sich wieder um den Kopf gewunden. Diejenigen, die sich an den Faßdauben erlabt hatten, zeigten ein getigertes Untergesicht, und ein auf diese Weise beschmierter, langer Spaßmacher, an dessen Kopfseite eine schmutzige, lange Zipfelmütze niederfiel, malte mit seinen in die trübe Weinhefe getauchten Fingern das Wort Blut an eine Wand.

Es sollte eine Zeit kommen, in der auch solcher Wein in den Straßen ausgegossen wurde und sein Rot viele Pflastersteine färbte.

Als nun auf Saint Antoine die Wolke wieder lagerte, die ein flüchtiger Sonnenblick von seinem Antlitz verdrängt hatte, trat abermals tiefe Finsternis ein; Kälte, Schmutz, Krankheit und Not waren die Kammerherrn des Heiligen – lauter mächtige Edle, namentlich der letztere. Abgezehrte Fabrikarbeiter standen fröstelnd an den Ecken, gingen in den Häusern aus und ein, schauten aus jedem Fenster und ließen ihre armseligen Fähnlein im Winde flattern. Die Fabrik, in der sie sich so heruntergearbeitet hatten, hatte nichts gemein mit jener fabelhaften Mühle, die alte Leute jung machte, sondern übte gerade die entgegengesetzte Wirkung aus. Die Kinder hatten alte Gesichter und tiefe Stimmen, und auf jedem derselben war mit stets erneuten, tiefen Furchen das Zeichen des Hungers eingegraben. Dies erschien als der vorherrschende Zug. Der Hunger sprach aus den hohen Häusern heraus in den armseligen Linnen, die an den ausgespannten Seilen hingen, und wurde mit Stroh und Lumpen, Holz und Papier in sie hineingeflickt. Hunger bedeutete jeder der kleinen Holzabschnitte, die unter der Säge des Holzhacker fielen. Hunger glotzte aus den rauchlosen Schornsteinen in die Tiefe und schoß aus der schmutzigen Straße auf, in deren Kehricht sich kein Abfall vom Essen befand. Hunger war die Inschrift der Bäckersimse, deutlich ausgedrückt in den kleinen Laiben und dem spärlichen Brotvorrat – die der Wurstläden, lesbar in den Präparaten aus krepierten Hunden, die zum Verkauf ausgeboten wurden. Der Hunger ließ seine dürren Knochen rasseln unter den in der gedrehten Walze röstenden Kastanien und zeigte sein Skelett auf jedem Teller mit schlechten, in einigen Tropfen widerstrebenden Öls gebratenen Kartoffeln.

Der Tummelplatz war in jeder Beziehung für ihn passend. Eine enge, krumme Straße voll Unflat und Gestank, die in die andern engen, krummen Straßen einmündete, alle bevölkert von Lumpen und Nachtmützen, alle riechend nach Lumpen und Nachtmützen, und in allen sichtbaren Dingen ein düsteres, brütendes Aussehen zeigend. In den abgezehrten Mienen der Menschen war da und dort noch so eine Art Raubtiergedanke von der Möglichkeit eines Widerstandes zu lesen. Wie gedrückt sie auch dahinschlichen, fehlte es ihnen doch nicht an Augen voll Feuer, an zusammengepreßten Lippen, blaß von dem, was sie unterdrückten, und an Stirnen, gefurcht nach Art des Stricks, den zu erdulden oder zu handhaben ihnen beschieden war. Die Geschäftschilde, deren es fast so viele gab wie Läden, zeigten lauter grauenhafte Schilderungen des Mangels. Der Rindvieh- und der Schweinemetzger hatten nur die magersten Fleischstücke, die Bäcker die kleinsten Laibe rauhen Brotes abbilden lassen. Die abgemalten Gäste in dem Schilde der Weinbuden krächzten in hohläugiger Vertraulichkeit über dem spärlich zugemessenen dünnen Wein oder Bier. Nichts war in einem ordentlichen Zustand dargestellt als das Arbeitsgerät und die Waffen; allerdings, die Messer und Äxte waren scharf, die Schmiedehämmer schwer und die Vorräte des Büchsenmachers mörderisch. Das lahmmachende Pflaster mit seinen vielen kleinen Schlamm- und Wasserpfützen hatte keine Trottoirs, sondern begann unmittelbar vor der Tür. Zur Schadloshaltung lief die Gosse durch die Mitte der Straße – das heißt, wenn sie überhaupt lief, und das geschah nur nach schweren Regengüssen, die dann auch gelegentlich durch ihre exzentrischen Kundgebungen die Häuser füllten. In weiten Zwischenräumen sah man quer über die Straßen je eine einzige schwerfällige Laterne an einem Seil und einem Klobenpfahl aufgehangen, und wenn sie dann nachts von dem Lampenwärter niedergelassen, angezündet und wieder aufgezogen wurde, pendelte über den Köpfen eine weit auseinandergezerrte Reihe von düster brennenden Dochten so krankhaft, als wären sie auf dem Meer. Und so konnte man es auch nennen; sie zitterten auf einem Meer, und Schiff und Mannschaft stand in Sturmesgefahr.

Denn es sollte eine Zeit eintreten, in der die hagern Vogelscheuchen jenes Stadtteils in ihrem Müßiggang und Hunger dem Lampenwärter so lang zugesehen hatten, daß ihnen der Gedanke kam, seine Methode zu verbessern und an jenen Seilen und Klobenpfählen Menschen in die Höhe zu ziehen, damit sie grell hineinleuchten möchten in die Nacht ihrer Lage. Aber die Stunde war noch nicht gekommen, und jeder Wind, der über Frankreich hinblies, schüttelte vergeblich die Lumpen der Vogelscheuchen; die Vögel mit ihrem schönen Gesang und Gefieder ließen sich nicht warnen.

Der Weinschank war ein Eckhaus von besserem Aussehen als die meisten anderen, und der Besitzer desselben stand in gelber Weste und grünen Beinkleidern vor der Tür und sah dem Kampf um den ausgelaufenen Wein zu. »Geht mich nichts an«, sagte er mit einem schließlichen Achselzucken. »Die Lieferung geschah auf Gefahr des Verkäufers; er mag für eine andere sorgen.«

Seine Augen fielen zufällig auf den langen Spaßmacher, als er mit seinem Witz die Wand bekleckste, und er rief ihm über die Straße hinüber zu:

»He, Gaspard, was macht Ihr da?«

Der Kerl schien in seinem Spaß, wie es bei Leuten seines Schlages gern der Fall ist, große Bedeutung zu sehen, verfehlte aber doch, wie es bei Leuten dieser Gattung gleichfalls oft zutrifft, vollständig seinen Zweck.

»Was soll das? Seid Ihr denn fürs Tollhaus reif?« sagte der Weinwirt, über die Straße hinübergehend und den Spaß mit einer Handvoll Gassenkot austilgend, den er aufnahm und darüber hinschmierte. »Warum schreibt Ihr das in offener Straße? Gibt es denn – hört Ihr – gibt es denn keinen andern Platz, um solche Worte hinzuschreiben?«

Während dieser Vorstellung ließ er, vielleicht zufällig, vielleicht auch nicht, seine reinlichere Hand in die Richtung von des Spaßmachers Herzen sinken. Dieser klopfte mit seiner eigenen darauf, tat einen hurtigen Sprung in die Höhe und nahm dann die Haltung eines phantastischen Tänzers an, schuppte sich seinen beschmutzten Schuh vom Fuß in die Hand, und streckte ihn aus … Unter diesen Umständen erschien der Spaßmacher in einer außerordentlich, um nicht zu sagen wolfartig praktischen Rolle.

»Zieht ihn nur wieder an, zieht ihn an«, sagte der andere. »Bestellt Wein, Wein, und laßt’s dabei bewenden.«

Nach diesem Rat wischte er sich ganz bedächtig seine beschmutzte Hand an dem Kleid des Spaßmachers ab, als sei dieser schuld gewesen an der Verunreinigung, kehrte nach seinem Haus zurück und trat in seine Weinstube.

Der Wirt war ein stiernackig, martialisch aussehender Mann von dreißig und mußte wohl von sehr hitziger Körperbeschaffenheit sein, da er trotz des bitter kalten Tages seinen Rock nicht auf dem Leib, sondern über die Schultern geschlenkert trug. Seine Hemdärmel waren aufgerollt und seine braunen Arme bis zum Ellbogen nackt. Auch hatte er keine andere Kopfbedeckung als sein kurzgeschnittenes, krauses, schwarzes Haar. Er selbst war ein dunkelfarbiger Mann mit grauen Augen und einer breiten, kühnen Nasenbrücke dazwischen. Im ganzen sah er gutlaunig, dabei aber auch unversöhnlich aus, und Entschiedenheit des Willens und des Entschlusses waren ihm auf die Stirne gezeichnet, Juan mußte sich wohl vorsehen, ihm entgegenzutreten, wenn er eine enge Steige mit einem Abgrund auf jeder Seite hinabstürmte, da diesen Mann nichts zum Ausweichen gebracht haben würde.

Als er hereinkam, saß seine Frau, Madame Defarge, hinter dem Zahltisch der Gaststube. Sie war eine stämmige Frau von dem Alter ihres Gatten und hatte ein wachsames Augenpaar, das selten auf etwas hinzuschauen schien. Ihre große Hand war mit schweren Ringen geschmückt, und ihr gesetztes, derbzügiges Gesicht verriet große Selbstbeherrschung. Überhaupt zeigte Madame Defarge etwas so Charakteristisches, daß man von ihr zum voraus sagen konnte, sie mache in den Rechnungen, denen sie vorstand, nicht leicht einen Verstoß zu ihrem Nachteil. Da sie sehr empfindlich gegen Kälte war, hatte sie sich in einen Pelz gehüllt und außerdem ein mächtiges, hellfarbiges Tuch um den Kopf gebunden, das jedoch nicht bis zu den großen Ohrenringen niederreichte. Ihr Strickzeug lag müßig vor ihr, da sie eben mit dem Ausstochern ihrer Zähne beschäftigt war, und in dieser Arbeit mußte ihre linke Hand den rechten Ellenbogen unterstützen. Als ihr Eheherr eintrat, sagte sie nichts, sondern hustete nur ganz leichthin. Dies mit dem Erheben ihrer dunkel gezeichneten Augenbrauen um die Breite einer Linie über ihren Zahnstocher deutete dem Gatten an, daß er gut tun werde, sich im Zimmer nach den Gästen umzusehen, da während seiner kurzen Abwesenheit neue Kundschaft eingetreten sei.

Der Weinwirt ließ seine Augen umherschweifen, bis sie auf einem ältlichen Herrn und einem jungen Frauenzimmer, die in einer Ecke saßen, haften blieben. Es war auch andere Gesellschaft da; ein Paar spielte Karten, ein anderes machte eine Dominopartie, und drei standen neben dem Schenktisch und schlürften sparsam den kleinen Rest ihres Weines. Als der Wirt hinter den Tisch trat, fiel ihm auf, daß der ältliche Herr mit einem Blick auf die junge Dame die Worte fallen ließ:

»Dies ist unser Mann.«

»Was Teufels wollt ihr in dieser Galeere da?« sagte Monsieur Defarge zu sich selbst; »ich kenne euch nicht.«

Er stellte sich an, als nehme er keine Notiz von den beiden Fremden, sondern ließ sich mit dem Kundentriumvirat, das neben dem Schenktisch trank, in ein Gespräch ein.

»Wie geht es, Jacques?« sagte einer von den dreien zu Monsieur Defarge. »Ist aller ausgeflossener Wein schon versorgt?«

»Bis auf den letzten Tropfen, Jacques«, antwortete Monsieur Defarge.

Nach diesem Austausch von Taufnamen hustete Madame Defarge, die noch immer ihre Zähne mit dem Stocher bearbeitete, wieder ein klein wenig und zog die Brauen um eine Linie höher.

»Es kommt nicht oft vor«, bemerkte der zweite von den dreien gegen Monsieur Defarge, »daß dieser Haufe unglücklichen Viehs Wein oder überhaupt etwas anderes zu kosten kriegt als Schwarzbrot und Tod. Ist es nicht so, Jacques?«

»Jawohl, Jacques«, entgegnete Monsieur Defarge.

Nach diesem abermaligen Taufnamenaustausch hustete Madame Defarge, die in gründlicher Fassung noch immer ihren Zahnstocher handhabte, abermals ein wenig und erhob die Brauen um die Breite einer weitern Linie.

Nun brachte der Letzte von den dreien sein Sprüchlein an, nachdem er zuvor sein leeres Trinkglas schmatzend auf den Tisch niedergesetzt hatte.

»Ah, um so schlimmer. Dieses arme Gesindel hat immer einen bitteren Mund und ein saures Leben, Jacques. Hab‘ ich nicht recht, Jacques?«

»Sicherlich, Jacques«, lautete Monsieur Defarges Erwiderung. Dieser dritte Taufnamenaustausch war kaum beendigt, als Madame Defarge ihren Zahnstocher beiseite steckte, die Augenbrauen scharf in die Höhe zog und leicht in ihrem Sitze raschelte.

»Halt, da; richtig«, murmelte der Ehemann. »Messieurs, meine Frau.«

Die drei Gäste nahmen vor Madame Defarge die Hüte ab und schwenkten sie achtungsvoll. Sie dankte für diese Huldigung durch eine Verbeugung des Kopfes und durch einen raschen Blick, den sie über das Kleeblatt hingleiten ließ. Dann schaute sie sich rasch, als geschehe es nur zufällig, in der Zechstube um und nahm endlich mit dem Anschein großer Ruhe und geistiger Fassung ihr Strickzeug auf, in das sie sich alsbald völlig vertieft hatte.

»Meine Herren«, sagte ihr Gatte, der sein helles Auge nicht von ihr verwandte, »guten Tag. Das Zimmer für einen ledigen Herrn, das ihr zu sehen wünschtet und nach dem ihr mich fragtet, eh‘ ich hinausging, ist im fünften Stock. Die Treppe dazu findet ihr dort links in dem kleinen Hof (er deutete die Richtung mit der Hand an) neben dem Fenster meiner Wirtschaft. Doch ich erinnere mich – einer von euch ist ja schon dagewesen und kann den Weg zeigen. Adieu, meine Herren.«

Sie zahlten ihren Wein und entfernten sich. Monsieur Defarges Augen hafteten noch immer auf der strickenden Frau, als der ältliche Herr aus seiner Ecke hervortrat und um geneigtes Gehör bat.

»Recht gern, Herr«, versetzte Monsieur Defarge und trat ruhig mit ihm unter die Tür.

Ihr Gespräch war sehr kurz, aber auch sehr entschieden. Schon bei den ersten Worten fuhr Monsieur Defarge zusammen und wurde sehr aufmerksam. Er hatte keine Minute zugehört, als er nickte und hinausging. Der Herr winkte dann dem jungen Frauenzimmer und verließ mit ihr gleichfalls das Zimmer. Madame Defarge strickte mit hurtigen Fingern und ruhigen Augenbrauen und sah nichts.

Mr. Jarvis Lorry und Miß Manette trafen, sobald sie die Tür der Weinstube hinter sich geschlossen, in der Flur, nach der eben zuvor das Kleeblatt gewiesen worden war, wieder mit Monsieur Defarge zusammen. Die Flur führte zu einem stinkenden, kleinen Hinterhof und war der allgemeine Zugang zu einer ansehnlichen Häusergruppe, die von einer großen Menschenmenge bewohnt wurde. In dem dunkeln, mit Backsteinen gepflasterten Vorplatz zu der finsteren Backsteintreppe ließ sich Monsieur Defarge vor dem Kind seines alten Herrn auf ein Knie nieder und führte ihre Hand an seine Lippen. Die Handlung war zart, wurde aber nichts weniger als zart ausgeführt, und unmittelbar darauf kam eine merkwürdige Veränderung über den Mann. Sein Gesicht zeigte keinen Frohsinn, keine Offenheit mehr und verriet jetzt einen heimlichen, finsteren, gefährlichen Mann.

»Es ist sehr hoch und der Zugang etwas beschwerlich. Besser, wir fangen langsam an.« So sprach Monsieur Defarge mit rauher Stimme zu Mr. Lorry, als sie die Treppe hinanzusteigen begannen.

»Ist er allein?« flüsterte dieser.

»Allein! Gott behüte, wer sollte bei ihm sein?« antwortete der andere ebenso leise.

»Er ist also immer einsam?«

»Ja.«

»Auf sein Verlangen?«

»Aus Notwendigkeit. Wie er war, als ich ihn sah, nachdem man mich aufgefunden und befragt hatte, ob ich ihn aufnehmen und auf meine Gefahr hin verschwiegen sein wolle, – wie er damals war, so ist er auch jetzt.«

»Wohl sehr verändert?«

»Verändert!«

Der Wirt hielt an, um mit seiner Hand gegen die Mauer zu schlagen und einen schweren Fluch vor sich hinzumurmeln. Keine unmittelbare Antwort hätte nur halb so nachdrücklich sein können. Mr. Lorry fühlte sich bedrückter und bedrückter, je höher er mit seinen beiden Begleitern hinaufkam.

Eine solche Treppe mit ihren Zugaben in den älteren, übervölkerten Stadtteilen von Paris würde schon heutzutage schlimm genug sein, war aber damals für nicht daran gewöhnte und nicht abgehärtete Sinne etwas Abscheuliches. Jede kleine Wohnung innerhalb der großen Kloake eines einzigen hohen Hauses, das heißt jede Stube, jede Räumlichkeit hinter der nach der gemeinsamen Treppe hinausführenden Tür setzte ihren Haufen Unrat, den Rest von dem, was nicht zu den Fenstern hinausgeworfen wurde, auf ihrem Vorplatz ab. Die nicht zu bewältigende, hoffnungslose Masse von Fäulnis, zu der in solcher Weise die Bedingungen gegeben waren, würde die Luft verpestet haben auch ohne die nicht greifbaren Verunreinigungen, die im Gefolge von Armut und Elend auftreten. Beide zusammen aber bildeten ein fast unerträgliches Gemenge. Durch eine solche Atmosphäre und über Haufen giftigen Abfalls führte der Weg. Die Unruhe des eigenen Geistes und die Aufregung des Mädchens, die sich mit jedem Augenblick steigerte, bewogen Mr. Jarvis Lorry zweimal, haltzumachen und auszuruhen. Dies geschah jedesmal vor einem kläglichen Fenstergitter, durch das jedes noch gesund gebliebene Lüftchen zu entweichen und alle verderbten, eklen Dünste einzudringen schienen. Durch die rostigen Eisenstäbe gewahrte man eher durch das Geruch- als durch das Gesichtsorgan die aufeinander hockenden Nachbarhäuser, unter denen, soweit man sehen konnte, nichts auf gesundes Leben und Streben deutete als die beiden hohen Türme der Kirche von Notre-Dame.

Endlich war die Höhe der Treppe erreicht, und sie machten zum drittenmal halt. Aber es führte eine steilere und engere Obertreppe noch weiter hinauf, bis man in das Dachgeschoß gelangte. Der Wirt, der immer vorausging und sich auf der Seite hielt, auf der sich Mr. Lorry befand, weil er vielleicht von der jungen Dame befragt zu werden fürchtete, wandte sich hier um, betastete sorgfältig die Taschen des über seinen Rücken hängenden Rockes und nahm einen Schlüssel heraus.

»Ist denn die Tür verschlossen, mein Freund?« fragte Mr. Lorry erstaunt.

»Ja«, lautete Monsieur Defarges grämliche Antwort.

»Ihr haltet es also für nötig, daß der unglückliche Mann so zurückgezogen lebe?«

»Ich halte es für nötig, den Schlüssel umzudrehen«, flüsterte ihm Monsieur Defarge mit gerunzelter Stirn ins Ohr.

»Warum?«

»Warum? Weil er so lang eingesperrt gelebt hat, daß er sich fürchten, rasend werden, sich selbst in Stücke reißen, sterben oder weiß Gott welchen Schaden nehmen würde, wenn ich seine Tür offen ließe.«

»Ist es möglich!« rief Mr. Lorry.

»Ob es möglich ist?« entgegnete Defarge mit Bitterkeit. »Jawohl. Wir leben in einer sauberen Welt, wo so etwas möglich ist und wo so viele andere Dinge möglich und nicht nur möglich sind, sondern wirklich geschehen – ja, seht Ihr, unter diesem Himmel, jeden Tag wirklich geschehen. Es lebe der Teufel! Laßt uns weitergehen.«

Dieses Zwiegespräch war in einem so leisen Geflüster abgehalten worden, daß keine Silbe davon das Ohr der jungen Dame erreichte. Jetzt aber zitterte sie unter einer so gewaltigen Aufregung, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von so tiefer Angst, vor allem aber von Furcht und Schrecken, daß Mr. Lorry sich für verpflichtet hielt, ein paar Worte der Ermutigung an sie zu richten.

»Mut, meine teure Miß! Mut! Geschäft! Das Schlimmste wird in einem Augenblick vorüber sein; es ist herum, sobald man die Schwelle überschritten hat. Dann beginnt all das Gute, das Ihr ihm bringt, aller Trost und alles Glück, das Ihr ihm schaffen könnt. Erlaubt unserem guten Freund hier, Euch auf der andern Seite zu unterstützen. Recht so, Freund Defarge. Kommt jetzt. Geschäft, Geschäft!«

Sie stiegen langsam und leise vollends hinan. Die Treppe war kurz und das Ende bald erreicht. Da sie jedoch auf dem halben Wege einen Winkel machte, wurden sie plötzlich drei Männer gewahr, die neben der Tür die Köpfe zusammengesteckt hielten und augenscheinlich durch einige Risse oder Löcher der Mauer in das dahinter befindliche Gemach hineinsahen. Die nahen Fußtritte bewogen die drei sich aufzurichten und umzuwenden; es waren die Männer mit dem gleichen Vornamen, die unten Wein getrunken hatten.

»In der Überraschung Eures Besuches habe ich sie vergessen«, bemerkte Monsieur Defarge erklärend. »Geht jetzt, meine guten Kinder; wir haben ein Geschäft da.«

Die drei glitten vorüber und leise die Treppe hinab.

Da sich auf diesem Boden augenscheinlich keine andere Tür befand und der Wirt, sobald sie allein waren, geradewegs auf diese einzige zuging, so fragte ihn Mr. Lorry flüsternd, aber mit einigem Unwillen:

»Stellt Ihr denn Monsieur Manette zur Schau aus?«

»Ich zeige ihn auf diese Weise, wie Ihr’s gesehen habt, einigen wenigen Auserwählten.«

»Ist dies recht?«

»Ich denke wohl.«

»Wer sind die wenigen? Wie wählt Ihr sie?«

»Ich sehe dabei auf reelle Männer meines Namens – Jacques ist mein Name –, von denen ich glaube, daß ihnen der Anblick gut tun werde. Genug – Ihr seid ein Engländer; das ist etwas anderes. Habt die Güte, einen Augenblick hier stehenzubleiben.«

Mit einer abwehrenden Gebärde beugte er sich nieder und schaute durch den Spalt in der Mauer, erhob den Kopf aber bald wieder und schlug zwei- oder dreimal gegen die Tür, augenscheinlich in keiner andern Absicht, als um Lärm zu machen. Ebenso rasselte er etlichemal mit dem Schlüssel über die Tür hin, ehe er diesen derb in das Schloß stieß und so geräuschvoll wie nur möglich darin umdrehte.

Die Tür ging unter seiner Hand langsam nach innen auf. Er sah hinein und sagte etwas. Eine schwache Stimme antwortete darauf. Es konnte beiderseits wenig mehr als eine Silbe gesprochen worden sein.

Monsieur Defarge schaute über die Schulter zurück und winkte seinen Begleitern, einzutreten. Mr. Lorry schlang seinen Arm um den Leib seiner Begleiterin und hielt sie fest; denn er fühlte, daß sie ohnmächtig werden wollte.

»Ein – ein – ein Geschäft, Geschäft!« drängte er, und auf seiner Wange zeigte sich ein Naß, das jedenfalls dort kein Geschäft hatte. »Kommt mit – kommt!«

»Ich fürchte mich«, entgegnete das Mädchen schaudernd.

»Vor was?«

»Vor ihm – vor meinem Vater.«

Durch Miß Manettes Zustand und das Winken des Führers in Verzweiflung gebracht, schlang er den Arm, der auf seiner Schulter zitterte, um seinen Hals, hob sie ein wenig empor und eilte mit ihr in das Gemach; dann setzte er sie unmittelbar hinter der Schwelle wieder ab, ohne die sich an ihn Anklammernde loszulassen.

Defarge nahm den Schlüssel wieder heraus, machte die Tür zu und schloß sie von innen ab, dann zog er den Schlüssel ab und behielt ihn in der Hand. Alles dies tat er methodisch und so geräuschvoll wie nur möglich. Endlich ging er gemessenen Schritts durch die Kammer nach dem Fenster hin, wo er haltmachte und sich umwandte.

Die Dachkammer hatte ursprünglich die Bestimmung, zur Aufbewahrung von Brennholz und dergleichen zu dienen, und bestand in einem düstern, dunklen Gelaß. Das Fenster im Dach war eigentlich eine Tür mit einem kleinen Kran darüber, um von der Straße aus Vorräte in die Höhe ziehen zu können, hatte keine Scheiben und bestand wie jede andere Tür von französischer Konstruktion aus zwei Flügeln. Um die Kälte abzuwehren, war der eine Flügel fest geschlossen und der andere nur ein wenig geöffnet; durch den schmalen Spalt aber drang das Licht nur so spärlich ein, daß man unmittelbar nach dem Eintreten nichts sehen konnte, und nur lange Gewohnheit vermochte irgend jemand in die Lage zu bringen, bei solcher Beleuchtung eine Arbeit vorzunehmen. Und doch wurde in diesem Dachraume gearbeitet. Den Rücken der Tür und das Gesicht dem Fenster zugewandt, vor dem der Wirt zusehend stand, saß ein weißhaariger Mann auf einer niedrigen Bank. Er hatte den Körper vorwärts gebeugt und machte eifrig Schuhe.

Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher.


Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher.

»Guten Tag!« sagte Monsieur Defarge, auf den über einen Schuh hingebeugten weißen Kopf niederblickend.

Der Kopf richtete sich für einen Augenblick auf, und eine sehr schwache Stimme, als komme sie aus weiter Ferne, antwortete auf den Gruß:

»Guten Tag!«

»Ich sehe, Ihr seid eifrig beim Geschäft?«

Nach einer langen Pause erhob sich der weiße Kopf abermals, und die Stimme versetzte:

»Ja – ich arbeite.«

Diesmal hatten auch ein Paar hohle Augen den Frager angeblickt, ehe sich das Gesicht wieder senkte.

Die Schwäche der Stimme war erschütternd mitleiderregend. Man konnte sie keine körperliche Schwäche nennen, obschon langer Kerker und schlechte Kost ohne Zweifel mit zu den Ursachen gehörten. Ihre bejammernswürdige Eigentümlichkeit bestand in dem Umstand, daß sie eine Frucht der Einsamkeit und des völligen Mangels an Übung war. Die Stimme klang wie das letzte matte Echo eines lange zuvor ins Weite gerufenen Tons und hatte das Leben, den Klang der menschlichen Stimme so ganz und gar verloren, daß sie auf die Sinne den Eindruck einer Farbe machte, die einmal schön war, jetzt aber zu einem matten Fleck verblichen ist. Sie klang so gedämpft und verfallen, daß sie unter dem Boden hervorzukommen schien, und deutete so ausdrucksvoll auf ein hoffnungsloses, verlorenes Wesens, daß der Ton den Hörenden unwillkürlich an einen in der Wüste verirrten, verhungernden Reisenden erinnerte, der der Heimat und seinen Freunden noch ein Lebewohl zuruft, ehe er sich hinlegt, um zu sterben.

Einige Minuten stummer Arbeit waren vergangen, und die hohlen Augen hatten wieder aufgeblickt – nicht etwa aus Interesse oder Neugier, sondern vorläufig nur unter dem mechanischen Eindruck, daß die Stelle, wo der einzige zu ihrer Wahrnehmung gekommene Besuch stand, noch nicht leer sei.

»Ich möchte etwas mehr Licht einlassen«, sagte Defarge, der seinen Blick nicht von dem Schuhmacher verwandt hatte. »Könnt Ihr ein bißchen mehr Helle vertragen?«

Der Schuhmacher hielt in seiner Arbeit inne, schaute mit einer ausdruckslosen Miene des Horchen« bald rechts, bald links von sich auf den Boden und sah endlich zu dem Sprecher auf.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Ob Ihr mehr Helle vertragen könnet?«

»Ich muß wohl, wenn Ihr sie hereinlaßt.«

Er legte einen blassen Schatten von Nachdruck auf das zweite Wort.

Die angelehnte Halbtür wurde ein wenig weiter geöffnet und vorderhand unter diesem Winkel befestigt. Ein breiter Lichtstreifen fiel in die Kammer und beleuchtete den ruhenden Arbeiter mit einem unvollendeten Schuh auf seinem Schoß. Sein Werkzeug und einige Stücke Leder lagen zu seinen Füßen und auf der Bank. Er hatte einen weißen, struppigen, aber nicht sehr langen Bart, ein hageres Gesicht und ungemein helle Augen. Letztere hätten in den tiefen Höhlen, dem welken Zug unter den noch immer dunkeln Augenbrauen und unter dem weißen Haar groß erscheinen müssen, wenn sie auch das Gegenteil gewesen wären. Bei ihrer natürlichen Größe aber hatten sie ein wahrhaft unheimliches Aussehen gewonnen. Das zerfetzte gelbe Hemd ließ die Brust offen und zeigte einen völlig maroden Körper. Er, sein altes Kanevaswams, seine losen Strümpfe und die übrigen Kleiderlumpen waren in der langen Abgeschiedenheit von Licht und Luft zu einem so gleichförmigen Pergamentgelb verblichen, daß man kaum einen Unterschied mehr entdecken konnte.

Er hatte seine Hand zwischen seine Augen und das Licht gebracht, und sogar die Knochen schienen durchsichtig zu sein. So saß er mit leerem Blicke da und ließ seine Arbeit ruhen. Er schaute nie auf die Gestalt vor ihm, ohne vorher rechts und links an sich niederzusehen, als habe er die Gewohnheit verlernt, den Ton mit einem Ort in Verbindung zu bringen: auch sprach er nie, ohne sich zuvor in dieser unsteten Weise zu ergehen, die ihn gelegentlich auch das Reden ganz und gar vergessen ließ.

»Werdet Ihr wohl heute noch dieses Paar Schuhe fertigbringen?« fragte Defarge, indem er Mr. Lorry winkte, näher zu treten.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Ob Ihr Eure Schuhe heute noch fertigzubringen gedenkt.«

»Ich kann nicht sagen, ob ich’s imstande bin. Vermutlich. Ich weiß es nicht.«

Die Frage erinnerte ihn jedoch an seine Arbeit, und er beugte sich wieder darüber hin.

Mr. Lorry trat schweigend vor und ließ die Tochter an der Tür zurück. Er mochte ein paar Minuten neben Defarge gestanden haben, als der Schuhmacher wieder aufschaute. Dieser zeigte kein Erstaunen über das Vorhandensein einer weiteren Person; aber die unsteten Finger seiner einen Hand verirrten sich, während er so aufblickte, zu seinen Lippen, die mit den Nägeln die blasse Bleifarbe teilten. Dann ließ er die Hand wieder auf seine Arbeit sinken und beugte sich abermals über den Schuh. Das Aufsehen und die Gebärde hatte nur einen Augenblick gedauert.

»Ihr seht. Ihr habt einen Besuch«, sagte Monsieur Defarge.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Hier ist ein Besuch.«

Der Schuhmacher schaute wieder wie zuvor auf, ohne jedoch die Hand von seiner Arbeit zu entfernen.

»Gebt her«, sagte Defarge, »Hier ist ein Herr, ein Kenner von guten Schuhen, wenn er welche sieht. Zeigt ihm die Arbeit, die Ihr vor Euch habt. Nehmt, Monsieur.«

Mr. Lorry nahm den Schuh in seine Hand.

»Sagt dem Herrn, was für ein Schuh dies ist und wer ihn gemacht hat.«

Es trat eine mehr als gewöhnlich lange Pause ein, bis der Schuhmacher endlich erwiderte:

»Ich vergaß, was Ihr mich fragtet. Was habt Ihr gesagt?«

»Ich sagte, ob Ihr nicht Monsieur darüber belehren wollet, was für ein Schuh dies sei.«

»Es ist ein Frauenzimmerschuh – ein Schuh zum Ausgehen für eine junge Dame. Ganz nach der gegenwärtigen Mode. Ich kenne zwar die Mode nicht aus eigener Anschauung, habe aber ein Muster in der Hand gehabt.«

Er blickte mit einem kleinen Anflug von Stolz auf seinen Schuh.

»Und wie heißt der Verfertiger?« fragte Defarge.

Da der alte Mann jetzt keine Arbeit zu halten hatte, so legte er zuerst die Knöchel seiner rechten Hand in die hohle Fläche der linken und dann die Knöchel der linken in die Fläche der rechten. Darauf fuhr er mit einer Hand über das bärtige Kinn. Dies trieb er eine Weile in regelmäßiger Abwechslung, ohne auch nur einen Augenblick auszusetzen. Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit, in die er nach jeder seiner Reden versank, zu wecken, ließ sich mit den Belebungsversuchen an einem Ohnmächtigen oder mit der Bemühung vergleichen, den Geist eines rasch dahinsterbenden Menschen, von dem man noch eine Enthüllung wünscht, zurückzuhalten.

»Habt Ihr mich nach meinem Namen gefragt?«

»Jawohl.«

»Hundertundfünf, Nordturm.«

»Ist dies alles?«

»Hundertundfünf, Nordturm.«

Mit einem müden Ton, der weder ein Seufzen noch ein Stöhnen war, beugte er sich wieder vor, bis die Stille aufs neue unterbrochen wurde.

»Ihr seid kein Schuhmacher von Gewerbe?« sagte Mr. Lorry, ihn fest ansehend.

Die hohlen Augen richteten sich auf Defarge, als erwarteten sie von ihm die Beantwortung der Frage; da aber von dieser Seite her keine Hilfe kam, so suchten sie eine Weile den Boden und blieben endlich auf dem Frager haften.

»Ob ich ein Schuhmacher von Gewerbe sei? Nein, ich bin es nicht. Ich – ich habe es hier gelernt – aus mir selbst – ohne Lehrmeister. Ich bat um die Erlaubnis, mich –«

Er war aufs neue für einige Minuten weg und wiederholte während dieser Zeit die vorhin beschriebenen Gesten. Endlich kehrten seine Augen langsam zu dem Gesicht zurück, von dem sie abgeschweift waren, und ruhten darauf eine Weile, bis er zusammenfuhr und in der Art eines Schlafenden in dem Moment des Erwachens den unterbrochenen Gegenstand wiederaufnahm.

»Ich bat um die Erlaubnis, mich unterrichten zu dürfen, und erhielt sie auch lange Zeit nachher mit vieler Mühe. Seitdem habe ich immer Schuhe gemacht.«

Als er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, der ihm abgenommen worden war, sagte Mr. Lorry, sein Gesicht unverwandt betrachtend:

»Monsieur Manette, erinnert Ihr Euch meiner nicht mehr?«

Der Schuh sank zu Boden, und der alte Mann starrte den Frager an.

»Monsieur Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er seine Hand auf Desarges Arm legte, »erinnert Ihr Euch nicht mehr dieses Mannes? Seht ihn an. Seht mich an. Entsinnt Ihr Euch nicht eines alten Bankiers, eines alten Geschäfts, eines alten Dieners und einer früheren Zeit, Monsieur Manette?«

Wahrend der vieljährige Gefangene dasaß und mit seinem starren Blicke bald Mr. Lorry, bald Defarge ansah, drängten sich allmählich in der Mitte der Stirne einige längst verwischte Spuren tätigen Verstandes durch die dichte Nebelhülle. Aber sie traten schnell wieder in den Schatten zurück, wurden schwächer und waren entschwunden. Jedoch sie waren wenigstens dagewesen. Und so genau wiederholte sich der Ausdruck auf dem Antlitz des schönen jungen Wesens, das an der Wand hin nach einer Stelle geschlichen war, von der aus es ihn sehen konnte, und wo es jetzt stand, die Hände anfangs nur in angstvoller Teilnahme, vielleicht wohl gar in der Absicht erhebend, ihn zurückzuhalten oder seinen Anblick auszuschließen, jetzt aber sie gegen ihn ausstreckend, zitternd vor Begier, das gespenstische Gesicht an die warme jungfräuliche Brust zu drücken und es durch Liebe dem Leben und der Hoffnung zurückzugeben – ich sage, der Ausdruck wiederholte sich, obschon in kräftigeren Zügen, so genau auf dem schönen jugendlichen Antlitz, daß es den Anschein gewann, als sei es wie ein bewegliches Licht von ihm auf sie übergegangen.

Bei ihm war es wieder dunkel geworden. Er betrachtete die beiden weniger und weniger achtsam. Seine Augen suchten in düsterer Zerstreutheit abermals den Boden und schauten aufs neue in der alten Weise umher. Endlich nahm er mit einem tiefen Seufzer den Schuh auf und arbeitete weiter.

»Habt Ihr ihn erkannt, Monsieur?« fragte Defarge flüsternd.

»Ja, für einen Augenblick. Anfangs hatte ich keine Hoffnung, aber ein einziger Augenblick zeigte mir unzweifelhaft das Gesicht, das mir früher gut bekannt war. Pst! Wir wollen uns ein wenig zurückziehen. Pst!«

Sie war von der Wand der Kammer weg- und der Bank nahegetreten, auf der er saß. Es lag etwas Unheimliches in dem Umstand, daß er, während er mit seiner Arbeit beschäftigt war, so gar keine Ahnung hatte von der Gestalt, die, wenn sie ihre Hand ausstreckte, ihn berühren konnte.

Kein Wort wurde gesprochen, kein Laut fiel; sie stand wie ein Gespenst an seiner Seite, und er arbeitete fort.

Endlich fügte sich’s, daß er das Werkzeug in der Hand weglegen und die Zange nehmen mußte. Sie lag auf der andern Seite, nicht auf der, wo das Mädchen stand. Er hatte sie ergriffen und beugte sich wieder über seine Arbeit hin, als seine Augen den Schoß ihres Kleides bemerkten. Er richtete sich auf und sah ihr Gesicht. Die beiden Zuschauer wollten vorwärts eilen, aber sie winkte ihnen zurück. Sie fürchtete nicht, daß er sie mit der Zange beschädigen könnte; nur ihnen war nicht wohl zumute bei der Sache.

Er starrte sie mit einem besorgniserregenden Blick an, und nach einer Weile begannen seine Lippen einige Worte zu bilden, ohne jedoch Laute hervorzubringen. Endlich hörte man ihn während einer der Pausen zwischen seinen raschen und schweren Atemzügen sagen:

»Was ist das?«

Tränen entströmten ihren Augen, während sie ihre beiden Hände an die Lippen führte und ihm einen Kuß zuwarf. Dann drückte sie die Hände an die Brust, als wolle sie das welke Haupt hier zur Ruhe bringen.

»Ihr seid doch nicht des Schließers Tochter?«

»Nein«, seufzte das Mädchen.

»Wer seid Ihr?«

Der Kraft ihrer Stimme noch nicht trauend, setzte sie sich auf der Bank an seine Seite. Er wich zurück, aber sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Ein seltsames Gefühl durchschauerte dabei seinen ganzen Körper; er legte sachte das Messer nieder und starrte sie an.

Sie hatte ihr goldiges Haar, das sie in langen Locken trug, rasch zurückgestrichen, so daß es über ihren Nacken niederfiel. Er brachte seine Hand allmählich näher und näher, faßte es an und betrachtete es. Dann aber wurde sein Geist plötzlich wieder irre, und er nahm mit einem abermaligen Seufzer aufs neue seine Arbeit auf.

Aber nicht für lange. Sie hatte seinen Arm losgelassen und die Hand auf seine Schulter gelegt. Nachdem er zweifelnd zwei- oder dreimal danach hingesehen, als wolle er sich überzeugen, daß sie wirklich daliege, schob er die Arbeit beiseite, griff nach seinem Hals und nahm von demselben eine geschwärzte Schnur, an der ein zusammengelegter Lappen befestigt war. Diesen breitete er sorgfältig auf seinem Knie auseinander und brachte ein kleines Löckchen hervor; es waren nur einige lange, goldige Haare, die er in irgendeiner alten Zeit wohl oft um seinen Finger gewunden hatte.

Er nahm ihr Haar wieder in seine Hand und betrachtete es aufmerksam.

»Es ist dasselbe. Wie kann dies sein? Wann war es? Wie war es?«

Die Furche auf seiner Stirn kehrte zurück, und er schien eines ähnlichen Ausdrucks auf der ihrigen sich bewußt zu werden. Er drehte sich voll gegen das Licht und sah sie an.

»Sie hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt an jenem Abend, als ich hinausgerufen wurde – sie fürchtete sich, als ich ging, obschon ich unbesorgt war –, und als man mich nach dem Nordturm brachte, fand man dies auf meinem Ärmel. ›Ihr laßt sie mir doch? Sie können nichts dazu beitragen, daß ich mich körperlich den Kerkermauern entwinde, obschon sie mich ihnen vielleicht geistig entziehen.‹ Dies waren die Worte, die ich sagte. Ich erinnere mich ihrer recht wohl.«

Seine Lippen mußten oftmal ansetzen, bis sie diese Rede hervorbrachten. Nachdem er aber einmal die Worte gefunden hatte, kamen sie zwar langsam, aber doch zusammenhängend zur Äußerung.

»Wie war dies? – Bist du’s gewesen

Abermals wollten die zwei Zuschauer sich ins Mittel legen, da er mit einer beängstigenden Hast sich zu ihr wandte. Sie aber rührte sich nicht unter seiner Hand, sondern sagte nur mit leiser Stimme:

»Ich bitte euch, meine guten Herrn, bleibt zurück – sprecht nicht, rührt euch nicht.«

»Horch!« rief er. »Wessen Stimme war dies?«

Bei diesem Ausruf ließen seine Hände sie los und fuhren nach dem weißen Haar, das sie wahnsinnig zerrauften. Doch auch diese Aufregung erstarb, wie alles in ihm erstorben war, sein Schuhmachen ausgenommen. Er faltete sein Päckchen wieder zusammen und versuchte, es in seiner Brust zu verbergen. Dabei sah er sie fortwährend an und schüttelte düster den Kopf.

»Nein, nein, nein: Ihr seid zu jung, zu blühend. Es kann nicht sein. Seht, was aus dem Gefangenen geworden ist. Dies sind nicht die Hände, die sie kannte. Dies Gesicht ist ihr fremd, und eine solche Stimme hat sie nie gehört. Nein, nein. Es sind Menschenalter, seit sie warseit er war – vor den langsamen Jahren des Nordturms. Wie heißt Ihr, mein zarter Engel?«

Den sanfteren Ton, das mildere Wesen mit Freude begrüßend, fiel die Tochter vor ihm auf die Knie nieder und legte bittend ihre Hände auf seine Brust.

»Oh, Herr, zu einer andern Zeit sollt Ihr erfahren, wie ich heiße, wer meine Mutter, wer mein Vater war, und wie ich nie etwas von ihrer schmerzlichen Geschichte erfahren habe. Jetzt aber, und hier, kann ich Euch dies nicht sagen. Nur eines jetzt und hier – ich bitte, rührt mich an und segnet mich. Küßt mich, küßt mich! O Himmel! o Himmel!«

Sein kalter weißer Kopf kam in Berührung mit ihrem wallenden Haar, das ihn wärmte, als sei es das Licht der Freiheit, das auf ihn niederschien.

»Wenn Ihr in meiner Stimme – ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich hoffe es – wenn Ihr in meiner Stimme eine Ähnlichkeit mit einer andern erkennt, die früher wie süße Musik in Eurem Ohre klang, so weinet, weinet um sie! Wenn Ihr durch die Berührung meiner Haare an ein geliebtes Haupt erinnert werdet, das an Eurer Brust lag, als Ihr noch jung und frei waret, so weinet, weinet darum. Wenn Euch der Hinweis auf eine Heimat, in der Euch meine treuen Dienste zuteil werden sollen, eine andere ins Gedächtnis ruft, die längst verödet ist, während Euer armes Herz verschmachtete, so weint, weint um sie!«

Sie hielt seinen Hals inniger umschlungen und wiegte ihn an ihrer Brust wie ein Kind.

»O mein Lieber, Guter, wenn meine Versicherung, daß Euer Jammer vorüber ist und daß ich hierher gekommen bin, um Euch fort, hinüber nach England zu nehmen, wo Ihr Frieden und Ruhe finden werdet – wenn diese Versicherung den Gedanken an Euer zugrunde gerichtetes nützliches Leben und an unser heimatliches Frankreich, das so schändlich an Euch gehandelt hat, in Euch wachruft, so weinet. Und wenn Ihr aus der Nennung meines Namens, aus dem Namen meines noch lebenden Vaters und dem meiner heimgegangenen Mutter erkennt, ich habe kniefällig einen verehrten Vater um Verzeihung zu bitten, weil ich mich nicht für ihn tagtäglich abmühte und um seinetwillen nachts die bittersten Tränen vergoß, weil die Liebe meiner armen Mutter mir seinen schrecklichen Zustand verborgen hatte, so weinet, weinet darüber. Ja, weint um sie – und um mich! Meine guten Herren, Gott sei Dank! Ich fühle diese heiligen Tränen auf meinem Antlitz, und sein Schluchzen schlägt gegen mein Herz. Oh, seht – danket, danket Gott statt unserer.«

Wiederfinden von Vater und Tochter.

Er war in ihre Arme und sein Haupt an ihre Brust gesunken – ein Anblick, so rührend und doch so schrecklich in dem Gedanken an die vorausgegangenen erschütternden Leiden, daß die beiden Zuschauer das Gesicht verhüllten.

Die Stille der Dachkammer erlitt keine Störung, und seine wogende Brust, sein erschütterter Körper hatte längst die Ruhe gefunden, die, ein Sinnbild des Menschenlebens, jedem Sturm folgt. Endlich kamen sie heran, um Vater und Tochter von dem Boden aufzuheben. Er war allmählich hingesunken und lag in der Ohnmacht der Erschöpfung da; sie hatte sich zu ihm niedergeworfen, damit ihr Arm ihm zum Kissen, ihr wallendes Haar zum Schirm gegen das Licht dienen möge.

»Man sollte ihn nicht weiter stören«, sagte sie, ihre Hand gegen Mr. Lorry erhebend, als sich dieser nach unterschiedlichen Schneuzversuchen zu ihnen niederbeugte, »sondern alles zur Abreise von Paris in einer Weise vorbereiten, daß man ihn von dieser Tür aus fortnehmen kann.«

»Aber bedenkt doch. Wird er eine solche Reise machen können?« fragte Mr. Lorry.

»Viel besser, denke ich, als wenn er länger in dieser für ihn so schrecklichen Stadt bleiben müßte.«

»Es ist wahr«, sagte Defarge, der neben dem Ohnmächtigen niedergekniet war. »Auch sprechen außerdem alle Gründe dafür, Monsieur Manette aus Frankreich fortzuschaffen. Soll ich einen Wagen und Postpferde bestellen?«

»Das ist ein Geschäft«, versetzte Mr. Lorry, der nicht lange brauchte, um sich wieder in sein methodisches Wesen zu finden, »und wo sich’s um Geschäfte handelt, bin ich der Mann auf dem Platz.«

»Dann seid so gut, uns jetzt allein zu lassen«, drängte Miß Manette. »Ihr seht, wie ruhig er geworden ist, und habt wohl nichts mehr zu fürchten, wenn ich bei ihm bleibe. Warum auch? Wenn ihr die Tür abschließen wollt, um uns vor Störung zu bewahren, so zweifle ich nicht, daß ihr bei eurer Rückkehr ihn ebenso finden werdet, wie ihr ihn verlaßt. Jedenfalls will ich für ihn Sorge tragen, bis ihr wiederkommt, und dann werden wir ihn fortnehmen können.«

Sowohl Mr. Lorry als Defarge erhoben Einwände gegen diesen Vorschlag und wollten, daß wenigstens einer von ihnen bei ihr bleiben solle. Aber man hatte nicht nur einen Wagen und Pferde, sondern auch Reisepapiere zu besorgen. Die Zeit drängte, der Tag neigte sich zu Ende, und so kamen sie rasch zu der Übereinkunft, daß sie sich in die nötigen Geschäfte teilen und sich unverweilt an ihre Ausführung machen wollten.

Als nun die Dunkelheit einbrach, legte die Tochter an der Seite ihres Vaters das Haupt auf den harten Boden und wachte bei ihm. Es wurde immer dunkler, und sie beide lagen ruhig da, bis ein Lichtstrahl durch die Wundrisse blinkte.

Mr. Lorry und Monsieur Defarge hatten alles für die Reise vorbereitet und brachten außer einem Mantel und Schaltüchern auch Brot, Fleisch, Wein und heißen Kaffee mit. Monsieur Defarge stellte den Korb und die Laterne, die er bei sich hatte, auf die Schuhmacherbank – es war sonst außer dem Pritschenbett kein anderes Möbel mehr in der Kammer –, weckte den Gefangenen und half ihm unter Mr. Lorrys Beihilfe auf die Beine.

Kein menschlicher Verstand vermochte in der scheuen, leeren Verwunderung des Gesichtes die Geheimnisse seines Geistes zu lesen. Wußte er wohl, was vorgegangen? Erinnerte er sich dessen, was gesprochen worden? Hatte er eine Vorstellung davon, daß er frei war? Diese Fragen war kein Scharfsinn zu lösen imstande. Sie versuchten, mit ihm zu reden. Aber er war so verwirrt und konnte sich so wenig ins Antworten hineinfinden, daß sein Geisteszustand sie erschreckte und sie miteinander übereinkamen, ihn vorläufig nicht weiter zu behelligen. Er fuhr gelegentlich in einer eigentümlich wirren Weise, die man nie zuvor an ihm wahrgenommen, mit den Händen gegen den rasch vorgeschobenen Kopf, schien aber doch schon den bloßen Ton von seiner Tochter Stimme gern zu hören; denn er wandte sich demselben zu, sooft sie sprach.

In der unterwürfigen Weise eines Menschen, der durch langen Zwang zu gehorchen gewöhnt ist, aß und trank er, was man ihm vorsetzte, und legte den Mantel und die Schals um, die man ihm gab. Auch ließ er sichs gerne gefallen, daß seine Tochter ihren Arm in den seinigen legte. Er faßte dann ihre Hand mit den seinigen und hielt sie fest.

Sie begannen hinabzusteigen. Monsieur Defarge ging mit der Laterne voran, und Mr. Lorry bildete die Nachhut. Sie hatten auf der langen Haupttreppe noch nicht viele Stufen zurückgelegt, als er haltmachte und das Dach und die Wände anstarrte.

»Entsinnt Ihr Euch dieses Platzes, Vater? Ihr werdet Euch erinnern, daß Ihr hier heraufgekommen seid.«

»Was habt Ihr gesagt?«

Aber ehe sie ihre Frage wiederholen konnte, murmelte er eine Antwort, als ob es schon geschehen sei.

»Erinnern? Nein, ich erinnere mich nicht. Es ist schon gar so lange her.«

Es war klar, daß er nicht wußte, wie er aus seinem Gefängnis in dieses Haus gekommen war. Sie hörten ihn murmeln: »Hundertundfünf, Nordturm«, und wenn er umherschaute, sah er sich augenscheinlich nach den starken Festungsmauern um, die ihn so lange umschlossen hatten. Wie sie im Hof unten anlangten, änderte er instinktartig seinen Tritt in der Erwartung einer Zugbrücke, und als diese nicht kam und er dafür in der Straße draußen den harrenden Wagen sah, ließ er die Hand seiner Tochter fallen und fuhr wieder nach seinem Kopf.

Es war kein Gedränge um die Tür. An keinem der vielen Fenster ließ sich ein Menschengesicht blicken, und nicht einmal zufällig kam jemand durch die Straße. Es herrschte eine unnatürliche Stille und Verödung. Nur eine Person war um den Weg – Madame Defarge, die strickend an dem Türpfosten lehnte und nichts sah.

Der Gefangene war eingestiegen und seine Tochter ihm gefolgt. Als aber Mr. Lorry nachfolgen wollte, wurde er auf dem Tritt durch eine in kläglichem Ton vorgebrachte Frage angehalten, wo das Schuhmacherwerkzeug und die halbfertigen Schuhe seien, Madame Defarge rief ihrem Gatten zu, daß sie das Vermißte holen wolle, und hatte sich fortstrickend rasch im Dunkel des Hofes verloren, kam aber bald wieder zurück und langte Schuhe und Werkzeug in den Wagen hinein. Dann nahm sie ihren Posten wieder an der Tür, strickte und sah nichts.

Defarge lud den Koffer auf und gab das Zeichen: »Nach der Barriere!« Der Postillion knallte mit der Peitsche, und sie rasselten unter den mattblinkenden Straßenlaternen dahin.

Unter den Laternen hin – die in den besseren Straßen immer heller und in den schlechteren immer trüber brannten –, an den beleuchteten Läden, fröhlichen Menschenhaufen, lichtstrahlenden Kaffeehäusern und Theatertüren vorbei nach einem der Stadttore. Hier Soldaten mit Laternen vor dem Wachhause. »Eure Papiere, Reisende!« – »Bitte, Herr Offizier«, sagte Defarge, indem er ausstieg und den Mann ernst beiseite nahm, »dies sind die Papiere des weißhaarigen Herrn im Wagen. Man übergab sie mir mit ihm auf dem –«

Er dämpfte seine Stimme. Es fand nun ein hastiges Durcheinander unter den militärischen Laternen statt, und eine derselben drang an einem uniformierten Arm in den Wagen, um in dem weißhaarigen Herrn einen Anblick zu enthüllen, dem man nicht jeden Tag oder jede Nacht begegnete.

»Es ist gut. Vorwärts!« rief die Uniform.

»Adieu! Defarge.«

Und so ging es aus dem spärlicher und spärlicher werdenden Geflimmer der Laternen hinaus unter die Unzahl flimmernder Sterne.

Unter diesem Gewölbe mit seinen unbeweglichen ewigen Lichtern, von denen manche unserer kleinen Erde so fern sind, daß die Gelehrten uns versichern, es sei zweifelhaft, ob ihre Strahlen überhaupt schon als ein Punkt in dem Raum, in dem so viel Ringen und Leiden stattfindet, entdeckt seien – breiteten sich die Schatten der Nacht weit und dunkel hin. Während der ganzen kalten, ruhelosen Nachtfahrt bis zum dämmernden Morgen trieben sie wieder ihr Spiel mit Mr. Jarvis Lorry, der dem begraben gewesenen und nun ausgegrabenen Manne gegenübersaß, und flüsterten ihm, während er sich Gedanken über die vielleicht auf immer verlorenen und die vielleicht noch zu rettenden Geistesvermögen des Gefangenen machte, die alte Frage zu:

»Ich hoffe, es ist Euch lieb, wieder ins Leben zurückgerufen zu sein.«

Und die alte Antwort war: »Ich kann es nicht sagen.« Eine Geschichte von zwei Städten.

Achtes Kapitel. Eine Handvoll Karten.


Achtes Kapitel. Eine Handvoll Karten.

Ohne eine Ahnung von dem neuen Unglück zu haben, verfolgte Miß Proß ihren Weg durch die engen Gassen, ging auf dem Pont neuf über den Fluß und berechnete im Geiste, welche Einkäufe sie notwendig zu machen habe. Mr. Cruncher ging mit dem Korbe neben ihr her. Beide schauten rechts und links in die meisten Läden hinein, an denen sie vorbeikamen, hatten ein wachsames Auge auf alle Volkszusammenläufe und machten sich seitab, sooft sie eine aufgeregte Gruppe von Sprechenden bemerkten. Es war ein rauher Abend, und der nebelige Fluß zeigte durch die flackernden Lichter und sein unheimliches Getöse an, wo die Barken lagen, in denen die Schmiede Waffen anfertigten für die Armee der Republik. Wehe dem Mann, der dieser Armee einen Possen spielte oder unverdient in ihr befördert wurde! Besser für ihn, sein Bart wäre nie gewachsen, denn das Nationalrasiermesser schor gar scharf.

Nachdem Miß Proß einige Toiletteartikel und ein Kännchen Öl für die Lampe eingekauft hatte, dachte sie an den Wein, den man nötig hatte. Sie sah durch die Scheiben mehrerer Weinstuben hinein und machte endlich bei dem Zeichen des wackeren republikanischen Brutus des Altertums nicht weit von dem Nationalpalast, vormals den Tuilerien, halt, weil hier das Aussehen der Dinge ihrem Geschmack besser zusagte. Das Haus nahm sich ruhiger aus als die andern, an denen sie vorbeigekommen war. Es gab darin wohl auch rote Mützen, aber doch nicht so gar viele. Nachdem sie Mr. Cruncher um seine Meinung ausgeholt hatte, trat sie, von ihrem Knappen begleitet, bei dem wackeren republikanischen Brutus des Altertums ein.

Die beiden ausländischen Kunden achteten wenig auf die qualmenden Lichter, auf die Leute, die rauchend mit zerknitterten Karten und gelben Dominosteinen spielten, auf den nacktarmigen rußigen Arbeiter mit der offenen Brust, der den andern eine Zeitung vorlas, auf die Waffen, die die Männer bei sich führten oder zu rascher Wiederaufnahme beiseite gestellt hatten, auf die zwei oder drei Kunden, die, den Kopf auf die Arme gelegt, schliefen und in den beliebten hochschulterigen zottigen schwarzen Spenzern sich wie schlummernde Bären oder Hunde ausnahmen wie gesagt, sie achteten wenig auf die Anwesenden, sondern näherten sich einfach dem Schenktische und deuteten durch Zeichen an, was sie wünschten.

Während man ihnen den Wein zumaß, verabschiedete sich ein Mann von einem anderen in der Ecke und stand auf, um fortzugehen. Er kam dabei an Miß Proß vorbei. Als diese seiner ansichtig wurde, stieß sie einen Schrei aus und schlug die Hände zusammen.

Im Nu war die ganze Gesellschaft auf den Beinen. Es gehörte zu den alltäglichen Vorkommnissen, daß jemand in Verteidigung einer Meinung von einem andern niedergestochen wurde, und so wollte jeder sehen, ob nicht eben einer gefallen sei; aber die Neugierigen bemerkten nichts als einen Mann und eine Weibsperson, die einander mit großen Augen ansahen, der erstere dem Äußeren nach ein Franzose und eingefleischter Republikaner, die letztere augenscheinlich eine Engländerin.

Was die Jünger des wackeren republikanischen Brutus bei einer so bitter getäuschten Erwartung sprachen, war wohl recht zungenfertig und laut, hätte aber für Miß Proß und ihren Beschützer, und wenn sie ganz Ohr gewesen wären, ebensogut hebräisch oder chaldäisch sein können. In ihrer Überraschung hörten sie jedoch nichts; denn wir müssen bemerken, daß nicht nur Miß Proß in einen Zustand großer Aufregung und Verwunderung geraten war, sondern auch Mr. Cruncher für eigene Rechnung vor Staunen sich kaum zu fassen wußte.

»Was gibt’s denn?« fragte der Mann, der Miß Proß zu ihrem Aufschrei Anlaß gegeben hatte, halblaut in ärgerlichem Ton, aber auf englisch.

»Oh, Salomon, lieber Salomon!« rief Miß Proß, ihre Hände wieder zusammenschlagend. »Nachdem ich dich so lange mit keinem Auge mehr gesehen und kein Sterbenswörtchen von dir gehört habe, muß ich dich hier wiederfinden!«

»Nenne mich nicht Salomon. Willst du mich ans Messer liefern?« entgegnete der Mann in furchtsamer, verstohlener Weise.

»Bruder! Bruder!« rief Miß Proß in Tränen ausbrechend, »bin ich je hart gegen dich gewesen, daß du eine so grausame Frage an mich stellen kannst?«

»Dann halt dein vorlautes Maul«, sagte Salomon, »und komm mit hinaus, wenn du mit mir sprechen willst. Zahle deinen Wein und komm. Wer ist dieser Mann?«

Die liebevolle Miß Proß schüttelte bekümmert den Kopf gegen ihren keineswegs zärtlichen Bruder und antwortete, während ihr Tränen im Auge standen:

»Mr. Cruncher.«

»Er soll auch mitkommen«, sagte Salomon. »Sieht er mich für einen Geist an?«

Mr. Cruncher hatte in der Tat ganz das Aussehen eines von einem Gespenst verschüchterten Mannes. Er sprach jedoch kein Wort, und Miß Proß, die durch ihre Tränen nur mit Mühe den Inhalt ihrer Tasche unterschied, zahlte den Wein. Während dies geschah, wandte sich Salomon zu den Verehrern des wackern republikanischen Brutus des Altertums und richtete in französischer Sprache einige Worte der Erklärung an sie, worauf sie an ihre Plätze und zu ihrem früheren Treiben wieder zurückkehrten.

»Nun«, sagte Salomon, an der dunkeln Straßenecke haltmachend, »was willst du?«

»Wie schrecklich herzlos von einem Bruder, an dem ich immer mit so viel Liebe gehangen habe«, rief Miß Proß, »daß er mich so begrüßt und mir auch keine Spur von Anhänglichkeit zeigt.«

»Da! Zum Henker auch! Da!« sagte Salomon, mit seinen Lippen gegen die seiner Schwester hinfahrend. »Bist du jetzt zufrieden?«

Miß Proß schüttelte nun den Kopf und weinte still fort.

»Wenn du erwartest, daß ich überrascht sein soll«, fügte ihr Bruder bei, »so bist du im Irrtum. Deine Anwesenheit war mir nicht unbekannt; ich kenne die meisten Leute, die hier sind. Wenn du wirklich nicht die Absicht hast, mein Leben in Gefahr zu bringen und ich traue dir nur halb , so geh‘ so bald wie möglich deiner Wege und laß mich die meinigen gehen. Ich habe zu tun. Ich stehe in öffentlichem Dienst.«

»Ach, mein Bruder Salomon«, rief Miß Proß in kläglichem Ton, indem sie die tränenfeuchten Augen zu ihm aufschlug, »ein Engländer, der das Zeug in sich hatte, einer der besten und größten Männer seines Vaterlandes zu werden, im Dienst der Ausländer und solcher Ausländer. Ich wollte fast lieber, ich hätte ihn als unschuldigen Knaben m seinem «

»Es ist so, wie ich sagte«, unterbrach sie ihr Bruder. »Ich wußte es wohl; sie will mich im Grabe haben. Meine eigene Schwester wird mich unter die Verdächtigen bringen, während ich eben im Begriff bin, vorwärtszukommen.«

»Das wolle der gnädige und barmherzige Himmel verhüten!« rief Miß Proß. »Weit lieber will ich dich in meinem ganzen Leben nicht wiedersehen, mein teurer Salomon, obgleich ich stets mit ganzer Seele an dir gehangen habe. Sage mir nur ein einziges liebevolles Wort; sage mir, daß du mir nicht zürnst, mir nicht fremd sein wolltest, und ich werde dich nicht länger aufhalten.«

Die gute Miß Proß! Als ob die Schuld der Entfremdung ihr zur Last gefallen wäre! Hatte doch Mr. Lorry schon vor Jahren in der stillen Ecke von Soho gewußt, daß dieser feine Herr Bruder ihr Geld durchgebracht und sie verlassen hatte.

Er war aber im Begriff, das ersehnte liebevolle Wort mit weit mehr brummender Herablassung und Gönnerschaft auszusprechen, als er hätte an den Tag legen können, wenn ihre wechselseitigen Verhältnisse die umgekehrten gewesen wären es pflegt ja gemeiniglich durch die ganze Welt so zu ergehen; da berührte ihn Mr. Cruncher an der Schulter und störte ihn unerwartet in seiner heiseren Stimme mit der auffallenden Anrede:

»Darf ich so frei sein, mir eine Frage zu erlauben? Heißt Ihr John Salomon oder Salomon John?«

Der öffentliche Diener wandte sich mit plötzlichem Mißtrauen gegen ihn. Jerry hatte bisher kein Wort verlauten lassen.

»Na, nur heraus mit der Farbe«, fuhr Mr. Cruncher fort. »John Salomon oder Salomon John? Sie hat Euch Salomon genannt, und da sie Eure Schwester ist, muß sie wohl wissen, wie Ihr heißt. Und ich kenne Euch als John. Welches ist der Vorname? Und wie steht’s mit dem Namen Proß? Über dem Wasser drüben war dies nicht der Eurige.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Hm, das weiß ich selbst nicht, denn ich kann mich nicht mehr erinnern, wie Ihr über dem Wasser drüben geheißen habt.«

»Nicht?«

»Nein. Aber ich wollte drauf schwören, es war ein zweisilbiger Name.«

»Was Ihr nicht alles wißt!«

»Ja. Der andere hatte einen einsilbigen. Ich kenn‘ Euch wohl. Ihr wart ein Spionenzeuge in der Bailey. Im Namen des Vaters der Lügen und des Eurigen zugleich, wie habt Ihr Euch doch damals genannt?«

»Barsad«, fiel plötzlich eine andere Stimme ein.

»Donnerwetter noch einmal, ja, der ist’s!« rief Jerry.

Der Sprecher, der sich so unverhofft in die Unterhaltung mischte, war Sydney Carton. Er hatte die Hände unter den Schößen seines Reitkleids und stand so nachlässig an Mr. Crunchers Seite, als befände er sich wieder in Old Bailey.

»Erschreckt nicht, meine liebe Miß Proß. Ich bin gestern abend bei Mr. Lorry zu dessen großem Erstaunen angekommen, und wir haben uns dahin verständigt, daß ich mich nirgends zeigen solle, bis alles in Ordnung sei oder ich mich irgendwie nützlich machen könne. Nun bin ich aber ausgegangen, um mir eine kleine Rücksprache mit Eurem Bruder zu erbitten. Ich wollte, Euer Bruder hätte einen besseren Dienst als dieser Mr. Barsad, der zu den Gefängnisschafen gehört.«

Mit diesem Kunstausdrucke pflegte man damals die Spione unter den Gefangenwärtern zu bezeichnen. Barsad wurde blaß und immer blässer und fragte ihn, »wie er sich unterstehen könne«

»Das will ich Euch sagen«, versetzte Sydney. »Ich sah Euch etwa vor einer Stunde aus dem Conciergeriegefängnis herauskommen, wie ich eben die Mauern dieses Baues betrachtete. Ihr besitzt ein Gesicht, Mr. Barsad, das man nicht so leicht vergißt, und ich habe ein gutes Gedächtnis für Physiognomien. Eure Anwesenheit an einem solchen Platz erregte meine Neugierde, und ich folgte Euch, weil ich Euch aus einem Euch wohlbekannten Grunde mit der traurigen Lage eines Freundes in Verbindung brachte, der jetzt sehr unglücklich ist. Ich bin Euch in das Weinhaus nachgegangen und saß in Eurer Nähe. Aus Eurem rückhaltlosen Gespräch und aus dem Geruch, in dem Ihr bei Euren Bewunderern steht, konnte ich mir leicht die Art Eures Berufes klarmachen. Und so bildete sich, was ich aufs Geratewohl begann, allmählich zu einem Plan aus, Mr. Barsad.«

»Zu was für einem Plane?« fragte der Spion.

»Es wäre beschwerlich und wohl auch gefährlich, ihn auf der Straße auseinanderzusetzen. Wolltet Ihr mir wohl den Gefallen erweisen, mir im Vertrauen auf einige Minuten Eure Gesellschaft zu widmen in dem Bureau von Tellsons Bank zum Beispiel?«

»Unter Bedrohung?«

»Oh, ich habe etwas der Art gesagt?«

»Wenn nicht, warum sollte ich Euch dahin folgen?«

»In der Tat, Mr. Barsad, wenn Ihr’s nicht selbst wißt, so kann ich’s Euch nicht sagen.«

»Soll dies soviel heißen, als Ihr wollt es nicht sagen?« fragte der Spion unschlüssig.

»Ihr habt mich vollkommen verstanden, Mr. Barsad. Ja.«

Cartons gleichgültiges nachlässiges Wesen kam seinem Scharfsinn und seiner Geschicklichkeit in Behandlung des Anliegens, auf das er es heimlich abgehoben hatte, einem solchen Mann gegenüber ungemein zustatten. Sein geübtes Auge erkannte dies, und er machte die Wahrnehmung sich bestens zunutze.

»Hab‘ ich’s nicht gesagt?« bemerkte der Spion mit einem vorwurfsvollen Blick auf seine Schwester. »Wenn ein Unglück dabei herauskommt, so bist du daran schuld.«

»Ei, Ihr müßt nicht undankbar sein, Mr. Barsad«, sagte Sydney. »Hätte ich nicht so große Achtung vor Eurer Schwester, so wär’s vielleicht nicht auf so gütlichem Wege zu dem kleinen Vorschlag gekommen, den ich Euch zu unserer beiderseitigen Befriedigung zu machen gedenke. Wollt Ihr mit mir nach der Bank kommen?«

»Ich will hören, was Ihr mir zu sagen habt. Ja; ich gehe mit Euch.«

»Zuerst können wir Eurer Schwester ein sicheres Geleit bis an die Ecke ihrer Straße geben. Reicht mir Euren Arm, Miß Proß. Dies ist keine Stadt, in der man zu solcher Zeit Damen ohne Schutz durch die Straßen gehen lassen kann, und da Euer Begleiter Mr. Barsad kennt, so will ich ihn einladen, mit uns zu Mr. Lorry zu kommen. Sind wir fertig? Gut; so wollen wir aufbrechen.«

Miß Proß fühlte bald nachher und erinnerte sich dessen bis an ihr Lebensende, wie in dem Arm, auf den sie sich stützte, eine eherne Festigkeit, und in den Augen, an die sie in stummem Aufschauen die Bitte richtete, daß ja ihrem Salomon nichts Leides geschehen möge, eine Begeisterung lag, die nicht nur im Widerspruch standen mit Cartons anscheinend gleichgültigem Wesen, sondern den ganzen Mann verwandelten und erhoben. Freilich war sie damals viel zu sehr von der Angst um ihren Bruder, der ihre Liebe so wenig verdiente, und von Sydneys freundlichen Versicherungen in Anspruch genommen, als daß sie diese Wahrnehmung in jenem Augenblick gehörig hätte würdigen können.

Sie wurde an der Straßenecke allein gelassen, und Carton ging voran nach Mr. Lorrys Wohnung, die sie nach wenigen Minuten erreichten. John Barsad oder Salomon Proß gingen ihm zur Seite.

Nr. Lorry hatte eben sein Mittagessen beendigt und saß vor einem behaglichen Holzfeuerchen; vielleicht spähte er in der Glut nach jenem jüngeren ältlichen Gentleman von Tellsons, der vor vielen Jahren im Royal George zu Dover gleichfalls in die Kohlen geschaut hatte. Bei ihrem Eintritt drehte er den Kopf gegen sie und war nicht wenig erstaunt, als er eines Fremden ansichtig wurde.

»Der Bruder der Miß Proß, Sir«, sagte Sydney. »Mr. Barsad.«

»Barsad?« wiederholte der alte Herr. »Barsad? Der Name kommt mir bekannt vor und auch das Gesicht.«

»Ich sagte Euch ja. Ihr habt ein auffallendes Gesicht, Mr. Barsad«, bemerkte Carton kalt. »Bitte, nehmt Platz.«

Während er für sich selbst einen Stuhl herbeirückte, versah er Lorry mit dem ihm fehlenden Anknüpfungsglied, indem er mit finsterer Miene sagte:

»Zeuge bei jener Gerichtsverhandlung.«

Mr. Lorry erinnerte sich sogleich und betrachtete den neuen Gast mit der Miene unverhüllten Abscheus.

»Mr. Barsad ist von Miß Proß als der liebevolle Bruder erkannt worden, von dem Ihr schon gehört habt«, sagte Sydney, »und er erhebt keine Einwendung gegen die Verwandtschaft. Um auf eine schlimmere Neuigkeit überzugehen: Darnay ist wieder verhaftet worden.«

»Was Ihr da sagt!« rief der alte Herr in äußerster Bestürzung. »Ich habe ihn doch erst vor zwei Stunden frei und in Sicherheit verlassen und bin eben im Begriff, wieder zu ihm zurückzukehren.«

»Gleichwohl verhaftet. Wann geschah es, Mr. Barsad?«

»Wenn überhaupt, so muß es eben erst geschehen sein.«

»Mr. Barsad kann die allerbeste Auskunft geben, Sir«, sagte Sydney, »und ich erfuhr aus einer Mitteilung, die er vertraulich einem Freunde und Kollegen bei der Flasche machte, daß die Verhaftung stattgefunden hat. Er verließ die Sendlinge am Tor, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie von dem Pförtner eingelassen worden waren. Es kann keinem Erdenzweifel unterliegen, daß er wieder festgenommen worden ist.«

Mr. Lorrys Geschäftsauge las in dem Gesicht des Sprechers, daß es verlorene Zeit wäre, bei diesem Punkt zu verbleiben. Verwirrt, aber doch in dem Bewußtsein, daß vielleicht seine Geistesgegenwart in Anspruch genommen werden dürfte, suchte er sich zu fassen und hörte in stummer Aufmerksamkeit zu.

»Ich will zwar hoffen«, fuhr Sydney fort, »daß ihm der Name und der Einfluß des Doktor Manette morgen ebensogut zustatten kommen wird – Ihr sagtet, er werde morgen wieder vor Gericht gestellt werden, Mr. Barsad?«

»Ja, ich glaube so.« »Daß er ihm morgen ebensogut zustatten kommen wird wie heute. Aber vielleicht ist es auch nicht der Fall. Ich gestehe, Mr. Lorry, daß mein Glaube schwach ist, sofern es nicht in Doktor Manettes Gewalt gelegen hat, diese Verhaftung zu verhindern.«

»Er hat vielleicht nicht gewußt, was im Werk war«, sagte Mr. Lorry.

»Schon dies ist ein sehr beunruhigender Umstand, wenn man bedenkt, wie er nur für seinen Schwiegersohn lebt und webt.«

»Das ist wahr«, räumte Nr. Lorry ein, die zitternde Hand nach dem Kinn führend, während er einen angstvollen Blick auf Carton heftete.

»Kurz«, sagte Sydney, »wir leben in einer verzweifelten Zeit, in der man um verzweifelte Einsätze ein verzweifeltes Spiel spielt. Mag der Doktor seine Rechnung aufs Gewinnen machen; ich will aufs Verspielen halten. Ein Menschenleben ist hier nichts wert. Man kann heute vom Volke im Triumph heimgetragen und morgen zum Tode verurteilt werden. Wohlan, der Einsatz, um den ich im schlimmsten Falle zu spielen im Sinn habe, ist ein Freund in der Conciergerie. Den will ich gewinnen, und der Freund ist Mr. Barsad.«

»Dann müßt Ihr gute Karten haben, Sir«, sagte der Spion.

»Ich will mir sie betrachten will sehen, was ich in der Hand habe. Mr. Lorry, Ihr wißt, was ich für ein ordinärer Kerl bin; wenn Ihr mir nur ein bißchen Branntwein geben wolltet.«

Das Gewünschte wurde ihm vorgesetzt, und er trank ein Glas voll trank ein zweites und schob die Flasche gedankenvoll zurück.

»Mr. Barsad«, fuhr er in dem Tone eines Menschen fort, der wirklich eine Hand voll Karten überschaut, »Gefängnisschaf, Emissär der republikanischen Komitees, bald Gefängniswärter, bald Gefangener, stets aber Spion und geheimer Angeber, hier um so wertvoller, weil er als Engländer bei seinen Eigenschaften weniger dem Verdacht gedungener Zwischenträgerei ausgesetzt ist, stellt sich seinen Auftraggebern unter einem fremden Namen vor. Dies ist eine sehr gute Karte. Mr. Barsad, jetzt im Solde der republikanischen französischen Regierung, diente früher der aristokratischen englischen Negierung, den Feinden Frankreichs und der Freiheit. Dies ist eine vortreffliche Karte. Es folgt daraus in diesem Lande des Argwohns so klar wie der Tag, Mr. Barsad stehe noch immer im Sold der englischen Regierung; er sei ein Spion Pitts, ein verräterischer Feind, den die Republik an ihrem Busen nährt, der englische Verräter und der Vollbringer all jenes Unheils, von dem man so viel spricht und so wenig zu sehen bekommt. Dies ist eine Karte, die sich nicht stechen lassen wird. Seid Ihr mir gefolgt, Mr. Barsad?«

»Nicht so, um Euer Spiel zu verstehen«, versetzte der Spion etwas unruhig.

»Ich spiele mein As Denunziation des Mr. Barsad an das nächste Sektionskomitee. Betrachtet Euer Spiel, Mr. Barsad, und seht, was Ihr in der Hand habt. Laßt Euch Zeit dazu.«

Er zog die Flasche wieder heran, füllte sich abermals ein Glas und trank es au«. Der Spion sah angstvoll zu, weil er fürchtete, Mr. Carton könnte sich in einen Zustand hineintrinken, der ihn mit seiner Drohung plötzlich Ernst machen ließe. Der andere merkte dies, schenkte sich wieder ein und trank nochmal ein Glas.

»Betrachtet Euch bedächtig Eure Karten, Mr. Barsad. Ihr braucht Euch nicht zu übereilen.«

Barsads Spiel stand schlechter, als sich vermuten ließ. Er hatte Verlierkarten in der Hand, von denen Sydney Carton nichts ahnte. Nachdem er in England, nicht weil er entbehrlich geworden war (denn das englische Großtun mit Erhabensein über Spionage und Heimlichkeit ist von sehr neuem Datum), sondern wegen zu vieler erfolgloser Meineide seinen ehrenhaften Posten verloren hatte, war er über den Kanal gegangen und hatte in Frankreich Dienste genommen, anfangs als Aufhetzer und Lauscher unter seinen Landsleuten, mit der Zeit aber auch als Anstifter und Spion unter den Franzosen. Er wußte, daß er unter der gestürzten Regierung in Saint Antoine und Defarges Weinhaus sich als geheimer Agent umhergetrieben hatte, daß er von der wachsamen Polizei über alle Hauptpunkte von Doktor Manettes Verhaftung, Befreiung und Geschichte unterrichtet worden, um sich familiär bei den Defarges einführen zu können, daß er bei Madame Defarge damit anzukommen versucht und daß er bei dieser Gelegenheit einen bedeutenden Durchfall erlitten hatte. Auch erinnerte er sich stets mit Furcht und Zittern, daß jenes schreckliche Weib strickte, als er mit ihr sprach, und daß sie, während ihre Finger eifrig fortfuhren, unheimliche Blicke nach ihm hinschiessen ließ. Er hatte sie seitdem oft und vielmal gesehen, wie sie in der Sektion von Saint Antoine ihre gestrickten Register hervorzog und Leute anzeigte, deren Leben dann sicher der Guillotine verfallen war. Wie jeder in Diensten nach Art der seinigen konnte er sich keinen Augenblick sicher fühlen; er wußte, daß er an eine Flucht nicht denken durfte, daß er unter dem Schatten des Fallbeils festgebunden war und daß trotz des schnöden Eifers, mit dem er die Herrschaft des Schreckens zu fördern sich mühte, ein Wort ihn niederwerfen konnte. Einmal angeklagt, und zwar auf so ernste Punkte hin, wie sie ihm eben vorgehalten worden waren, sah er voraus, daß jenes schreckliche Weib, von deren unversöhnlichem Charakter er so viele Proben hatte, das verhängnisvolle Register gegen ihn hervorziehen und damit seine letzte Aussicht vernichten werde. Abgesehen davon, daß Spione stets in Angst leben, waren hier in der Tat genug Fehlkarten, um ihrem Inhaber bei ihrer Musterung das Gesicht leichenfahl zu färben.

»Eure Karten scheinen Euch nicht recht zu gefallen«, sagte Sydney mit der größten Fassung. »Spielt Ihr?«

»Ich denke, Sir«, versetzte der Spion, mit kecker Gemeinheit sich an Mr. Lorry wendend, »ich darf wohl an einen Gentleman von Euren Jahren und Eurem wohlwollenden Charakter die Bitte richten, daß Ihr diesem andern Gentleman, der um so viel jünger ist, vorstellen mögt, wie wenig es sich jedenfalls mit seiner Ehre verträgt, das besprochene As auszuspielen. Ich gebe zu, daß ich ein Spion bin und daß diese Stellung als eine verächtliche angesehen wird; aber man braucht Leute, die sich dazu hergeben. Dieser Gentleman dagegen ist kein Spion. Warum will er sich also so sehr wegwerfen, um den Dienst eines solchen zu verrichten?«

»Ich spiele ohne Bedenken mein As aus, Mr. Barsad«, ergriff Carton das Wort, indem er auf seine Uhr sah, »und zwar schon nach einigen Minuten.«

»Ich hätte gehofft, meine Herren«, sagte der Spion, der stetig bemüht war, Mr. Lorry in das Gespräch zu ziehen, »daß eure Achtung gegen meine Schwester «

»Meine Achtung gegen Eure Schwester kann ich am besten damit betätigen, daß ich sie für alle Zeiten von ihrem Bruder befreie«, sagte Sydney Carton.

»Das ist Euch doch nicht Ernst, Sir?«

»Ich bin fest entschlossen.«

Das geschmeidige Wesen des Spions, das in so merkwürdigem Widerspruch zu dem zur Schau gestellten groben Anzug und wahrscheinlich auch zu seinem gewöhnlichen Benehmen stand, erlitt durch die Unergründlichkeit Cartons, die wohl auch weiseren und ehrlicheren Leuten, als er war, geheimnisvoll imponieren konnte, einen solchen Stoß, daß es ihn nachgerade im Stiche ließ. Während er verlegen dastand, nahm Carton in dem alten Ton des Kartenbetrachtens die Rede wieder auf:

»Und in der Tat, wenn ich’s recht überlege, so kommt es mir vor, als habe ich da eine weitere Karte, die noch nicht aufgezählt ist. Jener Freund, jenes Gefängnisschaf, das sich damit brüstete, daß er in den Kerkern des Landes seine Weide finde wer war das?«

»Ein Franzose. Ihr kennt ihn nicht«, versetzte der Spion hastig.

»Was, ein Franzose?« entgegnete Carton nachdenklich und dem Anscheine nach kaum auf den Sprecher achtend, obschon er dessen Wort wiederholt hatte. »Na, mag sein.«

»Ich versichere Euch, es ist so«, bekräftigte der Spion, »obschon die Sache von keinem Belang ist.«

»Obschon sie von keinem Belang ist«, sagte Carton in derselben mechanischen Weise »obschon sie von keinem Belang ist. Nein; es liegt nichts daran. Nein. Und doch ist mir das Gesicht bekannt.«

»Ich glaube kaum. Gewiß, Ihr irrt; es kann nicht sein«, versetzte der Spion.

»Es kann nicht sein«, murmelte Sydney Carton, indem er seinem Gedächtnis durch ein frisches Glas, das zum Glück nicht groß war, nachzuhelfen suchte. »Kann nicht sein. Sprach gut französisch. Aber wie ein Ausländer, meinte ich?«

»Aus der Provinz«, sagte der Spion.

»Nein. Ausländer!« rief Carton, mit der offenen Hand auf den Tisch schlagend, denn es war ihm ein Licht aufgegangen. »Cly! Verkleidet zwar, aber kein anderer Mensch. Wir hatten ihn auch in Old Bailey vor uns.«

»Ihr seid zu vorschnell, Sir«, sagte Barsad mit einem Lächeln, das seiner Adlernase eine Extraneigung nach der Seite hin verlieh. »Ihr gebt mir hier in der Tat einen Vorteil über Euch. Ich will gern zugeben, daß vor langer Zeit Cly mit mir arbeitete; aber er ist schon seit mehreren Jahren tot. Ich pflegte ihn während seiner letzten Krankheit, und er wurde in London auf dem Sankt Pancrazekirchhof begraben. Er war damals bei dem schurkischen Pöbel sehr unbeliebt, und dies hinderte mich, seiner Beisetzung anzuwohnen; aber ich habe seine irdischen Überreste in den Sarg legen helfen.«

Mr. Lorry bemerkte jetzt von der Stelle aus, wo er saß, einen höchst merkwürdigen koboldartigen Schatten an der Wand; er verfolgte diesen nach seinem Ursprung und entdeckte, daß er von einem plötzlichen außerordentlichen Sträuben und Sichborsten all des struppigen und steifen Haares auf Mr. Crunchers Kopf herrührte.

»Laßt uns vernünftig sein und ein ehrliches Spiel spielen«, sagte der Spion, »Um Euch zu zeigen, wie sehr Ihr Euch täuscht und wie ungegründet Eure Vermutung ist, sollt Ihr von einer Urkunde über Clys Begräbnis, die ich zufällig seitdem in meinem Taschenbuch bei mir führe, Augenschein nehmen.« Er langte es hastig heraus und öffnete es: »Hier ist sie. Da, überzeugt Euch. Ihr könnt sie in die Hand nehmen; es ist kein gefälschtes Papier.«

Mr. Lorry sah jetzt, wie der Schatten an der Wand sich verlängerte und Mr. Cruncher, der sich erhoben hatte, vorwärts trat. Sein Haar hätte nicht borstiger aussehen können, wenn er von dem Dorfochsen selbst frisiert worden wäre.

Ohne von dem Spion bemerkt zu werden, trat Mr. Cruncher an seine Seite und faßte ihn an der Schulter wie ein gespenstischer Polizeidiener.

»Das war also der Roger Cly, Meister«, sagte Mr. Cruncher mit einer finsteren Miene, »und Ihr selbst habt ihm in den Sarg geholfen?«

»Ja.«

»Und wer nahm ihn wieder heraus?«

Barsad lehnte sich in seinem Stuhle zurück und stotterte:

»Was meint Ihr damit?«

»Ich meine, daß er nie drin war«, sagte Mr. Cruncher. »Nein, gewiß nicht. Ich lasse mir den Kopf abhauen, wenn damals der Cly begraben wurde.«

Der Spion sah sich nach den beiden Gentlemen um, die ihrerseits mit unaussprechlichem Staunen nach Jerry hinblickten.

»Ich will Euch sagen«, fuhr Jerry fort, »daß sich in jenem Sarge nur Erde und Pflastersteine befanden. Und Ihr geht her und wollt mir weismachen. Ihr habt den Cly begraben. Der helle Betrug. Ich und noch zwei wissen dies wohl.«

»Wie könnt Ihr dies wissen?«

»Was geht’s Euch an? Zum Donnerwetter«, brummte Mr. Cruncher, »Ihr habt noch etwas gut von mir für Eure schamlose Prellerei an ehrlichen Gewerbsleuten. Soll ich ihn am Kragen packen und tüchtig durchschütteln?«

Sydney, den wie auch Mr. Lorry der Gang der Dinge in großes Staunen versetzte, forderte jetzt Mr. Cruncher auf, sich zu mäßigen und eine Erklärung zu geben.

»Ein andermal, Sir«, versetzte Jerry ausweichend; »die gegenwärtige Zeit ist nicht passend zu Erklärungen. Aber dabei bleib‘ ich, daß er recht gut weiß, es sei nie ein Cly in jenem Sarg gewesen. Wenn er es nur mit einem Wort, mit einer Silbe leugnet, so pack‘ ich ihn am Halse und würg‘ ihn, daß er es gern besser hätte.«

»Hm, so viel ist mir jetzt klar, daß ich noch eine Karte habe, Mr. Barsad«, sagte Carton. »Hier in dem tobenden Strudel von Paris, wo die ganze Luft von Argwohn erfüllt ist, bricht es Euch unfehlbar den Hals, wenn man zur Anzeige bringt, daß Ihr Verkehr unterhaltet mit einem andern aristokratischen Spion und alten Kameraden, an dem noch das Geheimnis haftet, daß er sich begraben ließ und wieder lebendig wurde. Ein Komplott in den Gefängnissen gegen die Republik, von den Ausländern angezettelt. Eine starke Karte eine sichere Guillotinekarte. Spielt Ihr?«

»Nein«, entgegnete der Spion: »ich lege ab. Ich gestehe, wir waren bei dem wütenden Pöbel so verhaßt, daß ich aus England nur fortkam unter Gefahr, zu Tode getaucht zu werden, und daß man Cly in einer Weise auf den Leib rückte, die ihm jedes Entkommen unmöglich machte, wenn er nicht zu dieser Täuschung seine Zuflucht genommen hätte. Wie aber dieser Mensch hinter den Trug kommen konnte, das ist mir rein unbegreiflich.«

»Macht Euch keine Sorge um diesen Menschen«, entgegnete der streitsüchtige Mr. Cruncher; »Ihr werdet genug zu tun haben, wenn Ihr diesem Gentleman Eure Aufmerksamkeit widmet. Und wenn anders das nicht ausreicht, so könnt Ihr immer noch meine Faust zu kosten kriegen.« Mr. Cruncher ließ es sich nicht nehmen, die Freigebigkeit, mit der er den andern zu bedenken Lust hatte, recht prunkhaft zur Schau zu stellen.

Das Gefängnisschaf wandte sich von ihm ab und an Sydney Carton, gegen den er mit mehr Entschiedenheit bemerkte:

»Nachdem wir so weit sind, muß ich Euch erklären, daß ich mit nächstem meinen Dienst anzutreten habe und nicht mehr lange ausbleiben darf. Ihr habt von einem Vorschlag gesprochen; worin besteht er? Es ist nutzlos, zu viel von mir zu verlangen. Wenn Ihr mir zumutet, in meiner dienstlichen Eigenschaft meinen Kopf unter das Beil zu legen, so lass‘ ich’s lieber auf die Folgen einer Weigerung als einer Einwilligung ankommen. Kurz, ich will eine Wahl haben. Ihr sprecht von Verzweiflung. Wir sind hier lauter Verzweifelte. Vergeßt nicht, daß auch ich Euch denunzieren kann, wenn ich es für passend halte; und dann gelingt’s mir vielleicht so gut wie irgendeinem, mir einen Weg durch steinerne Mauern zu schwören. Sprecht, was wollt Ihr von mir?«

»Nicht sehr viel. Ihr seid ein Gefangenenwärter in der Conciergerie?«

»Ich sage Euch ein für allemal, daß eine Flucht nicht in den Bereich des Möglichen gehört«, sagte der Spion mit Festigkeit.

»Wozu braucht Ihr mir etwas zu sagen, wonach ich nicht gefragt habe? Ihr seid ein Schließer in der Conciergerie?«

»Bisweilen.«

»Aber Ihr könnt es sein, wenn Ihr wollt?«

»Ich kann ein- und ausgehen, wie es mir gutdünkt.«

Sydney füllte das Glas wieder mit Branntwein, goß es langsam auf den Herd aus und sah dem Niederträufeln der Flüssigkeit zu. Die Flasche war jetzt leer, und er sagte beim Aufstehen:

»So weit haben wir vor diesen beiden verhandelt, denn ich hielt es für passend, daß nicht bloß wir zwei von der Stärke unserer Karten uns überzeugen möchten. Kommt mit in das dunkle Stübchen hier; wir können da allein das letzte Wort miteinander sprechen.«

Neuntes Kapitel. Das Spiel geordnet.


Neuntes Kapitel. Das Spiel geordnet.

Während Sydney Carton und das Gefängnisschaf im anstoßenden Stübchen sich so leise miteinander besprachen, daß keine Silbe von ihnen gehört wurde, betrachtete Mr. Lorry seinen dienstbaren Landsmann mit der Miene großen Zweifels und Mißtrauens. Die Art, wie der ehrliche Geschäftsgehilfe die Musterung seines Dienstherrn aufnahm, flößte kein Vertrauen ein; er wechselte das Bein, auf dem er stand, so oft, als hätte er fünfzig solche Glieder und wolle alle der Reihe nach probieren; dann betrachtete er mit einer sehr verdächtigen Aufmerksamkeit seine Fingernägel, und sooft sein Blick dem des Mr. Lorry begegnete, wurde er von jenem eigentümlichen kurzen Husten befallen, der des Vorhaltens einer hohlen Hand bedarf und selten oder nie als das Gebreste eines vollkommen offenen Charakters gefunden wird.

»Jerry«, sagte Mr. Lorry. »Kommt einmal her.«

Mr. Cruncher entsprach der Aufforderung seitlings, die eine Schulter voran.

»Was habt Ihr außer dem Ausläuferdienst sonst noch getrieben?«

Nach einigem Besinnen, wobei Mr. Cruncher seinen Schutzherrn bedenklich ansah, kam ihm der lichtvolle Gedanke, zu antworten:

»Ackerbau.«

»Ich fürchte, ich fürchte«, sagte Lorry, streng den Zeigefinger gegen ihn schüttelnd, »daß Ihr das achtbare und große Hau Tellsons nur als Aushängeschild gebraucht und nebenher ein unerlaubtes, schimpfliches Gewerbe betrieben habt. Ist dies der Fall, so wartet nicht, daß wir gute Freunde bleiben, wenn wir nach England zurückkommen. Auch dürft Ihr nicht hoffen, daß ich Euer Geheimnis bewahre. Tellsons dürfen nicht hintergangen werden.«

»Ich hoffe«, bat der beschämte Mr. Cruncher, »daß ein Gentleman wie Ihr, dem ich so allerlei zu besorgen die Ehre hatte, bis ich grau geworden bin, sich zweimal besinnen wird, etwas zu meinem Schaden zu tun, selbst wenn es so wäre ich sage nicht, daß es so ist, sondern nur, wenn es so wäre. Man müßte wohl ins Auge fassen, daß jede Sache ihre zwei Seiten hat. Es gibt vielleicht zur Stunde noch Medizindoktoren, die Guineen einnehmen, wo ein ehrlicher Gewerbsmann sich um Farthinge abmühen muß um Farthinge? nein, es langt noch zu keinen halben, noch zu keinen Viertelfarthingen. Die fegen vorbei wie Rauch bei Tellsons, blinzeln dem Gewerbsmanne mit ihren medizinischen Augen zu und steigen in ihren Equipagen ein und aus ah, wieder wie Rauch. So etwas macht dann sogar bei Tellsons Eindruck. Aber will man die Gans, so muß man auch den Gänserich haben. Und da ist denn Mrs. Cruncher, oder war’s wenigstens in England drüben und wird’s morgen wieder sein, wenn sich Gelegenheit dazu gibt die plumpst hin gegen das Geschäft, daß es ruiniert ist, rein ruiniert. Die Weiber der Medizindokters aber tun das nicht fällt ihnen nicht ein, oder wenn sie’s tun, so plumpsen sie hin um Patienten, und wie kann man das eine haben ohne das andere? Dann sind wieder die Leichenbestatter, die Kirchspielküster, die Privatwächter, lauter habsüchtiges Volk, die sich auch damit zu schaffen machen; was kann ein armer Schelm dabei gewinnen, wenn’s auch so wäre? Was ein geringer Mann da erwirbt, reicht doch nicht weit bei ihm, Mr. Lorry; es tut nicht gut bei ihm, und er möcht‘ wohl wieder aus der Geschichte heraus sein, wenn er nur, einmal drin, einen Ausweg sehen könnte ich meine natürlich, wenn’s so wäre.«

»Pfui!« rief Mr. Lorry, aber gleichwohl in etwas milderer Stimmung, »Euer Anblick ist mir ein Greuel.«

»Na, ich möcht‘ Euch wohl ein bescheidenes Angebot machen, Sir«, fuhr Mr. Cruncher fort, »für den Fall, daß es so wäre, obschon ich’s nicht zugestehe .«

»Keine Verdrehung«, sagte Mr. Lorry.

»Nein, gewiß nicht«, entgegnete Mr. Cruncher, als sei ihm nie etwas Derartiges zu Sinn gekommen »obschon ich’s nicht zugestehe, so möcht‘ ich an Euch ein demütiges Ersuchen stellen. Auf jenem Stuhl dort vor dem Bankhause sitzt mein Junge, dazu erzogen, ein Mann zu werden, der Euch Botengänge tut und Aufträge besorgt, bis er, wenn Ihr’s befehlt, sich die Füße abgelaufen hat. Wenn es so wäre, obschon ich nicht sage, daß es so ist, denn ich will vor Euch nichts verdrehen, Sir so laßt dem Jungen seines Vaters Platz, daß er für seine Mutter sorgen kann. Straft nicht im Sohne den Vater tut dies nicht sondern erlaubt, daß der Vater sich dem Geschäft der regelmäßigen Totengräberei widme und das Ausgraben – von Toten, wenn ers getan hat – wieder gutmache durch freiwilliges Eingraben mit der guten Meinung, sie künftig in Sicherheit zu erhalten. Das ist’s, Mr. Lorry«, sagte Mr. Cruncher, indem er sich die Stirne mit dem Ärmel abwischte zum Zeichen, daß er bei dem Schluß seiner Rede angelangt war, »worum ich Euch achtungsvoll gebeten haben möchte. Du mein Himmel, wenn man sieht, wie schrecklich es hier zugeht und wie das Köpfen kein Ende nimmt, so daß das Geschäft nicht einmal den Trägerlohn einbringt, so kommen einem wohl ernste Gedanken über die Sache. Und so möcht‘ ich, wenn es so wäre. Euch bitten, dessen eingedenk zu sein, was ich eben gesagt habe, und auch nicht zu vergessen, daß ich mit meinem Sprechen einer guten Sache diente, während ich recht wohl hätte schweigen können.«

»In dieser Beziehung wenigstens habt Ihr recht«, sagte Mr. Lorry. »Darum nichts mehr davon. Möglich, daß ich doch Euer guter Freund bleibe, vorausgesetzt, daß Ihr durch die Tat, nicht bloß in Worten Eure Reue an den Tag legt. Des Geschwätzes ist jetzt genug.«

Mr. Cruncher rieb sich eben mit den Knöcheln die Stirne, als Sydney Carton mit dem Spion aus der Nebenstube wieder zurückkam.

»Adieu, Mr. Barsad«, sagte der erstere. »Wenn Ihr es so einrichtet, habt Ihr von mir nichts zu fürchten.«

Er nahm dann, Mr. Lorry gegenüber, seinen Sitz am Herd ein. Sobald sie allein waren, fragte ihn Mr. Lorry, was er ausgerichtet habe.

»Nicht viel«, versetzte Carton. »Doch habe ich mir für den Fall, daß es schlimm gehen sollte, zu dem Gefangenen den Zutritt gesichert.«

Mr. Lorry machte ein langes Gesicht.

»Es ist alles, was ich auswirken konnte«, fuhr Carton fort. »Eine zu große Zumutung würde den Kopf des Mannes unters Beil bringen, und er hat recht, wenn er sagt, daß er bei einer Denunziation nichts Schlimmeres zu erfahren hätte. Seine Lage ist augenscheinlich nur schwach. Da läßt sich nicht helfen.«

»Aber wenn es vor dem Tribunal schlimm ausfällt, so wird ihn dieser Zutritt nicht retten«, sagte Mr. Lorry.

»Ich habe dies auch nicht behauptet.«

Mr. Lorrys Augen senkten sich gegen das Feuer; die Teilnahme für seinen Liebling und der schwere Schlag dieser zweiten Verhaftung hatten sie allmählich geschwächt. Er war jetzt ein alter Mann, erschöpft von den Ängsten der letzten Zeit, und seine Tränen wollten sich nicht mehr zurückhalten lassen.

»Ihr seid ein wackerer Mann und ein treuer Freund«, sagte Carton in verändertem Ton. »Entschuldigt, daß ich von Eurer Bewegung Notiz nehme. Ich könnte nicht gleichgültig dasitzen, wenn ich meinen Vater weinen sähe, und vermöchte Euer Leid nicht mehr zu achten, selbst wenn Ihr mein Vater wäret. Nun, dieses Unglück wenigstens lastet nicht auf Euch.«

Obgleich er die letzteren Worte mit einem Anflug von seinem gewöhnlichen Wesen sprach, so lag doch in seiner ganzen Rede so viel echtes Gefühl und eine solche Ehrerbietung, daß Nr. Lorry, der ihn nie von seiner besseren Seite gekannt hatte, davon betroffen wurde. Er gab ihm die Hand, und Carton drückte sie sanft.

»Um auf den armen Darnay zurückzukommen«, sagte Carton. »Ihr müßt gegen sie nichts von dieser Begegnung und unserer Übereinkunft verlauten lassen, weil sie dann vielleicht nicht imstande wäre, ihn zu besuchen. Sie könnte glauben, es handle sich im schlimmen Fall darum, ihm die Mittel zu liefern, dem Urteilspruch zuvorzukommen.«

Lorry hatte daran nicht gedacht und blickte rasch auf Carton, um zu sehen, ob er auch wirklich bei Sinnen sei. Carton erwiderte den Blick, den er zu verstehen schien.

»Sie könnte auf tausenderlei Gedanken kommen«, fuhr Carton fort, »und damit nur ihren Jammer vergrößern. Sagt ihr daher nichts von mir. Wie ich schon bei meiner Ankunft bemerkte: es ist besser, wenn ich ihr nicht begegne, denn ich kann auch ohnedem ihr die kleine Hilfe leisten, die in meinen Kräften steht. Ihr geht hoffentlich zu ihr? Sie muß heute abend ganz trostlos sein.«

»Ja; ich bin eben im Begriff.«

»Das freut mich. Sie hat eine so große Anhänglichkeit an Euch und erkennt in Euch eine Stütze. Wie sieht sie aus?«

»Bekümmert und unglücklich, aber sehr schön.«

»Ah!«

Es war ein langer schmerzlicher Ton wie ein Seufzer – fast wie ein Schluchzen. Lorry blickte wieder auf Carton, dessen Gesicht dem Feuer zugekehrt war. Ein Licht oder ein Schatten (der alte Gentleman vermochte dies nicht zu unterscheiden) flog so rasch darüber hin, wie an einem wildschönen Tag ein zwischen Wolken hervorbrechender Strahl die Bergwand streift, und er lüpfte den Fuß, um eines der flammenden Scheitchen zurückzuschieben, das niederfallen wollte. Er trug den damals modernen weißen Reitrock und Stulpenstiefel, und der Widerschein des Feuers ließ sein Antlitz unter dem langen, wild niederhängenden braunen Haar ungemein blaß aussehen. Dabei benahm er sich so gleichgültig gegen das Feuer, daß Mr. Lorry es ihm verwies; denn sein Stiefel ruhte noch auf der Glut des brennenden Scheites, nachdem dieses unter dem Gewicht seines Fußes schon zusammengebrochen war.

»Ich vergaß es«, sagte er.

Mr. Lorry blickte wieder in sein Gesicht. Das verstörte Wesen, das die von Natur schönen Züge umwölkte, erinnerte ihn aufs lebhafteste an den Gefangenen, mit dem sein Gast wieder eine merkwürdige Ähnlichkeit hatte.

»Ihr seid jetzt mit Euren Geschäften hier zu Ende?« fragte Carton.

»Ja. Wie ich Euch gestern abend sagte, als Lucie so unverhofft hierherkam, ist endlich alles geschehen, was sich hier tun ließ. Ich hoffte, sie in Sicherheit zurücklassen zu können, wenn ich nach London heimkehre. Mein Paß ist bereits im Hause, und ich war zum Aufbruch vorbereitet.«

Beide schwiegen eine Weile.

»Ihr könnt auf eine schöne Reihe von Jahren zurückschauen?« sagte Carton gedankenvoll.

»Ich stehe im achtundsiebenzigsten.«

»Und seid Euer ganzes Leben über nützlich gewesen, stets beschäftigt, geachtet, ein Mann des Vertrauens?«

»Ich war Geschäftsmann von der Zeit an, daß ich mich als Mann weiß ja, ich könnte fast sagen, von meinen Knabenjahren an.«

»Seht, welch einen Platz Ihr einnehmt im achtundsiebenzigsten. Wie viele Leute werden Euch vermissen, wenn Ihr ihn räumt!«

»Ein unverheirateter alter Mann«, entgegnete Mr. Lorry, den Kopf schüttelnd. »Mir weint niemand nach.«

»Wie mögt Ihr so reden? Wird nicht sie um Euch weinen? Wird es nicht ihr Kind tun?«

»Ja, ja, Gott sei Dank! Ich habe es nicht gerade so gemeint, wie ich es sagte.«

»Das ist wohl eine Sache, für die man Gott dankbar sein darf: meint Ihr nicht?«

»Gewiß, gewiß.«

»Wenn Ihr diesen Abend mit Wahrheit zu Eurem einsamen Herzen sagen müßtet: `Ich habe mir von keinem menschlichen Wesen Liebe und Anhänglichkeit, Dank oder Achtung erworben; ich habe in keinem Herzen Eingang gewonnen und nie etwas Gutes oder Nützliches getan, um dessentwillen man meiner gedenken möchte, meint Ihr nicht, daß Euch dann Eure achtundsiebenzig Jahre achtundsiebenzig schwere Flüche wären?«

»Ihr habt recht, Mr. Carton; ich glaube, sie wären es mir.«

Sydney wandte seine Blicke wieder dem Feuer zu und fuhr nach einer Pause fort:

»Ich möchte Euch noch fragen, ob Euch Eure Kindheit fernab zu liegen scheint. Kommt Euch die Zeit sehr lange vor zwischen heute und jener, als Ihr Euch noch an den Schoß der Mutter anschmiegtet?«

Dieser weicheren Stimmung entsprechend, antwortete Mr. Lorry:

»Vor zwanzig Jahren, ja; aber jetzt nicht mehr. Denn man wandert in einem Kreise, und je näher und näher es dem Ende geht, desto näher und näher rückt man wieder dem Anfang zu. Auf solche Weise wird uns der Weg sanft und eben gemacht. Mein Herz fühlt sich oft bewegt bei Erinnerungen, die lange geschlafen haben; wenn ich zum Beispiel, der ich so alt bin, meiner hübschen jungen Mutter gedenke und mir die Tage vergegenwärtige, in denen das, was wir Welt nennen, nicht so sehr in mir zur Wirklichkeit geworden und meine Fehler nicht so starr mit mir verwachsen waren.«

»Ich verstehe dies Gefühl!« rief Carton, und eine lebhafte Glut überflog sein Antlitz. »Und Ihr empfindet dabei eine sittliche Erhebung?«

»Ich hoffe es.«

Carton brach das Gespräch jetzt ab und stand auf, um dem alten Mann in seinen Mantel zu helfen.

»Aber Ihr«, sagte Mr. Lorry, auf den Gegenstand zurückkommend, »Ihr seid jung.«

»Ja«, versetzte Carton. »Ich bin nicht alt; aber der Weg meiner Jugend war nicht der Weg zum Alter. Genug von mir.«

»Und natürlich von mir auch«, sagte Mr. Lorry. »Wollt Ihr ausgehen?«

»Ich werde Euch bis an ihr Tor begleiten. Ihr kennt meine unstete, unruhige Lebensweise. Laßt es Euch nicht anfechten, wenn ich lange in den Straßen herumstreiche. Ich werde morgen schon wieder zum Vorschein kommen. Geht Ihr morgen in die Gerichtshalle?«

»Ja, leider.«

»Ich werde auch dort sein, aber nur im Gedränge der Zuschauer. Mein Spion wird schon einen Platz für mich auftreiben. Nehmt meinen Arm, Sir.«

Mr. Lorry entsprach der Einladung, und sie gingen miteinander die Treppen hinunter und auf die Straße hinaus. Nach einigen Minuten hatten sie Lorrys Bestimmungsort erreicht. Carton verließ jetzt seinen Begleiter, zögerte aber in einiger Entfernung, kehrte nach dem Torschluß wieder zurück und berührte den Griff.

»Hier ist sie herausgekommen«, sagte er umherschauend, »und diesen Weg hat sie eingeschlagen. Sie muß diese Steine oft betreten haben; ich will ihren Fußstapfen folgen.«

Es war nachts zehn Uhr, als er vor dem Gefängnis La Force an der Stelle stand, wo sie hundertmal gestanden hatte. Ein kleiner Holzspalter, der seinen Schuppen geschlossen hatte, stand rauchend vor seiner Haustür.

»Gute Nacht, Bürger«, sagte Sydney Carton; denn der Mann betrachtete ihn neugierig.

»Gute Nacht, Bürger.«

»Was macht die Republik?«

»Ihr meint die Guillotine? Nie macht’s nicht übel. Dreiundsechzig heute. Wir werden bald zum Hundert aufsteigen. Samson und seine Leute beklagen sich bisweilen über zu viel Arbeit. Ha, ha, ha! Er ist so possierlich, dieser Samson. Welch ein Barbier!«

»Seht Ihr ihn oft «

»Rasieren? Immer. Jeden Tag. Der kann’s. Habt Ihr ihn noch nicht arbeiten sehen?«

»Nein.«

»So geht hin und seht zu, wenn er einen ordentlichen Haufen zu bedienen hat. Macht Euch eine Vorstellung davon, Bürger: er rasierte heute die dreiundsechzig in weniger als zwei Pfeifen. In weniger als zwei Pfeifen auf Ehre.«

Als das grinsende Männlein die Pfeife, die er eben rauchte, ausstreckte, um zu erklären, wie er die Zeit der Hinrichtungen maß, hätte ihn Carton in seiner Entrüstung gerne tot niedergestreckt. Er wandte ihm den Rücken zu.

»Aber Ihr seid kein Engländer, obschon Ihr einen englischen Anzug tragt?« sagte der Holzspalter.

»Doch«, antwortete Carton über seine Schulter zurück.

»Ihr sprecht wie ein Franzose.«

»Ich habe hier studiert.«

»Aha! Ein vollkommener Franzose. Gute Nacht, Engländer.«

»Gute Nacht, Bürger.«

»Aber vergeßt nicht, hinzugehen und den possierlichen Kerl anzusehen«, rief ihm der kleine Mann nach. »Nehmt auch eine Pfeife mit.«

Sobald Sydney ihn aus dem Gesicht verloren hatte, machte er in der Mitte der Straße unter einer flimmernden Laterne halt und schrieb mit dem Bleistift etwas auf einen Papierstreifen. Dann ging er mit dem sicheren Schritte eines Menschen, der seinen Weg gut kennt, durch verschiedene dunkle und schmutzige Gassen sie waren schmutziger als früher, denn selbst die Hauptstraßen blieben in jenen Schreckenstagen ungereinigt und machte vor einem Apothekerladen halt, den der Inhaber eben eigenhändig schließen wollte. Es war ein kleiner, finsterer, winkliger Laden, der in einem krumm und aufwärts verlaufenden Bogengange lag, und die Gestalt des Apothekers stand ganz im Einklang mit seinem Geschäftslokale.

Carton wünschte auch diesem Bürger gute Zeit und legte seinen Papierstreifen auf den Ladentisch.

»Hei!« pfiff der Apotheker leise vor sich hin, als er das Blättchen las. »Hi, hi, hi!«

Sydney Carton achtete nicht darauf. Der Apotheker fragte:

»Für Euch, Bürger?«

»Ja.«

»Ihr werdet aber die Ingredienzien sorgfältig geschieden halten, Bürger? Ihr kennt die Folgen, wenn man sie untereinander bringt?«

»Vollkommen.«

Es wurden einige kleine Pakete gemacht und ihm übergeben. Er steckte eines nach dem andern in die Brusttasche seines inneren Rocks, berichtigte die Forderung des Chemikers und verließ bedächtig den Laden.

»Vor morgen gibt es nichts mehr zu tun«, sagte er, zu dem Mond aufblickend. »Aber ich kann nicht schlafen.«

Diese Worte, die er unter den schnellsegelnden Wolken laut vor sich hin sprach, trugen nicht den Ausdruck eines unbekümmerten oder verdrossenen Wesens, sondern klangen so entschieden, als kämen sie aus dem Munde eines Mannes, der lange irregegangen ist, endlich aber seinen Weg wiedergefunden hat und dessen Ende absieht.

Vor langer Zeit – er zeichnete sich damals noch als hoffnungsvoller Jüngling unter seinen Altersgenossen aus war er seinem Vater zu Grabe gefolgt. Seine Mutter hatte schon einige Jahre früher das Zeitliche gesegnet. Die feierlichen Worte, die bei der Bestattung seines Vaters verlesen wurden, tauchten in seinem Geiste wieder auf, während er, den Mond und die segelnden Wolken hoch über sich, im nächtlichen Schatten die dunkeln Straßen entlang ging. »Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebet und an mich glaubt, wird nimmermehr sterben.«

In einer von dem Beil beherrschten Stadt, in der Einsamkeit der Nacht, bei dem natürlichen Schmerz um die im Laufe des Tages geopferten Leben und bei dem Hinblick auf die in den Gefängnissen schmachtenden Opfer, die morgen, übermorgen und so fort ihr Urteil erwarteten, war die Anknüpfungskette, die jene Worte wie einen rostigen alten Schiffsanker aus der Tiefe herausholte, leicht gefunden. Er hatte sie nicht gesucht, sprach sie aber vor sich hin, als er seiner Wege ging.

Mit einer ernsten Teilnahme für die beleuchteten Fenster, hinter denen Menschen sich zur Ruhe niederlegten, um auf einige Stunden die Schrecken ihrer Umgebung zu vergessen für die Türme der Kirchen, in denen keine Gebete mehr gen Himmel stiegen; denn das Volk war nach dem langen Druck und Trug auch für das Heilige erstorben für die fernen Begräbnisplätze, die, wie die Aufschriften ihrer Tore sagten, nur noch dem ewigen Schlafe dienen sollten für die überfüllten Gefängnisse und für die Straßen, durch die die sechzig einem Tode entgegenfuhren, der so gemein und materiell geworden war, daß aus all dem Arbeiten der Guillotine nicht einmal ein Schauergeschichtchen von einem spukenden Geiste mehr auftauchen mochte kurz, mit einer ernsten, feierlichen Teilnahme für das ganze Leben und Sterben in der Stadt, in deren Wut die Nacht eine kurze Pause machte, ging Sydney Carton wieder über die Seine den helleren Straßen zu.

Es ließen sich nur wenige Kutschen blicken; denn die Benutzung von Kutschen machte verdächtig, und die Vornehmen zogen rote Mützen über ihre Ohren und trabten in groben Schuhen zu Fuß ihrer Wege. Aber die Theater waren gefüllt, und wie er vorbeiging, strömte das Volk lustig heraus und begab sich unter Plaudern nach Haus. An einer der Theatertüren stand ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter und sah sich nach einer leidlichen Übergangsstelle in der schmutzigen Straße um. Er trug das Kind hinüber und ließ sich von ihm, ehe der schüchterne Arm sich von seinem Nacken losmachte, einen Kuß geben.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebt und an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben.«

Die Straßen waren jetzt still, die Nacht rückte vor, und er vernahm die Worte in der Luft, in dem Widerhall seiner Füße. Vollkommen fest und ruhig lieh er ihnen bisweilen selbst einen Laut, indem er sie beim Gehen vor sich hin sprach: aber in seinen Ohren klangen sie stetig.

Auch die Nacht nahm ein Ende, und wie er auf der Brücke stand und auf das Plätschern des Wassers horchte, das die Ufermauern der Insel Paris mit ihrem hell im Mondschein daliegenden malerischen Gewirr von Häusern und Kirchen bespülte, kam der Tag kalt wie das Gesicht einer Leiche am Himmel herauf. Bleich wandte sich die Nacht mit Mond und Sternen ab und verschied; es hatte für eine Weile den Anschein, als sei die Schöpfung der Herrschaft des Todes überliefert.

Aber als die herrliche Sonne aufging, schien sie mit ihren langen, glänzenden Strahlen jene Worte, den Refrain der Nacht, gerade und warm in sein Herz zu bringen. Und mit ehrfurchtsvoll beschatteten Augen ihnen folgend, glaubte er zwischen sich und der Sonne eine Lichtbrücke ausgespannt zu sehen, unter der funkelnd der Fluß dahinströmte.

Der mächtige Strom, so geschwind, so tief, so sicher, nahm sich in der Morgenstille wie ein gleichgestimmter Freund aus. Er ging den Fluß entlang weit über die Häuser hinaus und ließ sich endlich am Ufer von der hellen warmen Sonne in Schlaf lullen. Als er erwachte und wieder aufstand, zögerte er noch eine Weile und sah einem zwecklos sich drehenden Wirbel zu, bis die Strömung ihn mit fortriß und dem Meer« zuführte. »Wie mich!«

Ein Frachtboot mit einem Segel von der gedämpften Farbe des welken Laubes tauchte auf, kam an ihm vorbei und verschwand wieder. Nachdem die Kielspur sich auf dem Wasser verwischt hatte, schloß er das Gebet, das aus den Tiefen seiner Seele um barmherzige Nachsicht mit seiner Blindheit und seinen Verirrungen flehte, mit den Worten: »Ich bin die Auferstehung und das Leben.«

Mr. Lorry war bereits ausgegangen, als er in dessen Wohnung anlangte, und es ließ sich leicht denken, welchen Weg der gute alte Mann eingeschlagen hatte. Sydney Carton genoß nur ein wenig Kaffee und etwas Brot, wusch sich dann, um sich zu erfrischen, und begab sich nach der Gerichtstätte.

Dort war alles schon voll Regsamkeit und Gesumm. Das schwarze Schaf, vor dem viele furchtsam zurückwichen, verhalf ihm in dem Gedränge zu einer dunkeln Ecke. Mr. Lorry war da und Doktor Manette; auch sie war zugegen und saß an der Seite ihres Vaters.

Als ihr Gatte hereingebracht wurde, warf sie ihm einen Blick zu, einen Blick, so kräftigend, so ermunternd, so voll inniger Liebe und zärtlicher Teilnahme, dabei selbst so mutig um seinetwillen, daß er ihm das gesunde Blut ins Gesicht trieb, seine Miene aufhellte und sein Herz neu belebte. Hätte jemand auf den Einfluß geachtet, den jener Blick auf Sydney Carton übte, so würde er an diesem eine gleiche Wirkung wahrgenommen haben.

Jenes ungerechte Tribunal wußte nur wenig oder nichts von Ordnung in seinem Verfahren und war nicht in der Lage zu bewirken, daß ein Angeklagter nur vernünftig angehört wurde. Zu einer solchen Revolution hätte es nie kommen können, wenn nicht alle Gesetze, Formen und Zeremonien früher so kläglich mißbraucht worden wären, daß die selbstmörderische Rache des Umsturzes alles miteinander in die Winde streuen zu dürfen meinte.

Jedes Auge war den Geschworenen zugewendet. Dieselben entschiedenen Patrioten und guten Republikaner wie gestern und vorgestern, wie morgen und übermorgen. Unter ihnen ragte ein Mann hervor mit einem hungrigen Gesicht und einem stetigen Fingerspiel vor seinen Lippen; sein Anblick bereitete den Zuschauern große Befriedigung. Ein nach Leben lechzender, kannibalisch aussehender, blutdürstiger Geschworner, der Jacques Drei von Saint Antoine. Das ganze Schwurgericht glich einer Jury von Hunden, zusammengebracht, um das Reh zu richten.

Jedes Auge suchte nun die fünf Richter und den öffentlichen Ankläger auf. Von dieser Seite her war heute nichts Gutes zu hoffen; die Sache schien schon zum voraus schnöde, unerbittlich und mörderisch abgetan zu sein. Dann wandten sich diese Augen anderen im Gedränge zu und funkelten beifällig danach hin; und Köpfe winkten einander nickend, ehe sie in die Haltung gespannter Aufmerksamkeit übergingen.

Charles Evrémonde, genannt Darnay. Gestern in Freiheit gesetzt; gestern wieder angeklagt und aufs neue verhaftet. Anklageakte ihm gestern abend zugefertigt. Verdächtig und angeklagt als Feind der Republik, Aristokrat, Angehöriger einer Familie von Tyrannen, einer geächteten Rasse, die ihre jetzt abgeschafften Vorrechte zur schändlichen Bedrückung des Volkes mißbraucht hatte. Charles Evrémonde, genannt Darnay, kraft jener Ächtung absolut tot vor dem Gesetz.

Dies, oder vielleicht in noch kürzerer Fassung, der Vortrag des öffentlichen Anklägers.

Der Präsident fragte, ob der Angeschuldigte öffentlich oder im geheim angezeigt worden sei.

»Öffentlich, Präsident.«

»Von wem?«

»Von drei Personen. Ernst Defarge, Weinschenk in Saint Antoine.«

»Gut.«

»Therese Defarge, sein Weib.«

»Gut.«

»Alexander Manette, Arzt.«

Ein großes Getümmel brach jetzt in dem Gerichtshofe los, und mitten in demselben sah man Doktor Manette blaß und zitternd von seinem Sitze sich erheben.

»Präsident, ich erkläre Euch voll Entrüstung, daß dies Betrug und Fälschung ist. Ihr wißt, der Angeklagte ist der Gatte meiner Tochter. Meine Tochter und diejenigen, die ihr teuer sind, achte ich höher als mein Leben. Wo und wer ist der falsche Verschwörer, der sagt, ich klage den Gatten meines Kindes an?«

»Bürger Manette, seid ruhig. Wenn Ihr es an Unterwürfigkeit gegen das Gericht fehlen ließet, würdet Ihr selbst dem Gesetze verfallen. Und wenn Ihr etwas höher achtet als Euer Leben, so kann einem guten Bürger nichts so teuer sein wie die Republik.«

Lauter Zuruf zollte diesem Verweis Beifall. Der Präsident rührte die Klingel und fuhr mit Wärme fort:

»Wenn die Republik von Euch Euer Kind selbst verlangen sollte, so wäre es Eure heiligste Pflicht, es zum Opfer zu bringen. Hört, was kommen wird, und verhaltet Euch inzwischen still.«

Abermals tobender Beifallsruf. Doktor Manette setzte sich: seine Lippen bebten, und seine Augen schauten umher, während er seine Tochter inniger an sich zog. Der hungrige Mann unter den Geschworenen rieb sich die Hände und fuhr mit den Fingern wieder nach seinem Munde.

Sobald es im Gerichtssaale ruhig genug geworden war, um jemanden verhören zu können, wurde Defarge vorgeladen. Er erzählte in Kürze die Geschichte der Gefangennehmung des Doktors, bei dem er als bloßer Knabe in Dienst gestanden, wie derselbe endlich befreit und in welchem Zustande er ihm überliefert worden. Darauf folgte ein kurzes Verhör, denn der Gerichtshof machte rasche Arbeit.

»Ihr habt bei der Erstürmung der Bastille gute Dienste geleistet, Bürger?«

»Ich glaube es.«

Aus dem Gedränge ließ sich jetzt ein aufgeregtes Weib mit kreischender Stimme vernehmen:

»Ihr seid an jenem Tage einer der besten Patrioten gewesen. Warum sagt Ihr dies nicht? Ihr seid an der Kanone gestanden und waret unter den ersten Stürmenden, als die fluchwürdige Veste fiel. Patrioten, ich spreche die Wahrheit!«

Es war die Rache, die unter warmen Lobeserhebungen der Zuhörer in solcher Weise die Verhandlung zu fördern suchte. Der Präsident rührte die Klingel; aber die Rache war durch den gespendeten Beifall warm geworden und rief aufs neue: »Ich frage nichts nach Eurer Klingel!« eine Erklärung, die ihr einen neuen Beifallssturm eintrug.

»Erzählt dem Gerichtshof, was Ihr an jenem Tage in der Bastille getan habt, Bürger.«

»Ich wußte«, sagte Defarge, auf sein Weib nieder schauend, das am Fuße des Gerüstes stand, auf dem er seine Angaben machte, und kein Auge von ihm verwandte, »ich wußte, daß der Gefangene, von dem ich spreche, in der Zelle Hundertundfünf, Nordturm, eingesperrt gewesen war. Ich hatte dies aus seinem eigenen Munde. Ja, er kannte sich nur unter dem Namen Hundertundfünf, Nordturm, als er unter meiner Obhut Schuhe machte. Während ich an jenem Tage mein Geschütz bediente, faßte ich den Entschluß, wenn die Veste fiele, jene Zelle zu untersuchen. Sie wurde erstürmt. Ich steige, von einem Gefängniswärter geführt, mit einem Mitbürger, der dort unter den Geschworenen sitzt, nach der Zelle hinauf und stelle sorgfältige Nachforschungen an. In einem Kaminloch, in das ein ausgebrochener Stein wieder eingesetzt ist, finde ich ein beschriebenes Papier. Hier ist es. Ich habe mir’s angelegen sein lassen, mir einige Proben von Doktor Manettes Handschrift zu verschaffen. Dies ist von Doktor Manette geschrieben. Ich übergebe hiermit die eigenhändige Schrift des Doktor Manette dem Präsidenten.«

»Man lese sie vor.«

Es trat eine Totenstille ein. Der Angeklagte warf einen liebevollen Blick auf Lucie, die den ihrigen nur von ihm abwandte, um ängstlich auf ihren Vater zu schauen. Der Doktor verwandte kein Auge von dem Vorleser; Madame Defarge hielt ihren Blick auf den Gefangenen geheftet, und Defarges Auge haftete wie festgebannt auf seinem sich an dem Schauspiel weidenden Weibe. Die Blicke aller andern waren dem Doktor zugekehrt, der aber keinen Sinn für seine übrige Umgebung hatte. Die Schrift lautete, wie folgt.

Zehntes Kapitel. Der Körper des Schattens.


Zehntes Kapitel. Der Körper des Schattens.

»Ich, Alexander Manette, ein unglücklicher Arzt, gebürtig von Beauvais und später seßhaft in Paris, schreibe diesen Jammerbericht in einer schauerlichen Zelle der Bastille während des letzten Monats im Jahre 1767. Ich schreibe daran in verstohlenen Zwischenräumen und unter allen möglichen Erschwernissen. Die Schrift soll in der Kaminwand verborgen werden, in die ich langsam und mühevoll einen Versteck gearbeitet habe; vielleicht findet sie eine mitleidige Hand, wenn ich mit meinem Schmerz in Staub verfallen bin.

Die Worte sind im letzten Monate des zehnten Jahres meiner Gefangenschaft mit einem rostigen Nagel geschrieben und nur mit Mühe hingekritzelt. Als Tinte dienten mir Ruß und Kohle aus dem Kamin, die ich mit meinem Blute mischte. Die Hoffnung ist aus meiner Brust entschwunden. Ich weiß aus den schrecklichen Anzeichen, die ich schon an mir wahrgenommen habe, daß meine Vernunft nicht viel länger standhalten wird, erkläre aber feierlich, daß ich zur Zeit noch im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte bin, daß mein Gedächtnis mir treu ist bis ins einzelne und daß ich die Wahrheit schreibe, wie ich sie vertreten werde vor dem ewigen Richterstuhle, ob nun die Geschichte meiner Leiden je vor Menschenaugen kommen möge oder nicht.

An einem wolkigen, aber doch mondhellen Abend in der dritten Woche des Dezembers 1757 (ich glaube, es war der zweiundzwanzigste dieses Monats) erging ich mich an einem abgelegenen Punkte des Seine-Kais (er war fast eine Stunde von meiner Wohnung in der Straße der medizinischen Schule), um mich in der kalten Luft zu erfrischen. Da kam rasch eine Kutsche hinter mir hergefahren. Während ich in der Furcht, überfahren zu werden, beiseite trat und die Kutsche an mir vorbeilassen wollte, sah ein Kopf zu dem Fenster heraus und gebot dem Kutscher haltzumachen.

Der Mann hielt die Pferde an, und dieselbe Stimme rief nun meinen Namen. Ich antwortete. Der Wagen war so weit über mich hinausgefahren, daß zwei Herren Zeit hatten, den Schlag zu öffnen und auszusteigen, bis ich nachkam. Ich bemerkte, daß beide in Mäntel gehüllt waren und augenscheinlich sich vermummt halten wollten. Während sie Seite an Seite neben der Kutsche standen, bemerkte ich ferner, daß sie ungefähr von meinem Alter, vielleicht etwas jünger waren; auch schienen sie, soweit ich unterscheiden konnte, in Größe, Haltung, Stimme und Gesicht einander sehr ähnlich zu sein.

»Ihr seid der Doktor Manette?« sagte der eine.

»Ja.«

»Doktor Manette, früher in Beauvais«, ergriff der andere das Wort, »der junge Arzt, ursprünglich ein geschickter Chirurg, der in den letzten paar Jahren sich in Paris einen schönen Ruf errungen hat?«

»Meine Herren«, entgegnete ich, »ich bin der Doktor Manette, von dem ihr eine so vorteilhafte Meinung hegt.«

»Wir sind in Eurer Wohnung gewesen«, sagte der erste, »wo wir nicht so glücklich waren, Euch zu treffen. Man sagte uns, Ihr werdet wahrscheinlich in dieser Gegend zu finden sein, und so fuhren wir Euch nach in der Hoffnung, Euch einzuholen. Wollt Ihr so gut sein, in den Wagen zu steigen?«

Das Benehmen der beiden war gebieterisch, und sie nahmen, während sie sprachen, eine Stellung, daß sie mich zwischen sich und den Kutschenschlag brachten; auch führten sie Waffen, während ich unbewehrt war.

»Meine Herren, entschuldigt«, versetzte ich, »aber ich pflege zuerst zu fragen, wer mir die Ehre erweist, meinen Beistand zu suchen, und aus welchem Grunde ich gerufen werde.«

Die Antwort erfolgte aus dem Munde des zweiten Sprechers. »Doktor, Eure Klienten sind Personen von Stand. Was die Beschaffenheit des Falles betrifft, so gibt uns unser Vertrauen in Eure Geschicklichkeit die Versicherung, daß Ihr dies selbst besser werdet beurteilen können, als wir es zu beschreiben vermöchten. Genug. Wollt Ihr so gut sein, einzusteigen?«

Was konnte ich tun? Ich entsprach schweigend der Aufforderung. Die beiden kamen nach, der letzte mit einem Sprung, nachdem er den Tritt hinaufgeschlagen hatte; der Wagen wandte um und fuhr mit der früheren Eile von hinnen.

Ich wiederhole dieses Gespräch genau so, wie es stattgefunden hat, und zweifle nicht daran, daß ich es Wort für Wort wiedergegeben habe. Was vorgefallen ist, zeichne ich mit der größten Genauigkeit auf, und ich gebe mir angelegentlich Mühe, meinen Geist nicht von den Tatsachen abschweifen zu lassen. Wenn ich solche abgebrochenen Bemerkungen mache, so höre ich für den Augenblick auf und verwahre mein Papier in seinem Versteck.

Der Wagen verließ die Stadt an der Nordbarriere und fuhr auf der Landstraße weiter. Dreiviertel Stunden von der Barriere ich schätzte die Entfernung damals nicht, sondern erst später, als ich sie wieder zurücklegte lenkten wir von dem Hauptwege ab und machten bald vor einem einsamen Hause halt. Wir stiegen alle drei aus und gingen auf einem feuchten weichen Fußpfade durch einen Garten, in dem ein vernachlässigtes Springbrunnenbecken übergelaufen war, nach der Haustür. Sie wurde auf das Klingeln nicht sogleich geöffnet, und einer von meinen beiden Führern schlug den Mann, der endlich aufmachte, mit der Reitpeitsche über das Gesicht.

Es lag nichts in dieser Handlung, was mir besonders auffallen konnte, denn es war an der Tagesordnung, daß man einfache Leute ärger als Hunde behandelte. Der andere von den beiden, der auch zornig war, schlug den Mann in gleicher Weise mit der Hand; der Blick und die Haltung der Brüder zeigte bei jener Gelegenheit eine so große Ähnlichkeit, daß ich jetzt zum erstenmal bemerkte, sie seien Zwillingsbrüder.

Von der Zeit unseres Aussteigens am äußeren Tor an, das wir verschlossen gefunden und das von einem der Brüder geöffnet und wieder geschlossen wurde, hatte ich von einem oberen Gemach her schreien hören. Man führte mich geradewegs nach diesem Zimmer; das Geschrei wurde beim Hinaufsteigen immer lauter, und ich fand einen Patienten, der an einem Fieber mit heftigen Phantasiedelirien darniederlag.

Der Patient war ein junges Frauenzimmer von großer Schönheit, augenscheinlich nicht viel über zwanzig. Sie hatte ein wild zerrauftes Haar, und die Arme waren ihr mit Schärpen und Taschentüchern an den Leib gebunden. Ich bemerkte, daß diese Bande lauter Stücke von einem Herrenanzug waren. An einem derselben, einer Galaschärpe mit Fransen, sah ich das Wappen eines Adeligen und den Buchstaben E.

Dies war mir schon in der ersten Minute meiner Krankenuntersuchung aufgefallen; denn bei ihrem unruhigen Umherwerfen hatte die Patientin das Gesicht über den Rand des Bettes hinausgebracht und das Schärpenende im Munde nachgezogen, so daß sie zu ersticken drohte. Ich sorgte zuerst dafür, ihren Atem zu befreien, und als ich die Schärpe beiseite zog, fiel sogleich die Stickerei in der Ecke auf.

Ich rückte sie sanft ins Bett zurück, legte, um sie zu beruhigen und niederzuhalten, meine Hände auf ihre Brust und sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen traten wild aus ihren Höhlen hervor, und sie schrie ohne Unterlaß in durchbohrenden Lauten, wobei sie häufig die Worte wiederholte: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder! Dann zählte sie bis zwölf und sagte: Pst! Sie lauschte einen Augenblick, und dann kam das zeternde Geschrei wieder, der Ruf: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder‘, das Zählen und das Pst! So ging es fort ohne eine Abwechslung in der Art oder Ordnung kein Nachlassen als die regelmäßige augenblickliche Pause, ehe das Geschrei wieder von neuem anfing. ›Wie lange dauert dies schon?‹ fragte ich.

Um die Brüder zu unterscheiden, will ich den einen den Älteren und den andern den Jüngeren nennen; unter dem Älteren meine ich den, der die meiste Autorität übte. Dieser antwortete denn auch:

›Seit gestern abend um diese Zeit.‹

›Sie hat einen Mann, einen Vater und einen Bruder?‹

›Einen Bruder.‹

›Spreche ich vielleicht mit ihm?‹

Die Antwort war ein verächtliches Nein.

›Was hat sie in letzter Zeit mit der Zahl zwölf zu schaffen gehabt?

›Mit der Zahl zwölf? erwiderte ungeduldig der jüngere Bruder.

›Ihr seht, meine Herren‹, sagte ich, ohne meine Hände von der Brust der Kranken zu entfernen, wie nutzlos ich bin, nun ihr mich hierhergebracht habt. Hätte ich gewußt, um was sich’s handelt, so hätte ich mich vorsehen können; wie es aber jetzt steht, geht viele Zeit verloren. An diesem einsamen Platz sind keine Arzneien zu haben.

Der ältere Bruder sah den jüngeren an, der stolz erwiderte, es sei eine Hausapotheke hier. Er holte sie aus einem Kabinett herbei und stellte das Kistchen auf den Tisch.

Ich öffnete einige von den Flaschen, roch daran und brachte die Stöpsel an meine Lippen. Ich würde nichts davon in Verwendung genommen haben, wenn ich nicht einige narkotische Mittel gebraucht hätte, die ohnehin giftig sind.

›Traut Ihr ihnen nicht?‹ fragte der jüngere Bruder.

›Ihr seht, mein Herr, daß ich sie anzuwenden im Begriff bin, entgegnete ich, ohne etwas Weiteres beizufügen.

Mit Mühe gelang es mir endlich, die Kranke zu bewegen, daß sie die Dosis verschluckte, die ich ihr zu geben wünschte. Da ich sie nach einer Weile zu wiederholen beabsichtigte und es nötig war, ihre Wirkung zu beobachten, so setzte ich mich neben dem Bette nieder. Im Zimmer befand sich eine stille schüchterne Frauensperson, das Weib des unten wohnenden Mannes, die sich in eine Ecke zurückgezogen hatte. Das Haus war feucht und baufällig, ganz gewöhnlich möbliert und augenscheinlich erst seit neuerer Zeit bewohnt. Man hatte einige alte dicke Behänge vor die Fenster genagelt, um das Geschrei zu dämpfen. Letzteres währte im regelmäßigen Wechsel mit dem Rufe: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder, dem Zwölfzählen und dem darauf folgenden Pst fort. Das Phantasieren war so ungestüm, daß ich die Bande um die Arme nicht entfernen mochte, obschon ich Sorge dafür trug, daß sie ihr nicht weh taten. Den einzigen Funken von Hoffnung sah ich in dem Umstand, daß meine Hand, die ich auf der Brust der Kranken ruhen ließ, auf diese einen beschwichtigenden Einfluß übte und für Minuten wenigstens das wilde Umherwerfen bändigte. Das Schreien aber machte ungestört fort; kein Pendel hätte regelmäßiger sein können. Da, wie ich vermutete, meine Hand eine so günstige Wirkung übte, so blieb ich wohl eine halbe Stunde an dem Bette sitzen, während die beiden Brüder zusahen. Endlich sagte der ältere:

›Es ist noch ein Patient da.‹

Ich wurde betroffen und fragte, ob es ein dringlicher Fall sei.

›Es wird am besten sein, wenn Ihr selbst nachseht‹, antwortete er gleichgültig, indem er ein Licht aufnahm. *****

Der andere Patient lag eine Treppe höher in einer Hinterstube, und ich wurde dahin durch eine Art Bühne über dem Stall geführt, die teilweise eine niedrige gegipste Decke hatte, während seitlich sich das Ziegeldach mit seinem Sparren- und Balkenwerk anlegte. Es lag Heu und Stroh, auch Reisig hier aufgehäuft; desgleichen bemerkte ich einen Haufen Äpfel auf Sand. Ich mußte über diesen Teil der Bühne gehen, um zu dem andern zu gelangen. Mein Gedächtnis ist nicht erschüttert und erinnert sich der kleinsten Umstände; ich ersehe dies daran, daß hier in der Bastille, in meiner Zelle, nach fast zehnjähriger Gefangenschaft alle jene Einzelheiten noch so deutlich vor mir stehen, wie ich sie an jenem Abend sah.

Auf einem am Boden ausgebreiteten Heuhaufen lag, ein Kissen unter dem Kopf, ein schöner Bauernbursche, der höchstens siebzehn Jahre zählen mochte. Er lag auf dem Rücken, seine Zähne waren verbissen, die Rechte hielt er fest an seine Brust gedrückt, und seine wild funkelnden Augen starrten nach der Decke hinauf. Als ich mich neben ihm aufs Knie niederließ, konnte ich nicht sehen, wo er verletzt war; so viel aber wurde mir klar, daß er an einer Stichwunde rasch dahinstarb.

›Ich bin ein Arzt, mein armer Bursche‹, sagte ich zu ihm; ›laß mich dich untersuchen.

›Brauche keine Untersuchung‹, antwortete er. ›Laßt’s nur gehen.

Die Wunde befand sich unter seiner Hand, und ich brachte ihn so weit, daß er mich sie wegnehmen ließ. Die Verletzung rührte von einem Degenstoße her, den er vor etwa zwanzig oder vierundzwanzig Stunden empfangen haben mochte. Aber keine Geschicklichkeit hätte ihn retten können, selbst wenn augenblicklich Hilfe aufgeboten worden wäre. Er lag im Sterben. Als ich meine Blicke dem älteren Bruder zuwandte, der mich heraufbegleitet hatte, bemerkte ich, daß er auf den schönen Jungen, der so bald von dem Leben scheiden sollte, niederschaute, als sei derselbe nur ein verwundeter Vogel, ein Hase oder ein Kaninchen, nicht aber ein Mitmensch.

›Wie ging dies zu, Herr?‹ fragte ich.

›Ein verrückter, gemeiner junger Hund! Ein Leibeigener! Zwang meinen Bruder, gegen ihn zu ziehen, und fiel durch meines Bruders Degen wie ein Kavalier.

Es lag keine Spur von Mitleid, Bedauern oder einem verwandten menschlichen Gefühl in dieser Antwort. Der Sprecher schien nur anzuerkennen, daß es unbequem sei, wenn diese ganz andere Art von Wesen hier ende, und es viel besser sein würde, wenn er in der gewöhnlichen dunkeln Weise seines Wurmlebens hinstürbe. Einer Teilnahme für den Knaben oder sein Schicksal war er ganz unfähig. Während er sprach, hatten sich die Augen des jungen Menschen langsam auf ihn geheftet; dann aber wandten sie sich mir zu.

›Doktor, sie sind sehr stolz, diese Adligen; aber wir gemeinen Hunde sind bisweilen auch stolz. Sie plündern und beschimpfen uns, schlagen uns und bringen uns um; aber mitunter regt sich doch ein bißchen Ehrgefühl in uns. Sie Ihr habt sie gesehen, Doktor?

Das Geschrei war auch hier hörbar, obschon durch die Entfernung gedämpft; er bezog sich darauf, als ob die Kranke mit im Zimmer liege.

Ich antwortete ihm, daß ich sie gesehen habe.

›Sie ist meine Schwester. Diese Adligen haben ein verjährtes schändliches Recht auf die Zucht und die Tugend unserer Schwestern; aber es gibt auch wackere Mädchen unter uns. Ich weiß es und habe meinen Vater davon sprechen hören. Sie war ein braves Mädchen. Sie heiratete einen braven jungen Mann einen Grundholden 3 von ihm. Wir sind lauter Leibeigene dieses Mannes da, der hier steht. Der andere ist sein Bruder, der schlimmste aus einer schlimmen Sippschaft.

Der junge Mensch brachte nur mit Mühe die Worte hervor, da es ihm an körperlicher Kraft gebrach; aber sein Geist sprach mit einem furchtbaren Nachdruck.

›Wir sind diesen höheren Wesen gegenüber nur gemeine Hunde, und der Mann, der hier steht, beraubte uns nach Belieben, besteuerte uns ohne Erbarmen und zwang uns, für ihn zu arbeiten ohne Lohn; wir mußten Korn auf seiner Mühle mahlen, seine zahmen Vögel in Scharen auf unsern ärmlichen Feldern ernähren und durften unter Todesbedrohung keinen einzigen zahmen Vogel selbst halten. Dem Raub und der Plünderung in aller Weise ausgesetzt, aßen wir den Bissen Fleisch, den wir zufällig erhielten, hinter verschlossenen Türen und Läden, aus Furcht, seine Leute könnten ihn sehen und uns wegnehmen. Ja, so sehr sind wir armen Leute Bedrängnissen aller Art ausgesetzt, daß unser Vater uns sagte, es sei etwas Schreckliches, wenn uns ein Kind geboren werde, und wir sollen hauptsächlich darum beten, daß unsere Weiber unfruchtbar bleiben und unser armseliges Geschlecht aussterbe.

Ich hatte nie zuvor das Gefühl der Bedrückung in so heller Lohe aufflackern sehen. Wohl dachte ich mir, es müsse irgendwo im verborgenen glühen; aber zur Anschauung kam es mir nie, bis ich jenen sterbenden Knaben sah.

›Gleichwohl heiratete meine Schwester, Doktor. Ihr Liebhaber war um jene Zeit krank, und sie heiratete den armen Burschen, um ihn gemächlich in unserer Hütte unserm Hundestall, wie sie dieser Mann nennt pflegen zu können. Sie war noch nicht viele Wochen verheiratet, als der Bruder dieses Mannes sie sah, einen Gefallen an ihr fand und von diesem Mann verlangte, daß er sie ihm borge denn was gelten Ehemänner unter uns? Er war krank und schwach; aber meine Schwester war brav und tugendhaft und haßte seinen Bruder mit ebenso bitterem Haß wie ich. Was taten nun die zwei, um ihren Mann zu überreden, daß er seinen Einfluß auf sie übe und sie willig mache?

Die Augen des jungen Menschen, die bisher auf mir gehaftet hatten, wandten sich nun langsam dem Zuschauer zu, und ich las in den beiden Gesichtern, daß die Wahrheit gesprochen worden war. Ich kann mir selbst in der Bastille noch die verschiedenen Arten von Stolz vergegenwärtigen, die sich hier begegneten der Herr voll nachlässiger Gleichgültigkeit, der Bauer mit seinen in den Staub getretenen Gefühlen voll leidenschaftlicher Rachsucht.

›Ihr wißt, Doktor, daß es zu den Rechten dieser Adligen gehört, uns gemeine Hunde in den Karren zu spannen und auf uns loszupeitschen. Sie spannten ihn ein und ließen ihn die Peitsche fühlen. Ihr wißt, daß sie das Recht haben, uns die ganze Nacht durch auf ihren Feldern festzuhalten, wo wir die Frösche zum Schweigen bringen müssen, damit ihr edler Schlaf nicht gestört werde. Sie schickten ihn nachts hinaus in den ungesunden Nebel und ließen ihn bei Tag im Karren ziehen. Er wollte sich aber nicht bereden lassen. Nein! Eines Mittags aus dem Geschirr genommen, um sich abzufüttern, wenn er anders Nahrung finden konnte, schluchzte er zwölfmal einmal bei jedem Schlag der Glocke und starb an ihrer Brust.

(Kein menschliches Mittel hätte den armen Jungen so lange am Leben erhalten können; aber der Wunsch, all das erlittene Unrecht zu offenbaren, hielt ihn aufrecht. Er drängte die nahenden Schatten des Todes zurück, wie er seine Faust zwang, zusammengeballt zu bleiben und seine Wunde zu decken.)

›Dann nahm mit Erlaubnis und unter Beihilfe dieses Mannes sein Bruder sie weg trotz dem, was sie, wie ich weiß, seinem Bruder gesagt haben muß und was Euch nicht lange unbekannt bleiben wird, wenn Ihr nicht etwa jetzt schon davon Kunde habt nahm sein Bruder sie weg auf eine kurze Weile zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung. Ich sah sie auf der Straße an mir vorbeikommen. Als ich mit der Nachricht zu Hause anlangte, brach unserm Vater das Herz. Er vermochte nicht mehr zu sprechen, wie schwer ihm die Worte auch auf der Seele lagen. Ich schaffte meine jüngere Schwester (denn ich hatte noch eine) nach einem Platz, wo ihr dieser Mann nicht mehr beikommen kann; sie wenigstens wird nimmer seine Leibeigene sein. Dann folgte ich seinem Bruder hierher und kletterte gestern nacht herein wohl ein gemeiner Hund, aber mit einem Säbel in der Hand. Wo ist das Bühnenfenster? Es war hier irgendwo.

Das Gemach verdunkelte sich vor seinen Blicken: die Welt schloß sich immer enger vor ihm ab. Ich schaute umher und bemerkte, daß das Heu und Stroh in einer Weise niedergetreten war, als habe hier ein Kampf stattgefunden.

›Sie hörte mich und kam herbei. Ich sagte ihr, sie solle sich fernhalten, bis er tot sei. Er kam herein und warf mir anfangs einige Geldstücke zu; dann schlug er mich mit einer Peitsche. Aber ich, obschon ein gemeiner Hund, drang dermaßen auf ihn ein, daß er vom Leder zog. Mag er den Degen, den er mit meinem gemeinen Blut befleckte, in so viele Stücke zerbrechen, wie er will; er zog ihn, sich zu verteidigen, und brauchte alle seine Geschicklichkeit, um sein Leben zu schirmen.

(Mein Blick war einige Augenblicke vorher auf die Teile eines zerbrochenen Edelmannsdegens gefallen, die auf dem Heu lagen. An einer andern Stelle bemerkte ich einen alten Säbel, der einem Soldaten gehört haben mochte.)

›Helft mir auf, Doktor; helft mir auf. Wo ist er?‹

›Er ist nicht hier‹, sagte ich, den Knaben unterstützend, in der Meinung, daß seine Frage sich auf den Bruder beziehe.

›Ha! So stolz diese Adligen sind, fürchtet er sich doch, mich zu sehen. Wo ist der Mann, der hier war? Wendet mein Gesicht gegen ihn.

Ich tat so, indem ich den Kopf des Knaben mit meinem Knie unterstützte. Aber er fühlte für einen Augenblick eine außerordentliche Kraft und richtete sich vollständig auf, so daß auch ich mich erheben mußte, wenn ich ihn nicht ganz sich selbst überlassen wollte.

›Marquis‹, sagte der Knabe, die großen Augen auf ihn gerichtet und die Rechte erhoben, es kommt ein Tag, an dem für alle diese Dinge Rechenschaft abgelegt werden muß, und ich lade dann Euch bis auf den letzten Eures schändlichen Geschlechtes vor. Rede zu stehen für Eure Untaten. Und für die Tage, da Rechenschaft abgelegt werden muß für alle diese Dinge, lade ich Euren Bruder vor, den schlimmsten eures schlimmen Geschlechtes, daß er noch besonders sich dafür verantworte. Ich mache mit meinem Blut das Kreuz über ihn zum Zeichen, daß ich ihn vor Gottes Gericht verklagt habe.

Er langte zweimal mit der Hand in seine Brustwunde und machte mit dem Zeigefinger ein Kreuz in die Luft. So blieb er mit ausgestrecktem Finger noch einen Augenblick stehen; und als die Hand sank, brach auch er zusammen. Ich legte ihn tot auf die Streu nieder.

*

Als ich an das Lager des jungen Weibes zurückkehrte, fand ich sie ganz in ihrem alten Zustand. Ich wußte, daß dieses Rasen noch viele Stunden anhalten konnte und wahrscheinlich nur mit der Stille des Grabes endigte.

Ich gab ihr wieder Arznei und blieb bis tief in die Nacht hinein neben ihr sitzen. Das Geschrei war so durchbohrend wie immer, und auch in der Bestimmtheit und in der Ordnung der Worte trat kein Wechsel ein. Sie lauteten stetig: ›Mein Mann, mein Vater und mein Bruder! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf. Pst!

Dies währte von der Zeit meiner ersten Ankunft an sechsundzwanzig Stunden. Ich hatte mich zweimal entfernt, war wiedergekommen und saß neben ihr, als sie zu stottern begann. Ich tat das wenige, was sich tun ließ, um dieses Ermatten der Delirien zu unterstützen, und allmählich versank sie in eine Schlafsucht, in der sie wie eine Tote dalag.

Es war, als habe nach einem langen und furchtbaren Ungewitter der Sturm und der Regen endlich nachgelassen. Ich machte ihre Arme los und rief die Frau im Hause herbei, daß sie mir helfe, den Körper und die zerrissenen Kleider der Kranken in Ordnung zu bringen. Nun entdeckte ich erst, daß sich mit ihrem Zustand die Merkmale der werdenden Mutterschaft verbanden, und die kleine Hoffnung, die ich für die Kranke hegte, schwand mit dieser Wahrnehmung vollends.

›Ist sie tot?‹ fragte der Marquis, den ich noch immer als den älteren Bruder bezeichnen will, als er von einem Ausritt zurück gestiefelt in das Zimmer kam.

›Nicht tot, aber im Sterben‹, versetzte ich.

›Welche Kraft doch in diesen gemeinen Leibern liegt!‹ sagte er, wie mit Neugier auf sie niederschauend.

›Allerdings liegt eine wunderbare Kraft im Schmerz und in der Verzweiflung‹, entgegnete ich.

Anfangs lachte er über meine Worte; dann aber machte er ein finsteres Gesicht. Er rückte mit seinem Fuß einen Stuhl in die Nähe des meinigen, hieß dann die Frau fortgehen und sprach mit gedämpfter Stimme:

›Doktor, als ich fand, daß mein Bruder mit diesem Pack in Ungelegenheit gekommen war, forderte ich, daß man Euren Beistand aufbiete. Ihr habt einen Ruf und könnt es als junger Mann zu etwas bringen, wenn Ihr auf Euer Interesse Bedacht nehmt. Dinge, wie Ihr sie hier gesehen habt, sieht man, ohne davon zu sprechen.

Ich hörte auf den Atem der Patientin und umging so eine Antwort.

›Erweist Ihr mir die Ehre Eurer Aufmerksamkeit, Doktor?‹

›Monsieur‹, erwiderte ich, ›in meinem Beruf stehen die Mitteilungen von Patienten stets unter dem Siegel des Vertrauens.‹ Ich war vorsichtig in meiner Antwort; denn was ich gesehen und gehört, hatte meinen Geist tief erschüttert.

Ihr Atem ging so unmerklich, daß ich sorgfältig ihren Puls und Herzschlag untersuchte. Leben war noch da, aber kaum fühlbar. Als ich meinen Sitz wieder einnahm und mich umsah, bemerkte ich, daß die Brüder kein Auge von mir verwandten.

*

Das Schreiben wird mir schwer. Es ist so kalt, und eine Entdeckung würde mich einer unterirdischen Zelle und gänzlicher Finsternis überantworten. Ich muß daher aus Furcht vor diesem Schicksal meine Erzählung abkürzen. Mein Gedächtnis ist treu und frei von aller Verwirrung; ich kann mir jedes Wort, das zwischen mir und diesen Brüdern fiel, mit allen Einzelheiten vergegenwärtigen.

Sie trieb es noch eine Woche. Gegen das Ende konnte ich einige Silben, die sie zu mir sagte, verstehen, wenn ich mein Ohr dicht an ihre Lippen hielt. Sie fragte mich, wo sie sei – ich sagte es ihr, – wer ich wäre: auch darüber gab ich ihr Auskunft. Vergeblich erkundigte ich mich nach ihrem Familiennamen; sie schüttelte matt den Kopf auf ihrem Kissen und bewahrte ihr Geheimnis, wie es der Knabe getan hatte.

Ich fand keine Gelegenheit, ihr Fragen vorzulegen, bis ich den Brüdern sagte, daß es rasch mit ihr zu Ende gehe und sie keinen Tag mehr leben werde. Bis dahin hatte, wenn ich da war, stets einer von ihnen argwöhnisch hinter dem Vorhang zu den Häupten des Bettes gesessen, ohne sich übrigens der Kranken bemerklich zu machen, die nur von meiner und der Frau Anwesenheit Kunde hatte. Nachdem es so weit gekommen war, schien es ihnen gleichgültig zu werden, was sie mir sagen mochte, als ob sie der Gedanke ging mir durch den Sinn auch mich zu den Sterbenden zählten.

Ich bemerkte stets, wie bitter empfindlich es ihr Stolz nahm, wenn es ruchbar werden sollte, daß der jüngere Bruder, wie ich ihn nenne, seinen Degen mit einem Bauern, der noch obendrein nur ein Knabe war, gekreuzt habe. Das Lächerliche und für die Familie Herabwürdigende dieses Vorfalls schien allein für sie von Gewicht zu sein. Ich begegnete oft den Augen des jüngeren Bruders und las darin tiefen Widerwillen gegen mich, weil er wußte, was der junge Mensch in meiner Gegenwart gesprochen hatte. Dies entging mir nicht, obschon er sich glatter und höflicher gegen mich benahm als der ältere. Aber auch dieser sah in mir unverkennbar eine Last.

Meine Kranke starb zwei Stunden vor Mitternacht – meiner Uhr nach fast in derselben Minute, in der ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Ich war allein bei ihr, als das unglückliche junge Wesen sanft an meiner Seite niedersank und all ihr Erdenleiden ein Ende nahm.

Die beiden Brüder warteten in einem unteren Zimmer ungeduldig, da sie fortreiten wollten. Ich hatte, während ich neben der Sterbenden saß, gehört, wie sie mit ihren Reitpeitschen an ihre Stiefel schlugen und im Zimmer auf und ab gingen.

»Ist sie endlich tot?« fragte der ältere, als ich zu ihnen kam.

»Sie ist tot«, lautete meine Antwort.

»Ich gratuliere dir, Bruder«, sagte er und wandte sich um.

Er hatte mir schon früher Geld angeboten, das ich vorläufig ablehnte. Jetzt gab er mir eine Rolle mit Gold. Ich nahm sie und legte sie auf den Tisch. Nach reiflicher Erwägung des Falles war ich mit mir eins geworden, nichts anzunehmen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte ich. »Unter solchen Umständen, nein.«

Sie sahen einander an, verbeugten sich aber gegen mich, als ich ihnen mein Kompliment machte, und wir schieden, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.

*

Ich bin müde, müde, müde aufgerieben von meinem Elend. Ich kann nicht lesen, was ich mit dieser abgezehrten Hand geschrieben habe.

Am andern Morgen früh wurde die Goldrolle, die in ein Kistchen verpackt und an mich überschrieben war, an meiner Tür abgegeben. Ich hatte von Anfang an ängstlich bei mir erwogen, was ich in dieser Angelegenheit zu tun habe. Jetzt entschied ich mich dafür, privatim an den Minister zu schreiben, ihn über die beiden Fälle, die mir zur Kunde gekommen waren, zu unterrichten und ihm den ganzen Hergang zu melden. Wohl kannte ich den Hofeinfluß und die Vorrechte des Adels und erwartete davon nichts anderes, als daß die Sache vertuscht bleiben werde; aber ich wünschte, mein Gewissen zu erleichtern. Im übrigen bewahrte ich die Vorgänge als tiefes Geheimnis, selbst vor meiner Frau, und ich beschloß, dies in meinem Schreiben an den Minister anzuführen. Für mich selbst fürchtete ich keine wirkliche Gefahr, wohl aber für andere, wenn diese wußten, was ich wußte, und sich eine Blöße gaben.

Ich war an jenem Tag sehr beschäftigt und konnte mein Schreiben an jenem Abend nicht zu Ende bringen, weshalb ich am andern Morgen zu diesem Ende viel früher als gewöhnlich aufstand. Es war der letzte Tag des Jahres. Ich hatte eben die Feder niedergelegt, als mir angezeigt wurde, daß eine Dame warte und mich zu sprechen wünsche.

Ich werde mehr und mehr unfähig für die Aufgabe, die ich mir vorgesteckt habe. Es ist so kalt, so dunkel, die Sinne versagen mir, und ein schreckliches Düster umfängt mich.

Die Dame war jung und angenehm, aber augenscheinlich nicht für ein langes Leben bestimmt. Sie befand sich in einer großen Aufregung. Sie stellte sich mir als Gattin des Marquis St. Evrémonde vor. Ich brachte diesen Namen mit dem Titel, mit dem der Knabe den älteren Bruder angeredet, und mit dem gestickten Anfangsbuchstaben auf der Schärpe in Verbindung und zog daraus mit Leichtigkeit den Schluß, daß ich in letzter Zeit mit diesem Edelmann zu tun gehabt hatte.

Mein Gedächtnis ist noch genau, aber ich kann die Worte unseres Gesprächs nicht niederschreiben. Ich vermute, daß ich schärfer bewacht werde als früher, und bin keinen Augenblick vor einem Überfall sicher. Sie hatte die Hauptzüge der traurigen Geschichte, bei der ihr Mann beteiligt und mein Beistand aufgeboten worden war, zum Teil geargwöhnt, zum Teil entdeckt, wußte aber nicht, daß das arme Opfer tot war. Sie habe gehofft, sagte sie in großer Betrübnis, der Unglücklichen insgeheim weibliche Sympathie zuteil werden zu lassen und so den Zorn des Himmels von einem Hause abzuwenden, auf dem der Fluch so vieler Leidenden lastete.

Sie habe Grund zu glauben, daß noch eine jüngere Schwester am Leben sei, und es sei ihr sehnlichster Wunsch, ihr hilfreiche Handreichung zu tun. Ich konnte ihr keine andere Auskunft geben, als daß es mit dem Vorhandensein einer Schwester seine Richtigkeit habe; weiter wisse ich aber nichts von ihr. Die Dame war voll Vertrauen zu mir gekommen, in der Meinung, ich könne ihr den Namen und Aufenthalt der Verschwundenen angeben; aber bis auf diese Unglücksstunde habe ich weder von dem einen noch von dem andern etwas erfahren.

Es fehlen mir einige Papierstreifen. Der eine wurde mir gestern mit einer Verwarnung abgenommen. Ich muß meinen Bericht heute zu Ende bringen.

Sie war eine gute, mitleidige Frau und in ihrer Ehe nicht glücklich. Wie wäre dies möglich gewesen? Der Schwager traute ihr nicht, haßte sie und trat ihr mit seinem Einfluß überall entgegen; sie aber fürchtete ihn und ihren Mann. Als ich sie nach ihrem Wagen hinunterbegleitete, sah ich darin ein Kind, einen hübschen Knaben von zwei oder drei Jahren.

›Um seinetwillen, Doktor‹, sagte sie, mit Tränen auf den Knaben deutend, möchte ich so gern alles tun, was in meinen schwachen Kräften liegt, um für das Geschehene eine Sühne zu leisten. Sein Erbe wird ihm sonst nie Glück bringen. Ich habe eine Ahnung, daß, wenn nicht eine andere Genugtuung für diese Tat geleistet wird, er eines Tages dafür einzustehen hat. Was ich ihm einmal als mein Eigentum hinterlassen kann es ist außer einigen Juwelen von geringem Wert , soll er, ich lege es ihm als erste Lebensaufgabe ans Herz, um seiner armen Mutter willen dieser schwergekränkten Familie zuwenden, wenn sich die Schwester auffinden läßt.

Sie küßte den Knaben und sagte liebkosend zu ihm: Du tust’s auch zu deinem eigenen Besten. Nicht wahr, du willst mir Wort halten, kleiner Charles? Das Kind antwortete mit einem herzhaften Ja. Ich küßte ihr die Hand. Sie nahm den Knaben in die Arme, und während sie ihn liebkoste, fuhr der Wagen von hinnen. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Sie hatte mir den Namen ihres Gatten genannt, in der Meinung, daß ich ihn bereits kenne. Ich wollte ihn gleichwohl in meinem Schreiben nicht berühren, sondern siegelte es, wie es war, und gab es, da ich es keinen andern Händen anvertrauen mochte, im Laufe des Tages persönlich ab.

Denselben Abend (es war der letzte im Jahr) gegen neun Uhr läutete ein schwarzgekleideter Mann an meiner Tür, verlangte mich zu sprechen und folgte leise meinem Diener Ernst Defarge, einem jungen Menschen, die Treppe hinauf. Als der Diener in das Zimmer trat, in dem ich mit meiner Frau saß o, Geliebte meines Herzens, mein junges, schönes engelhaftes Weib! , sahen wir den Mann, den wir an der Haustür vermuteten, schweigend hinter ihm stehen.

Ein dringlicher Fall in der Straße St. Honoré, sagte er. Ich werde nicht lange aufgehalten werden: er habe eine Kutsche bei sich.

Sie brachte mich hierher, brachte mich zu meinem Grabe. Ich hatte kaum meine Wohnung verlassen, als man mir einen Knebel dicht über dem Mund zusammenzog und meine Arme band. Die beiden Brüder kamen aus einem dunkeln Winkel hervor über die Straße herüber und bezeichneten mich mit einer einfachen Gebärde als die rechte Person. Der Marquis nahm den von mir geschriebenen Brief aus seiner Tasche, zeigte ihn mir, verbrannte ihn an dem Licht einer Laterne, die man ihm vorhielt, und zertrat die Asche mit seinen Füßen. Kein Wort wurde gesprochen. Man brachte mich hierher und versenkte mich lebendig in mein Grab.

Hätte es Gott gefallen, im Laufe dieser schrecklichen Jahre es einem der Brüder ins Herz zu legen, daß sie mir Kunde von meinem teuren Weibe zugehen ließen oder mich nur mit einem Wort von ihrem Leben oder Tod unterrichteten, so würde ich geglaubt haben, er habe sie nicht ganz verworfen. Jetzt aber lebe ich der Überzeugung, daß das Zeichen des roten Kreuzes ihnen zum Verderben gereichte und sie keinen Anteil haben an seinem Erbarmen. Sie und ihre Abkömmlinge bis zum letzten ihres Geschlechts lade ich, der unglückliche Gefangene Alexander Manette, in meinem namenlosen Jammer am letzten Abend des Jahres 1767 vor den Richterstuhl, der solche Taten richten wird. Ich klage sie an vor dem Himmel und vor der Erde.«

Ein schreckliches Getümmel erhob sich, als die Vorlesung dieses Dokumentes zu Ende war. Ein gleichmäßiges hungriges Geschrei, in dem kein artikulierter Laut als das Wort Blut sich unterscheiden ließ. Die Erzählung hatte die rachgierigsten Leidenschaften der Zeit heraufbeschworen, und in dem ganzen Volk gab es kein Haupt, das nicht einer solchen Anklage gegenüber hätte fallen müssen.

Einem solchen Tribunal und einer solchen Zuhörerschaft gegenüber war es überflüssig, zu zeigen, daß die Defarges die Schrift nicht mit den andern in der Bastille eroberten Denkschriften, die in Prozession herumgetragen wurden, veröffentlicht, sondern für sich behalten hatten, um eine günstige Zeit abzuwarten … Und wozu ferner nachweisen, daß der Name jener verabscheuten Familie längst in St. Antoine mit Fluch beladen und in die verhängnisvollen Register eingetragen war? Es hat nie einen Menschen gegeben, der trotz aller möglichen Vorzüge und Verdienste einen Schutz gefunden hätte gegen eine solche Anklage zu solcher Zeit und an einem solchen Platze.

Und was das Schlimmste für den unglücklichen Gefangenen, der Ankläger war ein wohlbekannter Bürger, ein ihm treu anhängender Freund, der Vater seines Weibes. Zur wahnsinnigen Sucht des großen Haufens gehörte auch die affektierte Nachahmung der zweifelhaften öffentlichen Tugenden des Altertums und das Verlangen nach Opfern und Selbstaufopferungen auf dem Altar des Volkes. Als daher der Präsident sagte (er mußte es tun, wenn ihm nicht der eigene Kopf auf seinen Schultern wackeln sollte), der gute republikanische Arzt werde sich noch mehr um die Republik verdient machen durch Ausrottung einer gemeinschädlichen Aristokratenfamilie und ohne Zweifel eine heilige Wonne darin fühlen, seine Tochter zur Witwe und ihr Kind zu einer Waise zu machen, da wallte die patriotische Glut in wilder Erregung auf und erstickte jeden Hauch menschlicher Teilnahme.

»Der Doktor hat vielen Einfluß«, murmelte Madame Defarge, der Rache zulächelnd. »Rett‘ ihn jetzt, Doktor; rett‘ ihn!«

Nach jeder Abstimmung eines Geschworenen erscholl ein Gebrüll. Wieder eine, wieder eine. Gebrüll und Gebrüll.

Einstimmig verurteilt. Im Herzen und von Herkunft ein Aristokrat, ein Feind der Republik, ein berüchtigter Bedrücker des Volkes. Zurück nach der Conciergerie und Tod binnen vierundzwanzig Stunden!

  1. Freie, aber zur Fron verpflichtete Gutsinsassen.

Elftes Kapitel. Dämmerung.


Elftes Kapitel. Dämmerung.

Das unglückliche Weib des unschuldig zum Tode verurteilten Mannes brach bei diesem Urteilsspruch zusammen, als sei sie selbst vom Todesstoß betroffen. Aber sie ließ keinen Laut erschallen, und die innere Stimme, die ihr vorstellte, daß in der ganzen Welt sie allein ihn in seinem Elend aufrechterhalten müsse und es nicht noch vergrößern dürfe, sprach so laut in ihr, daß sie sich rasch auch von diesem Schlage wieder erholte.

Da die Richter an einer öffentlichen Kundgebung draußen teilzunehmen hatten, so wurde die Gerichtsverhandlung ausgesetzt. Das Getümmel und Getöse, als das Volk durch die verschiedenen Gänge aus dem Saale hinausströmte, hatte noch nicht aufgehört, als Lucie, in ihrem Antlitz keinen andern Ausdruck als den der Liebe und der Tröstung, die Arme gegen ihren Gatten ausstreckte.

»Darf ich ihn anrühren? Darf ich ihn nur ein einziges Mal umarmen? O, ihr guten Bürger, wenn ihr nur so viel Mitleid mit uns hättet!«

Es waren nur zwei von den vier Männern, die ihn am Abend vorher verhaftet hatten, ein Schließer und Barsad, zurückgeblieben. Alles Volk zog dem Spektakel auf der Straße nach. Barsad machte dem andern den Vorschlag, die Umarmung zu dulden, da sie ja nur einen Augenblick dauern werde. Die Männer gaben stumm ihre Zustimmung und halfen ihr über die Sitze in dem Saal nach einem erhöhten Platz, wo er aus seinem Verschlag sich herausbeugen und sie mit seinen Armen umschlingen konnte.

»Lebewohl, teures Kleinod meiner Seele. Nimm meine letzten Segenswünsche hin. Wir werden uns wiedersehen, wo die Müden Ruhe finden!«

Dies waren die Worte ihres Gatten, als er sie an seine Brust drückte.

»Ich kann es ertragen, teurer Charles. Ich fühle mich gestärkt von oben; laß dir daher um meinetwillen das Herz nicht schwer werden. Einen Abschiedssegen für unser Kind.«

»Ich sende ihn ihr durch dich. Ich küsse sie durch dich. Ich sage ihr Lebewohl durch dich.«

»Mein Gatte. Nein! Einen Augenblick.« Er wollte sich von ihr losreißen. »Wir werden nicht lange getrennt sein. Ich fühle, daß bald mein Herz brechen muß; aber ich will meine Pflicht erfüllen, solange ich kann, und wenn ich sie zurücklasse, wird Gott auch ihr Freunde erwecken, wie er es mir getan hat.«

Ihr Vater, der ihr gefolgt war, wollte vor ihnen auf die Knie niederfallen; aber Darnay streckte die Hand aus und hinderte ihn daran, indem er ihm zurief:

»Nein, nein! Was habt Ihr getan, daß Ihr vor uns knien solltet? Wir wissen jetzt, welche Kämpfe Ihr durchmachen mußtet wissen, was Ihr littet, als Ihr meine Herkunft vermutetet und endlich Gewißheit darüber erhieltet. Wir wissen, gegen welchen natürlichen Widerwillen Ihr ankämpfen mußtet und wie Ihr ihn überwunden habt um ihretwillen. Wir danken Euch aus tiefstem Herzen und mit dem ganzen Pflichtgefühl der Liebe. Der Himmel sei mit Euch!«

Die Antwort ihres Vaters bestand bloß darin, daß er mit den Händen in seine weißen Haare fuhr und unter schmerzlichem Stöhnen sie zerraufte.

»Es konnte nicht anders kommen«, sagte der Gefangene. »Alles hat zusammengewirkt zu einem solchen Ende. Das stets vergebliche Bemühen, dem Auftrag meiner armen Mutter gerecht zu werden, hatte mich zuerst verhängnisvoll in Eure Nähe geführt. Aus so viel Bösem konnte nie etwas Gutes kommen, und ein glücklicherer Ausgang durfte von einem so unglücklichen Anfang nicht erwartet werden. Seid getrost und vergebt mir. Der Segen des Himmels sei mit Euch.«

Als man ihn von hinnen schaffen wollte, ließ sein Weib ihn los; sie legte in betender Haltung ihre Hände zusammen und sah ihm nach mit einem strahlenden Ausdruck auf ihrem Gesicht, in den sich sogar ein tröstendes Lächeln mischte. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen, wandte sie sich um und legte ihren Kopf liebevoll an die Brust des Vaters, brach aber, als sie ihn anzureden versuchte, zu seinen Füßen zusammen.

Jetzt kam Sydney Carton aus dem dunkeln Winkel, in dem er sich nicht gerührt hatte, hervor und nahm sie auf. Nur ihr Vater und Mr. Lorry waren bei ihr. Sein Arm zitterte, als er sie aufrichtete und ihren Kopf unterstützte. Und doch lag in seiner Miene ein Zug, der nicht ganz Mitleid war, sondern auch einen Anflug von Stolz verriet.

»Soll ich sie nach einer Kutsche bringen? Ich werde ihre Last nicht fühlen.«

Er brachte sie mit Leichtigkeit hinaus und in eine Kutsche. Ihr Vater und ihr alter Freund stiegen nach, und er nahm seinen Sitz neben dem Kutscher.

Als sie an der Tür anlangten, vor der er einige Stunden früher eine Weile im Dunkeln sich aufgehalten hatte, um sich die rauhen Steine herauszusuchen, die ihr Fuß betreten, hob er sie wieder heraus und trug sie die Treppe hinauf nach ihrer Wohnung. Da legte er sie auf ein Ruhebett nieder, wo ihr Kind und Miß Proß weinend über sie hinstürzten.

»Sucht sie nicht zu wecken«, sagte er sanft zu der letzteren; »es ist besser so. Man muß sie nicht zum Bewußtsein zurückrufen, da sie nur ohnmächtig ist.«

»O, Carton, Carton, lieber Carton!« rief die kleine Lucie, indem sie aufsprang und in ihrem Schmerz leidenschaftlich die Arme um ihn schlang. »Nun Ihr da seid, werdet Ihr wohl etwas tun, um Mama zu helfen und Papa zu retten. O, seht sie an, lieber Carton! Könnt Ihr unter allen Menschen, die sie lieben, es ertragen, sie so zu sehen?« Er beugte sich zu dem Kinde nieder und drückte die blühenden Wangen an sein Gesicht; dann schob er die Kleine sanft zurück und sah ihre bewußtlose Mutter an.

»Eh‘ ich gehe«, sagte er und hielt dann eine Weile inne »darf ich sie wohl küssen?«

Man erinnerte sich später, daß er, als er sich niederbeugte und mit seinen Lippen ihr Gesicht berührte, einige Worte murmelte. Die Kleine, die ihm am nächsten stand, erzählte nachher und erzählte es namentlich, als sie schon eine hübsche alte Frau war, ihren Enkeln, sie habe ihn sagen hören: »Ein Leben, das Ihr liebt.«

Er hatte sich bereits nach dem Vorzimmer begeben, als er sich noch einmal gegen Mr. Lorry und ihren Vater, die ihm gefolgt waren, umwandte und zu diesem sagte:

»Ihr habt erst gestern noch großen Einfluß gehabt, Doktor Manette. Macht wenigstens noch einen Versuch. Jene Richter und alle, die Gewalt haben, sind Euch freundlich gesinnt und erkennen Eure geleisteten Dienste an; ist es nicht so?«

»Es ist mir nichts verhehlt worden, was Charles betraf. Man gab mir die besten Versicherungen, daß ich ihn retten werde; und es gelang mir.«

Er brachte diese Antwort nur langsam und mit großer Mühe hervor.

»Versucht es noch einmal. Wir haben zwar von jetzt an nur noch wenige kurze Stunden bis morgen nachmittag: aber versucht es.«

»Ja, ich will es versuchen. Ich will keinen Augenblick ruhen.«

»Recht so. Einem Eifer wie dem Eurigen sind sonst schon große Dinge gelungen, wenn auch nie«, fügte er mit einem Lächeln und einem gleichzeitigen Seufzer hinzu, »etwas so Großes wie dieses. Aber macht den Versuch! Wie wenig auch das Leben wert ist, wenn wir es mißbrauchen, so gewinnt es doch Bedeutung durch eine solche Anstrengung. Wenn das nicht der Fall wäre, so möchte man lieber gar nicht leben.«

»Ich will geradewegs zu dem öffentlichen Ankläger und zu dem Präsidenten gehen«, sagte Doktor Manette, »und noch zu andern, die ich lieber nicht nenne. Auch schreiben will ich aber halt! Sie führen einen Festzug aus durch die Straßen, und vor Einbruch der Dunkelheit werde ich bei niemandem vorkommen können.«

»Das ist wahr. Nun, im besten Fall sind unsere Hoffnungen nicht groß, und die Sache kann nicht viel verschlimmert werden, wenn man auch bis zur Dämmerung warten muß. Ich möchte wohl erfahren, was Ihr ausrichtet, obschon ich gestehe, daß ich nichts erwarte. Wann werdet Ihr bei jenen gefürchteten Gewalthabern vorkommen können, Doktor Manette?«

»Ich hoffe, sobald es dunkel ist. In einer oder in zwei Stunden vielleicht.«

»Es wird bald nach vier Uhr dunkel. Wollen wir diesen zwei Stunden noch etwas zugeben. Wenn ich um neun Uhr bei Mr. Lorry vorspreche, so werde ich entweder von unserem Freund oder von Euch erfahren können, was Ihr ausgerichtet habt?«

»Ja.«

»Möge es nach Wunsch ausfallen.«

Mr. Lorry begleitete Sydney nach der äußeren Tür und bewog ihn, ehe er sich entfernte, durch eine Berührung der Schulter, sich noch einmal umzuwenden.

»Ich habe keine Hoffnung«, sagte Mr. Lorry in leisem kummervollem Flüstern.

»Auch ich nicht.«

»Wenn einzelne von diesen Männern oder meinetwegen alle das ist gewiß eine starke Voraussetzung, denn was kümmern sie sich um sein oder irgendeines Menschen Leben? zur Schonung geneigt sein sollten, so zweifle ich, ob sie nach der Kundgebung in dem Gerichtshof es wagen dürften, Gnade walten zu lassen.«

»Ich bin ganz Eurer Ansicht. In jenem Getümmel hörte ich das Fallen des Beiles.«

Mr. Lorry stützte seinen Arm auf das Türschloß und senkte sein Gesicht darauf nieder.

»Ihr müßt nicht verzagen«, sagte Carton in sanftem Ton, »Euch nicht so ganz dem Schmerze hingeben. Ich habe den Doktor Manette zum Handeln ermutigt, weil ich fühlte, daß sie eines Tages einen Trost darin finden dürfte. Sie könnte sonst glauben, sein Leben sei vermessen durch Flauheit geopfert worden, und dies könnte ihr Kummer bereiten.«

»Ja, ja, ja«, entgegnete Mr. Lorry, seine Augen trocknend, »Ihr habt recht. Aber er wird gleichwohl zugrunde gehen! man darf nichts hoffen.«

»Ja, er wird zugrunde gehen; es ist nichts zu hoffen«, wiederholte Carton.

Und er ging festen Schrittes die Treppe hinunter.

Zwölftes Kapitel. Dunkelheit.


Zwölftes Kapitel. Dunkelheit.

Sydney Carton hielt in der Straße an, weil er noch nicht ganz schlüssig war, wohin er gehen sollte. »Um neun Uhr in Tellsons Bankhaus«, sagte er mit nachdenklichem Gesicht. »Wird es nicht gut sein, wenn ich mich in der Zwischenzeit sehen lasse? Ich denke so. Diese Leute müssen erfahren, daß ein Mensch wie ich hier ist; die Vorsicht gebietet es, und es kann sogar als Vorbereitungsmaßregel nötig werden. Aber behutsam, behutsam. Ich will mir’s überlegen.«

Er hatte bereits angefangen, seine Schritte irgendeinem Ziel zuzulenken, als er wieder innehielt und in der bereits dunkel werdenden Straße auf und ab ging, um sich die möglichen Folgen klarzumachen. Doch bald festigte sich in ihm der erste Eindruck. »Es ist das beste«, sagte er endlich entschlossen, »daß diese Leute Kunde erhalten von der Anwesenheit eines Menschen wie ich!« dann wandte er sich Saint Antoine zu.

Defarge hatte sich an jenem Tage selbst als Weinwirt in der Vorstadt von St. Antoine bezeichnet. Für einen Mann, der sich so gut in der Stadt auskannte wie er war es ein leichtes, das Haus ohne Nachfrage aufzufinden. Carton verließ die engeren Straßen, nahm in einer Restauration eine Erfrischung ein und stärkte sich nach dem Essen durch einigen Schlaf. Zum erstenmal seit vielen Jahren mied er starkes Getränk. Er hatte seit gestern abend nichts als ein wenig leichten Wein zu sich genommen und tags zuvor den letzten Tropfen Branntwein auf Mr. Lorrys Herd ausgegossen wie ein Mann, der damit nichts mehr zu schaffen haben will.

Es war abends sieben Uhr, als er erfrischt wieder erwachte und aufs neue in die Straßen hinausging. Auf dem Wege nach St. Antoine machte er vor einem Spiegelladen halt und ordnete seine lose Halsbinde, seinen Rockkragen und sein wirres Haar. Nachdem dies geschehen war, verfügte er sich schnurstracks zu Defarge und trat in dessen Weinstube.

Es war zufällig kein anderer Gast in dem Zimmer als Jacques Drei mit den unruhigen Fingern und der krächzenden Stimme. Dieser Mensch, in dem er sogleich einen der Geschworenen des Morgens wiedererkannte, stand bei seinem Glase an dem kleinen Schanktisch und unterhielt sich mit dem Defargeschen Ehepaar. Die Rache mischte sich gleichsam als ein regelmäßiges Mitglied des Haushaltes in das Gespräch.

Carton nahm sich einen Sitz und bestellte in schlechtem Französisch eine halbe Flasche Wein. Madame Defarge warf zuerst einen gleichgültigen, dann aber immer schärfere Blicke auf ihn und trat endlich selbst auf ihn zu, um ihn zu fragen, was ihm beliebe.

Er wiederholte die frühere Bestellung.

»Ein Engländer?« fragte Madame Defarge, forschend ihre dunkeln Augenbrauen in die Höhe ziehend.

Nachdem er sie angesehen hatte, als ob selbst der Klang eines einzigen französischen Wortes ihm nicht schnell verständlich sei, antwortete er in dem früheren ausländischen Akzent:

»Ja, Madame, ja. Ich bin ein Engländer.«

Madame Defarge kehrte nach dem Schanktische zurück, um den Wein abzumessen, während er eine Jakobinerzeitung aufnahm und sich anstellte, als suche er mit Mühe sich den Inhalt derselben verständlich zu machen. Da hörte er sie sagen:

»Bei meiner Seele, er sieht dem Evrémode ähnlich!«

Defarge brachte ihm den Wein und bot ihm einen guten Abend.

»Wie?«

»Guten Abend.«

»Oh, guten Abend, Bürger.« Er füllte sein Glas. »Ah, ein guter Wein. Ich trinke auf das Wohl der Republik.«

Defarge kehrte nach dem Schanktisch zurück und sagte:

»Allerdings einige Ähnlichkeit.«

»Ich sage dir, eine sehr große«, entgegnete Madame Defarge.

»Ihr seht überall nur ihn, Madame«, bemerkte Jacques Drei beschwichtigend.

»Ja, meiner Treu«, fügte die liebenswürdige Rache lachend bei; »und es macht dir so viel Lust, ihn morgen noch einmal zu sehen.«

Carton folgte den Worten und Linien seiner Zeitung langsam mit dem Zeigefinger und mit einer völlig in die Lektüre vertieften Miene. Sie standen ganz nahe beieinander, die Arme auf den Schanktisch gestützt, und sprachen leise. Er ließ sich nicht dadurch stören, daß sie öfters nach ihm hinsahen; endlich fuhren sie in ihrem Gespräch etwas lauter fort.

»Es ist ganz so, wie Madame sagt«, bemerkte Jacques Drei. »Warum haltmachen? Die Sache ist mächtig im Gange. Warum haltmachen?«

»Nun, einmal muß es doch geschehen«, stellte Defarge vor; »es fragt sich nur wann.«

»Erst mit der Vertilgung«, sagte Madame.

»Großartig!« krächzte Jacques Drei.

Auch die Rache zollte ihren Beifall.

»Vertilgung ist ein guter Grundsatz, Frau«, sagte Defarge etwas beunruhigt, »und ich habe im allgemeinen nichts dagegen einzuwenden. Aber dieser Doktor hat viel gelitten. Du hast ihn ja heute gesehen und sein Gesicht bemerkt, als die Schrift verlesen wurde.«

»Ich habe sein Gesicht bemerkt«, entgegnete Madame unmutig und im Ton der Verachtung. »Ja, wohl habe ich es bemerkt und auch darin gelesen, daß es nicht das Gesicht eines echten Freundes der Republik ist. Mag er sich mit seinem Gesicht in acht nehmen!«

»Und du hast auch den Schmerz seiner Tochter wahrgenommen, Frau«, fügte er fürsprechend bei; »er muß ihm schrecklich gewesen sein.«

»Auch seine Tochter sah ich«, erwiderte Madame. »Ich habe sie mehr als einmal beobachtet nicht nur heute, sondern auch zu andern Zeiten. Ich beobachtete sie in dem Gerichtssaal und in der Straße vor dem Gefängnis. Ich brauche nur meinen Finger aufzuheben !«

Sie schien ihn wirklich aufzuheben (die Augen des Zuhörers wandten sich nicht von seiner Zeitung) und mit einem Rasseln auf den Sims vor sich niederfallen zu lassen, als ob ein Beil fiele.

»Die Bürgerin ist prächtig!« krächzte der Geschworene.

»Sie ist ein Engel!« rief die Rache und umarmte sie.

»Was dich betrifft«, fuhr Madame unversöhnlich gegen ihren Mann fort, »so würdest du, wenn es von dir abhinge zum Glück ist es nicht der Fall , diesen Menschen selbst jetzt noch retten.«

»Nein«, beteuerte Defarge. »Nicht dieses Glas möchte ich aufheben um seinetwillen. Aber dabei muß es sein Verbleiben haben. Ich sage, es darf nicht so weiter gehen.«

»Da seht Ihr selbst, Jacques«, sagte Madame Defarge zornig, »und auch du siehst es, meine kleine Rache ihr beide seht es. Aber hört mich an! Ich habe wegen anderer Verbrechen als dem der Tyrannei und Bedrückung diese Familie längst auf meinem Register und ihren Untergang, ihre Verfolgung beschlossen. Fragt meinen Mann, ob es nicht so ist.«

»Es ist so«, bekräftigte Defarge, noch eh‘ er befragt wurde.

»In dem Beginne der großen Tage, als die Bastille fiel, kam er in den Besitz jener Denkschrift, brachte sie nach Hause, und wir lasen sie mitten in der Nacht, sobald die Stube leer und geschlossen war, hier auf dieser Stelle und beim Licht dieser Lampe. Fragt ihn, ob es nicht so ist.«

»Es ist so«, sagte Defarge.

»In der Nacht, in der wir die Schrift lasen, als die Lampe bereits erloschen war und schon der Tag hereinblinkte durch diese Läden und die eisernen Gitter, sagte ich zu ihm, daß ich ihm ein Geheimnis mitzuteilen habe. Fragt ihn, ob es nicht wahr ist.«

»Es ist wahr«, pflichtete Defarge bei.

»Ich teilte ihm dieses Geheimnis mit. Ich schlug mit diesen zwei Händen an diese meine Brust, wie ich es jetzt tue, und sagte zu ihm: Defarge, ich wurde unter den Fischern an der Seeküste erzogen, und jene Bauernfamilie, die von den Gebrüdern Evrémonde die schändliche Behandlung erlitt, von der die Bastilleschrift spricht, ist meine Familie. Defarge, jene Schwester des am Boden liegenden, auf den Tod verwundeten Knaben war ich, jener Mann der Mann meiner Schwester, jenes ungeborene Kind ihr Kind, jener Bruder mein Bruder, jener Vater mein Vater alle jene Toten sind meine Toten, und die Aufforderung, Rechenschaft zu verlangen für jene Taten, gilt mir! Fragt ihn, ob es so ist.«

»Ja, sie sagt die Wahrheit«, bestätigte Defarge aufs neue.

»Dann gebiete dem Wind und Feuer Halt, nicht aber mir«, erwiderte Madame.

Der tödliche Haß dieses Weibes erfüllte ihre beiden Zuhörer mit einer schrecklichen Lust, und sie belobten sie höchlich. Der Lauscher konnte fühlen, daß die Sprecherin leichenblaß war, ohne ein Auge gegen sie aufzuschlagen. Defarge, eine schwache Minorität, erinnerte mit einigen Worten an die mitleidige Gattin des Marquis, entlockte aber damit seinem Weibe nur eine Wiederholung ihrer letzten Erklärung: »Gebiet‘ dem Wind und dem Feuer Halt, nicht aber mir!«

Es kamen Gäste, und die Gruppe löste sich auf. Der englische Gast bezahlte, was er genossen hatte, verrechnete sich im Zählen des herausgegebenen Geldes und bat als Fremder um Auskunft über den Weg nach dem Nationalpalast. Madame begleitete ihn nach der Tür und streckte den Arm aus, um ihn zurechtzuweisen. Dem Fremden kam dabei der Gedanke, ob es nicht eine gute Tat wäre, diesen Arm zu fassen, in die Höhe zu reißen und unter diesem eine scharfe Waffe einzubohren.

Doch er ging seines Weges und verschwand bald im Schatten der Gefängnismauer. Zu der anberaumten Zeit fand er sich in Mr. Lorrys Zimmer ein, wo er den alten Herrn in ruheloser Angst auf und ab gehen fand. Er sagte, er sei bis jetzt bei Lucie gewesen und habe sie nur auf einige Minuten verlassen, um der Bestellung gemäß hierher zu kommen. Ihr Vater hatte sich, seit er um vier Uhr von dem Bankhaus fortging, nicht wieder blicken lassen. Sie hegte einige, wiewohl nur eine sehr schwache Hoffnung, daß es ihm gelingen dürfte, ihren Charles zu retten. Er war schon mehr als fünf Stunden fort; wo mochte er nur bleiben?

Mr. Lorry wartete bis zehn Uhr; da aber Doktor Manette nicht zurückkehrte und er Lucie nicht länger allein lassen wollte, so kamen sie überein, daß er zu ihr gehen und gegen Mitternacht wieder in das Bankhaus kommen solle. Mittlerweile gedachte Carton beim Feuer sitzenzubleiben und auf den Doktor zu warten.

Er wartete und wartete, und als es zwölf schlug, war immer noch kein Doktor Manette da. Mr. Lorry kam wieder, traf aber alles, wie er es verlassen hatte, ohne selbst eine Neuigkeit mitzubringen. Wo blieb er doch?

Sie besprachen miteinander diese Frage und bauten auf seine verzögerte Rückkehr fast ein schwaches Hoffnungsgebäude, als sie ihn endlich auf der Treppe hörten. Da er aber in das Zimmer eintrat, bewies der erste Blick, daß alles verloren sei.

Ob er wirklich bei jemandem gewesen war oder ob er den ganzen Abend die Straßen durchstreift hatte, ist niemals ermittelt worden. Während er so dastand und sie mit großen Augen anstarrte, wagten sie keine Frage an ihn zu richten; denn sein Gesicht sagte ihnen alles.

»Ich kann sie nicht finden«, sagte er, »und ich muß sie haben. Wo ist sie?«

Sein Kopf und sein Hals war bloß, und seine Worte klangen wie die eines Mannes, der am Ende seiner Weisheit angelangt ist. Er nahm seinen Rock ab und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Wo ist meine Werkbank? Ich habe mich überall nach meiner Werkbank umgesehen und kann sie nicht finden. Was hat man mit meiner Arbeit angefangen? Die Zeit drängt; ich muß die Schuhe fertigbringen.«

Sie sahen einander trostlos an.

»Oh, oh!« rief er in kläglich wimmerndem Tone. »Laßt mich an meine Arbeit gebt mir meine Arbeit!«

Da er keine Antwort erhielt, so zerraufte er sich das Haar und stampfte wie ein eigensinniges Kind mit den Füßen auf den Boden.

»Foltert nicht einen armen verlassenen Unglücklichen«, flehte er sie unter kreischendem Geschrei an, »sondern gebt mir meine Arbeit! Was soll aus mir werden, wenn ich nicht heute nacht die Schuhe fertigbringe?«

Wieder wirr, völlig wirr!

Es war augenscheinlich so hoffnungslos, ihn durch Vorstellungen wieder zur Vernunft bringen zu wollen, daß beide wie im Einverständnis je eine Hand auf seine Schultern legten und ihn baten, sich vor dem Feuer niederzulassen; sie wollen alsbald ihm sein Werkzeug herbeischaffen. Er sank in den Stuhl, stierte in die Asche hinein und vergoß Tränen. Mr. Lorry sah in ihm wieder ganz denselben Mann, wie er ihn unter Defarges Obhut im Dachstübchen getroffen hatte, und die Zeit zwischen damals und jetzt kam ihm nur wie ein Traum vor.

Wie sehr übrigens dieses Schauspiel des Verfalls beiden die Seele mit Gefühlen der Erschütterung und des Schreckens erfüllte, war doch die Zeit nicht geeignet, solchen Erregungen nachzuhängen. Seine verwaiste Tochter, die ihrer letzten Hoffnung und Stütze beraubt war, nahm ihre Teilnahme zu sehr in Anspruch. Sie sahen einander bedeutungsvoll an. Carton war der erste, der das Wort ergriff.

»Die letzte Aussicht, so klein sie auch war, ist dahin. Ja, es wird am besten sein, wenn man ihn zu ihr bringt. Aber wollt Ihr mir nicht, eh‘ Ihr geht, noch einen Augenblick ernste Aufmerksamkeit schenken? Fragt nicht, warum ich Euch gewisse Bedingungen mache und mir ihr genaues Einhalten erbitte; ich haben einen Grund einen guten Grund dazu.«

»Ich zweifle nicht daran«, entgegnete Mr. Lorry. »Sprecht.«

Die Gestalt in dem Sessel zwischen ihnen wiegte sich die ganze Zeit in eintönigem Stöhnen hin und her. Sie sprachen miteinander in einem Ton, wie man ihn nachts beim Wachen in einem Krankenzimmer gewöhnt ist.

Carton beugte sich, um den Rock aufzunehmen, in dem sich seine Füße fast verstrickt hatten. Während er dies tat, fiel ein kleines Taschenbuch, in dem der Doktor seine Tagesobliegenheiten vorzumerken pflegte, auf den Boden. Er nahm es auf; es befand sich ein zusammengelegtes Papier darin.

»Wir sollten dies ansehen«, bemerkte er.

Mr. Lorry nickte zustimmend. Carton öffnete und rief:

»Gott sei Dank!«

»Was ist es?« fragte Lorry hastig.

»Einen Augenblick. Ich werde zur gehörigen Zeit darauf zurückkommen. Zunächst«, er steckte die Hand in seinen Rock und zog ein ähnliches Papier hervor, »habe ich hier eine Beglaubigung, vermöge der ich beliebig Paris verlassen kann. Seht sie an. Ihr findet Sydney Carton, ein Engländer?«

Mr. Lorry hielt das Zeugnis in seiner Hand entfaltet und sah dem andern ernst ins Gesicht.

»Nehmt es für mich in Verwahrung bis morgen. Ich will ihn morgen besuchen, wie Ihr wißt, und da ist’s besser, wenn ich es im Gefängnis nicht bei mir habe.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht; aber es ist mir lieber, wenn Ihr es hier behaltet. Nehmt auch das Papier, das Doktor Manette bei sich gehabt hat. Es ist gleichfalls ein Paß, vermöge dessen er mit seiner Tochter und ihrem Kind jederzeit Paris und Frankreich verlassen darf. Seht Ihr?«

»Ja.«

»Vielleicht hat er sich ihn gestern noch als letzte und äußerste Vorsorge für einen schlimmen Ausgang ausstellen lassen. Von welchem Datum ist er? Doch gleichviel; halten wir uns damit nicht auf, sondern legt ihn zu dem meinigen und dem Eurigen. Gebt jetzt acht! Ich habe stets geglaubt, und erst in den letzten zwei Stunden ist es mir zweifelhaft geworden, daß er ein solches Papier habe oder haben könne. Es ist in Kraft, bis es widerrufen wird. Aber der Widerruf kann bald erfolgen, und ich habe Grund zu der Annahme, daß man damit nicht zögern wird.«

»Sie sind doch nicht in Gefahr?«

»In großer Gefahr. Es besteht zu befürchten, daß alle von Madame Defarge angezeigt werden. Ich weiß es aus ihrem eigenen Mund. Ich hörte heute abend dieses Weib Reden führen, die das Schlimmste in Aussicht stellen. Seitdem habe ich meine Zeit benutzt, den Spion aufgesucht und von ihm die Bestätigung erhalten. Er weiß, daß ein Holzspalter, der an der Gefängnismauer wohnt, ganz unter der Leitung der Defarges steht und von Madame Defarge darüber vernommen wurde, wie er Zeuge gewesen sei, daß sie« er nannte Lucies Namen nie »den Gefangenen Zeichen und Signale gegeben habe. Es ist leicht vorauszusehen, daß darauf die gewöhnliche Anklage eines Gefängniskomplotts gebaut werden wird, und dann ist nicht nur ihr Leben verwirkt, sondern auch vielleicht das ihres Kindes und ihres Vaters, die man mit ihr auf dem Platz gesehen hat. Macht keine so entsetzte Miene: Ihr werdet sie alle retten.«

»Mög‘ es der Himmel geben, Carton! Aber wie?«

»Das will ich Euch jetzt sagen. Von Euch hängt alles ab, und man hätte keinen besseren Mann dafür finden können. Diese neue Anklage wird wahrscheinlich nicht vor übermorgen stattfinden: vielleicht hat es damit zwei oder drei Tage, möglicherweise eine Woche Zeit. Ihr wißt, es ist ein todeswürdiges Verbrechen, Mitleid zu haben mit einem Opfer der Guillotine oder um dasselbe zu trauern. Sie und ihr Vater werden sich unzweifelhaft dieses Verbrechens schuldig machen, und jenes Weib, deren tiefgewurzelter Haß aller Beschreibung spottet, wartet vielleicht nur darauf, um ihre Anklage mit diesem neuen Umstand zu verstärken und so sich ihrer Beute doppelt zu versichern. Ihr merkt doch auf?«

»So achtsam und mit einem solchen Vertrauen in Eure Worte, daß ich für den Augenblick«, er berührte die Lehne an dem Stuhl des Doktors, »sogar diesen Jammer aus dem Gesicht verliere.«

»Ihr habt Geld und könnt deshalb die Reise nach der Küste in jeder tunlichen Weise beschleunigen. Zum Aufbruch nach England seid Ihr schon seit einigen Tagen gerüstet. Bestellt morgen früh Eure Pferde, so daß Ihr nachmittags um zwei Uhr aufbrechen könnt.«

»Es soll geschehen.«

Carton sprach so voll Eifer und Feuer, daß auch Mr. Lorry dabei warm wurde und die Lebendigkeit eines Jünglings an den Tag legte.

»Ihr seid ein edles Herz. Sagte ich nicht, daß die Sache keinem wackereren Manne in die Hände gegeben werden könnte? Teilt ihr heute nacht alles mit, was Ihr von der Gefahr wißt, die ihrem Kind und ihrem Vater droht. Dies müßt Ihr mit besonderem Nachdruck hervorheben; denn sie würde bereitwillig ihr schönes Haupt neben dem ihres Gatten niederlegen.« Er stotterte einen Augenblick und fuhr dann wieder wie früher fort. »Macht sie um ihres Kindes, um ihres Vaters willen auf die Notwendigkeit aufmerksam, Paris so schnell wie möglich mit Euch und ihnen zu verlassen. Sagt ihr, es sei die letzte Anordnung ihres Gatten gewesen; und bedeutet ihr noch ferner, daß mehr davon abhänge, als sie zu glauben oder zu hoffen wage. Ihr glaubt doch, daß ihr Vater ungeachtet seines traurigen Zustandes ihr gehorchen wird; was meint Ihr?«

»Ich bin davon überzeugt.«

»Das dachte ich mir. Laßt im Hofe drunten alle nötigen Vorbereitungen in der Stille treffen und steigt gleich selbst ein. Sobald ich dann komme, nehmt Ihr mich auf und fahrt von dannen.«

»Wenn ich Euch recht verstehe, so soll ich unter allen Umständen auf Euch warten?«

»Ihr wißt. Ihr habt nebst den andern Pässen auch den meinigen in Händen und werdet mir meinen Platz vorbehalten. Wartet nichts weiter ab, als daß dieser besetzt sei, und dann Richtung England!«

»Und dann«, sagte Mr. Lorry, indem er die hastige, aber dennoch feste Hand des andern ergriff, »wird nicht mehr alles von einem einzigen alten Manne abhängen, sondern ich werde in jugendlicher Tatkraft einen Beistand finden.«

»Ja, wenn es des Himmels Wille ist! Versprecht mir feierlich, daß es bei unserer gegenwärtigen Übereinkunft unverbrüchlich sein Verbleiben haben solle.«

»Ich verspreche es, Carton.«

»Erinnert Euch dieser Zusage morgen wohl. Ein Abgehen davon oder eine Zögerung aus welchem Grund auch immer könnte nicht nur kein Leben mehr retten, sondern würde unvermeidlich viele hinopfern.«

»Ich will es nicht vergessen und hoffe, meinen Anteil bei der Sache getreulich zu besorgen.«

»Und ich den meinigen. Jetzt lebt wohl!«

Obgleich er diese Worte mit einem ernsten Lächeln sprach und dabei sogar die Hand des alten Mannes an seine Lippen drückte, entfernte er sich vorderhand noch nicht. Er half ihm, die vor der ersterbenden Asche sitzende schwankende Gestalt aufrichten, setzte ihr den Hut auf, legte ihr den Mantel um und tat, als suche er die Werkbank und das Werkzeug, um die sie stets wehklagte. Dann machte er sich an ihre andere Seite und begleitete sie schützend bis in den Hof des Hauses, wo ein tiefbekümmertes Herz, das so glücklich war in der denkwürdigen Zeit, als er ihr die Trostlosigkeit des eigenen enthüllte, die schauerliche Nacht durchwachte. Nachdem Mr. Lorry und der Doktor ihn verlassen, blieb er noch eine Weile allein in dem Hofe und schaute hinauf nach dem Licht in dem Fenster ihres Zimmers. Ehe er sich entfernte, hauchte er ihr noch einen Segenswunsch und ein Lebewohl zu.

Dreizehntes Kapitel. Zweiundfünfzig.


Dreizehntes Kapitel. Zweiundfünfzig.

In dem dunkeln Gefängnis der Conciergerie erwarteten die Verurteilten des Tages ihr Schicksal. Es waren ihrer soviel wie Wochen im Jahr. Zweiundfünfzig sollten an jenem Nachmittage aus der Lebenströmung der Stadt hinausgetragen werden ins Meer der Ewigkeit. Bevor noch ihre Zellen sich geleert hatten, waren schon neue Bewohner dafür bestimmt; bevor ihr Blut mit dem gestern vergossenen zusammenfloß, hatte man schon diejenigen wieder ausgelesen, deren Blut morgen sich mit dem ihrigen mischen sollte.

Vier Dutzend und vier waren abgezählt. Von dem siebzigjährigen Generalpächter, der mit all seinen Schätzen sich nicht sein Leben erkaufen konnte, bis zu der zwanzigjährigen Näherin, die nicht einmal in ihrer Armut und niedrigen Stellung einen Schutz fand. Wie leibliche Krankheiten, die den Lastern und der Nachlässigkeit der Menschen entspringen, ihre Opfer in allen Ständen suchen, so warf auch die schreckliche moralische Krankheit, die geboren ward aus unsäglichen Leiden, unerträglicher Bedrückung und herzloser Gleichgültigkeit, alles ohne Unterschied nieder.

Darnay schmeichelte sich, seit er aus dem Gerichtssaale zurückgekehrt war, in seiner einsamen Zelle mit keinen trügerischen Hoffnungen mehr. In jeder Zeile der Erzählung, die er mit angehört, hatte er sein Todesurteil vernommen. Er sah vollkommen ein, daß kein persönlicher Einfluß ihn zu retten vermochte. Die Millionen hatten ihn verurteilt! welche Macht konnten ihnen gegenüber die Einzelnen geltend machen?

Gleichwohl wurde es ihm, das Antlitz des geliebten Weibes noch in frischer Erinnerung, nicht leicht, sich in das Unvermeidliche zu finden. Er hing noch fest an dem Leben, und es wurde ihm schwer, sehr schwer, es aufzugeben. Wenn er sich alle Mühe gab, sich da loszumachen, so klammerte er sich dort um so fester an, und gewann er es über sich, seine Kraft nicht mehr länger nutzlos erschöpfen zu wollen, so schloß sich seine Hand unmittelbar darauf in neuem Krampfe. Auch war in allen seinen Gedanken ein Jagen, in seinem Herzen ein erhitztes, stürmisches Arbeiten, das keine Ergebung aufkommen ließ. Wenn er für einen Augenblick verzichtet zu haben glaubte, so schien sein Weib und sein Kind, die ihn überleben sollten, dagegen Protest zu erheben und ihn der Selbstsucht zu zeihen.

Doch so war es nur im Anfang. Bald gewann die Erwägung die Oberhand, daß das Schicksal, das ihm bevorstand, ihm nicht zum Schimpf gereiche; denn Scharen hatten vor ihm denselben Gang als Unschuldige angetreten und fügten sich Tag für Tag standhaft in ihr Los. Ein kräftigender Gedanke, dem sich noch die weitere Betrachtung anschloß, daß viel von dem künftigen Seelenfrieden seiner Lieben von der Seelengröße abhing, mit der er aus dem Leben schied. So gewann er allmählich eine ruhigere Stimmung die ihn befähigte, seinen Gedanken einen höheren Aufschwung zu geben und daraus Trost zu holen.

Eh‘ es noch am Abend nach seiner Verurteilung völlig dunkel geworden war, hatte er bereits diesen Sieg über sich davongetragen. Da er jetzt Licht und Schreibmaterialien kaufen durfte, so setzte er sich nieder, um zu schreiben, bis die Lichter im Gefängnis gelöscht werden mußten.

Er schrieb einen langen Brief an Lucie, in dem er ihr erklärte, daß er von ihres Vaters Einkerkerung nichts gewußt habe, bis er es von ihr selbst erfuhr, und daß er noch viel weniger von der Beteiligung seines Vaters und seines Onkels an diesem Elend unterrichtet gewesen sei, ehe jene Schrift in seiner Gegenwart verlesen wurde. Er habe ihr schon früher mitgeteilt, wie ihr Vater es zur Bedingung seiner Einwilligung in ihre Vermählung gemacht, daß er auch gegen sie den aufgegebenen Namen geheimhalte; dies sei die einzige Zusage gewesen, die er ihm am Morgen der Trauung abgenommen, und er sehe jetzt den Grund davon vollkommen ein. Er bitte sie, um ihres Vaters willen sich nie zu erkundigen, ob er das Vorhandensein jener Schrift ganz vergessen oder ob er dieser für den Moment sich erinnert habe bei der Geschichte vom Tower an jenem Sonntag unter der lieben Platane im Garten. Wenn er eine unbestimmte Erinnerung daran bewahrte, so könne es keinem Zweifel unterliegen, daß er vermutet habe, jene Schrift sei mit der Bastille zugrunde gegangen, weil keiner Erwähnung davon geschehen sei unter den von den Volkshaufen dort aufgefundenen Reliquien der Gefangenen, über die ja in alle Welt hinaus geschrieben worden war. Er ersuche sie freilich brauche er ihr dies nicht erst ans Herz zu legen ihren Vater dadurch zu trösten, daß sie in der möglichst schonenden Weise ihn überzeuge, wie er nichts getan hatte, worüber er sich mit Recht einen Vorwurf machen müßte, sondern im Gegenteil um ihrer beiden willen sein eigenes Ich der Vergessenheit überantwortet habe. Er versichere sie seiner dankbaren Liebe bis ans Ende und schicke ihr seinen Segen. Dabei beschwöre er sie, so wahr sie sich im Himmel wiederfinden würden, sich ihrem Kinde zu widmen und ihrem Vater zum Trost zu leben.

Auch ihrem Vater schrieb er in demselben Sinn und fügte an ihn bei, daß er sein Weib und sein Kind ausdrücklich seiner Obhut vertraue. Dies tat er in sehr kräftigen Ausdrücken, indem er hoffte, dadurch die Verzweiflung oder gefährliche Rückblicke in die Vergangenheit abzuwehren, in die der alte Mann, wie er fürchtete, wieder versinken konnte.

Mr. Lorry empfahl er seine Angehörigen, indem er ihm zugleich Aufschlüsse über seine Vermögensangelegenheiten gab. Nachdem er noch die Versicherungen dankbarer Freundschaft und warmer Anhänglichkeit beigefügt hatte, war er mit seiner Arbeit fertig. Cartons gedachte er mit keiner Silbe. Sein Herz war so voll von den übrigen, daß sich für diesen kein Platz mehr fand.

Er war mit seinen Briefen zustande gekommen, noch ehe die Lichter gelöscht werden mußten. Als er sich auf seine Streu niederlegte, tat er es unter dem Eindruck, daß er mit dieser Welt abgeschlossen habe.

Aber sie winkte ihm in seinem Schlafe wieder zurück und zeigte sich in den verlockendsten Gestalten. Frei und glücklich, leichten Herzens und auf eine unerklärliche Weise befreit, bewohnte er wieder das alte Haus in Soho, obschon dieses ganz anders aussah als sonst; Lucie befand sich an seiner Seite und erzählte ihm, es sei alles nur ein Traum und er nie fortgewesen. Eine Pause des Vergessens, und es kam ihm vor, er sei hingerichtet worden und wieder zu ihr zurückgekommen, tot zwar und voll Frieden, aber doch immer noch der alte. Abermals eine Pause des Vergessens, und er erwachte am trüben Morgen, ohne zu wissen, ob er war und was mit ihm vorgegangen, bis es plötzlich in seinem Geiste wieder klar wurde: »Dies ist der Tag deines Todes.«

So waren ihm die Stunden entschwunden bis zu dem Tag, an dem die zweiundfünfzig Köpfe fallen sollten. Und nun er dem Ausgang mit Fassung entgegensah und er ihn mit ruhigem Heldenmut bestehen zu können hoffte, begann in seinen wachen Gedanken eine neue Tätigkeit, die sich nur schwer bewältigen ließ.

Er hatte nie das Instrument gesehen, das seinem Leben ein Ende machen sollte. Wie hoch stand es vom Boden ab – wie viele Stufen führten zu ihm wo stand es wohl wie faßte man ihn an waren die ihn berührenden Hände mit Blut befleckt wie mußte er sein Gesicht drehen wer kam zuerst, wer zuletzt an die Reihe? Diese und viele ähnliche Gedanken drängten sich ihm gegen seinen Willen wieder und wieder unzähligemal auf. Sie waren keine Folge der Furcht, da er dieses Gefühl überwunden hatte, sondern nahmen eher ihren Ursprung in einem seltsamen Drange, zu wissen, wie er sich verhalten sollte, wenn die Zeit kam allerdings ein Wunsch, der in einem riesigen Mißverhältnis stand zu den paar kurzen Augenblicken, auf die er sich bezog, und ihm eher von einem andern Geist als von seinem eigenen eingegeben zu sein schien.

Die Stunden entwichen, wahrend er auf und ab ging, und die Uhren verkündigten lauter Zahlen, die er nicht wieder hören sollte. Neun vorbei für immer, zehn vorbei für immer, elf vorbei für immer, und die letzte Zwölf stand bald bevor. Nach einem schweren Kampf mit der regellosen Gedankentätigkeit, die ihn so verwirrte, wurde er auch über sie Herr. Er ging auf und ab und sprach leise die Namen seiner Lieben vor sich hin. Das Ärgste war vorüber. Er konnte frei von den sinnberückenden Vorstellungen auf und ab wandeln und für sich und für sie beten.

Zwölf vorbei für immer.

Er hatte vernommen, daß drei die letzte Stunde sein werde, und wußte, daß man die Gefangenen etwas früher abzuholen pflegte, weil die Karren nur langsam und schwerfällig durch die Straßen holperten. Er nahm sich daher vor, sich zwei als die Zeit des Aufbruchs vorzuhalten und in der Zwischenzeit gehörige Kraft zu sammeln, um imstande zu sein, auch auf andere kräftigend einzuwirken.

Während er mit auf der Brust gekreuzten Armen regelmäßigen Schrittes und in ganz anderer Stimmung als in dem Gefängnis La Force auf und ab ging, hörte er ohne Überraschung in der Ferne eins schlagen. Die Stunde war ihm nicht kürzer vorgekommen als die meisten andern. Mit demütigem Dank für die wiedergewonnene Fassung dachte er: »Jetzt habe ich noch eine«, und fuhr in seinem Spaziergang fort.

Fußtritte auf der Steinflur draußen vor der Tür. Er blieb stehen.

Der Schlüssel wurde in das Schloß gesteckt und umgedreht. Ehe die Tür aufging, oder beim Öffnen derselben sagte ein Mann leise in englischer Sprache:

»Er hat mich nie hier gesehen; ich bin ihm stets ferngeblieben. Geht allein hinein; ich will in der Nähe warten. Verliert keine Zeit!«

Die Tür ging rasch auf und wieder zu, und nun stand Angesicht in Angesicht, ruhig, mit dem Licht eines Lächelns auf seinen Zügen Sydney Carton, der den Zeigefinger warnend auf die Lippe legte, ihm gegenüber.

Es war eine so merkwürdige Klarheit in seinem Äußeren, daß der Gefangene im ersten Augenblick ein Geschöpf seiner Einbildungskraft vor sich zu sehen glaubte. Aber er sprach, und es war seine Stimme. Er drückte dem Gefangenen die Hand, und es war ein wirklicher Druck.

»Von allen Menschen auf Erden habt Ihr wohl mich am wenigsten zu sehen erwartet?« sagte er.

»Ich konnte nicht glauben, daß Ihr es seid kann es kaum jetzt glauben. Ihr seid doch nicht« ein plötzlicher Argwohn stieg in ihm auf »ein Gefangener?«

»Nein. Ich besitze zufällig Gewalt über einen von den Schließern hier, und diesem Umstand habe ich zu danken, daß ich vor Euch stehe. Ich komme von ihr von Eurer Frau, mein lieber Darnay.«

Der Gefangene drückte ihm die Hand.

»Ich bringe Euch eine Bitte von ihr.«

»Die wäre?«

»Eine sehr ernste, dringende und flehentliche Bitte, die sie in den ergreifendsten Tönen ihrer Euch so wohlbekannten Stimme an Euch richtet.«

Der Gefangene wendete sein Angesicht halb ab.

»Ihr habt keine Zeit, mich zu fragen, warum ich der Überbringer sei und auf was sie abziele, wie denn auch mir die Zeit zum Antworten gebricht. Laßt’s Euch genügen, wenn ich Euch sage: legt diese Eure Stiefel ab und zieht die meinigen an.«

Hinter dem Gefangenen stand ein Stuhl an der Wand der Zelle. Carton hatte mit Blitzeseile ihn darauf niedergedrückt und stand im Nu barfüßig vor ihm.

»Zieht meine Stiefel an. Hand angelegt; zieht herzhaft hurtig!«

»Carton, von hier ist an ein Entrinnen nicht zu denken. Es geht nicht. Ich zöge Euch nur mit in den Untergang. Es ist Wahnsinn.«

»Es wäre allerdings Wahnsinn, wenn ich Euch zumuten wollte zu fliehen; aber tu ich dies denn? Wenn ich von Euch verlange, Ihr sollet zu jener Tür hinausgehen, dann mögt Ihr sagen, es sei Wahnsinn, und könnt dableiben. Tauscht Eure Halsbinde gegen die meinige. Euren Rock gegen den meinigen aus. Und während Ihr dies tut, will ich das Band aus Eurem Haar nehmen und Euer Haar so durcheinander werfen wie das meinige.«

Mit wunderbarer, fast übernatürlich scheinender Behendigkeit und Kraft des Willens sowohl als der Tat zwang er dem andern alle diese Veränderungen auf. Der Gefangene war in seinen Händen wie ein kleines Kind.

»Carton! Lieber Carton! Es ist Wahnsinn. Es kann nicht gelingen und ist nie gelungen; man hat es schon versucht, aber es ist immer mißglückt. Ich bitte Euch, macht mir den Tod nicht durch den Eurigen noch herber.«

»Verlang‘ ich denn von Euch, Ihr sollet zu der Tür hinausgehen, mein lieber Darnay? Wenn ich Euch dieses Ansinnen stelle, so ist es immer noch Zeit, Euch zu weigern. Ihr habt da Tinte, Feder und Papier auf Eurem Tisch. Ist Eure Hand stetig genug, um zu schreiben?«

»Sie war es, als Ihr hereinkamt.«

»So nehmt Euch wieder zusammen und schreibt, was ich Euch diktiere. Rasch, Freund, rasch!«

Die Hand an den wirren Kopf drückend, setzte sich Darnay vor dem Tisch nieder. Carton stand dicht neben ihm und hatte die rechte Hand in seiner Brust stecken.

»Schreibt genau, was ich sage.«

»An wen soll ich adressieren?«

»An niemanden.« Carton hatte noch die Hand in seiner Brust.

»Datum?«

»Kein«.«

Der Gefangene schaute bei jeder Frage auf. Carton stand mit der Hand in seiner Brust neben ihm und sah auf ihn nieder.

»Wenn Ihr Euch der Worte erinnert«, sagte Carton diktierend, »die vor langer Zeit zwischen uns fielen, so werdet Ihr diese Zeilen leicht verstehen, wenn sie Euch zu Gesicht kommen. Ich weiß, Ihr erinnert Euch ihrer. Es liegt nicht in Eurer Natur, etwas Derartiges zu vergessen.«

Er zog seine Hand aus der Brust; als der Gefangene zufällig verwundert von seinem Papier aufsah, fuhr die Hand zurück und schloß sich über etwas.

»Habt Ihr geschrieben zu vergessen?« fragte Carton.

»Ja. Was habt Ihr in der Hand? Eine Waffe?«

»Nein. Ich bin nicht bewaffnet.«

»Was habt Ihr sonst?«

»Ihr werdet’s bald erfahren. Schreibt fort. Es sind nur noch wenige Worte.« Er diktierte wieder. »Ich danke Gott, daß die Zeit gekommen ist, in der ich sie betätigen kann, und wenn ich es tue, so geschieht es ohne Leid und Bedauern.« Während er diese Worte, ohne seine Augen von dem Schreiber zu verwenden, sprach, bewegte sich seine Hand leicht und langsam gegen das Gesicht des Gefangenen hin.

Die Feder entsank Darnays Fingern, und er starrte ausdruckslos umher.

»Was ist dies für ein Geruch?« fragte er.

»Geruch?«

»Es ist mir etwas in die Nase gekommen.«

»Ich weiß von nichts. Ihr bildet Euch dies ein. Nehmt die Feder wieder auf, daß wir fertig werden. Rasch, rasch!«

Der Gefangene suchte, als sei sein Gedächtnis verwirrt oder sein Geist nicht in Ordnung, sich zu sammeln. Wahrend er mit umwölktem Blick und schwer gehendem Atem Carton ansah, schaute dieser, die Hand wieder in seiner Brust, stetig auf ihn nieder.

»Rasch, rasch!«

Der Gefangene beugte sich abermals über sein Papier.

»Wäre es nicht so«, Cartons Hand stahl sich wieder sachte und behutsam nieder, »so würde ich nicht die Gelegenheit dazu benutzt haben. Aber dann lastete wohl«, die Hand schwebte vor dem Gesicht des Gefangenen, »noch manche schwere Verantwortung auf meiner Seele. Wäre es anders gewesen «

Carton sah nach der Feder hin und bemerkte, daß sie träge nur noch unleserliche Zeichen hinkritzelte. Seine Hand bewegte sich nicht mehr nach der Brust. Der Gefangene sprang mit einem vorwurfsvollen Blick auf, aber Cartons Hand war dicht und fest an seinen Nasenlöchern, und dessen linker Arm hatte sich um seinen Leib geschlungen. Einige Augenblicke kämpfte er schwach gegen den Mann an, der gekommen war, um für ihn sein Leben zu opfern. Aber nach Ablauf einer Minute oder so lag er besinnungslos am Boden.

Hurtig und mit ebenso sicherer Hand wie mit treuem Herzen schlüpfte Carton in die Kleider, die der Gefangene abgelegt hatte, kämmte sich das Haar zurück und band es mit dem Band zusammen, das Darnay getragen hatte. Dann rief er leise: »So, jetzt herein!« und der Spion trat in die Zelle.

»Seht Ihr?« sagte Carton aufschauend, während er neben dem besinnungslosen Manne auf einem Knie lag und das Papier in dessen Brusttasche steckte: »lauft Ihr da große Gefahr?«

»Mr. Carton«, antwortete der Spion mit einem schüchternen Fingerschnippen, »bei der Menge des Geschäfts an diesem Platze liegt meine Gefahr nicht hierin, wenn Ihr nur der Übereinkunft im Ganzen treu bleibt.«

»Fürchtet nichts von mir. Ich werde treu sein bis in den Tod.«

»Dies müßt Ihr auch, Mr. Carton; denn an der Zahl Zweiundfünfzig darf nichts fehlen. Wenn Ihr in diesem Anzug auftretet, so werde ich nichts zu fürchten haben.«

»Seid unbesorgt. Ich werde bald da sein, wo ich Euch nicht mehr schaden kann, und so Gott will, sind die andern bald weit von hier. Legt Hand an und bringt mich nach der Kutsche.«

»Euch?« fragte der Spion ängstlich.

»Den, mit dem ich mich ausgewechselt habe, Mensch. Ihr geht wieder zu dem Tor hinaus, durch das Ihr mich hereingebracht habt?«

»Natürlich.«

»Ich war schwach und elend, als ich mit Euch herkam, und seitdem ist mir viel schlechter geworden. Der Abschiedsschmerz hat mich überwältigt. Solche Dinge sind hier schon oft, nur zu oft vorgekommen. Euer Leben steht in Eurer eigenen Hand. Geschwind, ruft Beistand herbei!«

»Ihr schwört, mich nicht zu verraten?« sagte der zitternde Spion, der noch im letzten Augenblick zögerte.

»Mensch, Mensch!« rief Carton mit dem Fuße stampfend, »habe ich nicht bereits das feierliche Gelübde getan, dies zu Ende zu bringen? Warum vergeudest du jetzt die kostbaren Augenblicke? Schafft ihn nach dem Hofe hinunter, setzt Euch selbst zu ihm in den Wagen, bringt ihn zu Mr. Lorry und sagt ihm, er brauche kein anderes Belebungsmittel als frische Luft; er soll meiner Worte und seiner Zusage von gestern nacht eingedenk sein und unverweilt fortfahren.«

Der Spion entfernte sich, und Carton nahm an dem Tisch Platz, die Stirne mit den Händen unterstützend. Bald darauf kehrte Barsad mit zwei Männern zurück.

»He, was ist dies?« sagte der eine, die hingestreckte Gestalt betrachtend. »So tief betrübt, daß sein Freund in der Lotterie der heiligen Guillotine einen Preis gewonnen hat?«

»Einem guten Patrioten«, bemerkte der andere, »wäre es kaum schwerer zu Herzen gegangen, wenn der Aristokrat eine Niete gezogen hätte.«

Sie hoben den Besinnungslosen auf, schoben ihn in eine Sänfte, die sie mit herausgebracht hatten, und schickten sich an, ihn fortzutragen.

»Die Zeit ist kurz, Evrémonde«, sagte der Spion mit warnender Stimme.

»Ich weiß es wohl«, antwortete Carton. »Ich bitte, nehmt meinen Freund in acht, und verlaßt mich.«

»So kommt, meine Kinder«, sagte Barsad. »Auf und fort!«

Die Tür schloß sich, und Carton war allein. Er lauschte so aufmerksam, als er konnte, ob sich nicht ein Ton vernehmen lasse, der Argwohn oder gar Entdeckung verriete. Nein. Schlüssel klirrten, Türen schlugen zu, und Fußtritte bewegten sich durch die fernen Gänge; aber aus keiner Richtung tönte ein Lärm oder Getöse, das als ungewöhnlich erscheinen konnte. Nachdem er eine Weile freier geatmet hatte, setzte er sich an den Tisch nieder und horchte aufs neue, bis die Glocke zwei schlug.

Nun begannen Töne hörbar zu werden, die er nicht fürchtete, da er ihre Bedeutung ahnte. Mehrere Türen wurden der Reihe nach geöffnet, endlich auch seine eigene. Ein Schließer mit einer Liste in der Hand sah bloß herein und sagte: »Folgt mir, Evrémonde.« Der Mann führte ihn weit weg nach einem großen dunkeln Saal. Es war ein trüber Wintertag, und bei dem Dunkel von innen und dem Dunkel von außen konnte er die andern, die man hergebracht hatte, um ihnen die Hände zu binden, nur undeutlich unterscheiden. Einige standen, andere saßen. Etliche, aber nur wenige, gingen unstet und jammernd hin und her. Die meisten verhielten sich still und hatten die Blicke auf den Boden geheftet.

Er stand in einem dunkeln Winkel an die Wand gelehnt, als nach ihm noch mehr von den zweiundfünfzig hereingebracht wurden. Ein Mann machte im Vorübergehen halt, um ihn als einen Bekannten zu umarmen. Furcht vor Entdeckung durchschauerte ihn. Aber der Mann ging weiter. Einige Augenblicke später erhob sich eine weibliche Gestalt mit mädchenhaften Zügen, ein liebliches, schmächtiges, leichenblasses Gesicht mit großen, weit offenen, geduldigen Augen von dem Sitze, wo er sie beobachtet hatte, und kam auf ihn zu, um ihn anzureden.

»Bürger Evrémonde«, sagte sie, ihn mit kalter Hand berührend, »ich bin die arme Näherin, die mit Euch in der Force saß.«

Er murmelte als Antwort:

»Richtig. Ich vergaß, wessen Ihr angeklagt seid.«

»Des Komplotts, obschon der gerechte Himmel weiß, daß ich so unschuldig bin wie nur irgendein Mensch. Wie wäre es auch möglich? Wer dächte ans Verschwören mit einem so armen, schwachen Geschöpf, wie ich bin?«

Das schmerzliche Lächeln, mit dem sie dies sprach, bewegte ihn so, daß ihm Tränen in die Augen traten.

»Ich fürchte mich nicht zu sterben, Bürger Evrémonde; aber ich habe nichts verbrochen. Ich sterbe gern, wenn die Republik, die den Armen so viel Gutes bringen soll, von meinem Tod einen Vorteil hat. Nur sehe ich nicht ein, wie dies möglich ist, Bürger Evrémonde. So ein armes, schwaches, kleines Geschöpf!«

Eine letzte Erdenregung – sein Herz schlug wärmer und voll Mitleid für das bejammernswürdige junge Wesen.

»Ich hörte, Ihr seid in Freiheit gesetzt, Bürger Evrémonde, und hoffte, es möchte wahr sein.«

»Es war so. Aber ich wurde wieder festgenommen und verurteilt.«

»Wenn ich auf Euren Wagen komme, Bürger Evrémonde, so erlaubt Ihr mir wohl, mich an Eurer Hand zu halten? Ich fürchte mich nicht; aber ich bin klein und schwach, und es würde mich ermutigen.«

Als sie ihre geduldigen Augen zu seinem Gesicht erhob, las er darin einen plötzlichen Zweifel und dann den Ausdruck des Erstaunens. Er drückte ihre magern, vom Hunger abgezehrten Finger und fühlte sie an seine Lippen.

»Ihr wollt für ihn sterben?« flüsterte sie.

»Und für sein Weib und sein Kind. Pst! Ja.«

»Und Ihr wollt mir erlauben, daß ich mich an Eurer Hand halte, edler Fremdling?«

»Pst! Ja, meine arme Schwester: bis ans Ende.« Dieselben Schatten, die auf das Gefängnis niederfallen, lagern um dieselbe frühe Stunde des Nachmittags auf dem Gewühl, das draußen die Barriere umgibt. Eine Kutsche, die Paris verlassen will, kommt angefahren und wird visitiert.

»Wer kommt da? Wer ist drinnen? Papiere?«

Die Papiere wurden hinausgereicht und untersucht.

»Alexander Manette. Arzt. Franzose. Welcher ist es?«

Dieser hier, der hilflose, unverständlich vor sich hinmurmelnde, geistesschwache alte Mann.

»Es scheint, der Bürger Doktor ist nicht recht bei Sinnen. Das Revolutionsfieber wird ihm wohl zu stark gewesen sein.«

Jawohl; viel zu stark.

»Ha, es geht vielen so. Lucie. Seine Tochter. Französin. Welche ist’s?«

Diese hier.

»Ja, die ist’s augenscheinlich. Lucie, das Weib Evrémondes, nicht wahr?«

Ja.

»Ha, Evrémonde hat seinen Paß anderswohin visiert erhalten. Lucie, ihr Kind. Geborne Engländerin. Ist’s diese?«

Sie und keine andere.

»Gib mir einen Kuß, Kind des Evrémonde. Na, du hast einen guten Republikaner geküßt, und das ist etwas Neues in deiner Familie. Vergiß es nicht. Sydney Carton. Rechtsanwalt. Engländer. Welcher ist’s?«

Er liegt hier in der Wagenecke. Auch er wird besichtigt.

»Es scheint, der englische Advokat ist ohnmächtig?«

Man hofft, er werde sich erholen, wenn er in die frische Luft kommt. Er ist von schwächlicher Gesundheit und wurde von einem Freund getrennt, der sich das Mißfallen der Republik zugezogen hat.

»Sonst nichts? Das will nicht viel heißen. Viele ziehen sich das Mißfallen der Republik zu und müssen durch das kleine Fenster schauen. Jarvis Lorry. Bankier. Engländer. Welcher ist’s?«

»Ich bin’s natürlich; es ist sonst niemand mehr da.«

Jarvis Lorry ist’s, der alle die früheren Fragen beantwortet hat. Er ist ausgestiegen und steht da, die Hand auf dem Kutschenschlag, um den Barrierewächtern Auskunft zu geben. Sie umwandeln gemächlich den Wagen und besteigen das Fußbrett, um das wenige Gepäck auf dem Dache zu untersuchen. Die Landleute lungern umher, drängen sich rechts und links an den Kutschenschlag und glotzen hinein. Ein Kind, das die Mutter auf den Armen trägt, streckt den kleinen Arm aus, um das Weib eines Aristokraten anzurühren, der zur Guillotine gegangen ist.

»Da habt Ihr Eure unterzeichneten Papiere, Jarvis Lorry.«

»Kann man abfahren, Bürger?«

»Man kann abfahren. Vorwärts, Postillione. Glückliche Reise!«

»Gott befohlen, Bürger. Die erste Gefahr vorüber!«

Letztere Worte spricht Jarvis später, während er mit einem Blick nach oben die Hände faltet. Im Wagen herrscht Angst und Weinen, und der besinnungslose Reisende atmet schwer.

»Geht es nicht zu langsam? Kann man die Postknechte nicht bewegen, schneller zu fahren?« fragt Lucie, sich an den alten Mann anschmiegend.

»Es würde einer Flucht gleichsehen, meine Liebe. Wir dürfen sie nicht zu sehr drängen, um nicht Verdacht zu wecken.«

»Schaut zurück, schaut zurück, und seht, ob wir nicht verfolgt werden.«

»Der Weg ist frei, mein Kind. Bis jetzt kann ich noch nichts von einer Verfolgung wahrnehmen.«

Häuser zu zwei und drei ziehn an uns vorüber. Einzeln stehende Meiereien, verfallenere Gebäude, Gerbereien und dergleichen, offenes Land, Alleen mit laublosen Bäumen. Unter uns hartes unebenes Pflaster, zu beiden Seiten tiefer weicher Schmutz. Bisweilen geraten wir, wenn wir den rüttelnden Steinen ausweichen wollen, in spritzenden Schlamm, und bisweilen bleiben wir in den Pfützen und Geleisen stecken. Die Qual unserer Ungeduld wird dann so überwältigend, daß wir in wildem Schrecken aussteigen, davonrennen, uns irgendwo verstecken, kurz, alles tun wollen, nur nicht halten.

Aus dem freien Feld wieder zu verfallenen Gebäuden, einsamen Meierhöfen, Gerbereien und dergleichen, Häusern zu zwei oder drei und laublosen Alleen. Haben diese Männer uns getäuscht und bringen sie uns auf einem andern Weg wieder zurück? Sind wir nicht schon einmal hier gewesen? Gott sei Dank, nein. Ein Dorf. Schaut zurück, und seht, ob wir nicht verfolgt werden. Pst! das Posthaus.

Unsere vier Pferde werden gemächlich ausgespannt; die Kutsche bleibt träg und ohne Pferde in der engen Straße stehen, als wolle sie nie wieder fort. Langsam treten die neuen Rosse, eines um das andere, in ein sichtbares Dasein; in aller Muße kommen die neuen Postknechte nach und saugen und flechten an den Schmicken ihrer Peitschen. Gemächlich zählen die alten Postillione ihr Geld, verrechnen sich und kommen zu unbefriedigenden Resultaten. Und die ganze Zeit über klopfen unsere gepreßten Herzen mit einer Geschwindigkeit, als wollten sie den schnellsten Galopp der schnellsten Pferde, die je ihre Muskelkraft versuchten, überbieten.

Endlich sitzen die neuen Postknechte in ihren Sätteln, und die alten bleiben zurück. Wir haben das Dorf im Rücken. Es geht bergauf, wieder bergab und weiter in dem nassen Tiefland. Plötzlich geraten die Postillione in einen von lebhaften Gebärden begleiteten Wortwechsel; sie halten die Rosse an, daß sie sich bäumen. Wir werben verfolgt!

»Ho, ihr da drinnen im Wagen hört ihr?«

»Was soll’s?« fragt Mr. Lorry zum Fenster hinaussehend.

»Wie viele haben sie gesagt?«

»Ich verstehe Euch nicht.«

»Die andern Postknechte. Wie viele heut unter die Guillotine?«

»Zweiundfünfzig.«

»Ich sagt‘ es ja; eine hübsche Zahl. Mein Mitbürger da behauptet, sie hätten von zweiundvierzig gesprochen. Zehn Köpfe mehr sind schon der Mühe wert. Die Guillotine arbeitet wacker; sie gefällt mir. Hi, vorwärts!«

Die Nacht bricht herein mit ihrer Dunkelheit. Er bewegt sich stärker, beginnt wieder aufzuleben und unverständliche Worte zu stammeln. Er meint, sie seien noch immer beisammen, nennt ihn bei Namen und fragt ihn, was er in der Hand habe, O gütiger Himmel, erbarme dich unser und steh‘ uns bei! Schaut hinaus, und seht, ob wir nicht verfolgt werden!

Der Wind jagt uns nach, die Wolken fliegen uns nach, der Mond segelt hinter uns her, und die ganze wilde Nacht ist hinter uns her: aber bis jetzt werden wir von nichts anderm verfolgt.