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Ein Blatt aus Christinas Gesangbuch

Archie war ein fleißiger Kirchgänger. Sonntag für Sonntag durchmaß er mit jener kleinen Gemeinde das Zeremoniell des Gottesdienstes, hörte die Stimme von Mr. Torrance, einer schlecht gespielten Klarinette gleich, sprunghaft von Tonart zu Tonart sich steigern und erhielt Gelegenheit, des Geistlichen mottenzerfressenen Talar und schwarze Zwirnhandschuhe zu studieren, wenn der alte Herr die Hände im Gebet faltete oder sie beim Segen in ehrfürchtiger Andacht zum Himmel erhob. Der Hermistoner Kirchenstuhl war ein kleiner, viereckiger Kasten von den gleichen zwergenhaften Ausmaßen wie die Kirche selbst und umschloß einen Tisch, nicht viel größer als eine Fußbank. Hier saß Archie mit der Miene eines Prinzen, der alleinige unverkennbare Gentleman und wohlhabende Erbe der Gemeinde, und machte es sich bequem – sein Kirchenstuhl war der einzige mit Türen. Von hier aus konnte er ungestört die ganze Versammlung überblicken: gesetzte Männer in ihren Plaids, robuste Frauen und Töchter, Kinder, die unter dem Drucke des Gottesdienstes seufzten, und unruhige Schäferhunde. Seltsam, wie sehr Archie den Eindruck des Rassigen entbehrte; die Hunde mit ihren edlen Fuchsköpfen und wundervoll gebogenen Ruten waren von allen Anwesenden die einzigen, die einen Anspruch auf Adel erheben durften. Selbst die Cauldstaneslaper Gesellschaft bildete kaum eine Ausnahme. Dandie vielleicht, wenn er so dasaß und sich die nicht enden wollende Last des Gottesdienstes durch Versekritzeln erleichterte, zeichnete sich ein wenig durch sein leuchtendes Auge und eine gewisse Lebhaftigkeit des Ausdrucks und Straffheit des Körpers aus; aber selbst Dandie hatte den locker schlurfenden Schritt des Bauern. Die ganze übrige Gemeinde bedrückte Archie ähnlich dem lieben Vieh durch das Bewußtsein ihrer erdgebundenen Routine; ein Tag verlief wie der andere körperliche Arbeit in frischer Luft, Hafergrütze, Erbsmehlpfannkuchen, ein schläfriger Feierabend neben dem Kamin und eine lange, durchschnarchte Nacht in einem Wandbett. Und doch kannte er viele von ihnen als schlaue, humorvolle Menschen; charakterfeste Männer, tüchtige Frauen, die sich etwas zu schaffen machten und von ihren niedrigen Hütten einen gewissen Einfluß ausstrahlten. Er wußte außerdem, daß sie nicht anders waren als andere Menschen; unter der Kruste der Gewohnheit lebte Begeisterungsfähigkeit; er hatte sie vor Bacchus die Zimbel schlagen hören – hatte ihren lärmenden Zechgelagen über ihrem Whisky-Toddy beigewohnt, und auch die hölzernsten und strengsten unter ihnen, ja selbst jene feierlichen Kirchenältesten, waren in Dingen der Liebe der seltsamsten Bocksprünge fähig. Da waren Männer, deren abenteuerliche Lebensreise sich ihrem Ende nahte – Mädchen, die voll zitternder Neugier erst an der Schwelle des Lebens standen – Frauen, die Kinder geboren und vielleicht auch begraben hatten, die sich noch der Berührung zärtlicher, toter Händchen und des Trippelns jetzt erlahmter kleiner Füße erinnerten – er fragte sich in grenzenloser Verwunderung, wie es käme, daß unter all diesen Gesichtern keines wäre, das Erwartung, Bewegung, den Rhythmus und die Poesie des Lebens zeigte. »Oh, ein einziges lebendiges Gesicht!« seufzte er; und dann fiel ihm mitunter Lady Flora ein; ein andermal musterte er diese lebende Galerie vor ihm voller Verzweiflung und sah sich selbst seine unfruchtbaren Tage in jener freudlosen ländlichen Einöde beschließen, sah den Tod herannahen und die Leute unter den Ebereschen sein Grab schaufeln, während der Geist der Erde das riesenhafte Fiasko durch donnerndes Gelächter feierte.

An dem betreffenden Sonntag stand es außer Frage, daß der Frühling endlich gekommen war. Es war warm; trotzdem schlummerte Frost in der Luft, der die Wärme indes nur noch willkommener machte. Der Bach rann an den flachen Stellen plätschernd und funkelnd zwischen Sträußen von Himmelsschlüsseln vorbei. Wandernde Düfte der Erde fesselten im Gehen Archies Geist; zu Momenten erfüllte ihn ätherische Trunkenheit. Das graue, quäkerische Tal war erst stellenweise aus seiner nüchternen Winterfärbung erwacht; er wunderte sich über seine Schönheit; sie erschien ihm als die Quintessenz der Schönheit dieser alten Erde, wohnhaft nicht im einzelnen, sondern aus dem Ganzen ihm entgegenatmend. Er entdeckte in sich einen unerwarteten Impuls zum Verseschreiben – er schrieb mitunter wirklich – lose, dahinstürmende Vierfüßler nach der Art Scotts –, und als er sich neben einem elfenhaften Wasserfall auf einen Stein niederließ, den ein gertenschlanker, im ersten Frühlingsgrün strahlender Baum beschattete, war er noch mehr erstaunt, daß ihm nichts einfallen wollte. Vielleicht war es nur sein Herz, das im Einklang mit dem ungeheuren Rhythmus des Weltalls schlug. Bald darauf sah er hinter einer Biegung des Tals die Kirche liegen; er hatte so lange gesäumt, daß bereits der erste Psalm im Verklingen war. Das nasale Psalmodieren, voller Schnörkel, Triller und anmutloser Verzierungen, schien ihm wie die Stimme der Kirche selbst, zum Dankgebet erhoben. »Alles lebt«, sagte er für sich und rief plötzlich laut: »Gott sei gelobt, alles lebt!« Er verweilte noch kurze Zeit auf dem Friedhof. Ein Büschel Himmelsschlüsselchen blühte dicht neben dem Fuß einer alten, schwarzen Grabtafel, und er blieb stehen, um die weitschweifige Aufschrift zu studieren. Die Blumen standen da in schneidendem Gegensatz zu der kalten Erde; plötzlich fiel ihm die Unfertigkeit des Tages, der Jahreszeit, der ihn umgebenden Schönheit auf – die Kühle in der Wärme, die groben, schwarzen Erdschollen neben den sich erschließenden Himmelsschlüsseln, der feuchte, erdige Geruch, der sich allseits unter die Düfte mischte. Die Stimme des greisenhaften Torrance schwang sich in Ekstase auf, und er fragte sich, ob auch Torrance in seinen alten Knochen die Luft dieses Frühlingsmorgens spüre; Torrance oder der Schatten dessen, was einst Torrance gewesen war und was so bald schon samt seinem Rheumatismus hier draußen in Sonne und Regen liegen mußte, während ein neuer Prediger seinen Platz einnahm und von seiner altvertrauten Kanzel donnerte. Der Jammer des Ganzen und etwas von der Kälte des Grabes ließen ihn einen Augenblick erschauern, und er beeilte sich, die Kirche zu betreten.

Ehrfürchtig schritt er den Gang hinauf und ließ sich, ohne aufzublicken, auf seinem Platze nieder; er fürchtete, er hätte den freundlichen alten Herrn auf der Kanzel bereits gekränkt, und hütete sich geflissentlich, weiteren Anstoß zu erregen. Er vermochte dem Gebet nicht einmal in dessen Umrissen zu folgen. Strahlende Himmelsbläue, Wolken von Luft, ein Singen fallenden Wassers und zwitschernder Vögel stiegen gleich Ausstrahlungen einer tieferen, urgrundlichen Erinnerung, die nicht ihm selbst, sondern dem Fleisch auf seinen Knochen angehörte, in seinem Inneren auf. Sein Körper erinnerte sich; es schien ihm, daß dieser Körper keineswegs plump, sondern ätherisch und vergänglich wie eine Melodie wäre; er fühlte für ihn eine wundervolle Zärtlichkeit wie für ein unschuldiges, von reinsten Instinkten bewegtes und zu einem frühen Tode verurteiltes Kind. Und auch für Torrance – für diesen von so zahlreichen Gebeten überströmenden und mit so wenigen Tagen beschenkten Torrance – empfand er ein Mitleid, das ihn fast zu Tränen rührte. Das Gebet war zu Ende. Unmittelbar über ihm war eine Tafel in die Mauer gelassen, der einzige Schmuck des roh verputzen Kapellchens – denn mehr war es nicht; die Tafel verewigte die Existenz – fast hätte ich gesagt die Tugenden – irgendeines früheren Rutherfords von Hermiston; und Archie lehnte sich unter jenen Beweis seiner alten Abstammung und lokalen Größe in seinen Stuhl zurück und stählte sich, den Schatten eines halb spielerischen, halb traurigen, aber seltsam reizvollen Lächelns um den Mund, gegen einen langen Ausblick in die Leere. Dies war der Moment, den Dandies Schwester, die in vollem Glasgower Staat neben Clem saß, wählte, um sich den jungen Gutsherrn anzusehen. Ihr war die Bewegung, die bei seinem Eintritt die Reihen durchlief, nicht entgangen, aber die kleine Puritanerin hatte während des Gebetes die Augen gesenkt gehalten und sich ihre sittsame Ruhe des Ausdrucks bewahrt. Das war nicht etwa Heuchelei; es gab auf der Welt keinen Menschen, dem dergleichen ferner lag. Das Mädchen hatte einfach gelernt, sich zu benehmen: gelernt, auf und nieder zu blicken, unbefangen dreinzuschauen, in der Kirche ernst und aufmerksam und in allen Lebenslagen möglichst vorteilhaft zu erscheinen. Das war nun mal der Weiber Art und Vorrecht, und sie spielte das Spiel ganz unverhohlen. Archie war der einzige Mensch in der Kirche, der sie interessierte; er war ein fremdes Wesen, dem Rufe nach ein Sonderling und jung, ein großer Herr, den Christina noch nicht kannte. Kein Wunder, daß ihre Gedanken sich mit ihm beschäftigten, während sie stehend in einer Haltung reizenden Anstandes wartete. Falls er einen Blick für sie übrig hätte, sollte er eine wohlerzogene junge Dame sehen, die schon in Glasgow gewesen war. Vernünftigerweise mußte er ihren Putz bewundern, und vielleicht fand er sie selbst sogar hübsch. Bei diesem Gedanken klopfte ihr Herz ein klein wenig schneller; sogleich begann sie sich als Korrektiv eine Reihe Bilder von dem jungen Mann, der von Rechts wegen jetzt zu ihr herüberblicken müßte, zu entwerfen und rasch wieder zu verbannen. Schließlich entschied sie sich für das wenigst anziehende – einen rosigen, kurzbeinigen Jüngling mit einem Tellergesicht und mangelhafter Figur, über dessen Bewunderung sie getrost lächeln durfte; trotzdem hielt das Gefühl, daß sein Blick auf ihr ruhe (während er in Wahrheit an Torrance und dessen Handschuhen haftete), sie bis zu dem Amen in gelinder Erregung. Selbst dann war sie noch viel zu wohlerzogen, um ihrer Neugier durch Ungeduld zu frönen. Lässig – das war eine Glasgower Nuance – ordnete sie ihren Anzug, zupfte ihren Strauß Himmelsschlüssel zurecht, blickte erst gerade vor, dann hinter sich und gestattete ihren Augen, endlich ohne jede Hast auch nach dem Hermistoner Kirchenstuhl hinüberzuschweifen. Einen Augenblick hafteten sie dort wie gebannt. In der nächsten Sekunde kehrte ihr Blick zu ihr zurück, gleich einem zahmen Vogel vor der Flucht. Möglichkeiten stürmten auf sie ein; schwindelnd bedachte sie die Zukunft; das Bild dieses jungen Mannes, schlank, reizvoll, dunkel, mit jenem unergründlichen, schattenhaften Lächeln, zog sie an und stieß sie ab gleich einem Abgrund. Ob ich wohl meinem Schicksal begegnet bin? fragte sie sich selbst, und ihr schwoll das Herz in der Brust.

Heute behandelte Torrance einen besonders heiklen Punkt der Gottesgelehrtheit und war bereits ziemlich weit mit seinem ersten Abschnitt gediehen, wobei er im Vordringen sich eine feste Grundlage aus Bibeltexten aufbaute, ehe Archie seinerseits sich umschaute. Sein Blick fiel zuerst auf Clem, der unausstehlich satt und behäbig aufsah und Torrance großmütig durch halbe Aufmerksamkeit begönnerte, wie jemand, der von Glasgow her Besseres gewohnt ist. Obwohl er ihn nie zuvor gesehen hatte, wußte Archie doch sofort, wer er war, und fand ihn auch sogleich vulgär, den schlimmsten Typ der Familie. Clem beugte sich gerade faul vor, als Archie ihn zuerst erblickte. Schließlich lehnte er sich nonchalant in seinen Stuhl zurück, und plötzlich ward jene tödliche Waffe, das Mädchen, im Profil demaskiert. Obwohl nicht ganz auf der Höhe der Mode stehend (wer fragte hier schon danach), hatten gewisse kunstgerechte Glasgower Mantillenmacherinnen und ihr eigener natürlicher Geschmack sie sehr vorteilhaft herausgeputzt. Ja, ihr Anzug hatte in jener winzigen Gemeinde viel brennendes Herzweh und fast einen Skandal hervorgerufen. Mrs. Hob hatte ihr bereits in Cauldstaneslap die Meinung gesagt. »Verrückt!« lautete ihr Urteil. »Eine Jacke, die vorn nicht schließt! Was für ’n Sinn hat sie denn, wenn man sie nicht zuknöpfen kann und man damit in den Regen kommt? Und wie nennt man die Dinger an deinen Füßen da? Demmi Brokins, Demi-broquins sagst du? Brocken werden sie sein, ehe du damit wieder nach Hause kommst! Na, mich geht’s ja nichts an – aber ich sag‘ nur – guter Geschmack ist es nicht!« Clem, dessen Portemonnaie diese Metamorphose seiner Schwester bewirkt hatte und der gegenüber der Reklame, die sie für ihn machte, nicht empfänglich war, eilte ihr zu Hilfe. »Unsinn, Weib! Was verstehst du schon von Geschmack, wo du nie in der Stadt gewesen bist?« Und Hob, der mit wohlgefälligem Lächeln das Mädchen musterte, während sie ängstlich in der dunklen Küche ihren Staat präsentierte, hatte die Diskussion mit den Worten beendet: »Hübsch sieht die kleine Katze aus; und regnen wird’s wahrscheinlich auch nicht. Trag die Sachen ruhig heute am Sonntag, Mädel; aber es ist nichts, was man zur Gewohnheit machen soll.« Im Busen ihrer Rivalinnen, die im allzu deutlichen Bewußtsein weißer Unterröcke und mit Gesichtern, die von vieler Seife glänzten, zur Kirche gegangen waren, hatte der Anblick von Christinas Toilette einen Sturm mannigfaltigster Gefühle entfesselt, von einfacher, neidischer Bewunderung angefangen, die sich in einem einzigen, langgezogenen »Ah!« ausdrückte, bis zu jener zornigeren und in den Worten sich Luft machenden Empfindung: »An den Schandpfahl gehört sie!« Ihr Kleid war aus strohfarbenem Seidenmusselin, vorn tief ausgeschnitten und unten fußfrei, um ihre Demi-broquins aus violettem Leder zu zeigen, die mit vielen Schnüren über einem gelben, in Spinnwebmustern gewirkten Strumpf befestigt waren. Nach der hübschen Mode, der unsere Großmütter unbedenklich folgten und mit der bewaffnet unsere Großtanten auszogen, um unsere Großonkel zu erobern, war das Kleid zugeschnitten, um die Formen der Brüste hervortreten zu lassen, und wurde in dem Einschnitt zwischen beiden von einer Brosche aus Rauchtopas gehalten. Hier, ebenfalls in einer sehr beneidenswerten Lage, zitterte der Strauß Himmelsschlüssel. Um die Schultern – oder auf dem Rücken vielmehr, denn er reichte kaum darüber hinaus – trug sie einen Mantel aus Florentiner Taft, der auf der Brust mit Margate-Bändern von der gleichen violetten Farbe wie ihre Schuhe festgebunden war. Ihr Gesicht umrahmte eine Flut wirrer, dunkler Locken; ein zierlicher Kranz gelber, französischer Rosen umwand ihre Stirn, und das Ganze krönte ein ländlicher Hut aus grobem Stroh. Unter all den roten und wettergebräunten Gesichtern ihrer Umgebung erglühte sie gleich einer offenen Blume: Mädchen und Kleidung, der Rauchtopas, der die Sonnenstrahlen auffing und blitzend zurückwarf, ja selbst die bronzenen und goldenen Fäden in ihrem Haare funkelten.

Archie fühlte sich von dem Hellen angezogen wie ein Kind. Er sah sie an, wieder und immer wieder, und ihre Blicke kreuzten sich. Ihre Lippen öffneten sich leise und ließen ihre kleinen Zähne frei. Er sah das rote Blut lebhaft unter der braungoldenen Haut aufsteigen. Ihr Auge, groß wie bei einem Hirsch, begegnete dem seinen, hielt es fest. Er wußte, wer sie sein mußte – Kirstie, das Mädchen mit dem hartklingenden Rufnamen, die Nichte seiner Haushälterin, die Schwester des rustikalen Propheten, Gibs –, und er fand in ihr die Antwort auf all seine Wünsche. Christina fühlte den elektrischen Funken der sich treffenden Blicke, und es war ihr, als entschwebe sie, ganz in Lächeln gekleidet, in mystisch-strahlende Regionen. Aber ihr Entzücken war so kurz, wie es vollkommen war. Hastig blickte sie weg und begann sich sogleich ob dieser Hast zu tadeln. Sie wußte, was sie hätte tun müssen, als es bereits zu spät war – langsam, die Nase in der Luft, hätte sie sich wegdrehen müssen. Inzwischen aber blieb sein Blick an ihr haften und schien sie zu bestürmen gleich einer Batterie trefflich gerichteter und in fortgesetzter Tätigkeit befindlicher Geschütze; jetzt schien er sie und sich völlig zu isolieren, jetzt wieder hob er sie vor der ganzen Gemeinde gleichsam auf den Pranger. Archie fuhr fort, mit den Augen ihr Bild zu trinken, ähnlich dem Wanderer, der am Berge auf eine Quelle stößt und sein Gesicht eintaucht und sich nicht satt trinken kann. Das feurige Auge des Topas und die blassen Blüten der Primeln in der Kerbe ihrer kleinen Brüste bannten ihn. Er sah, wie diese Brüste sich hoben und senkten, und fragte sich verwundert, was das Mädchen wohl so erregen könne. Und Christina fühlte wieder diesen Blick, nahm ihn wahr – vielleicht mit dem graziösen Spielzeug von Ohr, das unter ihren Locken hervoräugte; sie fühlte, wie sie die Farbe wechselte, fühlte ihren unruhigen Atem. Gleich einem Geschöpf der Wildnis, das sich gehetzt, eingeholt und allseits umstellt sieht, fahndete sie nach einem Dutzend Auswege, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie holte ihr Taschentuch hervor – es war wirklich ein sehr feines – und steckte es erschrocken wieder ein: »Er glaubt vielleicht, mir wäre zu heiß.« Sie fing an, in den metrischen Psalmen zu lesen, und erinnerte sich plötzlich, daß ja die Predigt im Gange wäre. Endlich steckte sie sich eine gezuckerte Pflaume in den Mund und bereute bereits im nächsten Augenblick diesen Schritt. Was für ein hausbackenes Benehmen! Mr. Archie würde bestimmt niemals in der Kirche Süßigkeiten essen; mit gewaltiger Anstrengung schluckte sie das Ganze hinunter, und sofort war ihr Gesicht eine einzige Flamme. Bei diesem Zeichen tödlicher Verlegenheit erwachte Archie zum Bewußtsein seines schlechten Benehmens. Was hatte er nur getan? Er war in der Kirche unerhört unhöflich zu seiner Haushälterin Nichte gewesen; er hatte gleich einem Lakai und Libertin ein schönes und züchtiges Mädchen angestarrt. Es war möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß man ihn nach dem Gottesdienst auf dem Friedhof vorstellen würde, und wie würde er dann dastehen? Es gab für ihn keine Entschuldigung. Er hatte die Zeichen ihrer Scham, ihrer wachsenden Empörung bemerkt, und er war ein solcher Esel, daß er sie nicht einmal begriffen hatte. Scham lastete jetzt auf ihm, und er blickte resolut zu Mr. Torrance hinüber. Dieser brave, würdige Mann ahnte freilich nicht, während er fortfuhr, das Werk der Erlösung durch den Glauben zu erläutern, was in Wahrheit sein Amt war: nämlich zwei Kindern gegenüber bei dem uralten Spiel des Sichverliebens die Rolle des Blitzableiters zu spielen.

Anfänglich verspürte Christina eine ungeheuere Erleichterung. Es war ihr, als ginge sie plötzlich nicht mehr nackt. Sie überdachte das Geschehene. Alles wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn sie nur nicht rot geworden wäre! Dumme Närrin! Was gab es da zu erröten, selbst wenn sie eine Zuckerpflaume gegessen hatte! Mrs. Mac Taggert, die Frau des Kirchenvorstehers von St. Enoch, tat das häufig. Und wenn er sie schon angeblickt hatte – was war natürlicher, als daß ein junger Mann das bestangezogene Mädchen in der Kirche sich ansah? Gleichzeitig wußte sie genau, daß dies nicht stimmte; sie wußte, in dem Blick hatte nichts Zufälliges, Alltägliches gelegen, und sie schätzte sich selbst höher und den Blick als eine Art Auszeichnung. Nun, ein Segen, daß er jetzt etwas anderes zum Ansehen gefunden hatte! Und bald gingen ihre Gedanken in eine neue Richtung. Es war ihrer Ansicht nach notwendig, daß sie sich durch eine besser geführte Wiederholung des Vorfalls rechtfertigte. War der Wunsch Vater des Gedankens, so wurde sie sich dessen doch nicht bewußt oder wollte es sich nicht eingestehen. Der Anstand – die Notwendigkeit, die Bedeutung des Geschehenen zu vermindern – erheischte, daß sie ein zweites Mal, ohne zu erröten, seinen Augen begegnete. In Erinnerung an dieses Erröten errötete sie von neuem und war im nächsten Augenblick eine einzige, heiße Blutwelle. Hatte jemals zuvor ein Mädchen sich so unpassend, so herausfordernd benommen? Sie hatte hier vor der ganzen Gemeinde um nichts und wieder nichts eine Szene aufgeführt! Heimlich warf sie einen Blick zu ihren Nachbarn hinüber, und siehe: Alle schienen unerschütterlich gleichgültig, ja Clem war sogar eingenickt! Und doch gewann diese eine Idee immer mehr Macht über sie: schon die gemeine Klugheit erforderte, daß sie noch einmal hinüberblicke, ehe der Gottesdienst zu Ende wäre. Ähnliches ging auch in Archie vor; er kämpfte mit der Last seiner Reue. Und so geschah es, daß in einem einzigen bebenden Moment, als der letzte Choral bekanntgegeben wurde und Torrance die Verse las und die Blätter sämtlicher Gesangbücher zwischen eifrigen Fingern raschelten, zwei heimliche Blicke antennengleich zwischen den Kirchenstühlen und über deren gleichgültige und geschäftige Insassen ausgesandt wurden und sich der geraden Linie von Archie zu Christina näherten. Jetzt trafen sie sich, saugten sich den geringsten Bruchteil einer Sekunde fest! Vorbei! Ein elektrischer Funke durchzuckte Christinas Körper, und siehe: Die Seite ihres Gesangbuches war mitten durchgerissen!

Archie stand draußen neben dem Friedhofstor, unterhielt sich mit Hob und dem Pfarrer und schüttelte allseits der auseinandergehenden Gemeinde die Hände, als Clem und Christina zur Vorstellung herangerufen wurden. Der junge Herr lüftete den Hut und verneigte sich anmutig und ehrerbietig. Christina machte dem Herrn ihren Glasgower Knicks und schritt weiter in der Richtung von Hermiston und Cauldstaneslap, eilig, nach Atem ringend, mit erhöhter Farbe und in jener seltsamen Verfassung, die ihr während des Alleinseins ein vollkommenes Glücksgefühl vortäuschte und sie jedes Ansprechen gleich einem Widerspruch verübeln hieß. Einen Teil des Weges mußte sie die Begleitung einiger Nachbarmädchen und eines tölpelhaften Jünglings erdulden; niemals waren sie ihr so fade erschienen; noch nie hatte sie sich selbst so unfreundlich gezeigt. Aber nacheinander bogen sie alle vom Wege ab, um sich nach ihren verschiedenen Bestimmungsorten zu begeben, oder blieben hinter der rasch schreitenden Christina zurück; und nachdem sie das angebotene Geleit einiger Neffen und Nichten mit scharfen Worten zurückgewiesen hatte, konnte sie endlich, wie auf Luft und von Wolken des Glücks umgeben, ungestört den Hermistoner Berg hinaufwandeln. Nahe dem Gipfel hörte sie Schritte hinter sich, eines Mannes Schritte, leicht und sehr rasch. Sie erkannte sie sofort und eilte um so hastiger vorwärts. »Wenn er’s auf mich abgesehen hat, soll er um mich laufen«, dachte sie lächelnd.

Archie überholte sie gleich einem Mann, dessen Entschluß feststeht.

»Miß Kirstie«, begann er.

»Miß Christina, bitte, Mr. Weir«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich kann die Abkürzung nun mal nicht leiden.«

»Sie vergessen, daß sie in meinen Ohren freundlich klingt. Ihre Tante ist eine alte Freundin von mir, und zwar eine sehr liebe. Ich hoffe, wir werden Sie häufig in Hermiston sehen?«

»Meine Tante und meine Schwägerin kommen nicht gut miteinander aus. Nicht daß es mich was anginge. Aber während ich dort wohne, würde es nicht recht rücksichtsvoll erscheinen, falls ich meine Tante besuchte.«

»Das tut mir aber leid«, meinte Archie.

»Danke vielmals, Mr. Weir«, entgegnete sie. »Ich denke mitunter selbst, daß es recht schade ist.«

»Ach, sicherlich stehen Sie immer auf seiten des Friedens!« rief er.

»Davon würde ich nicht so ganz überzeugt sein«, sagte sie. »Ich hab‘ auch meine bösen Tage, wie andere Leut‘.«

»Wissen Sie, in unserer alten Kirche unter unseren grauen, alten Matronen wirkten Sie wie ein Strahl Sonnenschein.«

»Ach, das sind nur meine Glasgower Kleider.«

»Ich glaube nicht, daß ich so stark unter dem Einfluß hübscher Sachen stehe.«

Sie lächelte und warf ihm einen halben Blick zu. »Sie wären nicht der einzige!« sagte sie. »Aber ich bin nur ein Aschenputtel, wirklich. Ich muß all diese Dinge wieder in meinen Koffer packen; nächsten Sonntag werd‘ ich so grau wie die andern sein. Es sind Glasgower Kleider, verstehen Sie, und es ginge beileibe nicht, daß man sie zu einer Gewohnheit machte. Das würde zu auffallend sein.«

Jetzt waren sie an die Stelle gelangt, an der ihre Wege sich trennten. Rings dehnten sich die alten, grauen Moore, in deren Mitte ein paar Schafe wanderten; vor ihnen sahen sie die verstreute Karawane sich den Berg nach Cauldstaneslap hinaufarbeiten, seitwärts zweigte das Hermistoner Kontingent vom Wege ab und verschwand gruppenweise hinter den Toren des Parks. In dieser Umgebung wandten sie sich einander zu, um Lebewohl zu sagen, und als sie sich die Hände schüttelten, sahen sie sich bewußt fest in die Augen. Alles ging gesittet vor sich, wie es sich gehörte; und als Christina die steile Anhöhe nach Cauldstaneslap hinaufklomm, verdrängte ein befriedigendes Gefühl des Triumphes die Erinnerung an geringe Entgleisungen und Fehler. Sie trug jetzt ihr Kleid hochgeschürzt, wie sie das auf diesem rauhen Bergweg gewöhnlich tat; als sie jedoch entdeckte, daß Archie ihr immer noch vom gleichen Flecke nachstarrte, flogen die Röcke wie durch Zauber wieder herunter. Das war eine Probe der Gesittung hier in dieser Berggemeinde, wo die Matronen im Regen mit aufgesteckten Röcken und die Mädchen barfuß durch den sommerlichen Staub wanderten, um später vor ihrem Eintritt in die Kirche tapfer auf einem Stein am Bachesrand öffentlich Toilette zu machen! Vielleicht war jene Geste ihr von Glasgow zugeweht, vielleicht bezeichnete sie auch nur ein Stadium jenes Rausches befriedigter Eitelkeit, der eine instinktive Handlung unbemerkt geschehen läßt. Er sah ihr nach! Sie erleichterte ihren Busen durch einen ungeheuren Seufzer reinster Freude und hub zu laufen an. Als sie die Nachzügler der Familie überholte, zog sie jene Nichte, die sie eben erst zurückgestoßen hatte, an sich, küßte sie, gab ihr einen Klaps und trieb sie unter anmutigem Lachen und Rufen vor sich her. Vielleicht, dachte sie, beobachte der junge Herr sie noch immer. Zufällig jedoch spielte sich die kleine Szene vor weniger wohlwollenden Augen ab, denn jetzt kam Christina an Mrs. Hob vorbei, die mit Clem und Dand des Weges marschierte.

»Wahrhaftig, bei dir spukt’s, Mädel!« meinte Dandie. »Sollst dich was schämen!« erklärte die streitbare Mrs. Hob. »Ist das ’ne Art, sich auf dem Heimwege von der Kirche zu benehmen? Bist wahrhaftig nicht gescheit heute! Zum mindesten würd‘ ich achtgeben auf meine guten Kleider!«

»Pah!« sagte Christina und schritt allen voran, Kopf in der Luft, mit dem Tritt eines wilden Rehs den rauhen Bergpfad hinauf.

Sie war verliebt in sich selbst, in ihr Geschick, in die Luft der Berge, in das Gnadengeschenk der Sonne. Auf dem ganzen Heimwege hielt sie der Rausch ihrer himmelstürmenden Laune in Bann. Bei Tisch war sie beherrscht genug, um unbefangen über den jungen Hermiston zu reden; mit lauter Stimme und ziemlich nonchalant meinte sie, er wäre ein hübscher, junger Mann, mit wirklich artigen Manieren und dazu recht vernünftig, aber es sei doch schade, daß er so traurig aussähe. Im nächsten Augenblick setzte die Erinnerung an seine Augen in der Kirche sie in Verlegenheit. Das war jedoch alles. Diese unbedeutende Hemmung ausgenommen, entwickelte sie die Mahlzeit über einen guten Appetit und ließ die anderen aus dem Lachen nicht herauskommen, bis Gib (der vor ihnen von seinen separatistischen Andachtsübungen in Crossmichael heimgekehrt war) sie alle ob ihrer unziemlichen Heiterkeit tadelte.

Im Gehen »in sich hineinsingend«, immer noch ein Chaos froher Gedanken im Busen, trippelte sie nach oben in ihre enge, von vier kleinen Giebelfenstern erhellte Dachkammer, die sie mit einer ihrer Nichten teilte. Die Kleine, auf »Tantchens« gute Laune pochend, war ihr gefolgt und wurde höchst unzeremoniös aus der Kammer wieder hinausexpediert, um, brennend unter der Kränkung und halb in Tränen, ihren Kummer auf dem Boden im Heu zu ersticken. Immer noch summend, entledigte sich Christina ihres Putzes und barg nacheinander ihre Schätze in ihrem großen, grünen Koffer, als letztes ihr Gesangbuch. Dieses war ein schönes Stück, ein Geschenk von Mrs. Clem, in deutlicher, altmodischer Schrift auf einem Papier gedruckt, das vom langen Lagern auf dem Speicher – nicht vom Gebrauch – vergilbt war, und Christina war gewohnt, es allsonntäglich nach dem Gottesdienst in ein Taschentuch zu hüllen und es zuoberst in ihrem Koffer wegzulegen. Als sie es jetzt in die Hand nahm, öffnete es sich an der Stelle, an der das Blatt zerrissen war, und sie blieb stehen und betrachtete sinnend diesen Beweis ihrer früheren Aufregung. Da tauchten vor ihr zwei braune Augen auf, die sie, leuchtend und sehr intensiv, aus einem dunklen Kirchenwinkel anstarrten. Beim Anblick des zerfetzten Blattes sah sie blitzartig die ganze Erscheinung vor sich, die Haltung, das Lächeln, die angedeutete Geste des jungen Hermiston. »Wahrhaftig, bei mir hat’s heute gespukt!« sagte sie, Dandies Worte wiederholend, und bei dem Gedanken an ein unnatürliches, vorausbestimmtes Geschick wich ihre freudige Stimmung. Sie warf sich der Länge nach auf ihr Bett und lag dort stundenlang, das Gesangbuch in der Hand, die meiste Zeit in starrem, gelähmtem Widerstreit sich sträubender Freude und unvernünftiger Furcht. Diese Furcht war abergläubisch; wieder und wieder stieg die Erinnerung an Dandies unheilvolles Wort auf, und hundert düstere, unheimliche Geschichten aus der nächsten Nachbarschaft bestätigten ihr dessen Sinn. Die Freude drang nicht bis in ihr Bewußtsein vor. Vielmehr waren es die einzelnen Glieder ihres Körpers, welche dachten und sich erinnerten und froh waren, während ihr wahres Ich im Mittelpunkt ihres Bewußtseins fieberhaft von anderen Dingen redete, gleich einem nervösen Menschen bei einem Feuer. Das Bild, bei dem sie am liebsten verweilte, war das Fräulein Christina in ihrer Eigenschaft als hübsches Mädchen von Cauldstaneslap, das in strohfarbenem Kleid, violetter Mantille und gelben Spinnwebstrümpfen alle Herzen im Sturm eroberte. Archies Bildnis dagegen wurde, wenn es auftauchte, nicht willkommen geheißen, viel weniger mit Inbrunst begrüßt; ja mitunter mußte es erbarmungsloser Kritik standhalten. Im Laufe der langen, verschwommenen Dialoge, die sie in Gedanken häufig mit allerlei Bildern, häufig auch mit schattenhaften Fragestellern hielt, mußte Archie, falls er überhaupt erwähnt wurde, die rauheste Behandlung erdulden. Da hieß es, »daß er der reinste Storch wäre«, »geglotzt hätte wie ein Kalb«; »ein Gesicht wie ein Gespenst besäße« usw. »Überhaupt, was sind das für Manieren?« fragte sie; oder: »Ich hab‘ ihn aber gehörig zurechtgewiesen«. »›Jungfer Christina, bitte, Mr. Weir‹, hab‘ ich gesagt und meine Röcke aufgerafft und damit gut.« Mit dergleichen verworrenem Geschwätz unterhielt sie sich ununterbrochen lange Zeit; dann fiel ihr Blick auf das zerrissene Blatt, und die Augen Archies sprangen aus dem Dunkel der Mauer heraus, und die geläufigen Worte stockten, und sie lag still und stumpf und dachte hingegeben an nichts und seufzte mitunter nur leise. Wäre ein Doktor der Medizin in jene Dachkammer gestiegen, er hätte sie als ein gesundes, gutentwickeltes, lebenssprühendes Mädchen diagnostiziert, das sich in momentaner Schmollstimmung auf ihr Bett geworfen hatte, und durchaus nicht als einen Menschen, der soeben erst von einer tödlichen Krankheit des Gemüts, die ihn dem Tode und der Verzweiflung nahebringen konnte, befallen war oder befallen wurde. Wäre er ein Doktor der Psychologie gewesen, er hätte in dem Mädchen eine bis zur Leidenschaft gesteigerte kindische Eitelkeit, eine Selbstliebe in excelsis entdeckt und auch verziehen, sonst aber nichts. Es ist jedoch zu bedenken, daß ich hier das Chaos schildere, das Unfaßbare in Worte fasse. Keine Linie, die nicht zu deutlich, kein Ausdruck, der nicht zu stark wäre. Man denke sich einen Wegweiser in den Bergen an einem Tage brauender Nebel; ich habe lediglich die Namen auf jenem Schilde kopiert, die Namen bestimmter, bekannter und zur Zeit vielleicht im Sonnenschein sich badender Städte, während Christina all diese Stunden gleichsam am Fuße des Zeigers weilte, bewegungslos und in fließende, blinde Nebelschwaden gehüllt.

Der Tag ging zur Neige, die Sonnenstrahlen wurden lang und schräge, als sie sich plötzlich aufraffte und das Gesangbuch, das in dem ersten Kapitel ihrer Liebesgeschichte bereits eine so wichtige Rolle gespielt, in das Taschentuch wickelte und wegschloß. Es wird behauptet, daß mangels des Auges des Mesmeristen auch ein leuchtender Nagelkopf als Ersatz dienen könne, vorausgesetzt, daß man ihn nur recht inständig betrachte. So hatte jene zerrissene Seite ihre Aufmerksamkeit an eine Sache gefesselt, die ihr andernfalls nur unbedeutend erschienen wäre und die sie sonst vielleicht bald vergessen hätte, während die unheilschwangeren Worte Dandies – vernommen, doch nicht beachtet und dennoch haften geblieben – ihren Gedanken oder besser ihrer Stimmung eine gewisse Feierlichkeit und Schicksalhaftigkeit verliehen: das Bewußtsein heidnischen Fatums, keiner christlichen Gottheit unterworfen, dunkel, gesetzlos, erhaben und unerbittlich in die Schicksale der Christenheit eingreifend. So läßt sich selbst das seltene Phänomen der Liebe auf den ersten Blick, das so einfach und so zwingend, ja einer Erschütterung unserer Lebensfundamente vergleichbar erscheint, in eine Folge zufälliger Ereignisse auflösen. Sie legte ein graues Kleid mit rosa Fichu an, betrachtete sich einen Augenblick wohlgefällig in dem kleinen, viereckigen Glas, das ihr als Toilettenspiegel diente, und schlich sich leise die Treppe hinunter und durch das schlafende Haus, das von nachmittäglichem Schnarchen widerhallte. Unmittelbar vor der Tür saß Dandie mit einem Buch in der Hand; er las jedoch nicht, sondern ehrte den Sabbat lediglich durch vollkommene Gedankenleere. Sie trat zu ihm und blieb stehen.

»Ich will ins Moor hinaus, Dandie«, sagte sie. Ihr Ton war ungewöhnlich weich, und er blickte auf. Sie war blaß, ihre Augen strahlten dunkel; nirgends mehr eine Spur von ihrer früheren Ausgelassenheit.

»Ist’s wahr, Mädel? Bei dir geht’s auch immer bergauf und bergab, akkurat wie bei mir«, bemerkte er.

»Was meinst du damit?« erkundigte sie sich.

»Oh, nichts Besonderes«, sagte Dandie. »Ich meine nur, du bist mir ähnlicher als die andern alle. Hast mehr von dem poetischen Temperament, wenn auch nichts von der Begabung, weiß der liebe Herrgott. Nun, ’s ist im besten Fall ein heikles Geschenk. Sieh dich selber an. Beim Essen warst du ganz Sonnenschein und Blumen und Lachen, und jetzt bist du wie der Abendstern über einem See.«

Sie trank das abgedroschene Kompliment gleich Wein; es glühte in ihren Adern.

»Ich sagte schon, Dand« – sie trat näher –, »ich will hinaus ins Moor. Ich muß mal Luft schöpfen. Wenn Clem nach mir fragt, stopf ihm den Mund, nicht wahr?«

»Wie denn?« fragte Dandie. »Ich kenn‘ nur eine Methode, und die heißt lügen. Ich werd‘ ihm sagen, daß du Kopfschmerzen gehabt hättest, wenn du willst.«

»Ich hab‘ aber keine«, wandte sie ein.

»Schon recht«, entgegnete er, »ich sagte ja auch nur, ich würde behaupten, daß du welche gehabt hättest; und wenn du’s mir hinterher abstreiten willst, bleibt’s auch so ziemlich gleich; mein Ruf ist sowieso ein für allemal hin.«

»O Dand, bist du denn ein Lügner?« fragte sie und zögerte noch immer.

»Die Leut‘ behaupten es«, entgegnete der Barde.

»Wer behauptet es?« fuhr sie fort.

»Die, welche mich am besten kennen«, erwiderte er. »Die Mädels, zum Beispiel.«

»Aber Dand, mich würdest du doch nie belügen?« forschte sie.

»Das will ich dir überlassen, Katzel«, meinte er. »Wirst mich schon rasch genug beschwindeln, wenn du erst einen Schatz hast. Das sag ich dir, und es ist die Wahrheit; wenn du erst ’n Schatz hast, hast du ihn für gute und schlechte Tage, komme, was da will. Ich kenn‘ mich aus: war auch einmal so, aber der Teufel hat mir reingepatzt. Und jetzt mach, daß du fortkommst, und laß mich in Ruh; bist akkurat in meine poetische Stunde reingefahren, du unruhiger Aff.« Aber sie klammerte sich an ihres Bruders Gesellschaft, weshalb, wußte sie selbst nicht.

»Willst mir nicht einen Kuß geben, Dand?« bat sie. »Hab‘ dich immer so gern gehabt.«

Er küßte sie und musterte sie einen Augenblick; etwas an ihr mutete ihn fremd an. Aber er war durch und durch Frauenjäger, hegte für das ganze Weibervolk nur Verachtung, gleichmäßig mit Argwohn gepaart, und erkaufte sich seinen Weg unter ihnen gewohnheitsmäßig durch müßige Komplimente.

»So, und jetzt lauf!« sagte er. »Bist ein appetitlicher Fratz; damit gib dich zufrieden!«

So war Dandie: ein Kuß und ein Zuckerplätzchen für die Hanne – billigen Tand und seinen Segen für Marie – und dann gute Nacht und auf Nimmerwiedersehen der ganzen Bande! Dinge, die ans Ernste streiften, waren Männerangelegenheiten: das dachte und sagte er offen. Frauen durften einen nicht gefangennehmen; sie waren Kinder, die man gegebenenfalls fortscheuchte. Lediglich in seiner Eigenschaft als Connoisseur blickte er seiner Schwester flüchtig nach, als sie über die Wiese schritt. »Der Balg ist gar nicht so übel!« dachte er überrascht, denn obwohl er ihr eben erst ein Kompliment gezollt, hatte er sie doch nicht wirklich angesehen. »Nanu? Was soll das heißen?« Das graue Kleid hatte kurze Ärmel und einen fußfreien Rock und enthüllte ein paar feste, schlanke Beine in rosa Strümpfen von der gleichen Farbe wie das Tuch, das sie um die Schultern trug, und die Strümpfe glänzten im Gehen. Das war nicht das richtige Werkelstaggewand; er kannte ihre Gepflogenheiten und die aller Weiber hierzulande, keiner kannte sie besser; wenn sie nicht barfuß gingen, trugen sie dicke, wollene Strümpfe meist von fast unsichtbarem Blau, wenn nicht gar Schwarz; und beim Anblick dieses Putzes rechnete Dandie zwei und zwei zusammen. Das Busentuch war aus Seide, folglich würden die Strümpfe gleichfalls aus Seide sein; sie paßten zueinander – ergo war der ganze Anzug ein Geschenk Clems, ein kostbares Geschenk, keines, das man spät an Sonntagnachmittagen durch Sumpf und Dornen spazierentrug. Er stieß einen Pfiff aus. »Mein sauberes Püppchen, entweder du bist ganz verdreht, oder es geht hier was vor«, bemerkte er und ließ damit den Gegenstand fallen.

Sie ging anfänglich langsam, dann immer rascher und in geraderer Linie auf Cauldstaneslap zu, einen Paß zwischen den Bergen, dem der Hof seinen Namen verdankte. Der Paß öffnete sich gleich einer Tür zwischen zwei runden Hügelkuppen; durch ihn führte der Abkürzungsweg nach Hermiston. Auf der anderen Seite fiel er stracks ab in das Teufelsmoor, ein ziemlich großes, morastiges Tal zwischen den Höhen, voller Quellen, verkrüppeltem Wacholder und Tümpeln, in denen das schwarze Torfwasser schlummerte. Hier gab es keine Aussicht. Man hätte ein halbes Jahrhundert lang auf des Betenden Webers Stein sitzen können, ohne ein einziges Lebewesen zu sehen, außer zweimal alle vierundzwanzig Stunden die Kinder von Cauldstaneslap auf dem Schulwege und gelegentlich einen Schäfer samt seinem Clan Schafe, oder die Vögel, die schreiend und schrill pfeifend die Quellen belagerten. Sowie Kirstie daher den Eingang des Passes durchschritten hatte, sah sie sich von Einsamkeit umfangen. Sie blickte ein letztes Mal nach dem Hofe zurück. Immer noch lag er verlassen, mit Ausnahme von Dandie, den man jetzt etwas in seinen Schoß kritzeln sah, denn endlich war der Muse ersehnte Stunde gekommen. Von dort kreuzte sie in raschem Schritt das Moor und erreichte das andere Ende, wo ein träger Bach entspringt, den der Weg nach Hermiston in seinem ersten Abschnitt zu Tal geleitet. Von dieser Seite aus gewann sie einen umfassenden Rundblick über die ganze Heidefläche, die stellenweise vom Winterfrost immer noch gelblich und rotbraun schimmerte, mit dem kühn sie durchschneidenden Pfad samt einzelnen Birkengruppen am Bachesrand und – zwei Meilen fern im Vogelflug, von jungen Pflanzungen und Einfriedungen umgeben – den in der Abendsonne blitzenden Fenstern von Hermiston.

Hier setzte sie sich und wartete und spähte lange Zeit nach den fernen, hellen Scheiben hinüber. Es freute sie, einen so weiten Blick zu haben, schoß es ihr durch den Kopf. Es freute sie, das Hermistoner Herrenhaus zu sehen. »Menschen, Nachbarn«, und in der Tat unterschied sie eine menschliche Einheit, vielleicht den Gärtner, der dort den Kiesweg herunterschlenderte.

Als die Sonne untergegangen war und die östliche Moorfläche ganz in klarem Schatten lag, gewahrte sie eine männliche Gestalt mit äußerst unregelmäßigen Schritten, jetzt laufend, dann wieder innehaltend und unverhohlen zögernd, den Pfad hinaufkommen. Sie beobachtete ihn anfänglich in völliger Gedankenleere. Sie hielt ihre Gedanken an, wie ein Mensch den Atem anhält. Dann, endlich, gestattete sie sich, ihn zu erkennen. »Er wird nicht hierherkommen, es kann nicht sein; es ist unmöglich.« Und eine unterdrückte, würgende Spannung bemächtigte sich langsam ihrer. Aber er kam wirklich; sein Zaudern war völlig dahin, sein Schritt wurde fest und rasch; es blieb kein Raum für Zweifel. Statt dessen erhob sich sogleich die Frage: Was sollte sie tun? Was nützte es schon, daß ihr Bruder selbst ein Grundbesitzer war, daß man von gelegentlichen Zwischenheiraten sprach und auf die Verwandtschaft pochte wie Tante Kirstie? Der Unterschied in ihrer sozialen Stellung war schneidend; Schicklichkeit, Klugheit, alles, was sie gelernt hatte, was sie wußte, hieß sie fliehen. Allein der Becher des Lebens, der sich ihr bot, war gar zu köstlich. Einen kurzen Augenblick erkannte sie deutlich die Frage und traf endgültig ihre Wahl. Sie stand auf und zeigte ihre Umrisse eine Sekunde lang klar gegen den Himmel in dem Bergeinschnitt; in der nächsten Sekunde floh sie zitternd und setzte sich, glühend vor Aufregung, auf des Betenden Webers Stein. Sie schloß die Augen und rang, betete um Fassung. Die Hand in ihrem Schoß bebte, sinnlose, nichtige Reden drängten sich in ihrem Hirn. Was gab es nur, sich so anzustellen! Sie war sich selber doch Schutz genug! Was konnte es schaden, mit dem jungen Herrn zusammenzutreffen? Es war im Gegenteil das Beste, was geschehen konnte. Sie würde ein für allemal die richtige Entfernung zwischen ihnen abstecken. Mählich, ganz allmählich hörten die Räder ihres Seins auf, wie toll zu kreisen, und sie saß in passiver Erwartung, eine stille, einsame Gestalt mitten im grauen Moos. Ich sagte, sie sei keine Heuchlerin gewesen, aber darin tat ich unrecht. Nicht einen Augenblick gestand sie sich selber zu, daß sie den Berg hinaufgekommen wäre, um Archie zu treffen. Und vielleicht wußte sie es wirklich nicht, vielleicht geschah es einfach, wie der Stein zur Erde fällt. Denn die Schritte der Jugend sind in der Liebe, besonders bei Mädchen, instinktiv und unbewußt.

Inzwischen kam Archie eilig näher; er zum mindesten suchte bewußt ihre Nähe. Der Nachmittag war zu Asche geworden in seinem Munde; die Erinnerung an das Mädchen hatte ihn am Lesen verhindert und ihn wie mit Stricken gezogen, und endlich bei beginnender Abendkühle hatte er mit ersticktem Ausruf nach seinem Hut gegriffen und sich auf den Heideweg nach Cauldstaneslap gemacht. Er erwartete nicht, sie hier zu treffen; er wählte diese blasse Möglichkeit ohne Hoffnung auf Erfolg, lediglich um seine eigene Unruhe zu bekämpfen. Um so größer war daher seine Überraschung, als er den Hang hinaufklomm und das Teufelsmoor erreichte, hier auf des Toten Webers verwittertem Stein als Erfüllung all seiner Wünsche die zierliche, frauliche Gestalt in dem grauen Kleide und dem rosa Brusttuch zu finden, klein, hingekauert, verloren und grenzenlos einsam in dieser Öde. Was noch vom Winter sprach, umgab sie rings mit rostigbraunem Schimmer, und alle Frühlingsverheißungen hatten die zarten, frischen Farben der kommenden Zeit angelegt. Selbst das unwandelbare Antlitz des Grabsteins verriet den Wandel des Jahres: das Moos in der geritzten Inschrift erneuerte sich in funkelnden Juwelen von Grün. Dank eines nachträglichen, echt künstlerischen Einfalls hatte das Mädchen den rückwärtigen Zipfel ihres Tuches über den Kopf gezogen, daß es jetzt eine kleidsame Folie für ihr lebhaftes und doch nachdenkliches Gesicht bot. Sie saß, die Füße hochgezogen, und stützte sich auf den rechten Arm, der kräftig und rund in einer schlanken Handfessel auslief und im schwindenden Lichte glänzte. Ein kühler Schauer überlief den jungen Hermiston. Ihm kam der Gedanke, daß er sich jetzt auf eine ernste, um Tod und Leben gehende Angelegenheit einlasse. Es war ein erwachsenes Weib, dem er sich hier näherte, begabt mit geheimnisvollen Kräften und Reizen, mit dem ewigen Schatz ihres Geschlechts, und er war nicht besser und nicht schlechter als der Durchschnitt seines Alters und seiner Art. Eine gewisse Zartheit war ihm eigen, die ihn bisher rein erhalten und die ihn (ohne daß er oder sie es ahnte) nur um so gefährlicher machte, sobald sein Herz ernstlich gesprochen hatte. Seine Kehle war trocken, als er sich ihr näherte, aber die bittende Süße ihres Lächelns stand, ein Schutzengel, zwischen ihnen beiden.

Denn sie wandte sich ihm zu und lächelte, jedoch ohne sich zu erheben. In dieser Art, ihn als Kavalier zu begrüßen, lag eine Nuance, die beiden entging, ihm sowohl, der ihren Gruß einfach liebenswürdig und anmutig wie sie selbst fand, als auch ihr, die sie trotz ihres raschen Denkens den Unterschied zwischen dem Aufstehen, um den jungen Herrn zu begrüßen, und dem sitzenden Gruß an den erwarteten Verehrer nicht erfaßte.

»Geht Ihr nach Westen, Hermiston?« fragte sie, indem sie ihm nach der herrschenden Sitte den Titel seines Guts verlieh.

»Jawohl«, sagte er ein wenig heiser, »aber ich glaube, mein kleiner Spaziergang ist jetzt zu Ende. Geht es Ihnen wie mir, Fräulein Christina? Mich duldete es nicht zu Hause. Ich kam hierher, um Luft zu schöpfen.«

Er ließ sich auf dem anderen Ende des Grabsteins nieder und betrachtete sie, forschend, was wohl hinter ihr stecke. Diese Frage war unendlich wichtig für sie beide. »Ja«, meinte sie, »auch ich konnte kein Dach über dem Kopf vertragen. Es ist so eine Gewohnheit von mir, wenn’s dämmert und es ruhig und kühl ist, hierherzukommen.«

»Das war auch meiner Mutter Gewohnheit«, sagte er ernst. Halb schreckte ihn die Erinnerung, als er ihr Worte verlieh. Er blickte sich um. »Seither bin ich kaum hiergewesen. Es ist friedlich hier«, sagte er, tief Atem schöpfend.

»Ja, ganz anders als in Glasgow«, entgegnete sie. »Ein trauriger Ort, Glasgow! Aber was für einen Tag und welch herrlichen Abend hab‘ ich mir für mein Heimkommen ausgesucht!«

»Ja, es war wahrhaftig ein wunderbarer Tag«, sagte Archie. »Ich glaube, ich werde ihn nicht vergessen, bis ich sterbe. An Tagen wie heute – ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht – erscheint alles so flüchtig, so gebrechlich und so wundervoll, daß ich Angst habe, mit dem Leben in Berührung zu kommen. Wir sind gar so kurze Zeit hier auf Erden – und all die alten Leute vor uns – die Rutherfords von Hermiston, die Elliotts von Cauldstaneslap –, alle, die vor kurzem erst hier herumritten und viel Geschrei in diesem stillen Winkel machten – und liebten und heirateten –, wo sind sie jetzt? Es ist eine tödliche Banalität, die ich da sage, aber schließlich sind auch die großen poetischen Wahrheiten Banalitäten.«

Er war am Werk, sie zu prüfen, halb unbewußt, ob sie ihn wohl verstehen würde, um zu erfahren, ob sie nur ein Tier wäre, in die Farben der Blumen gekleidet, oder auch eine Seele besäße, ihr unvergänglichen Liebreiz zu verleihen. Sie, ihrerseits, wartete beherrscht und frauengleich auf eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen und seine Stimmung widerzuspiegeln, wie immer diese auch sein mochte. Der dramatische Künstler, der schlummernd oder nur halb wach in fast allen Menschen ruht, war in ihr zu göttlicher Raserei erweckt, und der Zufall war ihr günstig. Sie warf ihm einen zurückhaltenden, dämmrigen Blick zu, wie er zu dieser Stunde und zu seinem Gedankengang paßte; heiliger Ernst leuchtete aus ihr gleich den Sternen im purpurnen Westen; und von der starken, aber gebändigten Erschütterung ihres ganzen Wesens ging ein Schauer in ihre Stimme über, der auch in ihren nebensächlichsten Worten widerklang.

»Erinnert Ihr Euch an Dandies Lied?« fragte sie. »Ich glaube, er hat damit ausdrücken wollen, was Ihr soeben dachtet.«

»Nein, ich habe es niemals gehört«, meinte er. »Wollen Sie es mir nicht aufsagen?«

»Es ist aber gar nichts ohne Melodie«, entgegnete Christina.

»Dann singen Sie’s mir doch vor«, bat er.

»Am heiligen Sonntag? Das ginge doch beileibe nicht, Mr. Weir.«

»Ich fürchte, ich nehm‘ es mit dem Sonntag nicht gar zu ernst, und hier ist ja auch niemand, zuzuhören, höchstens der arme Tote dort unter dem Stein.«

»Nicht daß ich das wirklich so meine«, fuhr sie fort. »Meiner Ansicht nach ist das Lied genauso ernst wie ein Psalm. Soll ich’s Ihnen also vorsummen?«

»Ich bitte darum«, sagte er und rückte näher an sie heran, ganz Ohr.

Sie setzte sich aufrecht, wie um zu singen. »Ich kann es Ihnen doch nur vorsummen«, lächelte sie. »Ich möchte am Sonntag nicht laut singen. Ich glaube, die Vögel würden es Gilbert zutragen. Es handelt von den Elliotts«, fuhr sie fort, »und ich meine, es gibt in all den Gedichtbüchern nur wenige Dinge, die schöner sind, obwohl Dand niemals gedruckt worden ist.« Und sie hub in den weichen klaren Schwingungen ihrer gedämpften Stimme zu singen an; jetzt sank die Stimme fast zu einem Flüstern herab, jetzt wieder, bei den Tönen, die ihr besonders gut lagen und auf die Archie bald mit wachsender Bewegung wartete, schwoll sie an:

Sie ritten im Regen in den Zeiten, die gewesen,
In Regen und Wind und Luft;
Sie schrien beim Gelage und schlugen sich im Hage,
Jetzt ruhen sie stumm in der Gruft.
Die alten, alten Elliotts, todeskalten Elliotts,
Harten, heißen Elliotts alter Zeit.

Während dieser ganzen Zeit blickte sie fest vor sich hin, mit graden Knien, die Hände im Schoß und den Kopf hoch aufgerichtet. Ihr Vortrag war durchweg bewundernswert; hatte sie ihn nicht unter des Autors Fuchtel von ihm selbst gelernt? Als sie schwieg, wandte sie Archie ein weiches, strahlendes Gesicht zu, Augen, die im Dämmerlicht matt leuchteten und verschwammen, und sein Herz schlug heftig und flog ihr in Mitleid und grenzenloser Sympathie entgegen. Dies war die Antwort auf seine Frage. Sie war ein menschliches Wesen, empfänglich auch für die Tragik des Lebens; ja, Tragik, Musik und ein großes Herz lebten in diesem Mädchen.

Instinktiv erhob er sich; sie folgte, denn sie sah, sie hatte einen Sieg davongetragen, wollte den Eindruck verstärken und war klug genug, nach einem Erfolge zu fliehen. Jetzt gab es nur noch Nichtigkeiten auszutauschen, aber ihre leisen, bewegten Stimmen heiligten auch diese in ihrem Gedächtnis. In dem wachsenden Grau des Abends sah er ihre Gestalt auf dem gewundenen Pfad durch das Moor entschwinden, sah sie ein letztes Mal sich umdrehen und ihm winken, dann hatte der Einschnitt der Berge sie verschluckt, und es war ihm, als habe sie etwas aus der Tiefe seines Herzens mitgenommen. Doch wahrlich, er hatte dafür eine Gegengabe empfangen, etwas, das dauern sollte. Aus den Tagen seiner Kindheit war ihm ein Bild seiner Mutter haftengeblieben, halb verblaßt durch die Zeit und durch ein Heer neuer Eindrücke, das Bild, wie sie ihm mit zittrigem Ernst und häufig unter strömenden Tränen des Betenden Webers Geschichte erzählte, hier auf dem Schauplatz seiner kurzen Tragödie und langen Rast. Und jetzt gab es ein Gegenbild dazu; er sah und würde bis in alle Ewigkeit Christina sehen, wie sie in den grauen Farben des Abends auf dem nämlichen Grabmal hockte, anmutig, zierlich, vollkommen wie eine Blume, und auch sie sang.

Vom Unglück ferner Zeiten,
Von Schlachten, altersgrau,

von ihren gemeinsamen, längst verstorbenen Ahnen, von deren rohen Kriegen und Waffen, mit ihnen verscharrt, von jenen seltsamen Wechselbälgen, ihren Nachkommen, die noch eine kleine Spanne Zeit hier verweilen würden, um dann wie jene zu vergehen und vielleicht auch von Fremden zur Dämmerstunde besungen zu werden. Dank einer unbewußten, zärtlichen Gefühlswallung stellte er die beiden Frauen Seite an Seite in den Heiligenschrein seines Gedächtnisses. Ja, in jener empfindsamen Stunde schössen ihm Tränen in die Augen, wenn er der einen oder anderen gedachte; und das Mädchen rückte aus der Kategorie der leuchtenden und reizvollen Erscheinungen in die Region der Dinge auf, die so ernst waren wie das Leben selbst und der Tod oder das Bild seiner verstorbenen Mutter. So spielte allseits und in jeder Richtung das Schicksal mit diesen armen Kindern sein kunstvolles Spiel. Die Generationen waren vorbereitet, die Schmerzen vorherbestimmt, ehe noch der Vorhang sich über dem dunklen Drama erhob.

Im nämlichen Augenblick, da sie seinen Blicken entschwand, öffnete sich vor Kirsties Augen das bechergleiche Tal, in dem ihres Bruders Hof lag. Sie sah in einer Tiefe von etwa fünfhundert Fuß, wie sich das Haus mit Kerzen schmückte – ein deutlicher Wink, daß sie sich beeilen müsse. Denn Kerzen wurden an Sonntagabenden nur zu jener Familienandacht entzündet, welche die unvergleichliche Langeweile des Tages beschloß und die Entspannung des Abendessens heranrückte. Sie wußte, Robert würde jetzt schon am Kopfende des Tisches sitzen und den Text auswählen; denn es war Robert in seiner Eigenschaft als Familienpriester und -richter und nicht der begabte Gilbert, der bei diesen Gelegenheiten amtierte. Sie eilte daher so rasch wie möglich den steilen Abhang hinunter und kam atemlos vor der Tür an, gerade als die drei jüngeren Brüder, frisch ihrem Schlummer entrissen und umgeben von einer Horde kleiner Neffen und Nichten, in der Abendkühle schwatzend auf das Zeichen zur Andacht warteten. Sie hielt sich zurück; sie hatte wenig Lust, deren Aufmerksamkeit auf ihr verspätetes Eintreffen und ihren keuchenden Atem zu lenken.

»Kirstie, diesmal bist grad noch zurechtgekommen«, meinte Clem. »Wo warst du nur?«

»Ach, nur so ’n bißchen spazieren«, sagte Kirstie.

Und sie fuhren fort, über den amerikanischen Krieg zu sprechen, ohne der Ausreißerin zu achten, die zitternd vor Glück und im Bewußtsein ihrer Schuld neben ihnen im Schutze der Dunkelheit sich verkroch.

Das Zeichen ertönte, und die Brüder gingen, umdrängt von Hobs Kinderschwarm, einzeln ins Haus.

Aber Dandie blieb als letzter zurück und ergriff Kirsties Arm. »Seit wann geht Ihr in rosa Strümpfen spazieren, Mamsell Elliott?« fragte er schlau.

Sie blickte an sich herab, von Kopf bis Fuß eine einzige Blutwelle. »Ich muß reinweg vergessen haben, sie zu wechseln«, sagte sie und begab sich jetzt ihrerseits voller Unruhe zum Gottesdienst, hin und her gerissen zwischen Sorge, ob Dandie auch nicht in der Kirche ihre gelben Strümpfe bemerkt und sie über einer greifbaren Lüge ertappt hätte, und Scham, daß sie so bald seine Prophezeiung wahr gemacht. Sie erinnerte sich seiner Worte; wie es ihr ergehen würde, wenn sie erst einen Schatz hätte, und daß sie ihm dann in guten und schlechten Zeiten anhängen würde. »Habe ich denn jetzt wirklich einen Schatz?« dachte sie mit heimlichem Glücksschauer.

Und im Verlaufe der Andacht, bei der es ihr Hauptbestreben war, vor der gleichgültigen Madam Hob ihre rosa Strümpfe zu verbergen – und beim Abendbrot, während sie lediglich zu essen vorgab und strahlend und verlegen bei Tische saß – und später, als sie die anderen verlassen und sich in ihr Zimmer begeben hatte, wo sie mit ihrer schlafenden Nichte allein war und endlich den Panzer gesellschaftlicher Formen ablegen konnte – klangen die gleichen Worte in ihr nach: das nämliche, tiefe Glück, das Bewußtsein einer völlig veränderten, wiedergeborenen Welt, eines Tages, den sie im Paradies verbracht, und einer Nacht, in der sich ihr der Himmel erschließen sollte. Diese ganze Nacht war es ihr, als glitte sie auf einem seichten Strom des Schlafens und Wachens zwischen den Grotten Elysiums dahin; diese ganze Nacht pflegte sie in ihrem Herzen jene köstliche Hoffnung; und als sie diese gegen Morgen in tieferer Bewußtlosigkeit begrub, geschah es nur, um im ersten Augenblick des Erwachens von neuem nach jenem Regenbogen des Gedankens zu greifen.

7


Eintritt Mephistopheles‘

Zwei Tage später setzte ein Gig aus Crossmichael Frank Innes vor den Toren Hermistons ab. Einmal im vergangenen Winter während eines besonders heftigen Anfalls von Langeweile hatte ihm Archie einen Brief geschrieben. Dieser hatte eine Art Einladung enthalten, oder eine Anspielung auf eine Einladung – Innes wie er selbst erinnerten sich nicht mehr genau daran. Als Innes ihn empfing, hatte ihm nichts ferner gelegen, als sich mit Archie zusammen im Moor zu vergraben; allein selbst die scharfsinnigsten politischen Köpfe wandeln nicht immer mit untrüglicher Zielbewußtheit durchs Leben. Das würde eine Gabe der Voraussicht erheischen, die den Menschen abgeht. Wer hätte sich zum Beispiel denken können, daß noch nicht einen Monat nach Empfang jenes Briefes, den er verspottet, dessen Beantwortung er verschoben, ja den er zu guter Letzt gar verloren hatte, Mißgeschicke düsterster Natur sich um Franks Laufbahn sammeln würden? Der Fall läßt sich mit wenigen Worten schildern. Sein Vater, ein kleiner Gutsbesitzer in Morayshire mit einer zahlreichen Familie, wurde widerspenstig und sperrte plötzlich den Wechsel; Frank hatte sich die Anfänge einer recht anständigen Bibliothek zugelegt, die er sich genötigt sah nach einigen unerwarteten Verlusten auf dem Rennplatz wieder zu verkaufen, noch ehe sie bezahlt waren; seinem Buchhändler kam diese Tat zu Ohren, und er erließ gegen Innes einen Haftbefehl. Frank hörte noch rechtzeitig davon und war imstande, seine Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Bei diesem Wirrwarr seiner Angelegenheiten und angesichts der drohenden Klage hielt er es für das klügste, sofort zu verschwinden; er schrieb daher einen glühenden Brief an seinen Vater und bestieg die Postkutsche nach Crossmichael. Jeder Hafen war ihm recht in diesem Sturm! Mit männlicher Entschlossenheit kehrte er dem Parlamentshaus und seinem heiteren Klatsch, kehrte Porter und Austern, dem Rennplatz und der Arena den Rücken, kühn entschlossen, mit Archie Weir in Hermiston ein lebendes Grab zu teilen, bis die Wolken sich zerstreut hätten.

Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er selbst war über seine Abreise nicht weniger erstaunt als Archie über seine Ankunft; nur verbarg er seine Verwunderung mit unendlich viel größerer Gewandtheit.

»Ja, hier bin ich!« sagte er, als er ausstieg. »Endlich ist Pylades zu seinem Orest gekommen. Übrigens, haben Sie meine Antwort erhalten? Nein? Wie ärgerlich! Ja, jetzt bringe ich die Antwort selbst; um so besser!«

»Ich freue mich natürlich sehr, Sie zu sehen«, sagte Archie. »Sie sind natürlich herzlich willkommen. Aber Sie haben doch nicht die Absicht zu bleiben, solange das Gericht noch tagt? Wäre das nicht äußerst unvernünftig?«

»Der Teufel hole das Gericht!« meinte Frank. »Was ist die Jurisprudenz gegen die Freundschaft und ein bißchen Fischen?«

Und so kamen sie überein, daß er bleiben solle ohne jeden anderen Termin für seine Abreise als den, welchen er sich privatim stellte – nämlich den Tag, an dem sein Vater mit dem Gelde herausrücken würde und er imstande wäre, seinen Buchhändler zu befriedigen. Unter so unklaren Verhältnissen begann für diese beiden jungen Männer (die nicht einmal Freunde waren) ein Leben größter räumlicher Nähe und ständig schwindender Vertraulichkeit. Sie sahen sich bei den Mahlzeiten sowie des Abends, wenn die Stunde des Whisky-Toddys sich nahte; allein es war auffallend (wäre jemand dagewesen, es zu beobachten), daß sie bei Tage nur selten zusammenkamen. Archie hatte Hermiston zu verwalten; die mannigfachsten Obliegenheiten führten ihn in die Berge, wo Franks Begleitung überflüssig war und Archie sie mitunter auch ablehnte. Manchmal ging er in aller Frühe vom Hause fort und ließ dem anderen auf dem Frühstückstisch lediglich einen Zettel zurück, um ihn von dieser Tatsache in Kenntnis zu setzen; dann und wann kehrte er auch ohne jede vorherige Ankündigung erst lang nach der Essenszeit heim. Innes seufzte unter dieser Fahnenflucht; er brauchte seine ganze Philosophie, um sich gelassen an den gemeinsamen Frühstückstisch zu setzen, und mußte die echte Gutmütigkeit seiner Natur zu Hilfe rufen, um Archie bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er verspätet zum Essen heimkehrte, freundlich zu begrüßen.

»Was in aller Welt macht ihm nur so viel zu schaffen, Madam Elliott?« fragte er eines Morgens, nachdem er soeben eines dieser flüchtig hingekrizelten Billette gelesen und sich zu Tisch gesetzt hatte.

»Geschäftliche Angelegenheiten vermutlich, Sir«, entgegnete trocken die Haushälterin und wies ihn durch die Andeutung eines Knickses auf den zwischen ihnen herrschenden Abstand hin.

»Was für Angelegenheiten?« wiederholte er.

» Seine Angelegenheiten, vermutlich«, wiederholte die unerbittliche Kirstie.

Er wandte sich ihr mit jener strahlend guten Laune zu, die sein gewinnendster Zug war, und brach in schallendes, gesundes und natürliches Gelächter aus. »Gut pariert, Madame Elliott!« rief er, und der Haushälterin Gesicht löste sich in den Schatten eines eisernen Lächelns auf. »Wahrhaftig, gut pariert! Aber Sie müssen mich nicht so als Fremden behandeln! Archie und ich sind doch auf der gleichen Schule und gemeinsam auf der Universität gewesen und wollten auch beide in den Anwaltsstand eintreten, als – na, sie wissen ja! Liebe Zeit, liebe Zeit! Welch ein Jammer! Ein ganzes Leben ruiniert, ein junger Mensch hier in der Wildnis unter lauter Bauern begraben, und weswegen nur? Nur wegen eines dummen, törichten Streichs, nichts weiter. Gott, wie prachtvoll Ihre Haferkuchen schmecken, Madam Elliott!«

»Es sind nicht meine, das Mädel hat sie gebacken«, antwortete Kirstie, »und mit Eurer Erlaubnis: Es hat wenig Sinn, des Herrn Name nur um etlicher eitler Brocken willen, die man sich in den Bauch stopft, in den Mund zu nehmen.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht, Madam«, entgegnete der unerschütterliche Frank. »Aber was ich gerade sagen wollte: Die Sache mit dem armen Archie ist doch ewig schade, und Sie und ich könnten Schlimmeres tun, als die Köpfe zusammenstecken und wie zwei vernünftige Leute überlegen, wie man ihr ein Ende machen könnte. Ich sage Ihnen, Madam, Archie galt wirklich als ein äußerst vielversprechender junger Mann, und ich bin durchaus der Ansicht, daß er’s als Anwalt noch weit gebracht hätte. Und was seinen Vater anbetrifft, so kann ja zwar keiner seine Tüchtigkeit leugnen, ebensowenig wie man bestreiten kann, daß er des Teufels eigene Laune geerbt hat –«

»Wenn Ihr gütigst entschuldigen wollt, Mr. Innes, ich glaube, die Dirn‘ hat nach mir gerufen«, sagte Kirstie und fegte aus dem Zimmer.

»Der verdammte, haarige, alte Besen!« rief Innes. Inzwischen war Kirstie in die Küche geflohen und machte vor ihrer Vasallin ihren Gefühlen Luft.

»Hier, Nichtsnutz! Marsch hinein, und warte dem Innes auf! Ich hab‘ mich nicht mehr in der Gewalt. ›Armer Archie!‹ Ich würd’s ihm zeigen, mit seinem ›armen Archie‹, wenn’s nach mir ginge! Und Hermiston mit des Leibhaftigen eigener Laune? Herrgott, zuvor gib, daß er ihm Hermistons Haferkuchen aus dem Maule herausholt. Nicht ein Haar an den beiden Weirs, das nicht mehr Schneid und Kraft hätte als jener an seinem ganzen elenden Leibe! Und ausgerechnet mir kommt er mit seinen Schimpfereien! Er soll sich zurück in seine schmutzige Stadt trollen, wo sie ihn vielleicht brauchen können, und in seinen Kabriolets rumsausen – er mit seiner Pomade im Haar – und sich mit liederlichen Frauenzimmern gemein machen – Schande, die er ist!« Unmöglich konnte man ohne Bewunderung vernehmen, wie Kirsties wachsender Ekel sich entlud, während sie nacheinander diese ein wenig unbegründeten Anschuldigungen vorbrachte. Da erinnerte sie sich ihres augenblicklichen Vorhabens und wandte sich noch einmal an ihre faszinierte Zuhörerin. »Hast mich nicht verstanden, Schlafmütze? Hast nicht verstanden, was ich dir sagte? Muß ich dich zu ihm hineinjagen? Ich werde Ihr Beine machen, Mamsell!« Und die Magd floh aus der jetzt unsicher gewordenen Küche nach vorn, um Innes zu bedienen.

Tantaene irae? Hat man den Grund noch nicht erraten? Seit Franks Kommen hatte es ein Ende mit den vertraulichen Gesprächen über dem Abendbrottablett! Franks ganze Schmeicheleien waren umsonst; er hatte das Rennen um Madam Elliotts Gunst mit einem Handicap angetreten.

Seltsam jedoch war, wie hartnäckig der Mißerfolg sich bei all seinen Versuchen, Freundschaft zu schließen, an seine Fersen heftete. Ich muß den Leser warnen, Kirsties Epitheta für bare Münze zu nehmen; ihr lag mehr an deren Kraft als Wahrheit. Da war das Wort »elend« zum Beispiel; nichts hätte verleumderischer sein können. Frank war der Inbegriff schöner, gutgelaunter, kraftvoller männlicher Jugend. Er hatte strahlende, vergnügt funkelnde Augen, lockiges Haar, ein einnehmendes Lächeln, blendend weiße Zähne, eine bewundernswerte Kopfhaltung, das Aussehen eines Gentleman und die Sicherheit eines Menschen, der gewohnt ist, auf den ersten Blick zu gefallen und bei näherer Bekanntschaft noch zu gewinnen. Und trotz all dieser Vorzüge scheiterte er bei allen Menschen auf Hermiston; bei dem schweigsamen Schäfer, dem unterwürfigen Verwalter, dem Pferdeburschen, der gleichzeitig der Ackerknecht war, dem Gärtner und bei des Gärtners Schwester – einer frömmelnden, gedrückten Frau, die ständig einen Schal um die Ohren trug –, bei allen fiel er gleichmäßig und gründlich durch. Sie mochten ihn nicht und zeigten es ihm deutlich. Das kleine Hausmädchen war die einzige Ausnahme; sie bewunderte ihn inbrünstig, ja wahrscheinlich träumte sie von ihm in ihren Mußestunden; aber sie war gewohnt, bei Kirsties Tiraden die Rolle der stummen Zuhörerin zu spielen und auch schweigend Kirsties Ohrfeigen hinzunehmen, und hatte gelernt, in Anbetracht ihrer Jahre sowohl ein sehr tüchtiges als auch ein schweigsames und vorsichtiges Mädchen zu sein. Frank war sich daher bewußt, der geschlossenen Mißbilligung gegenüber, die ihn allseits auf Hermiston umgab, beobachtete und bediente, eine einzige Verbündete und mitfühlende Seele zu besitzen; allein er gewann nur geringsten Trost aus dieser Gesellschaft und Unterstützung; die gesetzte kleine Magd (bei ihrem letzten Geburtstag eben erst zwölf geworden) hielt ihren Mund und trippelte hurtig, stumm mitfühlend, aber unerbittlich wortkarg in seinen Diensten hin und her. Alle anderen waren hoffnungslos und völlig unleidlich. Noch nie war ein junger Apollo derart unter rustikalen Barbaren gestrandet. Vielleicht jedoch lag die Ursache all seines Mißerfolges in einem einzigen Zug, den er sich, ohne es zu wissen, angeeignet hatte und der für den ganzen Burschen charakteristisch war. Das war seine Gewohnheit, sich einem Menschen stets auf Kosten irgendeines anderen zu nähern. Er bot dem Betreffenden ein Bündnis gegen einen dritten an; er schmeichelte dem einen durch Vernachlässigung des anderen; ehe man es wußte, war man in irgendeine kleine Intrige verwickelt. Im allgemeinen ist ein derartiges Verhalten ganz wunderbar wirksam; Franks Mißgriff lag nur in der Wahl dieses dritten. Darin war er nicht diplomatisch; er lauschte der Stimme seines Ärgers. Archie hatte ihn gleich zu Anfang durch einen seiner Meinung nach ziemlich trockenen Empfang gekränkt, seither durch häufige Abwesenheit. Außerdem war Archie der einzige, der ihm ständig vor Augen stand, und Archies unmittelbare Untergebene waren gerade diejenigen, denen Frank den Köder seiner Sympathie auswerfen konnte. Jedoch um die beiden Weirs, Vater und Sohn, scharte sich ein ganzer Clan eingefleischter Anhänger. Auf Mylord waren sie alle ungeheuer stolz. Es war eine Auszeichnung, des »Henker-Richters« Vasall zu sein, und seine grobe, furchteinflößende Jovialität war in der unmittelbaren Umgebung seines Hauses durchaus nicht unpopulär. Archie dagegen brachten sie alle bis auf den letzten Mann feinfühlige Liebe und einen Respekt entgegen, die auch vor dem geringsten absprechenden Wort zurückschreckten.

Ebensowenig Erfolg hatte Frank, als er sich weiter hinauswagte. Den Vier Schwarzen Brüdern, zum Beispiel, war er im höchsten Grade antipathisch. Hob fand ihn zu frivol, Gib zu weltlich, Clem, der ihn erst ein, zwei Tage vor seiner Abreise nach Glasgow kennenlernte, wollte wissen, was der Hansnarr eigentlich hier draußen zu tun hätte und ob er die ganze Sessionszeit hier zu verbringen gedächte. »Das ist ’ne Drohne«, erklärte er. Und was gar Dandie betrifft, so wird es genügen, ihre erste Zusammenkunft zu schildern. Frank war gerade beim Fischen, als jene ländliche Berühmtheit zufällig des Weges kam.

»Ich höre, daß Sie ein richtiger Dichter sind«, sagte Frank.

»Und wer hat Ihnen das gesagt, mein Bürschchen?« lautete die nicht sehr entgegenkommende Antwort.

»Ach, alle!« entgegnete Frank.

»Gott, das nenn‘ ich mir Ruhm!« meinte der sardonische Dichter und ging seiner Wege.

Wenn man es sich recht überlegt, bietet sich hier vielleicht die wahre Erklärung für Franks Mißerfolge. Wäre er dem Herrn Sheriff Scott begegnet, er hätte sicherlich ein geschickteres Kompliment gedrechselt, denn es würde sich ja auch gelohnt haben, mit Mr. Scott Freundschaft zu schließen. Dandie dagegen war ihm keinen Sixpence wert, und er zeigte das, selbst während er ihm zu schmeicheln suchte. Herablassung ist eine vortreffliche Sache; merkwürdig ist nur, welch einseitiges Vergnügen sie gewährt! Und wer unter der schottischen Bauernschaft mit Herablassung als Köder angeln geht, wird am Abend mit leerem Korbe heimkehren.

Als Beweis für diese Theorie erzielte Frank große Erfolge im Dienstagklub zu Crossmichael, wo ihn Archie gleich nach seiner Ankunft einführte: sein letztes eigenes Auftreten an dieser Stätte der Lustbarkeit. Frank wurde dort sogleich willkommen geheißen, fuhr fort, regelmäßig hinzugehen und besuchte noch am Vorabend seines Todes (wie die Mitglieder stets mit Vorliebe erzählten) eine dieser Versammlungen. Der junge Hay und der junge Pringle tauchten plötzlich wieder auf. Es gab wieder einmal ein Souper in Windielaws und ein Diner auf Driffel; die Folge war, daß der Landadel der Grafschaft Frank ebenso rückhaltlos in seine Mitte aufnahm, wie die Bauernschaft ihn ablehnte. Er hauste zu Hermiston gleich einem Eroberer in einer besiegten Hauptstadt. Er unternahm auch ständig Ausfälle von dort, wie von einer großen Operationsbasis, um Toddy-Gelage, Ausflüge zum Fischen und Abendgesellschaften zu besuchen, zu denen Archie nicht geladen wurde oder zu denen er nicht hinging. Dies war auch die Zeit, in der die Bezeichnung »der Einsiedler« sich einbürgerte. Manche behaupteten sogar, Innes hätte sie erfunden; zum mindesten sorgte Innes für ihre Verbreitung.

»Was macht Ihr Einsiedler heute?« erkundigten sich die Leute.

»Ach, er einsiedelt weiter!« pflegte Innes dann mit strahlendem Ausdruck zu erklären, als habe er etwas Geistreiches gesagt, um dann sofort das allgemeine Gelächter, das viel eher durch seine Art als durch seine Worte hervorgerufen wurde, mit der Bemerkung zu unterbrechen: »Wissen Sie, Sie haben gut lachen, aber mir gefällt die Sache gar nicht. Der arme Archie ist ja ein recht guter Kerl, den ich immer habe leiden mögen. Ich finde es aber kleinlich von ihm, die geringfügige Dummheit, die er sich hat zuschulden kommen lassen, so schwer zu nehmen und sich derart vor den Menschen zu verschließen. ›Zugegeben, daß es eine lächerliche Sache war, eine peinlich lächerliche Sache‹, sag‘ ich ihm immer. ›Aber seien Sie ein Mann! Stellen Sie sich der Welt wie ein Mann!‹ Aber er denkt gar nicht daran! Natürlich ist nur die Einsamkeit und die Schande und dergleichen daran schuld. Aber, Sie verstehen, ich beginne, mich vor den Folgen zu fürchten. Es wäre doch unsäglich schade, wenn ein wirklich vielversprechender Mensch wie Weir ein schlechtes Ende nähme. Ich fühle mich allen Ernstes versucht, einmal Lord Hermiston zu schreiben und ihm die Sache klarzulegen.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle tun«, pflegten dann einige seiner Zuhörer zu erwidern, kopfschüttelnd, erschrocken und verwirrt durch diese neue und so geschickt durch ein einziges Wort beleuchtete Auffassung der Angelegenheit. »Eine ausgezeichnete Idee!« fügten sie meist hinzu und wunderten sich über den Aplomb und die Position dieses jungen Mannes, der als etwas Selbstverständliches davon sprach, Hermiston zu schreiben und ihn in seinen Privatangelegenheiten zurechtzuweisen.

Und Frank fügte mit gewinnendem Vertrauen hinzu: »Ich will Ihnen etwas sagen: Er nimmt es sich tatsächlich zu Herzen, daß ich hier so gut aufgenommen werde und daß er in der Grafschaft keine Rolle spielt – er ist wahrhaftig eifersüchtig und nimmt es sich zu Herzen. Ich habe ihn geneckt, und ich habe ihm zugeredet; ich habe ihm erklärt, daß alle ihm wirklich wohlgesinnt wären, ja ich hab‘ ihm sogar weisgemacht, daß ich lediglich so aufgenommen würde, weil ich sein Gast sei. Aber es nützt alles nichts. Er nimmt weder die Einladungen an, die man ihm schickt, noch hört er auf, über diejenigen nachzugrübeln, die man ihm nicht schickt. Wovor ich mich fürchte, ist, daß die Wunde allmählich zu schwären anfangen könnte. Er gehörte von jeher zu den dunklen, verschlossenen, zornigen Naturen – ein wenig hinterlistig mit einer tüchtigen Portion Galle –, Sie kennen ja die Art. Er muß es wohl von den Weirs geerbt haben, die vermutlich irgendwo von einer ehrbaren Weberfamilie abstammten; wie heißt doch der landläufige Ausdruck? – sitzende Lebensweise. Das gerade sind die Naturen, die in einer falschen Stellung, wie sie sein Vater für ihn geschaffen hat oder wie er sie sich jetzt selbst schafft – das können Sie halten, wie’s Ihnen beliebt –, auf Abwege geraten. Ich für meinen Teil finde es eine Schmach«, fügte Frank edelmütig hinzu.

Allmählich nahmen der Kummer und die Sorge dieses uneigennützigen Freundes festere Gestalt an. Er fing an, im Vertrauen, unter vier Augen, unklar von allerlei schlechten und gemeinen Gewohnheiten Archies zu sprechen. »Ich muß sagen, ich fürchte tatsächlich, daß er völlig auf Abwege geraten ist«, meinte er alsdann. »Ich sag‘ es Ihnen offen heraus und ganz unter uns: Ich mag eigentlich nicht länger hier bleiben; aber verstehen Sie, ich fürchte mich einfach, ihn allein zu lassen. Mir wird man natürlich später die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Ich bringe ein großes Opfer, wenn ich bleibe. Ich schade meiner Karriere als Advokat: dagegen kann ich meine Augen nun mal nicht verschließen. Ich fürchte wirklich, ich werde noch von allen Seiten Fußtritte bekommen, ehe die Sache vorbei ist. Sehen Sie, keiner glaubt ja heutzutage noch an Freundschaft.«

»Ja, Innes, das ist aber kolossal anständig von Ihnen«, pflegte der Fragesteller dann zu erwidern. »Ich muß schon sagen, wenn man je was gegen Sie vorbringt, können Sie natürlich zum mindesten auf mich rechnen.«

»Ja«, fuhr Frank fort, »offen gestanden, man kann es nicht als angenehm bezeichnen. Er hat eine furchtbar ungehobelte Art; seines Vaters Sohn, verstehen Sie? Ich sag‘ ja nicht, daß er geradezu unhöflich ist – natürlich kann man nicht von mir erwarten, daß ich mir auch das noch bieten lasse –, aber er segelt schon hart an den Wind. Nein, angenehm ist es nicht; doch ich sage Ihnen, Mann, ich halte es auf mein Gewissen nicht für fair, ihn im Stich zu lassen. Verstehen Sie mich ja nicht falsch: ich sag‘ nicht, daß wirklich etwas nicht im Lote ist. Was ich sage, ist nur, daß mir die ganze Sache nicht gefällt.« Und er preßte den Arm seines jeweiligen Vertrauten.

Ich bin überzeugt, daß er anfänglich nichts Böses beabsichtigte. Er redete lediglich um des Vergnügens willen, sich reden zu hören. Er besaß von Natur eine flinke Zunge, wie sich das für einen jungen Advokaten schickt, und nahm es ebenso natürlich mit der Wahrheit nicht sehr genau – was das Zeichen eines jungen Esels ist. So redete er drauflos. Einen besonderen Zweck verfolgte er dabei nicht, außer dem allgemeinen, ihm angeborenen, sich selbst zu schmeicheln und dem Freund des Augenblicks zu gefallen und ihn zu interessieren. Und dank dieser Gewohnheit, Wind zu dreschen, baute er allmählich von Archie ein Bild auf, das in allen Winkeln und Ecken des Landes bekannt und beredet wurde. Wo immer ein Herrenhaus inmitten seines ummauerten Gartens lag, wo immer ein zwergenhaftes Schloß in seinem Parke sich erhob, wo immer ein vierfach vergrößertes Cottage neben einem alten Wachtturm den Niedergang einer alten Familie anzeigte oder eine stattliche Villa mit Wagenauffahrt und Strauchwerk den Aufschwung einer neuen – auf den Rädern der Maschine vermutlich –, da wurde Archie im Licht eines düsteren, vielleicht gar lasterhaften Geheimnisses betrachtet und die weitere Entwicklung seiner Laufbahn mit Unruhe und vertraulichem Geraune erwartet. »Er hat irgend etwas Unehrenhaftes begangen, meine Liebe! Was, ist nicht ganz klar, aber jener reizende, freundliche junge Mann, Mr. Innes, hat sein Bestes getan, es auf die leichte Achsel zu nehmen.« Das war es nun einmal. Und Mr. Innes machte sich um ihn jetzt große Sorgen. »Er ist wirklich ganz beunruhigt, mein Bester; er ruiniert sich tatsächlich seine Laufbahn, weil er es nicht wagt, ihn allein zu lassen.« Wie restlos sind wir alle doch einem einzigen Schwätzer ausgeliefert, der nicht einmal bösen Willens zu sein braucht! Wenn ein Mann nur im richtigen Geiste von sich selbst redet und seine Tugenden beiläufig erwähnt, ohne sie je als Tugend zu bezeichnen, wie leichtfertig wird dann sein Zeugnis im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung angenommen!

Während dieser ganzen Zeit gärte ein noch giftigeres Ferment zwischen diesen beiden jungen Burschen, eines, das erst spät an die Oberfläche gekommen war, das ihre Unstimmigkeiten jedoch von Anfang an beeinflußt und vergrößert hatte. Für einen müßigen, oberflächlichen, leichtlebigen Kunden wie Frank bot die Witterung eines Geheimnisses einen besonderen Reiz. Es beschäftigte seinen Geist, wie ein neues Spielzeug ein Kind beschäftigt, und es packte ihn an seiner schwachen Seite; denn wie viele junge Männer, die sich den Anwaltsberuf gewählt haben, schmeichelte er sich selber, bevor er noch gewogen und zu leicht befunden war, daß er ein besonders rasches Auffassungsvermögen und einen hervorragenden Scharfblick besäße. In jenen Tagen wußte man noch nichts von Sherlock Holmes, aber man sprach viel über Talleyrand. Und hätte man Frank in einer schwachen Minute überrascht, er würde mit verlegenem Schmunzeln gestanden haben, daß er, wenn überhaupt, dem Marquis de Talleyrand-Perigord ähnelte. Es war gelegentlich der ersten Abwesenheit Archies, daß dieses Interesse Wurzel schlug. Es wurde noch ungeheuer vertieft, als Kirstie beim Frühstück seine Neugier hart zurückwies, und am gleichen Nachmittag ereignete sich ein Vorfall, der die Krisis herbeiführte. Frank war dabei, in Begleitung Archies im Swingle-Bach zu fischen, als Archie auf seine Uhr schaute.

»Also, leben Sie wohl«, sagte Archie. »Ich habe zu tun. Ich seh‘ Sie dann später beim Essen.«

»Wozu diese Eile?« rief Frank. »Warten Sie doch, bis ich meine Angel eingeholt habe. Ich gehe mit Ihnen; ich hab‘ es satt, diesen Graben zu belagern.« Und er begann, die Leine aufzuwinden.

Archie stand sprachlos. Er brauchte eine ganze Weile, bis er nach diesem direkten Angriff seine fünf Sinne wieder beisammen hatte; als er aber die Antwort endlich fand und das Aufwickeln der Leine fast beendet war, hatte er sich gänzlich in Weir verwandelt: das Henkergesicht thronte finster auf seinen jungen Schultern. Er sprach mit erzwungener Ruhe, mit erzwungener Freundlichkeit sogar, allein selbst ein Kind hätte erkannt, daß sein Entschluß feststand.

»Bitte um Verzeihung, Innes: ich möchte nicht schroff erscheinen, aber wir wollen uns doch von Anfang an richtig verstehen. Wenn ich Ihre Gesellschaft wünsche, werde ich es Sie wissen lassen.«

»Oh«, rief Frank. »Sie wollen also meine Gesellschaft nicht, was?«

»Jetzt im Augenblick offenbar nicht«, entgegnete Archie. »Ich ließ jedoch durchblicken, wann sie mir genehm sein würde, falls Sie sich erinnern – und zwar beim Essen. Falls wir beide reibungslos zusammenleben wollen – und ich sehe nicht ein, weshalb das nicht der Fall sein sollte –, kann das nur geschehen, wenn einer des anderen Bedürfnis, allein zu sein, respektiert. Fangen wir gleich zu Anfang an, uns einander aufzudrängen –«

»Hören Sie auf! Das lass‘ ich mir von niemandem gefallen! Ist das Ihre Art, einen Gast und alten Freund zu behandeln?« schrie Innes.

»Jetzt gehen Sie nach Hause, und denken Sie allein über das nach, was ich Ihnen sagte«, fuhr Archie fort, »ob es vernünftig oder ob es in Wahrheit beleidigend ist, und wir wollen beim Essen zusammenkommen, als wäre nichts geschehen. Ich will mich sogar folgendermaßen ausdrücken: Ich kenne meinen eigenen Charakter, ich freue mich im voraus (und zwar aufrichtig) auf einen langen Besuch von Ihnen und treffe von vornherein meine Vorsichtsmaßregeln. Ich erkenne den Punkt, über den wir – über den ich meinetwegen mich zanken werde, und ich beuge vor und obsto principiis. Ich wette mit Ihnen fünf Pfund, Sie werden schließlich einsehen, daß ich aus lauter Freundschaft so handle, und das tue ich auch wirklich, glauben Sie mir, Francie«, schloß er nachgebend.

Berstend vor Zorn, nicht eines Wortes mächtig, schulterte Innes seine Angel, verabschiedete sich mit einer Geste und ging mit langen Schritten den Flußpfad hinab. Archie sah ihm regungslos nach. Er bedauerte das Vorgefallene, aber er schämte sich durchaus nicht. Er haßte es, ungastlich zu erscheinen, aber in einem Punkte war er seines Vaters Sohn. Er war von dem Bewußtsein durchdrungen, daß sein Haus sein Haus sei und niemandes anderen; und sich auf Gnade und Ungnade einem Gast ausliefern, das zu tun, weigerte er sich strikte. Er haßte es, schroff zu erscheinen, aber schuld daran war Franks Standpunkt. Hätte Frank nur das gewöhnliche Maß Diskretion gezeigt, er wäre selbst anständig höflich geblieben. Dann gab es auch noch ein weiteres Bedenken. Das Geheimnis, das er jetzt hütete, gehörte nicht ihm allein; es war genauso Christinas; es gehörte zugleich jenem unfaßlichen Wesen, das mit Macht von seiner Seele Besitz zu ergreifen begann und das zu verteidigen er bald bereit sein würde, ganze Städte einzuäschern. Er blickte Frank nach, der hastig und mit großen Schritten weiterging, hin und wieder in der verfärbten Heide untertauchend und allmählich zu weniger als Liliputgröße zusammenschrumpfend, und als dieser das Ende des Baches erreicht hatte, vermochte Archie bereits über den Vorfall zu lächeln. Entweder würde Frank abreisen – das würde an sich eine Befriedigung bedeuten –, oder er würde bleiben, und sein Wirt mußte sich weiterhin mit ihm abfinden. Jetzt aber hinderte Archie nichts mehr daran, auf verschlungenen Wegen hinter Hügeln und über Bachbette dem Stelldichein zuzueilen, wo Kirstie, von Moorhuhn und Kiebitz umschrien, auf des Puritaners Stein seiner harrte und ihm entgegenbrannte.

Innes schritt währenddessen in einem Sturm haßerfüllter Empörung, der sehr natürlich war, sich allmählich jedoch dem Gebot der Lage anpaßte, den Hügel hinunter. Er beschimpfte Archie als einen kaltherzigen, unfreundschaftlichen, sacksiedegroben Hund und sich selbst noch leidenschaftlicher als einen Narren, hierher nach Hermiston gekommen zu sein, da ihm fast jedes andere Haus in Schottland als Zufluchtsstätte offengestanden haben würde. Aber der Schritt war, einmal getan, so gut wie unwiderruflich. Er besaß kein Geld mehr, sich anderswo hinzubegeben; er würde sowieso zum nächsten Klubabend Archie anpumpen müssen; und so niedrig er auch seines Gastgebers Manieren einschätzte, so überzeugt war er von dessen Freigebigkeit. Franks Ähnlichkeit mit Talleyrand erscheint mir zwar als ziemlich illusorisch, aber Talleyrand selbst hätte sich nicht gehorsamer den Tatsachen unterwerfen können. Frank begegnete Archie beim Essen ohne jede Feindschaft, ja fast mit Herzlichkeit. Seine Erklärung würde gelautet haben, daß man seine Freunde nehmen müsse, wie sie nun mal wären. Archie könne ja nichts dafür, daß er seines Vaters Sohn oder seines Großvaters, des hypothetischen Webers, Enkel sei. Als Sohn eines groben Klotzes war er eben selber im Herzen ein grober Klotz geblieben, unfähig wahrer Großmut und Rücksichtnahme: aber er besaß andere Eigenschaften, die Frank sich mittlerweile zunutze machen konnte und die zu genießen es notwendig war, daß Frank seine schlechte Laune meistere.

So vorzüglich war seine Selbstbeherrschung, daß er am folgenden Morgen ganz erfüllt von einem neuen, aber verwandten Gedanken aufwachte. Was war es eigentlich, das Archie im Schilde führte? Weshalb mied er Franks Gesellschaft? Was verbarg er vor ihm? Hatte er mit irgend jemandem ein Rendezvous gehabt – mit einer Frau? Es wäre doch ein prachtvoller Witz und zugleich eine gerechte Rache, wenn er, Frank, dahinterkäme. Diesem Ziele wandte er sich mit ziemlicher Ausdauer zu, wie sie seine Freunde sogar in Erstaunen versetzt hätte, denn Frank hatte von jeher eher als geistreich und klug denn als zäh gegolten; und so, ganz allmählich, Stück für Stück, gelang es ihm, ein Bild der Lage zusammenzutragen. Zuerst beobachtete er, daß Archie, obwohl er im Weggehen die verschiedensten Richtungen einschlug, doch stets aus Südwesten heimkehrte. Das Studium einer Landkarte und die Tatsache, daß sich in dieser Richtung bis zu der Mündung des Clyde eine weite Fläche unbewohnten Heidelandes erstreckte, führten ihn gar bald nach Cauldstaneslap und nach zwei anderen benachbarten Höfen: Kingsmuir und Polintarf. Von dort aus war jedes Weiterkommen schwierig. Mit seiner Angel als Vorwand suchte er vergeblich jeden dieser drei Punkte auf; nirgends fand sich in der Nachbarschaft der Heidehöfe etwas Verdächtiges. Er würde versucht haben, Archie nachzugehen, wäre das überhaupt möglich gewesen, allein die Bodenbeschaffenheit schloß diesen Gedanken ein für allemal aus. Also tat er das Nächstbeste: Er verbarg sich an irgendeinem stillen Winkel und verfolgte Archies Bewegungen mit dem Fernglas. Auch das führte zu nichts, und bald bekam er seine vergebliche Wachsamkeit satt, ließ das Fernglas zu Hause und hatte die ganze Sache bereits aufgegeben, als er sich ganz plötzlich, am siebenundzwanzigsten Tage seines Aufenthalts, dem Menschen, den er suchte, gegenübersah. Den ersten Sonntag war es Kirstie unter irgendeinem Vorwand der Unpäßlichkeit, in Wahrheit jedoch aus Anstandsgefühl, gelungen, der Kirche fernzubleiben; die Freude, Archie dort zu sehen, schien ihr zu heilig, zu lebendig für einen so öffentlichen Ort. An den folgenden beiden Sonntagen war Frank selbst auf irgendwelchen Ausflügen zu benachbarten Familien von Hermiston abwesend gewesen. So geschah es, daß Frank erst am vierten Sonntag die Zauberin zu Gesichte bekam. Schon bei dem ersten Blick war aller Zweifel geschwunden. Sie kam mit der Gesellschaft aus Cauldstaneslap, folglich wohnte sie dort. Hier war Archies Geheimnis, hier war die Frau, die jener besuchte, ja mehr noch – schon auf den ersten Blick empfand er sich selbst als Rivale. Beteiligt dabei waren ein gut Teil Ehrgeiz, ein klein wenig Rache und viel ehrliche Bewunderung: der Teufel mag die genauen Maße bestimmen. Ich kann es nicht, und wahrscheinlich würde auch Frank es nicht gekonnt haben.

»Ein ungemein reizvolles Milchmädchen«, bemerkte er auf dem Heimwege.

»Wer?« fragte Archie.

»Na, das Mädel, das Sie jetzt anstarren – nicht wahr? Dort auf der Landstraße vor uns. Sie kam in Begleitung des rustikalen Barden, gehört daher vermutlich zu der berühmten Familie. Das einzige Bedenken! Die Vier schwarzen Brüder dürften unangenehme Kunden sein. Falls da was schiefginge, würde der Weber wohl wabern und Clem einen in die Klemme bringen und Dand einen Tanz aufführen und Hob sich etwas ungehobelt entpuppen. Kurz, die Elliottaffaire dürfte eine wahre Höllenaffaire werden!«

»Außerordentlich witzig, wahrhaftig«, meinte Archie.

»Na, ich geb‘ mir aber auch Mühe. Und es fällt mir nicht einmal leicht, an diesem Orte in Ihrer feierlichen Gesellschaft, mein Lieber. Aber gestehen Sie nur, das Milchmädchen hat in Ihren Augen Gnade gefunden, oder verzichten Sie ein für allemal darauf, als Mann von Geschmack zu gelten.«

»Es ist ja auch ganz gleichgültig«, entgegnete Archie. Allein der andere fuhr fort, ihn fest und spöttisch anzublicken, und das Blut stieg langsam, dann immer rascher in Archies Wangen, bis selbst die größte Unverfrorenheit nicht mehr hätte leugnen können, daß er errötete. Im nämlichen Augenblick verlor Archie einen Teil seiner Selbstbeherrschung. Er wechselte den Stock von einer Hand zur anderen und rief: »Um Gottes willen, seien Sie doch kein Esel!«

»Esel? Eine zartfühlende Erwiderung, ohne Zweifel«, sagte Frank. »Aber hüten Sie sich vor den hausbackenen Brüdern, Liebster. Wenn die in den Tanz eingreifen, werden Sie ja sehen, wer der Esel ist. Überlegen Sie sich mal, falls jene Burschen – na, sagen wir auch nur ein Viertel der Begabung, die ich drangesetzt habe, auf die Frage verwenden, wo Mr. Archie seine Abendstunden zubringt und weshalb er so herzerfrischend widerborstig ist, jedesmal wenn jenes Thema berührt wird –«

»Sie berühren es auch jetzt in diesem Augenblick«, unterbrach ihn Archie zuckend.

»Danke schön. Mehr wollte ich nicht. Das ist ein offenes Geständnis«, sagte Frank.

»Ich möchte Sie daran erinnern –« begann Archie.

Aber jetzt war er an der Reihe, unterbrochen zu werden. »Aber mein lieber Junge, lassen Sie das doch. Es ist gänzlich überflüssig. Das Thema ist tot und begraben.«

Und Frank fing in aller Eile an, von anderen Dingen zu reden, eine Kunst, in der er Meister war, denn es war seine besondere Begabung, über alles und nichts fließend sprechen zu können. Allein, obwohl Archie die Zuvorkommenheit oder die Feigheit besaß, ihn schwatzen zu lassen, war Frank durchaus noch nicht mit dem Thema fertig. Als Archie zum Abendessen nach Hause kam, begrüßte ihn Frank mit der schlauen Frage, wie es unten in Cauldstaneslap stünde. Nach dem Essen leerte Frank sein erstes Glas Portwein auf Kirsties Wohl, und später am Abend ritt er abermals zur Attacke.

»Hören Sie mal, Weir, Sie müssen entschuldigen, daß ich auf jene Sache zurückgreife. Aber ich hab‘ sie mir durch den Kopf gehen lassen und möchte Sie doch allen Ernstes drum bitten, vorsichtiger zu sein. Die Geschichte ist nicht ungefährlich. Nicht ungefährlich, mein Junge.«

»Welche Geschichte?« fragte Archie.

»Ja, dann ist’s Ihre eigene Schuld, wenn Sie mich zwingen, die Sache bei ihrem Namen zu nennen; aber ich kann wahrhaftig als Freund nicht einfach stillsitzen und zuschauen, wie Sie sich kopfüber in diese Gefahr stürzen. Mein lieber Junge«, fuhr er fort und hielt warnend die Zigarre hoch, »denken Sie einmal nach! Wie soll denn das Ende sein?«

»Welches Ende?« In hilflosem Ärger hielt Archie an seiner gefährlichen und unliebenswürdigen Verteidigung fest.

»Das Ende des Milchmädchens oder, um mich formeller auszudrücken, das Ende der Jungfer Christina Elliott von Cauldstaneslap.«

»Ich versichere Sie«, brach Archie aus, »das Ganze ist lediglich eine Frucht Ihrer blühenden Phantasie. Es läßt sich nicht das Geringste gegen die junge Dame sagen, und Sie haben kein Recht, ihren Namen in unser Gespräch zu zerren.«

»Ich werde es mir merken«, sagte Frank. »Von jetzt ab sei sie namenlos, namenlos, namenlos! Ich werde mir außerdem noch das glänzende Leumundszeugnis merken, das Sie ihr ausgestellt haben. Ich wünsche diese Sache ja lediglich als Mann von Welt zu betrachten. Zugegeben, daß sie ein Engel ist – aber, mein lieber Junge, ist sie auch eine Dame?«

Dies war für Archie die reinste Folter. »Ich bitte um Verzeihung«, bemerkte er, nach Fassung ringend, »da Sie sich aber in mein Vertrauen eingeschlichen haben –«

»Pah, pah!« rief Frank. »Ihr Vertrauen? Es wurde zwar keusch errötend, aber doch nur sehr widerwillig geschenkt. Vertrauen? Wahrhaftig! Nun hören Sie aber mal zu. Ich habe Ihnen folgendes zu sagen, Weir, denn es betrifft Ihre persönliche Sicherheit und Ihren guten Ruf und daher auch meine eigene Ehre als Ihr Freund. Eingeschlichen ist gut! Was habe ich eigentlich getan? Ich habe zwei und zwei zusammengerechnet, wie das morgen die ganze Gemeinde tun wird und in zwei Wochen das gesamte Tweedtal und die Vier schwarzen Brüder – aber da will ich kein Datum festlegen; jedenfalls dürfte es ein dunkler, stürmischer Morgen werden! Kurz, Ihr Geheimnis liegt auf der Gasse! Und ich frage Sie als Freund: Gefällt Ihnen die Aussicht? Aus Ihrem Dilemma gibt es zwei Auswege, und ich muß sagen, beide würde ich persönlich nur sehr ungern in Erwägung ziehen. Beabsichtigen Sie, den Vier schwarzen Brüdern eine Erklärung zu geben? Oder wollen Sie das Milchmädchen als künftige Herrin von Hermiston dem Papa vorführen? Ich sage Ihnen offen: Ich kann’s mir nicht vorstellen!«

Archie erhob sich. »Ich will nichts mehr von diesen Dingen hören«, sagte er mit bebender Stimme.

Allein Frank hielt abermals die Zigarre hoch. »Sagen Sie mir vor allem das eine. Sagen Sie mir, ob ich nicht wirklich als Freund an Ihnen handle.«

»Ich glaube, daß Sie davon überzeugt sind«, lautete Archies Antwort. »So weit kann ich gehen. Ich kann Ihren Motiven diese Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber ich will nichts mehr hiervon hören. Ich gehe jetzt zu Bett.«

»So ist’s recht, Weir«, meinte Frank herzlich. »Gehen Sie zu Bett, und überschlafen Sie die Sache. Und noch eins: Vergessen Sie Ihr Abendgebet nicht! Ich bin nicht häufig fürs Moralische – dergleichen Dinge liegen mir nicht –, aber wenn ich mich dafür einsetze, dann mein‘ ich’s auch ehrlich.«

Also marschierte Archie ins Bett, und Frank saß noch eine gute Stunde allein bei Tisch, mit ungemein selbstzufriedenem, sattem Lächeln. An sich lag nichts Rachsüchtiges in seiner Natur; aber wenn die Rache ihm in den Weg lief, so sollte sie auch gründlich sein, und der Gedanke an Archies einsame nächtliche Betrachtungen war ihm unbeschreiblich süß. Er spürte ein angenehmes Gefühl der Macht. Er blickte auf Archie herab wie auf einen sehr kleinen Jungen, den er am Gängelband führte – wie auf ein Pferd, das er ritt und das er durch schiere Intelligenz im Zaume hielt, ein Pferd, das er nach Belieben zu Grabe oder zum Ruhme reiten konnte. Welches von beiden sollte es sein? Er verweilte noch lange und kostete die Einzelheiten der Pläne aus, die durchzuführen er viel zu träge war. Armer Kork auf reißenden Stromes Oberfläche! In jener Nacht sog er die Süße der Allmacht ein und brütete, einer Gottheit gleich, über den Fäden einer Intrige, die ihn selbst vernichten sollte, noch ehe der Sommer schwand.

Vorwort

In den öden Ausläufern eines schottischen Heidekirchspiels, weit außer Sichtweite von irgendeiner menschlichen Behausung, erhebt sich inmitten Heidekrauts ein Grabhügel sowie ein wenig östlich davon, dem Laufe des Baches folgend, ein Grabmal mit einigen halbverwitterten Versen. Dies ist der Ort, an dem Claverhouse mit eigener Hand den betenden Weber von Balweary erschoß, und die Sichel des Sensenmannes selbst hat gegen jenen einsamen Grabstein geklirrt. Weltgeschichte und lokale Geschichte haben demnach beide jenes kleine Tal zwischen den Bergen mit blutigem Finger gezeichnet; und seit der Cameronier dort vor zweihundert Jahren ohne Verständnis und ohne Bedauern, einer herrlichen Torheit zuliebe, sein Leben opferte, ist das Schweigen der Moore noch einmal durch den Knall von Feuerwaffen und den Schrei eines Sterbenden zerrissen worden.

Das Teufelsmoor war der alte Name des Ortes; jetzt aber heißt er Francies Grab. Eine Weile behaupteten die Leute, daß Francie umginge. Aggie Hogg traf ihn einmal in der Dämmerstunde neben dem Grabhügel; er sprach sie an, und seine Zähne klapperten dabei so stark, daß sie kein Wort verstehen konnte. Er verfolgte Rob Todd (falls auch nur eine Seele Robbie glauben könnte) eine halbe Meile weit mit jämmerlichen Bitten. Aber unser Zeitalter ist das Zeitalter der Skepsis; diese abergläubischen Verbrämungen bröckelten sehr bald ab, und nur die Tatsachen der Begebenheit selbst leben, dem Gebein eines dort verscharrten und halb ausgegrabenen Riesen gleich, nackt und unvollkommen im Gedächtnis der weit verstreuten Einwohner fort. Bis auf den heutigen Tag erzählt man an Winterabenden, wenn der Hagel gegen die Fenster prasselt und die Kühe im Stalle schlafen, unter dem andächtigen Schweigen der Jugend und den Zusätzen und Zurechtweisungen des Alters die Geschichte des Lord Oberrichters und seines Sohnes, des jungen Hermiston, der auf immer aus der Menschen Gesichtskreis schwand; der beiden Kirsties und der vier schwarzen Brüder von Cauldstaneslap sowie des »jungen Narren von Advokaten«, Frank Innes, der hinaus in diese Moore kam, seinem Verhängnis zu begegnen.

I


Leben und Sterben von Mrs. Weir

Der Lord Oberrichter galt in jenem Teile des Landes als ein Fremder; aber seine gnädige Frau Gemahlin war allen schon von Kindheit an bekannt, wie ihr Geschlecht vor ihr bereits bekannt gewesen war. Die alten »reitenden Rutherfords von Hermiston«, deren letzter Sproß sie war, standen von alters her in berüchtigtem Ansehen: lauter schlechte Nachbarn, schlechte Untertanen und schlechte Gatten, wenn auch tüchtige Hauswirte. Anekdoten gingen über sie um auf zwanzig Meilen in der Runde, und ihr Name fand sich sogar schwarz auf weiß in den Blättern unserer schottischen Geschichte, obschon nicht immer zu ihrem Ruhme. Der eine mußte zu Flodden den Staub küssen; ein anderer wurde von Jakob V. an seinem eigenen Burgtor aufgehängt; ein dritter sank tot um bei einem Zechgelage mit Tom Dalyell, während ein vierter (Johannas eigener Vater) als Vorsitzender des Höllenfeuerklubs starb, den er selbst begründet hatte. Damals wurden zu Crossmichael ob dieses Gottesurteils gar viele Köpfe geschüttelt, zumal der Mann bei groß und klein, bei den Frommen wie bei den Weltleuten einen verabscheuungswürdigen Ruf besaß. Im Augenblick seines Ablebens hatte er bei den Assisen nicht weniger als zehn Klagen angestrengt, von denen acht auf Unterdrückung der Schwachen abzielten. Das gleiche Schicksal erstreckte sich sogar auf seine Verwalter. Des Gutsherrn Inspektor, seine rechte Hand in manchem linkshändigen Geschäft, fiel eines Nachts vom Pferde und ertrank in dem Torfmoor bei Kye-skairs; ja selbst sein Anwalt sollte ihn nicht lange überleben (obwohl doch Advokaten bekanntlich mit langen Löffeln essen). Er starb ganz plötzlich an einem Schlagfluß.

In allen diesen Generationen, solange ein Rutherford mit seinen Burschen im Sattel saß oder im Wirtshaus sich raufte, gab es daheim auf der alten Burg oder in dem späteren Herrenhaus ein bleiches Ehegespons. Es scheint, daß diese lange Reihe von Märtyrerinnen sich in Geduld faßte, aber endlich sollte ihnen doch ihre Rache werden; das geschah in der Person ihrer letzten Nachkommin Johanna. Sie trug zwar den Namen der Rutherfords, aber sie war die Tochter der zitternden Ehefrauen. Anfänglich entbehrte auch sie nicht des Reizes. Die Nachbarn erinnerten sich, in ihr als Kind Züge eines schwachen, elfenhaften Mutwillens wahrgenommen zu haben, sanfte, kleine Widerspenstigkeiten, traurige, kurze Anfälle von Heiterkeit, ja selbst einen Morgenstrahl von Schönheit, dessen Verheißung jedoch niemals in Erfüllung ging. Sie welkte bereits im Blühen und erreichte ihre Reife (sei es durch die Sünden der Väter oder die Leiden ihrer Mütter) geknickt, ja gleichsam entblättert – ohne Lebenssaft, Kraft und Frohsinn; fromm, sorgenvoll, empfindsam, tränenreich und untüchtig.

Vielen war es ein Wunder, daß sie überhaupt geheiratet hatte – sie war so ganz aus dem Holz, aus dem man die alten Jungfern schnitzt. Aber ein Zufall warf sie Adam Weir, dem neugebackenen Lord Staatsanwalt, einem anerkannt tüchtigen, zu hohen Ehren emporgestiegenen Manne, in den Weg, diesem Sieger über viele Hindernisse, der sich jetzt in vorgerückten Jahren nach einer Gattin umzuschauen begann. Er war ein Mann, der mehr auf Gehorsam als auf Schönheit sah; dennoch schien er gleich auf den ersten Blick einen tiefen Eindruck von Johanna empfangen zu haben. »Wer ist die da?« fragte er seinen Wirt und fügte hinzu, als dieser ihm geantwortet hatte: »So, so; sie sieht recht sittsam aus. Sie erinnert mich –«, und nach einer Pause (die etliche die Kühnheit hatten, einer sentimentalen Erinnerung zuzuschreiben) forschte er weiter: »Ist sie religiös?« Kurz danach wurde er auf sein eigenes Gesuch ihr vorgestellt. Diese Bekanntschaft, die man nur profanerweise als eine Liebeswerbung bezeichnen kann, wurde von Mr. Weir mit gewohnter Energie gepflegt und lebte lange Zeit als Fabel, oder besser als Quelle von allerlei fabelhaften Gerüchten, im Parlamentshaus fort. Man schilderte, wie Weir, ganz rosig vom vielen Portwein, den Salon betrat, schnurstracks auf die Dame zusteuerte und sie mit allerhand Scherzen bestürmte, auf welche die verlegene Schöne nur mit einem qualvollen »Herrjeh, Mr. Weir!« oder »Liebe Zeit, Mr. Weir!« oder »Gott schütz uns, Mr. Weir!« zu antworten vermochte. Noch am Vorabend ihrer Verlobung wollte jemand, der sich dem zärtlichen Paare genaht, gehört haben, wie die Dame im Tone eines Menschen, der, nur um nicht zu schweigen, redet, fragte: »Großer Gott, Mr. Weir, und was tat man mit ihm?« Worauf die tiefe Stimme des Freiers antwortete: »Ihn henken, Madame, ihn henken!«

Die Motive auf beiden Seiten wurden viel erörtert. Mr. Weir muß seine Braut aus irgendeinem Grunde für eine sehr passende Lebensgefährtin gehalten haben; vielleicht gehörte er zu jener Klasse Männer, die einen schwachen Verstand bei Frauen schätzen – eine Auffassung, die schon in diesem Leben unfehlbar bestraft wird. Abstammung und Vermögen der Dame waren jedenfalls tadelfrei. Ihre räuberischen Ahnen und ihr händelsüchtiger Vater hatten Johanna mit Glücksgütern bedacht. Es waren sowohl weite Äcker wie bares Geld vorhanden, bereit, dem Gatten ein für allemal überantwortet zu werden, seinen Nachkommen Würde und ihm selbst einen Titel zu verleihen, wenn man ihn erst auf den Richterstuhl berufen hätte. Andererseits bestand für Johanna wohl ein gewisser Reiz der Neugier diesem unbekannten, männlichen Tier gegenüber, das sich ihr mit der Rauheit eines Bauern und dem Aplomb des Advokaten näherte. Da er einen so schneidenden Gegensatz zu allem bot, was sie kannte, liebte und verstand, mag er ihr sehr wohl als das Extrem, wenn auch nicht als das Ideal seines Geschlechts erschienen sein. Außerdem war er ein Mann, dem man so leicht keinen Korb geben konnte. Wenn auch nur wenig über vierzig, sah er zur Zeit seiner Heirat doch bereits älter aus; dem Gewichte der Mannheit gesellte sich die senatorische Würde der Jahre hinzu; zwar betrachtete sie ihn mit unheiliger Ehrfurcht, aber mit Ehrfurcht trotz alledem. Das Richterkollegium, die Anwaltschaft, die gerissensten und widerspenstigsten Zeugen – alle neigten sich seiner Autorität – weshalb da nicht auch die kleine Hanna Rutherford?

Jene Ketzerei betreffs törichter Ehefrauen wird, wie gesagt, stets bestraft, und Lord Hermiston begann auf der Stelle die Buße zu zahlen. Sein Haus in George Square wurde entsetzlich schlecht geführt; nichts stand im entsprechenden Verhältnis zur Höhe des Aufwands als sein Weinkeller, den er persönlich verwaltete. Wenn bei der Tafel alles verkehrt ging, was ständig der Fall war, pflegte Mylord über den Tisch hinweg seine Frau anzublicken: »Mir scheint, diese Brühe ist besser zum Baden als zum Essen geeignet.« Oder zu dem Haushofmeister gewandt: »Hier, M’Killop, fort mit diesem radikalen Gigot – bring’s den Franzosen, Kerl, und hol mir ein paar Frösche. Es ist doch eine harte Sache, daß ich den ganzen Tag im Gerichtshof Radikale aufhängen muß und nachher zu Hause nicht mal was zu essen bekomme.« Natürlich war das nur eine Redensart; niemals in seinem Leben hatte er einen Mann seines Radikalismus wegen gehenkt, da das Gesetz, dessen treuer Diener er war, es anders bestimmte. Und ebenso natürlich war dieser knurrende Protest als eine Art Witz gedacht, aber es war ein versteckter Witz; und mit tönender Stimme vorgetragen und von jenem Ausdruck begleitet, den man im Parlamentshaus als »Hermistons Henkergesicht« bezeichnete, erfüllte er die Frau mit lähmender Bestürzung. Da saß sie ihm gegenüber, sprachlos und zitternd; bei jedem Gang hing ihr Blick, wie bei einer Feuerprobe, unsicher an Mylords Antlitz, nur um sich sogleich wieder zu senken. Aß er schweigend, so war unaussprechliche Erleichterung ihr Los, klagte er, versank die Welt in Finsternis. Dann pflegte sie die Köchin, die stets »ihre Schwester im Herrn« war, aufzusuchen. »Ach, Liebste, es ist ein schrecklich Ding, daß Mylord niemals in seinem eigenen Hause zufriedengestellt werden kann«, so lautete der Anfang; und dann weinte sie und betete mit der Köchin; und dann betete die Köchin mit Mrs. Weir; und am folgenden Tage pflegte die Mahlzeit nicht um einen Penny besser zu sein – und die nächste Köchin war (wenn sie überhaupt erschien) womöglich noch schlechter, aber nicht minder fromm. Vielfach wunderte man sich, daß Lord Hermiston die Sache so ruhig nahm; in Wahrheit war er ein stoischer, alter Genüßling, zufrieden mit solidem Wein, und zwar in reichlichen Mengen. Dennoch gab es Momente, in denen ihm die Geduld riß. Vielleicht ein halbes dutzendmal in der Geschichte seiner Ehe brach er mit fürchterlicher Wut und ein paar knappen Gebärden in die Worte aus: »Hier, schaff das fort, und bring mir ein Stück Brot und Käse.« Niemand fiel es ein, zu protestieren oder sich zu entschuldigen; die Mahlzeit wurde abgebrochen; Mrs. Weir flennte unverhohlen am Kopfende der Tafel, während seine Lordschaft ihr gegenüber mir betonter Gleichgültigkeit sein Brot und seinen Käse kaute. Ein einziges Mal nur hatte Mrs. Weir hilfesuchend eine Bitte gewagt. Das geschah, als er auf dem Wege in sein Studierzimmer an ihrem Stuhl vorbeischritt.

»Ach, Adam«, jammerte sie mit einer Stimme, tragisch von vielen Tränen, und streckte ihm, in der einen Hand ein triefendes Taschentuch, beide Arme entgegen.

Er hielt mit zornigem Ausdruck inne; allmählich jedoch, während er sie musterte, stahl sich ein Funken von Humor in seinen Blick.

»Unsinn!« sagte er. »Du mit deinem Unsinn! Was nützt mir eine christliche Familie? Eine christliche Suppe will ich! Hol mir ’ne Dirn, die eine simple Kartoffel kochen kann, und wär’s eine Hure von der Straße.« Und mit diesen Worten, die in ihren zarten Ohren wie Blasphemie widerhallten, war er an ihr vorüber in sein Zimmer geschritten und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

So war die Hauswirtschaft in George Square. Besser war es damit auf Hermiston bestellt. Dort ruhten alle Lasten auf Kirstie Elliott, der Schwester eines kleinen Grundbesitzers aus der Nachbarschaft, die zugleich im achtzehnten Grade mit Mylady verwandt war und dort ein geordnetes Haus wie eine gute, ländliche Tafel führte. Kirstie war eine Frau unter tausend, sauber, tüchtig, bemerkenswert, ehemals eine Helena der Heide und noch immer ansehnlich schön wie ein rassiges Pferd und so gesund wie der Wind von den Bergen. Vollbusig, vollstimmig und vollblütig, führte sie mit ganzer, leidenschaftlicher Seele und viel Lärm, der nicht ohne heftige Zusammenstöße verlief, die Wirtschaft. Sie war kaum frömmer, als der Anstand der damaligen Zeit es verlangte, und bot Mrs. Weir daher Anlaß zu vielen sorgenvollen Bedenken und tränenreichen Gebeten. Haushälterin und Herrin erneuerten in ihrer Person die Rollen von Martha und Maria, und Maria stützte sich, wenn auch mit nagendem Gewissen, auf die Stärke Marthas wie auf einen Fels. Selbst Lord Hermiston brachte Kirstie besondere Hochachtung entgegen. Wenigen Menschen gegenüber zeigte er sich so leutselig, wenige beehrte er mit so zahlreichen Scherzen. »Kirstie und ich müssen unseren Spaß haben«, erklärte er in glänzender Laune, während er Kirsties frische Haferkuchen mit Butter bestrich und Kirstie ihm bei Tisch aufwartete. Für diesen Mann, den es weder nach Liebe noch nach Popularität gelüstete, für diesen scharfsichtigen Kenner von Menschen und Ereignissen gab es vielleicht nur eine Wahrheit, die er sich niemals träumen ließ: niemals vermutete er, daß Kirstie ihn haßte. Er hielt Herrn und Dienerin für trefflich gepaart; beide waren sie harte, tüchtige, gesunde, derbe Schotten, ohne eine Spur von Firlefanz. Tatsache war, daß Kirstie die schwache, weinerliche Dame zur Göttin und zu ihrem einzigen Kinde erhoben hatte; ja mitunter, wenn sie bei Tisch bediente, juckte es sie in den Fingern, mit Mylords Ohren nähere Bekanntschaft zu schließen.

So genoß nicht nur Mylord, nein auch Mrs. Weir ihre Ferien, wenn sich die Familie auf Hermiston befand. Befreit von dem fürchterlichen Ausblick auf ein verunglücktes Essen, nähte Madame ihren Saum, las ihre Andachtsbücher und machte (auf Befehl von Mylord) ihren Spaziergang, mitunter allein, mitunter aber auch in Begleitung Archies, des einzigen Kindes dieser kaum natürlichen Verbindung. Das Kind war das Band, das sie am innigsten mit dem Leben verknüpfte. Die erfrorene Knospe ihres Gefühls erblühte von neuem, tief sog sie den Atem des Lebens ein, entfesselte in des Kindes Gesellschaft die Ströme ihres Herzens. Das Wunder ihrer Mutterschaft blieb ihr ewig neu. Der Anblick des kleinen Kerls an ihrem Rockzipfel berauschte sie mit einem Gefühl der Macht, während gleichzeitig das Bewußtsein der Verantwortlichkeit ihr das Blut in den Adern gefror. Sie blickte in die Zukunft und sah ihn im Geiste heranwachsen und auf der Weltbühne eine vielgestaltige Rolle spielen: sogleich hielt sie den Atem an und gab mit lebhafter Willensanstrengung ihrem Mute neuen Schwung. Nur in des Kindes Gegenwart vermochte sie sich ganz zu vergessen und wenigstens zu Momenten natürlich zu sein; und doch war es ihr wieder nur dem Kinde gegenüber möglich, konsequent zu bleiben. Archie sollte ein großer und ein guter Mann werden, wenn möglich ein Diener des Herrn, ein Heiliger ganz gewiß. Sie versuchte ihn für ihre Lieblingsbücher zu interessieren: Rutherfords »Briefe«, Scougals »Fülle der Gnade« usw. Es gehörte zu ihren liebsten Gewohnheiten (eine Tatsache, die jetzt wundernimmt), das Kind nach dem Teufelsmoor zu tragen, sich dort mit ihm auf des »Betenden Webers« Stein zu setzen und ihm von den Covenanters zu erzählen, bis ihnen beiden die Tränen über die Backen rannen. Ihre Auffassung der Weltgeschichte war völlig naiv, eine Zeichnung in Schnee und Tinte; liebliche Heilige mit Psalmen auf den Lippen einerseits, auf der anderen Seite die Schar der Verfolger, gespornt, blutrünstig, vom Weine erhitzt: hie leidender Christ, dort rasender Beelzebub. Verfolger: das war das Wort, das der Frau ans Herz griff, das für sie den Gipfel des Bösen bedeutete, und sein Makel lastete auch auf ihrem Hause. Ihr Ururgroßvater hatte auf dem Schlachtfelde von Rullion Green gegen die Gesalbten des Herrn das Schwert gezogen und der Überlieferung zufolge in den Armen des abscheulichen Dalyell sein Leben ausgehaucht. Auch vermochte sie sich der Wahrheit nicht zu verschließen, daß, hätten sie in den alten Zeiten gelebt, Hermiston selbst zu den Reihen des Blutigen Mackenzie und der Schlauköpfe Lauderdale und Rothes, kurz zu der Horde von Gottes persönlichen Feinden gehört haben würde. Dieses Bekenntnis bewegte sie tief im Innersten und peitschte sie zu noch glühenderer Andacht auf; die Stimme, in der sie das Wort »Verfolger« aussprach, erschütterte das Kind bis ins Mark hinein; und als eines Tages der Pöbel sie alle in Mylords Reisewagen auspfiff und verhöhnte und »Nieder mit dem Verfolger! Nieder mit dem Henker Hermiston!« schrie, während Mama die Hand vor ihre Augen hielt und weinte und Papa lediglich die Fensterscheibe herunterließ und den Mob mit seinem drolligen, fürchterlichen, bitteren und doch zugleich lächelnden Ausdruck musterte – dem Ausdruck – so sagten die Leute –, den er mitunter hatte, wenn er jemandem sein Urteil verkündete – ja, da war Archies grenzenlose Verwunderung viel zu groß, um das Gefühl der Furcht aufkommen zu lassen. Kaum jedoch war er mit seiner Mutter allein, als seine schrille Kinderstimme eine Erklärung forderte: Weshalb hatten sie Papa einen »Verfolger« genannt?

»Gott schütz uns, mein Liebling!« rief sie. »Gott schütz uns! Die Sache ist eine politische Sache, mein Schatz! Niemals darfst du nach einer politischen Sache fragen, Archie. Dein Vater ist ein großer Mann, mein Schatz, und es kommt weder dir noch mir zu, ihn zu richten. Es würde uns allen zum Ruhme gereichen, wenn jeder von uns sich in seiner Stellung so führte, wie dein Vater in seinem hohen Amt; laß mich nie wieder eine so unehrerbietige und pflichtvergessene Frage hören! Nicht etwa, daß du die Absicht hattest, unehrerbietig zu sein, mein Lämmchen. Deine Mutter weiß das schon – sie weiß es ganz genau, mein Herzblatt.« Und damit glitt sie zu gefahrloseren Themen über, hinterließ jedoch in dem Kindergemüt ein dumpfes, aber unauslöschliches Gefühl des Unrechts.

Mrs. Weirs Lebensphilosophie ließ sich in ein Wort zusammenfassen: Empfindsamkeit! So wie sich ihr das ganz von der Glut der Höllentore erleuchtete Weltall malte, waren gute Menschen verpflichtet, in einer Art Ekstase der Empfindsamkeit durchs Leben zu gehen. Die Tiere und Pflanzen besaßen zwar keine Seelen, aber sie waren ja nur auf einen Tag geschaffen; mochte dieser Tag ihnen sanft verrinnen! Und was die unsterblichen Menschen betraf – wie abschüssig war der Pfad, den viele von ihnen gingen – wie grausam die Ewigkeit, in die er mündete! »Kauft man nicht zwei Sperlinge –« »So dir jemand einen Streich gibt –« »und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet« – diese Texte bedeuteten für sie das A und O des Gottesworts. Sie zog sie morgens mit ihren Kleidern an und legte sich des Nachts mit ihnen schlafen; sie gingen ihr unablässig im Kopfe herum wie eine geliebte Melodie und umschwebten sie gleich einem Lieblingsparfüm. Der Familiengeistliche war ein kerniger Ausleger der Schrift, dem Mylord mit Behagen lauschte; allein Mrs. Weir verehrte ihn nur von ferne, hörte sein nützliches Dröhnen jenseits der Rampen des Dogmas (gleich den Kanonen einer belagerten Stadt) und weilte inzwischen innerhalb wie außerhalb der Schußweite in ihrem privaten Garten, den sie mit dankbaren Tränen wässerte. Seltsam zu sagen, war diese farblose und rückgratlose Frau wahrhaft fromm; sie hätte der Sonnenschein und der Ruhm eines Klosters werden können. Vielleicht kannte niemand außer Archie ihre Beredsamkeit; er allein hatte seine Mutter mit geröteten Wangen und verschlungenen oder bebenden Händen gesehen, ganz sanfte Glut. In dem Parke von Hermiston gibt es einen Winkel, von wo aus man einen unerwarteten Blick auf den Gipfel des Schwarzen Berges hat, der mitunter nichts weiter ist als die grasige Kuppe einer Anhöhe, mitunter aber auch (um Mrs. Weirs eigenen Ausdruck zu gebrauchen) einem kostbaren Juwel in einer Wolkenfassung gleicht. Wenn der Berg an solchen Tagen plötzlich vor ihr auftauchte, preßten ihre Finger sich um die des Kindes, und ihre Stimme schwang sich zu einem Liede auf. »Auf die Berge möcht‘ ich steigen!« sang sie und fügte hinzu: »Ach, Archie, sind sie nicht wie die Hügel Naphtalis?«, und ihre Tränen strömten.

Auf ein eindrucksfähiges Kind mußte diese ständige, sanfte Begleitmusik des Lebens eine tiefe Wirkung ausüben. Der Frau Quietismus und Frömmigkeit gingen ungeschmälert auf seine völlig verschiedene Natur über; aber während sie dort dem eingeborenen Gefühl entsprangen, waren sie hier nur ein eingepflanztes Dogma. Natur und des Kindes Kampflust lehnten sich manchmal dagegen auf. Ein Proletarierjunge aus der Potterrow schlug ihn eines Tages auf den Mund; er schlug zurück, die beiden trugen die Sache in einer Gasse hinter den Ställen bei den Meadows aus, und Archie kehrte mit einer beträchtlich verminderten Anzahl Vorderzähne nach Hause zurück, wo er in wenig erbaulicher Weise mit den Verlusten seines Feindes prahlte. Das war ein schlimmer Tag für Mrs. Weir; sie betete und weinte über dem jugendlichen Sünder, bis die Zeit von Mylords Heimkehr vom Gericht herannahte und sie die Miene zittriger Ruhe aufsetzen mußte, mit der sie ihn zu begrüßen pflegte. Der Richter war an jenem Tage in beobachtender Laune und bemerkte sehr bald die fehlenden Zähne. »Ich fürchte, Archie hat mit einem der Burschen aus dem Hinterhause gerauft«, sagte Mrs. Weir.

Mylords Stimme dröhnte, wie sie das in der Zurückgezogenheit seiner Häuslichkeit selten tat. »Dergleichen Dinge verbitte ich mir, Junge! Hast du mich verstanden? – Alle dergleichen Dinge! Ich dulde nicht, daß sich ein Sohn von mir mit irgendwelchem schmutzigen Pöbel in der Gosse wälzt!«

Die besorgte Mutter war dankbar für eine so kräftige Unterstützung; sie hatte eher das Gegenteil befürchtet. Und als sie an jenem Abend das Kind zu Bett brachte, sagte sie: »Jetzt siehst du’s, mein Herz. Ich hab‘ dir ja vorausgesagt, was dein Vater davon denken würde, wenn er erführe, daß du dich zu dieser schrecklichen Sünde hast verleiten lassen; und jetzt wollen du und ich zu Gott beten, daß er dich vor einer ähnlichen Versuchung bewahren oder dir Kraft verleihen möge, ihr zu widerstehen!«

Die weibliche Lüge war in diesem Falle umsonst. Eis und Eisen lassen sich nicht zusammenschweißen, und die Standpunkte des Lord Oberrichters und Mrs. Weirs waren nicht weniger antagonistisch. Charakter und Stellung seines Vaters waren Archie schon längst ein Stein des Anstoßes, und die Schwierigkeit wuchs mit jedem Jahre, das er älter wurde. Der Mann verhielt sich meistens schweigsam; wenn er aber überhaupt redete, geschah es, um weltliche Dinge in durchaus weltlichem Geiste vorzutragen, teils in einer Sprache, die man den Jungen gelehrt hatte als roh zu betrachten, teils sogar mit Worten, die er als direkt sündhaft erkannte. Zärtliche Sanftmut war die vornehmste Pflicht, und Mylord war unfehlbar hart. Gott war die Liebe; der Name Mylords lautete (für alle, die ihn kannten) Furcht. In dem Weltschema, das die Mutter Archie aufgebaut hatte, war eines derartigen Geschöpfes Platz gezeichnet. Dort gab es Menschen, die man bemitleiden mußte und für die zu beten gut, wenn auch wahrscheinlich vergeblich war. Diese wurden Verworfene, Böcke, Feinde Gottes genannt, Fackeln, die sich selbst verzehrten; Archie fand ein jedes Merkmal hier vertreten und zog den unvermeidlichen Schluß, daß der Lord Oberrichter der größte aller Sünder sei.

Der Mutter Aufrichtigkeit war kaum vollkommen. Einen einzigen Einfluß gab es, den sie für ihr Kind fürchtete und im geheimen bekämpfte: den Mylords; und halb unbewußt, halb in willkürlicher Blindheit fuhr sie fort, ihres Gatten Stellung bei ihrem Sohne zu unterminieren. Solange Archie schwieg, tat sie dies erbarmungslos, den Blick einzig auf des Kindes Seelenheil gerichtet; aber es kam der Tag, da Archie redete. Es war im Jahre 1801, als er das siebente Jahr vollendet hatte und für sein Alter bereits eine ungewöhnliche Wißbegier und Logik zeigte. War es Sünde und verboten, andere zu richten, weshalb war Papa dann ein Richter? Und machte aus der Sünde einen Beruf? Und trug ihren Namen als eine Auszeichnung?

»Ich verstehe es nicht«, sagte der kleine Rabbi und schüttelte altklug den Kopf.

Mrs. Weir floß über von Gemeinplätzen.

»Nein, ich kann es trotzdem nicht verstehen«, wiederholte Archie. »Und ich will dir was sagen, Mama, ich glaube nicht, daß du und ich berechtigt sind, bei ihm zu bleiben.«

Das rüttelte die Frau auf; sie sah sich abtrünnig von ihrem Mann, ihrem Gebieter und Ernährer, von ihm, für den sie (soweit Weltlichkeit überhaupt in ihrer Natur lag) einen gewissen unterdrückten Stolz empfand. Sie tat sofort Buße in Form eines Vortrages über Mylords Ruhm und Größe, seine verdienstvollen Leistungen in dieser Welt des Leides und des Unrechts und über den Platz, den er einnähme, hoch erhaben über Kinder und Unmündige, die ihn niemals zu erkennen oder zu kritisieren hoffen dürften. Aber Archie hatte seine Antwort parat: Waren nicht Kinder und Unmündige Typen des Gottesreichs? Waren Ruhm und Größe etwa nicht der Welt Abzeichen? Und überhaupt, wie war das mit dem Mob gewesen, der Mylords Wagen umbrandet hatte?

»Das ist alles schön und gut«, schloß er, »aber meine Meinung ist, Papa hat kein Recht, Richter zu sein. Und das ist anscheinend noch nicht mal das Schlimmste. Es scheint, sie nennen ihn den ›Henker-Richter‹ – es scheint, daß er grausam ist. Ich will dir was sagen, Mama, ich muß immer an den Text denken: ›Besser wäre es für jenen Menschen, man hinge ihm einen Mühlstein um den Hals und würfe ihn in die tiefste See.‹«

»Ach, mein Lamm, nie wieder darfst du so etwas sagen!« jammerte sie. »Du sollst Vater und Mutter ehren, mein Herz, auf daß du lange lebest auf Erden. Das sind nur Atheisten, die sich gegen ihn auflehnen – französische Atheisten, Archie. Du willst dich doch nicht mit französischen Atheisten auf ein und dieselbe Stufe stellen? Es würde mir das Herz brechen, wenn ich das von dir glauben müßte. Ach Archie, Archie, bist du es denn nicht selber, der sich jetzt zu seinem Richter aufwirft? Hast du Gottes unmißverständliches Gebot – das erste mit einer Verheißung – schon so rasch vergessen? Denke an den Splitter des anderen und an den Balken im eigenen Auge!«

Nachdem sie also den Krieg ins feindliche Lager getragen, vermochte die geängstigte Dame wieder zu atmen. Ohne Zweifel ist es auch leicht, ein Kind derart mit Schlagworten zu überfallen, aber es ist noch sehr die Frage, inwiefern es wirksam ist. Ein Instinkt in der Brust des Kindes entdeckt die Sophisterei und verdammt sie. Es wird sich zwar sogleich unterwerfen, insgeheim aber an seiner Ansicht festhalten. Denn selbst in der primitiven und uralten Beziehung zwischen Mutter und Kind gebiert eine scheinheilige Lüge die andere.

Als in jenem Jahre die Gerichtsferien anbrachen und die Familie nach Hermiston übersiedelte, fiel es allgemein im Lande auf, daß die gnädige Frau arg kränkelte. Sie schien unversehens ihren Halt am Leben zu verlieren und dann wiederzugewinnen; mitunter saß sie teilnahmslos, ja in grenzenloser Verwirrung; dann wieder erwachte sie zu fieberhafter, schwächlicher Tätigkeit. Sie lungerte bei den Mägden und deren Hausarbeit herum und beobachtete sie mit stumpfen Blicken, schickte sich an, in alten Schränken und Kommoden zu kramen, wobei sie die Arbeit halb verrichtet wieder liegenließ, und pflegte allerlei Bemerkungen mit großer Lebhaftigkeit anzufangen, nur um sie widerstandslos wieder abzubrechen. Im allgemeinen gemahnte sie an jemand, der etwas vergessen hat und sich nun vergeblich daran erinnern möchte, und während sie so nacheinander die wertlosen und rührenden Andenken ihrer verlorenen Jugend durchstöberte, hätte man meinen können, daß sie in ihnen nach jenem vergessenen Gedanken suche. Etwa um dieselbe Zeit teilte sie zahlreiche Geschenke unter den Nachbarn und Hausdirnen aus, jedoch gleichsam mit einem Ausdruck des Bedauerns, der die Empfänger verlegen machte. An ihrem letzten Abend auf Erden war sie mit einer Handarbeit beschäftigt und lag ihr mit so unverhohlenem Eifer ob, daß selbst Mylord (der nicht oft neugierig war) sie fragte, was sie denn da mache.

Sie errötete bis über die Ohren. »Ach, Adam, es ist für dich! Pantoffeln! Ich – ich habe dir niemals Pantoffeln gestickt.«

»Du verrückte, alte Kruke!« war seiner Lordschaft Erwiderung, »’ne nette Figur würd‘ ich abgeben, wenn ich in Pampuschen herumschlurfte!«

Am folgenden Tage zur Stunde des Spazierengehens mischte sich Kirstie ein. Kirstie nahm das Hinsiechen ihrer Herrin sehr schwer, verübelte es ihr, zankte sie aus und überhäufte sie mit Vorwürfen, die Besorgnisse echter Liebe unter der Maske der Übellaunigkeit verbergend. An diesem Tage von allen Tagen bestand sie äußerst unehrerbietig, ja mit einer Art bäurischer Wut darauf, daß Mrs. Weir zu Hause bleibe. Aber deren Antwort lautete nur: »Nein, nein, es ist Mylords Befehl«, und sie brach wie gewöhnlich zu ihrem Spaziergang auf. Archie spielte auf dem Sumpfacker irgendein kindliches Spiel, dessen Gegenstand Schlamm war; sie blieb stehen und sah zu ihm hinüber, als wolle sie ihn rufen. Dann überlegte sie es sich anders, seufzte, schüttelte den Kopf und setzte allein ihren Rundgang fort. Am Bach stieß sie auf die Hausmägde beim Waschen und ging mit ihrem schlenkernden, müden, nachlässigen Schritt vorüber.

»’s ist doch ’n jämmerliches Geschöpf, die Frau«, sagte eine der Dirnen.

»Unsinn«, meinte die andere, »das Weib ist krank.«

»Pah, ich seh‘ keinen Unterschied«, entgegnete die erste. »Ein saftloses Frauenzimmer, ein elendes, altes Weibsbild.«

Das so besprochene arme Wesen schlenderte währenddessen verloren durch das Grundstück. In ihrem Geiste wogten und verebbten die Strömungen und rissen sie wie Seetang hin und her. Sie schlug den einen Pfad ein, blieb stehen, kehrte um und versuchte es mit einem neuen, immer suchend, suchend und hatte doch schon im nächsten Augenblick ihr Vorhaben wieder vergessen, da das Wahlvermögen in ihrem Busen längst erloschen oder zum mindesten jeder Konsequenz beraubt war. Plötzlich jedoch war es ihr, als habe sie sich des Vergessenen erinnert oder einen Entschluß gefaßt; sie wandte sich eilig, hastete zurück und erschien im Speisezimmer, das Kirstie gerade aufräumte, wie jemand, der einen wichtigen Auftrag zu erledigen hat.

»Kirstie«, hub sie an und stockte; dann fuhr sie mit Überzeugung fort: »Mr. Weir ist nicht geistlich gesinnt, aber er ist mir ein guter Mann gewesen.«

Es war vielleicht das erstemal seit ihres Mannes Aufstieg, daß sie das Vorwort zu seinem Namen, auf das die zärtliche, inkonsequente Frau nicht wenig stolz war, vergaß. Und als Kirstie der Sprechenden ins Gesicht blickte, erkannte sie, daß dort eine Veränderung vorgegangen war.

»Gott steh uns bei, was fehlt Ihnen, Madame?« rief die Haushälterin und erhob sich hastig von dem Teppich.

»Ich weiß nicht«, erwiderte kopfschüttelnd ihre Herrin. »Aber er ist nicht geistlich gesinnt, meine Liebe.«

»Hier, setzen Sie sich! Um Gottes willen, was fehlt der Frau?« rief Kirstie, eilte, sie zu stützen, und drückte sie in Mylords eigenen Sessel neben dem Kamin.

»Gott schütz uns, was ist das?« keuchte Mrs. Weir. »Kirstie, was ist es nur? Ich fürchte mich.«

Das waren ihre letzten Worte.

Es war um die Dämmerstunde, als Mylord heimkehrte. Der Sonnenuntergang, eine strahlende Wolkenmasse, stand ihm im Rücken, und vor ihm am Wegrande entdeckte er wartend Kirstie Elliott. Sie war in Tränen aufgelöst und redete ihn in den hohen, falschen Tönen barbarischer Trauer an, wie man sie heute noch, wenn auch gemildert, in der schottischen Heide findet.

»Der Herr erbarme sich Eurer, Hermiston! Der Herr gebe Euch Kraft!« schrillte sie. »Weh über mich, daß ich es Euch verkünden muß!«

Er parierte sein Pferd und blickte mit seinem Henkergesicht auf sie herab.

»Sind die Franzosen gelandet?«

»Mann, Mann«, rief sie, »ist das alles, woran Ihr zu denken vermögt? Der Herr gebe Euch Geduld: der Herr tröste und schütze Euch!«

»Ist jemand gestorben?« fragte seine Lordschaft. »Doch nicht Archie?«

»Gott sei Dank, nein!« rief das Weib, vor Schreck in einen natürlichen Ton fallend. »Nein, nein, so schlimm ist es nicht, ’s ist die Frau, Mylord; vor meinen Augen ist sie verschieden. Einen einzigen Seufzer stieß sie aus und war hinüber. Ach, mein süßes Fräulein Hannchen; ich sehe sie noch vor mir!« Und wieder brach sie in eine Klageflut aus, von der Art, in der Frauen ihrer Klasse stets schwelgen und exzellieren.

Lord Hermiston saß aufrecht im Sattel und musterte sie. Dann schien er seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen.

»Nun, es ist etwas plötzlich gekommen«, meinte er. »Aber sie war immer schon ein schwächliches Frauenzimmer.«

Und er ritt in eiligem Trabe heim, Kirstie an seinem Sattelknopf. In den Kleidern ihres letzten Ausganges hatten sie die tote Frau auf ihrem Bette aufgebahrt. Im Leben war sie niemals interessant gewesen; sie war auch nicht ergreifend im Tode; und als ihr Gatte jetzt vor ihr stand, die Hände hinter seinem mächtigen Rücken verschränkt, erschien ihm das, was er aus seiner Höhe dort betrachtete, als eine Verkörperung alles dessen, was in der Welt unbedeutend ist.

»Sie und ich waren niemals füreinander zugeschnitten«, bemerkte er endlich. »Es war eine verdrehte Heirat.« Und er fügte mit ausnehmender Sanftheit hinzu: »Arme Krott, arme Krott!« Dann plötzlich: »Wo ist Archie?«

Kirstie hatte ihn in ihr Zimmer gelockt und ihm eine Marmeladenschnitte gegeben.

»Einen Funken von Verstand hast du ja«, bemerkte der Richter und betrachtete grimmig seine Haushälterin. »Alles in allem – es hätte können schlimmer kommen –, ich hätte auch eine keifende Jesabel wie dich heiraten können!«

»Wer denkt jetzt an Euch, Hermiston!« rief die gekränkte Frau. »Wir denken nur an sie, die endlich ihren Leiden entrückt ist. Hätte sie es etwa schlechter treffen können, Hermiston – antwortet mir darauf, hier vor ihrer starren Leiche!«

»Nun, es gibt immer welche, die nie zufrieden sind«, bemerkte seine Lordschaft.

Nachwort des englischen Herausgebers

Mit den letzten gedruckten Worten »eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur« endet der Roman »Die Herren von Hermiston«. Jene Worte wurden, soviel ich weiß, noch am nämlichen Morgen diktiert, da der letzte, jähe Anfall den Autor dahinraffte. »Die Herren von Hermiston« nimmt somit in den Werken Stevensons den Platz ein, den Edwin Drood in der Lebensarbeit Dickens‘ oder Denis Duvals in der Thakerays innehaben: oder vielmehr, unser Roman bedeutet relativ mehr, denn während jenen anderen beiden Fragmenten ein ehrenvoller Platz in ihrer Verfasser Werken gebührt, nimmt »Hermiston« in Stevensons Schaffen zweifellos den Ehrenplatz ein.

Die Leser werden in der Frage, ob sie Weiteres über den geplanten Verlauf der Geschichte und das Schicksal ihrer Charaktere zu erfahren wünschen, geteilter Meinung sein. Einigen wird Schweigen und die Möglichkeit, selbst mit Hilfe solcher Fingerzeige, wie der vorliegende Text sie bietet, sich die Fortsetzung auszuspinnen, als das Beste erscheinen. Ich gestehe, daß dies auch die Auffassung ist, zu der ich persönlich neige. Da andere jedoch – und zweifellos die Mehrzahl der Leser – durchaus alles wissen möchten, was es darüber zu sagen gibt, und da Herausgeber und Verleger ihre Stimmen mit ihnen vereinen, kann ich wohl nicht umhin, ihren Wünschen entgegenzukommen. Der geplante Entwurf verläuft, soweit er bei des Autors Tode seiner Stieftochter und treuen Gehilfin, Mrs. Strong, bekannt war, etwa wie folgt:

Archie hält an seinem guten Vorsatz fest, weitere Schritte zu vermeiden, die die jüngere Kirstie kompromittieren könnten. Frank Innes macht den Vorteil, der ihm aus des Mädchens Unglück und verletzter Eitelkeit erwächst, seiner Absicht, sie zu verführen, dienstbar, und Kirstie, obwohl im Herzen immer noch Archie treu, fällt Frank zum Opfer. Die ältere Kirstie bemerkt als erste, daß etwas nicht im Lot ist; sie hält Archie für den Schuldigen und klagt ihn an, wodurch er erst von seiner Liebsten Unglück erfährt. Er leugnet nicht sofort, der Schuldige zu sein, sondern sucht die junge Kirstie auf, die ihm die Wahrheit gesteht, und er, der sie immer noch liebt, verspricht in ihrer Not, sie zu schützen und ihr beizustehen. Anschließend daran hat er mit Frank Innes eine Unterredung, die damit endet, daß Archie Frank im Streit neben des Betenden Webers Stein tötet. Inzwischen haben die Vier Schwarzen Brüder von dem Verrat an ihrer Schwester erfahren und beschließen, an Archie, als dem vermeintlichen Verführer, Rache zu nehmen. Sie sind im Begriff, ihn zu stellen, als die Polizei ihn wegen des Mordes an Frank verhaftet. Er wird vor seinen Vater, den Lord Oberrichter, geführt, schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Inzwischen jedoch hat die ältere Kirstie von ihrer Nichte die Wahrheit erfahren und ihre Neffen benachrichtigt, und diese greifen in einem ungeheuren Rückschlag der Gefühle zu Archies Gunsten nach der uralten Tradition ihres Hauses zur Selbsthilfe. Sie sammeln eine Schar von Anhängern, brechen nach einem harten Kampf in das Gefängnis ein, darin Archie gefangen liegt, und setzen ihn frei. Er und die junge Kirstie fliehen zusammen nach Amerika. Allein die Qual der Gerichtsverhandlung gegen den eigenen Sohn ist für den Lord Oberrichter zu stark gewesen; er stirbt am Schlagfluß. »Ich weiß nicht«, fügt Stevensons Amanuensis hinzu, »was aus der älteren Kirstie wird, jedoch diese Gestalt wuchs und erstarkte derart unter seiner Feder, daß ich überzeugt bin, er hatte ihr irgendein dramatisches Geschick zugedacht.«

Der Plan jedes schöpferischen Werks ist selbstverständlich während seiner Ausführung Veränderungen von des Künstlers Hand ausgesetzt; und nicht nur der Charakter der älteren Kirstie, nein auch noch andere Elemente der Erzählung mögen sehr wohl eine Abweichung von dem ursprünglichen Entwurf erfahren haben. Es scheint indes gewiß, daß die nächste Entwicklung der Beziehungen zwischen Archie und der jüngeren Kirstie dem oben Skizzierten entsprochen haben würde; diese unkonventionelle Auffassung von des Liebhabers Ritterlichkeit und unerschütterlicher Treue gegenüber der Geliebten auch nach deren Fehltritt ist für den Autor ungemein charakteristisch. Die Rache, die den Verführer neben des Betenden Webers Stein ereilen sollte, ist bereits in den ersten Worten der Einleitung angedeutet worden, während die Lage und das Schicksal des Richters, der sich, einem Brutus ähnlich, der Pflicht gegenübersieht, den eigenen Sohn an den Galgen zu schicken, offenbar den Höhepunkt und das tragische Moment des Romans bilden sollten.

Wie dieser letzte Umstand sich innerhalb des Rahmens juristischer Möglichkeiten hätte verwirklichen lassen, ist nur schwer zu erraten; er bildet jedoch einen der Punkte, denen der Autor die sorgfältigste Aufmerksamkeit widmete. Mrs. Strong sagt ganz einfach, der Lord Oberrichter verurteile, einem alten Römer gleich, seinen Sohn zum Tode; allein die erste juristische Autorität Schottlands versichert mir, daß keinem Richter, wenn auch noch so mächtig von Charakter und Amt, gestattet worden wäre, bei der Verhandlung gegen einen so nahen Verwandten den Vorsitz zu führen. Der Lord Oberrichter war das Haupt der Kriminaljustiz des Landes; er hätte vielleicht darauf bestehen können, während der Verhandlung gegen seinen Sohn auf dem Richterstuhl anwesend zu sein, aber niemals hätte man ihm erlaubt, den Vorsitz zu führen oder das Urteil zu sprechen. In einem Briefe Stevensons an Mr. Baxter vom Oktober 1892 findet sich auch eine Stelle, an der er in Ausdrücken, die darauf schließen lassen, daß er dies genau wußte, um Material bittet: »Ich brauche Pitcairns ›Kriminalprozesse‹ quam primum. Gleichfalls einen absolut einwandfreien Text des schottischen Richtereids. Ferner, falls Pitcairn nicht bis in die gewünschte Zeit reicht, einen möglichst vollständigen Bericht eines schottischen Mordprozesses zwischen 1790 und 1820. Verstehe mich recht: so vollständig wie nur möglich. Gibt es ein Buch, das mir den folgenden Tatsachen gegenüber als Anleitung dienen könnte? Der Lord Oberrichter muß auf seiner Rundreise bei den Assisen gewisse Personen eines Kapitalverbrechens wegen aburteilen. Auf bestimmte Beweise hin wird die Anklage auf des Lord Oberrichters eigenen Sohn gewälzt. Natürlich wird bei der nächsten Verhandlung der Lord Oberrichter ausgeschaltet und der Fall dem Vorsitzenden des schottischen Gerichtswesens überwiesen. Wo müßte alsdann die Verhandlung stattfinden? Ich fürchte, in Edinburg, und das würde mir nicht passen. Könnte es abermals in einer Kreisstadt sein?« Die aufgeworfene Frage wurde einem ehemaligen Gefährten Stevensons von der Edinburger Speculative Society, Mr. Graham Murray, jetzigem Generalanwalt für Schottland, vorgelegt, dessen Antwort dahin lautet, daß es keine Schwierigkeit bieten würde, die neue Verhandlung in eine Kreisstadt zu verlegen; sie müßte dort im Frühling oder im Herbst unter zwei Mitgliedern des obersten Kriminalgerichtshofes stattfinden; der Vorsitzende des schottischen Justizwesens würde nichts damit zu tun haben, da sein Amt zu der damaligen Zeit nur nominal gewesen und von einem Laien ausgefüllt worden sei (was heute nicht mehr der Fall ist). Daraufhin schrieb Stevenson: »Graham Murrays Notiz über das formelle Verfahren war äußerst befriedigend und hat mir über die Maßen gutgetan.« Die Formulierung seiner Nachfrage scheint darauf hinzuweisen, daß er beabsichtigte, den Verdacht, bevor er auf Archie fiel, erst auf andere Personen zu lenken; ferner, daß ihm daran gelegen war – zweifellos, um die Befreiung durch die Schwarzen Brüder möglich zu machen –, Archie nicht in Edinburg, sondern in einer Kreisstadt gefangen zu wissen. Allein die Bemerkung deutet nicht an, wie er die Hauptschwierigkeit, die er trotzdem vollauf erkannte, zu lösen gedachte. Beabsichtigte er vielleicht, Lord Hermistons Rolle auf den Vorsitz bei der ersten Verhandlung zu beschränken, wo die inkriminierenden Beweise gegen Archie unerwartet auftauchen sollten, und den Richtern lediglich die Anweisung geben zu lassen, daß die Justiz ihren Lauf nehmen solle?

Ob die endgültige Flucht und Vereinigung Archies und Christinas für den Gang der Handlung gleich unerläßlich gewesen wären, wird manchen Lesern vielleicht zweifelhaft erscheinen. Sie werden vermutlich empfinden, daß ein tragisches Geschick allen Beteiligten von Anfang an bestimmt war, ja daß es in den Bedingungen dieser Erzählung selbst verankert ist. Über diesen Punkt sowie über andere Fragen der allgemeinen Kritik finde ich eine interessante Diskussion seitens des Autors selbst in dessen Korrespondenz. In einem Brief vom 1. November 1892 an Mr. J. M. Barrie anläßlich einer Kritik seines berühmten Romans »The Little Minister« schreibt Stevenson:

»Ihre Schilderung der Beziehungen zu Lord Rintoul ist entsetzlich gewissenlos – ›The Little Minister‹ hätte ein schlechtes Ende nehmen müssen; wir alle wissen, daß er es in Wahrheit tat, und sind Ihnen unendlich dankbar für die Anmut und den Takt, mit dem Sie darüber lügen. Hätten Sie die Wahrheit gesagt, ich persönlich würde Ihnen verziehen haben. So wie Sie die Anfänge des Buches konzipiert und geschrieben haben, wäre die Wahrheit über das Ende, obwohl den Tatsachen absolut entsprechend, dennoch eine Lüge oder, was schlimmer ist, ein künstlerischer Mißklang gewesen. Will man, daß ein Buch unglücklich endet, so muß es von Anfang an unglücklich enden. Ihr Buch jedoch hat gleich zu Anfang schon ein glückliches Ende. Sie duldeten es, daß Sie sich selbst in Ihre Figuren verliebten, sie liebkosten und anlächelten. Sobald Sie das taten, war Ihre Ehre verpfändet –. Sie waren verpflichtet, sie auf Kosten der Lebenstreue zu retten. Das gerade ist der Flecken an ›Richard Feverel‹, zum Beispiel; das Buch ist auf ein glückliches Ende hin angelegt und hält dann den Leser durch ein unglückliches Ende zum Narren. In diesem Falle steckt sogar noch Schlimmeres dahinter, denn das unglückliche Ende folgt nicht logisch aus der ganzen Handlung – die Erzählung hatte in Wahrheit nach der großen Unterredung zwischen Richard und Lucy bereits ein glückliches Ende erreicht –, die blinde, unlogische Kugel, die alles zertrümmert, hat auf dem Schauplatz der Handlung nicht mehr zu suchen als eine Fliege, die summend durch ein offenes Fenster ins Zimmer fliegt. Es hätte so kommen können; es hätte aber auch nicht so kommen können; und wo keine Notwendigkeit vorliegt, haben wir auch kein Recht, unseren Lesern wehe zu tun. Ich erlebe gerade einen schweren Gewissenskonflikt anläßlich meines Braxfield-Romans. Braxfield – nur lautet sein Name Hermiston – besitzt einen Sohn, der zum Tode verurteilt ist; offenbar liegt in den gegebenen Tatsachen eine große Versuchung – und ich beabsichtigte auch, ihn henken zu lassen. Bei Betrachtung meiner Nebenfiguren jedoch erkannte ich, daß es fünf Personen gab, die dazu neigen – ja gewissermaßen sogar sich gezwungen fühlen würden –, in das Gefängnis einzubrechen und ihn zu retten. Es sind tüchtige, energische Leute obendrein, die sehr gut Erfolg haben könnten. Weshalb sollten sie’s also nicht? Weshalb sollte der junge Hermiston nicht außer Landes fliehen? Und, wenn möglich, glücklich werden mit seiner – jetzt aber halt! Ich will weder mein Geheimnis noch meine Heldin verraten …«

Gehen wir jedoch von der Frage, wie der Roman geendet haben würde, zu der Frage über, wie der Gedanke dazu in dem Autor Wurzel schlug und reifte. Der Charakter des Helden, Weir von Hermiston, fußt eingestandenermaßen auf der historischen Persönlichkeit Robert Macqueens, Lord Braxfields. Dieser berühmte Richter ist Generationen hindurch Gegenstand von hundert Edinburger Geschichten und Anekdoten gewesen. Wer Stevensons Essay über die Raeburn-Ausstellung in »Virginibus Puerisque« gelesen hat, wird sich erinnern, wie sehr ihn Raeburns Porträt Braxfields fesselte, so wie Lockhart sechzig Jahre zuvor durch ein anderes Portrait des nämlichen Ehrenmannes (s. Peter’s Letters to his Kinsfolk) fasziniert wurde; und das Interesse, das er an jener Persönlichkeit nahm, ließ auch in späteren Jahren nicht nach. Wiederum hatte der Fall des Richters, der durch die Gebote seines Amts in einen starken Konflikt zwischen seiner Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit und seinen privaten Interessen und Neigungen gerissen wird, von jeher Stevensons Phantasie gefesselt und angeregt. In den Tagen, als er und Mr. Henley noch zusammen Bühnenstücke verfaßten, schlug Mr. Henley einmal ein Stück vor, das sich auf die Geschichte des Richters Harbottle in Sheridan Le Fanus‘ »In a Glass Darkly« aufbaute, darin der böse Richter blindlings per fas et nefas das Ziel verfolgt, den Gatten seiner Mätresse an den Galgen zu bringen. Etwas später schrieb Stevenson zusammen mit seiner Frau ein Stück, genannt »Der Henker-Richter«. Hierin fühlt sich der Titelheld zum erstenmal in seinem Leben versucht, in den Gang der Justiz einzugreifen, um seine Frau vor den Verfolgungen eines früheren Gatten, der, totgeglaubt, unerwartet wiederauftaucht, zu schützen. Bulwers Roman »Paul Clifford«, mit der entscheidenden Situation, in welcher der weltlich gesinnte Richter, Sir William Brandon, über der Nachricht stirbt, daß der Straßenräuber, den er zu Tode verurteilt, sein eigener Sohn ist, war Stevenson ebenfalls bekannt und hat zweifellos dazu beigetragen, das vorliegende Buch zu beeinflussen.

Wiederum hatten die Schwierigkeiten, die häufig auch im wirklichen Leben aus den Beziehungen zwischen Vater und Sohn erwachsen, in seiner Jugend Stevensons Gewissen und Gemüt schwer bedrückt, als er, dem Gesetz seiner eigenen Natur folgend, seinem eigenen Vater, den er mit Recht aus tiefstem Herzen liebte und bewunderte, Enttäuschung und Kummer bereiten mußte und von ihm selbst eine Zeitlang mißverstanden wurde. Schwierigkeiten dieser Art hatte er bereits ein- oder zweimal in humoristischerem Tone behandelt – wie z. B. in der »Geschichte einer Lüge« und in »The Wrecker«, bevor er sich mit ihnen in dem akuten und tragischen Stadium wie in der vorliegenden Erzählung auseinandersetzte.

Diese drei Elemente: das Interesse an der historischen Persönlichkeit Lord Braxfields, die Probleme und Gefühle, die einem Richter aus einem heftigen Konflikt zwischen Pflicht und Natur erwachsen, und die Differenzen, die der Verschiedenheit der Veranlagung sowie Mißverständnissen zwischen Vater und Sohn entspringen, liegen unserem Roman zugrunde. Um geringe Faktoren nicht außer acht zu lassen, lohnt es sich, vielleicht noch auf eine Tatsache hinzuweisen, an die Mr. Henley mich erinnert hat, nämlich daß der Name Weir für Stevensons Phantasie einen ganz besonderen Klang besaß dank der berüchtigten historischen Edinburger Persönlichkeit von Major Weir, der samt seiner Schwester unter besonders grausigen Umständen als Zauberer verbrannt wurde. Ein anderer Name – der einer episodisch auftretenden Figur, des Geistlichen Mr. Torrance – ist, wie die ganze Gestalt überhaupt, samt ihrer Umgebung: Kirchhof, Kirche und Pfarrhaus, bis hinab zu den schwarzen Zwirnhandschuhen – direkt dem Leben entlehnt. Als Beweis diene folgende Stelle eines Briefes aus dem Anfang der siebziger Jahre: »Ich war in der Kirche und nicht einmal deprimiert – ein großer Schritt vorwärts. Es war jene wunderschöne Kirche zu Glencorse in den Pentlands« (drei Meilen abseits von seines Vaters Landhaus in Swanston). »Sie ist ein winziger, in Kreuzform ausgeführter Bau mit einem steilen Schieferdach. Der kleine Friedhof ist voll alter Grabsteine; darunter befindet sich einer eines Franzosen aus Dünkirchen, der wahrscheinlich als Gefangener des in der Nähe befindlichen Militärgefängnisses gestorben ist. Ein anderer ist wohl das rührendste Grabmonument, das ich je gesehen: eine alte Schulschiefertafel in einem hölzernen Rahmen mit einer Inschrift, offenbar von des Vaters eigener Hand. In der Kirche predigte der alte Mr. Torrance, ein Greis über achtzig, eine Reliquie vergangener Zeiten, mit schwarzen Zwirnhandschuhen und einem milden, alten Gesicht.« Ein Seitenlicht auf einen besonderen Charakterzug Mrs. Weirs werfen gewisse Familientraditionen des Autors, laut denen seine eigene Großmutter bei ihren Dienstboten mehr Wert auf Frömmigkeit als auf Tüchtigkeit gelegt haben soll. Die anderen weiblichen Charaktere sind meines Wissens nach rein aus der schöpferischen Phantasie geboren, insbesondere die neue und vorzüglich gelungene Verkörperung des ewig Weiblichen in der älteren Kirstie. Das wenige, das er selbst über sie sagt, steht in einem Brief, den er einige Tage vor seinem Tode an Mr. Gosse richtete. Er spricht bei dieser Gelegenheit von den Stimmungen und Standpunkten verschiedener Menschen gegenüber dem nahenden Alter, eine Anregung, die er durch Mr. Gosses Gedichtband »In Russet and Silver« erhielt. »Es ist doch recht komisch«, schreibt er, »daß jene Angelegenheit gerade in diesem Augenblick zur Sprache kommt, da ich selbst im Begriff bin, in einer meiner Erzählungen, ›Der Lord Oberrichter‹, einen ziemlich harten Fall von herannahendem Alter zu behandeln. Es ist der einer Frau, und ich glaube, ich werde ihr gerecht. Es wird Sie vermutlich interessieren, den Unterschied in der Art unserer Behandlung zu sehen. ›Secreta Vitae‹ (der Titel eines Gedichtes von Mr. Gosse) kommt dem Fall meiner armen Kirstie schon näher.« Aus der wunderbaren mitternächtlichen Szene zwischen ihr und Archie vermögen wir zu schließen, was uns in jenen späteren Szenen verlorengegangen ist, in denen sie ihm seine vermeintliche Schuld vorwerfen sollte – nur um seine Unschuld von den Lippen seines angeblichen Opfers zu erfahren – ihn ihrer Sippe gegenüber rechtfertigt und diese zu seiner Rettung anfeuert und begeistert. Die von Stevenson geplante Szene der Gefängniserstürmung hätte (wie die Leser ohne Zweifel selbst schon erkannt haben werden) durch den Vergleich mit zwei berühmten Präzedenzfällen: dem Porteous-Mob und der Erstürmung des Potanferry-Gefängnisses bei Scott, noch an Interesse gewonnen. Die beste Schilderung von Stevensons Schaffensmethoden findet sich in den folgenden Sätzen eines Briefes von ihm an Mr. W. Craibe Angus aus Glasgow: »Ich bin immer noch ein langsamer Arbeiter und brüte stets längere Zeit schweigend über meinen Eiern. Unbewußtes Denken, das ist die einzige Methode: erst zerfasere man gründlich seinen Stoff, dann lasse man ihn langsam kochen, und zuletzt nehme man den Deckel ab und werfe einen Blick hinein – da hat man sein Zeugs – gut oder schlecht.« Nachdem die einzelnen, oben geschilderten Elemente ihn lange Jahre hindurch beschäftigt hatten, trieb es ihn im Herbst 1892 dazu, »den Deckel abzunehmen« – dies geschah, soviel ich weiß, unter dem Zwange einer besonders mächtigen Gefühlswallung zu Gunsten der Romantik schottischer Szenerie und schottischer Charaktere, ein Gefühl, das stets in ihm lebendig war und das sein Aufenthalt in der Fremde noch verstärkte. Ich zitiere abermals aus seinem Brief an Mr. Barrie vom 1. November jenes Jahres: »Es ist doch eine seltsame Sache, daß ich hier in der Südsee unter so neuen und ungewöhnlichen Verhältnissen lebe und daß meine Phantasie trotzdem fortwährend in der kalten, alten Gruppe grauer, gedrängter Hügel weilt, aus der wir beide stammen. Ich habe ›David Balfour‹ beendet und bereits ein neues Buch auf dem Repertoire: ›Der junge Chevaliers das teils in Frankreich, teils in Schottland spielt und von Prinz Charlie um das Jahr 1749 handelt; und jetzt habe ich tatsächlich noch ein drittes angefangen, das von Anfang bis zu Ende nur Heide sein soll und dessen Mittelpunkt eine Gestalt bilden wird, die Sie, glaube ich, richtig würdigen werden: die des unsterblichen Braxfield. Braxfield selbst ist bei mir der führende Politikus oder – da Sie so stark an dem britischen Drama interessiert sind – mein Hauptcharakterdarsteller.«

In einem Brief an mich vom gleichen Tage übermittelt er die nämliche Nachricht in knapperer Form zusammen mit einer Liste der Charaktere und einem Hinweis auf Ort und Zeit der Handlung. An Mr. Baxter schreibt er einen Monat später: »Ich habe einen Roman auf dem Repertoire, welcher ›Der Lord Oberrichter‹ heißen soll. Er ist ziemlich schottisch; der Haupthandelnde hat Braxfield zum Vorbild (à propos, schick mir doch Cockburns ›Memorials‹), und einiges an der Geschichte ist – nun, sagen wir, sonderbar. Die Heldin wird von dem einen Manne verführt und verschwindet schließlich mit dem anderen, der jenen erschossen hat – Merk dir’s, ich will, daß ›Der Lord Oberrichter‹ mein Meisterwerk wird. Mein Braxfield ist bereits ›a thing of beauty and a joy for ever‹. Soweit er gediehen, ist er bei weitem meine beste Gestalt.« Aus diesem Auszug geht hervor, daß er zu jener Zeit bereits die ersten Kapitel des Buches entworfen hatte. Etwa um die gleiche Zeit verfaßte er auch die Widmung an seine Frau; sie fand den Zettel eines Morgens beim Erwachen an ihre Bettgardinen befestigt. Es war von jeher seine Gewohnheit, gleichzeitig an verschiedenen Büchern zu arbeiten, wobei er, ganz wie die Stimmung ihn trieb, sich bald dem einen, bald dem anderen zuwandte und so in der Abwechslung Erholung fand; und viele Monate lang nach diesem Brief behinderten erst Krankheit, dann eine Reise nach Auckland, dann die Arbeiten an »Ebb-tide« und an einem neuen Roman »St. Ives«, den er während eines Anfalls von Influenza begann, sowie die Vorbereitungen für ein Buch Familiengeschichte – den Fortschritt des »Hermiston«. Im August 1893 läßt er durchblicken, daß er den Anfang umgearbeitet hätte. Ein Jahr später sind immer noch lediglich die ersten vier oder fünf Kapitel in ihren Umrissen vorhanden. Dann, während der letzten Wochen seines Lebens, macht er sich in einem starken Anfall von poetischer Begeisterung noch einmal an jene Aufgabe, an der er mit voller Hingabe ohne Unterbrechung bis zu seinem Tode weiterarbeitet. Kein Wunder, daß er sich während dieser Wochen mitunter einer nur schwer zu ertragenden Anspannung all seiner Kräfte bewußt wurde. »Wie soll ich nur dieses Tempo aufrechterhalten?« soll er sich nach Beendigung eines der Kapitel geäußert haben, und alle Welt weiß ja, wie ihn sein zarter Organismus inmitten dieser Versuche im Stich ließ. Die Größe des Verlustes für die Literatur seines Landes läßt sich vollauf erst an den vorangegangenen Seiten ermessen.

Bleibt nur noch ein Hinweis auf die Reden und Manieren des »Henker-Richters« selbst. Daß diese in keiner Hinsicht übertrieben sind im Vergleich zu dem, was wir von seinem historischen Prototyp, Lord Braxfield, wissen, ist ganz gewiß. Der Locus classicus betreffs dieser Persönlichkeit findet sich in Lord Cockburns »Memorials of his Time«. »Kräftig von Statur und dunkel, mit struppigen Augenbrauen, gewaltig fesselnden Augen und drohenden Lippen, besaß er die tiefe, knurrende Stimme eines mächtigen Schmieds. Sein Akzent und seine Ausdrücke waren übertrieben schottisch; seine Sprache war wie sein Denken kurz, stark und entschieden. Ungebildet und ohne jeden Geschmack an verfeinerten Genüssen, schöpfte er aus seinem durchdringenden Verstand, der ihn in seiner Verachtung aller weniger groben Naturen noch bestärkte. Macht ohne jede Kultur. Es ist zu bezweifeln, ob er sich je so sehr in seinem Elemente fühlte, wie wenn er hohnvoll die letzten verzweifelten Verteidigungsversuche eines armen, elenden Verbrechers zu Boden schmetterte und den Betreffenden mit irgendeinem beleidigenden Witz nach Botany Bay oder an den Galgen schickte. Und doch geschah dies nicht aus Grausamkeit, für die er zu stark und zu jovial war, sondern aus seiner ausgesprochenen Vorliebe für alles Grobe.« Trotzdem werden diejenigen Leser, die mit schottischer Kulturgeschichte vertraut sind, ohne Zweifel erkannt haben, daß Braxfield in seinem Auftreten einen extremen Fall des achtzehnten Jahrhunderts darstellt, ebenso wie er durchaus dem achtzehnten Jahrhundert angehört (er starb 1799 im achtundsiebzigsten Lebensjahr); für die Zeit, in die der Roman verlegt ist (1814), streift ein derartiges Auftreten an einen Anachronismus. Während des Zeitalters der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege oder – um es anders auszudrücken – während der Generation, die in den Tagen lebte, da Walter Scott als Schüler der High-School und Student der Edinburger Universität in jener Gegend umherstreifte, bis zu der Zeit, da er auf dem Gipfelpunkt seines Ruhmes und seines Wohlstands sich in Abbotsford niederließ, war eine erhebliche Milderung der Sitten ganz Schottlands, insbesondere aber des Advokaten- und Richterstandes eingetreten. »Seit dem Tode des Lord Oberrichters Macqueen von Braxfield«, schreibt Lockhart etwa um 1817, »hat sich das ganze Auftreten der Richter von Grund auf geändert.« Eine ähnliche Kritik dürfte auf das Gemälde von dem Leben in den Grenzlanden zutreffen, wie es in dem Kapitel über die Vier Schwarzen Brüder von Cauldstaneslap entworfen ist: auch das erinnert eher an die Sitten und Gebräuche einer früheren Generation; ich wüßte auch keinen Grund anzuführen, weshalb Stevenson diesen besonderen Zeitpunkt, nämlich das Jahr vor Waterloo, für eine Geschichte wählte, von denen einige Züge zum mindesten besser in eine fünfundzwanzig bis dreißig Jahre frühere Epoche hineingepaßt hätten. Sollte der Leser außerdem noch zu erfahren wünschen, ob die Szenerie von Hermiston mit irgendeinem anderen, dem Verfasser aus seiner Jugendzeit bekannten Ort identisch sei, so muß ich ihm, glaube ich, verneinend antworten. Vielmehr ist sie zusammengetragen aus den verschiedensten Plätzen und Eindrücken der großen Moore Süd-Schottlands. In der Widmung sowie in einem Brief an mich bezeichnet Stevenson die Lammermuirs als den Schauplatz der Tragödie. Jedoch Mrs. Stevenson (seine Mutter) sagte mir, daß er ihrer Meinung nach von Erinnerungen an einen Besuch angeregt wurde, den er in seiner Kindheit einem Onkel auf dessen sehr entlegenem Gehöft in dem Distrikt Overshiels in der Gemeinde Stow abstattete. Allein wenn ihm ursprünglich auch die Lammermuirs vorgeschwebt haben mögen, sahen wir doch bereits, daß er seine Schilderung der Kirche und des Pfarrhauses einem anderen Ort seiner Knabenzeit, nämlich Glencorse in den Pentland-Hügeln, entlehnte, während Stellen im fünften und siebenten Kapitel ganz deutlich auf eine dritte Gegend, das Obere Tweed-Tal samt der von dort bis an den Ursprung des Clyde sich erstreckenden Landschaft, hinweisen. Diese Gegend hatte er außerdem als Knabe schon zur Ferienzeit auf Ritten und Ausflügen von Peebles aus kennengelernt: sie ist zweifellos auch der natürliche Schauplatz unserer Geschichte schon aus dem Grunde, daß dort, im Herzen der Grenzlande, vor allem im Teviot-Tale und in Ettrick, die wahre Heimat der Elliotts liegt. Einige der geographischen Namen sind ganz offenbar nicht als Fingerzeige gedacht. Der Spango, zum Beispiel, ist ein Flüßchen, das, soviel ich weiß, nicht in den Tweed, sondern in den Nith mündet, und Crossmichael ist der Name eines Städtchens in Galloway. Allein den Künstler geht immer nur das Wesentliche und Allgemeine an, und Fragen streng historischer Perspektive und lokaler Umgrenzung haben nichts mit der Wertung seiner Arbeit zu tun. Ebensowenig werden die Leser einen Kommentar zu wichtigeren Dingen von mir verlangen oder mir dessentwegen Dank wissen, einen Kommentar zu der ergreifenden und packenden reifen Kunst des Verfassers, die sich uns in den vorhergehenden Seiten enthüllt, zu den vielfältigen Charakteren und Gefühlen, die er mit sicherer Hand schildert, und zu seinem lebendigen, poetischen Scharfblick und Zauber der Darstellung. Wahrlich, kein Sohn Schottlands zollte je dem Land, das er liebte, vor seinem Tode, ja noch mit seinem letzten Atemzuge einen würdigeren Tribut.

s.c.

Wie Stevensons reifstes Werk entstand


Biographische Aufzeichnungen von Frau Francis Stevenson

Unser Haus in Vailima ist abwechselnd als ein Palast geschildert worden, in dem der Herr und Meister inmitten einer Schar unterwürfiger Sklaven thronte, und als ein enges, armseliges Hüttchen im Dschungel, darin Nahrungsmangel herrschte und Armut dem erschöpften Romanschreiber zur Seite saß und ihn unablässig zu neuen, fieberhaften Anstrengungen trieb. Beides ist unwahr. Das Haus in Vailima war ein schlichtes, weitläufiges, hölzernes Gebäude mit breiten Veranden und zahlreichen Türen und Fenstern. Unsere Hausgehilfen, die sich nicht als Dienstboten, sondern als zur Familie gehörend betrachteten, waren in der Hauptsache tüchtige Leute, so vor allem Talolo, der Koch. Wir besaßen eigene Möbel, unser eigenes Leinen, Geschirr und Silber, die wir aus der Heimat mitgebracht hatten, und lebten im großen und ganzen, mit Ausnahme einiger amerikanischer Neuerungen, so wie wir in England gelebt haben würden. Freilich jemandem, der soeben von einer Kreuzfahrt zwischen den Inseln an Land gegangen war, muß ein Abend in jenem Haus in Vailima, mit seinen gewachsten Fußböden und alten Teppichen, seiner Lichterflut, seinem funkelnden Kristall und Silber und den blumenbekränzten, geräuschlosen Boys als ein Blick in das Paradies erschienen sein. Dagegen würde ein Reisender aus den Kolonien oder San Francisco dies alles als selbstverständlich hingenommen haben; höchstens wären ihm die nackten Füße unseres Haushofmeisters unliebsam aufgefallen, oder er hätte sich geärgert, wenn er am Morgen an seinen klatschnassen Schuhen, die er zum Putzen vor die Tür gestellt hatte, erkennen mußte, daß man sie gründlichst von innen und außen mit dem Gartenschlauch gesäubert hatte.

Wir besaßen ein paar vorzügliche, aus Neuseeland eingeführte Pferde, zahlreiche gewöhnliche Inselponies, eine genügende Anzahl Kühe, um ständig mit Milch und Butter versorgt zu sein, und einen Überfluß an tropischen Früchten und Gemüsen. Der vierzehntägliche Dampferdienst brachte uns ferner Speiseeis, frische Austern und weitere Vorräte aus den Kolonien und San Francisco. In Apia waren ein guter Bäcker und ein guter Metzger ansässig; Fische konnte man am Strande kaufen, Aale und Süßwasser-Garneelen lebten im Überfluß in unseren Flüssen. Wildtauben konnten wir von unserer Hintertür aus schießen, und die Hühner und Eier aus unserer eigenen Zucht waren vortrefflich. Ohne großen Aufwand lebten wir daher recht behaglich.

Gesellschaftlich war Samoa durchaus nicht langweilig. Diplomaten und Beamte, häufig von ihren Familien begleitet, mieteten sich Häuser in der Nachbarschaft von Apia und gaben Gesellschaften, ganz wie in der Heimat. Ich habe es erlebt, daß eine Frage des Vortritts zwischen zwei Beamten gleicher Nationalität, die beide bei einer öffentlichen Versammlung den Ehrenplatz beanspruchten, ganz Apia bis in seine Grundfesten erschütterte. Gepfefferte Berichte wurden nach Hause gesandt, die verschiedenen Behörden als Schiedsrichter angerufen. Mit Recht hat man Apia als »den Kindergarten der Diplomatie« bezeichnet. Außer den Festen der Eingeborenen fanden Teegesellschaften, abendliche Empfänge, Diners, private und öffentliche Bälle, Schnitzeljagden, Polo- und Tennisturniere und Picknicks statt. Mein Mann nahm an all diesen Vergnügungen teil; ja das eine Mal war er zweiter Sieger bei einer Schnitzeljagd über sehr schwieriges Gelände. Da er als Kind ständig krank gewesen war, hatte er nie tanzen gelernt. Sich den öffentlichen Bällen in Apia, die fast von der ganzen Bevölkerung besucht wurden, fernhalten hieß jedoch sich in den Verdacht des Hochmuts bringen; andererseits war es langweilig, den ganzen Abend nur Zuschauer zu sein. So lernte mein Mann in seinem einundvierzigsten Lebensjahre noch tanzen, obwohl er sich meines Wissens nach in der Öffentlichkeit höchstens in einer einfachen Quadrille versucht hat.

Diese gesellschaftlichen Zerstreuungen griffen jedoch nicht wesentlich in meines Mannes literarische Arbeiten ein. Gewöhnlich fing er in den ersten kühlen Morgenstunden, wenn das ganze Haus noch ruhig war, an zu schreiben. Einer der einheimischen Boys war ständig zur Stelle, um die Arbeitszimmerklingel zu beantworten, und schon bei dem ersten Läuten beeilte er sich, Tusitalas Frühstück herzurichten und es ihm im Bett zu servieren. Danach vergingen zum mindesten zwei Stunden, bis der Haushalt auf den Beinen war. Die Vornotizen für »Hermiston« wurden auf kleine Stückchen Papier gekritzelt, um dann im Laufe des Tages meiner Tochter in die Feder diktiert zu werden. Diese Anmerkungen waren nur sehr kurz, denn mein Mann diktierte fast so rasch, als wenn er eine fertige Arbeit vorläse.

Das Arbeitszimmer war ein kleiner Raum neben der Bibliothek, in Wirklichkeit ein überdachter und auch seitlich geschützter Teil der Veranda. Zwei Fenster gingen vorn auf die See hinaus, das andere auf Mount Vaea, wo mein Mann jetzt begraben liegt. Bücherregale umschlossen den Raum an allen Seiten. Im übrigen bestand die Einrichtung aus einem großen Fichtenholztisch, einem Paar Stühle, einem verschlossenen Gewehrschrank mit sechs Coltschen Repetiergewehren, einem schmalen Bett, auf dem mein Mann bei der Arbeit ruhen konnte, und einem Krankentisch, den man nach Belieben über dem Bett aufzuschlagen vermochte.

Er arbeitete jedoch nicht ständig. Mitunter spielte er obwohl er nur eine mäßige Technik besaß – auf dem Flageolett, oder aber er versuchte sich in Kompositionen. Er war in der Musik nicht sehr bewandert, allein es amüsierte und interessierte ihn, kleine Übungen zu Papier zu bringen.

Wenn mein Mann es auch vorzog, seine vorbereitenden Arbeiten am Morgen auszuführen und nachmittags zu diktieren, kannte er doch keine festen Arbeitsstunden. Die Morgen, wie gesagt, waren manchmal auch dem Flageolett, dem Komponieren oder dem Schreiben von Versen geweiht, die der Verfasser indes nie sehr ernst nahm. Und mitunter geschah es auch, daß eine Gesellschaft blumenbekränzter Eingeborener über den Rasenplatz bis dicht vor die Arbeitszimmerfenster getanzt kam oder daß ein Trupp verlegener Matrosen von irgendeinem Kriegsschiff sich vor dem Haustor versammelte. In beiden Fällen pflegte Tusitala zur Begrüßung seiner Gäste auf der unteren Veranda zu erscheinen. Die Unterhaltung mit den Matrosen war ihm immer interessant, und den Samoanern gegenüber befolgte er stets deren Etikette, obwohl diese ihm mitunter recht lästig fiel. Die Matrosen wurden, wenn nötig, von den übrigen Mitgliedern der Familie empfangen und unterhalten, bis es meinem Manne gefiel, nach unten zu kommen. Aber eine samoanische »Melanga« (Besuchsgesellschaft) erwartete, den Häuptling von Vailima auf der Stelle erscheinen zu sehen, während neben ihm sein Dolmetscher die Begrüßungsrede hielt und seine Mägde mit der »Ava-Schüssel« als Erfrischung für die Gäste bereitstanden. Häufig wurde mein Mann bei derartigen Gelegenheiten mitten in einem Satz unterbrochen und der Faden des Gedankens nie zu Ende gesponnen. Und doch war ihm diese Art Verkehr mit den Eingeborenen besonders lieb. Jene wußten nichts von seinen Büchern; er war in ihren Augen keine literarische Berühmtheit. Sie kamen zu ihm wie zu einem älteren Bruder, um in allen Dingen, angefangen bei der Wahl einer Ehefrau bis hinab zu ihrer Kriegführung, seinen Rat einzuholen. Das Haus in Vailima war in ganz Samoa als »das Haus der Weisheit« bekannt. Nach dem Tode meines Mannes erhielt ich eines Tages Besuch von einem alten Häuptling. »Ich möchte meiner Liebe zu Tusitala ein Denkmal setzen«, sagte er. »Einmal sprach mir Tusitala von der Notwendigkeit, in hoher Lage ein bequemes Haus für Kranke, die der Luftveränderung bedürfen, zu errichten. Daher habe ich einen Weg durch die Wälder bis zu dem Gipfel eines Berges schlagen lassen und dort ein großes Haus erbaut zur Beherbergung aller, die es zu bewohnen wünschen. Dieses habe ich getan aus Liebe zu Tusitala.«

Hermiston wurde nicht fortlaufend, sondern abwechselnd mit »St. Ives« diktiert. Mein Mann pflegte an dem einen Buche zu arbeiten, bis es ihn ermüdete oder seine Stimmung umschlug; dann nahm er das andere vor. Noch kurz vor seinem Tode erzählte er mir, er beabsichtige sich sehr bald von beiden Büchern zu erholen und ein drittes, völlig anderes Werk in Angriff zu nehmen. Der neue Roman sollte »Sophia Scarlet« heißen, mit Frauen als Trägerinnen der Handlung. Die männliche Hauptfigur, ein Kranker, in den Sophia Scarlet sich verliebt, sollte in einem der ersten Kapitel sterben. »Es gab eine Zeit«, meinte er, »da ich es kaum wagte, eine Frauengestalt zu zeichnen; jetzt aber fürchte ich mich nicht mehr davor. Ich werde in den beiden Kirsties Gestalten aus »Die Herren von Hermiston«. ein wenig zeigen, was ich kann; aber in Sophia Scarlet wird sich das Interesse vornehmlich auf die Frauen konzentrieren.« Von dem Grundriß der Erzählung weiß ich nur so viel, daß der Schauplatz nach Tahiti verlegt war, wo Sophia Scarlet eine große Pflanzung, die sie selbst leitete, besitzen sollte.

Während mein Mann abwechselnd an Hermiston und St. Ives arbeitete, schleppte ein Schiff, das vorübergehend in Apia anlegte, eine Influenza-Epidemie dort ein. Die Seuche verbreitete sich rasch über die ganze Insel; kaum daß einer von den Eingeborenen ihr entging. Zu jener Zeit war es ungemein niederdrückend, durch ein samoanisches Dorf zu gehen. Die Seitenteile einer Hütte, gewöhnlich bis zu den Dachrinnen hochgeschlagen, waren fest heruntergezogen. Überall herrschte Totenstille bis auf ein gelegentliches Husten und Stöhnen hinter den Wänden aus Kokosnußblättern. In Vailima fiel jeder einzelne Samoaner dieser »fremden Krankheit« zum Opfer. Die Halle unseres Hauses wurde in einen Krankensaal mit einer doppelten Reihe von Betten verwandelt. Auch mein Mann steckte sich an und lag eine Zeitlang schwer darnieder. Aber selbst eine Influenza mit nachfolgendem Lungenbluten vermochte ihn nicht von der Arbeit, speziell von »St. Ives« abzuhalten. Seine Sekretärin lehrte ihn das Taubstummenalphabet, mit dessen Hilfe er langsam und mühselig etwa fünfzehn Seiten diktierte.

Eine bedeutsamere Unterbrechung brachte eine Reise nach Sydney. Mein Mann machte diese Fahrt zu seiner Erholung, ohne während seines Aufenthaltes in den Kolonien auch nur einen Strich zu arbeiten. Er hatte die Influenza vollständig überwunden, befand sich in bester Stimmung und genoß alles, was er unterwegs erlebte, selbst die Reden und Trinksprüche, die er in den Hotels halten mußte. Wir gaben Gesellschaften auf unseren Zimmern im Hotel, besuchten anderer Leute Gesellschaften, machten lange Spazierfahrten und durchstreiften zu Fuß den ganzen Stadtbezirk. Fremde, die meinem Mann in Sydney begegneten, vermochten kaum zu glauben, daß er eben erst von einem Krankenlager genesen sei. Einer Londoner Journalistin fiel es zu, alle Kräfte, die er während dieser Erholungszeit gesammelt hatte, wieder zunichte zu machen. Auf unserer Rückfahrt nach den Inseln legte sie ihm an einem zugigen Platz des Dampfers einen Hinterhalt, um ein Interview zu erlangen, und fesselte ihn durch einen Monolog so lange an Ort und Stelle, daß er sich von neuem schwer erkältete und bis zu unserer Ankunft in den Tropen an seine Kabine gefesselt war.

Nun folgte der aufreibendste Abschnitt in meines Mannes Leben. Bei unserer Ankunft in Samoa tobte dort ein Krieg, wie immer von den Weißen zu selbstsüchtigen Zwecken geschürt. Ich stehe davon ab, seine politische Seite zu berühren; wo meines Mannes Sympathien lagen, geht klar aus den Artikeln hervor, die er damals schrieb. Alles, was sich seither begeben hat, zeigt eindeutig die Weisheit der Maßregeln, für die er sich einsetzte.

Geraume Zeit zuvor hatte er verschiedene der führenden Häuptlinge überredet, Kakao zu pflanzen, und hatte ihnen auch den Samen für die Plantagen geschenkt. Jetzt schlug er einem von ihnen, Mataafa, vor, eine Fabrik zur Verwertung von Kokosfasern zu errichten. Er selbst beabsichtigte das Geld zur Beschaffung der Maschinen und des erforderlichen Materials zu stiften und hatte sich zu diesem Zweck bereits mit englischen Firmen in Verbindung gesetzt, als der Krieg ausbrach. Da das geplante Unternehmen viel Geld zu verschlingen versprach, arbeitete er angestrengt an den beiden angefangenen Romanen, von denen er erwartete, daß sie ihm die nötigen Summen einbringen würden. Nach der Deportation Mataafas hoffte er immer noch, die übrigen Häuptlinge zu der Einsicht bringen zu können, daß es unter den bestehenden Verhältnissen notwendiger denn je sei, ihr Land zu bebauen, statt ihre Kräfte in nutzlosen Kämpfen zu vergeuden. In seiner Ansprache an die Häuptlinge, die für ihn die »Straße des liebenden Herzens« bauten, sagte er: »Wer kämpft am besten für Samoa? … Der Mann, welcher Wege baut, Fruchtbäume pflanzt, Ernten einsammelt und als ein nützlicher Diener des Herrn sich des kostbaren Talentes bedient, das seiner Obhut anvertraut ist … denn alle Dinge in diesem Lande sind miteinander verknüpft wie die einzelnen Glieder einer Ankerkette; der Anker selbst jedoch ist der Fleiß.« An anderer Stelle spricht er von Mataafa: »Er hatte begriffen, was ich euch heute sage; kein Mensch erkannte das besser als er. Er sah den Tag voraus, da Samoa einen neuen Weg beschreiten würde und nicht nur mit Kanonen und pulvergeschwärzten Gesichtern, mit dem Gebrüll schreiender Krieger, nein, durch Graben und Pflanzen, Mähen und Säen verteidigt werden müßte. Als er noch unter uns weilte, widmete er sich dem Pflanzen des Kakaostrauches; er interessierte sich eifrig für Landwirtschaft und Handel. Ich wollte, jeder einzelne Häuptling dieser Inseln würde sich zur Arbeit anschicken, würde Wege bauen, seine Felder bestellen und Fruchtbäume pflanzen, würde seine Kinder erziehen und so sein Talent mehren – nicht um Tusitalas willen, sondern seinen Brüdern und Kindern, ja den langen Reihen ungeborener Geschlechter zuliebe.«

Das Gerücht, daß Tusitala die Absicht hätte, Mataafa auf irgendeine Weise zu helfen, wurde bald überall ausgestreut. Die einzige Erklärung, welche die weißen Ansiedler mit wenigen Ausnahmen finden konnten, war, daß wir Waffen und Munition für Mataafas Armee einschmuggeln wollten. Die Summe, die wir hierfür aufgewendet haben sollten, wuchs ins Ungeheuerliche. Eine Laterne für unsere Veranda, ein Geschenk meiner Schwiegermutter, sollte angeblich als Signallicht für ein geheimnisvolles Schiff dienen, das sich in der Nähe der Küste aufhielte. Einige von diesen Geschichten waren unglaublich töricht – zum Beispiel die über einen verborgenen Weg, den wir über die Berge nach Mataafas Dorf Malie erschlossen hätten; oder das Gerücht, daß dreitausend von Mataafas Kriegern in unseren Wäldern einquartiert lägen. Ich erinnere mich noch, wie wir lachen mußten, als ein hoher, europäischer Beamter, der auf unserer Veranda Tee trank, fast ohnmächtig geworden wäre, als er das Pu oder Kriegshorn blasen hörte, mit dem wir unsere Arbeiter zusammenzurufen pflegten; er glaubte fest an einen verräterischen Überfall. Der König, Laupepa, erwies sich als weit tapferer. Er blickte meinen Mann lediglich mit einem fragenden Lächeln an.

Mein Mann bemühte sich sowohl öffentlich wie im geheimen nach Kräften, eine Versöhnung zwischen Mataafa, den er sehr hoch schätzte, und dem liebenswürdigen, gebrochenen Laupepa, der zu einer Marionette in den Händen weniger Weißer geworden war, herbeizuführen. Diese Aussöhnung wurde von beiden Anführern ersehnt und hätte dem Lande den Frieden gebracht. Allein eine derartige Entwicklung würde verschiedenen, an dem Handel mit gewissen Gebrauchsgegenständen stark interessierten Persönlichkeiten finanzielle Verluste beigebracht haben, ganz zu schweigen von einer Reihe ehrgeiziger Beamter, die jede Gelegenheit begrüßten, sich der Öffentlichkeit ins Gedächtnis zu rufen. Beide Cliquen hielten meines Mannes Gegenwart auf der Insel für eine Gefährdung ihrer Pläne. Daher setzte von ihrer Seite eine förmliche Verfolgung ein. Verschiedene neu eingestellte Arbeiter in Vailima gestanden, daß man sie als Spione gegen Tusitala gedungen hätte. Man drohte ganz öffentlich mit einer Deportation. Viel später erzählte mir der Kapitän eines Passagierdampfers, man wäre an ihn herangetreten mit dem Vorschlag, meinen Mann an Bord seines Schiffes zu locken und ihn zu verschleppen. »Ich würde aber nicht den Mut dazu gehabt haben, selbst wenn ich es gewollt hätte«, sagte der Kapitän. »Wie hätte ich eine derartige Tat in irgendeinem Hafen der englischen Kolonien rechtfertigen sollen? Man hätte mich ja in Stücke gerissen, wenn es herausgekommen wäre.« Vergeblich versuchte man Laupepas Krieger zu einem Angriff gegen Vailima aufzuhetzen. Sobald eine Bande Mataafaner eine Niederlage erlitten hatte, hielt man meinem Mann höhnisch dieses Scheitern seiner Pläne vor. Allerlei versteckte Anspielungen und Verleumdungen gegen Tusitala erschienen in der einzigen Zeitung unserer Insel. Ja, einmal erließ Sir John Thurston, der Britische Kommissar der Fidschiinseln, ein gegen meinen Mann gerichtetes Edikt, das jedoch sofort auf telegraphischem Wege widerrufen wurde, sobald es Downing Street erreichte.

Eine Seite von meines Mannes Charakter ist fast gänzlich unbekannt; seine Neigung für den schriftstellerischen Beruf kam bei ihm erst an zweiter Stelle. Lediglich seiner schlechten Gesundheit als Kind ist es zuzuschreiben, daß er nicht die militärische Laufbahn wählte. Seine Bibliothek enthielt zahlreiche Werke über Taktik, Befestigungskunst usw., über die er ein gründliches Examen hätte ablegen können. Man kann sich daher vorstellen, wie aufreibend es für ihn war, Bücher schreibend auf seiner Veranda zu sitzen, während er wußte, daß draußen bei beiden Parteien die törichtsten Mißgriffe vorkamen und daß es eine Kleinigkeit sei, die Waagschale zugunsten der einen niedergehen zu lassen. Es gab Momente, in denen er stark versucht war, das zu tun, was man ihm vorwarf: nämlich sich auf Mataafas Seite zu schlagen. Allein immer wieder siegte seine Vernunft und sandte ihn an den Schreibtisch und an das Tintenfaß zurück. Eine der geringeren Schikanen, die er sich gefallen lassen mußte, war ein Verbot, Feuerwaffen zu kaufen. Der einzige Grund, weshalb er ein paar Gewehre zur Verfügung zu haben wünschte, war, daß wir rund dreieinhalb Meilen tief im Busch auf historischem Grund und Boden wohnten, an der Grenze der beiden feindlichen Gebiete. Jederzeit konnte es unmittelbar vor unserer Tür zu einem Zusammenstoß kommen. Wir hatten nur in einem einzigen Falle Grund zur Furcht: Auf Samoa wurden keine Gefangenen gemacht. Selbst ein verwundeter Gefangener wurde sofort geköpft und sein Haupt als Beweis der Tapferkeit dem Häuptling überbracht. Tusitala wußte, daß Verwundete von beiden Parteien sich zu ihm flüchten würden. Mit leeren Händen, ohne Waffen, konnte er sie nicht beschützen. Daher kam er um die Erlaubnis ein, sich ein paar Gewehre kommen zu lassen. Sein Gesuch wurde in der unverschämtesten Form abgelehnt. Kurz darauf erkannte mein Sohn die Möglichkeit, die Behörden zu zwingen, daß sie unseren Wünschen nachkämen; widerstrebend mußten sie selbst die sechs Gewehre einführen, die wir später im Arbeitszimmer aufbewahrten.

Der Wechsel der Regierungen war ungemein verwirrend. In dem einen Augenblick stand dieser Mann an der Spitze, im nächsten jener. Ich kann mich sogar noch erinnern, daß zwei Konsuln abwechselnd die Regierungsgeschäfte führten. Während dieser ganzen unruhigen Zeit erregte eine einzige Persönlichkeit unser aller Bewunderung – die des amerikanischen Oberrichters Henry C. Ide. Außer dem Oberrichter gab es noch ganz wenige Beamte, die in ihrer Anhänglichkeit und Freundschaft für meinen Mann niemals wankend wurden. Der eine war Basset Haggard, der britische Landeskommissar, ein Bruder des Romanschriftstellers, der zweite der amerikanische Generalkonsul James H. Mulligan, dessen persönlicher Charme und geistreiche, sympathische Plauderkunst manche sonst trübe Stunde in Vailima verschönten.

Meines Mannes Arbeit erlitt jetzt ständig Unterbrechungen. Während er die Veranda vor seinem Arbeitszimmer auf und ab wanderte und dabei Hermiston und St. Ives diktierte, kam wohl ein abgezehrter Häuptling angelaufen, um die Wahrheit über dieses oder jenes »Tala« (Gerücht) über den Krieg zu erfahren und von Tusitala »ein Wort der Weisheit« zu erbetteln. Oder aber einer der weißen Beamten sandte irgendeine beleidigende, mit Drohungen gespickte Botschaft. Vielleicht erschien auch ein Boy von der Mission mit Nachrichten von den Verwundeten im Krankenhaus, oder eine Gruppe Krieger, welche die unbequemsten Geschenke brachten – das eine Mal war es ein großer, weißer Stier –, sprach zu einer Schale »Ava« und einem Schwatz vor, um dann mit einem Abschiedssalut, der unser lebendes Inventar und uns selbst gefährdete, wieder zu verschwinden. Zum Teil wurden jene beiden Bücher zur Begleitung von Kanonenschüssen geschrieben. Wir konnten den Rauch sehen und den Donner der Geschütze jenseits der Berge hören, als die Kriegsschiffe Luatuanu’u bombardierten. Und bei jeder Detonation stieg aus den Reihen unseres Hausgesindes, von dem die meisten Angehörige oder Freunde an der Front besaßen, ein Wehklagen auf.

Das alles bedeutete eine starke Willensprobe für meine Tochter, Tusitalas Amanuensis, allein sie hielt tapfer bei ihrer Arbeit aus mit nur unwillkürlichen kleinen Pausen, wenn eines der großen Geschütze gelöst wurde. In jenem Jahr hatten wir, vermutlich als Folge der Beschießung, auch eine ungewöhnliche Zahl von Gewittern. Ganz plötzlich pflegten sie sich zusammenzuballen und sich mit furchtbarer Wut zu entladen. Ich glaube, wenn es etwas auf der Welt gab, wovor meine Tochter sich fürchtete, so war es ein Gewitter – trotzdem traten im Diktieren keine Stockungen ein. Mein Mann hatte die Absicht, seine Bewunderung ihres Mutes in einer Widmung zu St. Ives auszusprechen. Ich weiß noch, wie er zu ihr sagte: »Das soll das Beste vom ganzen Buch werden, mein Kind!«

Nach der Niederlage und Verbannung Mataafas, dessen Sache Tusitala bei der britischen Regierung vertrat, zog sich mein Mann völlig von der Politik in Samoa zurück. Mit dem Beistand Mr. H. J. Moores aus Apia tat er alles, was in seiner Macht lag, die elende Lage der politischen Gefangenen auf Mulinuu zu mildern, indem er sie mit Lebensmitteln und Medikamenten versah und ihnen zum Schlusse auch die Freiheit erwirkte. Die zahllosen Überanstrengungen des Körpers und der Seele, die er dadurch auf sich nehmen mußte, schienen auf seine Gesundheit nicht nachteilig zu wirken; sie festigte sich im Gegenteil mehr und mehr. Es kam häufig vor, daß er, dank der plötzlichen tropischen Regengüsse manchmal bis auf die Haut durchnäßt, ganze Tage im Sattel verbrachte, mit nur etwas Schiffszwieback in der Tasche. Erkältungen und Lungenbluten gehörten der Vergangenheit an. Niemand, der nicht Jahr um Jahr auf dem Krankenlager verbracht hat, vermag zu verstehen, was das für ihn bedeutete. Es war wie eine Art Wiedergeburt; ein neues Leben tat sich vor ihm auf. Die langen, trostlosen Jahre des Krankseins, die er mit so tapferer Geduld ertragen hatte, wurden ihm zu einer schrecklichen Erinnerung. Im Mai 1892 schrieb er an seinen Freund Mr. Sidney Colvin: »Ich habe einige zweiundvierzig Jahre ohne öffentliche Schande ausgeharrt und ein schönes Leben dabei gehabt. Wie herrlich, wenn es mir jetzt noch gelänge, eines gewaltsamen Todes zu sterben! Ich möchte in meinen Stiefeln sterben; kein Bettdeckenland mehr für mich! Zu ertrinken oder erschossen zu werden, vom Pferde zu stürzen – ja selbst gehenkt zu werden, alles ist besser, als noch einmal jenen langsamen Auflösungsprozeß durchmachen zu müssen.«

Erstes Kapitel


Frau von Vandeleurs Privatsekretär

Harry Hartley hatte bis zu seinem sechzehnten Lebensjahre die Ausbildung eines Gentlemans genossen. Da er aber eine ganz entschiedene Abneigung gegen das Studium bekundete und seine schwache Mutter ihm in allem seinen Willen ließ, so hinderte ihn, als er die berühmte Erziehungsanstalt zu Eaton verlassen hatte, nichts daran, seine Zeit einzig der Vervollkommnung in rein äußerlichen, zum feinen Ton gehörigen Künsten und Fertigkeiten zu widmen. Zwei Jahre später starb seine Mutter und ließ ihn fast als Bettler und einen zu jeder praktischen Tätigkeit ungeeigneten Menschen zurück.

Von der gütigen Mutter Natur mit dem denkbar bestechendsten Äußern ausgestattet, mußte er mit seinem blonden Haar und seinem zarten Teint, mit den Taubenaugen und dem gewinnenden Lächeln jedem gefallen, und dieser gewinnenden äußeren Erscheinung in Verbindung mit einem glücklichen Zufall hatte er es auch zu verdanken, daß er bald die Stellung als Privatsekretär bei dem Generalmajor Sir Thomas Vandeleur erhielt, einem polternden, eingebildeten und anmaßenden Manne von sechzig Jahren. Aus irgendeinem Grunde und für einen Dienst, über dessen Natur gewisse Gerüchte im Umlauf blieben, hatte der Rajah von Kaschgar diesem Offizier den sechstgrößten von den bekannten Diamanten der Welt zum Geschenk gemacht. Dadurch wurde General Vandeleur aus einem armen ein reicher Mann, aus einem unbekannten und unbeliebten Soldaten ein Löwe der Londoner Gesellschaft; denn der Besitzer des Diamanten des Rajahs war in den feinsten Kreisen willkommen. Auch zeigte sich eine junge, schöne und vornehme Dame geneigt, selbst um den Preis einer Heirat mit Sir Thomas Vandeleur in den Besitz des Diamanten zu gelangen. Man konnte damals öfters die Äußerung hören, gleich und gleich geselle sich gern, so habe ein Diamant den andern angezogen; jedenfalls war Frau Vandeleur nicht nur für ihre Person ein Edelstein vom reinsten Wasser, sondern sie zeigte sich der Welt auch in einer äußerst kostbaren Fassung und galt bei vielen Sachverständigen als eine der drei oder vier ersten Herrscherinnen im Reiche der Mode.

Harrys Pflichten als Sekretär waren nicht sonderlich drückend, aber er hatte eine Abneigung gegen fortgesetztes Arbeiten, es war ihm unangenehm, seine Finger mit Tinte zu beflecken, und die Reize der gnädigen Frau und ihrer Toiletten zogen ihn oft aus dem Arbeitszimmer in den Damensalon. Hier war er der liebenswürdigste Gesellschafter und unterhielt sich über Modesachen mit ebensoviel Eifer wie Verständnis, denn er fühlte sich am wohlsten, wenn er seine Ansicht über die passendste Bandfarbe zum besten geben oder einen Auftrag bei der Putzmacherin besorgen konnte. Kurz, Sir Thomas‘ Korrespondenz kam immer mehr in Rückstand, und die gnädige Frau verfügte über eine Kammerfrau mehr.

Schließlich sprang eines schönen Tages der General, der nichts weniger als übermäßig geduldig war, in einem Wutanfalle von seinem Sitze empor und eröffnete mit einer unzweideutigen Fußbewegung, wie sie unter Gentlemen selten vorkommt, seinem Sekretär, daß er seiner Dienste ferner nicht bedürfe. Da die Tür unglücklicherweise offenstand, so flog Herr Hartley kopfüber die Treppe hinunter.

Mit einigen Beulen am Kopf und mit schwerem Kummer im Herzen raffte er sich auf. Das Leben im Hause des Generals hatte ihm gerade gepaßt; er bewegte sich dort, wenn auch mehr oder minder auf zweifelhaftem Fuße, in der besten Gesellschaft, er arbeitete wenig, speiste aufs beste und erfreute sich einer lauwarmen Behandlung seitens der gnädigen Frau, der er in seinem Herzen einen weit anspruchsvolleren Namen beilegte.

Unmittelbar nach der unsanften Berührung mit dem Soldatenstiefel schlich Harry in den Damensalon und machte seinem bekümmerten Herzen Luft.

»Sie wissen ja, mein lieber Harry,« erwiderte Frau von Vandeleur, die ihn wie ein Kind oder einen Dienstboten bei seinem Vornamen nannte, »daß Sie niemals tun, was der General Sie tun heißt. Ich tue es ebensowenig, werden Sie vielleicht sagen. Aber das ist etwas anderes. Eine Frau kann ein ganzes Jahr voll Ungehorsam durch ein einziges Nachgeben zur rechten Zeit wieder gutmachen, und überdies ist niemand mit seinem Privatsekretär verheiratet. Mir wird es sehr leid sein, Sie zu verlieren; da Sie aber in einem Hause, wo man Sie so schmählich behandelt hat, nicht länger bleiben können, so wünsche ich Ihnen fernerhin alles Gute und verspreche Ihnen, daß der General für sein Betragen büßen soll.«

Harry konnte sich nicht länger halten, die Tränen schossen ihm in die Augen, und er blickte Frau von Vandeleur mit zartem Vorwurf an.

»Gnädige Frau,« sagte er, »was heißt schmähliche Behandlung? Es müßte nach meinem Dafürhalten ein kleinlicher Mensch sein, der sich über dergleichen nicht ohne weiteres hinwegsetzen könnte. Aber seine Freunde zu verlassen, die Bande der Zuneigung zu zerreißen –«

Er konnte vor Erregung nicht zu Ende sprechen und begann zu schluchzen.

Frau von Vandeleur blickte ihn mit sonderbarem Ausdruck an.

Dieser kleine Narr, dachte sie, will in mich verliebt sein. Warum sollte er übrigens nicht mein Bedienter werden so gut, wie er in Diensten des Generals stand? Er ist gutartig, angenehm und versteht sich auf Toilettenfragen. Er ist unbedingt zu hübsch, um ihm den Laufpaß zu geben.

Noch an demselben Abend sprach sie darüber mit dem General, der sich bereits ein wenig schämte, sich so weit haben fortreißen zu lassen. Harry wurde der weiblichen Dienerschaft zugeteilt und führte ein Leben fast wie im Himmel. Sein Anzug war ausnehmend zierlich, sein Knopfloch schmückten zarte Blumen, und er verstand es, den Besuch mit Takt und Anstand hübsch zu unterhalten. Er setzte seinen Stolz darein, einer schönen Frau zu dienen, nahm Frau von Vandeleurs Befehle wie ebenso viele Gunstbezeigungen entgegen und gefiel sich vor andern Männern, die nur Spott und Verachtung für ihn hatten, in der Rolle einer männlichen Kammerfrau und Putzmamsell. Auch erschien ihm seine Stellung vom moralischen Standpunkte aus im schönsten Lichte. Die Verderbtheit war in seinen Augen wesentlich eine Eigenschaft des männlichen Geschlechts, und sein Leben bei einer zarten Frau zu verbringen und sich vornehmlich mit Modefragen zu beschäftigen, bedeutete für ihn so viel als mitten in den Stürmen des Lebens auf einer Zauberinsel zu wohnen.

Eines Morgens kam er ins Empfangszimmer und ordnete die Noten auf dem Pianino. Am andern Ende des Zimmers befand sich Frau von Vandeleur in eifrigem Gespräch mit ihrem Bruder Karl Pendragon, einem älteren, durch Ausschweifungen stark mitgenommenen und mit einem Fuße lahmenden Manne. Der Privatsekretär, dessen Eintritt die beiden nicht beachteten, war notgedrungen Ohrenzeuge der letzten Worte ihrer Unterhaltung.

»Heute oder niemals,« sagte die Dame. »Ein für allemal, heute soll es geschehen.«

»Heute, wenn es sein muß,« erwiderte der Bruder seufzend. »Aber es ist ein falscher, ein verderbenbringender Schritt, Klara, und wir werden ihn noch schrecklich zu bereuen haben. Doch du warst immer klüger als ich, und meine Hilfe soll dir nicht fehlen. Übrigens hätte ich mich lieber nicht sollen sehen lassen,« fuhr er fort. »Meine Rolle ist mir völlig klar, und ich werde die zahme Katze im Auge behalten.«

»Tue es,« erwiderte sie. »Er ist ein widerwärtiger Mensch und könnte alles verderben.«

Sie warf ihm mit zierlicher Bewegung eine Kußhand zu, und der Bruder verließ das Haus durch den Damensalon und über die Hintertreppe.

»Harry,« sagte Frau von Vandeleur und wandte sich dem Sekretär zu, »ich habe heute morgen einen Auftrag für Sie. Sie sollen aber eine Droschke nehmen, ich kann nicht zulassen, daß mein Sekretär Sommersprossen bekommt.«

Die letzten Worte sprach sie mit Nachdruck und begleitete sie mit einem Blicke voll mütterlichen Stolzes, der dem armen Harry außerordentlich wohl tat, so daß er sich für glücklich erklärte, in ihrem Dienste tätig sein zu können.

»Der heutige Auftrag gehört auch zu unsern Geheimnissen,« fuhr sie fort, »und kein Mensch darf etwas davon wissen als mein Sekretär und ich. Der General würde greulich dazwischenfahren, und wenn Sie nur wüßten, wie entsetzlich mir diese Auftritte sind! O Harry, Harry, können Sie mir sagen, was euch Männer so heftig und ungerecht macht? Doch wie können Sie das! Weiß ich doch, daß Sie der einzige Mann auf der Welt sind, der von diesen schändlichen Leidenschaften frei ist! Sie sind so gut, Harry, und so lieb. Sie wenigstens können der Freund einer Frau sein, und wissen Sie? Mir scheint’s, die andern kommen mir bei dem Vergleich mit Ihnen nur noch um so häßlicher vor!«

»Sie, gnädige Frau, Sie sind so gütig zu mir,« sagte Harry ritterlich. »Sie handeln gegen mich wie –«

»Wie eine Mutter,« unterbrach ihn Frau von Vandeleur. »Ich will Ihnen eine Mutter sein. Oder wenigstens,« verbesserte sie sich lächelnd, »fast eine Mutter. Ich bin zu jung, um in Wahrheit Ihre Mutter zu sein. Lassen Sie mich sagen – eine Freundin, eine teure Freundin.«

Sie machte eine Pause, lang genug, um ihre Worte auf Harrys gefühlvolles Herz wirken zu lassen, aber nicht lang genug, als daß er hätte antworten können.

»Doch, um auf Ihren Auftrag zurückzukommen,« fing sie wieder an, »Sie finden links im eichenen Kleiderschranke eine Putzschachtel unter dem rosa Rock, den ich letzten Mittwoch mit meinem Spitzenüberwurf trug. Bringen Sie die Schachtel sofort an diese Adresse,« und sie gab ihm hierbei ein Stück Papier, »aber lassen Sie sie unter keinen Umständen aus den Händen, ehe Sie eine von meiner Hand geschriebene Quittung erhalten. Verstehen Sie mich? Antworten Sie, bitte, antworten Sie! Es ist außerordentlich wichtig, und ich muß Sie um rechte Aufmerksamkeit ersuchen.«

Harry beruhigte sie, indem er ihre Weisung ganz richtig wiederholte, und sie wollte noch etwas hinzufügen, als der General Vandeleur, hochrot vor Zorn und eine lange Putzmacherrechnung in der Hand haltend, hereinstürzte.

»Wollen Sie sich einmal dies ansehen?« schrie er. »Wollen Sie gefälligst diese Rechnung ansehen? Ich weiß recht gut, daß Sie mich nur um des Geldes willen geheiratet haben, und ich hoffe, ich kann Ihnen so viel bieten wie irgendeiner meiner Kameraden, aber, so wahr mich Gott gemacht hat, ich will dieser schändlichen Verschwendung ein Ziel setzen.«

»Herr Hartley,« sagte Frau von Vandeleur, »ich denke, Sie wissen, was Sie zu tun haben. Wollen Sie, bitte, sofort an die Ausführung gehen!«

»Halt,« sagte der General zu Harry, »ein Wort, ehe Sie gehen.« Und er fuhr, sich wieder an seine Frau wendend, fort: »Wohin soll dieser kostbare junge Mann? Ich traue ihm keinen Deut mehr als Ihnen, muß ich Ihnen sagen. Wenn er einen Funken Ehrgefühl besäße, würde er in diesem Hause keinen Augenblick mehr verweilen, und was er für seinen Lohn leistet, das ist für alle Welt ein Geheimnis. Wohin soll er, und warum senden Sie ihn so eilig fort?«

»Ich war der Meinung, Sie hätten mir etwas unter vier Augen zu sagen,« versetzte Frau von Vandeleur.

»Sie sprachen von einem Auftrag für ihn,« erwiderte der General hartnäckig. »Versuchen Sie bei meiner augenblicklichen Stimmung nicht, mich zu hintergehen. Sie sprachen jedenfalls von einem Auftrag, den er ausführen sollte.«

»Wenn Sie durchaus Ihre Dienerschaft zu Zeugen unserer beklagenswerten Zwistigkeiten machen wollen,« antwortete Frau von Vandeleur, »so würde ich in der Tat besser tun, Herrn Hartley zum Sitzen einzuladen. Nein?« fuhr sie fort; »nun, dann können Sie gehen, Herr Hartley, ich verlasse mich darauf, Sie denken an alles, was Sie hier gehört haben; es wird Ihr Schade nicht sein.«

Harry entfernte sich augenblicklich aus dem Empfangszimmer, und während er die Treppen hinaufging, konnte er hören, wie die Stimme des Generals sich in dröhnenden Deklamationen erging und die feinen Töne der gnädigen Frau jedem Angriff eine eisige Abwehr entgegensetzten. Wie bewundernswert erschien ihm diese Frau! Wie geschickt umging sie die Beantwortung der unangenehmen Frage! Mit welcher verblüffenden Kühnheit wiederholte sie direkt unter dem feindlichen Geschützfeuer ihren Auftrag! Und wie verabscheute er dagegen den Gatten!

Die Ereignisse des Morgens hatten für ihn nichts Neues gebracht, denn er hatte beständig geheime Aufträge der gnädigen Frau auszuführen, meist in bezug auf die Toilette. Wie ihm wohlbekannt war, ging ein drohendes Gespenst im Hause um. Die bodenlose Verschwendungssucht und die geheimen Schulden der Frau hatten schon längst ihr eigenes Vermögen aufgezehrt und drohten von Tag zu Tag mehr, das ihres Mannes zu verschlingen. Jedes Jahr trat einmal oder mehrmals der Zeitpunkt ein, wo Entdeckung und ein Zusammenbruch unvermeidlich schienen, und Harry mußte von einem Putzgeschäft zum andern laufen, alle möglichen Ausflüchte machen und kleine Abzahlungen leisten, bis die drohende Flut verebbt war und die Dame wie ihr getreuer Sekretär wieder aufatmen konnte. Denn Harry stand mit Herz und Seele in diesem Kampfe auf seiten seiner Herrin, da er nicht nur Frau von Vandeleur anbetete und ihren Gatten haßte, sondern auch seiner ganzen Anlage nach die Liebe zum Putz begünstigte.

Er fand die Putzschachtel am angegebenen Orte, machte sorgfältig Toilette und verließ das Haus. Die Sonne schien hell. Die Entfernung, die er zurückzulegen hatte, war beträchtlich, und ärgerlich dachte er daran, daß das plötzliche Erscheinen des Generals Frau von Vandeleur daran gehindert hatte, ihn mit dem nötigen Fahrgeld zu versehen. Es war sehr zu befürchten, daß sein Teint an einem so schwülen, sonnigen Tage schweren Schaden litt, und andrerseits erschien es ihm bei seiner Denkungsart fast als eine unerträgliche Herabwürdigung, mit einer Putzschachtel durch so viele Straßen Londons zu gehen. Er blieb stehen und ging bei sich zu Rate. Die Familie Vandeleur wohnte am Eaton-PIatz, sein Ziel war Notting-Hill; so konnte er seinen Weg durch den Park nehmen, hübsch im Freien bleiben und die belebten Straßen vermeiden; auch dankte er seinem Stern bei dem Gedanken, daß es noch ziemlich früh am Tage sei.

Von dem lebhaften Wunsche beseelt, sein Gepäck möglichst bald loszuwerden, ging er etwas schneller als gewöhnlich, und er hatte schon ein gut Stück des Kensington-Parkes hinter sich, als er sich plötzlich an einer einsamen, mit Bäumen bestandenen Stelle dem General gegenübersah.

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir Thomas,« flüsterte Harry, indem er höflich nach einer Seite ausbog, denn der andere versperrte ihm den geraden Weg.

»Wohin gehen Sie?« fragte der General.

»Ich gehe hier unter den Bäumen spazieren,« entgegnete der junge Mann.

Der General schlug mit seinem Stocke auf die Putzschachtel und schrie:

»Mit dem Ding da? Sie lügen, Sie wollen mich belügen!«

»Ich muß bemerken, Sir Thomas,« erwiderte Harry, »Fragen in solchem Ton bin ich nicht gewöhnt.«

»Sie verkennen Ihre Stellung,« schrie der General. »Sie sind mein Diener, und zwar ein Diener, den ich schwer im Verdacht habe. Es ist mir gar nicht unwahrscheinlich, daß Ihre Schachtel voll von silbernen Löffeln steckt.«

»Es ist ein seidener Hut von einem meiner Freunde darin,« sagte Harry.

»Gut,« versetzte General Vandeleur. »Dann möchte ich den seidenen Hut Ihres Freundes sehen. Ich interessiere mich,« setzte er mit grimmigem Lachen hinzu, »ganz besonders für Hüte, und Sie wissen, daß ich keinen Spaß verstehe.«

»Entschuldigen Sie, Sir Thomas, es ist mir außerordentlich leid,« wandte Harry ein, »aber es handelt sich hier um eine reine Privatsache.«

Der General packte ihn mit einer Hand kräftig an der Schulter, während er mit der andern seinen Spazierstock in der bedenklichsten Weise erhob. Harry gab sich schon verloren, aber im selben Augenblick sandte ihm der Himmel einen unerwarteten Verteidiger in der Person Karl Pendragons, der zwischen den Bäumen hervortrat.

»Halt, General!« rief dieser. »Wahren Sie Ihre Hand! Das ist eines Gentlemans und eines Soldaten unwürdig!«

»Aha!« schrie der General und drehte sich gegen seinen neuen Gegner herum, »Herr Pendragon! Und Sie meinen, Herr Pendragon, weil ich unglücklicherweise Ihre Schwester geheiratet habe, soll ich mich von einem Wüstling, der keinen Pfennig Kredit mehr hat, überwachen und mir meine Wege kreuzen lassen? Meine Bekanntschaft mit Ihrer Schwester hat mir jeden Wunsch genommen, noch weitere Mitglieder der Familie kennenzulernen.«

»Und bilden Sie sich ein, General,« gab Karl zurück, »weil meine Schwester das Unglück gehabt hat, Ihre Frau zu werden, sie habe damit ein für allemal alle ihre Rechte als Dame verloren? Ich räume ein, sie hat durch jenen Schritt allerdings das Menschenmögliche zur Verschlechterung ihrer Stellung getan, aber für mich ist sie auch jetzt noch eine Pendragon. Ich mache es mir zur Aufgabe, sie gegen unziemliche Übergriffe zu schützen, und wenn Sie zehnmal ihr Gatte wären, so würde ich nicht zulassen, daß man ihre Freiheit beschränkt und ihre Privatboten gewaltsam anhält.«

»Wie ist’s, Herr Hartley?« fragte der General. »Herr Pendragon ist meiner Meinung, er argwöhnt ebenfalls, daß meine Frau etwas mit dem seidenen Hut Ihres Freundes zu tun hat.«

Karl sah, daß er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte, den er schleunigst wieder gutzumachen versuchte.

»Wie?« schrie er, »Sie sagen, ich argwöhne? Ich argwöhne gar nichts. Nur wenn ich sehe, daß einer seine Kraft mißbraucht und den Schwächeren mißhandelt, bin ich so frei, dazwischenzutreten.«

Bei diesen Worten machte er Harry ein Zeichen, das dieser aber infolge seiner Aufregung oder seiner Dummheit nicht verstand.

»Was soll ich von Ihrer Einmengung halten?« brauste Vandeleur auf, erhob noch einmal seinen Stock und führte einen Hieb nach Karls Kopf. Karl aber, der mit seinem lahmen Fuße nicht so schnell ausweichen konnte, fing den Streich mit seinem Schirm auf, rannte dann gegen seinen gefährlichen Widersacher und umfaßte ihn.

»Lauf, Harry,« rief er; »lauf, du Dummkopf!«

Harry stand einen Augenblick versteinert, wie er die beiden in heißem Ringkampf einander umschlingen sah; dann wandte er sich und gab Fersengeld. Als er noch einmal den Kopf wandte, lag der General unter Karls Knie, machte aber noch verzweifelte Anstrengungen, das Kriegsglück zu wenden; auch schien sich der vorher einsame Teil des Parkes mit Leuten gefüllt zu haben, die von allen Seiten zu dem Schauplatz des Kampfes herbeieilten. Dieser Anblick lieh dem Sekretär Flügel, und er mäßigte erst seinen Schritt, als er die Bayswaterstraße erreicht hatte und aufs Geratewohl in eine einsame Nebengasse einbog.

Lange war er, in nicht gerade angenehme Gedanken über das eben Erlebte vertieft, durch verschiedene Straßen fortgegangen, als er plötzlich an einen Vorübergehenden anstieß und so an die Putzschachtel, die er unter dem Arme trug, erinnert wurde.

»Himmel!« rief er, »wo hatte ich nur meinen Kopf, und wohin bin ich gekommen?«

Er wandte sich an den ersten Schutzmann und fragte ihn höflich nach dem Weg. Es ergab sich, daß er seinem Ziele bereits sehr nahe war, und wenige Minuten brachten ihn zu einem frischgetünchten und von peinlichster Sauberkeit zeugenden Häuschen in einer kleinen Gasse. Klopfer und Klingelzug glänzten blitzblank, blühende Blumentöpfe zierten die Fenstersimse, und kostbare Vorhänge ließen die Augen Neugieriger nicht in das Innere dringen. Das Haus kam Harry so würdig und geheimnisvoll vor, daß er noch bescheidener, als es gewöhnlich seine Art war, anklopfte und seine Stiefel mit besonderer Sorgfalt abstrich.

Ein nicht übel aussehendes Dienstmädchen öffnete sofort die Tür und schaute den Sekretär mit nichts weniger als unfreundlichen Augen an.

»Dies ist das Paket von Frau von Vandeleur,« sagte Harry.

»Ich weiß schon,« erwiderte das Mädchen kopfnickend, »aber der Herr ist nicht da, wollen Sie es hier lassen?«

»Das geht nicht,« antwortete Harry. »Ich habe die Weisung, es nur unter einer ganz bestimmten Bedingung aus den Händen zu geben, und muß Sie bitten, fürchte ich, mich hier so lange warten zu lassen, bis der Herr kommt.«

»Gut,« sagte sie, »ich denke, ich darf Sie warten lassen. Ich lebe einsam genug, kann ich Ihnen sagen, und Sie sehen auch nicht aus, als würden Sie ein Mädchen aufessen. Aber seien Sie so gut und fragen Sie nicht nach dem Namen des Herrn, denn den darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Was Sie sagen!« rief Harry. »Wie sonderbar! Aber seit einiger Zeit bin ich von lauter Sonderbarkeiten umgeben. Eine Frage aber, denke ich, kann ich tun, ohne unbescheiden zu sein: Ist er der Besitzer des Hauses?«

»Er ist nur Mieter, und zwar ein noch keine acht Tage alter,« entgegnete das Mädchen. »Und nun eine Gegenfrage: Kennen Sie Frau von Vandeleur?«

»Ich bin ihr Privatsekretär,« versetzte Harry, in bescheidenem Stolze erglühend.

»Sie ist hübsch, nicht wahr?« fuhr das Mädchen fort.

»O, schön!« rief Harry; »wunderbar lieblich und auch ebenso gut und freundlich!«

»Sie selbst sehen recht freundlich aus,« gab sie zurück, »und ich wette, Sie wiegen ein ganzes Dutzend Frau von Vandeleurs auf.«

Harry war ganz empört.

»Ich,« rief er, »ich bin nur ihr Sekretär!«

»Sagen Sie das zu mir, weil ich nur ein Dienstmädchen bin?« fragte das Mädchen, fügte aber, als sich in seinem Gesicht einige Verlegenheit und Verwirrung ausdrückte, hinzu: »Ich weiß, Sie meinen es nicht so, und Sie gefallen mir auch recht gut; aber ich denke an Ihre Frau von Vandeleur. O, diese Damen!« rief sie. »Einen wahren Gentleman wie Sie mit einer Putzschachtel fortzuschicken – am hellen Tage!«

Während dieser Unterhaltung waren sie in ihren ursprünglichen Stellungen stehengeblieben, sie auf der Türschwelle und er auf dem Bürgersteig, wegen der Schwüle mit dem Hut in der Hand und die Putzschachtel unter dem Arme haltend. Aber bei den letzten Worten wurde Harry, den so unverhüllte Schmeicheleien über sein Äußeres und die gleichzeitigen aufmunternden Blicke in Verwirrung brachten, unruhig und schaute in seiner Verlegenheit nach rechts und links. Dabei nahmen seine Augen ihre Richtung auch nach dem unteren Ende der Gasse und trafen dort zu seinem unbeschreiblichen Entsetzen auf die des Generals Vandeleur. Dieser hatte, von Hitze, Wut und Rachsucht entstellt, auf der Jagd nach seinem Schwager die Straßen durchstreift. Sobald er aber den flüchtigen Sekretär bemerkte, nahm sein Zorn ein anderes Ziel, und er kam mit heftigen Handbewegungen und lauten Verwünschungen die Gasse heraufgerannt.

Harry setzte mit einem mächtigen Sprunge in das Haus hinein, das Mädchen vor sich her schiebend, und die Tür flog dicht vor dem Verfolger ins Schloß.

»Ist der Riegel vor? Wird er halten?« fragte Harry, während draußen der Klopfer gerührt wurde, daß es durch das ganze Gebäude schallte.

»Aber was fehlt Ihnen?« fragte das Mädchen. »Ist’s der alte Herr?«

»Wenn er mich kriegt,« flüsterte Harry, »bin ich so gut wie tot. Er ist heute schon den ganzen Tag hinter mir her, er hat einen Stockdegen und ist ein Offizier aus Indien.«

»Das sind nette Geschichten,« rief das Mädchen. »Und wie heißt er denn?«

»Es ist der General, mein Herr,« lautete die Erwiderung. »Er hat es auf die Putzschachtel abgesehen.«

»Hab‘ ich’s Ihnen nicht gesagt?« rief das Mädchen triumphierend. »Ich sagte Ihnen, daß ich von Ihrer Frau von Vandeleur gar nichts halte. Und wenn Sie Augen im Kopfe hätten, so könnten Sie auch sehen, was sie Ihnen gegenüber ist. Ein undankbares Frauenzimmer, weiter nichts; darauf will ich wetten.«

Der General erneuerte seinen Sturmangriff mit dem Klopfer, und da seine Aufregung mit der Verzögerung wuchs, so bearbeitete er bald die Tür auch mit Händen und Füßen.

»Es ist ein Glück,« bemerkte das Mädchen, »daß ich allein im Hause bin; Ihr General kann hämmern, bis er ’s satt ist, aufmachen wird ihm niemand! Kommen Sie!«

Damit führte sie ihn in die Küche, wo sie ihn zum Sitzen einlud und sich, indem sie ihm eine Hand auf die Schulter legte, in zärtlicher Haltung neben ihn stellte.

Das Getöse an der Tür wurde statt schwächer immer ärger, und jeder Schlag ließ den unglücklichen Sekretär bis ins Herz erbeben.

»Wie heißen Sie?« fragte das Mädchen.

»Harry Hartley,« erwiderte er.

»Und ich,« fuhr sie fort, »Prudence. Gefällt Ihnen der Name?«

»Sehr gut,« sagte Harry. »Aber hören Sie nur, wie der General gegen die Tür donnert. Er wird sie sicher einschlagen, und dann, in des Himmels Namen, ist mir der Tod gewiß.«

»Sie machen sich ganz unnötige Sorgen um nichts,« antwortete Prudence. »Lassen Sie Ihren General klopfen, er wird sich höchstens Blasen dabei holen. Glauben Sie, ich würde Sie hier behalten, wenn ich nicht sicher wäre, daß Ihnen nichts geschehen kann? O nein, ich erweise denen, die mir gefallen, eine aufrichtige Freundschaft, und wir haben auch eine Hintertür, die auf eine andere Gasse führt. Aber,« fügte sie hinzu, indem sie ihn zurückhielt, da er bei der willkommenen Nachricht sofort aufgesprungen war, »aber ich zeige Ihnen die Türe nicht, wenn Sie mir nicht einen Kuß geben.«

»O, das will ich,« rief er, sich auf seine Ritterlichkeit besinnend, »und nicht wegen der Hintertür, sondern weil Sie so hübsch und gut sind.«

Dabei verabreichte er ihr zwei oder drei feurige Küsse, die in gleicher Weise erwidert wurden.

Dann führte ihn Prudence zu der Hintertür und legte ihre Hand an den Schlüssel.

»Werden Sie wiederkommen und mich besuchen?« fragte sie.

»Freilich will ich,« sagte Harry. »Verdanke ich Ihnen nicht mein Leben?«

»Und nun,« fügte sie hinzu und öffnete die Tür, »laufen Sie, so schnell Sie können, denn ich werde den General hereinlassen.«

Harry bedurfte schwerlich dieses Rates, denn die Furcht saß ihm im Nacken, und mit allem Fleiße machte er sich auf die Flucht. Mit ein paar Schritten, dachte er, würde er ferneren Heimsuchungen entgehen und zu Frau von Vandeleur in Ehren wie in Sicherheit zurückkehren. Aber diese paar Schritte waren noch nicht getan, als er plötzlich eine laute Männerstimme unter Verwünschungen seinen Namen rufen hörte und, sich umblickend, Karl Pendagron bemerkte, der ihn mit beiden Händen zurückwinkte. Dieser plötzliche neue Zwischenfall fiel ihm so auf die Nerven, und er befand sich in einem Zustande so hochgradiger Aufregung, daß er gar nichts anderes zu tun wußte, als seinen eiligen Schritt nur noch zu verdoppeln. Er hätte sich doch an die Szene im Kensington-Parke erinnern und bedenken sollen, daß, wo der General sein Feind war, Karl Pendragon sein Freund sein mußte. Aber bei dem fieberhaften und verwirrten Zustande seines Geistes war er zu jeder vernünftigen Überlegung unfähig und rannte nur um so schneller die Gasse hinauf.

Offenbar war Karl nach dem Ton seiner Stimme und den Ausdrücken, die er hinter dem Sekretär herschleuderte, außer sich vor Wut. Auch er lief aus Leibeskräften, aber trotz allem Bemühen, die natürlichen Vorteile waren nicht auf seiner Seite, und seine Rufe wie das Aufschlagen seines lahmen Fußes auf die Steinfliesen verloren sich immer mehr in der Ferne.

Harrys Hoffnungen belebten sich aufs neue. Die Straße war steil und eng, aber sehr wenig belebt; auf beiden Seiten waren von Laubwerk überhangene Gartenmauern, und, soweit der Flüchtling ausschauen konnte, bemerkte er weder ein lebendes Geschöpf noch eine offene Tür. Die Vorsehung setzte offenbar den Verfolgungen ein Ziel und bot ihm nun ein offenes Feld zur Flucht.

Aber ach, als er sich einer Gartentür gegenüber befand, öffnete sich diese gerade von innen, und er sah drinnen auf einem Gartenweg die Gestalt eines Fleischerburschen, der eine Mulde unterm Arme trug. Kaum hatte ihn Harry wahrgenommen, so befand er sich schon ein paar Schritte weiter auf der andern Seite. Aber der Bursche hatte ihn doch bemerkt; er war natürlich sehr erstaunt, einen Gentleman sich mit so unziemlicher Eile bewegen zu sehen, so trat er in die Gasse und forderte Harry in spöttischen Worten zu größerer Eile auf.

Das Erscheinen dieses jungen Menschen brachte Karl Pendragon auf einen neuen Gedanken, und er schrie, obwohl ihm jetzt der Atem fast ganz ausgegangen war, mit abgebrochener Stimme:

»Haltet den Dieb!«

Sofort nahm der Fleischerbursche den Ruf auf und machte sich ebenfalls an die Verfolgung.

Das war ein bitterer Augenblick für den gehetzten Sekretär. Allerdings beflügelte die Angst seinen Fuß noch mehr und ließ den Zwischenraum zwischen ihm und den Verfolgern beständig wachsen. Aber er war sich nur zu wohl bewußt, bald am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein, und sollte ihm jemand entgegenkommen, so mußte seine Lage eine verzweifelte werden.

Ich muß ein Versteck finden, dachte er, und das in den nächsten Sekunden; sonst ist alles aus mit mir auf dieser Welt.

Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, so machte die Gasse plötzlich eine Wendung, und er war vor den Augen seiner Feinde verborgen. Es gibt Umstände, wo auch der Energieloseste sich mit Kraft und Entschiedenheit bewegen lernt, wo der Vorsichtigste sein Zaudern aufgibt und tollkühne Entschlüsse faßt. Für Harry war ein solcher Augenblick eingetreten, und die ihn am besten kannten, wären am meisten über die Kühnheit des jungen Mannes erstaunt gewesen. Er stand still, warf die Putzschachtel über die Gartenmauer, schwang sich mit unglaublicher Behendigkeit hinauf, faßte den Mauerkranz mit den Händen und purzelte kopfüber in den Garten.

Als er im nächsten Augenblick zu sich kam, lag er in niedrigem Rosengebüsch. Seine Hände waren zerschnitten und blutig, denn man hatte die Mauer gegen einen solchen Sturmangriff durch eine reiche Spende von Glasscherben zu schützen gesucht; er empfand allgemeinen Gliederschmerz, und der Kopf war ihm ganz benommen. Vor sich bemerkte er hinter einem ausnehmend wohlgepflegten und mit köstlich duftenden Blumen besetzten Garten die Hinterseite eines Hauses. Es war ziemlich groß und diente offenbar Wohnzwecken, sah aber in sonderbarem Gegensatz zum Garten baufällig, schlecht gehalten und schäbig aus. Sonst begrenzte nach allen Seiten die Gartenmauer den Blick.

Dies waren nur rein mechanische Wahrnehmungen, denn er vermochte noch nicht, seine Gedanken zu sammeln und aus dem Wahrgenommenen vernünftige Schlüsse zu ziehen, und als er auf dem Kieswege sich Schritte nähern hörte, wandte er zwar seine Augen nach jener Richtung, dachte aber weder an Verteidigung noch an Flucht.

Der Ankömmling war ein großer, plumper und sehr schmutzig aussehender Wann in Gärtnertracht und mit einer Gießkanne in der linken Hand. Ein Mensch mit klaren Sinnen würde beim Anblick dieses Riesen mit den düsteren, unheimlichen Augen Beunruhigung empfunden haben. Aber Harry war von seinem Falle zu sehr betäubt, um Entsetzen fühlen zu können. Wenn er auch seine Augen nicht von dem Gärtner abwandte, so verhielt er sich doch völlig willenlos, als jener näher kam, ihn an der Schulter packte und auf die Füße stellte.

Einen Augenblick starrten sie einander in die Augen, Harry wie gebannt und der Mann voll Wut und mit grausamem, spöttischem Humor.

»Wer sind Sie?« fragte er schließlich. »Wer sind Sie, daß Sie hier über meine Mauer geflogen kommen und mir meine Gloire de dijon zerbrechen? Wie heißen Sie?« fügte er, ihn schüttelnd, hinzu, »und was haben Sie hier zu suchen?«

Harry war außerstande, ein Wort der Erklärung vorzubringen.

Aber eben humpelte Pendragon mit dem Fleischerburschen vorbei, und der Klang ihrer Tritte und ihr heiserer Ruf hallten laut in der engen Gasse wider. Der Gärtner hatte seine Antwort erhalten und sah mit Hohnlachen auf Harry nieder.

»Ein Dieb!« sagte er. »Auf mein Wort, und das Geschäft muß blühen, denn Sie sind vom Scheitel bis zur Sohle wie ein Gentleman angetan. Schämen Sie sich nicht, so geputzt umherzustolzieren, während Ehrenmänner, wahrhaftig, froh sind, wenn sie Ihren abgelegten Hut beim Trödler lausen können? So sperr‘ doch den Mund auf, du Hund,« fuhr er fort. »Du verstehst mich doch, denk‘ ich, und ich will dich schon zum Reden bringen, eh‘ ich dich zur Polizei schaffe.«

»Glauben Sie, Herr,« sagte Harry, »das ist nur ein schreckliches Mißverständnis, und wenn Sie mit mir zu Sir Thomas Vandeleur am Eaton-Platz gehen wollen, wird sich alles, verspreche ich Ihnen, aufklären. Der ehrlichste Mensch kann, wie ich jetzt einsehe, in eine verdächtige Lage kommen.«

»Kleiner,« erwiderte der Gärtner, »ich gehe mit dir keinen Schritt weiter als bis zur Polizeistation in der nächsten Straße. Der Inspektor wird sich dann jedenfalls sofort die Ehre geben, mit dir einen Spaziergang zum Eaton-Platz zu machen und mit deiner vornehmen Bekanntschaft eine Tasse Tee zu schlürfen. Oder willst du nicht lieber gleich zum Minister des Innern? Sir Thomas Vandeleur, hat sich was! Denkst du etwa, ich kann mit meinen Augen nicht einen Gentleman von einem Landstreicher wie du unterscheiden? Feine Kleidung oder nicht, ich kann dich lesen wie ein Buch. Hier das Hemd kostet vielleicht so viel wie mein Sonntagshut, und dieser Rock ist, wett‘ ich, noch niemals beim Trödler gewesen, und dein Schuhwerk –«

Als der Mann hierbei seine Augen auf den Boden richtete, brach er plötzlich in seiner Schmährede ab und schaute einen Augenblick gespannt auf einen Gegenstand zu seinen Füßen. Dann sagte er mit sonderbar veränderter Stimme:

»Was, in Gottes Namen, ist denn das?«

Harry folgte der Richtung seiner Augen, und es bot sich ihm ein Schauspiel, das ihn vor Schrecken und Erstaunen starr machte. Bei seinem Sturz war er gerade auf die Putzschachtel zu liegen gekommen, diese war von einem Ende bis zum andern geplatzt, und aus ihrem Innern hatte sich ein ganzer Schatz von Diamanten ergossen und lag nun offen da, zum Teil halb in den Boden getreten, zum Teil in wahrhaft königlicher, gleißender Fülle auf die Erde umhergestreut. Er bemerkte ein prächtiges Diadem, das er oft an Frau von Vandeleur bewundert hatte. Ringe, Broschen, Ohrgehänge und Armbänder, sogar noch ungefaßte Brillanten, die hier und da gleich Tautropfen zwischen dem Rosengebüsch erglänzten. Ein fürstliches Vermögen lag zwischen den beiden Männern, ein Vermögen in der lockendsten, gediegensten und dauerhaftesten Form, das man in einer Schürze forttragen kann, schön und reizvoll an sich und den Sonnenschein in einer Million Regenbogenstrahlen zurückwerfend.

»Guter Gott!« stieß Harry hervor, »ich bin verloren!«

Mit unberechenbarer Schnelligkeit flogen seine Gedanken rückwärts, und es enthüllte sich ihm mit einem Schlage der innere Zusammenhang seiner Abenteuer während der letzten Stunden und der unselige Wirrwarr, in den er hineingerissen war. Er schaute sich wie hilfesuchend um, aber er war allein im Garten mit seinen ausgesäten Diamanten und seinem furchtbaren Gegenüber, und sein lauschendes Ohr vernahm keinen andern Ton als das Rauschen der Blätter und den beschleunigten Schlag seines eigenen Herzens. So war es kein Wunder, daß sich der junge Mann völlig rat- und mutlos fühlte und mit gebrochener Stimme seinen letzten Ausruf wiederholte:

»Ich bin verloren!«

Der Gärtner lugte scharf und scheu nach allen Richtungen, aber an keinem Fenster war ein Gesicht zu bemerken, und er schien aufzuatmen.

»Fass‘ dir ’n Herz, du Narr!« sagte er. »Das Schlimmste hast du hinter dir. Warum konntest du mir nicht gleich sagen, daß es für zwei genug war?« wiederholte er, »ja für zweihundert! Aber komm fort von hier, wo man uns beobachten könnte, und sei gescheit, streich dir den Hut glatt und mach‘ dir die Kleider rein. So lächerlich, wie du jetzt aussiehst, kannst du keine zwei Schritte weit gehen.«

Während Harry diesem Rate mechanisch Folge leistete, kniete der Gärtner nieder, raffte hastig die zerstreuten Juwelen zusammen und brachte sie wieder in die Schachtel. Bei der Berührung der kostbaren Steine ging ein Beben durch den muskulösen Körper des Mannes, sein Gesicht verzerrte sich, und aus seinen Augen schossen gierige Blicke; wollüstig schien er seine Arbeit in die Länge zu ziehen und betastete zärtlich jeden Diamanten, der ihm unter die Hände kam. Aber schließlich war er doch fertig damit; er versteckte die Schachtel unter seinem Kittel, forderte Harry auf, ihm zu folgen, und schritt ihm auf das Haus zu voran.

Unweit der Tür trafen sie einen offenbar dem geistlichen Stande angehörigen jungen Mann von dunklem Teint und auffallender Schönheit; in seinem Ausdruck lag ein Gemisch von Weichheit und Entschlossenheit, und sein Anzug zeigte die seinen Standesgenossen eigene Nettigkeit. Ohne Zweifel war dem Gärtner die Begegnung unangenehm, aber er machte möglichst gute Miene dazu und wandte sich lächelnd und mit freundlichen Worten an den Geistlichen.

»Das ist mal ein schöner Nachmittag, Herr Rolles,« sagte er, »ein schöner Nachmittag, so gewiß ihn Gott gemacht hat! Und hier ist ein junger Freund von mir, der gern meine Rosen sehen wollte. Ich war so frei, ihn hier hereinzubringen, denn ich dachte, es würde keiner von den Bewohnern was dagegen haben.«

»Ich für meine Person ganz und gar nicht, Herr Raeburn,« versetzte der Prediger. »Doch mir scheint es fast,« fügte er hinzu, »daß ich den Herrn schon früher gesehen habe. Herr Hartley, denke ich. Ich sehe mit Bedauern, daß Sie einen Fall getan haben.« Dabei reichte er seine Hand hin.

Ein unklares Gefühl mädchenhafter Scheu und der Wunsch, der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, bewogen Harry, von dieser Möglichkeit fremden Beistandes keinen Gebrauch zu machen und seine eigne Person zu verleugnen. Er wollte sich lieber der Gnade eines ihm Fremden als der Neugier und etwaigen Zweifeln eines Bekannten überlassen.

»Ich fürchte, da liegt ein Irrtum vor,« sagte er. »Mein Name ist Thomlinson, und ich bin ein Freund dieses Herrn.«

»Wirklich?« sagte Herr Rolles. »Die Ähnlichkeit ist erstaunlich.«

Herr Raeburn, der während dieser Unterhaltung wie auf Kohlen gestanden hatte, fühlte, daß es hohe Zeit sei, weiteren Auseinandersetzungen ein Ende zu machen.

»Ich wünsche Ihnen einen vergnüglichen Spaziergang,« sagte er zu Herrn Rolles.

Und damit zog er Harry mit sich in das Haus und in ein nach dem Garten führendes Zimmer. Seine erste Sorge war, sofort die Fensterläden zu schließen, denn Herr Rolles stand immer noch mit erstauntem Gesicht und in Nachdenken versunken an derselben Stelle, wo sie ihn gelassen hatten. Dann leerte er die zerbrochene Schachtel auf den Tisch und stand nun, die Hände an den Schenkeln reibend und mit dem Ausdruck habsüchtiger Gier in den Augen, vor dem offen ausgebreiteten Schatze. Harry verursachte der Anblick des von gemeiner Leidenschaft beherrschten Gesichtes eine neue Pein. Es schien ihm fast unglaublich, daß er mit einem Atemzug aus einem Dasein voll reiner und zarter Interessen in einen Knäuel schmutziger und verbrecherischer Beziehungen verwickelt sein sollte. Nichts Schlechtes hatte ihm sein Gewissen vorzuwerfen, und doch erlitt er die Strafe für schlechte Taten in ihrer schärfsten und grausamsten Form: die Angst vor Strafe, den Argwohn der Guten und die schimpfliche Gemeinschaft gemeiner und roher Naturen. Er fühlte, er hätte mit Freuden sein Leben opfern können, um aus dem Zimmer und der Gesellschaft Raeburns zu entkommen.

»Und nun,« sagte der letztere, nachdem er die Kleinode in zwei nahezu gleiche Teile geteilt und den einen näher an sich herangezogen hatte, »alles auf der Welt hat seinen Preis und manches einen recht schönen. Sie müssen wissen, Herr Hartley, wenn das Ihr Name ist, daß ich ein sehr schwacher und willfähriger Mensch bin; Gutmütigkeit ist von A bis Z meine schwache Seite gewesen. Ich könnte diese kleinen Steine allesamt einsacken, wenn ich wollte, und ich muß wohl an Ihnen einen Narren gefressen haben, denn ich bring’s nicht fertig, Sie so über den Löffel zu barbieren. So, sehen Sie, mache ich aus bloßer Gutherzigkeit den Vorschlag zu teilen, und das,« hierbei zeigte er auf die beiden Haufen, »scheint mir eine billige Teilung zu sein. Haben Sie was dagegen, Herr Hartley, wenn ich fragen darf? Ich bin nicht der Mann, dem’s auf eine Brosche mehr oder weniger ankommt.«

»Aber,« rief Harry, »was Sie mir vorschlagen, ist ganz unmöglich. Die Edelsteine sind nicht mein, und ich kann mit niemand auf der Welt und in keinem Verhältnis teilen, was einem andern gehört.«

»Sie gehören Ihnen nicht, was?« entgegnete Raeburn. »Und Sie können sie mit niemand teilen, wie? Gut, das kann mir nur leid sein, denn dann muß ich Sie zur Polizei führen. Zur Polizei – denken Sie,« fuhr er fort, »denken Sie an die Schande für Ihre alten Eltern, denken Sie,« fügte er hinzu und faßte Harry an der Hand, »an die Kolonien und den Tag des Gerichts!«

»Ich kann’s nicht ändern,« jammerte Harry. »Es ist nicht meine Schuld. Sie wollen nicht mit mir zum Eaton-Platz kommen.«

»Nein,« erwiderte der Mann, »ich will nicht, das ist gewiß. Und meine Meinung geht dahin, mit Ihnen diesen Tand hier zu teilen.«

Bei diesen Worten drehte er plötzlich das Gelenk des jungen Mannes kräftig herum.

Harry konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, und der Angstschweiß brach ihm aus allen Poren des Gesichts. Vielleicht schärften Schmerz und Schreck seine Verstandeskräfte, jedenfalls erschien ihm die Sachlage auf einmal in einem andern Lichte; er sah, daß nichts weiter übrigblieb, als auf den Vorschlag des Schurken einzugehen und darauf zu rechnen, er werde unter günstigeren Verhältnissen, und nachdem er sich selbst von jedem Verdacht gereinigt hätte, das Haus wieder auffinden und die Herausgabe der entwendeten Juwelen erzwingen können.

»Ich bin’s zufrieden,« sagte er.

»Ein Lämmchen seh‘ ich hier,« höhnte der Gärtner. »Doch dacht‘ ich wohl, Sie würden schließlich Ihr wahres Interesse erkennen. Die Putzschachtel,« fuhr er fort, »werde ich mit meinem Kehricht verbrennen; neugierige Leute könnten sie mal wieder erkennen. Und nun nehmen Sie Ihre Geschmeide zusammen und stecken sie in Ihre Tasche!«

Harry befolgte die Weisung, während Raeburn ihn beobachtete und, wenn seine Gier sich am glänzenden Gefunkel eines Edelsteins besonders entzündete, ein Juwel nach dem andern vom Teil des andern wegnahm und seinem zufügte.

Als dieses Geschäft beendet war, gingen beide zur vordern Haustür, die Raeburn vorsichtig öffnete, um auf die Straße hinauszuspähen. Offenbar ließ sich kein Mensch auf der Straße sehen, denn plötzlich packte Raeburn seinen Gast am Nacken, drückte ihn zur Erde, so daß er nur die Straße und die Türstufen vor den Häusern sehen konnte, und stieß ihn mit Gewalt anderthalb Minuten vor sich her, die eine Straße hinunter und die andere hinauf. Harry hatte drei Ecken gezählt, bis der Strolch seine Hand los ließ und mit dem Ruf: »Nun fort mit dir!« den jungen Mann durch einen wohlgezielten kunstgerechten Fußtritt ein gutes Stück geradeaus fliegen ließ.

Als sich Harry, halbbetäubt und stark aus der Nase blutend, wieder aufraffte, war von Raeburn nichts mehr zu sehen. Im ersten Augenblick war der Sekretär so von Zorn und Schmerz überwältigt, daß ihm ein Tränenstrom aus den Augen schoß und er schluchzend mitten auf der Straße stehenblieb.

Nachdem sich seine Aufregung etwas gelegt hatte, fing er an, sich umzuschauen und die Namen der Straßen zu lesen, an deren Kreuzung er vom Gärtner so schändlich verlassen worden war. Er befand sich noch in einer einsamen Gegend des westlichen London mitten unter Landhäusern und großen Gärten. Er bemerkte aber an einem Fenster ein paar Personen, die offenbar Zeugen seines Mißgeschicks gewesen waren, und im nächsten Augenblick kam auch ein Mädchen aus dem Hause gelaufen und bot ihm ein Glas Wasser. Zugleich näherte sich ihm von der andern Seite ein schäbiger Strolch, der in der Nähe herumgelungert hatte.

»Armer Mensch,« sagte das Mädchen, »wie schändlich hat man Sie behandelt. Ihre Knie sind zerschunden und Ihre Kleider zerfetzt! Kennen Sie den Unhold, der Sie so mißhandelt hat?«

»Ja,« rief Harry, den das Wasser etwas aufgefrischt hatte; »ich will ihn schon trotz seiner Vorsichtsmaßregeln ausfindig machen und werde es ihm heimzahlen, darauf können Sie sich verlassen.«

»Kommen Sie lieber ins Haus und lassen sich waschen und abbürsten,« fuhr das Mädchen fort. »Meine Herrin nimmt Sie wohl auf, dessen können Sie sicher sein. Und hier haben Sie Ihren Hut. Aber um des Himmels willen,« schrie sie auf, »Sie haben ja Diamanten über die ganze Straße gestreut.«

Das war in der Tat der Fall; die gute Hälfte von dem, was ihm nach der Teilung mit Herrn Raeburn übriggeblieben, war bei seinem Sturz aus den Taschen gefallen und lag wieder glitzernd auf der Erde. Er segnete sein Geschick, da das Mädchen so schnell den Verlust bemerkt hatte, und freute sich dieses Glücks im Unglück. Aber ach! Als er sich bückte, seine Schätze aufzuheben, machte der Strolch einen plötzlichen Angriff, warf Harry und das Mädchen über den Haufen, raffte schnell zwei Handvoll Diamanten auf und rannte mit unglaublicher Behendigkeit die Straße hinunter.

Sobald Harry wieder auf den Füßen stand, jagte er, laut rufend, hinter dem Missetäter drein, aber dieser war schneller und hatte außerdem den Vorteil der größeren Vertrautheit mit der Gegend, so daß der Verfolger bald jede Spur des Flüchtigen verloren hatte.

In tiefster Verzweiflung kehrte Harry auf den Schauplatz seines letzten Unglücks zurück, wo das Mädchen noch immer seiner harrte und ihm seinen Hut und den Rest der Edelsteine wieder zustellte. Harry dankte ihr herzlich, und da ihm jetzt jeder Sinn für das Sparen fehlte, ging er zum nächsten Droschkenstand und ließ sich unmittelbar nach dem Eaton-Platz fahren.

Bei seiner Ankunft schien im Hause einige Verwirrung zu herrschen, wie wenn sich eine Katastrophe in der Familie zugetragen hätte; die Dienerschaft steckte die Köpfe zusammen und gab sich wenig Mühe, beim Anblick der zerlumpten Kleidung des Sekretärs ihre Heiterkeit zu unterdrücken. Er ließ die spöttischen Blicke und Bemerkungen mit möglichster Würde von sich abprallen und begab sich sofort in den Damensalon. Als er die Tür öffnete, bot sich ihm ein sonderbares, unheilverkündendes Schauspiel: Der General, seine Frau und – sollte man es glauben? – Karl Pendragon standen dicht beisammen und besprachen ernst und feierlich einen wichtigen Gegenstand. Harry erkannte sofort, daß sich für ihn wenig Gelegenheit zu Auseinandersetzungen bieten werde – offenbar hatte man dem General ein offenes Geständnis von dem beabsichtigten Anschlag auf seine Tasche und dem unglücklichen Ausgang des Unternehmens abgelegt, und sie hatten alle drei gemeinsame Sache gegen die gemeinsame Gefahr gemacht.«

»Dem Himmel sei Dank!« rief Frau von Vandeleur, »da ist er! Die Putzschachtel, Harry, die Putzschachtel!«

Aber Harry stand schweigend und mit niedergeschlagenen Augen vor ihnen.

»Sprechen Sie!« schrie sie. »Sprechen Sie! Wo ist die Putzschachtel?«

Und die Männer wiederholten mit drohenden Handbewegungen die gleiche Frage.

Harry zog eine Handvoll Edelsteine aus seiner Tasche; er war sehr bleich.

»Das ist alles, was übrig ist,« sagte er. »Ich rufe den Himmel zum Zeugen, daß es nicht meine Schuld ist; und wenn Sie Geduld haben wollen, so werden, wenn auch einige, fürchte ich, verloren bleiben, die andern sicher wiedergewonnen werden.«

»Ach!« rief Frau von Vandeleur, »alle unsere Diamanten sind hin, und meine Toilettenschulden belaufen sich auf neunzigtausend Pfund!«

»Gnädige Frau,« sagte der General, »Sie hätten mit Ihrem eignen Bettel den Rinnstein pflastern, Sie hätten fünfzigfach so hohe Schulden machen, Sie hätten mir das Diadem und den Ring meiner Mutter nehmen können, und ich hätte mich durch die uns fesselnden Bande doch vielleicht noch bewegen lassen, Ihnen schließlich zu verzeihen. Aber Sie haben den Diamanten des Rajahs genommen – das Auge des Lichts, wie ihn der Orient poetisch nennt –, den Stolz von Kaschgar! Sie haben mir den Diamanten des Rajahs genommen,« schrie er mit lauter Stimme und erhobenen Händen, »und alles, alles ist aus zwischen uns!«

»Glauben Sie mir, General Vandeleur,« erwiderte sie, »das sind wohl die angenehmsten Worte, die ich je aus Ihrem Munde vernommen habe, und sind wir auch ruiniert, so möchte ich mich doch fast des Wechsels freuen, der mich von Ihnen frei macht. Sie haben mir oft genug vorgehalten, ich hätte Sie nur um des Geldes willen geheiratet. Ich sage Ihnen aber, ich habe diesen Handel allezeit bitter bereut, und sollte die Heirat noch einmal stattfinden können, und Sie besäßen einen Diamanten, größer als Ihr Kopf, so würde ich selbst meiner Kammerfrau eine so widerwärtige und unheilvolle Verbindung widerraten. Was Sie betrifft, Herr Hartley,« fuhr sie, zu dem Sekretär gewendet, fort, »so haben Sie Ihre kostbaren Eigenschaften in diesem Hause zur Genüge dargetan. Wir haben uns nun völlig überzeugt, daß Ihnen Mannhaftigkeit, Verstand und Selbstachtung in gleicher Weise abgehen. Es bleibt für Sie, soviel ich sehe, nur eins übrig – schleunigst zu verschwinden, womöglich auf Nimmerwiedersehen. Was Ihren rückständigen Lohn anlangt, so können Sie die Zahl der Gläubiger meines verflossenen bankerotten Gemals um eins vermehren.«

Harry war kaum das Verständnis dieser beleidigenden Anrede aufgegangen, als der General aufs neue gegen ihn losdonnerte.

»Und inzwischen,« sagte dieser, »folgen Sie mir gefälligst zum nächsten Polizeiinspektor. Sie können einen geradsinnigen Soldaten betrügen, aber das Auge des Gesetzes wird in Ihr schändliches Lügengewebe eindringen. Wenn ich meine alten Tage durch Ihre geheimen, im Bunde mit meiner Frau betriebenen Machenschaften in Armut verbringen muß, so soll, denke ich, Ihre Mühe wenigstens nicht unvergolten bleiben, und der Himmel würde mir eine sehr annehmbare Genugtuung versagen, wenn Sie nicht von nun an bis ans Ende Ihrer Tage Werg zupfen müßten.«

Hierauf packte der General Harry am Arme, zerrte ihn die Treppe hinunter und schleppte ihn zur nächsten Polizeistation.

Zweites Kapitel


Die Geschichte des Gottesmannes

Der hochwürdige Herr Simon Rolles hatte sich in den theologischen Wissenschaften ausgezeichnet und im Studium der Gottesgelahrtheit ungewöhnliche Fortschritte gemacht. Seine Abhandlung »Über das Christentum und die sozialen Pflichten« verschaffte ihm eine gewisse Berühmtheit an der Universität Oxford, und man erzählte sich in geistlichen und gelehrten Kreisen, der junge Rolles sei mit einem umfangreichen Werk – man sprach von mehreren Bänden – über die Autorität der Kirchenväter beschäftigt. Doch verhalfen ihm diese Leistungen und ehrgeizigen Pläne keineswegs zu schnellerem Fortkommen, und er wartete immer noch auf seine erste Pfarrstelle, als ihn ein zufälliger Spaziergang im westlichen Teile Londons, der Anblick des stillen, schönen Gartens, der Wunsch nach ungestörter Muße und die Billigkeit der Wohnung bewogen, bei Herrn Raeburn, dem Gärtner in der Stockdove-Straße, Wohnung zu nehmen.

Jeden Nachmittag pflegte er, nachdem er sieben oder acht Stunden dem Studium des heiligen Ambrosius oder Chrysostomus gewidmet hatte, sich eine Weile, in Nachsinnen verloren, zwischen den Rosen zu ergehen. Und diese Minuten gehörten zu den fruchtbarsten seines Tagewerkes. Aber selbst eine wirkliche Freude an der Gedankenarbeit und das Interesse an schwierigen, ihrer Lösung harrenden Problemen vermögen nicht immer den Geist des Philosophen von den kleinlichen Dingen dieser Welt fernzuhalten. Als daher Herr Rolles General Vandeleurs Sekretär zerrissen und blutig in der Gesellschaft seines Hausherrn fand, als er beide die Farbe wechseln sah und sie seinen Fragen auszuweichen suchten, und vor allem, als Herr Hartley mit dreister Stirn seine eigene Person verleugnete, vergaß er sofort, von ganz gewöhnlicher Neugier geplagt, alle Heiligen und Kirchenväter.

Es ist kein Irrtum möglich, dachte er. Zweifellos ist das Herr Hartley. Wie kommt er in diesen sonderbaren Zustand? Warum nimmt er einen andern Namen an, und was kann er nur mit meinem Hauswirt, diesem verdächtigen Gesellen, zu tun haben?

Während dieser Erwägungen erregte noch ein weiterer auffallender Vorfall seine Aufmerksamkeit. Herr Raeburns Gesicht zeigte sich an einem Fenster dicht bei der Tür, und seine Augen begegneten denen des Theologen. Der Gärtner schien verlegen, ja beunruhigt, und gleich darauf wurden die Fensterläden heftig zugeschlagen.

Das kann ja alles ganz harmlos sein, überlegte Herr Rolles, es kann gar nichts zu bedeuten haben; aber ich gestehe offen, daß ich das nicht glaube. Verdächtig, heimlich, unwahr, voll Furcht vor Beobachtung – ich glaube meiner Seele, dachte er, das Paar plant irgend etwas Schändliches.

Der Geheimpolizist, der in uns allen lebt, erwachte in Herrn Rolles‘ Herzen und verlangte sein Recht; und mit lebhaftem, eiligem Schritt, der seinem gewöhnlichen Gange ganz unähnlich war, schritt er auf den Gartenwegen dahin. Als er zu dem Schauplatze von Harrys Kopfsprung kam, fiel sein Auge sogleich auf einen abgebrochenen Rosenzweig und tiefe Fußspuren auf der zertretenen Gartenerde. Beim Aufschauen bemerkte er Kratzer an der Mauer und einen Tuchfetzen an einem Glasscherben. Auf diese Weise war also Herrn Raeburns sonderbarer Freund eingedrungen! Diesen Weg wählte General Vandeleurs Sekretär zur Besichtigung eines Blumengartens. Der junge Geistliche pfiff leise vor sich hin, als er sich zur näheren Prüfung des Bodens bückte. Er konnte feststellen, wo Harry nach seinem Luftsprung aufs Feste kam, er erkannte Herrn Raeburns breiten Fuß, der tief in das Erdreich eingesunken war, als der Gärtner den Sekretär am Kragen in die Höhe zog, ja, bei genauerem Hinsehen glaubte er die Spuren tappender Finger zu erkennen, als wäre etwas ausgestreut und dann eifrig zusammengerafft worden.

Auf mein Wort, dachte er, das wird ungemein spannend.

Jetzt fiel ihm etwas ins Auge, das fast ganz in der Erde vergraben lag. In einem Nu hatte er ein feines, ledernes Futteral, das mit goldenem Verschluß versehen war, herausgegraben. Es war gewaltsam in die Erde getreten worden und so Herrn Raeburn bei seinem hastigen Suchen entgangen. Herr Rolles öffnete das Futteral und tat vor fast schreckhaftem Erstaunen einen langen Atemzug, denn vor ihm lag auf grünsamtener Unterlage ein Diamant von wunderbarer Größe und vom reinsten Wasser. Er war so groß wie ein Entenei, schön geformt und fleckenlos, und als die Sonne darauf schien, gab er einen Glanz von sich gleich elektrischem Feuer und schien mit tausendfachem Scheine in der Hand des jungen Mannes zu flammen.

Rolles verstand wenig von Edelsteinen, aber der Diamant des Rajahs war ein Wunder, das keiner Erklärung bedurfte; ein Dorfkind, das ihn gefunden hätte, würde schreiend zum nächsten Hause gelaufen sein, und ein Wilder sich vor einem so gewaltigen Fetisch anbetend niedergeworfen haben. Die Schönheit des Steines schmeichelte den Augen des jungen Geistlichen, und der Gedanke an seinen unberechenbaren Wert überwältigte seinen Verstand. Er wußte, daß, was er in der Hand hielt, weit wertvoller war als das Einkommen eines Erzbischofssitzes in vielen, vielen Jahren, daß man davon Dome bauen könnte, stattlicher als die von Ely oder Köln, daß der Besitzer für immer frei wäre vom schlimmsten Fluch und seinen eigenen Neigungen frank und frei folgen könnte. Und als er den Stein plötzlich umdrehte, sprühten ihm die Strahlen mit erneutem Glanze entgegen, und es war, als drängen sie ihm bis ins Herz.

Der Mensch entschließt sich zu entscheidenden Schritten oft im Augenblick und ohne vor seiner Vernunft Rechenschaft abzulegen. So war es auch jetzt bei Herrn Rolles. Eilig blickte er ringsum, bemerkte, wie Herr Raeburn vor ihm, nichts als den sonnenbeschienenen Blumengarten, die hohen Baumspitzen und das Haus mit den geschlossenen Fensterläden, und in einem Nu hatte er das Futteral zugemacht und in die Tasche gesteckt, worauf er mit der Hast des schlechten Gewissens in sein Studierzimmer eilte.

Der hochwürdige Simon Rolles hatte den Diamanten des Rajahs gestohlen!

Am frühen Nachmittage stellte sich die Polizei mit Harry Hartley ein. Der Gärtner, der vor Schreck außer sich war, gab seinen Hort ohne Widerstand preis, und die Edelsteine wurden in Gegenwart des Sekretärs als die vermißten festgestellt und verzeichnet. Was Herrn Rolles betrifft, so zeigte er sich höchst liebenswürdig, erzählte freimütig alles, was er wußte, und drückte sein Bedauern darüber aus, daß er den Beamten im übrigen nicht weiter behilflich sein könnte.

»Doch denke ich,« fügte er hinzu, »Sie haben Ihre Arbeit so ziemlich getan.«

»Keineswegs,« erwiderte der oberste Polizist und erzählte von der zweiten Beraubung, deren Opfer Harry geworden war. Hierauf beschrieb er dem jungen Geistlichen die besonders wertvollen Kleinode, die noch fehlten, vor allem den Diamanten des Rajahs.

»Der muß ja ein Vermögen wert sein,« bemerkte Herr Rolles.

»Zehn – zwanzig Vermögen,« rief der Beamte.

»Je größer sein Wert ist, desto schwieriger muß es sein, ihn zu verkaufen,« bemerkte Simon mit List. »So ein Ding hat seine eigene Physiognomie, die sich nicht verwischen läßt, und ich sollte meinen, es könnte einer ebenso leicht die Paulskirche verhandeln können.«

»O gewiß!« sagte der Beamte; »aber wenn der Dieb nur einigen Verstand besitzt, so wird er ihn in drei oder vier Stücke zerschneiden und immer noch genug zum reichen Mann haben.«

»Danke,« sagte der Geistliche. »Sie glauben nicht, wie interessant mir Ihre Mitteilungen sind.«

»Ja,« meinte der Polizist, »wir haben allerdings in unserem Berufe Gelegenheit, so manches Werkwürdige zu erfahren,« worauf er das Haus wieder verließ.

Herr Rolles begab sich in sein Zimmer, das ihm kleiner und öder als gewöhnlich vorkam. Auch die Vorarbeiten für sein großes Werk waren ihm niemals so wenig reizvoll erschienen, und er sah mit Verachtung auf seine Bücherschätze herab. Verschiedene Kirchenväter nahm er, Band für Band, herunter und sah sie schnell durch, aber sie enthielten offenbar nicht das, was er suchte.

Diese uralten Herren, dachte er, waren zweifellos große Kirchenlichter, aber vom Leben verstanden sie, wie mir scheint, blutwenig. Mit allen meinen Kenntnissen, die für einen Bischof vollauf genügend wären, weiß ich nicht einmal, wie ich den gestohlenen Diamanten verwerten soll. Ich bin froh, von einem gewöhnlichen Polizisten einen Fingerzeig zu erhalten, und mit allen meinen Folianten bin ich nicht einmal imstande, ihm Folge zu leisten. Das läßt mich von dem Wert der Universitätsbildung sehr gering denken.

Darauf stellte er die Bücher an ihren Platz, setzte seinen Hut auf und begab sich eilends in den Klub, dessen Mitglied er war. An dieser Stätte weltlicher Erholung hoffte er einen lebensklugen, vielerfahrenen Mann zu finden, der ihm einen guten Rat geben könnte. Im Lesezimmer traf er viele Landgeistliche und einen Dekan; drei Zeitungsschreiber und ein philosophischer Schriftsteller spielten Pool, und bei Tisch zeigten sich die gewöhnlichen nichtssagenden Gesichter der ihm bekannten Klubtreter. Keinem von allen diesen traute Herr Rolles eine größere Vertrautheit mit einem etwas bedenklichen Thema zu, als er sie selbst besaß, keinem die Fähigkeit, ihm in seiner augenblicklichen Not als Rater und Führer zu dienen. Schließlich traf er ganz oben im Rauchsaal einen stattlichen Herrn in auffallend einfacher Kleidung. Er rauchte eine Zigarre und las eine Wochenschrift; sein Gesicht legte offenbar Zeugnis ab von einem vorurteilslosen und sehr lebhaften Geiste; auch fand Herr Rolles in seinen Zügen etwas Vertrauenerweckendes und Hoheitsvolles. Je forschender sich der junge Mann in sein Gesicht vertiefte, um so mehr gewann er die Überzeugung, den Mann gefunden zu haben, der ihm den rechten Rat geben könnte.

»Mein Herr,« sagte er, »entschuldigen Sie meinen Freimut; aber nach Ihrem Aussehen glaube ich, daß Sie mehr als ein anderer ein Mann der Welt sind.«

»Auf diese Bezeichnung habe ich in der Tat gegründeten Anspruch,« erwiderte der Fremde, indem er die Zeitschrift mit einem halb erstaunten und halb spöttischen Blick aus der Hand legte.

»Ich bin,« fuhr der Theologe fort, »ein Klausner, ein Gelehrter, ein Kind der Tintenflaschen und Folianten. Ein Ereignis jüngster Zeit hat mir meine Torheit in weltlichen Dingen lebhaft vor Augen gestellt, und ich möchte Lebensweisheit gewinnen. Welchen Weg weisen Sie mir?«

»Sie bringen mich in Verlegenheit,« sagte der Fremde. »Doch können Sie vielleicht aus Gaboriau einen kleinen Begriff von Welt und Leben bekommen.«

Herr Rolles dankte dem Fremden und kaufte sich auf dem Heimwege ein Werk über Edelsteine und ein paar Romane von Gaboriau. Das Lesen dieser Romane brachte ihn wirklich auf einen nutzbaren Gedanken. Als er von einem Manne las, der alle möglichen Fertigkeiten selbst besaß und dadurch alle Schwierigkeiten überwand, rief er plötzlich aus: »Himmel, ist das nicht eine Lehre für mich? Muß ich nicht ebenfalls selbst Diamanten schneiden lernen?«

Es fiel ihm ein, daß er einen Goldschmied in Edinburg kenne, der ihn gerne in den nötigen Handgriffen unterweisen würde; in ein paar Monaten, vielleicht Jahren niedriger Arbeit hoffte er genug Handfertigkeit erworben zu haben, um den Diamanten zerteilen zu können, und genug Erfahrung, um ihn mit Vorteil an den Mann zu bringen. Darauf könnte er seine Forschungen in aller Muße als reicher, von allen beneideter und geachteter Gelehrter fortsetzen. Goldene Träume umgaukelten ihn, als er sich zum Schlummer niederlegte, und erfrischt und frohgemut erwachte er mit der Morgensonne.

Herrn Raeburns Haus sollte an diesem Tage polizeilich geschlossen werden, und das diente dem jungen Mann als Vorwand zur Abreise nach Edinburg. Munter packte er seinen Koffer, brachte ihn zum Bahnhof und begab sich dann zum Klub, um hier den Nachmittag zu verbringen und zu speisen.

»Wenn Sie heute hier essen wollen,« bemerkte ein Bekannter zu ihm, »können Sie zwei der bemerkenswertesten Männer Englands sehen, den Prinzen Florisel von Böhmen und den alten John Vandeleur.«

»Vom Prinzen habe ich gehört,« versetzte Herr Rolles, »und den General Vandeleur habe ich sogar in Gesellschaft kennengelernt.«

»Der General Vandeleur ist ein Esel,« entgegnete der andere. »Das hier ist sein Bruder John, ein Abenteurer sondergleichen, der beste Kenner von Edelsteinen und einer der scharfsinnigsten Diplomaten Europas. Haben Sie niemals von seinem Zweikampf mit dem Herzog von Orges, von seinen Taten und Grausamkeiten als Diktator von Paraguay, von seiner Geschicklichkeit beim Aufspüren der Juwelen des Barons Levi oder von seinen Diensten beim indischen Aufstand gehört – Dienste, die der Regierung zugute kamen, die aber die Regierung nicht zu vertreten wagte? Es ist schwer zu sagen, ob John Vandeleur mehr berühmt oder mehr berüchtigt ist, auf beides hat er überreichen Anspruch. Gehen Sie hinunter,« fuhr er fort, »setzen Sie sich an einen Tisch in ihrer Nähe und halten Sie Ihre Ohren offen! Sie werden manches Sonderbare hören, oder ich müßte mich sehr täuschen.«

»Aber woran soll ich sie erkennen?« fragte der Geistliche.

»Sie erkennen!« rief der Freund. »Nun, der Prinz ist der schönste Gentleman in Europa, der einzige Mensch, der wie ein König aussieht; und was John Vandeleur betrifft, so denken Sie sich einen siebzig Jahre zählenden Odysseus, mit einem Säbelschmiß quer übers Gesicht, und Sie haben Ihren Mann vor sich. Die sind leicht zu erkennen! Man könnte sie ohne Schwierigkeiten aus einer Jahrmarktsmenge herausfinden!«

Eiligst begab sich Rolles ins Speisezimmer. Es war, wie ihm sein Freund versichert hatte, man konnte das fragliche Paar unmöglich verkennen. Der alte John Vandeleur besaß einen auffallend kräftigen, offenbar äußerst gewandten Körper. Seine Züge waren kühn und adlerartig, sein Ausdruck anmaßend und habsüchtig, seine ganze Erscheinung verriet einen raschen, heftigen, durch keine Rücksicht gehemmten Mann der Tat, und sein üppiges weißes Haar und die Säbelfurche, die über seine Nase und Schläfe lief, gaben dem schon an und für sich auffallenden und herausfordernden Gesicht noch einen besonderen Anstrich von Wildheit.

In seinem Begleiter, dem böhmischen Prinzen, erkannte Rolles zu seiner Überraschung den Herrn, der ihm Gaboriaus Werke empfohlen hatte.

Die Unterhaltung war in der Tat für die Ohren des am nächsten Tische sich niederlassenden Gottesmannes neu. Der Exdiktator von Paraguay erzählte von seinen zahlreichen außerordentlichen Erlebnissen in verschiedenen Weltgegenden, und der Prinz gab einen Kommentar dazu, der für einen Mann von Geist noch fesselnder war als die Ereignisse selbst.

Schließlich kam die Rede auch auf die großen Diebstähle der jüngsten Zeit und auf den Diamanten des Rajahs.

»Dieser Diamant ruhte besser auf dem Grunde des Meeres,« bemerkte Prinz Florisel.

»Eure Hoheit können sich denken,« versetzte der Diktator, »daß ich als ein Vandeleur abweichender Meinung bin.«

»Ich sage dies in Hinsicht auf das allgemeine Wohl,« erklärte der Prinz. »So kostbare Edelsteine sollten nur in fürstlichen Sammlungen oder öffentlichen Schatzkammern zu finden sein. Sie im Besitze gewöhnlicher Sterblicher belassen heißt einen Preis auf die Tugend setzen; und wenn der Rajah von Kaschgar, der ein höchst erleuchteter Fürst sein soll, den Wunsch hatte, sich an den Europäern zu rächen, so hätte er schwerlich etwas Wirksameres tun können, als indem er diesen Apfel der Zwietracht unter uns warf. Der Ehrlichste widersteht einer solchen Versuchung nicht. Ich selbst, der sich vieler besonderen Vorrechte erfreut, Herr Vandeleur, könnte mich kaum, wenn ich den wunderbaren Stein in Händen hätte, von seinem berauschenden Einflusse frei halten. Und von Ihnen, einem Diamantenjäger aus Neigung und Beruf, glaube ich, gibt es überhaupt kein Verbrechen, vor dem Sie zurückschrecken würden – ich glaube, Sie haben keinen Freund auf der Welt, den Sie nicht darum verrieten, – ich weiß nicht, ob Sie Familie haben, aber wenn es der Fall ist, so erkläre ich, Sie würden Ihre Kinder opfern – und dies alles wofür? Nicht um reicher zu sein, nicht um ein bequemeres Leben oder größere Achtung zu gewinnen, sondern einzig zu dem Zwecke, diesen Diamanten ein oder zwei Jahre, bis zu Ihrem Tode, Ihr Eigentum zu nennen und hin und wieder Ihren Geldschrank zu öffnen und sich den Stein anzusehen, wie man ein Bild anschaut.«

»Es ist wahr,« gab Vandeleur zurück. »Gar vielem habe ich nachgejagt, von Männern und Frauen bis herab zu Moskitos; als Korallenfischer tauchte ich tief in das Meer; ich habe Walfischen wie Tigern nachgestellt, aber ein Diamant lohnt von allem am meisten die Mühe. Er ist schön und kostbar, er allein vergilt den Schweiß des Jägers in rechter Weise. Im Augenblick bin ich, wie sich Eure Hoheit denken können, auf der Fährte; ich habe eine sichere Hand und eine gewaltige Erfahrung; ich kenne jeden wertvollen Stein in der Sammlung meines Bruders, wie ein Hirt seine Schafe kennt, und ich möchte lieber den Tod erleiden, wenn ich sie nicht allesamt in meinen Besitz bringe.«

»Sir Thomas Vandeleur wird alle Ursache haben, Ihnen dafür dankbar zu sein,« sagte der Prinz.

»Dessen bin ich nicht so sicher,« gab der Diktator auflachend zurück. »Einer von den Vandeleurs wird Ursache dazu haben. Thomas oder Johannes – Peter oder Paul – wir sind alle Apostel.«

»Ihre Worte sind mir unverständlich,« sagte der Prinz, der seinen Abscheu nicht unterdrücken konnte.

Im selben Augenblick meldete der Kellner Herrn Vandeleur, daß seine Droschke vor der Türe seiner harre.

Herr Rolles schaute nach der Uhr und sah, daß auch er fort müsse. Dieser gleichzeitige Aufbruch war ihm unbehaglich, denn er hatte den lebhaften Wunsch, von dem Diamantenjäger nichts mehr zu sehen.

Da der junge Mann infolge angestrengter Studien etwas nervös war, pflegte er beim Reisen keine Kosten zu sparen; so hatte er auch diesmal ein Sofa in einem Schlafwagen für sich genommen.

»Sie können sich’s recht bequem machen,« bemerkte der Schaffner; »in Ihrem Abteil ist niemand weiter und am andern Ende nur ein alter Herr.«

Kurz vor Abgang des Zuges, als die Schaffner bereits die Fahrkarten vorzeigen ließen, bekam Herr Rolles seinen Mitreisenden zu Gesicht. Sicher gab es keinen Zweiten auf der Welt, den er nicht lieber gesehen hätte, denn es war – der alte Exdiktator, John Vandeleur.

Die Schlafwagen der Großen Nordbahn bestehen aus drei Abteilungen, beiderseits ist ein Raum für Fahrgäste und in der Mitte ein Wasch- und Toilettenraum. Rolltüren trennen die Seitenräume von der Toilette, da aber an den Türen keine Riegel und Schlösser angebracht sind, so stehen in Wahrheit jedem Fahrgast alle drei Räume zur Verfügung.

Als sich Herr Rolles seine Lage klargemacht hatte, erkannte er, daß er wehrlos sei. Wenn der Diktator ihm im Laufe der Nacht einen Besuch abstatten wollte, so konnte er sich dem nicht entziehen. Dieser Gedanke ängstigte ihn ungemein. Mit bangem Herzen erinnerte er sich an die prahlerischen Reden seines Mitreisenden und seine vor dem entrüsteten Prinzen dargelegten unmoralischen Ansichten. Es fiel ihm ein, daß es Leute geben sollte, die die sonderbare Fähigkeit besitzen, die Anwesenheit von Gold und kostbaren Metallen selbst durch Wände hindurch und auf beträchtliche Entfernungen zu merken. Konnte es sich nicht mit Diamanten ebenso verhalten? Wenn dem aber so war, bei wem konnte man den Besitz dieses unbegreiflichen Sinnes mit größerer Wahrscheinlichkeit vermuten als bei dem, der sich selbst mit seinem Beinamen »Diamantenjäger« brüstete? Es war ihm klar, daß er von einem solchen Manne alles zu fürchten habe, und sehnlichst sah er dem Tagesanbruch entgegen.

Inzwischen versäumte er keine Maßregel der Vorsicht, versteckte seinen Diamanten in der innersten Tasche einer Periode von Überziehern und empfahl sich fromm der himmlischen Vorsehung.

Wie gewöhnlich sauste der Zug mit gleichmäßiger Schnelligkeit dahin, und es war schon beinahe die Hälfte des Weges zurückgelegt, als der Schlummer in Herrn Rolles‘ unruhvolle Brust einzukehren Miene machte. Eine Zeitlang widerstand er ihm, aber der Schlaf gewann mehr und mehr Macht über ihn, und kurz vor York streckte sich der junge Mann auf das Kissen und ließ seine Lider sich senken; fast im selben Augenblick verließ ihn das Bewußtsein, nachdem sein letzter Gedanke noch seinem entsetzlichen Nachbar gegolten hatte.

Als er erwachte, war es, vom Flackern der verhüllten Lampe abgesehen, noch stockdunkel, und das fortgesetzte Dröhnen und Schwanken zeugte von der unverminderten Schnelligkeit des Zuges. Voll Schreck fuhr Rolles auf, denn die greulichsten Träume hatten ihn gequält. Es dauerte einige Sekunden, bis er die Gewalt über seine Sinne wiedergewann. Auch als er sich nun von neuem niederlegte, kam der Schlaf nicht wieder, und er lag mit heftig arbeitendem Gehirn und offenen, nach der Tür des Waschzimmers gerichteten Augen da. Er zog seinen breitkrempigen Filzhut noch weiter über die Augen, um das Licht abzuhalten, und versuchte die gewöhnlichen Mittel der Schlummerlosen, wie das Zählen bis tausend, um den ersehnten Schlaf herbeizuzwingen. Aber in diesem Falle war alle Mühe umsonst, denn Rolles schwebte in tausend Ängsten, der Gedanke an den Alten am andern Ende des Wagens verfolgte ihn in hunderterlei verschiedenen Formen, und der Diamant in seiner Tasche verursachte ihm, er mochte ihn legen, wie er wollte, ein fühlbares physisches Unbehagen. Er brannte ihn, er war zu groß, er quetschte ihm die Rippen, und es kamen mehr wie einmal blitzartig vorübergehende Momente, in denen er sich halb bewogen fühlte, ihn aus dem Fenster zu werfen.

Während er so dalag, trug sich etwas Sonderbares zu.

Die Rolltür bewegte sich ein wenig und dann noch ein wenig und war schließlich etwa zwanzig Zoll weit aufgezogen. Die Lampe im Zwischenraum war nicht verhüllt, und in der so beleuchteten Öffnung konnte Rolles Herrn Vandeleurs Gesicht, auf dem sich der Ausdruck höchster Spannung widerspiegelte, bemerken. Er war sich bewußt, daß der Blick des Diktators an ihm haftete, und der Instinkt der Selbsterhaltung bewog ihn, seinen Atem zurückzuhalten, bewegungslos dazuliegen, seine Augenlider halb zu schließen und seinen Gast zwischen den Wimpern hindurch zu beobachten. Im nächsten Augenblick wurde der Kopf zurückgezogen und die Tür wieder zugeschoben.

Der Diktator hatte keinen Angriff im Sinne gehabt, sondern nur beobachten wollen; er handelte nicht wie einer, der gegen andere etwas im Schilde führt, sondern wie einer, der sich selbst bedroht fühlt. Er war anscheinend nur gekommen, um sich zu überzeugen, ob sein einziger Mitreisender im Schlafe liege, und hatte sich, nachdem er diese Überzeugung gewonnen, sofort zurückgezogen.

Der Geistliche sprang auf. Der höchste Schrecken hatte bei ihm unvermittelt der entgegengesetzten Stimmung, dem dreistesten Wagemute, Platz gemacht. Er bedachte, daß das Rasseln des Schnellzuges jeden andern Ton verschlinge, und beschloß, komme, was wolle, den Besuch zu erwidern. Er warf seinen Mantel ab, der seine freie Bewegung hindern konnte, trat in den Waschraum und stand still, um zu horchen. Wie er erwartet hatte, war nichts zu hören außer dem Tosen des fortrasenden Zuges. Dann legte er seine Hand vorsichtig auf den Knopf der andern Rolltüre und zog sie leise etwa sechs Zoll zurück. Als er durch den Spalt einen Blick auf sein Gegenüber warf, konnte er einen leisen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken.

John Vandeleur trug eine Pelzreisemütze mit Ohrklappen, und dies mochte ihn im Verein mit dem Dröhnen des vorwärtsstürmenden Zuges gehindert haben, Rolles‘ Annäherung zu bemerken. Auf alle Fälle hob er seinen Kopf nicht und fuhr in seiner sonderbaren Beschäftigung unbeirrt fort. Zwischen seinen Füßen stand eine offene Hutschachtel; in einer Hand hielt er den Ärmel seines Überziehers von Seehundsfell und in der andern ein fürchterliches Messer, mit dem er soeben das Futter des Ärmels aufgetrennt hatte. Herr Rolles hatte von Leuten gelesen, die ihr Geld in Gürteln bei sich trugen, und da er nur Gürtel, wie man sie beim Kricketspiel braucht, kannte, so hatte er sich niemals eine rechte Vorstellung von dieser Art der Geldverwahrung machen können. Aber hier bot sich seinen Augen noch ein seltsameres Schauspiel, denn John Vandeleur trug, wie es schien, seine Diamanten im Ärmelfutter, und gerade, wie der junge Diener Gottes hinschaute, sah er einen glitzernden Diamanten nach dem andern in die Hutschachtel fallen.

Er stand da wie festgenagelt und folgte dieser ungewöhnlichen Verrichtung mit den Augen. Die Diamanten waren zumeist klein und weder in Form noch in Feuer voneinander sehr verschieden. Dann aber schien der Diktator auf eine Schwierigkeit zu stoßen; er brauchte beide Hände und neigte sich tiefer herab, aber erst nach vielem Mühen brachte er aus dem Futter ein großes diamantbesetztes Diadem hervor, das er ein paar Sekunden betrachtete, ehe er es zu dem übrigen in die Hutschachtel legte. Das Diadem ließ in Herrn Rolles‘ Geist ein Licht aufgehen, er erkannte es sofort als zu den Schmuckstücken gehörig, die der herumlungernde Strolch Harry Hartley gestohlen hatte. Es war kein Irrtum möglich, es entsprach genau der Beschreibung des Geheimpolizisten. Da waren die Rubinsterne mit einem großen Smaragd in der Mitte, die funkelnden Halbmonde, die perlenähnlichen Gehänge, je aus einem besonders wertvollen Steine bestehend.

Herr Rolles hatte das Gefühl großer Erleichterung. Der Diktator saß ebensotief in der Tinte wie er selbst; keiner hatte dem andern etwas vorzuwerfen. Es entfuhr ihm ein tiefer Seufzer, dem, da seine Kehle infolge der fortgesetzten Anspannung trocken und seine Brust beklommen war, ein Husten folgte.

Herr Vandeleur blickte auf, sein Gesicht verzerrte sich unter dem Einfluß der finstersten, schrankenlosesten Leidenschaft, seine Augen öffneten sich weit, und das Sinken seines unteren Kinnbackens zeugte von einem an Wut grenzenden Erstaunen. Mit einer unwillkürlichen Bewegung hatte er die Hutschachtel mit dem Mantel bedeckt. Eine halbe Minute lang starrten beide einander stillschweigend an. In diesen wenigen Minuten entschloß sich Herr Rolles, der die Gabe zeigte, in gefährlichen Lagen schnell zu denken, zu einem äußerst waghalsigen Vorgehen, und obschon er sich bewußt war, sein Leben aufs Spiel zu setzen, brach er zuerst das Schweigen.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er.

Der Diktator bebte sichtlich, und mit heiserer Stimme fragte er:

»Was wollen Sie hier?«

»Ich interessiere mich ausnehmend für Diamanten,« erwiderte Herr Rolles mit der Miene vollkommenster Selbstbeherrschung. »Zwei Kenner sollten miteinander bekannt werden. Ich habe hier auch eine Kleinigkeit, die vielleicht zu meiner Beglaubigung als Diamantenfreund dienen kann.«

Hierbei nahm er ruhig das Futteral aus seiner Tasche, zeigte dem Diktator einen Moment den Diamanten des Rajahs und brachte ihn wieder in Sicherheit.

»Er gehörte einmal Ihrem Bruder,« fügte er hinzu.

John Vandeleur fuhr fort, ihm Blicke fast schmerzlicher Überraschung zuzuwerfen, aber verharrte starr und stumm.

»Ich habe zu meiner Freude bemerkt,« nahm der junge Mann das Wort, »daß wir Edelsteine aus derselben Sammlung haben.«

Der Diktator wurde von Erstaunen überwältigt. »Verzeihen Sie,« sagte er; »ich merke, daß ich alt werde! Auf derartige kleine Zwischenfälle bin ich in der Tat nicht vorbereitet. Aber geben Sie mir über eins Auskunft: Täuschen mich meine Augen, oder sind Sie wirklich ein Geistlicher?«

»Ich habe die Weihen empfangen,« antwortete Herr Rolles.

»Nun,« schrie der andere, »solange ich lebe, soll niemand wieder etwas gegen den Talar sagen.«

»Sie schmeicheln mir,« sagte Herr Rolles.

»Bitte sehr,« erwiderte Vandeleur, »bitte sehr, junger Mann. Sie sind kein Feigling, aber es bleibt noch eine Frage, ob Sie nicht der allerschlimmste Narr sind. Sie sind vielleicht so freundlich,« fuhr er fort und lehnte sich in seinen Sitz zurück, »und beantworten mir ein paar Fragen. Ich muß annehmen, Sie hatten bei Ihrer erstaunlich unverschämten Handlungsweise ein bestimmtes Ziel, und ich gestehe, die Neugier treibt mich, es kennenzulernen.«

»Das ist äußerst einfach,« versetzte der Gottesmann; »es entspringt aus meinem großen Mangel an Lebenserfahrung.«

»Wie ist dies zu verstehen?«

Hierauf erzählte ihm Herr Rolles die ganze Geschichte seiner Beziehungen zum Diamanten des Rajahs, von dem Moment an, wo er ihn in Raeburns Garten fand, bis zu dem Zeitpunkt, als er London mit dem Blitzzug verließ. Er knüpfte daran eine gedrängte Schilderung seiner Gefühle und Gedanken während der Reise und schloß mit folgenden Worten:

»Als ich das Diadem erkannte, wußte ich, daß wir beide der menschlichen Gesellschaft gegenüber die gleiche Stellung einnehmen, und dies erfüllte mich mit einer Hoffnung, von der ich fest glaube, sie wird sich nicht als unbegründet erweisen, der Hoffnung, Sie würden gewissermaßen mein Geschäftspartner werden und mit mir die Gefahren und Schwierigkeiten und natürlich auch den zu erhoffenden Gewinn teilen. Für einen, der Ihre Fachkenntnisse und reiche Erfahrung besitzt, wäre die Verwertung des Diamanten eine verhältnismäßig leichte Aufgabe, während sie für mich geradezu ein Ding der Unmöglichkeit ist. Auf der andern Seite war ich der Meinung, beim Zerschneiden des Diamanten mit meiner ungeübten Hand würde ich wohl nicht weniger verlieren, als mich so eine angemessene Vergeltung für Ihren Beistand kosten würde. Das Thema ist etwas heikler Natur, und vielleicht bin ich zu sehr mit der Tür ins Haus gefallen, aber die Lage war für mich eine völlig ungewohnte, und ich war mit den hierbei üblichen Formen ganz unvertraut. Ich glaube, ohne Überhebung, ich hätte Sie ganz vorschriftsmäßig verheiraten oder taufen können; aber jeder hat seine besonderen Fertigkeiten, und das vorliegende Geschäft fällt ganz und gar aus dem Rahmen der von mir bisher erworbenen Kenntnisse.«

»Ich will Ihnen nicht schmeicheln,« versetzte Vandeleur; »aber Sie haben, auf mein Wort, ein ungewöhnliches Talent für eine Verbrecherlaufbahn. Ihre Fähigkeiten sind umfassender, als Sie meinen; und obwohl ich eine gute Zahl von Schurken an allen Enden der Welt getroffen habe, ist mir doch noch niemals ein so schamloser vorgekommen wie Sie. Glück auf, Herr Rolles, Sie sind jetzt wenigstens im richtigen Fahrwasser. Was meinen Beistand betrifft, so können Sie über mich verfügen. Ich muß nur einen Tag auf ein kleines Geschäft verwenden, das ich für meinen Bruder in Edinburg zu besorgen habe. Ist dies getan, so gehe ich nach Paris zurück, wo ich gewöhnlich meinen Wohnsitz habe. Wenn Sie wollen, können Sie mich dorthin begleiten. Und ehe der Monat um ist, werde ich, denk‘ ich, auch Ihr kleines Geschäft zu befriedigendem Abschluß gebracht haben.«

Drittes Kapitel


Das Haus mit den grünen Jalousien

Franz Scrymgeour, ein Angestellter der Bank von Schottland in Edinburg, hatte im Rahmen eines ruhigen, ehrenhaften und häuslichen Lebens das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreicht. Seine Mutter war gestorben, als er noch Kind war, aber sein Vater, ein verständiger, redlicher Wann, hatte ihm eine gute Schulbildung zuteil werden lassen und erzog ihn auch daheim zu einem ordentlichen und bescheidenen Menschen. Franz zeigte sich daher auch stets eifrig und pflichtgetreu und gab sich mit Herz und Seele seinen geschäftlichen Obliegenheiten hin. Er stieg daher rasch in der Gunst seiner Vorgesetzten und erfreute sich bereits eines jährlichen Gehalts von etwa viertausend Mark, während ihm die Aussicht winkte, es einmal fast auf den doppelten Betrag zu bringen.

Eines Tages erhielt Franz eine Mitteilung von einer bekannten Advokatenfirma, durch die man ihn zu einer dringenden Besprechung einlud. Als Franz der Aufforderung Folge leistete, empfing ihn der erste Inhaber der Firma und eröffnete ihm mit dürren Worten, eine Person, die ungenannt bleiben müsse, wolle Franz eine Jahresrente von zehntausend Mark zukommen lassen. An diese Schenkung seien zwei Bedingungen geknüpft.

»Die Bedingungen,« fuhr der Advokat fort, »sind etwas ungewöhnlicher Natur. In der Tat würde ich mich wohl gar nicht auf die Sache eingelassen haben, wäre mein Auftraggeber nicht ein angesehener und ehrenhafter Mann.«

»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich darauf brenne, diese Bedingungen kennenzulernen,« sagte Franz.

»Es sind ihrer zwei,« versetzte der Advokat, »nur zwei, und die Summe, vergessen Sie nicht, beläuft sich auf jährlich zehntausend Mark. Die erste Bedingung ist höchst einfach. Sie müssen Sonntagnachmittag den Fünfzehnten in Paris sein; dort werden Sie an der Theaterkasse der Comédie Française eine auf Ihren Namen gelöste Eintrittskarte erhalten. Sie werden gebeten, während der ganzen Vorstellung in der betreffenden Loge zu bleiben, und das ist alles. Die andere Bedingung ist von größerer Bedeutung,« fuhr der Advokat fort. »Sie betrifft Ihre Verheiratung. Mein Auftraggeber, dem Ihre Wohlfahrt sehr am Herzen liegt, will Ihnen in der Wahl Ihrer Lebensgefährtin unbedingt einen Rat geben. Unbedingt, Sie verstehen,« wiederholte er.

»Wir scheint,« sagte Franz, »man muß abwarten, ob sich nicht das Ganze als unwürdige Posse erweist. Die nähern Umstände sind unerklärlich – fast hätte ich gesagt, unglaublich; und bis ich etwas mehr Licht und einen annehmbaren Beweggrund sehe, würde ich, gestehe ich, nur sehr ungern meine Hand zur Ausführung leihen. In dieser Verlegenheit ersuche ich Sie um Auskunft. Ich muß erfahren, was dieser ganzen Geschichte zugrunde liegt. Wenn Sie mir das nicht sagen können oder dürfen, so nehme ich meinen Hut und gehe zu meiner Bank ebenso, wie ich gekommen bin, zurück.«

»Ich weiß es nicht gewiß,« antwortete der Anwalt, »aber ich kann mir den Zusammenhang wohl denken.«

Hierauf teilte der Sachwalter dem aufs höchste verwunderten Franz mit, daß er gar nicht Herrn Scrymgeours Sohn sei, und daß die ganze Sache nach seiner festen Überzeugung von Franzens unbekanntem Vater ausgehe.

Es wäre unmöglich, Franz Scrymgeours Überraschung bei dieser unerwarteten Mitteilung zu übertreiben. Ganz verwirrt sagte er zu dem Anwalt:

»Nach einer so erstaunlichen Nachricht müssen Sie mir ein paar Stunden zur Sammlung gönnen. Sie sollen heute abend erfahren, wozu ich mich entschlossen habe.«

Der Advokat lobte seine Besonnenheit, und Franz machte, nachdem er sich in seinem Bankgeschäft entschuldigt hatte, einen längeren Spaziergang ins Freie und bedachte den Vorschlag gründlich und von den verschiedensten Seiten. Ein wohltuendes Gefühl der eigenen Bedeutung machte ihn noch überlegsamer, aber der Ausgang konnte von vornherein nicht zweifelhaft sein. Sein ganzes fleischliches Ich fühlte sich unwiderstehlich von den jährlich zehntausend Mark mitsamt den zugehörigen Bedingungen angezogen. Er entdeckte in seinem Herzen eine unüberwindliche Abneigung gegen den Namen Scrymgeour, der ihm doch bis dahin ganz und gar nicht unangenehm gewesen war. Er fing an, die engbegrenzten und nüchternen Interessen seines früheren Lebens verächtlich zu finden, und als er sich erst einmal entschlossen hatte, schritt er, von einem ungewohnten Gefühl von Kraft und Freiheit beseelt, einher und nährte seinen Geist mit den schönsten Zukunftsbildern.

Er sagte nur ein Wort zu dem Advokaten und erhielt sofort eine Geldanweisung auf die zwei letztverflossenen Vierteljahre, denn die Schenkung war auf den ersten Januar vordatiert. Mit diesem Schein in der Tasche ging er heim. Die bisherige Wohnung erschien ihm gemein; zum erstenmal rümpfte sich seine Nase beim Geruch der Bratensoße, und es fielen ihm bei seinem Pflegevater gewisse Mängel in der Lebensart auf, die ihn mit Überraschung und fast mit Entrüstung erfüllten. Der nächste Tag schon sah ihn auf dem Wege nach Paris.

Endlich war hier der bestimmte Samstag herangekommen, und er begab sich am Nachmittag zur Kasse der Comédie Française. Kaum hatte er seinen Namen genannt, so überreichte man ihm die Eintrittskarte in einem Umschlag, dessen Aufschrift kaum trocken war.

»Die Karte ist soeben genommen worden,« sagte der Kassenbeamte.

»Wirklich!« sagte Franz. »Darf ich fragen, wie der Herr aussah?«

»Ihr Freund ist leicht zu beschreiben,« erwiderte der andere. »Er ist alt, kräftig, schön, hat weißes Haar und eine Hiebnarbe quer über das Gesicht. Er ist gar nicht zu verkennen.«

»Allerdings,« gab Franz zurück; »und ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit.«

»Er kann noch nicht weit sein,« fügte der Kassierer hinzu. »Wenn Sie sich beeilen, so werden Sie ihn wohl noch einholen.«

Franz ließ sich dies nicht zweimal sagen, eiligst lief er aus dem Theater in die Mitte der Straße und sah sich nach allen Richtungen um. Mehr als ein weißhaariger Wann war zu sehen, aber obwohl er einem nach dem andern näher trat, eine Hiebnarbe hatte keiner. Fast eine halbe Stunde suchte er alle Straßen in der Nähe ab, bis er schließlich weiteres Suchen als unnütz erkannte und nur noch planlos und gedankenlos weiterging, um seine aufgeregten Gefühle zur Nutze zu bringen, denn die anscheinend so nahe Zusammenkunft mit einem Wanne, dem er zweifellos das Dasein verdankte, erschütterte den jungen Mann.

Der Zufall brachte ihn aber seinem Ziele näher als vorher sein eifriges Suchen. Denn als er, absichtslos dahinschlendernd, in den äußeren Boulevard kam, sah er zwei Männer in angelegentlicher Unterhaltung auf einer Bank sitzen. Der eine, jung, von dunklem Teint und hübsch, trug weltliche Kleidung, konnte aber den Geistlichen nicht verleugnen. Der andere entsprach völlig der von dem Kassenbeamten gegebenen Beschreibung. Franz fühlte sein Herz schneller klopfen, er wußte, daß er nun die Stimme seines Vaters hören sollte. Er machte einen Umweg und nahm leise hinter dem Paare, das viel zu sehr in seine Unterhaltung vertieft war, um ihn zu bemerken, Stellung. Wie Franz erwartet hatte, bedienten sie sich der englischen Sprache.

»Ihr Verdacht bringt mir schließlich das Blut in Wallung, Rolles,« sagte der Ältere. »Ich sage Ihnen, ich tue mein Äußerstes, man kann doch nicht im Augenblick seine Hand auf Millionen legen. Habe ich nicht aus reiner Gutwilligkeit mich Ihrer, der mir ganz fremd war, angenommen? Leben Sie nicht fast ausschließlich auf meine Kosten?«

»Auf Ihre Vorschüsse, Herr Vandeleur,« fiel der andere ein.

»Vorschüsse, wenn Sie lieber wollen, und Interesse anstatt Gutwilligkeit, wenn es Ihnen so beliebt!« rief Vandeleur zornig. »Ich will mich hier nicht um Ausdrücke streiten. Geschäft ist Geschäft, und Ihr Geschäft ist, vergessen Sie das nicht, zu schmutzig, als daß Sie sich noch aufs hohe Pferd setzen könnten. Entweder vertrauen Sie mir, oder Sie lassen mich in Frieden und suchen sich sonst jemand, aber um’s Himmels willen, hören Sie mir mit Ihren Jeremiaden auf!«

»Ich fange an, die Welt kennenzulernen,« versetzte der Jüngere, »und ich sehe, daß Sie viele Gründe haben, falsches Spiel mit mir zu treiben, und nicht einen, ehrlich zu verfahren. Auch ich bin nicht hier, mich über Ausdrücke herumzustreiten. Sie wollen den Diamanten für sich haben, Sie wissen, daß es so ist, Sie wagen es nicht zu leugnen. Haben Sie nicht schon meinen Namen gefälscht und meine Wohnung in meiner Abwesenheit durchstöbert? Ich verstehe die Gründe Ihres Aufschubs; Sie liegen im Hinterhalt, Sie sind in Wahrheit der Diamantenjäger, und früher oder später, auf diese oder jene Weise wollen Sie Ihre Hände darauf legen. Ich sage Ihnen, das muß aufhören; treiben Sie mich nicht weiter, oder Sie sollen sich wundern!«

»Es steht Ihnen übel an, mir zu drohen,« eiferte Vandeleur dagegen. »Mein Bruder befindet sich in Paris; die Polizei fahndet nach dem Dieb, und wenn Sie nicht aufhören, mich mit Ihrem Gejammer zu plagen, so werde ich Ihnen meinerseits eine kleine Überraschung bereiten, Herr Rolles. Aber meine Überraschung wird ein für allemal mit der Sache aufräumen. Verstehen Sie mich, oder soll ich’s Ihnen lieber auf hebräisch sagen? Alles hat seine Grenze, und Sie haben meine Geduld erschöpft. Dienstag beim Abendessen um sieben, nicht einen Tag, nicht eine Stunde, nicht einmal ein Teilchen einer Sekunde früher, und gälte es, Ihr Leben zu retten. Und wollen Sie nicht warten, so fahren Sie meinetwegen in den bodenlosen Abgrund, mir soll’s recht sein!«

Bei diesen Worten erhob sich der Diktator von der Bank und ging, kopfschüttelnd und seinen Stock wütend herumschwingend, in der Richtung auf den Montmartre zu fort, während sein Gefährte mit dem Ausdruck großer Niedergeschlagenheit sitzenblieb.

Franz war vor Überraschung und Entsetzen außer sich, seine Gefühle hatten den denkbar schmerzlichsten Stoß erlitten; die zärtliche Hoffnung, mit der er hinter die Bank getreten war, hatte sich in Abscheu und Verzweiflung verwandelt. Doch bewahrte er seine Geistesgegenwart und versäumte keinen Augenblick, der Spur des Diktators zu folgen.

Die zornige Wut ließ diesen mit heftigen Schritten ausgreifen und nahm ihn so in Anspruch, daß er keinen Blick hinter sich warf, bis er vor seiner eigenen Tür ankam.

Sein Haus stand hoch oben in der Lepicstraße, von wo man ganz Paris übersehen kann. Es war zwei Stock hoch, hatte grüne Jalousien, und alle Fenster nach der Straße zu waren hermetisch geschlossen. Baumspitzen schauten über die hohe Gartenmauer, die mit spanischen Reitern geschützt war. Der Diktator blieb einen Augenblick stehen, um nach dem Schlüssel in der Tasche zu suchen, dann öffnete er ein Tor und verschwand hinter der Mauer.

Franz sah sich um, die Gegend war sehr einsam, das Haus stand allein in einem großen Garten. Es schien, als böte sich zu weiteren Nachforschungen keine Gelegenheit. Beim zweiten Umblick gewahrte er jedoch ein hohes Haus daneben, dessen Giebelseite nach dem Garten schaute, und in der Giebelwand ein einziges Fenster. Er trat vor dieses Haus und sah einen Zettel angeschlagen, auf dem unmöblierte Zimmer zum Mieten angeboten wurden. Auf seine Anfrage wurde ihm sodann der Bescheid, daß das Giebelzimmer frei sei. Franz zögerte keinen Moment, er nahm das Zimmer, bezahlte die Miete einen Monat voraus und kehrte zu seinem Gasthaus zurück, um sein Gepäck zu holen.

Mochte der Alte mit der Narbe sein Vater sein oder nicht, und mochte er sich auf richtiger oder falscher Fährte befinden, jedenfalls war er einem großen Geheimnis auf der Spur, und er gab sich selbst das Versprechen, in seinem Forschen nicht eher nachzulassen, bis er diesem Geheimnis auf den Grund gekommen wäre.

Von dem Fenster seiner neuen Wohnung konnte Scrymgeour den Garten des Hauses mit den grünen Jalousien übersehen. Unmittelbar unter seinem Standpunkt beschattete ein schöner Kastanienbaum mit seinen weiten Ästen ein paar Gartentische. Auf allen Seiten außer einer ließ eine üppige Vegetation den Blick nicht bis auf den Boden dringen; nur zwischen den Tischen und dem Hause sah er einen Kiesweg, der von der Veranda zum Gartentor führte. Indem Franz seine Beobachtungen zwischen den Latten der Fensterläden hindurch anstellte, die er, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, nicht zu öffnen wagte, konnte er nur wenig entdecken, woraus er auf die Lebensweise der Bewohner hätte schließen können, und dieses wenige zeugte nur von strengster Zurückgezogenheit und Liebe zur Einsamkeit. Der Garten sah aus wie der eines Klosters, das Haus wie ein Gefängnis. Die grünen Jalousien waren sämtlich niedergelassen, die Verandatür geschlossen, der Garten lag im Abendsonnenschein, soweit er sehen konnte, völlig einsam da. Eine dünne Rauchwolke aus einem einzigen Schornstein zeugte allein von der Anwesenheit lebender Wesen.

Um nicht ganz müßig zu sein und seinem Leben einen gewissen Anstrich zu geben, hatte Franz ein französisches Lehrbuch der Geometrie gekauft, dessen Inhalt er abschrieb und übersetzte, wobei er seinen Koffer als Schreibtisch benutzte und auf dem Fußboden mit dem Rücken an die Wand gelehnt dasaß, da sein Zimmer unmöbliert war. Von Zeit zu Zeit stand er auf und warf einen Blick auf die Umgebung des Hauses mit den grünen Jalousien; aber die Fenster blieben hartnäckig geschlossen und der Garten leer.

Nur spät am Abend trat ein Ereignis ein, das seine fortgesetzte Aufmerksamkeit belohnte. Zwischen neun und zehn Uhr weckte ihn der helle Klang einer Glocke aus dem Halbschlummer. Schnell nahm er seinen Beobachtungsposten ein, worauf er ein ziemliches Geräusch von aufgeschlossenen Schlössern und zurückgeschobenen Riegeln hörte und Herrn Vandeleur mit einer Laterne in der Hand und in weitem schwarzem Samtmantel und mit einer Samtkappe auf dem Kopf von der Veranda langsam auf das Tor zugehen sah. Dann wiederholte sich der Klang von Schlössern und Riegeln, und einen Augenblick später konnte der Späher beobachten, wie der Diktator beim flackernden Scheine der Laterne einen offenbar der niedrigsten und verächtlichsten Menschenrasse ungehörigen Mann zum Hause geleitete.

Eine halbe Stunde darauf wurde der Fremde wieder hinausgeführt, und Herr Vandeleur setzte die Laterne auf einen der erwähnten Gartentische und rauchte anscheinend mit großem Behagen eine Zigarre unter den Ästen des Kastanienbaumes. Franz konnte durch eine laubfreie Stelle allen seinen Bewegungen folgen, er sah sogar, wenn jener die Asche abschüttelte oder aus der Zigarre einen kräftigen Zug tat. Die Stirn Vandeleurs war jetzt gerunzelt und seine Lippen zusammengepreßt, als hinge er schmerzlichen Gedanken nach. Als die Zigarre beinahe verraucht war, ließ sich plötzlich die Stimme eines jungen Mädchens hören, die aus dem Innern des Hauses dem Diktator mahnend zurief, es sei schon so spät.

»In einem Augenblick,« erwiderte John Vandeleur.

Zugleich warf er den Stummel fort, nahm die Laterne und wandte sich der Veranda zu. Sobald die Tür geschlossen war, lag das Haus in vollkommener Dunkelheit da. Franz mochte seine Sehkraft anstrengen, soviel er wollte, er konnte auch nicht einen einzigen Lichtfunken an einem der Fenster des geheimnisvollen Hauses entdecken, und er zog daraus den ganz vernünftigen Schluß, daß die Schlafzimmer sämtlich auf der andern Seite lägen.

Als er am nächsten Morgen nach einem unbequemen Nachtlager auf dem Fußboden frühzeitig aufwachte, sah er sich veranlaßt, die am Abend vorher bemerkte Dunkelheit auf andere Weise zu erklären. Die Jalousien gingen eine nach der andern in die Höhe, und dahinter zeigten sich schwere Rolläden, wie sie gewöhnlich vor Schaufenstern angebracht sind. Diese wurden gleichfalls, ohne daß dabei eine Person sichtbar wurde, hinaufgezogen, und hierauf blieben sämtliche Fenster etwa eine Stunde lang geöffnet.

Während Franz noch auf diese erstaunlichen Sicherheitsvorrichtungen schaute, öffnete sich die Tür des Hauses, und ein junges Mädchen trat auf die Schwelle und sah hinaus. Sie blieb keine zwei Minuten stehen, aber diese kurze Zeit genügte, Franz zu überzeugen, daß sie ganz ungewöhnliche Reize besaß. Dadurch wurde nicht nur in hohem Grade seine Neugier erregt, sondern es hob sich auch sein Mut bedeutend. Der zweifelhafte Charakter und die verdächtige Lebensweise seines Vaters beunruhigten ihn hinfort nicht mehr, er fühlte sich von Stunde an seiner Familie aufs innigste verbunden, und mochte die junge Dame nun seine Schwester oder seine Verlobte sein, er war überzeugt, daß sie ein Engel sei. Dieses Gefühl beherrschte ihn bereits in dem Maße, daß er bei dem plötzlichen Gedanken, wie wenig Sicheres er wisse, und wie leicht er einer falschen Person gefolgt sein könne, als er Herrn Vandeleur nachging, von jähem Schrecken erfüllt wurde.

Der Hauspförtner, bei dem er sich erkundigte, vermochte ihm nur wenig Auskunft zu geben, und was er sagte, klang geheimnisvoll und zweifelhaft. Der Nachbar sei ein ungeheuer reicher und dementsprechend in seinen Neigungen und Gewohnheiten überspannter Engländer. Das Fräulein sei seine Tochter, werde aber trotzdem ganz einfach gehalten und gehe täglich mit einem Korb am Arme selbst auf den Markt, um Lebensmittel einzukaufen.

Am Sonntag war Franz beizeiten auf seinem Platz im Theater. Da dieser besonders ausgewählt war, so ließ sich aus seiner Lage sicher ein Schluß ziehen, und Franz sagte sich bald, daß wahrscheinlich die Loge zu seiner Rechten in irgendeiner Beziehung zu dem Drama stehe, in dem er unwissentlich eine Rolle spielen sollte. Diese Loge lag so, daß ihn ihre Insassen, wenn sie wollten, von Anfang bis zu Ende der Vorstellung beobachten konnten, während sie selbst bei der Tiefe der Loge in der Lage waren, sich jeder Gegenbeobachtung zu entziehen.

Aber erst, als der zweite und letzte Akt begonnen hatte, sah Franz, der die verdächtige Loge keinen Augenblick aus den Augen ließ, daß sich die Logentür auftat und zwei Personen hereinkamen, die sich sofort in den dunkelsten Teil der Loge zurückzogen. Franz war kaum imstande, seine Bewegung zu meistern. Es waren Herr Vandeleur und seine Tochter. Das Blut rollte ihm mit unheimlicher Schnelligkeit durch die Adern, die Ohren klangen ihm, und sein Kopf wirbelte. Er wagte nicht hinzublicken, um keinen Verdacht zu erregen. Auf dem Theaterzettel, den er von Anfang bis zu Ende immer wieder durchlas, tanzten die Buchstaben vor seinen Augen herum, und wenn er einen Blick auf die Bühne warf, schien sie ihm unermeßlich fern zu sein, und die Stimmen und Bewegungen der Schauspieler kamen ihm höchst abgeschmackt und lächerlich vor.

Von Zeit zu Zeit wagte er einen schnellen Blick nach der ihn vor allen anziehenden Richtung zu werfen, und wenigstens das eine Mal war er überzeugt, den Augen des jungen Mädchens begegnet zu sein. Ein elektrischer Schlag durchzitterte seinen Körper, und er sah alle Farben des Regenbogens. Was hätte er nicht darum gegeben, der Unterhaltung der Vandeleurs lauschen zu können! Was hätte er nicht darum gegeben, wenn er den Mut gefunden hätte, sein Opernglas zu nehmen und sich über ihre Haltung und ihren Ausdruck zu vergewissern? Dort fiel, wie er annahm, die Entscheidung über sein ganzes Leben, und er war außerstande, einzugreifen oder auch nur der Verhandlung zu folgen, und sah sich dazu verurteilt, in ohnmächtiger Beklommenheit dazusitzen.

Endlich war der Aufzug zu Ende. Der Vorhang fiel, und die Leute um ihn herum verließen ihre Plätze. Franz folgte mit möglichster Beschleunigung ihrem Beispiel. Als er aber gerade bei der Loge angelangt war und erwartungsvoll einen schnellen Blick hineinwarf, hätte er laut aufschreien mögen: die Loge war bereits leer, und ihre Insassen hatten offenbar das Theater verlassen. Mechanisch setzte er seine Füße wieder in Bewegung und ließ sich von der Menge willenlos aus dem Theater hinausschieben. Als das Gedränge auf der Straße aufhörte, blieb er stehen, und die kühle Abendluft brachte ihn bald wieder zu sich. Zu seiner Verwunderung schmerzte ihn der Kopf heftig, und er konnte sich an kein Wort des gesehenen Schauspiels erinnern. Nachdem die Aufregung gewichen war, empfand er ein überwältigendes Verlangen nach Schlaf, er winkte daher einer Droschke und fuhr im Zustande höchster Erschöpfung und Enttäuschung nach seiner Wohnung.

Am nächsten Morgen lag er im Anschlag auf Fräulein Vandeleur bei ihrem Ausgange auf den Markt, und um acht Uhr sah er sie die Straße herunterkommen. Sie war einfach, ja ärmlich gekleidet, aber in der Haltung des Kopfes lag etwas Anmutvolles und Edles, das auch der dürftigsten Kleidung Glanz verliehen hätte. Selbst ihren Korb verstand sie so zu tragen, daß er ihr zur Zierde gereichte. Es kam Franz vor, als sei der Sonnenschein an ihre Fersen geheftet und fliehe der Schatten vor ihrem Schritt, und zum erstenmal wurde er sich bewußt, einen Vogel singen zu hören, dessen Käfig an einem der nächsten Häuser hing.

Er trat in einen Torweg, ließ sie vorübergehen, schritt dann wieder hinter ihr her und rief ihr zu:

»Fräulein Vandeleur!«

Sie wandte sich um und wurde, als sie ihn bemerkte, totenbleich.

»Verzeihen Sie mir,« fuhr er fort; »der Himmel weiß, ich wollte Sie nicht erschrecken, und es sollte auch der Anblick eines Menschen, der Ihnen so wohlgesinnt ist wie ich, nichts Erschreckendes für Sie haben. Und glauben Sie mir, ich handle eher unter dem Drange der Notwendigkeit als aus freiem Willen. In so vielen Punkten berühren sich unsere Interessen, und ich tappe ganz im Dunkeln. So vieles sollte ich tun, aber meine Hände sind gebunden. Ich weiß nicht einmal, welche Gefühle ich hegen soll, und wer mein Freund oder mein Feind ist.«

Sie unterdrückte gewaltsam ihre Erregung und sagte leise:

»Ich weiß nicht, wer Sie sind.«

»O doch, Fräulein Vandeleur, Sie wissen es,« gab er zurück, »besser als ich selbst. Gerade über diesen Punkt suche ich vor allem Licht. Sagen Sie mir, was Sie wissen,« sagte er bittend. »Sagen Sie mir, wer Sie sind und wie unsere Geschicke miteinander verknüpft sind. Sprechen Sie nur ein Wort, das mir einen festen Halt gibt, nennen Sie mir nur den Namen meines Vaters, wenn Sie wollen, – und ich werde dankbar und zufrieden sein.«

»Ich will Sie nicht zu täuschen versuchen,« erwiderte sie. »Ich weiß, wer Sie sind, aber ich darf es nicht sagen.«

»Sagen Sie mir wenigstens, daß Sie mir meine Unbescheidenheit verziehen haben, und ich werde mit aller Geduld, deren ich fähig bin, warten,« sagte er. »Kann ich es nicht erfahren, so muß ich mich so begnügen. Es ist grausam, aber ich kann es ertragen, wenn ich nicht zu fürchten brauche, daß Sie mir zürnen.«

»Was Sie getan haben, war ganz natürlich,« sagte sie, »und ich habe Ihnen nichts zu vergeben. Leben Sie wohl!«

»Soll das ein Lebewohl auf immer sein?« fragte er.

»Das weiß ich selbst nicht,« antwortete sie. »Leben Sie wohl auf Wiedersehen, wenn Sie das lieber hören!«

Und damit ging sie davon.

Franz kehrte in einem Zustande großer Erregung in sein Zimmer zurück. Er kam an diesem Vormittag mit seiner Geometrie recht wenig vorwärts und befand sich mehr am Fenster als an seinem improvisierten Schreibtische. Aber außer der Rückkehr des Fräuleins Vandeleur und der Begrüßung zwischen ihr und ihrem Vater, der auf der Veranda eine Zigarre rauchte, war bis Mittag nichts Erwähnenswertes in und an dem Hause mit den grünen Jalousien zu bemerken. Der junge Mann nahm in einer nahen Wirtschaft ein hastiges Mahl ein und kehrte mit der Eile unbefriedigter Neugier zu dem Hause in der Lepicstraße zurück. Ein Diener in Galakleidung führte hier ein gesatteltes Pferd an der Gartenmauer auf und nieder, und der Pförtner von Franzens Wohnung saß, in die Betrachtung der Livree und des Rassepferdes versunken, mit einer Zigarre im Munde und bequem an die Wand gelehnt, da und rief dem jungen Manne zu:

»Sehen Sie nur, was für ein edles Tier, was für eine reiche Livree! Es gehört dem Bruder des Herrn Vandeleur, der jetzt dort einen Besuch macht. Er ist in Ihrem Lande ein großer Mann, ein General, und er ist es auch, der den großen indischen Diamanten verloren hat. Davon müssen Sie doch in den Zeitungen gelesen haben.«

Sobald sich Franz losmachen konnte, lief er die Treppe hinauf zu seinem Fenster. Unmittelbar unter der laubfreien Stelle des Kastanienbaumes saßen die beiden Herren, rauchend und in eifriger Unterhaltung begriffen. Der General, ein rotwangiger Mann von militärischem Aussehen, hatte unverkennbar einige Familienähnlichkeit mit seinem Bruder; er hatte etwas von seinen Zügen, etwas, wenn auch sehr wenig, von seiner freien, gebietenden Haltung, aber er war älter, kleiner, und sein Gesichtsausdruck war gewöhnlicher. Seine Ähnlichkeit war mehr die einer Karikatur, und er machte alles in allem neben dem Diktator einen ziemlich kläglichen Eindruck.

Sie sprachen, obschon offenbar mit dem größten Interesse, doch so leise, daß Franz nur dann und wann ein Wort auffangen konnte. Aus dem wenigen, was er vernahm, glaubte er schließen zu dürfen, daß er selbst und sein Geschick den Gegenstand der Unterhaltung bilde, denn mehrmals traf der Name Scrymgeour sein Ohr, und noch häufiger glaubte er seinen Vornamen unterscheiden zu können.

Schließlich stieß der General zornerfüllt heftig hervor:

»Franz Vandeleur! Franz Vandeleur, sage ich dir!«

Der Diktator machte mit seinem ganzen Körper eine halb abweisende, halb verächtliche Bewegung, aber seine Antwort war für den jungen Mann unhörbar.

Ob er wohl der Franz Vandeleur war? Sprachen sie über den Namen, unter dem er verheiratet werden sollte? Oder war das Ganze nur ein Traum und ein Selbstbetrug seiner überreizten Einbildungskraft?

Nachdem sie sich hierauf längere Zeit leise unterhalten hatten, schienen sie wieder uneins geworden zu sein, und von neuem ließ sich die zornige Stimme des Generals vernehmen.

»Meine Frau?« rief er. »Ich bin mit ihr fertig. Ich will ihren Namen nicht mehr hören, es macht mich krank, wenn ich nur an sie erinnert werde.«

Und unter lautem Fluchen schlug er mit der Faust auf den Tisch.

Der Diktator schien ihn in väterlicher Weise beruhigen zu wollen und geleitete ihn bald darauf zur Gartentür. Die Brüder drückten sich anscheinend herzlich die Hände, aber kaum hatte sich die Tür hinter seinem Besucher geschlossen, so brach John Vandeleur in ein unmäßiges Gelächter aus, das in Franz Scrymgeours Ohren einen unfreundlichen, ja teuflischen Klang hatte.

So ging ein weiterer Tag vorüber, und die Ausbeute war nur gering. Aber der junge Mann erinnerte sich, daß der nächste Tag der Dienstag war, von dem er sich wichtigere Enthüllungen versprach; vielleicht, wenn’s Glück gut war, gelang es ihm dann, dem Geheimnis, das seinen Vater und seine Familie umschwebte, auf den Grund zu kommen.

Als die Stunde des mit dem anscheinenden Geistlichen auf Dienstag verabredeten Mahles näherrückte, waren viele Vorbereitungen im Garten des geheimnisvollen Hauses bemerkbar. Der Tisch, den Franz durch die Kastanienblätter teilweise sehen konnte, sollte als Serviertisch dienen und war mit Tellern, Schüsseln und dergleichen besetzt. Der andere, fast ganz verborgene, war offenbar für die Speisenden bestimmt, und Franz sah den Schimmer vom weißen Tischtuch und dem silbernen Tafelgerät.

Herr Rolles stellte sich pünktlich auf die Minute ein; er machte den Eindruck eines Mannes, der auf seiner Hut ist, und sprach wenig und in leisem Tone. Der Diktator schien dagegen besonders wohlgelaunt zu sein. Sein frisch und angenehm klingendes Lachen tönte häufig zu dem Lauscher hinauf; aus den wechselvollen Klängen seiner Stimme konnte man entnehmen, daß er manchen Spaß erzählte und die Sprechweisen verschiedener Völker nachmachte, und ehe er und der junge Geistliche ihr Glas Wermut ausgetrunken hatten, schien aus der Brust des letzteren jedes Gefühl des Mißtrauens verschwunden, und sie schwatzten zusammen wie ein Paar Schulkameraden.

Schließlich erschien Fräulein Vandeleur mit einer Suppenterrine. Herr Rolles beeilte sich, ihr behilflich zu sein; sie aber lehnte lachend seinen Beistand ab. Die drei tauschten darauf allerhand scherzhafte Bemerkungen aus, die sich auf den Umstand zu beziehen schienen, daß sie sich selbst zu bedienen hatten.

»Es ist so viel gemütlicher,« erklärte Herr Vandeleur.

Im nächsten Augenblick waren alle drei an ihren Plätzen, und Franz konnte ebensowenig sehen, als er zu hören vermochte, was weiter vor sich ging. Doch schien es beim Mahle heiter zuzugehen, da beständig fröhliche Stimmen und der Klang von Messern und Gabeln hörbar waren; Franz, der nur an einer Semmel zu knabbern hatte, konnte nicht ohne Neid an die lange, üppige Schmauserei denken. Eine Schüssel nach der andern wurde aufgetragen, und dann kam noch ein erlesener Nachtisch, bei dem der Diktator mit eigener Hand eine Flasche alten Wein entkorkte. Als die Dunkelheit hereinbrach, wurde eine Lampe auf den Speisetisch gestellt und ein paar Kerzen auf den andern, denn der Abend war völlig heiter und sternhell und die Luft unbewegt. Auch von der Tür und den Fenstern der Veranda strömte Licht in den Garten, so daß dieser feenhaft beleuchtet war und die dunklen Blätter schimmerten.

Fräulein Vandeleur ging vielleicht zum zehntenmal ins Haus und kehrte diesmal mit dem Kaffeegeschirr zurück, das sie auf den Nebentisch setzte. Zugleich erhob sich ihr Vater von seinem Sitz.

»Der Kaffee ist mein Gebiet,« hörte ihn Franz sagen.

Und im nächsten Augenblick sah er seinen vermeintlichen Vater beim Scheine der Kerzen am Nebentisch stehen.

Indem er sich dabei fortwährend an der Unterhaltung beteiligte, füllte Herr Vandeleur zwei Tassen mit dem belebenden braunen Safte, und dann goß er mit der schnellen Bewegung eines Taschenspielers den Inhalt eines kleinen Fläschchens in die kleinere Tasse. Dies führte er mit solcher Geschwindigkeit aus, daß selbst Franz, der ihm gerade ins Gesicht schauen konnte, der Bewegung erst inneward, als sie schon geschehen war. Und im nächsten Augenblick hatte sich Herr Vandeleur, noch lachend, mit einer Tasse in jeder Hand umgedreht.

»Ehe wir hiermit fertig sind,« sagte er, »können wir unsern berühmten Hebräer erwarten.«

Es wäre unmöglich, Franzens Verwirrung und Herzeleid zu beschreiben. Er sah, wie sich vor seinen Augen ein Verbrechen abspielte, und fühlte sich gedrungen dazwischenzutreten, wußte aber nicht, wie. Es konnte sich nur um einen Scherz handeln, und wie würde es dann aussehen, wenn er als überflüssiger Warner eingriff? Wenn es aber ernst gemeint war, so war der Verbrecher vielleicht sein eigener Vater, und müßte er es dann nicht bitter beklagen, seinen Erzeuger ins Verderben gestürzt zu haben? Er preßte sich fest an die Fensterläden, sein Herz pochte laut und unregelmäßig, und er fühlte einen starken Schweiß an seinem Körper ausbrechen.

Mehrere Minuten vergingen.

Es kam ihm vor, als ob die Unterhaltung immer weniger lebhaft würde, aber noch bemerkte er kein weiteres beunruhigendes Zeichen.

Auf einmal vernahm er das Klirren eines zerbrochenen Glases und darauf ein schwaches dumpfes Geräusch, wie wenn jemand mit dem Kopf gegen den Tisch gefallen wäre. Zugleich ließ sich ein durchdringender Schrei hören.

»Was hast du getan?« rief Fräulein Vandeleur. »Er ist tot.«

Der Diktator stieß leise, aber so scharf und heftig, daß der Lauscher am Fenster jedes Wort verstehen konnte, zwischen den Zähnen hervor:

»Still! Der Mann ist so gesund wie ich. Fass‘ du ihn an den Fersen, während ich ihn an den Schultern nehme.«

Franz hörte, wie Fräulein Vandeleur in heftiges Schluchzen ausbrach.

»Hörst du, was ich sage?« nahm der Diktator wieder in gleicher Weise das Wort. »Oder willst du mit mir Streit anfangen? Wie, ist das deine Absicht?«

Hierauf trat von neuem eine Pause ein, bis der Diktator wiederholte:

»Nimm den Mann bei den Fersen. Ich muß ihn ins Haus bringen. Wäre ich ein wenig jünger, so würden mir meine eigenen Kräfte genügen. Jetzt aber, wo mir Alter und Gefahren zusetzen und meine Hände schwächer geworden sind, bedarf ich deines Beistandes.«

»Es ist ein Verbrechen,« erwiderte das Mädchen.

»Ich bin dein Vater,« sagte Herr Vandeleur.

Diese Berufung auf die Kindespflicht des Gehorsams schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Es machte sich ein scharrendes Geräusch auf dem Kies vernehmbar, ein Stuhl wurde umgeworfen, und nun sah Franz Vater und Tochter über den Weg stolpern und mit dem leblosen Körper des Herrn Rolles unter der Veranda verschwinden. Der junge Geistliche war völlig bleich, sein Kopf schwankte bei jedem Schritte hin und her.

War er lebendig oder tot? Franz neigte sich trotz der Erklärung des Diktators der letzteren Ansicht zu. Ein großes Verbrechen war begangen worden; großes Unheil schwebte über den Bewohnern des Hauses mit den grünen Jalousien. Zu seinem eigenen Erstaunen wurde sich Franz bewußt, daß all sein Schauder vor der Untat unterging in der Besorgnis um das Mädchen und den alten Mann, die ihm in höchster Gefahr zu schweben schienen. Eine Sturmflut hochherzigen Mitgefühls überschwemmte sein Herz, auch er wollte seinem Vater beistehen gegen Erde und Himmel, gegen Schicksal und Gerechtigkeit, und er stieß die Läden auf, schloß die Augen und warf sich mit ausgebreiteten Armen in das Laubwerk des Kastanienbaumes.

Ein Zweig nach dem andern wich unter dem Drucke seines Körpers beiseite oder brach, dann kam ein kräftiger Ast unter seine Achselhöhle; eine Sekunde blieb er so hängen, und hierauf ließ er sich fallen und stieß ziemlich heftig gegen den Tisch. Ein lauter Schrei vom Hause her sagte ihm, daß sein Erscheinen nicht unbemerkt geblieben sei. Mit einem Ruck war er wieder auf den Füßen, und drei Sätze brachten ihn vor die Verandatür.

In einem kleinen mit Matten belegten Gemache, an dessen Wänden sich ringsum polierte Sammelkästen befanden, stand Herr Vandeleur, über Herrn Rolles‘ Körper geneigt. Als Franz eintrat, richtete er sich auf, und zugleich erfolgte eine schnelle Bewegung von Hand zu Hand. Es war das Werk einer Sekunde, im Augenblick war es geschehen, der junge Mann hatte keine Zeit, sich darüber zu vergewissern, aber es schien ihm, als hätte der Diktator etwas von der Brust des Daliegenden genommen, einen kurzen Moment darauf geschaut und es dann hastig seiner Tochter zugesteckt.

Dies hatte sich alles abgespielt, während Franz noch mit einem Fuß auf der Schwelle stand und den andern aufhob. Im nächsten Augenblick lag er vor Herrn Vandeleur auf den Knien.

»Vater,« rief er, »nehmen Sie auch meine Hilfe an. Ich will tun, was Sie verlangen, ohne zu fragen. Mein Leben gebe ich für Sie hin; erkennen Sie mich als Ihr Kind an, und Sie werden in mir einen ergebenen, liebevollen Sohn finden.«

Ein schrecklicher Ausbruch von Flüchen war des Diktators erste Erwiderung.

»Sohn und Vater?« schrie er; »Vater und Sohn? Was für eine verdammte Komödie ist denn das? Wie kommen Sie in meinen Garten? Was wollen Sie? Und wer, in Teufels Namen, sind Sie?«

Halbbetäubt und schamerfüllt sprang Franz auf und stand schweigend da.

Dann schien Herrn Vandeleur ein Licht aufzugehen, und er lachte überlaut.

»Ah, ich sehe,« sagte er. »Es ist der Scrymgeour. Herrlich, Herr Scrymgeour. Lassen Sie mich Ihnen in kurzen Worten sagen, wie’s mit Ihnen steht. Sie sind mit Gewalt oder durch Betrug in mein Haus eingedrungen, und Sie kommen mit Ihren albernen Deklamationen gerade in einem besonders unpassenden Augenblicke, nachdem ein Gast bei Tisch in Ohnmacht gefallen ist. Sie sind kein Sohn von mir. Sie sind ein Bastard meines Bruders von einem Fischweib, wenn Sie’s wissen wollen. Mir sind Sie nicht nur völlig gleichgültig, sondern eher noch widerwärtig, und nach Ihrer Aufführung möchte ich glauben, Ihr geistiger Zustand entspricht völlig Ihrer äußeren Erscheinung. Dieses mein Urteil empfehle ich Ihnen zur näheren Erwägung für Ihre Mußestunden, und inzwischen seien Sie so freundlich, uns von Ihrer werten Gegenwart zu befreien. Wäre ich nicht gerade anderweitig beschäftigt,« fügte der Diktator mit einem mehr als kräftigen Fluche hinzu, »so würde ich Ihnen noch zur Erinnerung eine gehörige Tracht Prügel mit auf den Weg geben.«

Franz hörte diesen rohen Erguß mit tiefer Beschämung an. Er hätte sich eiligst aus dem Staube gemacht, wäre dies möglich gewesen, aber da er nicht wußte, auf welche Weise er aus der Wohnung, in die er so unglückseligerweise gekommen war, hinausgelangen sollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als dumm und stumm stehenzubleiben.

Fräulein Vandeleur brach das Schweigen zuerst.

»Vater,« sagte sie, »du sprichst im Zorn, Herr Scrymgeour mag im Irrtum gewesen sein, aber seine Absicht war gut und freundlich.«

»Gut, daß mich deine Worte daran erinnern,« versetzte der Diktator; »ich halte es für Ehrensache, Herrn Scrymgeour noch eine weitere Eröffnung zu machen. Mein Bruder,« fuhr er, zu dem jungen Mann gewendet, fort, »ist so töricht gewesen, Ihnen eine Rente zu geben; er war so töricht und anmaßend, Sie mit dieser jungen Dame verloben zu wollen. Sie wurden ihr vor zwei Tagen gezeigt, und ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß sie den Gedanken mit Abscheu von sich wies. Lassen Sie mich hinzufügen, daß ich auf Ihren Vater einen bedeutenden Einfluß ausübe, und mein Fehler wird’s gewiß nicht sein, wenn Ihre Rente Ihnen nicht ehestens entzogen wird und Sie, bevor die Woche um ist, wieder hinter Ihrem Schreibtisch sitzen.«

Der Ausdruck, mit dem der alte Mann diese Worte sprach, war womöglich noch verletzender als das, was er sagte. Unter dem Stachel dieser beißenden Rede und der unerträglichen Verachtung wandte sich Franz um, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in ein entsetzliches tränenloses Schluchzen aus. Doch Fräulein Vandeleur trat noch einmal für ihn ein.

»Herr Scrymgeour,« sagte sie mit klarer Stimme und ruhigem Tonfall, »Sie müssen sich meines Vaters rauhe Worte nicht so zu Herzen nehmen. Ich empfand durchaus keinen Widerwillen gegen Sie, im Gegenteil, ich bat um eine Gelegenheit, Sie besser kennenzulernen. Was die Ereignisse des heutigen Abends betrifft, so glauben Sie mir, daß sie mich nicht minder mit Bedauern wie mit Achtung für Sie erfüllt haben.«

Gerade in diesem Augenblick machte Herr Rolles eine krampfhafte Armbewegung, die Franz überzeugte, daß er nur betäubt worden war. Herr Vandeleur beugte sich über sein Opfer und schaute ihm prüfend ins Gesicht.

»Komm, komm!« stieß er, zu seiner Tochter gewendet, hervor, seinen Kopf erhebend. »Das Ding muß ein Ende nehmen, und da dir seine Aufführung so sehr zu gefallen scheint, so nimm ein Licht und zeige dem Bastard den Weg auf die Straße.«

Die junge Dame tat sofort nach dem Befehl.

»Ich danke Ihnen,« sagte Franz, sobald er mit ihr allein im Garten war. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Das war der bitterste Abend meines Lebens, aber er wird mir wenigstens auch eine angenehme Erinnerung bieten.«

»Ich habe nur ausgesprochen, was ich empfand,« entgegnete sie, »und was die Gerechtigkeit verlangte. Es tat meinem Herzen wehe, daß Sie so unfreundlich behandelt wurden.«

Inzwischen waren sie am Gartentor angelangt, und Fräulein Vandeleur, die das Licht auf den Boden gesetzt hatte, schob bereits den Riegel zurück.

»Noch ein Wort,« sagte Franz. »Dies ist nicht das letztemal! – ich werde Sie wiedersehen, nicht wahr?«

»Ach,« antwortete sie. »Sie haben meinen Vater gehört. Was kann ich anderes tun als gehorchen?«

»Sagen Sie mir wenigstens, daß dies nicht Ihrem Willen entspricht,« gab Franz zurück; »sagen Sie mir, daß es nicht Ihr Wunsch ist, mich nicht wiederzusehen.«

»Gewiß,« sagte sie, »das ist mein Wunsch nicht. Sie scheinen mir ebenso kühn wie ehrenhaft zu sein.«

»Dann,« sagte Franz, »geben Sie mir ein Andenken!«

Mit der Hand auf dem Schlüssel, den sie nur noch umzudrehen hatte, um das Tor völlig zu öffnen, stand sie einen Augenblick unentschlossen. Dann sagte sie:

»Wollen Sie mir auch versprechen, ganz genau, Punkt für Punkt nach meiner Weisung zu tun?«

»Können Sie fragen?« entgegnete Franz. »Auf Ihr bloßes Wort würde ich es mit Freuden tun.«

»So sei es drum,« sagte sie. »Sie wissen nicht, worum Sie bitten, aber sei es drum. Was Sie auch hören,« fuhr sie fort, »was auch geschieht, kehren Sie nicht in dieses Haus zurück! Eilen Sie fort, bis Sie die beleuchteten und belebten Teile der Stadt erreichen, und auch da seien Sie auf Ihrer Hut! Sie schweben in größerer Gefahr, als Sie meinen. Versprechen Sie mir, daß Sie mein Andenken nicht einmal ansehen wollen, bis Sie sich in Sicherheit befinden.«

»Ich verspreche es,« versetzte Franz.

Sie legte etwas, das lose in ein Taschentuch gewickelt war, in die Hand des jungen Mannes; zugleich schob sie ihn mit mehr Kraft, als er ihr zugetraut hätte, auf die Straße und rief:

»Laufen Sie, laufen Sie!«

Er hörte das Tor hinter sich schließen und die Riegel vorschieben.

»Meiner Treu,« sprach er zu sich, »da ich’s mal versprochen habe.«

Und dabei lief er eine Straße, die in die Ravignanstraße führt, hinunter.

Noch keine fünfzig Schritt war er von dem Hause mit den grünen Jalousien entfernt, als auf einmal ein ganz teuflisches Wutgeschrei die Stille der Nacht durchdrang. Unwillkürlich machte er halt, ein zweiter Fußgänger folgte seinem Beispiel, in den nächsten Häusern eilten die Bewohner an die Fenster; eine Feuersbrunst hätte in dieser einsamen Stadtgegend keine größere Aufregung verursachen können. Und doch schien das Geschrei nur von einem einzigen Mann auszugehen, der vor Schmerz und Wut brüllte wie eine Löwin um ihre Jungen, und Franz hörte zu seiner größten Bestürzung und Beunruhigung seinen eigenen Namen, untermischt mit englischen Verwünschungen.

Seine erste Regung war umzukehren, dann besann er sich aber auf Fräulein Vandeleurs Rat und machte sich eben mit doppelter Eile auf den Weg, als er den Diktator, ohne Kopfbedeckung, mit wirrem Haar und laut schreiend, wie eine abgefeuerte Kanonenkugel die Straße nach der entgegengesetzten Richtung hinunterlaufen sah.

Da bin ich knapp seinem Rachen entronnen, dachte Franz bei sich. »Was er von mir will und was ihn so toll gemacht hat, kann ich mir nicht denken, aber im Augenblick ist nicht gut Kirschen essen mit ihm, und ich kann nichts Besseres tun, als Fräulein Vandeleurs Rate folgen.«

Da er zunächst der Gefahr entronnen zu sein glaubte, so trat er, da er nicht nur ohne Hut war, sondern auch seine Kleider auf der Niederfahrt durch den Kastanienbaum arg gelitten hatten, in den ersten Laden, wo er eine billige Kopfbedeckung kaufte und wenigstens den gröbsten Schaden seiner Toilette ausbessern ließ. Das immer noch in das Taschentuch gewickelte Andenken steckte er dabei in seine Hosentasche.

Aber kaum hatte er wieder ein paar Schritte aus dem Laden heraus getan, so fühlte er sich plötzlich gepackt, eine Hand fuhr ihm an die Kehle, ein wütendes Gesicht stand ihm dicht vor Augen, und ein aufgerissener Mund stieß ihm schauerliche Flüche ins Ohr. Es war der Diktator, der, als er auf seinem Wege keine Spur von dem gesuchten Wilde fand, auf einem andern Wege zu seiner Wohnung zurückkehrte. Franz war kein Schwächling, aber seinem Gegner weder an Kraft noch an Gewandtheit gewachsen, und so ergab er sich nach einigem fruchtlosen Sträuben auf Gnade und Ungnade seinem Widersacher.

»Was wollen Sie von mir?« sagte er.

»Davon wollen wir daheim reden,« erwiderte der Diktator voll Hohn.

Und er riß den jungen Mann mit sich fort, dem Hause mit den grünen Jalousien zu.

Doch Franz, der anscheinend jeden Widerstand aufgegeben hatte, wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, durch einen kecken Fluchtversuch seine Freiheit wiederzugewinnen. Mit jähem Rucke sich losreißend, ließ er seinen Rockkragen in Herrn Vandeleurs Händen und lief zum zweitenmal, was er nur konnte, den Boulevards zu.

Jetzt lagen die Würfel anders. Wenn der Diktator der Stärkere war, so besaß dafür Franz in der Blüte seiner Jugend schnellere Füße und war bald nach Überholung anderer Straßengänger vor seinem Verfolger sicher. Von dieser dringendsten Sorge befreit, aber voll Bestürzung und Unruhe wegen seines letzten Erlebnisses, ging er schnellen Schrittes vorwärts, bis er auf den von elektrischen Lichtern tageshell beleuchteten Opernplatz gelangte.

Wenigstens damit, dachte er, würde Fräulein Vandeleur zufrieden sein.

Er wandte sich dann zur Rechten und trat nach einer Weile in das Amerikanische Café, wo er sich ein Glas Bier bestellte. Nur zwei oder drei Männer saßen im Gastzimmer zerstreut und vereinzelt an den Tischen, und Franz war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um sie zu beachten.

Er zog das Taschentuch hervor. Der eingewickelte Gegenstand erwies sich als ein feines Lederfutteral mit goldenem Verschluß, der sich durch Druck auf eine Feder öffnen ließ und vor den Augen des entsetzten jungen Mannes einen Diamanten von unerhörter Größe und außerordentlichem Feuer enthüllte. Dies war etwas so Unbegreifliches und der Wert des Edelsteins so ungeheuer, daß Franz eine Weile bewußtlos dasaß und das Geschmeide anstarrte wie ein Mensch, der plötzlich seinen Verstand verloren hat.

Da legte sich leicht, aber fest eine Hand auf seine Schulter, und eine ruhige Stimme, die aber etwas Gebieterisches in sich hatte, ließ folgende Worte in sein Ohr und sein wieder zum Bewußtsein zurückkehrendes Hirn dringen:

»Machen Sie das Futteral zu und zeigen Sie ein gefaßteres Gesicht!«

Er schaute auf und gewahrte einen noch jungen Mann von vornehmem und ruhigem Wesen, der reich und doch einfach gekleidet war. Dieser Herr war vom Nebentische aufgestanden und hatte sich, sein Glas in der Hand, neben Franz gesetzt.

»Machen Sie das Futteral zu,« wiederholte der Fremde, »und stecken Sie es ruhig wieder in Ihre Tasche, wo es sich, wie ich fest überzeugt bin, niemals hätte befinden sollen. Versuchen Sie auch, bitte, eine weniger verstörte Miene zur Schau zu tragen, und tun Sie, als wäre ich ein Bekannter von Ihnen, den Sie zufällig getroffen haben. So! Stoßen Sie mit mir an! Das ist besser. Wir scheint’s, mein Herr, Sie betreiben die Beschäftigung nur aus Liebhaberei, nicht als Handwerk.«

Der Fremde begleitete diese letzten Worte mit einem eigentümlichen, vielsagenden Lächeln, lehnte sich in seinen Sitz zurück und tat mit Behagen einen kräftigen Zug an seiner Havanna.

»Um Gottes willen,« rief Franz, »sagen Sie mir, wer Sie sind und was das zu bedeuten hat. Warum ich Ihren merkwürdigen Zumutungen folgen soll, sehe ich gar nicht ein, aber es ist mir in der Tat heute abend so viel Sinnverwirrendes widerfahren, und alle Leute, mit denen ich zusammenkomme, benehmen sich so sonderbar, daß ich glaube, ich muß entweder den Verstand verloren haben oder auf einen andern Planeten geraten sein. Ihr Gesicht flößt mir zudem Vertrauen ein, Sie scheinen mir weise, gut und erfahren zu sein; um’s Himmels willen, sagen Sie, warum Sie mir in so ungewöhnlicher Weise entgegentreten.«

»Alles zu seiner Zeit,« versetzte der Fremde. »Aber ich habe die Vorhand, und Sie müssen mir zuerst erzählen, wie der Diamant des Rajahs in Ihre Hände gekommen ist.«

»Der Diamant des Rajahs!« gab Franz zurück.

»Ich würde nicht so laut sprechen, wäre ich an Ihrer Stelle,« sagte der andere. »Aber ohne Zweifel haben Sie den Diamanten des Rajahs in Ihrer Tasche. Ich habe ihn wohl ein dutzendmal in Sir Thomas Vandeleurs Sammlung gesehen und in Händen gehabt.«

»Sir Thomas Vandeleur! Der General! Mein Vater!« rief Franz.

»Ihr Vater?« wiederholte der Fremde. »Meines Wissens hatte der General keine Kinder.«

»Ich bin ein außereheliches Kind,« versetzte Franz errötend.

Der andere verbeugte sich mit Würde und Achtung wie vor seinesgleichen, was Franz Erleichterung und Trost gewährte, er wußte selbst nicht, warum. Die Gesellschaft dieses Mannes tat ihm wohl; er glaubte endlich festen Grund unter den Füßen zu haben, und von hoher Achtung erfüllt, zog er unwillkürlich seinen Hut, wie wenn er sich in Gegenwart eines Vorgesetzten befände.

»Wie ich sehe,« sagte der Fremde, »sind Ihre Abenteuer nicht eben friedlich abgelaufen. Ihr Kragen ist zerrissen, ihr Gesicht ist zerkratzt, und Sie haben einen Schnitt an der Schläfe. Sie entschuldigen vielleicht meine Neugier, wenn ich Sie bitte, mir zu erklären, wie Sie diese Verletzungen erlitten haben, und wie es kommt, daß sich gestohlenes Gut von so ungeheurem Werte in Ihrer Tasche befindet.«

»Da muß ich Ihnen widersprechen,« entgegnete Franz hitzig. »Ich besitze kein gestohlenes Eigentum. Und wenn Sie den Diamanten meinen, so wurde mir dieser vor einer Stunde von Fräulein Vandeleur in der Lepicstraße gegeben.«

»Von Fräulein Vandeleur in der Lepicstraße!« wiederholte der andere. »Sie spannen mich mehr, als Sie glauben. Bitte, fahren Sie fort!«

»Himmel!« rief Franz.

In seiner Erinnerung machte er plötzlich eine Entdeckung. Er hatte gesehen, wie Herr Vandeleur von der Brust seines betäubten Besuchers einen Gegenstand nahm, und dieser Gegenstand war, wie er jetzt überzeugt war, ein ledernes Futteral.

»Es geht Ihnen ein Licht auf?« sagte der Fremde forschend.

»Hören Sie mich an,« versetzte Franz. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich glaube, Sie sind vertrauenswert und hilfreich. Ich habe selbst den Grund unter den Füßen verloren, ich bedarf des Rates und Beistandes, und da Sie mich auffordern, so werde ich Ihnen alles erzählen.«

Und er berichtete mit kurzen Worten seine Erlebnisse von dem Tage an, da ihn die Advokaten von seinem Platz in der Bank zu sich riefen.

»Ihre Geschichte ist in Wahrheit merkwürdig,« sagte der Fremde, als der junge Mann zu Ende war, »und Ihre Lage ist schwierig und gefahrvoll. Mancher würde Ihnen den Rat erteilen, Ihren Vater aufzusuchen und ihm den Diamanten zu überreichen; doch meine Meinung ist anders.«

Hierauf ließ der Fremde den Wirt herbeiholen, der dem überraschten Franz mitteilen mußte, daß er die Ehre habe, mit Seiner Hoheit dem Prinzen Florisel von Böhmen zu sprechen.

»Und nun,« sagte der Prinz, nachdem er den Wirt mit gnädiger Handbewegung entlassen hatte, zu Franz gewendet, »geben Sie mir den Diamanten!«

Ohne ein Wort der Erwiderung überreichte ihm Franz das Etui.

»Sie haben recht getan,« sagte Florisel; »Ihr Gefühl hat Sie auf den rechten Pfad geführt, und Sie werden fernerhin Ursache haben, Ihr heutiges Mißgeschick zu preisen. Es mag einer, Herr Scrymgeour, in tausend Fährlichkeiten geraten, wenn aber sein Herz aufrichtig und sein Geist klar bleibt, so wird er aus allen mit fleckenloser Ehre hervorgehen. Beunruhigen Sie sich nicht länger, ich nehme Ihre Angelegenheit in meine Hand, und mit Gottes Hilfe bin ich stark genug, sie zu gutem Ende zu führen. Folgen Sie mir gefälligst zu meinem Wagen!«

Mit diesen Worten stand der Prinz auf und führte den jungen Mann vom Café ein Stück den Boulevard entlang bis zu einer Stelle, wo ein unscheinbarer Jagdwagen und ein paar Diener ohne Livree seiner harrten.

»Dieser Wagen,« sagte er, »steht zu Ihrer Verfügung; holen Sie Ihr Gepäck, worauf Sie meine Diener in ein Landhaus bei Paris bringen sollen, in dem Sie ein einigermaßen behagliches Unterkommen finden werden, bis ich Zeit gehabt habe, Ihre Angelegenheit in Ordnung zu bringen.«

Franz sprach in ein paar abgebrochenen Sätzen seinen Dank aus.

»Es wird Zeit sein, mir zu danken,« sagte der Prinz, »wenn Sie die Anerkennung Ihres Vaters und Fräulein Vandeleurs Hand gewonnen haben.«

Damit wandte sich der Prinz um und schlenderte behaglich dem Montmartre zu. Er rief die erste vorbeifahrende Droschke an, nannte eine Wohnung, und eine Stunde später klopfte er an Herrn Vandeleurs Gartentor.

Es wurde mit großer Vorsicht von dem Diktator persönlich geöffnet.

»Wer sind Sie?« fragte er.

»Sie müssen den späten Besuch entschuldigen, Herr Vandeleur,« erwiderte der Prinz.

»Eure Hoheit sind stets willkommen,« antwortete der Diktator, zurücktretend.

Der Prinz trat durch die geöffnete Türe, schritt, ohne auf seinen Wirt zu warten, vorwärts ins Haus und öffnete die Tür des Empfangszimmers. Dort saßen zwei Personen; die eine war Fräulein Vandeleur, mit verweinten Augen und von Zeit zu Zeit aufschluchzend, und in der andern erkannte der Prinz den jungen Wann, der ihn vor einiger Zeit im Klubhause wegen seiner Lektüre um Rat gefragt hatte.

»Guten Abend, Fräulein Vandeleur,« sagte Florisel. »Sie sehen müde aus. Herr Rolles, glaube ich? Ich hoffe, Sie haben Gaboriaus Werke mit Nutzen gelesen.«

Doch der junge Geistliche befand sich in einer zu üblen Gemütsstimmung, um Zu antworten; er verbeugte sich steif und fuhr fort an seiner Lippe zu nagen.

»Welchem guten Winde,« sagte Herr Vandeleur, der seinem Gaste gefolgt war, »habe ich die Ehre, die Anwesenheit Eurer Hoheit zu verdanken?«

»Ich komme,« antwortete der Prinz, »wegen eines Geschäftes, das ich mit Ihnen abzumachen habe; ist dies getan, so werde ich Herrn Rolles bitten, mich auf einem Spaziergange zu begleiten. Sie empfangen mich, Vandeleur,« fuhr der Prinz mit großem Ernste fort, »mit einem Lächeln, während doch Ihre Hände, wie Sie wissen, noch von ruchloser Tat befleckt sind. Ich wünsche nicht, daß man mich unterbricht,« fügte er gebieterisch hinzu. »Ich bin hier, um zu reden, nicht, um zu hören; und ich muß Sie bitten, mich nach Gebühr anzuhören und pünktlich Gehorsam zu leisten. Sobald als irgend tunlich soll Ihre Tochter in der Gesandtschaft mit meinem Freunde Franz Scrymgeour, dem anerkannten Sohne Ihres Bruders, vermählt werden. Sie werden mich verbinden, wenn Sie ihr nicht unter zweihunderttausend Mark mitgeben. Was Ihre eigene Person anlangt, so will ich Sie in einer bedeutenden diplomatischen Mission nach Siam senden, die Ihren Fähigkeiten entsprechen wird. Und nun werden Sie mir mit zwei Worten Antwort geben, ob Sie auf diese Bedingungen eingehen oder nicht.«

»Geht’s nicht anders,« erwiderte der alte Mann zähnekirschend, »so unterwerfe ich mich; aber, ich sage es Ihnen unverhohlen, ohne Kampf wird’s nicht abgehen.«

»Sie sind alt,« sagte der Prinz; »aber das Alter gereicht den Schändlichen nicht zur Ehre, und das Ihrige birgt weniger Weisheit als die Jugend anderer. Reizen Sie mich nicht, oder Sie möchten mich härter finden, als Sie sich träumen lassen. Es ist zum erstenmal, daß ich Ihren Pfad im Zorn kreuze; sorgen Sie, daß es auch das letztemal sei.«

Mit diesen Worten gab Florisel dem Geistlichen ein Zeichen, ihm zu folgen, verließ das Zimmer, schritt auf das Gartentor zu, und der Diktator, der hinter ihnen mit einem Lichte herging, öffnete die sorglich verschlossene Tür.

Ehe er zur Straße hinausschritt, wandte sich der Prinz um und sagte ernst zu Vandeleur: »Lassen Sie sich sagen, daß ich Ihre Drohungen wohl verstehe, und Sie brauchen nur die Hand aufzuheben, um sofort unheilbares Verderben über sich zu beschwören.«

Der Diktator erwiderte kein Wort. Als aber der Prinz ihm beim Scheine der Lampe den Rücken zukehrte, machte er gegen ihn, voll wahnsinniger Wut, eine drohende Bewegung, und im nächsten Augenblick schlüpfte er um die Ecke und rannte aus Leibeskräften dem nächsten Droschkenstand zu.

Prinz Florisel ging mit Herrn Rolles zu der Tür eines kleinen Gasthauses, in dem der Gottesmann Wohnung genommen hatte. Sie unterhielten sich lebhaft, und Rolles wurde von den Vorwürfen, die ihm der Prinz so ernst und doch zugleich so liebevoll machte, zu Tränen gerührt.

»Ich habe selbst mein Leben zugrunde gerichtet,« sagte er schließlich. »Helfen Sie mir! Sagen Sie mir, was ich tun soll, denn, ach, ich besitze weder die Tugenden eines Priesters noch die Gewandtheit eines Verbrechers.«

»Jetzt,« sagte der Prinz, »da die Demut in Ihr Herz gezogen ist, hört mein Eingreifen auf; die Reuevollen haben es mit Gott und nicht mit Fürsten zu tun. Darf ich Ihnen aber einen Rat geben, so gehen Sie als Kolonist nach Australien, suchen Sie körperliche Beschäftigung in frischer Luft und vergessen Sie möglichst, daß Sie je ein Geistlicher gewesen oder je Ihre Augen auf den fluchbeladenen Stein geworfen haben.«

»Ja, in Wahrheit, fluchbeladen!« versetzte Herr Rolles. »Wo ist er jetzt? Welches Verderben wird er noch weiter über die Menschen bringen?«

»Er soll kein Unheil mehr anrichten,« erwiderte der Prinz. »Er ist hier in meiner Tasche. Und diese Mitteilung zeigt Ihnen,« fügte er freundlich hinzu, »daß ich einiges Zutrauen zu Ihrer zwar noch sehr jungen Reue habe.«

»Lassen Sie mich Ihre Hand drücken,« bat Herr Rolles.

»Nein,« versetzte Fürst Florisel, »noch nicht.«

Der Ton, in dem er diese letzten Worte sprach, erweckte im Herzen des jungen Geistlichen ein freundliches Echo, und nachdem sich der Prinz weggewandt hatte, stand Rolles noch ein paar Minuten lang auf der Schwelle, indem er mit seinen Augen der verschwundenen Gestalt folgte und des Himmels Segen auf einen so trefflichen Berater herabflehte.

Mehrere Stunden durchschritt der Prinz die einsamen Straßen. Sein Geist war in Erregung. Was sollte er mit dem Diamanten tun? Sollte er ihn seinem Eigentümer zustellen, der ihm eines so seltenen Besitzes unwürdig schien, oder sollte er ihn ohne jede Rücksicht ein für allemal aus dem Bereich der Menschen entfernen? Diese schwierige Frage ließ sich nicht im Augenblick entscheiden. Die Art, wie das Geschmeide in seine Hände gekommen war, schien ihm offenbar ein Werk der Vorsehung zu sein, und als er das Juwel herausnahm, beim Scheine der Straßenlampe betrachtete und seine Größe und seinen wunderbaren Glanz sah, verstärkte sich in ihm nur noch mehr die Meinung von der verhängnisvollen und gefährlichen Wirkung des Edelsteins.

Gott steh mir bei! dachte er; wenn ich noch viel öfter darauf sehe, so wird schließlich auch in mir die Gier danach erweckt.

Zuletzt wandte er, obwohl noch immer unentschlossen, seine Schritte zu einem kleinen, aber prächtigen Gebäude am Steinufer, das seit Jahrhunderten das Eigentum seiner königlichen Familie gewesen war.

Als er sich der hinteren Tür näherte, trat ihm aus dem Schatten des Hauses ein Mann entgegen und sprach mit tiefer Verbeugung:

»Ich habe die Ehre, den Prinzen Florisel von Böhmen zu sprechen?«

»Das ist mein Titel,« lautete die Antwort. »Was wollen Sie?«

»Ich bin,« sagte der Mann, »Geheimpolizist und habe Eurer Hoheit dieses Schreiben vom Polizeipräfekten zu überreichen.«

Der Prinz nahm den Brief und überflog ihn beim Scheine der Straßenlaterne. Er war in den höchsten Wendungen abgefaßt, sprach aber das Ersuchen aus, dem Träger sofort auf die Präfektur zu folgen.

»Kurz,« sagte Florisel, »ich bin verhaftet.«

»Eure Hoheit,« versetzte der Beamte, »seien Sie überzeugt, nichts liegt dem Präfekten ferner. Sie sehen, er hat keinen Verhaftsbefehl ausgestellt. Es handelt sich um eine bloße Förmlichkeit oder, wenn Sie lieber wollen, um eine Gefälligkeit, die Eure Hoheit den Behörden zu erweisen gebeten werden.«

»Wenn ich es nun aber ablehne, Ihnen zu folgen?«

»Ich will Eurer Hoheit nicht verhehlen,« erwiderte der Beamte auf diese Frage mit einer Verbeugung, »daß mir in weitem Spielraum Vollmacht verliehen ist.«

»Auf mein Wort,« rief Florisel, »Ihre Dreistigkeit nimmt mich wunder. Ihnen, der nur ein Werkzeug ist, muß ich verzeihen, aber Ihre Vorgesetzten sollen für ihren Mißgriff schwer büßen. Haben Sie eine Ahnung davon, was die Veranlassung zu diesem verfassungswidrigen und unpolitischen Vorgehen gegeben hat? Beachten Sie wohl, daß ich bisher weder eingewilligt noch abgelehnt habe, und es wird viel von Ihrer sofortigen und befriedigenden Antwort abhängen. Vergessen Sie nicht, daß es sich hierbei um eine ernste Sache handelt.«

»Eure Hoheit,« sagte der Polizist ehrerbietig, »General Vandeleur und sein Bruder haben die unglaubliche Anmaßung gehabt, Sie des Diebstahls zu bezichtigen. Der berühmte Diamant, sagen sie, sei in Ihren Händen. Ein einziges Wort Ihrerseits wird dem Präfekten vollauf Genüge leisten; ja, ich gehe noch einen Schritt weiter. Wenn Eure Hoheit einem Subalternen die Ehre antun wollen, mir gegenüber zu erklären, daß Ihnen von der Sache nichts bekannt sei, so würde ich sofort um die Erlaubnis bitten, mich wieder zurückziehen zu dürfen!«

Sobald er Vandeleurs Namen hörte, ward sich der Prinz der ganzen Unannehmlichkeit und Gefahr seiner Lage bewußt. Er war nicht nur verhaftet, er war auch schuldig. Was sollte er sagen? Was sollte er tun? Der Diamant des Rajahs war in der Tat ein fluchbeladener Stein, und es schien, als sollte er selbst sein letztes Opfer sein.

Eins stand fest. Er konnte dem Beamten die gewünschte Versicherung nicht geben. Er mußte Zeit gewinnen.

Sein Zögern hatte keine Sekunde gedauert.

»Sei es denn,« sagte er, »wir wollen zur Präfektur gehen.«

»Wir sind jetzt,« sagte Florisel nach einigen Schritten, »mitten auf der Brücke. Lehnen Sie sich auf die Brüstung und schauen Sie hinüber. Wie das Wasser dort unten dahinrauscht, so spülen im Leben Leidenschaften und Verwicklungen die Ehre schwacher Menschen mit sich fort. Hören Sie eine Geschichte!«

»Wie Eure Hoheit befehlen!«

Und der Beamte lehnte sich, dem Beispiele des Prinzen folgend, gegen die Brüstung und lauschte der Erzählung.

Schon war die gewaltige Stadt in Schlummer gesunken, und ohne die zahllosen Lichter und die vom sternhellen Himmel sich abhebenden Umrisse der Gebäude hätten die beiden glauben können, sich an einem einsamen Flusse auf dem Lande zu befinden.

»Ein Offizier,« begann der Prinz seine Erzählung, »ein mutiger, tüchtiger Mann, der bereits einen hohen Rang erklommen und sich nicht nur Bewunderung, sondern auch Achtung erworben hatte, besichtigte in einer für seinen Seelenfrieden verhängnisvollen Stunde die Sammlungen eines indischen Fürsten. Hier erblickte er einen Diamanten von so außerordentlicher Größe und Schönheit, daß er von diesem Moment an nur noch einen Wunsch im Leben hatte: Ehre, Ruf, Freundschaft, Vaterlandsliebe, alles war er bereit, für dieses Stück funkelnden Kristalls zu opfern. Drei Jahre diente er dem halbbarbarischen Machthaber, wie Jakob dem Laban diente; er fälschte Grenzlinien, er ließ Mordtaten geschehen, er verurteilte ungerechterweise einen Kameraden zum Tode, der das Unglück hatte, durch freimütige Äußerungen das Mißfallen des Rajahs zu erregen, endlich verriet er zu einer Zeit, als sein Vaterland in großer Gefahr war, eine Abteilung englischer Soldaten, so daß ein paar tausend besiegt und hingeschlachtet wurden. Am Ende hatte er ein gewaltiges Vermögen zusammengescharrt und konnte auch den begehrten Diamanten mit in sein Heimatland nehmen.

Jahre vergingen,« fuhr der Prinz fort, »und schließlich geht der Edelstein verloren. Er fällt in die Hände eines einfachen, fleißigen Jünglings, eines Kandidaten der Theologie, der soeben eine Laufbahn antritt, die ihn zu nützlicher und bei seinen Gaben sicher hochbefriedigender Tätigkeit führen soll. Auch er gerät in den Zauberbann des Steines; er läßt alles im Stich, seinen heiligen Beruf, seine Studien und flieht mit dem Juwel in ein fremdes Land. Der Offizier hat einen Bruder, einen verschlagenen, verwegenen, vor keinem Mittel zurückschreckenden Mann, der das Geheimnis des Geistlichen erfährt. Was tut er? Sagt er’s dem Bruder, oder meldet er’s der Polizei? Nein, auch er ist dem teuflischen Reize verfallen, er muß den Stein selbst besitzen. Auf die Gefahr, einen Mord zu begehen, betäubt er den jungen Priester und bemächtigt sich der Beute. Und nun kommt das Juwel durch einen Zwischenfall, der für die Moral meiner Geschichte keine Bedeutung hat, in die Verwahrung eines andern Mannes, der das Kleinod, von seinem Anblick erschreckt, einem Wanne in hoher Stellung und von unantastbarer Ehre gibt.

Der Offizier heißt Thomas Vandeleur,« fuhr Florisel fort. »Der Edelstein ist der Diamant des Rajahs. Und« – plötzlich seine Hand öffnend – »hier sehen Sie ihn vor Ihren Augen.«

Der Beamte fuhr mit einem Aufschrei zurück.

»Für mich ist dieser Klumpen von leuchtendem Kristall,« fuhr der Prinz fort, »so ekelhaft, als wäre er von Leichenwürmern erfüllt; er entsetzt mich, als bestände er ganz aus unschuldig vergossenem Blute. Ich sehe ihn hier in meiner Hand, und ich weiß, es brennt in ihm ein höllisches Feuer. Ich habe Ihnen nur den hundertsten Teil seiner Geschichte erzählt; was sich in früheren Zeiten zutrug, zu welchen Verbrechen und Verrätereien er vormals die Menschen anreizte, das auszudenken sträubt sich die Einbildungskraft. Unendliche Jahre lang hat er den satanischen Wächten treu gedient. Es ist, sage ich, nun endlich genug des Blutes, genug der Schande, genug der zertretenen Leben und verratenen Freundschaften. Alles hat sein Ende, das Böse wie das Gute, die Pest so gut wie schöne Musik; und was den Diamanten betrifft, so vergebe mir Gott, wenn ich unrecht tue, aber seine Herrschaft endet in dieser Nacht.«

Der Prinz machte eine plötzliche Bewegung mit seiner Hand, und das Juwel, dessen Bahn ein Lichtbogen bezeichnete, tauchte platschend ins Wasser.

»Amen!« sagte Florisel ernst. »Ich habe einen Basilisken erschlagen.«

»Gott verzeih‘ mir!« rief der Geheimpolizist. »Was haben Sie getan? Ich bin verloren!«

»Ich glaube,« erwiderte der Prinz lächelnd, »viele wohlhabende Leute in dieser Stadt würden wünschen, ebenso verloren zu sein.«

»Ach, Eure Hoheit!« sagte der Beamte; »was tun Sie mit mir! Sie werden mich am Ende doch bestechen.«

»Es scheint weiter nichts übrigzubleiben,« entgegnete Florisel. »Und nun vorwärts zur Präfektur!«

Nicht lange darauf wurde die Hochzeit Franz Scrymgeours und des Fräuleins Vandeleur in aller Stille gefeiert, wobei der Prinz als Brautführer mitwirkte. Den beiden Vandeleurs kam ein Gerücht von dem Schicksal des Diamanten zu Ohren, und ihre großartigen, aber ganz ergebnislosen Tauchversuche in der Seine bereiteten den schaulustigen und erstaunten Parisern viel Vergnügen.

Der Selbstmordklub


Erstes Kapitel

Während seines Londoner Aufenthaltes gewann sich der hochgebildete Prinz Florisel von Böhmen durch seine bestechenden Umgangsformen wie durch seine wohlangebrachte Freigebigkeit die Zuneigung aller Klassen. Schon durch das, was man von ihm wußte – und das war nur ein kleiner Teil seiner wirklichen Taten –, war er eine durchaus bemerkenswerte Persönlichkeit. Für gewöhnlich ein Mann von gelassenem Temperament, der die Welt mit der Ruhe eines Philosophen betrachtete, empfand der Fürst doch auch manchmal Verlangen nach einem abenteuerlicheren und ungebundeneren Leben als das, wozu ihn seine Geburt bestimmt hatte. War seine Stimmung einmal nicht auf ihrer gewöhnlichen Höhe, versprach er sich keine Unterhaltung von dem Besuch eines Londoner Theaters und erlaubte die Jahreszeit keinen Sport, in dem er es allen zuvortat, so ließ er seinen Vertrauten und Oberstallmeister, den Obersten Geraldine, zu sich entbieten und trug ihm auf, die Vorbereitungen für einen abendlichen Ausflug zu treffen. Der Stallmeister war ein junger Offizier, mutig bis zur Verwegenheit. Der Auftrag erfüllte ihn mit Vergnügen, und eiligst machte er alles bereit. Infolge langer Übung und mannigfaltiger Lebenserfahrung hatte sich sein angeborenes schauspielerisches Talent noch mehr entwickelt, so daß er nicht nur in Gebärden und Haltung, sondern auch in der Stimme und fast auch in seinen Gedanken jede Gesellschaftsklasse, jeden Charakter und jede Nation darstellen konnte; dadurch lenkte er die Aufmerksamkeit von seinem fürstlichen Begleiter auf sich, und es gelang dem Paar, manchmal zu ganz absonderlichen Gesellschaften Zutritt zu erhalten. Von diesen geheimnisvollen Abenteuern drang nichts an die Öffentlichkeit. Die Unerschrockenheit des einen und die unermüdliche Erfindungsgabe und ritterliche Ergebenheit des andern hatten sie so manche Gefahr glücklich bestehen lassen, und so wurde auch ihr Selbstvertrauen immer größer.

Eines Märzabends trieb sie ein eisiger Regen in eine Austernschenke am Leicester Square. Oberst Geraldine hatte sich als heruntergekommenen Journalisten verkleidet, während sich der Prinz wie gewöhnlich durch einen falschen Backenbart und lang herabhängende Augenbrauen unkenntlich gemacht hatte. In dieser Vermummung vor jeder Entdeckung sicher, schlürften sie unbesorgt ihren Brandy mit Sodawasser.

Die Kneipe war voll von Gästen beiderlei Geschlechts; aber wenn sich auch mehr als einmal Gelegenheit zur Anknüpfung eines Gesprächs bot, schien doch in keinem Falle die nähere Bekanntschaft der Mühe wert zu sein. Nur der gewöhnliche Typus gemeiner Gesellschaft war vertreten. Der Prinz fing schon an zu gähnen, und es hatte den Anschein, als sollte diesmal der Streifzug ohne jede interessante Ausbeute verlaufen, als die Eingangstür heftig aufgestoßen wurde und ein junger Wann mit zwei Dienstmännern hinter sich hereinstürzte. Jeder Dienstmann trug eine große Schüssel, die sich mit Rahmtörtchen gefüllt zeigte. Der junge Mann wandte sich mit ausgesuchter Höflichkeit an jeden einzelnen Gast und lud ihn dringend ein, zuzugreifen. Manche taten es lachend, andere wiesen ihn ohne weiteres oder mit groben Worten zurück. In diesem Falle verspeiste der Ankömmling jedesmal mit einer mehr oder minder witzigen Bemerkung das Törtchen selbst.

Zuletzt wandte er sich an den Prinzen Florisel.

»Mein Herr,« sagte er mit einer tiefen Verbeugung und präsentierte dabei das Törtchen zwischen Daumen und Zeigefinger, »wollen Sie mir als einem ganz Unbekannten die Ehre geben? Ich stehe für die Güte des Gebäcks, da ich seit fünf Uhr selbst zwei Dutzend und drei Stück gegessen habe.«

»Ich pflege,« erwiderte der Prinz, »weniger auf die Gabe als auf den Geist, in dem sie gereicht wird, zu sehen.«

»Was diesen Geist anbetrifft,« entgegnete der junge Wann mit einer zweiten Verneigung, »so handelt es sich um einen Spaß.«

»Spaß?« wiederholte Florisel. »Wem soll der Spaß gelten?«

»Ich kann mich darüber hier nicht weiter auslassen, sondern habe nur diese Rahmtörtchen zu verteilen. Wenn ich erwähne, daß ich das Lächerliche in der Sache zum guten Teil auf meine Person nehme, so hoffe ich, Sie werden es nicht unter Ihrer Würde finden und sich herablassen. Sonst nötigen Sie mich, Nummer achtundzwanzig zu verzehren, und ich muß gestehen, ich habe schon gerade genug.«

»Sie rühren mein Herz,« sagte der Prinz, »und ich will Sie mit größtem Vergnügen aus diesem Dilemma retten, aber unter einer Bedingung. Wenn mein Freund und ich Ihre Kuchen, nach denen wir an und für sich gar kein Verlangen tragen, essen, so erwarten wir, daß Sie dafür an unserm Abendessen teilnehmen.«

Der junge Mann schien nachzudenken.

»Ich habe noch verschiedene Dutzend hier,« sagte er endlich; »und ich werde daher zur Vollendung meines großen Werkes noch verschiedene Wirtschaften besuchen müssen. Das wird ziemlich viel Zeit kosten, und wenn Sie hungrig sind …«

Der Prinz unterbrach ihn mit einer höflichen Handbewegung.

»Mein Freund und ich wollen Sie begleiten,« sagte er, »denn Ihre geniale Art, einen Abend zu verbringen, hat bereits in hohem Grade unser Interesse erweckt. Und nun lassen Sie mich, da wir über die Friedenspräliminarien einig sind, den Vertrag für beide unterzeichnen.«

Und dabei verschluckte der Prinz eins von den Törtchen.

»Sie sind ausgezeichnet,« bemerkte er.

»Ich sehe, Sie sind Kenner,« versetzte der junge Mann.

Oberst Geraldine erwies dem Gebäck die gleiche Ehre, und der junge Mann machte sich auf den Weg zu einer andern ähnlichen Wirtschaft. Hinter ihm gingen die beiden Dienstmänner, und der Fürst und Geraldine machten Arm in Arm und einander verstohlen zulächelnd den Beschluß. So besuchten sie noch zwei ähnliche Kneipen, in denen sich beim Rundgang des jungen Mannes die oben beschriebenen Szenen mit geringen Abweichungen wiederholten.

Als sie die dritte Wirtschaft verließen, zählte der junge Mann seinen Vorrat, es waren nur noch neun übrig.

»Meine Herren,« sagte er zu seinen neuen Begleitern gewendet, »ich will Sie nicht länger von Ihrem Abendessen trennen, sicher sind Sie hungrig. Ich bin Ihnen ein besonderes Opfer schuldig. Heute, an diesem für mich so bedeutungsvollen Tage, da ich eine tolle Laufbahn mit der größten Tollheit beschließen will, möchte ich mir niemand gegenüber etwas zuschulden kommen lassen. Meine Herren, Sie sollen nicht länger warten. Mit Gefahr des Lebens ziehe ich die Bilanz.«

Und mit diesen Worten stopfte er die neun Törtchen in den Mund und schluckte heroisch eins nach dem andern hinunter. Dann reichte er jedem Dienstmann ein paar Goldstücke, sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre außerordentliche Geduld,« und entließ sie mit einer Verbeugung.

Hierauf warf er noch einen Blick auf die Börse, aus der er die Goldstücke genommen hatte, schleuderte sie lachend mitten auf die Straße und erklärte sich zum Abendessen bereit.

Die drei Genossen traten in ein unweit gelegenes kleines französisches Speisehaus besserer Klasse und nahmen in einem Sonderzimmer des zweiten Stockes ein vorzügliches Mahl ein, das sie mit drei oder vier Flaschen Champagner und einem lebhaften Gespräch über alle möglichen Gegenstände würzten. Der junge Mann zeigte sich gewandt und heiter, aber sein Lachen war für einen wohlerzogenen Menschen überlaut, seine Hände zitterten heftig, und seine Stimme nahm oft unwillkürlich einen ganz sonderbaren Klang an. Der Nachtisch war abgetragen, und alle drei hatten ihre Zigarren angezündet, als sich der Prinz mit folgenden Worten an den jungen Mann wandte:

»Sie werden sicher meine Neugier entschuldigen. Was ich von Ihnen gesehen habe, hat meinen Beifall gefunden, aber noch mehr mein Erstaunen erregt. Und obwohl mir jede Indiskretion verhaßt ist, muß ich Ihnen doch bemerken, daß bei meinem Freunde und mir jedes Geheimnis wohl bewahrt ist. Und wenn die Geschichte, die Sie zu erzählen haben, wie ich voraussetze, manche Dummheit enthält, so brauchen Sie sich deshalb vor uns, die wir schon das tollste Zeug in England ausgeführt haben, keinen Zwang anzutun. Mein Name ist Godall, Theophilus Godall; mein Freund ist der Major Hammersmith, oder dies ist wenigstens der Name, den er sich beilegt. Wir sind auf der Suche nach Abenteuern, und das Ungewöhnlichste erregt unser Interesse am meisten.«

»Sie gefallen mir, Herr Godall,« erwiderte der junge Mann; »ich fühle von vornherein Vertrauen zu Ihnen; und ich habe nicht das geringste gegen ihren Freund, den Major, den ich für einen verkleideten Edelmann halte. Wenigstens ist er sicher kein Soldat.«

Der Oberst lächelte zu diesem Kompliment, und der junge Mann fuhr lebhafter fort:

»Ich habe allen Grund, meine Geschichte nicht zu erzählen. Aber vielleicht tue ich es gerade deshalb. Wenigstens scheint es mir, daß Sie so gut vorbereitet sind, alle meine Dummheiten anzuhören, daß ich es nicht übers Herz bringe, Sie zu enttäuschen. Meinen Namen will ich trotz Ihres Beispiels für mich behalten. Mein Alter tut nichts zur Sache. Ich stamme wie alle Menschen von meinen Eltern her und ererbte von ihnen das körperliche Gehäuse, das ich noch bewohne, und ein jährliches Einkommen von dreihundert Pfund. Vermutlich verdanke ich ihnen auch meine tollen Neigungen, denen nachzugeben mein größtes Vergnügen war. Ich erhielt eine gute Erziehung. Beinahe kann ich so perfekt Violine spielen, daß ich als Mitglied einer wandernden Musikantentruppe Geld verdienen könnte. Dasselbe gilt von meiner Kunst auf der Flöte und dem Waldhorn. Whist verstehe ich so gut, daß ich etwa hundert Pfund jährlich verspiele. Französisch habe ich so weit gelernt, daß ich mein Geld in Paris fast ebenso bequem loswurde als in London. Kurz, ich bin eine sehr vielseitig ausgebildete Persönlichkeit. Kein Abenteuer ist mir fremd geblieben, darunter auch ein Duell um nichts. Erst vor zwei Monaten traf ich eine junge Dame, die an Geist und Körper meinem Geschmacke völlig entsprach; ich fühlte mein Herz schmelzen; ich sah, daß sich endlich mein Geschick erfüllen sollte, und war drauf und dran, mich zu verlieben. Als ich aber berechnete, was mir noch von meinem Kapital geblieben war, fand ich, daß sich mein ganzer Besitz auf etwas weniger als vierhundert Pfund belief! Ich frage Sie – kann sich ein Mann, der Selbstachtung besitzt, mit vierhundert Pfund verlieben? Nach meiner Meinung ist das unmöglich. Ich ließ alle Liebeshoffnung fallen, beschleunigte mein Tempo im Geldausgeben und war heute morgen bei den letzten achtzig Pfund angelangt. Diese teilte ich in zwei Teile, vierzig sollen einem besondern Zwecke dienen, die andern vierzig vergeudete ich im Laufe des Tages. Ich habe die Stunden vergnüglich zugebracht und manchen Spaß losgelassen vor dem mit den Rahmtörtchen, der mir Ihre werte Bekanntschaft verschaffte; denn ich wollte, wie gesagt, einen tollen Lebenslauf zu einem tollen Ende bringen, und als Sie mich meine Börse auf die Straße werfen sahen, waren die vierzig Pfund durchgebracht. Nun kennen Sie mich so gut, wie ich mich selbst kenne: ein Narr, aber ausdauernd in seiner Narrheit, und glauben Sie mir, weder ein Renommist noch ein Feigling.«

Aus dem ganzen Tone seiner Worte klang offenbar das Gefühl der Bitterkeit und Selbstverachtung heraus. Seinen Zuhörern kam es vor, als wäre ihm das Liebesverhältnis näher gegangen, als er zugeben wollte, und als hätte er es auf sein eigenes Leben abgesehen. Der Spaß mit den Rahmtörtchen bekam einen sehr tragischen Beigeschmack.

»Ist das nicht seltsam,« brach Geraldine nach einem Seitenblick auf den Prinzen Florisel das Stillschweigen, »daß wir drei uns in der ungeheuren Londoner Wüste aus bloßem Zufall getroffen haben sollten und dabei fast in der gleichen Lage sind?«

»Was?« schrie der junge Mann. »Sind Sie auch ruiniert? Ist es mit diesem Souper ähnlich wie mit meinen Rahmtörtchen? Hat der Teufel drei ihm Verfallene zum letzten Schmaus zusammengeführt?«

»Der Teufel,« erwiderte Prinz Florisel, »leistet sich manchmal dergleichen, und das Zusammentreffen ist für mich so ergreifend, daß ich hiermit den kleinen Unterschied in unserer Lage ausgleiche. Lassen Sie mich dem heroischen Beispiele, das Sie mit den letzten Rahmtörtchen gegeben, folgen!«

Mit diesen Worten zog der Fürst sein Taschenbuch hervor und entnahm ihm ein kleines Bündel Banknoten.

»Sie sehen,« fuhr er fort, »ich war gegen Sie etwa um eine Woche zurück, aber ich will Sie einholen und Hals über Kopf mit Ihnen am Ziele anlangen. Das« – dabei legte er eine Banknote auf den Tisch – »wird für die Rechnung genügen. Und da ist der Rest.«

Damit warf er die Papiere ins Feuer, und sie gingen mit einem einzigen Aufflackern der Flamme den Schornstein hinauf.

Der junge Mann wollte ihm in den Arm fallen, kam aber, da der Tisch zwischen ihnen war, zu spät.

»Unglücklicher,« rief er, »Sie hätten nicht alle verbrennen sollen. Sie sollten vierzig Pfund behalten!«

»Vierzig Pfund?« wiederholte der Fürst. »Wozu denn in des Himmels Namen vierzig Pfund?«

»Warum nicht achtzig?« schrie der Oberst. »Denn ich weiß gewiß, daß das Päckchen hundert Pfund enthielt!«

»Nur vierzig Pfund waren nötig,« sagte der junge Mann düster. »Aber ohne sie ist kein Einlaß. Die Vorschrift ist unerläßlich. Jeder vierzig Pfund. Verfluchtes Leben, wenn man nicht einmal ohne Geld sterben kann!«

Der Prinz und der Oberst tauschten Blicke des Einverständnisses.

»Erklären Sie sich deutlicher,« sagte der letztere. »Mein Portemonnaie ist noch ziemlich gut versehen, und ich brauche nicht zu bemerken, wie gern ich mit Godall teile. Aber ich muß wissen, wozu, und Sie müssen Ihre Worte besser erklären.«

Der junge Mann schien aufzuwachen; seine Blicke wanderten unsicher von einem zum anderen, und eine tiefe Röte übergoß sein Gesicht.

»Haben Sie mich nicht zum besten?« fragte er. »Sie sind wirklich verlorene Leute wie ich?«

»Ich bin es in der Tat,« versetzte der Oberst.

»Und ich,« sagte der Prinz, »habe Ihnen den Beweis geliefert. Nur ein verlorener Mann wird sein Geld ins Feuer werfen. Ist diese Tat nicht sprechend genug?«

»Ein verlorener Mann – ja,« entgegnete argwöhnisch der andere, »oder auch ein Millionär!«

»Genug, mein Herr,« sagte der Prinz: »ich habe es gesagt, und ich bin nicht gewohnt, daß man meine Worte in Zweifel zieht.«

»Ruiniert?« rief der junge Mann. »Sie sind ruiniert wie ich? Bleibt Ihnen nach einem zügellosen Leben« – hier senkte sich seine Stimme – »nur noch eine Zügellosigkeit übrig? Wollen Sie den Folgen Ihrer Torheit auf dem einzigen sichern und bequemen Weg entgehen?«

Plötzlich brach er ab und versuchte zu lachen.

»Auf Euer Wohl!« rief er und leerte sein Glas, »und nun gute Nacht, Ihr lustigen ruinierten Männer!«

Als er sich erheben wollte, faßte ihn Oberst Geraldine am Arm.

»Sie haben kein Vertrauen zu uns, und das ist nicht recht. Auf alle Ihre Fragen antworte ich: Ja. Aber ich bin nicht so furchtsam und rede eine ungeschminkte Sprache. Auch wir haben vom Leben genug und sind entschlossen zu sterben. Früher oder später wollten wir vereint oder allein ohne Furcht den Tod suchen. Da wir Sie getroffen haben und bei Ihnen der Fall dringender liegt, so lassen Sie uns diese Nacht oder sofort und, wenn es Ihnen recht ist, alle drei zusammen den Schritt tun. Solch ein Bettlertrio,« rief er, »sollte Arm in Arm in Plutos Hallen treten und auch unter den Schatten zusammenhalten!«

Geraldines Bewegungen und Ausdruck waren seiner Rolle so angemessen, daß sich der Prinz selbst im ersten Augenblick beunruhigt fühlte und seinem Vertrauten einen Blick des Zweifels zuwarf. Das Gesicht des jungen Mannes aber überflog wieder eine tiefe Röte, und ein Lichtstrahl drang aus seinen Augen.

»Ihr seid meine Leute!« rief er mit einer fast schrecklichen Fröhlichkeit. »Geben Sie mir Ihre Hand darauf!« (Seine Hand war kalt und feucht.) »Sie haben keine Ahnung, in was für eine Gesellschaft Sie eintreten sollen! Sie haben keine Ahnung, welcher günstige Zufall Sie an meinen Rahmtörtchen teilnehmen ließ! Ich bin nur ein einzelner, aber ich gehöre zu einem ganzen Heer. Ich kenne den Privatzutritt zum Tode. Ich gehöre zu seinen Vertrauten und kann Ihnen einen Weg weisen, der ohne Zeremonie und doch ohne Skandal in die Ewigkeit führt.«

Sie drangen lebhaft in ihn, sich deutlicher auszulassen.

»Verfügen Sie über 80 Pfund zusammen?« fragte er.

Geraldine öffnete sein Taschenbuch und erwiderte: »Ja.« »Sie Glückliche!« rief der junge Mann. »40 Pfund kostet der Eintritt in den Selbstmordklub.«

»Der Selbstmordklub?« fragte der Prinz, »was zum Teufel ist das?«

»Hören Sie,« sagte der junge Mann; »wir leben in einem Zeitalter, in dem den Menschen alles bequem gemacht wird, und ich habe Ihnen von dem Modernsten in dieser Richtung Mitteilung zu machen. Wir haben bald hier, bald da zu tun, so wurden die Eisenbahnen erfunden. Aber noch blieben wir von unsern Freunden getrennt, so ersann man zu blitzschnellem Gedankenaustausch die Telegraphen. Aufzüge ersparen uns das Treppensteigen. Nun wissen wir, das Leben ist nur eine Bühne, auf der wir den Narren spielen, solange uns die Rolle gefällt. Es fehlte dem modernen Komfort nur noch an einer Bequemlichkeit, nämlich die Möglichkeit, die Bühne dezent und ohne Schwierigkeit zu verlassen, eine Hintertreppe zur Freiheit oder, wie ich eben sagte, ein Privatzutritt zum Tode. In diese Lücke, meine Todesbrüder, tritt der Selbstmordklub. Glauben Sie ja nicht, daß Sie und ich mit unserem sehr natürlichen Verlangen allein stehen oder eine seltene Ausnahme bilden. Sehr viele Kameraden, die des täglich sich wiederholenden Einerleis herzlich überdrüssig sind, lassen sich nur durch diese oder jene Erwägung zurückhalten. Manche haben Familien, denen sie die Aufregung und, wenn die Sache an die Öffentlichkeit käme, die Schande ersparen möchten; andere sind zu weichmütig und können über die unumgänglichen Handgriffe nicht hinauskommen. Das ist in gewissem Maße auch mein Fall. Ich kann mir das Pistol nicht an den Kopf setzen und den Drücker bewegen; etwas, das stärker ist als mein Wille, hält mich zurück; und obwohl mich das Leben anekelt, habe ich doch nicht die Kraft in mir, mir den Tod zu geben. Für solche Leute und alle, denen der Gedanke an einen postumen Skandal ein Greuel ist, hat sich der Selbstmordklub gebildet. Aber seine genaue Entstehung und Entwicklung wie über etwaige Zweigvereine in andern Ländern weiß ich selbst nichts, und über seine Organisation Mitteilung zu machen, ist mir nicht gestattet. Doch so weit stehe ich Ihnen zu Diensten, daß ich Sie, wenn Sie wirklich lebensmüde sind, heute zu einer Sitzung einführe; und wenn nicht heute, so werden Sie doch im Laufe der Woche von der Bürde Ihrer Existenz erlöst werden. Es ist jetzt elf Uhr, spätestens um halb zwölf Uhr müssen wir aufbrechen, so daß Sie noch eine halbe Stunde haben, um meinen Vorschlag zu überlegen. Es handelt sich um etwas Ernstlicheres,« fügte er lächelnd hinzu, »als meine Rahmtörtchen und, denke ich, auch etwas Schmackhafteres.«

»Ernstlicher ist es zweifellos,« versetzte Oberst Geraldine, »wollen Sie mir daher fünf Minuten gönnen, um die Sache privatim mit meinem Freunde besprechen zu können?«

»Das ist nicht mehr als billig,« antwortete der junge Mann. »Wenn Sie erlauben, ziehe ich mich zurück.«

»Sehr verbunden,« sagte der Oberst.

Kaum waren sie beide allein, so sagte Prinz Florisel: »Wozu diese Besprechung, Geraldine? Ich sehe, Sie sind aufgeregt; ich bin völlig ruhig und entschlossen. Ich will der Sache auf den Grund sehen.«

»Eure Hoheit,« sagte der Oberst erbleichend, »lasse mich die Bitte aussprechen, zu erwägen, welche Bedeutung Ihr Leben nicht nur für Ihre Freunde, sondern auch für die Allgemeinheit hat. Wenn nicht heute nacht – sagte dieser Tollhäusler; aber gesetzt, es träfe die Person Eurer Hoheit heute ein nicht wieder gut zu machendes Unheil, wie sollte ich meiner Verzweiflung steuern, wie groß wäre der Schade und die Trauer eines großen Volkes?«

»Ich will der Sache auf den Grund sehen,« wiederholte der Prinz in ruhigstem Tone, »und vergessen Sie, Oberst Geraldine, nicht Ihr Ehrenwort als Edelmann. Unter keinen Umständen dürfen Sie, es sei denn mit meiner ausdrücklichen Genehmigung, mein Inkognito enthüllen. Und nun schellen Sie, bitte, dem Kellner!«

Oberst Geraldine verneigte sich, aber sein Gesicht war sehr bleich, als er nach der Zeche fragte und den jungen Mann wieder hereinholte. Der Prinz zeigte sich unverändert und erzählte dem jungen Selbstmörder mit humoristischen Worten von einer neuen Theaterposse. Er wich den beredten Blicken des Obersten ungezwungen aus und verwandte auf die Auswahl einer neuen Zigarre noch mehr Sorgfalt als gewöhnlich. Er war in der Tat unter den drei Männern der einzige, der seine Nerven völlig in der Gewalt hatte.

Nachdem der Prinz die Rechnung bezahlt und dem erstaunten Kellner den Rest der Banknote gelassen hatte, bestiegen sie eine Droschke, die nach kurzer Fahrt am Eingange eines ziemlich dunklen Hofes hielt. Kaum waren sie hier ausgestiegen, so wandte sich der junge Mann an den Prinzen mit den Worten:

»Noch ist es Zeit, Herr Godall, und auch für Sie, Major Hammersmith; sagen Ihre Herzen nein, so hüten Sie sich, einen Schritt weiter zu gehen; hier scheiden sich die Wege.«

»Vorwärts,« sagte der Prinz. »Ich bin nicht der Mann, der von dem einmal gefaßten Entschluß absteht.«

»Ihre Ruhe gefällt mir,« erwiderte der junge Führer. »Noch keinen habe ich in dieser Lage so unerschüttert gesehen, und Sie sind nicht die ersten, die ich hierher begleite. Mehr als einer von meinen Freunden ist mir vorausgegangen, während ich wußte, daß ich bald an die Reihe käme. Doch das ist für Sie ohne Interesse. Warten Sie einige Augenblicke; ich bin wieder hier, sobald ich das Nötige betreffs Ihrer Zulassung verabredet habe.«

Damit schritt er in den Hof und verschwand durch eine Tür.

»Von allen Ihren Streichen,« sagte der Oberst Geraldine mit leiser Stimme, »ist das der wildeste und gefährlichste.«

»Das ist durchaus meine Meinung,« versetzte der Prinz. »Es ist uns,« fuhr der Oberst fort, »noch ein Moment gelassen. Lassen mich Eure Hoheit flehentlich bitten, die Gelegenheit wahrzunehmen und sich zurückzuziehen. Die Folgen dieses Schrittes liegen so sehr im Dunklen und können so ernst sein, daß ich entschuldigt zu sein glaube, wenn ich die Freiheit, die mir Eure Hoheit im Privatumgang gestattet, so weit treibe.«

»Soll das heißen, daß Oberst Geraldine Furcht hat?« fragte der Prinz, indem er den andern durchdringend anblickte.

»Meine Furcht gilt sicher nicht meiner eigenen Person,« erwiderte Geraldine mit Stolz; »davon kann Eure Hoheit überzeugt sein.«

»Das hatte ich erwartet,« entgegnete der Prinz, »aber ich wollte Sie nicht gern an den Unterschied unserer Stellung erinnern. Nichts weiter,« fügte er hinzu, als er sah, daß Geraldine sich entschuldigen wollte. »Sie sind entschuldigt.«

Und er rauchte, an ein Gitter gelehnt, gleichmütig seine Zigarre, bis der junge Mann zurückkehrte.

»Nun,« fragte er, »will man uns aufnehmen?«

»Folgen Sie,« war die Antwort. »Der Präsident will Sie sprechen. Und achten Sie meine Warnung und antworten ihm offen. Ich habe für Sie gutgesagt, aber vor der Zulassung werden Sie einem Verhör unterworfen; denn die Indiskretion eines einzelnen Mitgliedes würde die gänzliche Auflösung des Klubs zur Folge haben.«

Der Prinz und Geraldine steckten einen Augenblick die Köpfe zusammen. »Ich stelle … vor,« sagte der eine, und »ich …« sagte der andere, und indem sie die Rollen von Bekannten übernahmen, hatten sie sich im Moment verständigt und waren bereit, ihrem Führer in das Präsidentenzimmer zu folgen. Besondere Schrecknisse waren beim Weitergehen nicht zu bestehen. Die äußere Tür stand offen, die Tür zum Präsidentenzimmer war nur angelehnt, und hier, in einem kleinen, aber sehr hohen Zimmer, ließ sie der junge Mann allein, indem er äußerte: »Er wird sofort hier sein.« Durch die Rolltüre, die das Zimmer auf einer Seite abschloß, hörte man Stimmen, von Zeit zu Zeit ward das Geräusch der Unterhaltung vom Knallen der Champagnerpfropfen und lautem Gelächter unterbrochen. Ein einziges hohes Fenster schaute nach der Themse hin, und aus der Verteilung der Lichter zogen sie den Schluß, daß sie nicht fern von Charing Croß wären. Die Ausstattung des Zimmers war dürftig, die Möbel alt, die Überzüge abgeschabt; sonst befand sich nichts im Zimmer außer einer Handglocke auf dem runden Tisch in der Mitte und einer ziemlichen Anzahl von Hüten und Überröcken, die überall an den Wänden hingen.

»In was für einer Höhle befinden wir uns?« sagte Geraldine.

»Das werden wir bald sehen,« versetzte der Prinz. »Ich denke, die Sache kann unterhaltend werden.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Rolltüre so weit, daß eben ein menschlicher Körper durchschlüpfen konnte; ein lauteres Stimmengewirr drang in den Raum, und es trat herein der Präsident des Selbstmordklubs. Er war ein Mann von mindestens fünfzig Jahren, hochgewachsen, mit unsicherem Tritt, langem Backenbart, einem Kahlkopf und matten grauen Augen, aus denen von Zeit zu Zeit ein Blitz hervorbrach. Seinen Mund, in dem eine große Zigarre steckte, verzog er beständig in eigentümlicher Weise, während er die Fremden mit scharfen und kühlen Blicken maß. Seine Kleidung war aus leichtem Wollenzeug, sein Hals steckte in einem weiten, gestreiften Hemdkragen, unter einem Arm trug er ein kleines Buch.

»Guten Abend,« sagte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, »man sagt mir, Sie wünschen mich zu sprechen.«

»Wir wünschen in den Selbstmordklub einzutreten,« versetzte der Oberst.

Der Präsident rollte, statt zu antworten, seine Zigarre im Munde herum.

»Was ist das?« sagte er plötzlich.

»Entschuldigen Sie,« entgegnete der Oberst, »aber ich glaube, Sie können darüber am besten Auskunft geben.«

»Ich?« rief der Präsident. »Ein Selbstmordklub? Das ist ein Aprilscherz. Beim Wein lasse ich mir solchen Spaß gefallen, – aber was soll das hier?«

»Nennen Sie Ihren Klub, wie Sie wollen,« sagte der Oberst, »Sie haben da Gesellschaft hinter der Türe, und wir wollen uns ihr anschließen.«

»Sie sind im Irrtum,« erwiderte der Präsident kurz. »Dies ist ein Privathaus, das Sie sofort zu verlassen haben.«

Der Prinz war während dieser kurzen Unterhaltung ganz ruhig auf seinem Stuhle sitzengeblieben; als ihn nun aber der Oberst anblickte, als wenn er sagen wollte: »Laß dir das gesagt sein, und laß uns um Gottes willen gehen«, nahm er seine Havanna aus dem Munde und sagte:

»Ich bin auf die Einladung eines Ihrer Freunde hergekommen. Er hat Ihnen zweifellos von meiner Absicht, mich Ihrer Gesellschaft anzuschließen, Mitteilung gemacht. Vergessen Sie nicht, daß eine Person in meiner Lage wenig Rücksichten kennt und nicht gewillt ist, sich so behandeln zu lassen. Ich bin für gewöhnlich ein sehr ruhiger Mann, aber, mein werter Herr, Sie werden entweder meinen kleinen Wunsch erfüllen oder es bitter bereuen, mich jemals in Ihr Vorzimmer gelassen zu haben.«

Der Präsident lachte laut.

»So muß man reden,« sagte er. »Sie sind ein ganzer Mann. Sie kennen den Weg zu meinem Herzen und können mit mir nach Belieben schalten. Wollen Sie,« wandte er sich an Geraldine, »wollen Sie auf ein paar Minuten beiseite treten? Ich will zunächst mit Ihrem Genossen ins reine kommen, und die Klubgesetze schreiben eine Einzelprüfung vor.«

Damit öffnete er die Tür zu einem kleinen Seitengemach, das er hinter Geraldine abschloß.

»Ich vertraue Ihnen,« sagte er zu Florisel, sobald sie allein waren, »aber sind Sie Ihres Freundes ganz sicher?«

»Nicht in dem Maße wie meiner selbst, wenn seine Gründe auch zwingender sind,« antwortete Florisel, »aber sicher genug, um ihn unbesorgt hierher bringen zu können. In seinem Fall würde wohl auch der Zäheste lebenssatt werden. Er ist erst gestern wegen Falschspielens kassiert worden.«

»Der Grund ist nicht schlecht, meiner Treu,« erwiderte der Präsident; »wenigstens haben wir einen zweiten im gleichen Falle, und ich bin seinethalben beruhigt. Waren Sie auch im Dienst?«

»Ja,« war die Antwort, »aber ich war zu träge und quittierte ihn bald.«

»Warum wollen Sie das Leben los sein?« forschte der Präsident weiter.

»Aus demselben Grunde, wie mir scheint,« antwortete der Prinz, »wegen unverbesserlicher Trägheit.«

Der Präsident fuhr auf. »Verdammt,« sagte er, »Sie müssen einen bessern Grund haben.«

»Ich habe keine Mittel mehr,« fügte Florisel hinzu. »Das ist natürlich eine Plage mehr und bringt meine Trägheit zu einem kritischen Punkt.«

Der Präsident rollte einige Sekunden seine Zigarre im Munde herum und richtete dabei seinen Blick starr auf den ungewöhnlichen Todeskandidaten, aber der Prinz bestand die Prüfung, ohne zu zucken.

»Hätte ich nicht eine Ziemliche Erfahrung,« sagte schließlich der Präsident, »so würde ich Sie abweisen. Aber ich kenne die Welt und weiß, daß die frivolsten Selbstmordgründe oft am hartnäckigsten festgehalten werden. Und wenn ein Mann so nach meinem Geschmack ist wie Sie, mein Herr, so würde ich lieber von den Bedingungen etwas nachlassen, als ihn abweisen.«

Der Prinz und der Oberst wurden nacheinander einem langen und eindringenden Verhör unterworfen, der Prinz allein, aber Geraldine in Gegenwart des Freundes, so daß der Präsident den Ausdruck des einen beobachten konnte, während der andere unter scharfem Kreuzverhör stand. Das Ergebnis war zufriedenstellend, und nachdem der Präsident über jeden Fall ein paar Notizen in seinem Buch gemacht hatte, ließ er jeden einen Eid ablegen, durch den sich der Schwörende zum völligsten passiven Gehorsam verpflichtete und sich in der denkbar striktesten Weise band. Ein Mann, der diesen schrecklichen Eid brach, konnte keine Spur von Ehre oder von religiösem Trost mehr für sich haben. Florisel unterzeichnete die Erklärung nicht ohne Schauder, der Oberst folgte seinem Beispiel mit einem Ausdruck großer Niedergeschlagenheit. Darauf nahm der Präsident das Eintrittsgeld in Empfang und führte die beiden Freunde ohne weiteres in das Rauchzimmer des Selbstmordklubs.

Dieses Zimmer war ebenso hoch, aber viel größer als das erste und mit einer, Getäfel von Eichenholz imitierenden Tapete bedeckt. Ein mächtiges, lustig flackerndes Kaminfeuer und zahlreiche Gasflammen erhellten den Raum und seine Insassen auf das beste. Mit dem Prinzen und seinem Begleiter zählte man achtzehn Personen, von denen die meisten rauchten und Schaumwein tranken; es herrschte eine fieberische Ausgelassenheit, unterbrochen von plötzlichen, durch den Gegensatz unheimlich wirkenden Pausen.

»Ist die Gesellschaft heute gut besucht?« fragte der Prinz.

»Nicht besonders,« sagte der Präsident. »Nebenbei bemerkt, wenn Sie über Geld verfügen, es ist Sitte, einige Flaschen Champagner zum besten zu geben. Das macht Leben und gehört auch zu meinen kleinen Nebeneinnahmen.«

»Hammersmith,« sagte Florisel, »ich denke, Sie sorgen für den Wein.«

Damit wandte er sich ab und mengte sich unter die Gäste. Gewöhnt, in den höchsten Kreisen den Wirt zu spielen, machte er überall einen gewinnenden und dominierenden Eindruck. Seine Anrede hatte zugleich etwas Bestechendes und Imponierendes, und dazu verlieh ihm seine außergewöhnliche Kaltblütigkeit noch ein besonderes Übergewicht in dieser halb wahnwitzigen Versammlung. Während er von einem zum andern schritt, hielt er Augen und Ohren offen, und bald hatte er eine allgemeine Vorstellung davon, welcher Klasse von Leuten seine Umgebung angehörte. Wie in allen öffentlichen Lokalen überwog auch hier ein Typus: Leute in der Blüte der Jugend mit allen Anzeichen der Intelligenz und Empfänglichkeit, aber mit anscheinend geringer Willensstärke oder den Eigenschaften, die Erfolg versprechen. Wenige waren hoch in den dreißig und viele unter zwanzig. Sie standen, sich an die Tische lehnend und die Füße hin und her schiebend; bald rauchten sie sehr schnell, und bald ließen sie wieder ihre Zigarren ausgehen; manche sprachen gut, aber das Gespräch anderer zeugte nur von nervöser Spannung und war ohne Witz und Ziel. Mit jeder neuen Champagnerflasche steigerte sich die Ausgelassenheit in merklicher Weise. Nur zwei Personen hatten sich gesetzt, die eine saß auf einem Stuhl in der Fensternische mit herabhängendem Kopfe und in die Hosentaschen vergrabenen Händen, sie war bleich, mit Schweiß bedeckt und sprach kein Wort, ein wahres Wrack an Leib und Seele; die andere hatte sich auf dem Diwan neben dem Kamin niedergelassen und zog durch ihre auffallende Erscheinung die Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Mann war wahrscheinlich über vierzig Jahre alt, sah aber reichlich zehn Jahre älter aus, und Florisel kam es vor, als hätte er niemals einen von Natur häßlicheren Menschen gesehen oder einen Körper, der deutlichere Spuren der Verheerung durch Krankheit und ein leidenschaftliches Leben gezeigt hätte. Er war nichts als Haut und Knochen, teilweise gelähmt, und trug eine so scharfe Brille, daß seine Augen dahinter stark vergrößert und ganz verzerrt aussahen. Außer dem Prinzen und dem Präsidenten war er die einzige Person im Zimmer, die keine Aufregung verriet.

Von guter Lebensart und Wohlanständigkeit war wenig zu spüren. Manche brüsteten sich mit ihren entehrenden Handlungen, deren Folgen sie hierher gebracht hatten, und die andern hörten ohne Mißbilligung zu. Die Stimme der Moral ward hier nicht mehr laut, und wer einmal Mitglied des Klubs geworden war, genoß schon in gewissem Maße die Vorrechte eines Verstorbenen. Trinksprüche auf das gegenseitige Angedenken und auf bekannte Selbstmörder wurden ausgebracht. Man tauschte die Ansichten über den Tod und den Zustand nach dem Tode aus, wobei manche die Erwartung aussprachen, in bloße Finsternis und völlige Vernichtung überzugehen, andere noch in derselben Nacht die Sterne zu erklimmen und ein neues Leben zu beginnen hofften.

»Dem unvergänglichen Andenken an den Baron Trenck, das Muster aller Selbstmörder!« rief einer. »Aus einer engen Zelle ging er hinüber in eine noch engere, um so die Freiheit zu erringen.«

»Ich für mein Teil,« sagte ein zweiter, »wünsche mir nichts weiter als eine Binde vor die Augen und Baumwolle in die Ohren. Nur gibt es auf Erden keine Baumwolle, die dick genug wäre.«

Ein dritter hoffte in seinem künftigen Zustande die Rätsel des Lebens lösen zu können; und ein vierter erklärte, er wäre dem Klub niemals beigetreten, wenn ihn nicht Darwins Theorie dazu gebracht hätte.

»Es war mir,« sagte dieser bemerkenswerte Selbstmörder, »der Gedanke unerträglich, daß ich von einem Affen abstammen sollte.«

Im ganzen fühlte sich der Prinz durch das Gebaren und die Unterhaltung der Mitglieder enttäuscht und abgestoßen.

Wozu, dachte er, diese Umstände? Ist einer entschlossen, sich das Leben zu nehmen, mag er’s in Gottes Namen mit Anstand tun. Dieses Geschwätz und große Geschrei darum ist mir zuwider.

Inzwischen fiel der Oberst Geraldine den schwärzesten Befürchtungen zur Beute. Noch waren der Klub und seine Gesetze ein Geheimnis für ihn, und er schaute nach einem aus, der ihn darüber aufklären könnte. Dabei fiel sein Auge auf den Gelähmten mit der starken Brille, und da ihm dieser völlig gefaßt und ruhig zu sein schien, so ersuchte er den geschäftig hin und her eilenden Präsidenten, ihn mit dem Herrn auf dem Diwan bekannt zu machen.

Der Vorsitzende erklärte diese Formalität zwischen Klubbrüdern für überflüssig, stellte den Obersten aber nichtsdestoweniger Herrn Malthus vor.

Der letztere schaute den Fremden neugierig an und ersuchte ihn sodann, sich zu seiner Rechten niederzulassen.

»Sie sind ein Neuling,« sagte er. »und wünschen Auskunft? Sie haben sich an die rechte Quelle gewandt. Es ist zwei Jahre her, als ich zum ersten Male diesen Verein besuchte.«

Der Oberst atmete auf. Wenn Herr Malthus seit zwei Jahren Mitglied war, so konnte eine einzige Nacht schwerlich so gefährlich für den Prinzen sein. Immerhin konnte er nicht alle Bedenken loswerden, auch fürchtete er, das Opfer einer Mystifikation Zu sein.

»Wie,« rief er, »zwei Jahre! Ich dachte aber ich merke schon, Sie scherzen nur.«

»Keineswegs,« versetzte Herr Malthus. »Ich befinde mich in einem besonderen Falle, ich bin überhaupt kein richtiges Mitglied, sondern eine Art von Ehrenmitglied. Selten komme ich des Monats zweimal in den Klub. Meine Gebrechlichkeit und die Freundlichkeit des Präsidenten haben mir dieses kleine Vorrecht verschafft, wofür ich außerdem das Doppelte zu zahlen habe. Dazu war ich aber ausnahmsweise vom Glück begünstigt.«

»Ich muß Sie leider,« sagte der Oberst, »um genauere Auskunft bitten. Bedenken Sie, daß ich die Klubbestimmungen so gut wie gar nicht kenne.«

»Ein gewöhnliches Mitglied, das wie Sie als Todeskandidat hierher kommt,« versetzte Herr Malthus, »kehrt jeden Abend wieder, bis es vom Los getroffen wird. Es erhält sogar, wenn es mittellos ist, vom Präsidenten Kost und Wohnung, gut und reinlich, nehme ich an, wenn auch natürlich nicht üppig, was ja in Anbetracht des geringfügigen Abonnements (wenn ich so sagen darf) kaum zu verlangen ist. Und dann ist die Gesellschaft des Präsidenten schon an sich ein Genuß.«

»Wirklich?« rief Geraldine, »auf mich hat er keinen sonderlich anziehenden Eindruck gemacht.«

»Ja,« sagte Herr Malthus, »Sie kennen den Mann nicht: der drolligste Kauz! Was für Schnurren! Welcher Zynismus! Er kennt das Leben wie kaum ein zweiter und ist, unter uns gesagt, einer der abgefeimtesten Schurken in der ganzen Christenheit.«

»Und er ist also ebenfalls,« fragte der Oberst, »wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, ein dauernder Stammgast hier, wie Sie selbst?«

»Ja, er ist dauernd in ganz anderm Sinne als ich,« erwiderte Herr Malthus. »Mich hat man gnädig aufgespart, zuletzt komme ich doch dran. Er dagegen spielt niemals mit. Er mischt die Karten und teilt sie aus und arrangiert alles Weitere. Dieser Mann, mein lieber Herr Hammersmith, ist in seiner Art ein verkörpertes Genie. Drei Jahre lang hat er in London seinen segensreichen und, ich kann wohl sagen, künstlerischen Beruf ausgeübt; und es hat sich niemals auch nur der Schatten eines Argwohns gegen ihn geregt. Ich halte ihn für inspiriert. Zweifellos erinnern Sie sich noch an den aufsehenerregenden Fall, als vor sechs Monaten ein Herr in einer Drogenhandlung zufällig vergiftet ward. Das war eine seiner mindest geistreichen Taten, und doch, wie einfach, wie sicher!«

»Sie setzen mich in Erstaunen,« sagte der Oberst. »Gehörte jener Unglückliche zu den« – er wollte sagen »Opfern«, besann sich aber noch und sagte: »Mitgliedern des Klubs?«

Zugleich kam ihm der Gedanke, daß aus der Art und dem Tone, in dem Herr Malthus sprach, nichts weniger als Sehnsucht nach dem Tode herausklang, und er setzte schnell hinzu:

»Aber ich merke, ich bin noch ganz im dunkeln, Sie sprechen von Kartenmischen und -verteilen; was bedeutet das? Und da Sie den Tod nicht herbeizuwünschen scheinen, so verstehe ich nicht, muß ich bekennen, was Sie herführt.«

»Sie haben recht, Sie sind im dunkeln,« versetzte Herr Malthus mit gesteigerter Lebhaftigkeit. »Dieser Klub, mein Herr, ist eine Stätte geistigen Taumels. Erlaubte mir mein geschwächter Körperzustand, die Aufregung öfter zu ertragen, verlassen Sie sich darauf, ich würde häufiger hier sein. Nur ein starkes Pflichtgefühl, wie es sich während langer Krankheit und geregelter Lebensweise entwickelt hat, hält mich von Exzessen in dieser, ich kann sagen, meiner letzten Ausschweifung zurück. Ich habe alle kennengelernt,« fuhr er fort und legte seine Hand auf Geraldines Arm, »alle ohne Ausnahme, und ich erkläre Ihnen auf meine Ehre, man hat sie sämtlich viel zu hoch angeschlagen. Die Menschen spielen mit der Liebe. Die Liebe ist aber gar keine starke Leidenschaft. Furcht ist das eine mächtigste Gefühl; mit der Furcht müssen Sie spielen, wollen Sie den größten geistigen Kitzel empfinden. Beneiden Sie mich – beneiden Sie mich,« setzte er kichernd hinzu, »ich bin eine Memme!«

Geraldine konnte nur mit Mühe eine Gebärde des Abscheus unterdrücken; doch bezwang er sich und fuhr fort:

»Auf welche Weise wird die Aufregung künstlich verlängert, und wo liegt das Element der Ungewißheit?«

»Ich muß Ihnen mitteilen,« entgegnete Herr Malthus, »wie man jeden Abend das Opfer auswählt, und nicht nur das Opfer, sondern noch ein zweites Mitglied, das als Instrument des Klubs dient und als Hoherpriester des Todes zu wirken hat.«

»Mein Gott,« sagte der Oberst, »sie töten einander?«

»Man ist auf diese Weise der Mühe des Selbstmords überhoben,« bestätigte Herr Malthus.

»Gnädiger Himmel!« stieß der Oberst hervor, »und können Sie – kann ich – kann der – mein Freund, meine ich, kann irgendeiner von uns heute abend zum Mörder eines andern ausgewählt werden? Ist das unter denkenden Wesen, die eine Mutter gehabt haben, möglich? O schändlichste aller Schändlichkeiten!«

Er wollte entsetzt aufspringen, als er dem Auge des Prinzen begegnete, der ihm über das Zimmer einen unzufriedenen und warnenden Blick zuwarf. Sofort war Geraldine wieder Herr seiner Sinne.

»Warum auch nicht?« sagte er, »und da Sie sagen, das Spiel sei interessant, so mag meinetwegen das Schiff vom Stapel gehen, ich folge der Flagge.«

Herr Malthus hatte mit Vergnügen des andern Entsetzen und Abscheu bemerkt. Er war stolz auf seine Verderbtheit und freute sich, an einem andern eine edle Regung zu bemerken, über die er sich in seiner Verstocktheit weit erhaben fühlte.

»Sie sind, scheint es, jetzt nach Ihrer ersten Überraschung imstande, die Reize, die unser Verein bietet, zu würdigen. Er vereint, wie Sie sehen, die Aufregung des Spieltisches, des Duells und des römischen Amphitheaters. Die alten Heiden verdienen Bewunderung für ihren raffinierten Geschmack, aber erst einem christlichen Lande war es vorbehalten, zu dieser höchsten Höhe geistigen Rausches emporzusteigen. Sie werden begreifen, wie eitel einem Mann, der hieran Geschmack gefunden, alle andern Unterhaltungen vorkommen müssen. Unser Spiel ist äußerst einfach,« fuhr er fort. »Ein volles Spiel Karten – aber ich sehe, die Sache soll in Wirklichkeit soeben vor sich gehen. Wollen Sie mir Ihren Arm leihen? Ich bin leider gelähmt.«

Und in der Tat öffnete sich, als Herr Malthus mit seiner Beschreibung anfing, eine zweite Rolltüre, und der ganze Klub begab sich in das nächste Zimmer. Dieses war, von der Möblierung abgesehen, dem Rauchzimmer fast völlig gleich. In der Mitte stand ein langer, grüner Tisch, an dem der Präsident saß und mit peinlicher Sorgfalt ein Spiel Karten mischte. Trotz seines Stockes und des unterstützenden Arms kam Herr Malthus so langsam vorwärts, daß dieses Paar und der Prinz, der auf sie gewartet hatte, zuletzt ins Zimmer traten und daher auch unten am Tisch beieinander zu sitzen kamen.

»Es ist ein Spiel von 52 Karten,« flüsterte Herr Malthus. »Achten Sie auf das Pikas, das Zeichen des Todes, und das Treffas, das den Ausführenden bestimmt. Glückliche, glückliche junge Männer!« fügte er hinzu. »Sie haben gute Augen, Sie können das Spiel verfolgen. Ich kann aber von hier aus ein As von einer Zwei nicht unterscheiden.«

Und dabei setzte er sich noch eine zweite Brille auf.

»Ich muß wenigstens den Ausdruck der Gesichter beobachten,« erklärte er.

Der Oberst teilte seinem Freunde in wenigen leisen Worten mit, was er erfahren hatte, und welche gräßliche Alternative vor ihnen lag. Der Prinz fühlte, wie ihn ein tödlicher Schauder überlief und sein Herz sich zusammenzog; er glaubte, ersticken zu müssen, und der Ausdruck entsetzlicher Verlegenheit malte sich auf seinem Gesicht.

»Ein kühner Entschluß,« flüsterte der Oberst, »und wir können uns noch frei machen.«

Aber diese Worte ließen den Prinzen seine Fassung wiedergewinnen.

»Ruhig!« sagte er. »Zeigen Sie, daß Sie wie ein Mann spielen können, gleichviel um welchen Einsatz.« Und er schaute herum, allem Anschein nach ganz gefaßt, wenn auch sein Herz heftig pochte und es ihm unangenehm heiß ward. Die Mitglieder waren sämtlich still und äußerst gespannt, ihre Mienen sahen bleich aus, bei keinem mehr als bei Herrn Malthus. Seine Augen quollen hervor, sein Kopf wackelte unwillkürlich hin und her; die Hände fuhren fortwährend zum Wunde und krallten sich an den zitternden und aschfarbenen Lippen fest. Das Ehrenmitglied bezahlte offenbar einen hohen Preis für seine Mitgliedschaft.

»Achtung, meine Herren!« sagte der Präsident. Und er verteilte die Karten langsam von rechts nach links und wartete jedesmal, bis der Empfänger seine Karte aufgedeckt hatte. Fast jeder zögerte; und manchem versagten die Finger mehr als einmal den Dienst, ehe er das Blatt umwenden konnte. Je näher der Moment heranrückte, wo der Prinz an die Reihe kommen sollte, um so mehr wuchs seine Aufregung, die schließlich fast unbezwingbar ward; aber er hatte doch etwas von einer Spielernatur in sich und war erstaunt, zugleich ein gewisses Vergnügen zu empfinden. Treffneun ward ihm zuteil und Geraldine Pikdrei. Malthus, der einen Seufzer der Erleichterung nicht zurückhalten konnte, hatte Herzdame. Kurz darauf deckte der junge Mann mit den Rahmtörtchen das Treffas auf und hielt starr vor Entsetzen die Karte in der Hand; nicht um zu töten, sondern um den Tod zu finden war er gekommen; und der Prinz vergaß aus Mitgefühl mit seiner Lage die Gefahr, die ihn und seinen Freund noch bedrohte.

Die Runde erfüllte sich zum zweiten Male, und noch war die Todeskarte nicht gefallen. Die Spieler atmeten kaum. Der Prinz erhielt wieder ein Treff, Geraldine ein Karo. Als aber Malthus sein Blatt umwandte, kam aus seinem Munde ein schrecklicher Ton, wie wenn etwas zerbräche; er erhob sich von seinem Sitze und ließ sich wieder nieder, alle Lähmung schien verschwunden. Vor ihm lag Pikas. Das Ehrenmitglied hatte einmal zu oft mit seinem Leben gespielt.

Sofort begann nun die Unterhaltung von neuem. Die starre Haltung der Spieler löste sich, sie erhoben sich und gingen zu zweien oder dreien ins Rauchzimmer zurück. Der Präsident streckte seine Arme aus und gähnte wie ein Mann, der sein Tagewerk vollendet hat. Nur Herr Malthus saß auf seinem Platze, den Kopf in den auf dem Tische ruhenden Händen wie berauscht und regungslos, ein Bild völliger Gebrochenheit.

Der Prinz und Geraldine entfernten sich sofort. In der kalten Nachtluft verdoppelte sich noch ihr Entsetzen über das, was sie erlebt hatten.

»Wehe!« rief der Prinz, »daß ich mich durch einen solchen Eid gebunden habe! Daß ich diesem geschäftsmäßigen Morden keinen Einhalt tun kann! Ob ich es wage, mein Wort zu brechen?«

»Das ist,« versetzte der Oberst, »für Eure Hoheit, deren Ehre Böhmens Ehre ist, unmöglich. Aber ich kann und darf es ohne Schande tun.«

»Geraldine,« sagte der Prinz, »sollte Ihre Ehre bei einem der Abenteuer, die Sie mit mir bestehen, leiden, so werde ich Ihnen dies niemals verzeihen und – ich glaube, das wird Ihnen noch mehr gelten – auch mir selbst würde ich das nie vergeben können.«

»Eure Hoheit hat zu gebieten,« erwiderte der Oberst. »Wollen wir diesen verfluchten Ort verlassen?«

»Ja,« sagte der Prinz. »Rufen Sie eine Droschke, ich will versuchen, in nächtlichem Schlummer den Greuel dieser Nacht zu vergessen.«

Doch las er auf der nächsten Straßentafel sorgfältig die Aufschrift Box-Court, ehe er das Fuhrwerk bestieg.

Sobald sich der Prinz am nächsten Tage erhob, brachte ihm Geraldine ein Zeitungsblatt, in dem folgende Notiz stand:

Trauriger Unglücksfall. Heut morgen gegen 2 Uhr fiel Herr Bartholomäus Malthus, wohnhaft 16, Chestow Place, Westbourne Grove, auf dem Heimwege von einer Gesellschaft über das obere Geländer des Trafalgar Square, zerschmetterte sich den Kopf und brach ein Bein und einen Arm. Der Tod trat augenblicklich ein. Herr Malthus, den ein Freund begleitete, sah sich gerade nach einer Droschke um. Da er gelähmt war, nimmt man an, sein Sturz war die Folge eines neuen paralytischen Anfalls. Der Verunglückte bewegte sich in den angesehensten Kreisen, und sein Tod wird allgemein und aufrichtig bedauert.

»Wenn jemals eine Seele geradeswegs zur Hölle ging,« sagte Geraldine, »so war es seine.«

Der Prinz barg sein Antlitz in seinen Händen und verharrte in Schweigen.

»Es freut mich fast,« fuhr der Oberst fort, »ihn tot zu wissen. Aber um den jungen Mann mit den Rahmtörtchen, muß ich bekennen, blutet mir das Herz.«

»Geraldine,« sagte der Prinz und erhob sein Gesicht, »der arme Bursche war gestern abend so schuldlos wie Sie und ich; und heute morgen drückt eine Blutschuld seine Seele. Wenn ich an den Präsidenten denke, fühle ich einen Stich im Herzen. Noch weiß ich nicht wie, aber jener Schurke soll mir, so wahr ein Gott im Himmel ist, büßen. Was für eine Erfahrung, was für eine Lehre, was für ein Kartenspiel!«

»Eins,« sagte der Oberst, »nach dem man nicht zum zweiten Male verlangt!«

Der Prinz erwiderte lange nichts, und Geraldine ward unruhig.

»Sie können doch nicht noch einmal hingehen wollen?« sagte er. »Sie haben schon genug ausgestanden und zu viel Entsetzliches gesehen. Die Pflichten Ihrer hohen Stellung erlauben Ihnen nicht, noch einmal mit dem Geschick zu spielen.«

»Was Sie sagen, ist nicht unberechtigt,« versetzte Prinz Florisel, »und ich bin selbst mit meinem Entschluß unzufrieden. Was steckt in den Kleidern des mächtigsten Herrschers anderes als ein Mensch? Niemals habe ich meine Schwachheit lebhafter empfunden als jetzt, aber ich kann sie nicht überwinden. Kann ich aufhören, an dem Geschick des jungen Mannes, der vor ein paar Stunden mit uns speiste, Anteil zu nehmen? Kann ich den Präsidenten seine nichtswürdige Laufbahn fortsetzen lassen? Kann ich ein so verführerisches Abenteuer plötzlich abbrechen? Nein, Geraldine, Sie verlangen vom Fürsten mehr, als der Mensch leisten kann. Wir wollen heute nacht noch einmal nach Box-Court gehen und am Spieltisch des Selbstmordklubs Platz nehmen.«

Der Oberst fiel auf die Knie.

»Will Eure Hoheit mein Leben?« rief er. »Da ist es; aber nur dies nicht, unternehmen Sie dieses gräßliche Wagnis nicht noch einmal!«

»Oberst Geraldine,« versetzte der Prinz mit stolzer Hoheit, »Ihr Leben ist Ihr unbeschränktes Eigentum. Ich erwartete nur Gehorsam, und wird mir der nur widerwillig geleistet, so muß ich auf ihn verzichten. Noch ein Wort: Sie haben sich in dieser Angelegenheit schon genugsam als unberufenen Ratgeber erwiesen.«

Der Oberstallmeister war aufgesprungen.

»Eure Hoheit,« sagte er, »darf ich für heute nachmittag um Urlaub bitten? Ich wage mich als Mann von Ehre nicht noch einmal in jenes Haus des Todes, ohne vorher meine Angelegenheiten in Ordnung gebracht zu haben. Eure Hoheit wird, verspreche ich, nichts mehr auszusetzen finden an dem ergebensten und dankbarsten ihrer Diener.«

»Mein lieber Geraldine,« entgegnete der Prinz, »nur mit Widerstreben sehe ich mich gezwungen, meinen Rang, hervorzukehren. Verfügen Sie nach Belieben über den Tag, aber seien Sie vor elf Uhr wieder in derselben Verkleidung zur Stelle.«

Die Klubsitzung war am zweiten Abend nicht so gut besucht, und als die beiden Freunde das Rauchzimmer betraten, waren nicht sechs Personen anwesend. Seine Hoheit nahm den Präsidenten beiseite und beglückwünschte ihn zu der glatten Abwicklung des Malthusschen Falles.

»Ich schätze die Befähigung in allen Fällen,« sagte er. »Ihre Aufgabe ist delikater Natur, aber Sie verstehen sie trefflich zu lösen.«

Der Präsident fühlte sich nicht wenig geschmeichelt.

»Armer Freund Malthus,« sagte er, »ich kann mir den Klub kaum ohne ihn denken. Meine Kunden sind zumeist Knaben, poetisch angehauchte Knaben und keine Gesellschaft für mich. Nicht als ob nicht auch Malthus seine Poesie gehabt hätte, aber die war mir verständlicher.«

»Ich kann mir wohl denken, daß Sie Sympathie mit Herrn Malthus empfinden,« versetzte der Prinz. »Er schien mir ein seltenes Original zu sein.«

Der junge Wann mit den Rahmtörtchen war im Zimmer, aber, äußerst niedergedrückt und schweigsam. Vergebens suchte der Prinz ein längeres Gespräch mit ihm anzuknüpfen.

»Ach,« rief er, »hätte ich Sie doch niemals an diesen Ort der Schande gebracht! Hinweg von mir mit Ihren reinen Händen! O hätten Sie den Schrei des alten Mannes und das Krachen seines gegen das Pflaster schlagenden Körpers gehört! Wenn Sie mir noch eine Wohltat gönnen, so wünschen Sie mir heute nacht das Pikas!«

Einige Mitglieder stellten sich noch ein, aber es war eben erst das Teufelsdutzend (13) voll, als man sich am Spieltisch niederließ. Der Prinz empfand wieder trotz seiner Aufregung eine Art Genuß; wunderbar war es ihm, daß sich Geraldine so viel gefaßter zeigte als am Abend vorher.

Es ist doch merkwürdig, dachte er, daß ein entschiedener Wille einen solchen Einfluß über den Geist des jungen Mannes ausübt.

»Achtung, meine Herren!« rief der Präsident und fing an, die Karten auszuteilen.

Bei dreimaliger Runde war noch keine von den beiden Stichkarten herausgekommen, und die Aufregung war übermächtig, als die letzte entscheidende Runde begann. Der Prinz, der an zweiter Stelle links vom Austeiler saß, mußte die vorletzte Karte erhalten. Der dritte Spieler hob ein schwarzes As, es war das Treffas. Der nächste erhielt ein Karo, der folgende eine Herzkarte und so fort; aber das Pikas stand noch aus. Zuletzt deckte Geraldine, der links vom Prinzen saß, seine Karte auf; es war ein As, aber Herzas.

Als Prinz Florisel sein Schicksalsblatt vor sich auf dem Tisch liegen sah, stand ihm das Herz still. Er war ein mutiger Mann, aber der Schweiß brach aus den Poren seines Gesichts. Es war genau zehn gegen zehn zu wetten, daß ihn das Los traf. Er drehte die Karte um, es war Pikas. Ein lautes Sausen füllte ihm das Gehirn, und der Tisch verschwamm ihm vor den Augen. Er hörte, wie der Spieler zu seiner Rechten in ein Lachen ausbrach, von dem man nicht recht unterschied, ob es Freude oder Enttäuschung bedeute. Er sah, wie sich die Gesellschaft schnell auflöste, aber dabei beschäftigten ihn andere Gedanken. Er erkannte, wie töricht, wie verbrecherisch er gehandelt hatte. In völliger Gesundheit, in der Blüte der Jahre, Erbe eines Thrones, hatte er seine Zukunft und die eines edlen ergebenen Volkes verspielt. »Gott, Gott, vergib mir!« Und damit riß er sich aus seiner Benommenheit los und gewann seine Fassung wieder.

Zu seinem Erstaunen war Geraldine verschwunden. Im Spielzimmer befand sich nur noch sein vorbestimmter Mörder, der sich mit dem Präsidenten beriet, und der junge Mann mit den Rahmtörtchen, der ihm zuflüsterte: »Ich würde gern für Ihr Glück eine Million geben,« und das Zimmer gleichfalls verließ.

Diese leise geführte Besprechung war inzwischen zu Ende geführt. Der vom Los bestimmte Henker entfernte sich mit einem Blick des Einverständnisses, und der Präsident näherte sich dem unglücklichen Prinzen und streckte ihm die Hand entgegen. »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben,« sagte er, »und daß ich Ihnen diesen kleinen Dienst erweisen konnte. Wenigstens können Sie sich nicht über langen Aufschub beklagen. Am zweiten Abend – welcher Glücksfall!«

Der Prinz mühte sich vergebens, ein Wort hervorzubringen, aber sein Mund war völlig ausgetrocknet und die Zunge gelähmt.

»Sie fühlen sich etwas unwohl?« fragte der Präsident mit anscheinender Teilnahme. »Den meisten geht es so. Wünschen Sie ein wenig Brandy?« Der Prinz nickte und der Präsident goß sofort etwas Brandy in ein Wasserglas.

»Armer alter Malthus!« bemerkte er. als der Prinz am Glase nippte. »Er trank ein halbes Liter, und es schien ihm doch nicht viel zu helfen.«

»Bei mir bedarf’s nicht so viel,« sagte der Prinz neubelebt. »Ich bin, wie Sie sehen, wieder Herr meiner selbst. Und nun lassen Sie mich fragen: Was habe ich zu tun?«

»Sie werden am Strande entlang, auf dem linken Straßendamm nach der Stadt zu fortgehen, bis Sie den Herrn treffen, der soeben das Zimmer verließ. Er wird Ihnen das Weitere kundtun, und seinen Weisungen haben Sie sich zu fügen, denn ihm ist für die Nacht die ganze Klubgewalt übertragen. Und nun,« setzte der Präsident hinzu, »wünsche ich Ihnen einen angenehmen Weg.«

Florisel erwiderte den Gruß ziemlich unhöflich und entfernte sich. Er ging durch das Nebenzimmer, wo die meisten Klubmitglieder noch Schaumwein tranken, den er zum Teil selbst bestellt und bezahlt hatte, und er wunderte sich, daß er sie in seinem Herzen verfluchte. Er zog im Präsidentenzimmer seinen Rock an, setzte den Hut auf und suchte seinen Schirm aus. Der Gedanke, daß er dies alles zum letzten Male tun sollte, ließ ihn in ein Lachen ausbrechen, das ihm selbst unheimlich in den Ohren gellte. Er konnte sich nicht entschließen, das Zimmer zu verlassen, und wandte sich zum Fenster. Der Anblick der Lampen und der Dunkelheit brachte ihn wieder zu sich.

»Komm,« sprach er zu sich, »sei ein Mann und reiß dich los!«

Aber an der nächsten Straßenecke fielen drei Männer über ihn her und schoben ihn ohne Umstände in eine Kutsche, die eiligst davonfuhr. Im Wagen saß noch eine Person, und eine wohlbekannte Stimme sagte: »Wird mir Eure Hoheit meinen Eifer verzeihen?«

In der ersten Aufregung der Freude über seine Rettung warf sich der Prinz dem Obersten an den Hals.

»Wie kann ich Ihnen jemals danken?« rief er. »Und wie haben Sie das angefangen?«

Wenn er auch bereit gewesen war, sein Los zu tragen, so erfüllte es sein Herz doch mit überströmender Freude, daß ihn der Freund mit Gewalt zurückhielt und ihm wieder den Weg zu Leben und Hoffnung bahnte.

»Danken Sie mir dadurch, daß Sie künftig solche Gefahren vermeiden. Und was die zweite Frage betrifft, so bediente ich mich der einfachsten Mittel. Heute nachmittag versicherte ich mich der Dienste eines namhaften Geheimpolizisten, der sich zu vollster Geheimhaltung verpflichtete. Sonst verwendete ich zumeist Ihre eigene Dienerschaft. Das Klubhaus war seit Anbruch der Nacht umstellt, und diese Ihre Kutsche stand schon seit etwa einer Stunde bereit.«

»Und der Elende, der mich töten sollte?« fragte der Prinz.

»Er fiel in unsere Hände, sobald er die Straße betrat, und erwartet nun ihr Urteil im Palast, wo sich auch seine Genossen bald einfinden werden.«

»Geraldine,« sagte der Prinz, »Sie haben mich gegen meinen ausdrücklichen Befehl gerettet, und Sie haben recht getan. Ich verdanke Ihnen nicht nur mein Leben, sondern auch eine gute Lehre, und ich würde meiner Stellung unwert sein, wollte ich mich nicht dankbar gegen meinen Lehrer erweisen. Es ist an Ihnen, über die Art meiner Erkenntlichkeit zu bestimmen.«

Es trat eine Pause ein, während der Wagen eilends weiterfuhr. Beide Männer waren in tiefes Nachdenken versunken, bis der Oberst das Stillschweigen brach. »Eure Hoheit,« sagte er, »hat nun eine beträchtliche Anzahl von Gefangenen. Darunter ist mindestens ein Verbrecher, der Gerechtigkeit verdiente. Unser Eid verbietet uns, das Gesetz anzurufen, wenn es nicht schon Gründe der Diskretion täten. Darf ich nach Eurer Hoheit Absichten fragen?«

»Der Präsident,« antwortete Florisel, »muß im Duell fallen. Es ist nur noch sein Gegner auszuwählen.«

»Eure Hoheit hat mir gestattet, mir selbst eine Belohnung auszusuchen,« sagte der Oberst. »Darf ich meinen Bruder vorschlagen? Es ist eine ehrenhafte Aufgabe, aber Eure Hoheit kann versichert sein, er wird sich ihrer auch mit Ehren entledigen.«

»Nur ungern gewähre ich die Bitte,« sagte der Prinz, »aber ich darf Ihnen nichts abschlagen.«

Der Oberst dankte mit einem Handkuß; und im selben Augenblick rollte der Wagen durch das Hoftor des prächtigen Schlosses.

Eine Stunde später empfing Florisel, angetan mit allem Glänze seines fürstlichen Standes, die Mitglieder des Selbstmordklubs.

»Törichte und gottvergessene Wärmer,« sagte er, »die unter Euch, welche Mittellosigkeit in diese Lage gebracht hat, werden durch meine Beamten eine genügende Anstellung erhalten. Die, welche sich schuldbeladen fühlen, müssen sich an einen Höheren und Großmütigeren wenden, als ich bin. Mehr, als Ihr Euch denken könnt, empfinde ich Mitleid mit Euch; morgen sollt Ihr mir Eure Schicksale erzählen, und je freimütiger Euer Bericht sein wird, um so besser werde ich Euch helfen können. Was Sie betrifft,« wandte er sich an den Präsidenten, »so müßte ich fürchten, einen Wann Ihrer Stellung durch das Anerbieten meines Beistandes nur zu beleidigen, ich habe Ihnen statt dessen einen Zeitvertreib vorzuschlagen. Hier« – er legte dabei seine Hand Oberst Geraldines jungem Bruder auf die Schulter – »ist einer meiner Offiziere, der gern eine kleine Reise nach dem Kontinent machen will; und ich ersuche Sie, mir den Gefallen zu tun und ihn auf seinem Ausflug zu begleiten.« Und mit verändertem Tone fügte er hinzu: »Sind Sie ein guter Pistolenschütze? Sie möchten von dieser Fertigkeit Gebrauch machen können. Wenn zwei Männer zusammen auf die Reise gehen, muß man auf alles vorbereitet sein. Lassen Sie mich noch bemerken, daß Ihnen, falls dem jungen Geraldine etwas zustoßen sollte, stets ein Ersatzmann zur Verfügung stehen wird, und, Herr Präsident, es ist bekannt, daß mein Auge und mein Arm weit reichen.«

Mit diesen ernst gesprochenen Worten schloß der Prinz seine Anrede. Am nächsten Morgen erfuhren die Mitglieder des Klubs die prinzliche Freigebigkeit in reichstem Maße, und der Präsident trat unter der Aufsicht des jungen Geraldine und zweier bewährten Diener des prinzlichen Gefolges seine Reise an. Überdies ließ der Prinz das Klubhaus sorgfältigst überwachen, und alle Korrespondenzen, die an den Selbstmordklub gerichtet waren, und alle, die den Klub besuchen wollten, wurden dem Prinzen zugewiesen und von ihm persönlich in Empfang genommen.