Erstes Kapitel


Der alte Seehund im »Admiral Benbow«

Gutsherr Trelawney, Dr. Livesey und die übrigen Herren haben mich gebeten, unsere Fahrt nach der Schatzinsel vom Anfang bis zum Ende zu beschreiben, und dabei nichts zu verschweigen als die genaue Lage der Insel, und zwar auch dies nur deshalb, weil noch jetzt ungehobene Schätze dort vorhanden sind. So ergreife ich die Feder in diesem Jahre des Heils 17.. und versetze mich zurück in die Zeit, als mein Vater den Gasthof zum »Admiral Benbow« hielt, und als der braungebrannte alte Seemann mit der Säbelnarbe im Gesicht zuerst unter unserem Dache Wohnung nahm.

Ich erinnere mich, wie wenn es gestern gewesen wäre, des Mannes: wie er in die Tür unseres Hauses hereinkam, während seine Schifferkiste ihm auf einem Schiebkarren nachgefahren wurde – ein großer, starker, schwerer, nußbrauner Mann; sein teeriger Zopf hing ihm im Nacken über seinen fleckigen blauen Rock herunter; seine Hände waren schwielig und rissig mit abgebrochenen, schwarzen Fingernägeln, und der Säbelschmiß, der sich über die eine Wange hinzog, war von schmutzig-weißer Farbe. Er sah sich im Schenkzimmer um und pfiff dabei vor sich hin, und dann stimmte er das alte Schifferlied an, das er später so oft sang:

Fünfzehn Mann bei des Toten Kist‘ –
Johoho, und ’ne Buddel, Buddel Rum!

in der zitterigen, hohen Stimme, die so klang, wie wenn eine Ankerwinde gedreht würde. Dann schlug er mit einem Knüppel, so dick wie eine Handspeiche, gegen die Tür, und als mein Vater erschien, verlangte er barsch ein Glas Rum. Als dieses ihm gebracht worden war, trank er es langsam aus, wie ein Kenner, mit der Zunge den Geschmack nachprüfend, und dabei sah er sich durch das Fenster die Strandklippen und unser Wirtsschild an. Schließlich sagte er:

»Das ist ’ne nette Bucht und ’ne angenehm gelegene Grogkneipe. Viel Gesellschaft, Maat?«

Mein Vater sagte ihm, Gesellschaft käme leider nur sehr wenig.

»So? Na, dann ist das die richtige Stelle für mich. Heda, Ihr, mein Mann!« rief er dem Mann zu, der den Handkarren schob: »Ladet mal meine Kiste ab und bringt sie nach oben! Hier will ich ein bißchen bleiben! Ich bin ein einfacher Mann – Rum und Speck und Eier, weiter brauche ich nichts; und außerdem die Klippe da draußen, um die Schiffe zu beobachten. Wie Sie mich nennen könnten? Kaptein können Sie mich nennen. Ach so – ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen – da!« und er warf drei oder vier Goldstücke auf den Tisch. »Wenn ich das verzehrt habe, können Sie mir Bescheid sagen!« rief er, und dabei sah er so stolz aus wie ein Admiral.

Und in der Tat – so schlecht seine Kleider waren und so gemein seine Sprechweise, er sah durchaus nicht wie ein Mann aus, der vor dem Mast fuhr, sondern war offenbar ein Steuermann oder ein Schiffer, der gewohnt war, daß man ihm gehorchte, oder sonst gab’s Prügel. Der Mann, der den Schiebkarren gefahren hatte, sagte uns, die Postkutsche hätte ihn am Tag vorher am Royal George abgesetzt; er hätte sich erkundigt, was für Gasthöfe an der Küste wären, und als er gehört hätte, daß man unser Haus lobte, – und besonders, so vermute ich wenigstens, als man es ihm als einsam gelegen beschrieb – hätte er beschlossen, bei uns Aufenthalt zu nehmen. Und das war alles, was wir über unseren Gast erfahren konnten.

Er war ein schweigsamer Mann. Den ganzen Tag lungerte er an der Bucht oder auf den Klippen herum und sah durch sein Messingfernrohr über See und Strand; den ganzen Abend aber saß er in einer Ecke der Schenkstube ganz dicht am Feuer und trank Rum und Wasser, und zwar eine sehr steife Mischung. Wenn jemand ihn anredete, antwortete er für gewöhnlich nicht, sondern sah nur plötzlich mit einem wütenden Blick auf und blies durch seine Nase wie durch ein Nebelhorn; und wir und unsere Besucher merkten bald, daß man ihn dann in Ruhe lassen mußte. Jeden Tag, wenn er von seinen Gängen zurückkam, fragte er, ob Seeleute auf der Landstraße vorübergekommen wären. Anfangs dachten wir, er fragte, weil er sich nach Gesellschaft von Kameraden sehnte; schließlich aber merkten wir, daß er im Gegenteil es zu vermeiden wünschte. Wenn ein Seemann im »Admiral Benbow« einkehrte – wie es ab und zu geschah, wenn Leute auf der Küstenstraße nach Bristol gingen – so sah er sich ihn durch das verhängte Fensterchen in der Tür an, bevor er die Schenkstube betrat; und wenn solch ein Seemann anwesend war, verhielt er sich immer mäuschenstille. Vor mir suchte er auch kein Geheimnis aus der Sache zu machen, sondern er beteiligte mich im Gegenteil gewissermaßen an seiner Unruhe. Er hatte mich nämlich eines Tages beiseite genommen und mir versprochen: er wollte mir am Ersten jeden Monats ein silbernes Vier-Penny-Stück geben, wenn ich bloß »mein Wetterauge offen halten wollte nach einem Seemann mit nur einem Bein«, und wenn ich ihm, sobald der auftauchte, augenblicklich Bescheid geben wollte. Wenn nun der Monatserste da war und ich meinen Lohn von ihm verlangte, dann kam es oft genug vor, daß er nur durch die Nase blies und mich mit einem wütenden Blick ansah; aber bevor die Woche zu Ende war, hatte er es sich jedesmal besser überlegt: er brachte mir das Vier-Penny-Stück und wiederholte seinen Befehl, »nach dem Seemann mit dem einen Bein Ausguck zu halten«.

Wie dieser Seemann mich in meinen Träumen verfolgte, brauche ich kaum zu sagen. In stürmischen Nächten, wenn der Wind die vier Ecken unseres Hauses schüttelte und die Brandung in der Bucht gegen die Klippen donnerte, sah ich ihn in tausend Gestalten und mit tausend teuflischen Gesichtern. Bald war das Bein am Knie abgenommen, bald dicht an der Hüfte; dann wieder war er ein ungeheuerliches Geschöpf, das immer nur ein einziges Bein gehabt hatte, und zwar mitten unter dem Rumpf. Ihn zu sehen, wie er sprang und lief und mich über Gräben und Hecken verfolgte, das war für mich der fürchterlichste Nachtmahr. So mußte ich eigentlich mein monatliches Vier-Penny-Stück recht teuer bezahlen, denn ich bekam dafür diese gräßlichen Traumgesichte in den Kauf.

Wenn ich vor dem einbeinigen Seemann eine schreckliche Angst hatte, so hatte ich dafür vor dem Kaptein selber weniger Furcht als andere, die ihn kannten. An manchen Abenden nahm er mehr Rum und Wasser zu sich, als sein Kopf vertragen konnte; dann saß er zuweilen, ohne sich um irgendeinen Menschen zu bekümmern, und sang seine ruchlosen alten wilden Schifferlieder; zuweilen aber bestellte er Runden und zwang die ganze zitternde Gesellschaft, seine Geschichten anzuhören oder als Chor in seine Lieder einzufallen. Oft zitterte das Haus von dem »Johoho, und ’ne Buddel, Buddel Rum«; alle Nachbarn stimmten aus voller Kehle ein, mit einer Todesangst im Leibe, und einer sang noch lauter als der andere, damit nur der Kaptein keine Bemerkungen machte. Denn wenn er diese Anfälle hatte, war er der ungemütlichste Gesellschafter von der Welt; dann schlug er mit der Faust auf den Tisch und gebot Ruhe; wenn irgendeine Zwischenfrage gestellt wurde, regte er sich fürchterlich auf – manchmal aber noch mehr, wenn keine Frage gestellt wurde, weil er dann glaubte, die Gesellschaft hörte nicht auf seine Geschichte. An solchen Abenden durfte keiner die Schenkstube verlassen, bis er selber vom Trinken schläfrig geworden war und ins Bett taumelte.

Am meisten Angst machte er den Leuten mit seinen Geschichten. Und fürchterliche Geschichten waren es allerdings: von Hängen, über die Planke gehen lassen, von Stürmen auf hoher See, und von den Schildkröteninseln, und von wilden Gefechten und Taten, und von Häfen in den westindischen Gewässern. Nach seinen eigenen Berichten mußte er unter den größten Verbrechern gelebt haben, die Gott jemals zur See gehen ließ; und die Worte, in denen er diese Geschichten erzählte, entsetzten unsere guten Landleute beinahe ebensosehr wie die Verbrechen, von denen sie handelten. Mein Vater sagte fortwährend: unser Gasthof werde zugrunde gerichtet werden, denn die Leute würden bald nicht mehr kommen, um sich anschnauzen und niederducken zu lassen und dann mit zitternden Gebeinen zu Bett zu gehen. Aber ich glaube, daß in Wirklichkeit seine Anwesenheit uns Vorteil brachte. Die Leute grauelten sich allerdings, aber in der Rückerinnerung hatten sie die Geschichten eigentlich gern; es war eine angenehme Aufregung in ihrem stillen Landleben. Unter den jüngeren Leuten gab es sogar eine Partei, die voll Bewunderung von ihm sprach. Sie nannten ihn »einen echten Seehund« und »eine richtige alte Teerjacke« und so ähnlich und sagten, das wären gerade die Leute, die England so gefürchtet zur See machten. In einer Beziehung richtete allerdings der Kaptein uns zugrunde: er blieb eine Woche nach der anderen, so daß die Goldstücke, die er auf den Tisch geworfen hatte, längst verrechnet waren; aber mein Vater konnte sich niemals ein Herz fassen und mehr Geld von ihm verlangen. Sobald er eine leichte Anspielung machte, blies der Kaptein so laut durch die Nase, daß es beinahe ein Brüllen war, und sah meinen Vater so wütend an, daß dieser die Schenkstube verließ. Ich habe ihn nach solcher Abweisung die Hände ringen sehen, und ich bin überzeugt, daß der Verdruß über seinen Gast und die Angst, worin er lebte, seinen allzu frühen unglücklichen Tod sehr beschleunigt haben.

Während der ganzen Zeit, daß der Kaptein bei uns wohnte, trug er immer denselben Anzug; niemals änderte er etwas daran, nur einmal kaufte er Strümpfe von einem Hausierer. Als eine von den Krempen seines Hutes sich losgelöst hatte und herunterhing, ließ er ihn so, wie er war, obwohl diese Krempe ihn bei starkem Wind sehr belästigte. Ich sehe vor meinen Augen noch seinen Rock, auf den er selber oben in seinem Zimmer einen Flicken setzte, sooft er das für nötig hielt; schließlich bestand der ganze Rock nur aus Flicken. Niemals schrieb er einen Brief, niemals empfing er einen; er sprach mit keinem Menschen ein Wort außer mit den Nachbarn, die zu uns in die Wirtschaft kamen, auch mit diesen gewöhnlich nur, wenn er zuviel Rum getrunken hatte. Seine große Schifferkiste hatte keiner von uns jemals offen gesehen.

Nur ein einziges Mal wagte ein Mensch, ihm über den Mund zu fahren, und das geschah erst in der letzten Zeit, als mein armer Vater schon sehr krank und dem Tode nahe war. Doktor Livesey kam eines Nachmittags zu später Stunde, um noch nach dem Kranken zu sehen; meine Mutter setzte ihm ein bißchen zu essen vor, und dann ging er in die Schenkstube, um eine Pfeife zu rauchen, bis sein Pferd vom Dorf zurückgebracht würde; denn wir hatten im alten »Admiral Benbow« keine Stallung. Ich ging mit dem Doktor in die Schenkstube, und ich erinnere mich noch, daß mir der Unterschied zwischen dem sauberen, munteren Doktor mit seiner schneeweiß gepuderten Perücke, seinen hellen, schwarzen Augen und seinem liebenswürdigen Benehmen und den plumpen Landleuten auffiel, besonders aber der Gegensatz zu dem schmutzigen, zerlumpten alten Piraten, der stark angetrunken hinter seinem Tische saß und die Ellenbogen aufgestützt hatte. Plötzlich begann er, der Kaptein nämlich, sein ewiges Lied zu brüllen:

Fünfzehn Mann bei des Toten Kist‘ –
Johoho, und ’ne Buddel, Buddel Rum!
Suff und der Teufel holten den Rest –
Johoho, und ’ne Buddel, Buddel Rum!

Anfangs hatte ich vermutet, »des Toten Kist’« sei die große Schifferkiste oben im Vorderzimmer, und ich hatte sie in meinen Träumen mit dem einbeinigen Schiffer in Verbindung gebracht. Inzwischen aber hatten wir alle schon längst aufgehört, auf sein Singen zu achten; an diesem Abend war das Lied nur dem Dr. Livesey neu, und ich bemerkte, daß es auf ihn keinen angenehmen Eindruck machte; denn er sah einen Augenblick ganz ärgerlich aus, bevor er in seinem Gespräch mit dem alten Gärtner Taylor fortfuhr, mit dem er sich über ein neues Mittel gegen das Gliederreißen unterhielt. Der Kapitän wurde bei seinem eigenen Lied lustig und schlug schließlich mit der Faust vor sich auf den Tisch; wir alle wußten, daß er damit den Anwesenden Schweigen befehlen wollte. Alle hörten sofort auf zu sprechen – mit Ausnahme des Dr. Livesey; der sprach ruhig weiter, indem er zwischen jedem zweiten oder dritten Wort einen kurzen Zug aus seiner Pfeife tat. Eine Weile starrte der Kaptein ihn an, schlug wieder mit der flachen Hand auf den Tisch, starrte ihn noch grimmiger an und schrie endlich mit einem gemeinen Fluch:

»Stille da unter Deck!«

»Sagten Sie etwas zu mir, Herr?« sagte der Doktor.

Und als der Kerl mit einem neuen Fluch ihm sagte, das wäre allerdings der Fall, antwortete der Arzt:

»Ich habe Ihnen nur eins zu sagen, Herr: wenn Sie mit dem Rumtrinken so weiter machen, wird die Welt bald von einem sehr dreckigen Schuft befreit sein!«

Die Wut des alten Burschen war schrecklich anzusehen. Er sprang auf, zog ein Matrosen-Klappmesser, öffnete es, schwang es auf der offenen Handfläche und drohte dem Doktor, er werde ihn an die Wand spießen.

Der aber rührte sich nicht einmal. Er sprach wie bisher über die Schulter weg zum Kaptein und sagte mit der gleichen ruhigen Stimme, ziemlich laut, so daß alle im Zimmer ihn hören konnten, aber ganz gelassen:

»Wenn Ihr nicht augenblicklich das Messer in die Tasche steckt, so gebe ich Euch mein Wort darauf: nach der nächsten Gerichtssitzung hängt Ihr am Galgen!«

Dann kreuzten ihre Blicke sich; aber der Kaptein gab bald klein bei, steckte seine Waffe ein und setzte sich wieder hin, wobei er wie ein geprügelter Hund knurrte. »Und nun noch eins, mein Mann!« fuhr der Doktor fort: »Da ich jetzt weiß, daß solch ein Bursche in meinem Bezirk ist, so könnt Ihr Euch darauf verlassen, daß ich Tag und Nacht ein Auge auf Euch haben werde. Ich bin nicht nur Arzt, ich bin auch Beamter; und wenn ich auch nur die leiseste Beschwerde über Euch höre – wär’s auch bloß wegen einer Unhöflichkeit wie heute abend –, so werde ich dafür zu sorgen wissen, daß man Euch an dem Kragen nimmt und abschiebt. Und damit genug!«

Bald darauf wurde Dr. Liveseys Pferd gebracht, und er ritt ab; der Kaptein aber war an diesem Abend still und tat noch viele Abende hinterher den Mund nicht auf.

Zweites Kapitel


Der Schwarze Hund erscheint und verschwindet wieder

Nicht lange Zeit nach diesem Auftritt trat das erste von den geheimnisvollen Ereignissen ein, die uns schließlich den Kaptein vom Halse schafften, wenn auch nicht seine Angelegenheiten, wie der Leser sehen wird.

Es war ein bitterkalter Winter mit langandauernden, harten Frösten und schweren Stürmen, und es war von Anfang an klar, daß mein armer Vater wenig Aussicht hatte, den Frühling noch zu erleben. Er wurde mit jedem Tag schwächer, und meine Mutter und ich hatten den ganzen Betrieb der Wirtschaft zu besorgen; so hatten wir immer viel zu tun und konnten uns um unseren unangenehmen Gast wenig kümmern. Es war an einem Januarmorgen, zu sehr früher Stunde. Das Wetter war beißend kalt; die ganze Bucht war grau vom Rauhreif; die Sonne stand noch niedrig und berührte nur eben die Hügelspitzen und schien weit über das Meer hinaus. Der Kaptein war früher als gewöhnlich aufgestanden und nach dem Strand hinuntergegangen; sein Stutzsäbel schwang unter den breiten Schößen seines blauen Rockes hin und her, sein Messingfernrohr hatte er unter die Achsel geklemmt, den Hut in den Nacken zurückgeschoben. Sein Atem hing wie ein Rauchstreifen hinter ihm, wie er so mit langen Schritten dahinging, und der letzte Ton, den ich von ihm hörte, als er um den großen Felsen bog, war ein lautes, entrüstetes Schnauben, wie wenn er immer noch an den Dr. Livesey dächte. Mutter war oben bei Vater, und ich war dabei, den Frühstückstisch zu decken, damit er bei der Rückkehr alles fertig fände; da ging die Tür zur Schenkstube auf, und herein trat ein Mann, den ich nie in meinem Leben gesehen hatte. Er war ein Kerl mit blassem, käsigem Gesicht; an der linken Hand fehlten ihm zwei Finger, und obgleich er einen Stutzsäbel trug, sah er nicht gerade nach einem großen Fechter aus. Ich war immer auf dem Ausguck nach Seeleuten, einerlei ob mit einem Bein oder mit zweien, und ich erinnere mich noch heute, daß der Mann mir sofort verdächtig vorkam. Er sah nicht schiffermäßig aus, und trotzdem hatte er etwas von der See an sich.

Ich fragte ihn, was er wünschte, und er sagte, er wolle ein Glas Rum nehmen. Als ich aber hinausgehen wollte, um das Getränk zu holen, setzte er sich auf einen Tisch und winkte mir; ich möchte näher kommen. Ich blieb aber mit meinem Wischtuch in der Hand stehen, wo ich war. Da sagte er:

»Komm doch her, Jungchen! Komm doch mal näher!«

Ich trat einen Schritt näher an ihn heran.

»Ist der Tisch hier für meinen Maat Bill gedeckt?« fragte er und sah mich dabei lauernd an.

Ich sagte ihm, seinen Maat Bill kenne ich nicht, und der Tisch sei für jemand gedeckt, der in unserem Hause wohne und den wir den Kaptein nannten.

»Na,« sagte er, »mein Maat Bill wird sich wohl Kaptein nennen lassen; das sollte mich gar nicht wundern. Er hat einen Schmiß auf der einen Backe, und ein mächtig netter Kerl ist er, mein Maat Bill, besonders beim Trinken. Wir wollen mal annehmen, euer Kaptein hat einen Schmiß auf der Backe – und, was meinst du? – wir wollen mal annehmen, er hat ihn auf der rechten Backe. Aha, siehst du, ich sagte es dir ja. Na, ist also mein Maat Bill hier im Hause?«

Ich sagte ihm, er sei ausgegangen.

»Wohin denn, Jungchen? Welchen Weg ist er gegangen?«

Ich zeigte ihm den Felsen und sagte ihm, daß der Kaptein jedenfalls bald nach Hause kommen werde, und beantwortete ihm noch ein paar andere Fragen.

Schließlich sagte er:

»Na, da wird mein Maat Bill sich freuen wie über ein Glas Rum.« Der Gesichtsausdruck, mit dem er diese Worte sprach, war durchaus nicht angenehm, und ich hatte meine besonderen Gründe anzunehmen, daß der Fremde sich irrte, selbst wenn seine Worte aufrichtig gemeint wären. Aber ich dachte, das ginge ja mich nichts an; außerdem war es schwierig zu entscheiden, was da zu tun sei.

Der Fremde hielt sich fortwährend dicht bei der Haustür auf und guckte alle Augenblicke um die Ecke wie eine Katze, die auf eine Maus lauert. Einmal ging ich selber auf die Straße hinaus, aber er rief mich sofort zurück, und als ich nicht schnell genug folgte, verzerrte sich sein käsiges Gesicht auf eine ganz fürchterliche Weise, und mit einem Fluch, der mir Angst machte, befahl er mir, sofort ins Haus zu gehen. Als ich aber wieder drinnen war, benahm er sich wie vorher: halb spöttisch, halb schmeichlerisch; klopfte mir auf die Schulter und sagte mir, ich sei ein guter Junge und er möchte mich riesig gerne leiden.

»Ich habe selber einen Jungen,« sagte er, »der sieht dir so ähnlich wie ein Ei dem andern und ist so recht mein Stolz. Aber die Hauptsache für Jungens ist Gehorchen – Gehorsam, Jungchen! Na, wenn du mit Bill zusammen auf See gewesen wärest, dann hättest du nicht hier gestanden und dir was zweimal sagen lassen – glaub mir das! Das gab’s bei Bill nicht, und das gibt’s auch bei denen nicht, die mit ihm gefahren sind. Und sieh mal an, da kommt ja mein Maat Bill, mit einem Fernrohr unterm Arm, der gute alte Kerl! Da wollen wir beide mal man in die Schenkstube gehen, Jungchen, und uns hinter die Tür stellen, und wollen Bill ein bißchen überraschen – die gute alte Seele!«

Mit diesen Worten ging der Fremde mit mir in die Schenkstube zurück und ließ mich hinter ihm in die Ecke treten, so daß wir beide hinter der geöffneten Türe verborgen waren. Ich fühlte mich sehr unbehaglich und unruhig, wie man sich wohl denken kann, und meine Angst wurde dadurch noch größer, daß der Fremde offenbar selber Furcht hatte. Er machte den Griff seines Stutzsäbels frei und lockerte die Klinge in der Scheide; und während der ganzen Zeit, daß wir dastanden und warteten, schluckte er fortwährend, als ob er einen Kloß in der Kehle hätte, wie man zu sagen pflegt.

Endlich trat der Kaptein ein, schlug die Tür hinter sich zu, ohne nach rechts oder nach links zu sehen, und ging quer durch das Zimmer an den Tisch, auf dem das Frühstück für ihn bereit stand.

»Bill!« sagte der Fremde mit einer Stimme, der ich deutlich anmerkte, daß er alle Kraft aufgeboten hatte, sie recht laut und kühn zu machen.

Der Kaptein drehte sich auf dem Absatz herum und sah uns an; alle braune Farbe war aus seinem Antlitz gewichen, und sogar seine Nase war blau; er sah aus wie ein Mensch, der ein Gespenst erblickt oder den Teufel oder sogar noch etwas Schlimmeres, wenn es das gibt, und auf mein Wort: es tat mir leid, wie ich ihn plötzlich so alt und krank aussehend fand.

»Nanu, Bill, du kennst mich doch; du kennst doch gewiß einen alten Schiffsmaat, Bill!« sagte der Fremde.

Der Kaptein riß den Mund auf, wie wenn er nach Luft schnappen müßte, und rief:

»Der Schwarze Hund!«

»Wer denn sonst?« antwortete der andere, der sich offenbar etwas behaglicher zu fühlen begann. »Der Schwarze Hund, immer noch der alte, ist nun hier, um seinen allen Schiffskumpan Bill im ›Admiral Benbow‹ zu besuchen. Oh, Bill, Bill! wir haben was durchgemacht, wir zwei, seitdem ich die beiden Greifer verlor!« Und dabei hält er die verstümmelte Hand in die Höhe.

»Na, denn hör mal zu!« sagte der Kaptein: »Du hast mich gestellt; hier bin ich. Also denn man los: was willst du?«

»Das sieht dir ähnlich, Bill!« antwortete der Schwarze Hund. »Bist immer noch der alte Billy. Ich will mir ein Glas Rum geben lassen von dem lieben Jungchen hier, der so nett ist; und dann wollen wir uns hinsetzen, wenn’s dir recht ist, und wollen ein vernünftiges Wort miteinander schnacken, als richtige alte Schiffskameraden.«

Als ich mit dem Rum wieder hereinkam, saßen sie schon an des Kapteins Frühstückstisch einander gegenüber – der Schwarze Hund nach der Tür zu und etwas seitlings auf seinem Stuhl, so daß er, wie mir vorkam, das eine Auge auf seinem alten Schiffskumpan und das andere auf seiner Rückzugslinie hatte.

Er befahl mir hinauszugehen und die Tür weit offen zu lassen.

»Durchs Schlüsselloch gucken gibt’s bei mir nicht, Jungchen!« sagte er.

Ich ließ die beiden miteinander sitzen und zog mich in den Zapfraum zurück.

Obgleich ich mir natürlich alle Mühe gab, etwas zu hören, konnte ich lange Zeit weiter nichts hören als ein leises Gemurmel; schließlich aber begannen die Stimmen lauter zu werden, und ich konnte ab und zu ein paar Worte vom Kaptein verstehen – meistens Flüche.

»Nein, nein, nein, nein! Und damit basta,« schrie er einmal. Und ein anderes Mal: »Wenn’s zum Baumeln kommt, sollen alle baumeln – das sage ich!«

Dann aber gab es ganz plötzlich einen furchtbaren Ausbruch von Flüchen und anderen Geräuschen – Stühle und Tisch fielen um, er folgte ein Klirren von Stahl und dann ein Schmerzensschrei. Und im nächsten Augenblick sah ich den Schwarzen Hund in voller Flucht und den Kaptein scharf hinter ihm her, beide mit gezogenen Stutzsäbeln; dem Schwarzen Hund aber strömte Blut von der linken Schulter herunter. Unmittelbar vor der Tür führte der Kaptein noch einen letzten furchtbaren Streich nach dem Fliehenden; sicherlich hätte der Hieb ihm den Garaus gemacht, wenn er nicht von dem großen Gasthofsschild des »Admiral Benbow« aufgefangen worden wäre. Man kann die Spur noch bis auf den heutigen Tag an der unteren Leiste des Rahmens sehen.

Mit diesem Hieb war das Gefecht aus. Kaum war der Schwarze Hund auf der Straße, so entwickelte er trotz seiner Wunde eine ungeheure Geschwindigkeit und war in einer halben Minute jenseits der Höhe verschwunden. Der Kaptein aber starrte wie geistesabwesend auf das Schild. Dann fuhr er sich ein paarmal mit der Hand über die Augen, und schließlich ging er in das Haus zurück und sagte zu mir:

»Jim, Rum!«

Und als er diese Worte sprach, taumelte er hin und her und mußte sich mit der einen Hand gegen die Wand stützen.

»Sind Sie verwundet?« schrie ich.

»Rum!« sagte er noch einmal. »Ich muß fort von hier. Rum! Rum!«

Ich lief schnell, welchen zu holen; aber ich war von allen diesen Vorgängen ganz verstört und zerbrach ein Glas und konnte den Zapfen nicht richtig aufdrehen. Und während ich mir noch damit zu tun machte, hörte ich im Schenkzimmer einen schweren Fall. Und als ich hineinrannte, sah ich den Kaptein, so lang er war, auf dem Fußboden liegen. In demselben Augenblick kam meine Mutter, die das Geschrei und der Lärm des Kampfes aufgeschreckt hatten, die Treppe heruntergelaufen, um mir zu helfen. Mit vereinten Kräften hoben wir ihm den Kopf hoch. Er atmete sehr schwer und laut; aber seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht war so blaurot, daß es schrecklich anzusehen war.

»Herrje, Herrjemine!« schrie meine Mutter: »Was für eine Schande für unser Haus! Und auch dein armer Vater liegt krank zu Bett!«

Wir hatten keine Ahnung, auf welche Weise wir dem Kaptein helfen könnten; wir dachten, er wäre in dem Gefecht mit dem Fremden tödlich verwundet worden. Ich brachte allerdings den Rum und versuchte ihm etwas davon einzuflößen; aber seine Zähne waren dicht geschlossen, und seine Kinnbacken waren so hart wie Eisen. Wir fühlten uns ganz glücklich und erleichtert, als plötzlich die Tür aufging und Dr. Livesey eintrat, der seinen Besuch bei meinem Vater machen wollte.

»O Herr Doktor!« riefen wir: »Was sollen wir tun! Wo ist er verwundet?«

»Verwundet? Papperlapapp!« sagte der Doktor. »Der ist nicht mehr verwundet als ihr oder ich. Der Mann hat einen Schlaganfall gehabt, wie ich es ihm vorhergesagt hatte. Nun, Frau Hawkins, laufen Sie mal schnell nach oben zu Ihrem Mann, aber sagen Sie ihm, wenn irgend möglich, kein Wort von der Geschichte. Ich muß ja leider mein Bestes tun, dieses Kerls in jeder Beziehung wertloses Leben zu retten, und Jim wird so gut sein, mir eine Schüssel zu holen.«

Als ich mit der Schüssel zurückkam, hatte der Doktor schon dem Kaptein den Ärmel hochgestreift und seinen dicken, muskelkräftigen Arm entblößt, der an mehreren Stellen tätowiert war: »Gut Glück!« – »Schöner Wind!« – »Billy Bones sein Liebchen!« Diese Inschriften waren sauber und deutlich auf dem Unterarm angebracht; auf dem Oberarm aber in der Nähe der Schulter war ein Bild von einem Galgen, an dem ein Mensch hing – sehr hübsch und witzig ausgeführt, wie mir dünkte.

»Prophetisch!« sagte der Doktor und tippte auf das Bild. »Und nun, Meister Billy Bones – wenn das Euer Name ist – wollen wir uns mal die Farbe Eures Blutes ansehen. Jim,« sagte er, »hast du Angst vor Blut?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Na, dann halte mal die Schüssel!«

Und mit diesen Worten nahm der Doktor seine Lanzette und öffnete eine Ader.

Eine große Menge Blut wurde abgezapft, bevor der Kaptein die Augen aufschlug und mit einem blöden Blick um sich sah. Zuerst erkannte er den Doktor und runzelte die Stirn; dann fiel sein Blick auf mich, und er sah erleichtert aus. Plötzlich aber wechselte er die Farbe, versuchte sich aufzurichten und rief:

»Wo ist der Schwarze Hund?«

»Hier ist kein schwarzer Hund,« sagte der Doktor, »außer dem, der Euch im Nacken sitzt. 1 Ihr habt zuviel Rum getrunken; jetzt habt Ihr einen Schlaganfall gehabt, genau wie ich’s Euch vorausgesagt habe; ich habe Euch aber, sehr gegen meinen eigenen Willen, noch einmal mit dem Kopfe voran aus dem Grabe herausgezogen. Nun, Herr Bones –«

»So heiße ich nicht!« unterbrach der Kaptein den Doktor.

»Ist mir Wurscht!« antwortete der. »Ein alter Seeräuber, den ich kenne, heißt so; und ich nenne Euch so der Kürze wegen, und was ich Euch zu sagen habe, ist dies: Ein Glas Rum wird Euch nicht umschmeißen, aber wenn Ihr eins trinkt, so werdet Ihr noch eins nehmen und wieder eins, und ich setze meine Perücke zum Pfande: wenn Ihr das Rumtrinken nicht ganz und gar aufgebt, so sterbt Ihr – versteht Ihr dies? – sterbt und geht dahin, wo Ihr hingehört, wie der Mann in der Bibel. Na, nun versucht mal aufzustehen. Ich will Euch zu Bett bringen.«

Mit großer Mühe gelang es uns beiden, dem Doktor und mir, den Kaptein die Treppe hinaufzubringen und ihn auf sein Bett zu legen, wo ihm sofort der Kopf auf das Kissen sank, als ob er beinahe ohnmächtig wäre.

»Also denkt daran!« sagte der Doktor; »ich wasche meine Hände in Unschuld – das Wort Rum bedeutet für Euch Tod.«

Und damit ging er hinaus, um nach meinem Vater zu sehen. Er faßte mich am Arm und nahm mich mit hinaus, und sobald er die Tür geschlossen hatte, sagte er zu mir:

»Das hat nichts zu bedeuten; ich habe ihm genug Blut abgezapft, um ihn für eine Weile ruhig zu halten; er sollte eine Woche im Bett liegenbleiben – das ist das beste für ihn und für euch; aber wenn er noch einen Schlaganfall kriegt, so ist’s aus mit ihm.«

  1. Im Englischen sprichwörtlich für Angst. C.

Elftes Kapitel


Was ich in der Apfeltonne hörte

»I Gott bewahre! Flint war Käpp’n; ich war Schiemann, trotz meinem Holzbein. Von derselben Breitseite, die mir mein Bein wegriß, verlor der alte Pew seine Gucker. Der Doktor, der mich amputierte, war ein großartiger Arzt – auf Hochschulen gewesen und alles, was man haben wollte –, Latein eimerweise, und was nicht alles; aber er wurde gehängt wie ein Hund und an der Sonne getrocknet wie die übrigen, in Corso Castle. Es waren Roberts seine Leute, die da baumelten – und das kam davon, daß sie die Namen von ihren Schiffen änderten – ›Royal Fortune‹ und so weiter. Nee, wie ein Schiff mal getauft ist, so laßt es weiter heißen – das sage ich! So war es mit der Cassandra, die uns alle heil und gesund von Malabar nach Hause brachte, als England den Vizekönig von Indien gefangen hatte; so war es mit dem alten ›Walroß‹, Flints altem Schiff, das sah ich ganz schlipperig vom roten Blut und mit Gold beladen bis zum Sinken!«

»Ah!« rief eine andere Stimme, offenbar voll von Bewunderung; ich erkannte den jüngsten Matrosen, den wir an Bord hatten; »ha! der war doch der großartigste Kerl von allen, der Flint!«

»Na, Davis war auch ein Mann, das will ich meinen!« sagte Silver. »Ich bin allerdings niemals mit ihm gefahren; ich war erst bei England und dann bei Flint, und damit ist meine Geschichte aus; und nun bin ich hier auf meine eigene Rechnung, sozusagen. Neunhundert Pfund legte ich auf die Kante, die verdiente ich unter England; und dann zweitausend, das war mein Anteil, als ich bei Flint war. Das ist gar nicht so schlecht für einen Mann vorm Mast – und sie liegen alle sicher in der Bank. Daß man Geld verdient, tut es noch nicht allein; man muß es auch zu sparen wissen, glaubt mir das! Wo Englands Leute jetzt sind? Das weiß ich nicht. Wo Flints Leute? Na, die meisten von ihm sind hier an Bord, und sind froh, daß sie ihr Futter haben – mancher von ihnen hat vorher betteln müssen. Der alte Pew, der seine Augen verloren hatte, der gab zwölfhundert Pfund in einem Jahr aus wie ein Lord im Parlament. Hätte sich was schämen sollen. Wo er jetzt ist? Nu, tot ist er und unter der Erde; aber die letzten zwei Jahre vor seinem Tode, Gottverdammich, da hat der Mann gehungert! Er bettelte und stahl und schnitt Kehlen ab – und bei alledem hat er gehungert, Gottverdammich!«

»Tscha, viel Gutes kommt schließlich nicht dabei heraus,« sagte der junge Matrose.

»Für Dummköpfe allerdings nicht, darauf kannst du dich verlassen – nicht bloß nicht viel, sondern gar nichts!« rief Silver. »Aber nun hör‘ mal: jung bist du ja freilich, aber du, du bist helle wie ein Dreierlicht. Das sah ich, als ich dich zum erstenmal zu sehen kriegte, und darum will ich zu dir reden, wie zu ’nem Mann!«

Man kann sich vorstellen, was ich dabei fühlte, als ich den fürchterlichen alten Schurken zu einem anderen genau dieselben schmeichelhaften Worte sagen hörte, mit denen er mich angeredet hatte. Ich glaube: wäre ich dazu imstande gewesen, ich hätte ihn auf der Stelle durch die Apfeltonne hindurch getötet. Mittlerweile sprach er weiter, ohne eine Ahnung zu haben, daß ein Mensch ihm zuhörte.

»Mit den Gentlemen des Glücks ist es so: sie haben ein hartes Leben und riskieren den Strick, aber sie essen und trinken wie Kampfhähne, und wenn eine Kreuzfahrt zu Ende ist, na, dann haben sie Hunderte von Pfunden Sterling in ihrer Tasche statt ein paar hundert Pfennigen. Na, das meiste geht für Rum drauf und lustiges Leben, und dann gehen sie wieder zu See und haben bloß das Hemd auf dem Leibe. Aber das ist nicht meine Art! Ich lege alles auf die Kante, ein bißchen hierhin, und ein bißchen dahin, und ja nicht zu viel auf eine Stelle, damit’s keinen Verdacht gibt. Ich habe meine fünfzig Jahr auf dem Buckel, verstehst du? Sobald ich von dieser Fahrt zurück bin, spiele ich den feinen Mann und bleibe einer. Ist auch höchste Zeit, meinst du. Ja ja – aber ich habe die ganze Zeit gut gelebt; habe mir niemals etwas abgehen lassen, was mein Herz begehrte, und habe alle meine Lebtage sanft geschlafen und lecker gegessen, außer wenn ich auf See war. Und wie fing ich an? Vor dem Mast – genau wie du!«

»Nu ja,« sagte der andere; »aber alle die andern haben doch jetzt kein Geld mehr, nicht wahr? Und wo ist dein Geld? Du darfst dich doch in Bristol nachher nicht mehr sehen lassen!«

»Puh! wo glaubst du wohl, wo mein Geld ist?« fragte Silver höhnisch.

»In Bristol, bei Banken und sonstwo,« antwortete sein Kamerad.

»Da war es,« sagte der Koch; »da war es, als wir den Anker lichteten. Aber jetzt hat meine alte Deern das ganze. Und das ›Fernrohr‹ ist verkauft – Wirtschaft und Ausrüstung und Kundschaft; und die alte Deern ist schon unterwegs und weiß, wo sie mich trifft. Ich würde dir sagen, wo das ist – denn ich traue dir; aber es würde die anderen Kameraden eifersüchtig machen.«

»Und kannst du dich denn auf deine Frau verlassen?« fragte der andere.

»Glücksgentlemen,« antwortete der Koch, »trauen für gewöhnlich wenig einander, und da haben sie auch recht, verlaß dich drauf. Aber ich habe so was Besonderes an mir, weißt du. Wenn einer sonst auch nicht so ganz zuverlässig ist – ich meine: einer, der mich kennt – so wird er sich mit dem alten John doch vorsehen. Da waren einige, die hatten vorm alten Pew Angst, und einige hatten Angst vor Flint; aber Flint selber hatte Angst vor mir. Hatte Angst vor mir und war stolz auf mich. Das war die schlimmste Bande auf der ganzen See, Flints Leute; der Teufel selber hätte Angst gehabt, mit ihnen in See zu gehen. Na, ich sage dir, – prahlen ist sonst nicht meine Art, und du siehst selber, was für ein netter Kamerad ich bin; aber als ich Schiemann war, da waren Flints alte Piraten wie Lämmer, sag‘ ich dir. Oh, du brauchst keine Angst zu haben auf dem Schiff, wo der alte John drauf ist!«

»Na, ich will dir was sagen,« rief der Junge; »die Geschichte gefiel mir eigentlich ganz und gar nicht, bis ich dies Gespräch mit dir hatte; aber hier ist jetzt meine Hand drauf!«

»Und ein braver Junge warst du, und helle bist du auch!« antwortete der Silver, und sie schüttelten sich so ernstlich die Hände, daß die ganze Apfeltonne zitterte; »und einen schöneren Kopf für einen Glückgentleman haben meine Augen nie gesehen!«

Ich begann mittlerweile ihre Ausdrücke zu verstehen. Unter einem »Glücksgentleman« verstanden sie offenbar nicht mehr noch weniger als einen gemeinen Piraten, und die kleine Szene, die ich belauscht hatte, war der letzte Akt der Verführung eines von den ehrlichen Matrosen – vielleicht des letzten solchen, der noch an Bord war. Aber in dieser Hinsicht sollte ich bald Gewitzheit haben; denn Silver stieß einen leisen Pfiff aus, und da kam ein dritter heran und setzte sich zu den beiden anderen.

»Dick ist unser,« sagte Silver. »Oh, ich wußte, daß Dick unser sein würde,« antwortete die Stimme des Schaluppmeisters Israel Hands. »Dick ist ja doch kein Schafskopf!« Bei diesen Worten spuckte er seinen Tabakssaft aus. »Aber hör‘ mal,« fuhr er fort, »ich möchte das wissen, Barbecue: wie lange soll das noch so weiter gehen? Ich habe von Käpp’n Smollett nun bald genug gehabt; er hat mich lange genug geschurigelt, zum Donner nochmal! Ich will jetzt seine Kajüte haben! Ich will ihre eingemachten Sachen haben und ihren Wein und so weiter!«

»Israel,« sagte Silver, »dein Kopf ist nicht viel wert; ist es nie gewesen. Aber du kannst wohl hören, denk‘ ich; deine Ohren sind wenigstens groß genug dazu. Na, hör‘ mal, was ich dir sage: du bleibst vorn bei uns anderen schlafen und arbeitest und sprichst vernünftig und bleibst nüchtern, bis ich das Losungswort gebe. Und darauf kannst du dich verlassen, mein Sohn!«

»Nun – ich sage ja auch nicht, daß ich das nicht will, nicht wahr?« murrte der Schaluppmeister. »Ich frage bloß: wann? Weiter frage ich nichts.«

»Wann! Gottverdammich!« rief Silver. »Na, wenn du’s durchaus wissen willst, so will ich dir sagen, wann es sein soll. So spät, wie ich es irgend machen kann; da hast du deine Antwort auf die Frage: wann. Da ist ein Seemann erster Güte, Käpp’n Smollett, der dies verdammte Schiff für uns segelt. Da ist dieser Squire und der Doktor mit einer Karte und so weiter. Ich weiß auch nicht, wo der Kram liegt, nicht wahr? Du weißt es auch nicht? Na also! Ich meine, dieser Squire und dieser Doktor sollen das Zeug finden und sollen uns helfen, es an Bord zu kriegen, Gottverdammich noch einmal! Und dann wollen wir sehen. Wenn ich euch alle sicher wüßte, ihr Söhne von doppelten Holländern, so sollte Käpp’n Smollett uns das Schiff den halben Weg zurückbringen, bevor ich zuschlüge!«

»Nu, wir sind doch lauter Seeleute hier an Bord, sollte ich meinen,« sagte der junge Dick.

»Wir sind alle Leute vor dem Mast, meinst du!« schnauzte Silver ihn an. »Wir können einen Kurs steuern – aber wer soll den Kurs angeben? Darüber kommt ihr Herren alle zu Fall, vom ersten bis zum letzten. Wenn es nach dir ginge, sollte Käpp’n Smollett uns mindestens bis in die Passatwinde zurückbringen; dann hätten wir keine verdammten Rechenfehler und einen Löffel voll Wasser täglich. Aber ich kenne eure Sorte! Ich will mit ihnen noch auf der Insel Schluß machen, sobald der Plunder an Bord ist, aber jammerschade ist es. Aber ihr seid ja nicht zufrieden, bis ihr besoffen seid! Hol‘ mich der Geier, mir tut das Herz weh, mit solchen Leuten wie ihr zu segeln!«

»Man sachte, Long John!« rief Israel. »Wer hat dir denn was getan?«

»Na, wie viele große Schiffe, meint ihr, habe ich entern sehen? And wie manchen fixen Kerl habe ich in der Sonne am Galgen trocknen sehen?« rief Silver; »und alles wegen dieses: man schnell! man schnell! man schnell! Versteht ihr mich? Ich habe allerlei auf See gesehen, das will ich meinen. Wenn ihr nur den richtigen Kurs steuert und euch stramm vorm Wind halten wolltet, ihr könntet als seine Leute in Kutschen fahren, jawoll! Aber fällt euch ja gar nicht ein! Ich kenne euch. Ihr wollt morgen euren Mund voll Rum haben und wenn’s zum Galgen geht!«

»Das weiß ja jeder, daß du so eine Art von Paster bist, John; aber da sind andere, die ebensogut wie du eine Sache deichseln konnten,« sagte Israel. »Sie waren gerne ein bißchen lustig, na ja. Sie waren eben nicht so langweilig und so trocken, sondern wollten mal eben ihren Jux haben, als lustige Kerls, einer wie der andere!«

»So?« sagte Silver. »Na, und wo sind sie nun? Pew war einer von der Sorte, und er starb als Bettler. Flint war auch einer, und der starb in Savannah am Rum. Oh, sie waren eine famose Bande, gewiß, das waren sie! Bloß – wo sind sie?«

»Aber,« fragte Dick, »wenn wir sie nun auf den Rücken legen, was sollen wir dann eigentlich mit ihnen anfangen?«

»Das ist der rechte Mann für mich!« rief der Koch, scheinbar voll Bewunderung. »Das nenne ich Geschäft. Na, was meint ihr wohl? Sie an Land auszusetzen? So hätte England es gemacht. Oder sie abzustechen wie Schweine? Das wäre Flints Art gewesen und Billy Bones‘ seine.«

»Billi war der Mann dazu,« sagte Israel. »Tote Leute beißen nicht – sagte er. Na, nun ist er selber tot; er weiß jetzt das Lange und das Breite davon, und wenn je ein wüster Kerl zu Hafen gekommen ist, so war Billy es.«

»Da hast du recht,« sagte Silver; »wüst war er und fix. Aber nun hör‘ mal zu: ich bin ein netter Kerl – ich bin ein richtiger Gentleman, sagst du; aber diesmal ist es Ernst. Pflicht ist Pflicht, Kameraden! Ich gebe meine Stimme ab – Tod! Wenn ich im Parlament bin und in meiner Kutsche fahre, dann will ich nicht, daß diese Herren aus der Kajüte auf einmal ganz unerwartet nach Hause kommen wie der Teufel, wenn einer betet! Abwarten, sage ich! Aber wenn die Zeit da ist, na – dann marsch mit ihnen!«

»John!« rief der Schaluppmeister, »du bist ein Mann!«

»Das wirst du sagen, Israel, wenn es so weit ist,« sagte Silver. »Für mich verlange ich bloß eins – ich verlange diesen Trelawney. Dem will ich seinen Kalbskopf vom Leibe abtrennen, mit diesen meinen eigenen Händen! Dick!« rief er plötzlich, »oh, spring mal schnell auf, mein lieber Junge, und bringe mir einen Apfel; mir ist die Kehle ganz trocken!«

Man kann sich vorstellen, welchen Schreck ich bekam! Wenn ich die Kraft gehabt hätte, wäre ich aus der Tonne gesprungen und davongelaufen; aber mir versagten die Glieder ebenso wie mein Mut. Ich hörte, wie Dick aufstand; dann aber hielt offenbar einer ihn zurück, und ich hörte Israels Stimme, der ausrief:

»Oh, laß das doch! Was willst du mit dem faden Zeug, John, laß uns einen guten Schluck Rum haben!«

»Dick,« sagte Silver, »ich traue dir. Übrigens habe ich ein Zeichen gemacht. Hier ist der Schlüssel; du füllst ein Kännchen und bringst es ran.«

So sehr ich auch in Angst war, mußte ich doch unwillkürlich bei mir denken, daß offenbar auf diesem Wege der Steuermann Arrow den Branntwein bekommen hatte, der sein Tod wurde.

Dick war nur eine kleine Weile fort, und während seiner Abwesenheit flüsterte Israel die ganze Zeit über dem Koch etwas ins Ohr. So konnte ich nur ein paar Worte aufschnappen; indessen bekam ich dadurch doch noch eine wichtige Nachricht; denn ich hörte deutlich, wie er sagte: »Von den anderen will kein einziger mehr mit uns gehen.«

Es waren also noch einige treue Leute an Bord.

Als Dick zurückkam, nahm einer nach dem anderen von dem Trio das Kännchen und brachte einen Spruch aus.

»Gut Glück!« sagte der eine. Der andere sagte:

»Das bring‘ ich dem alten Flint!«

Und Silver selbst machte eine Art von Vers:

»Dies auf uns selber, und haltet euch steif! ’nen Haufen Geld, und was Gutes in ’n Bauch!«

Gerade in diesem Augenblicke fiel ein heller Schein in die Tonne, und als ich aufblickte, fand ich, daß der Mond aufgegangen war und den Hauptmast versilberte und weiß auf das Focksegel schien; und beinahe in demselben Augenblicke rief der Mann am Ausguck:

»Land!«

Zwölftes Kapitel


Kriegsrat

Ich hörte ein lautes Getrappel von Füßen auf dem Deck. Ich hörte, wie Leute von der Kajüte und von der Vorderback auf Deck stürzten. Im Nu sprang ich aus meiner Tonne heraus, duckte mich hinter das Focksegel, schlich mich nach dem Stern zurück und kam gerade in dem Augenblick auf das freie Deck, als Hunter und Dr. Livesey nach dem Bugspriet liefen.

Dort war schon die ganze Schiffsmannschaft versammelt. Beinahe gleichzeitig mit dem Aufgehen des Mondes hatte ein Nebelgürtel sich verflüchtigt. Nach Südwesten zu sahen wir zwei niedrige Hügel, die etwa zwei Meilen voneinander entfernt sein mochten, und hinter einem von ihnen einen dritten, höheren Berg, dessen Gipfel noch vom Nebel bedeckt war. Alle drei Berge waren von scharfumrissener kegelförmiger Gestalt.

Soviel sah ich beinahe wie in einem Traum; denn ich hatte mich noch nicht von der gräßlichen Angst erholt, die ich ein paar Minuten vorher ausgestanden hatte. Die Hispaniola war ein paar Striche näher an den Wind gelegt worden und segelte jetzt einen solchen Kurs, daß sie gerade um die Ostspitze der Insel herumfahren mußte.

Als alle Segel gerefft waren, sagte der Kapitän:

»Nun, Leute, hat einer von euch das Land da vor uns schon einmal gesehen?«

»Das habe ich, Herr!« sagte Silver; »ich habe hier mit einem Kauffahrer Wasser eingenommen; ich fuhr als Koch mit.«

»Der Ankergrund ist wohl auf der Südseite, hinter einer kleinen Insel, denke ich mir?« sagte der Kapitän.

»Jawoll, Herr, das ist die sogenannte Skelettinsel. Die Hauptinsel war früher ein Lieblingsplatz der Piraten, und einer, den wir an Bord hatten, kannte alle die Namen, die sie den einzelnen Plätzen gegeben hatten. Den Berg da nach Norden zu nennen sie den Fockmast-Berg; drei Berge laufen in einer Reihe von Norden nach Süden – Fock-, Haupt- und Besanmast-Berg, Herr. Aber den Hauptmastberg – das ist der große da, mit der Wolke oben drauf –, den nannten sie für gewöhnlich das Fernrohr, weil sie da oben gewöhnlich einen Ausguck hielten, während sie auf dem Ankergrund lagen und ihr Schiff ausputzten; denn das taten sie immer auf der Stelle, Herr, bitte um Verzeihung.«

»Ich habe hier eine Karte,« sagte Kapitän Smollett. »Seht mal zu, ob das der Platz ist.«

Dem langen John glühten die Augen im Kopf, als er die Karte in die Hand nahm; ich erkannte aber gleich an dem neuen Aussehen des Papiers, daß ihm eine Enttäuschung bevorstände. Es war nicht die Karte, die wir in Billy Bones‘ Seekiste gefunden hatten, sondern eine genaue Kopie, auf welcher alles vollständig angegeben war: Namen und Höhen und Tiefenlotungen; mit der einzigen Ausnahme, daß die roten Kreuze und die handschriftlichen Erläuterungen fehlten. So groß sein Ärger gewesen sein muß, so hatte Silver doch die Selbstbeherrschung, ihn sich nicht anmerken zu lassen.

»Jawoll, jawoll, Herr,« sagte er, »freilich ist das die Stelle; und sehr sauber aufgezeichnet! Ich möchte wohl wissen, wer das hat machen können! Die Piraten waren wohl zu unwissend dazu, sollte ich meinen. Aha, da steht es: Käpp’n Kidds Ankergrund – genau der Name, den mein Schiffsmaat der Stelle gab. Ein starker Strom läuft an der Küste nach Süden, und dann wieder an der Westküste hinauf nach Norden. Das war recht von Ihnen, Herr Käpp’n, den Wind abzukneifen und auf die Wetterseite der Insel zu halten. Wenigstens wenn Sie die Absicht gehabt haben, hier vor Anker zu gehen und das Schiff auszuputzen; denn dafür gibt es keine bessere Stelle in diesen ganzen Gewässern.«

»Danke Euch, mein Mann,« sagte Kapitän Smollett. »Ich werde Euch später bitten, uns an die Hand zu gehen. Ihr könnt jetzt gehen.«

Ich war erstaunt über die Kaltblütigkeit, mit der John zugab, daß er die Insel kenne; und ich gestehe, daß ich einen Schreck bekam, als ich sah, wie er auf mich zuging. Allerdings wußte er sicherlich nicht, daß ich sein Gespräch bei der Apfeltonne belauscht hatte; aber ich hatte einen solchen Abscheu vor seiner Grausamkeit, Falschheit und Gefährlichkeit, daß ich kaum einen Schauder unterdrücken konnte, als er die Hand auf meinen Arm legte und zu mir sagte:

»Ei, das ist ein famoser Ort, diese Insel – ein famoser Ort für einen Jungen, der mal an Land gehen möchte. Da wirst du baden und wirst auf Bäume klettern und wirst Ziegen jagen, eija – und wirst selber wie eine Ziege auf die Berge da klettern. Wahrhaftig, der Anblick macht mich wieder jung! Ich vergaß beinah mein Holzbein! Es ist ein angenehmes Ding, jung zu sein und zehn Zehen zu haben, darauf kannst du dich verlassen. Wenn du gern mal eine kleine Streife unternehmen möchtest, so frage nur den alten John, und er wird dir einen Happenpappen zurecht machen, den du mitnehmen kannst.«

Er schlug mir in der freundschaftlichsten Weise auf die Schulter und humpelte dann davon, in seine Kombüse hinunter.

Kapitän Smollett, der Squire und Dr. Livesey standen auf dem Quarterdeck beisammen und unterhielten sich miteinander, und so dringlich es auch war, daß ich ihnen meine Geschichte erzählte, so durfte ich doch nicht offen an sie herantreten und sie unterbrechen. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich eine glaubhafte Entschuldigung finden konnte, rief Dr. Livesey mich zu sich heran. Er hatte seine Pfeife unten gelassen, und da er ohne Tabak nicht leben konnte, so wollte er sie sich von mir heraufholen lassen; aber sobald ich so nahe bei ihm war, daß ich mit ihm sprechen konnte, ohne von anderen gehört zu werden, brach ich in die Worte aus:

»Herr Doktor, lassen Sie mich sprechen! Veranlassen Sie den Kapitän und den Squire, mit Ihnen in die Kajüte hinunterzugehen, und lassen Sie mich dann aus irgendeinem Vorwande rufen! Ich habe fürchterliche Neuigkeiten für Sie!«

Der Doktor wurde ein bißchen blaß, fand aber sofort seine Selbstbeherrschung wieder und sagte laut:

»Danke, Jim! Das war alles, was ich wissen wollte,« – wie wenn er mich nach etwas gefragt hätte.

Damit drehte er sich auf dem Absatz herum und trat wieder zu den beiden anderen Herren heran. Sie sprachen eine kurze Weile miteinander, und obgleich keiner von ihnen eine Bewegung der Überraschung machte oder seine Stimme erhob oder auch nur vor sich hinpfiff, so war doch klar und deutlich, daß Dr. Livesey ihnen meine Bitte mitgeteilt hatte; denn das nächste, was ich hörte, war ein Befehl, den der Kapitän dem Bootsmann Hiob Anderson gab, und alle Leute wurden auf Deck gepfiffen. Dann sagte Kapitän Smollett:

»Jungens! Ich habe euch ein Wort zu sagen. Dieses Land, das wir gesichtet haben, ist der Ort, nach dem wir segeln. Herr Trelawney, der ein sehr freigebiger Herr ist, wie wir alle wissen, hat mich eben gefragt, wie ihr euch benommen habt, und da ich ihm sagen konnte, daß jeder Mann an Bord, oben und unten, seine Pflicht getan hätte, wie ich es gar nicht besser verlangen könnte, na, so gehen er und ich und der Doktor jetzt in die Kajüte hinunter, um auf euer Wohl und gut Glück zu trinken, und euch soll Grog ausgeteilt werden, um auf unser Wohl und Glück zu trinken. Ich will euch sagen, wie ich das finde: ich finde es fein! Und wenn ihr ebenso denkt wie ich, so werdet ihr jetzt ein gutes Seemannshurra ausbringen auf den Herrn, der sich so benimmt!«

Das Hurra wurde gerufen – das war ja auch selbstverständlich; aber es klang so laut und herzlich, daß ich gestehen muß, ich konnte kaum glauben, daß diese selben Leute nach unserem Blut trachteten.

»Noch ein Hurra, für Käpp’n Smollett!« schrie Long John, als das erste Hurra verklungen war.

Auch dieses wurde laut und kräftig ausgebracht.

Dann gingen die drei Herren in die Kajüte hinunter, und es dauerte nicht lange, so kam Bescheid, daß Jim Hawkins kommen solle.

Ich fand alle drei um den Tisch herum sitzen, auf dem eine Flasche spanischer Wein und einige Rosinen standen; der Doktor rauchte heftig und hatte seine Perücke auf dem Schoß liegen; dies war, wie ich wußte, ein Zeichen, daß er aufgeregt war. Das Fenster im Stern stand offen, denn es war eine warme Nacht, und man konnte den Mond auf das Kielwasser des Schiffes scheinen sehen.

»Nun, Hawkins,« sagte der Squire, »du hast etwas zu sagen. Heraus damit!«

Ich tat nach seinem Befehl und erzählte so gut wie möglich Silvers Gespräch mit den beiden Matrosen in allen Einzelheiten. Keiner unterbrach mich, bis ich fertig war, und keiner von den dreien machte auch nur eine Bewegung, aber sie sahen mich alle vom ersten bis zum letzten Wort unverwandt an. Dann sagte Dr. Livesey:

»Jim, nimm dir einen Stuhl.«

Und sie ließen mich an ihrer Seite am Tisch sitzen, schenkten mir ein Glas Wein ein, gaben mir ein paar Hände voll Rosinen und tranken alle drei, einer nach dem andern und jeder mit einer Verbeugung, auf meine Gesundheit und dankten mir für mein Glück und meinen Mut. Dann sagte der Squire:

»Nun, Kapitän, Sie haben recht gehabt, und ich hatte unrecht. Ich erkläre mich selber für einen Esel, und ich erwarte Ihre Befehle.«

»Sie waren kein größerer Esel als ich, Herr Trelawney,« antwortete der Kapitän. »Ich habe nie davon gehört, daß eine Mannschaft an Meuterei gedacht hat, ohne daß man vorher Anzeichen davon bemerkte, so daß jeder, der Augen in seinem Kopfe hat, den Unrat wittern und dementsprechende Maßregeln ergreifen konnte. Aber diese Mannschaft hat mich geschlagen.«

»Mit Ihrer Erlaubnis, Kapitän,« sagte der Doktor, »es war dieser Silver. Ein ganz außerordentlicher Mann.«

»Der sich außerordentlich gut ausnehmen würde, wenn er an einer Rahe hinge, Doktor!« antwortete der Kapitän, »aber dies ist lauter Gerede, das zu nichts führt. Ich sehe hier drei oder vier Dinge, die, mit Herrn Trelawneys Erlaubnis, ich nennen möchte.«

»Sie sind der Kapitän, Herr Smollett, Ihre Sache ist es, zu sprechen,« sagte Trelawney mit einer großartigen Handbewegung.

»Also erstens,« begann Smollett: »wir müssen weiter gehen, weil wir nicht zurück können. Wenn ich den Befehl gäbe, wieder umzukehren, würden sie sofort losbrechen. Zweitens: wir haben Zeit vor uns – wenigstens so lange, bis dieser Schatz gefunden ist. Drittens: es sind noch treue Leute da. Nun, meine Herren – zu Schlägen kommt es früher oder später doch; darum schlage ich vor, die Gelegenheit an der Stirnlocke zu fassen, wie man zu sagen pflegt, um selber eines schönen Tages loszuschlagen, wenn sie es am wenigsten erwarten. Ich nehme an, daß wir auf Ihre eigenen Bedienten, die Sie von Hause mitgebracht haben, uns verlassen können, Herr Trelawney?«

»Wie auf mich selber!« erklärte der Squire.

»Das sind drei,« berechnete der Kapitän; »dazu wir selber, das macht sieben, Hawkins hier mitgerechnet. Wie steht es nun mit den ehrlichen Leuten?«

»Höchstwahrscheinlich sind das die, die Trelawney selbst angenommen hat,« sagte der Doktor; »ich meine die Matrosen, die er sich aussuchte, bevor er an diesen Silver geriet.«

»Nein,« antwortete der Squire; »Hands war einer von meinen

»Ich dachte, dem Hands hätte ich trauen können,« bemerkte der Kapitän.

»Und daß das alles Engländer sind!« brach der Squire los. »Herrgott nochmal, ich hätte Lust, das ganze Schiff in die Luft fliegen zu lassen!«

»Nun, meine Herren,« sagte der Kapitän, »ich kann nicht viel Gutes sagen. Wir müssen abwarten, wenn es Ihnen recht ist, und scharf aufpassen. Ich weiß wohl, das ist für einen Menschen eine schwere Aufgabe. Es wäre angenehmer, einfach loszuschlagen. Aber das geht nun einmal nicht anders, bis wir nicht unsere Leute kennen. Ruhig liegen bleiben und auf den rechten Wind warten – das ist meine Meinung von der Sache.«

»Jim hier«, sagte der Doktor, »kann uns mehr helfen als irgendein anderer. Die Leute haben kein Mißtrauen gegen ihn, und Jim ist ein aufgeweckter Junge.«

»Hawkins, ich habe kolossales Vertrauen zu dir!« rief der Squire.

Diese Bemerkungen freuten mich nicht; denn ich fühlte mich vollständig hilflos. Und doch fügte es durch eine merkwürdige Reihe von Umständen sich so, daß die Rettung sich nur durch mich fand.

Einstweilen stand es so, soviel wir auch reden mochten: von den sechsundzwanzig waren es nur sieben, auf die wir uns verlassen konnten, soviel wir genau wußten. Und von diesen sieben war der eine ein Knabe, so daß also nur sechs erwachsene Männer auf unserer Seite den neunzehn auf der anderen gegenüberstanden.

8


Ein nächtlicher Besuch

Kirstie hatte vieles, das sie unglücklich machte. Je älter wir werden – insbesondere wenn wir älter werden und Frauen sind, welche die eisige Furcht vor dem Alter anhaucht –, desto mehr verlassen wir uns auf die Stimme als das Ausdrucksmittel der Seele. Nur so vermögen wir bei der Verarmung unserer Mittel dem geknebelten Schrei der Leidenschaft Raum zu geben; nur so können wir in der bitteren und empfindsamen Schüchternheit reiferer Jahre den Verkehr mit jenen lebensstrotzenden Gestalten der Jugend aufrechterhalten, die uns allseits noch umgeben und die doch täglich mehr zur beweglichen Tapete des Lebens zusammenschrumpfen. Das Wort ist das letzte verbindende Glied, die letzte Beziehung. Jedoch mit Beendigung der Unterhaltung, wenn die Stimme schweigt und das helle Gesicht des Zuhörers sich wegkehrt, senkt sich von neuem Einsamkeit auf das verwundete Herz. Kirstie hatte ihre geruhsame abendliche Plauderstunde verloren; vorbei war es mit ihren Wanderungen – als Geist, wenn man will, aber als seliger Geist – an Archies Seite in den Feldern Elysiums. Ihr war es, als sei die ganze Welt verstummt; für ihn dagegen bedeutete dieser Wegfall lediglich eine belanglose Abwechslung in der Art seiner Kurzweil. Kirstie raste bei dieser Erkenntnis. Der brausende Quell ihrer leidenschaftlichen, reizbaren Natur sprudelte mitunter so unbändig, daß eine Eruption drohte.

Dies ist der Preis, den wir für unzeitige Glut des Empfindens zahlen müssen. Sie hätte ihn zahlen müssen, wann immer die Umstände es erforderten; so aber geschah es, daß sie jener Wonne beraubt wurde gerade in der Stunde, da sie ihrer am meisten bedurfte, da sie am meisten zu reden und zu fragen hatte und vor der Erkenntnis zitterte, daß ihre Oberhoheit nicht nur im Schwinden, nein, am Ende gar aufgehoben sei. Denn mit der Hellsichtigkeit wahrer Liebe durchschaute sie das Geheimnis, das Frank so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte. Sie ward sich, noch vor dem eigentlichen Eintreten des Falles, ja bereits an jenem Sonntagabend, da die Sache ihren Anfang nahm, einer Invasion ihrer Rechte bewußt, und eine innere Stimme verriet ihr den Namen der Siegerin. Seither hatte sie sich durch kleine Kniffe, durch Zufälligkeiten, durch Beobachtungen von nebensächlichen Dingen und durch die allgemeine Färbung von Archies Laune Gewißheit, über allen Zweifel erhaben, verschafft. Mit einem Gerechtigkeitssinn, um den Lord Hermiston sie hätte beneiden können, hatte sie an jenem Tage in der Kirche die Reize der jüngeren Kirstie abgeschätzt und gewürdigt, und mit der tiefen Menschlichkeit und Sentimentalität ihrer Natur vernahm sie den Schritt des Schicksals. Nicht so hätte sie gewählt. Sie hatte Archie in ihrer Phantasie mit irgendeiner hochgewachsenen, stolzen und rosigen Heldin mit goldenen Locken vermählt, geschaffen nach ihrem eigenen Bilde, der sie mit Entzücken das Brautbett bestreut haben würde; und sie hätte über das Scheitern ihrer ehrgeizigen Träume weinen mögen. Jedoch die Götter hatten gesprochen; das Urteil lautete anders.

Unruhig, von fieberhaften Gedanken bestürmt, wand sie sich in jener Nacht auf ihrem Lager. Gefährliche Dinge standen bevor, eine Schlacht, über deren Ausgang sie mit Sympathie, Furcht und wechselnder Parteinahme für die eine oder die andere Seite eifersüchtig brütete. Jetzt fühlte sie sich wiedergeboren in ihrer Nichte, jetzt in Archie. Jetzt sah sie durch des Mädchens Augen den Jüngling vor sich knien, vernahm in tödlicher Schwäche sein hartnäckiges Flehen und empfing seine überwältigenden Liebkosungen. Und im nächsten Augenblick, in plötzlicher Umkehr ihrer Natur, raste sie bei dem Gedanken, jene höchsten Gaben des Geschicks und der Liebe an ein Balg von einem Mädchen verschwendet zu sehen, an ein Wesen ihres eigenen Hauses, das ihren eigenen Namen sich anmaßte – dies war eine tödliche Kränkung –, an jemand, »die selbst nicht wußte, was sie wollte, und die so schwarz war wie ihr eigener Hut!«. Und wieder zitterte sie vor Angst, daß ihr Idol vergeblich flehen könnte, denn sie sehnte den Erfolg als eine Art Triumph der Natur für ihn herbei; und im darauffolgenden Moment, mit wiederauflebender Treue für ihre eigene Familie und ihr Geschlecht, zitterte sie um Kirstie und um den guten Ruf der Elliotts. Endlich erblickte sie visionär sich selbst; die Zeit für ihre altmodischen Geschichten, für ihren Dorfklatsch war vorüber, auf ewig sagte sie dem Glanz der Liebe und des Lebens Lebewohl, und dahinter, in der Ferne, kroch sie, um zu sterben, dem düsteren, allmächtigen Ende zu. Hatte sie den Becher wirklich bis zur Neige geleert, sie, die sie so groß, so schön war, mit einem Herzen frisch wie das eines Mädchens und stark wie bei einem Weibe? Es konnte nicht sein, und doch war es so; einen Augenblick lang war ihr Bett ihr furchtbar wie die Mauern des Grabes. Vor ihr dehnte sich die Wüste der Stunden, in der sie rasen und zittern würde, bis der Tag anbräche und die Arbeit des Tages erneuert werden müßte.

Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe – seinen Schritt; bald danach wurde ein Fenster aufgestoßen. Sie setzte sich klopfenden Herzens aufrecht. Er war allein in seinem Zimmer, und er war nicht zu Bett gegangen. Eines ihrer nächtlichen Gespräche winkte ihr, und bei diesem bezaubernden Ausblick ging eine Veränderung in ihr vor; mit dem Nahen jener Hoffnung auf Freude schwand auch sogleich alles Niedrige aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, ganz Weib, das Weib in seiner reinsten Gestalt, zärtlich, mitfühlend, voller Haß gegen alles Böse und treu ihrem eigenen Geschlecht – und doch mit allen Schwächen dieses geliebten und komplizierten Wesens, mit Hoffnungen, wortlos und schmeichelnd, die sich eng an ihr weiches Herz schmiegten und an ihm zehrten, Hoffnungen, die sie sich selbst niemals zugestanden hätte, und wäre es um ihr Leben gegangen. Sie riß ihre Haube herunter, und ihr Haar fiel in üppiger Fülle um ihre Schultern. Unsterbliche Koketterie erwachte. Im matten Schein der nächtlichen Kerze stand sie vor ihrem Spiegel, die edlen Arme über dem Haupte erhoben, und sammelte den Schatz ihrer Flechten ein. Sie war nie zimperlich in ihrer Bewunderung von sich selbst; jene Art Bescheidenheit war ihr fremd, und sie hielt erfreut und überrascht bei diesem Anblick inne. »Du verrücktes, altes Frauenzimmer!« sagte sie zu sich selbst, damit einen Gedanken beantwortend, der doch nicht wirklich war, und sie errötete mit der Unschuld eines Kindes. Hastig band sie die schweren, leuchtenden Flechten auf, hastig zog sie einen Morgenrock an und stahl sich, Kerze in der Hand, in den Korridor. Von unten hörte sie die Uhr ihre gemessenen Sekunden ticken und Frank mit den Karaffen im Speisezimmer klirren. Feindschaft, bitter und jäh, stieg in ihr auf. »Ekliger, versoffener kleiner Köter!« dachte sie; im nächsten Moment hatte sie vorsichtig an Archies Zimmertür geklopft und die Aufforderung, einzutreten, erhalten.

Archie hatte hinaus in die uralte Nacht gestarrt, hier und dort von einem glanzlosen Stern erhellt; tief sog er die süßduftende Luft der Heide ein, suchte und fand vielleicht auch den Frieden der Unglücklichen. Er wandte sich bei ihrem Eintritt um und zeigte gegen den Fensterrahmen sein bleiches Gesicht.

»Bist du es, Kirstie?« fragte er. »Tritt nur näher!«

»Es ist schon unheimlich spät, Kind«, erklärte Kirstie mit erheucheltem Widerstreben.

»Nein, nein«, antwortete er, »durchaus nicht. Komm nur herein, wenn du einen Schwatz halten willst. Ich bin, weiß Gott, nicht schläfrig!«

Sie kam näher, nahm einen Stuhl neben dem Toilettentisch und stellte die Kerze vor sich auf den Boden. Etwas vielleicht ihre zwanglose Kleidung, vielleicht die Erregung in ihrer Brust – hatte sie mit dem Zauberstab der Verwandlung berührt; sie schien jung, von der Jugend der Göttinnen.

»Mr. Archie«, hub sie an, »was ist Ihnen nur?«

»Ich wüßte nicht, daß mir irgend etwas wäre«, entgegnete Archie errötend und bereute sogleich bitterlich, sie eingelassen zu haben.

»Ach, liebes Kind, so geht es nicht!« sagte Kirstie. »Wer liebt, den kann man nur schwer täuschen. Ach, Mr. Archie, überlegen Sie’s wohl, eh es zu spät ist. Sie sollten nicht gierig sein nach den guten Dingen des Lebens; die werden alle kommen, jedes zu seiner Zeit, wie die Sonne und der Regen. Sie sind ja noch so jung; Sie haben eine hübsche Anzahl Jahre vor sich. Achten Sie darauf, daß Sie nicht gleich zu Anfang, wie so viele andere, Schiffbruch erleiden! Haben Sie nur Geduld – mir hat man immer gesagt, das wäre die Hauptsache im Leben –, nur Geduld, der Sonnenschein kommt noch. Gott weiß es, mir ist er nie gekommen; hier sitze ich ohne Mann oder Kind, das ich mein eigen nennen könnte, und plage die Leute mit meiner giftigen Zunge. Sie vor allen anderen, Mr. Archie!«

»Ich weiß wirklich nicht, was du willst«, meinte Archie.

»So will ich’s denn sagen«, erklärte sie. »Es ist dies und nichts weiter: Ich fürchte mich. Ich fürchte für Euch, Lieber. Vergeßt nicht, Euer Vater ist ein harter Mann, der erntet, wo er nicht gesät, und einsammelt, wo er nicht gepflanzt hat. Reden ist leicht, aber hütet Euch! Ihr werdet eines Tages in sein finsteres Gesicht schauen, wohin schwer und vergeblich blicken ist auf der Suche nach Erbarmen. Ihr erinnert mich an ein schönes Schiff weit draußen auf dem schwarzen und stürmischen Meer – es kann Euch nichts geschehen, solange Ihr still mit Kirstie in Eurer Kammer schwatzt; aber wo werdet Ihr am Morgen sein, in welch fürchterlichem Ungewitter, darinnen Ihr die Berge anflehen werdet, Euch zu bedecken?«

»Aber Kirstie, du sprichst heute nacht ja in Rätseln, und sehr beredt obendrein«, warf Archie dazwischen.

»Mein lieber Mr. Archie«, fuhr sie mit veränderter Stimme fort, »Ihr müßt nicht denken, daß ich nicht mit Euch fühle. Ihr müßt nicht denken, daß ich nicht selbst mal jung gewesen bin. Vor langer Zeit, als ich noch ein dummes Ding war, noch keine zwanzig –« sie schwieg und seufzte – »sauber und frisch, mit einem Fuß so leicht wie eine Biene, war ich auch schon groß und stattlich, glaubt mir; ein ansehnliches Frauenzimmer, obwohl mir’s nicht zukommt, Euch das zu sagen – gebaut fürs Kindertragen – und schöne Kinder wären es geworden, und großartig hätte es mir gefallen! Aber ich war jung, Lieber, mit dem hellen Jugendlicht in den Augen, und ließ mir’s wahrhaftig nicht träumen, daß ich dereinst als einsames, runzeliges altes Weib Euch all dies erzählen würde. Und dann, Mr. Archie, ist da ein Bursch‘ um mich freien gekommen, wie’s ganz natürlich war. Viele hatten sich vor ihm gemeldet, aber ich mochte sie alle nicht! Doch dieser hier, der hatte eine Zunge, um die Vögel aus der Luft und die Bienen von den Glockenblumen zu locken. Liebe Zeit, liebe Zeit, ist das lang her! Die Leut‘ sind seither gestorben und begraben und vergessen worden, und Kinder sind zur Welt gekommen und haben geheiratet und haben selbst Kinder bekommen. Und Wälder sind gepflanzt worden seither und sind gewachsen und zu stattlichen Bäumen geworden, und die Mädels mit ihren Schätzen sitzen jetzt darunter im Schatten; und alte Güter haben die Herren gewechselt, und es hat Krieg und den Lärm des Krieges hier auf der Erde Angesicht gegeben. Und ich bin immer noch hier – eine alte, elende Krähe, die zuguckt und krächzt! Aber Ihr müßt nicht denken, Mr. Archie, daß ich mich nicht noch gut an alles erinnere! Ich lebte damals in meines Vaters Haus; und recht sonderbar ist, daß wir uns im Teufelsmoor trafen. Und glaubt ja nicht, daß ich die schönen Sommertage und die langen Meilen blutroter Heide, das Schreien der Brachvögel und das Mädel bei jenem Stelldichein vergessen habe! Wißt Ihr, daß ich jetzt noch die Süße der Berge spüre, die damals um mein Herze rann? Ach, Mr. Archie, ich weiß ja, wie’s ist – ich weiß es genau –, wie Gott in seiner Gnade die beiden nimmt, gleich Paulus von Tarsus, grad wenn sie sich’s am wenigsten versehen, und in ein Land treibt, das wie ein Traum ist; und die Welt und die Leute darinnen sind für das arme Mädel nicht mehr als die Wolken, und die Himmel selbst sind nur ein paar Grashalme, wenn sie ihm nur gefällt! Bis Tom starb – ja, das ist meine Geschichte«, brach sie ab; »er starb, und ich war nicht einmal bei dem Begräbnis. Doch solang er am Leben war, hatte ich mich fest in der Hand. Aber kann jenes arme Mädel das?«

Und Kirstie streckte, die Augen hellschimmernd von ungeweinten Tränen, ihm flehend die Hand hin; das leuchtende Gold und das matte Gold ihres Haares flammte und glomm in Windungen um ihr schönes Haupt gleich den Strahlen der ewigen Jugend selbst; reine Röte war ihr in die Wangen gestiegen, und Archie war bestürzt und betreten angesichts ihrer Schönheit und ihrer Geschichte. Er trat vom Fenster auf sie zu, ergriff ihre Hand und küßte sie.

»Kirstie«, sagte er heiser, »du hast mir bitter unrecht getan. Der Gedanke an sie hat mich nie verlassen; ich würde ihr um die Welt nicht schaden, Liebe!«

»Ach Junge, das ist leicht gesagt«, rief Kirstie, »aber nicht so leicht getan! Junge, verstehst du denn nicht? Es ist Gottes Wille, daß wir geblendet und betäubt sein sollen und keine Gewalt mehr haben über unsere eigenen Glieder in jener Zeit. Mein Kind«, rief sie, immer noch seine Hand haltend, »denk an die arme Dirn! Hab Mitleid mit ihr, Archie! Oh, sei klug für zwei! Denk an die Gefahr, die sie läuft! Ich habe euch beide gesehen – und wer hindert es, daß andere euch gleichfalls sehen? Ich sah euch das erste Mal im Teufelsmoor, in meinem eigenen Tal, und schrecklich war mir zumute – teils wegen der Vorbedeutung, denn es ist etwas Unheimliches um den Ort, und teils aus schierer, nackter Mißgunst und Bitterkeit des Herzens. Sonderbar ist, daß ihr beide euch gleichfalls dort trefft! Gott! Und wenn auch der arme, alte, querköpfige Puritaner bei Lebzeiten nichts von der menschlichen Natur wußte – seit er in seinem Todesstündlein in die Musketenrohre geschaut, hat er eine gehörige Portion davon gesehen!« Dies fügte sie hinzu mit einer Art Verwunderung in ihren Augen.

»Ich schwöre bei meiner Ehre, daß ich ihr nie unrecht getan«, sagte Archie. »Und ich schwöre bei meiner Ehre und bei meiner Seele Seligkeit, daß ich ihr auch in Zukunft keins tun werde. Ich habe das alles schon einmal gehört. Ich bin töricht gewesen, Kirstie, aber nicht ungut, und vor allen Dingen nicht gemein.«

»Da spricht mein Kind«, sagte Kirstie, sich erhebend.

»Ich kann dir jetzt vertrauen, ich gehe leichten Herzens schlafen.« Und dann erkannte sie blitzartig die nackte Unfruchtbarkeit ihres Sieges. Archie hatte versprochen, das Mädchen zu schonen, und er würde sein Versprechen halten; wer aber hatte versprochen, Archie zu schonen? Wie sollte das alles enden? Sie überschaute ein Labyrinth von Schwierigkeiten, aus dem ihr von jedem Kreuzweg das eiserne Gesicht Hermistons entgegenstarrte. Und eine Art Grauen vor ihrer eigenen Tat fiel sie an. Sie trug jetzt eine tragische Maske. »Archie, der Herr erbarme sich deiner und meiner, mein Liebstes du! Ich habe hier auf diesem Grunde gebaut –« sie legte ihre Hand schwer auf seine Schulter –, »ich habe hoch gebaut und mein Herz in den Bau hineingelegt. Sollte das ganze Gebäude zusammenstürzen, ich glaube, Kind, ich würde drüber sterben. Verzeih einem tollen alten Weibsbild, das dich liebt und das schon deine Mutter gekannt hat. Und um des lieben Herrgotts willen, halte dich frei von unmäßigem Verlangen; halte dein Herz in beiden Händen, trage es sicher und leicht; laß es nicht wie die Kinder ihre Drachen in die wilden Winde aufsteigen! Denk daran, Archie, mein lieber Archie, daß dies Leben eine einzige Enttäuschung ist und ein Mundvoll Erde das uns bestimmte Ende.«

»Aber Kirstie, liebe, gute Kirstie, du verlangst jetzt zu viel«, sagte Archie, tief erschüttert und nun auch seinerseits in breites Schottisch verfallend. »Du verlangst, was ich dir nicht geben kann, was nur der Herrgott im Himmel gewähren kann, wenn er es für gut befindet. Und vermag er es am Ende wirklich? Ich kann dir nur versprechen, was ich tun werde, und du magst dich darauf verlassen. Aber wie ich fühlen werde – das, Kirstie, steht schon längst nicht mehr in meiner Macht!«

Sie standen jetzt beide Angesicht zu Angesicht. Archies trug den elenden Schatten eines Lächelns; das ihre verzerrte sich einen Augenblick.

»Versprich mir das eine«, rief sie mit scharfer Stimme. »Versprich, daß du nie etwas unternehmen wirst, ohne es mir vorher zu sagen.«

»Nein, Kirstie, auch das kann ich dir nicht versprechen«, entgegnete er. »Ich habe so schon genug versprochen, Gott weiß es!«

»Der Segen des Herrn stütze und tröste dich, mein Herz!« sagte sie.

Und er entgegnete: »Gott schütze dich, meine alte Freundin!«

9


Neben des Webers Stein

Es war spät am Nachmittage, als Archie sich dem Bergpfad nach des Betenden Webers Stein näherte. Die Moore lagen im Schatten. Aber noch immer sandte die Sonne durch den Paßeinschnitt einen letzten Pfeil, der lang und gerade über der Moosfläche schwebte, hier und dort eine Erderhöhung berührte und erhellte und endlich auf dem Grabstein und der kleinen, dort wartenden Gestalt zur Erde niederging. Die ganze Leere und Einsamkeit der großen Moore schien sich dort zu sammeln, und jener Sonnenfleck wies auf Kirstie als auf den einzigen lebenden Menschen. Der erste Anblick, den Archie von ihr gewann, war daher über die Maßen traurig, wie ein Blick in eine Welt, aus der alles Licht, aller Trost und alle menschliche Gemeinschaft zu schwinden drohten. Im nächsten Augenblick, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte und ein rasches Lächeln es erhellte, lächelte ihm auch die ganze Natur zum Willkomm entgegen. Archies langsamer Schritt wurde schneller; sein Körper hastete, obwohl sein Herz ihn zurückhielt. Das Mädchen ihrerseits richtete sich langsam auf und stand dort erwartungsvoll; sie war ein einziges Verlangen, aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, ihre Arme schmerzten, ihn zu umschlingen, ihre Seele stand auf Zehenspitzen. Aber er enttäuschte sie; wenige Schritte vor ihr blieb er stehen, nicht weniger bleich als sie selbst, und hielt, eine Geste des Verzichts, die Hand hoch.

»Nein, Christina, heute nicht«, sagte er. »Heute muß ich ernst mit dir reden. Setz dich bitte wieder hin, wo du eben saßest; bitte«, wiederholte er.

Der Rückschlag der Gefühle in Christinas Herz war erschütternd. Das Warten und Sehnen dieser langen, ermüdenden Stunden, in denen sie sich alle seine Liebkosungen wiederholt hatte – ihn endlich, endlich kommen zu sehen – für ihn dazusein, atemlos, ganz hingegeben, sein Eigentum, mit dem er schalten und walten konnte und plötzlich einen bleichgesichtigen, harten Schulmeister vor sich zu haben – der Schlag war furchtbar. Sie hätte weinen mögen, aber Stolz hielt sie aufrecht. Sie setzte sich wieder auf den Stein, von dem sie sich soeben erhoben, teils mit dem Instinkt des Gehorsams, teils als hätte man sie gewaltsam niedergedrückt. Was hatte das zu bedeuten? Weshalb war sie verstoßen? Hatte sie aufgehört, ihm zu gefallen? Hier stand sie und bot ihre Waren feil, und er wollte sie nicht! Und doch waren sie ganz sein! Sein, sie zu hegen und zu pflegen, nicht sie zurückzuweisen! In ihrer heißblütigen, leidenschaftlichen Natur, die eine Sekunde zuvor noch in Flammen der Erwartung gestanden, rangen durchkreuzte Liebe und verwundete Eitelkeit. Der Schulmeister, der zur Verzweiflung aller Mädchen und der Mehrzahl der Frauen in jedem Manne lebt, beherrschte Archie jetzt vollständig. Er hatte eine Nacht der Predigten, einen Tag der Grübelei durchlebt; er war gekommen, innerlich für die Pflicht gestählt, und sein entschlossener Mund, bei ihm lediglich ein Zeichen der Willensanstrengung, erschien ihr als der Ausdruck eines erkaltenden Herzens. Nicht anders ging es ihr mit seiner gepreßten Stimme, der verlegenen Sprache; und war es wirklich so – war alles vorbei –, der Gedanke schmerzte so, daß er sie jeglicher Fähigkeit zum Denken beraubte.

Er stand da, in einiger Entfernung. »Kirstie, wir haben es zu arg getrieben. Wir haben einander zu oft gesehen.« Sie blickte hastig auf, und ihre Augen verengten sich. »Es kann nichts Gutes aus diesen geheimen Zusammenkünften kommen. Sie sind nicht offen, nicht wahrhaft ehrlich, und ich hätte es einsehen sollen. Die Leute haben angefangen zu reden; es ist nicht recht von mir. Verstehst du mich?«

»Ich verstehe, daß jemand mit dir gesprochen hat«, antwortete sie dumpf trotzig.

»Das hat man auch – mehr als einer.«

»Wer war es denn?« rief sie. »Und was ist das für eine Art Liebe, die wie ein Hampelmann hin und her zappelt, je nachdem wie die Leute reden? Meinst du etwa, sie haben nicht auch mit mir geredet?«

»Haben sie das wirklich?« fragte Archie und sog hastig den Atem ein. »Das eben hatte ich ja gefürchtet. Wer tat es? Wer hat gewagt –?«

Er war nahe daran, sehr zornig zu werden.

In Wahrheit hatte niemand in dieser Angelegenheit mit Christina geredet, aber in der Panik ihrer Selbstverteidigung hielt sie krampfhaft an ihrer ersten Frage fest.

»Gut, gut! Das ist ja auch ganz gleich!« sagte er. »Es waren brave Leute, die es gut mit uns meinten; das schlimme ist, daß die Leute überhaupt reden. Mein liebes Mädchen, wir müssen vorsichtig sein. Wir dürfen nicht gleich zu Anfang unser Leben ruinieren. Es wird vielleicht noch ein langes und schönes Leben werden, und wir müssen darauf achten, daß wir uns wie vernünftige Geschöpfe Gottes und nicht wie törichte Kinder benehmen. Auf das eine müssen wir vor allem achten. Du bist wert, daß man auf dich wartet, Kirstie! Wert, daß man eine Generation wartet; das wäre an sich Lohn genug.« – Hier erinnerte er sich wieder des Schulmeisters und schlug, äußerst unklug, die Bahn der Klugheit ein. »Vor allem müssen wir darauf achten, daß es keinen Skandal gibt – um meines Vaters willen. Das würde alles ruinieren; siehst du das nicht ein?«

Ein wenig war Kirstie besänftigt, denn in Archies letzten Worten hatte ein Anflug von Wärme gelegen. Aber dumpfer Zorn hielt sie immer noch gefangen, und dem alten Urinstinkt folgend, wünschte sie, da sie selbst gelitten hatte, daß auch Archie leide.

Außerdem war das Wort gefallen, das sie sich von Anfang an gefürchtet hatte von seinen Lippen zu vernehmen: der Name seines Vaters. Es wäre falsch, anzunehmen, daß in all den Tagen, seitdem sie sich ihre Liebe gestanden, nicht auch ihrer beider Zukunft erwähnt worden wäre. Sie hatten im Gegenteil das Thema häufig berührt, und es war vom ersten Tage an der wunde Punkt gewesen. Kirstie schloß mit Gewalt ihre Augen davor; sie wollte nicht einmal zu sich selbst darüber sprechen. Tapferes, verzweifeltes kleines Herz, das sie war, hatte sie dem gebieterischen Ruf des höchsten Entzückens gehorcht wie dem Rufe des Schicksals selbst und war blind in ihr Verhängnis geschritten. Allein Archie, mit dem Verantwortungsgefühl des Mannes, mußte logisch denken und folgern; er verweilte bei ihrem künftigen Glück, während für Kirstie die Gegenwart die ganze Welt bedeutete; er hatte reden müssen und – da die Notwendigkeit ihn trieb – recht lahm geredet von dem, was werden sollte. Wieder und wieder hatte er das Wort Ehe gestreift; und wieder und wieder hatte der Gedanke an Lord Hermiston ihn veranlaßt, sich unklar und unbestimmt auszudrücken. Und Kirstie hatte sofort verstanden und eiligst dieses Verstehen heruntergewürgt und erstickt; eiligst hatte die Flamme in ihr emporgelodert, sobald sie die Hoffnung, eines Tages Mrs. Weir von Hermiston zu werden, auch nur erwähnen hörte, eine Hoffnung, die ihre Liebe und Eitelkeit aufs tiefste berührte; doch ebenso eilig hatte sie aus seinen stotternden, gequälten Äußerungen das Todesurteil für all diese Aussichten herausgelesen. Und treu und unerschütterlich in ihrem großherzigen Wahn war sie ihren Weg gegangen, ohne jede Rücksicht auf die Zukunft. Allein diese unvollkommenen Anspielungen, diese flüchtigen Momente, in denen sein Herz sprach und die seine Erinnerung und seine Vernunft gebieterisch zum Schweigen brachten, noch ehe er das eigentliche Wort gesagt, taten ihr unsagbar weh. Sie fühlte sich erhoben und sogleich wieder blutend zu Boden geschmettert. Jede Wiederkehr des Themas zwang sie, wenn auch auf noch so kurze Zeit, ihre Augen dem zu erschließen, was sie nicht zu sehen wünschte, und endete regelmäßig mit einer neuen Enttäuschung. So kam es, daß sie auch jetzt, bei der Andeutung des Kommenden, schon bei Nennung von seines Vaters Namen – wahrhaftig, fast schien es, als sei die furchtbare Gestalt in der Perücke mit dem ironischen und bitteren Lächeln, allgegenwärtig dem schuldigen Gewissen, ihrer Liebe hinaus in die Heide gefolgt – den Kopf in den Sand vergrub.

»Du hast mir noch nicht gesagt, wer mit dir redete«, forschte sie.

»Deine Tante, zum Beispiel!«

»Tante Kirstie?« rief sie. »Was frage ich schon nach Tante Kirstie!«

»Sie fragt sehr viel nach ihrer Nichte«, lautete Archies freundlich tadelnde Bemerkung.

»Wahrhaftig, das ist das erste, was ich davon höre«, erwiderte das Mädchen.

»Die Frage ist ja auch nicht, wer geredet hat, sondern was geredet wird und was die Leute bemerkt haben«, fuhr der ungemein logische Schulmeister fort. »Das ist’s, woran wir aus Selbsterhaltungstrieb denken müssen.«

»Tante Kirstie, wahrhaftig! Eine bittere, verschrobene alte Jungfer, die Unfrieden im Lande säte, noch ehe ich zur Welt kam, und es wahrscheinlich bis an ihr Lebensende so weitertreiben wird! Es liegt in ihrer Natur; es kommt ihr so natürlich wie den Schafen das Fressen.«

»Verzeihung, Kirstie, sie war nicht die einzige«, warf Archie ein. »Ich bin zweimal gewarnt, zweimal ermahnt worden gestern abend, beidemal in der freundschaftlichsten und rücksichtsvollsten Weise. Wärest du dabeigewesen, ich schwöre dir, du hättest geweint, liebes Kind! Und das hat mir die Augen geöffnet. Ich erkannte, daß wir einen falschen Weg gegangen sind.«

»Und wer war der andere?« forschte Kirstie.

Jetzt befand sich Archie im Zustand eines gehetzten Tieres. Er war hergekommen, gewappnet mit einem festen Entschluß; es galt, für sie beide in wenigen kalten, überzeugenden Sätzen Verhaltensmaßregeln festzulegen; jetzt war er schon eine ganze Weile hier, und immer noch stolperte er an den Außenwerken der Festung herum, während man ihn, das fühlte er, gleichzeitig einem scharfen Kreuzverhör unterzog.

»Mr. Frank!« rief sie. »Wer sonst noch, möchte ich wissen?«

»Er sprach ungemein freundlich und zutreffend.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Ich werde es dir nicht wiederholen; das geht dich nichts an«, rief Archie, erschreckt, daß er bereits so viel zugegeben.

»So, das geht mich nichts an«, wiederholte sie, aufspringend. »Jedem in Hermiston steht es also frei, seine Ansichten über mich zu äußern, aber mich geht es nichts an. War es vielleicht gar bei der Hausandacht? Habt Ihr auch noch den Verwalter zu Rate gezogen? Kein Wunder, daß sie alle reden, wenn man sie alle ins Vertrauen zieht! Aber, wie Sie soeben bemerkten, Mr. Weir – ohne Zweifel sehr rücksichtsvoll, sehr treffend bemerkten –, mich geht es ja nichts an. Ich glaube, es ist wohl Zeit, daß ich gehe. Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Abend zu wünschen, Mr. Weir.« Und sie machte ihm, bebend von Kopf bis Fuß vor nacktem, heillosem Zorn, eine majestätische Verbeugung.

Der arme Archie stand sprachlos. Sie hatte sich bereits einige Schritte entfernt, bevor er die Sprache zurückgewann.

»Kirstie!« rief er. »O Kirstie, Kind!«

Ein Flehen lag in seiner Stimme und unverhohlenes Erstaunen, welches deutlich zeigte, daß der Schulmeister verschwunden war.

Sie wandte sich gegen ihn. »Was haben Sie mich Kirstie zu nennen? Was haben Sie überhaupt mit mir zu schaffen? Gehen Sie zu Ihren Freunden, und schwatzen Sie denen die Ohren voll!«

Er konnte nur flehend wiederholen: »Kirstie!«

»Kirstie, in der Tat!« rief das Mädchen mit flammenden Augen und schneeweißem Gesicht. »Mein Name ist Fräulein Christina Elliott, gebe ich Ihnen zu verstehen, und ich verbiete Ihnen, mich irgendwie anders zu nennen. Kann ich nicht Liebe haben, so verlange ich wenigstens Respekt, Mr. Weir. Ich stamme von anständigen Leuten ab, und ich verlange Respekt. Was habe ich denn getan, daß Sie mich so leichtfertig behandeln? Was habe ich nur getan? Was habe ich getan? Oh, was habe ich überhaupt getan?« Ihre Stimme überschlug sich bei der dritten Wiederholung. »Ich glaubte – ich glaubte – ich glaubte, ich wäre so glücklich!« Das erste Schluchzen brach aus ihr hervor, krampfartig, gleich einer tödlichen Krankheit.

Archie lief auf sie zu. Er nahm das arme Kind in seine Arme, und sie schmiegte sich an seine Brust wie an die einer Mutter und packte ihn mit Händen, fest wie Schraubstöcke. Er fühlte, wie ihr ganzer Körper in verzweifeltem Schmerz kreiste, und Mitleid, stärker als Worte, erfaßte ihn: Mitleid und Furcht zugleich vor diesem explosiven Etwas, das er da in den Armen hielt, das er nicht verstand und in dessen Maschinerie er dennoch eingegriffen. Der Vorhang seiner Knabenzeit ward plötzlich vor ihm hochgezogen, und zum erstenmal erschaute er das rätselvolle Gesicht des Weibes in seiner wahren Gestalt. Vergebens überdachte er ihre Unterredung; er wußte nicht, worin er gefehlt. Das Ganze schien schuldlos über ihn hereingebrochen – eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur –.

5


Winter auf den Mooren

 

I. In Hermiston

Die Straße nach Hermiston führt auf weite Strecken durch das Tal eines Flüßchens, ein Lieblingsplatz der Angler und Mücken, voller Wasserfälle und Teiche, und von Weiden sowie einem natürlichen Birkengehölz beschattet. Hier und dort in großen Abständen zweigt ein Seitenweg ab, und man kann über irgendeiner Hügelfalte ein ödes Bauernhaus erspähen; größtenteils jedoch ist die Straße menschenleer und das Hügelland unbesiedelt. Die Gemeinde Hermiston ist eine der am dünnsten bevölkerten in Schottland; und ist man erst bis zu ihr vorgedrungen, wundert man sich kaum noch über die beispiellose Kleinheit der Kirche, eines zwergenhaften, uralten Baues mit etwa fünfzig Sitzplätzen, der zwischen einigen vierzig Gräbern auf einem grasbewachsenen Platz neben dem Bache steht. Das ganz in der Nähe gelegene Pfarrhaus ist, obwohl kaum größer als ein Bauernhaus, von der Farbenpracht eines Ziergartens und von den Strohdächern zahlreicher Bienenkörbe umgeben; und die ganze Ansiedlung – Kirche und Pfarrhaus, Garten und Friedhof – findet Schutz und einen Hafen in einem Hain von Ebereschen. Dort ruht sie jahraus, jahrein in einer großen Stille, unterbrochen nur von dem Summen der Bienen, dem Plätschern des Baches und den sonntäglichen Kirchenglocken. Eine Meile jenseits der Kirche entwindet sich die Straße über eine steile Anhöhe dem Tal und führt den Reisenden bald darauf nach dem Herrensitz Hermiston, wo sie in dem rückwärts gelegenen Hof vor der Wagenremise mündet. Jenseits und in der Runde dehnt sich das weite Feld der Hügel; Kiebitz, Moorhuhn und Lerche bevölkern es mit ihrem Schrei; der Wind bläst dort wie in einer Schiffstakelung, hart und kalt und rein; und die Hügelkämme drängen sich dicht aneinander gleich einer Viehherde bei Sonnenuntergang.

Das Haus war sechzig Jahre alt, unansehnlich und behaglich; links lagen der Wirtschaftshof und ein Küchengarten mit einer Spaliermauer, an der kleine, harte, grüne Birnen gegen Ende Oktober ihre Reife erreichten.

Das zum Hause gehörende Grundstück (wer hätte den Mut, es einen Park zu nennen?) war ziemlich ausgedehnt, aber sehr schlecht erhalten; Heide- und Moorgeflügel hatten die trennende Mauer durchbrochen und mehrten sich und nisteten darinnen; es hätte einem Landschaftsgärtner viel Kopfzerbrechen verursacht, anzugeben, wo das Grundstück endete und die ungepflegte Natur begönne. Mylord hatte sich durch Herrn Sheriff Scott zu ziemlich weitläufigen Anpflanzungen bewegen lassen; viele Hektar Landes waren daher mit jungen Tannen bestanden, und die kleinen, grünen Federbesen verliehen der Heide einen falschen Maßstab und ein seltsames, spielzeugähnliches Aussehen. Eine starke, würzige Süße von den Torfmooren erfüllte die Luft, und zu allen Jahreszeiten durchzitterte sie die unendliche Melancholie pfeifender Vogelstimmen. In seiner hohen, ungeschützten Lage war es ein kaltes, rauhes Haus, von Wetterstürzen gewaschen, von unermüdlichen Regengüssen durchnäßt, welche die Dachrinnen Wasser speien ließen, gezaust, geprellt von sämtlichen Winden des Himmels, und die Aussicht war oft schwarz von Gewittersturm und weiß von dem Schnee des Winters. Aber das Haus war wind- und wetterfest; die Kamine waren stets freundlich erhellt, die Räume von glühenden Torffeuern durchwärmt, und Archie konnte an den Abenden, wenn er das Feuer aus dem erdigen Stoff erblühen sah und beobachtete, wie der Rauch sich den Schornstein hinaufschlängelte, tief von den Genüssen der Behaglichkeit trinken, während draußen auf der Heide der Wind trompetete.

So einsam der Ort auch war, Archie verlangte es nicht nach Nachbarn. Allabendlich konnte er, wenn der Sinn ihm danach stand, sich ins Pfarrhaus hinunter begeben. Dort trank er dann seinen Toddy mit dem Pastor – einem »spinneten« uralten Herrn, hochgewachsen, hager, aber noch immer rüstig, obwohl das Alter ihm die Knie gelockert hatte und seine Stimme sich fortwährend in kindischen, zitternden Fisteltönen überschlug – sowie mit dessen hochgeborener Frau Gemahlin, einer beleibten, stattlichen Dame, die außer guten Abend und guten Tag noch allerlei für sich zu sagen wußte. Wüste, verdrehte, junge Krautjunker aus der Nachbarschaft erwiesen ihm die Ehre eines Besuches. Der junge Hay von Romanes ritt auf seinem Stutzohrpony herüber; der junge Pringle von Drumanno erschien auf seinem knochigen Grauschimmel. Hay blieb als Leiche auf dem Felde der Gastfreundschaft zurück und mußte in sein Bett getragen werden; Pringle gelang es auf irgendeine Weise, sich etwa um drei Uhr morgens in den Sattel zu schwingen; dort saß er schwankend (während Archie ihm mit der Lampe von der obersten Treppenstufe leuchtete), stieß ein vollkommen sinnloses Halali aus und verschwand dann plötzlich gespenstergleich aus dem kleinen Lichtkreise. Ein, zwei Minuten lang verkündete das Rasseln der Pferdehufe seine halsbrecherische Flucht, bis der dazwischenliegende steile Hügel es verschluckte; und wieder ertönte nach langer Pause geisterhaftes Rossegestampf weit unten im Tal von Hermiston und verriet, daß zum mindesten das Pferd, wenn nicht der Reiter, sich immer noch auf dem Heimwege befände.

Außerdem gab es zu Crossmichael im Wirtshaus »Zu den gekreuzten Schlüsseln« noch einen Dienstagklub, allwo sich die jungen Herren aus der Nachbarschaft zusammenfanden und sich gegen einen Prozentsatz der eigentlichen Kosten volltranken, so daß zum Schluß derjenige der Gewinner war, der am meisten getrunken hatte. Archie fand keinen großen Geschmack an dieser Zerstreuung, aber er nahm sie hin, gleich einer gottgewollten Pflicht, beteiligte sich an ihr mit anständiger Regelmäßigkeit, stand seinen Mann beim Zechen, hielt angesichts der lokalen Witze den Kopf hoch und gelangte auch glücklich wieder nach Hause, wo er zu Kirsties und der Dienstmagd Bewunderung sogar noch imstande war, sein Pferd einzustellen. Er dinierte zu Driffels und soupierte auf Windielaws. Er besuchte den Silvesterball in Huntsfield, wurde mit offenen Armen aufgenommen und ritt hernach in Gesellschaft Lord Miurfells die Fuchsjagden mit, Lord Miurfells, eines waschechten Lords des Parlaments, bei dessen Namen meine Feder in diesem Buche, darin soviel von Würdenträgern des Gerichts die Rede ist, von Rechts wegen mit Ehrfurcht verweilen müßte. Jedoch auch hier erwartete ihn das gleiche Los wie in Edinburg. Einsamkeit ist eine Gewohnheit, die schwer zu brechen ist, und eine gewisse, ihm gänzlich unbewußte Strenge sowie Stolz, der sich in den Augen der anderen wie Arroganz ausnahm und doch vornehmlich Schüchternheit war, entmutigten und kränkten seine neuen Gefährten. Hay wiederholte nur zweimal den Besuch, Pringle überhaupt nicht, und es kam eine Zeit, in der Archie selbst den Dienstagklub mied und in allen Dingen zu dem wurde, was er dem Namen nach von Anfang an gewesen – zum Einsiedler von Hermiston. Zwischen der hochmütigen Miß Pringle von Drumanno und der hochtrabenden Miß Marshall of the Mains kam es, einem Gerücht zufolge, am Tage nach dem Ball zu einer Meinungsverschiedenheit – seinetwegen –; er ahnte nichts davon, wie sollte er auch auf den Gedanken kommen, daß diese bezaubernden Damen ihn überhaupt bemerkt hätten? Auf dem Balle selbst redete ihn Mylord Miurfells Tochter, Lady Flora, zweimal an, das zweitemal gleichsam mit einer leisen Bitte in ihrer Stimme, die ihr das Blut in die Wangen trieb und die Worte, gleich einer flüchtigen Schönheit in der Musik, in Archies Ohren nachzittern ließ. Er wich zurück, das Herz in Flammen, entschuldigte sich kalt, wenn auch nicht ohne Anmut, und mußte zusehen, als sie bald darauf in den Armen des jungen Drumanno – des Gecken mit dem leeren Lachen – an ihm vorübertanzte. Der Anblick ärgerte ihn, wütend sagte er zu sich selbst, daß es in dieser Welt einem Drumanno beschieden sei, zu gefallen, während er neidisch beiseite stehen müßte. Er schien, offenbar mit Recht, von der Gunst einer derartigen Gesellschaft ausgeschlossen – schien Lustbarkeit und Freude zu töten, wohin immer er auch kam, empfand sogleich heftig die Wunde, ließ von allem ab und zog sich in die Einsamkeit zurück. Hätte er nur die Figur, die er machte, erkannt, den Eindruck, den er in jenen schönen Augen und empfänglichen Herzen hinterließ: hätte er nur geahnt, daß der Einsiedler von Hermiston, jung, anmutig, gewandt im Reden, aber immer kalt, die Mädchen der Grafschaft mit dem Charme des Byronismus berührte zu einer Zeit, da der Byronismus noch neu war – sein Schicksal hätte sich selbst in dieser elften Stunde – vielleicht noch mildern lassen. Das darf zwar als Frage aufgeworfen, muß aber, meiner Ansicht nach, bezweifelt werden. Es stand in seinem Horoskop, daß er vor allen Schmerzen, ja selbst vor der Möglichkeit des Schmerzes, und sei es auf Kosten einer Gelegenheit zur Freude, zurückscheute; daß er ein schier römisches Pflichtgefühl sowie einen instinktiven Adel des Wesens und des Geschmacks besaß, kurz, daß er der Sohn Adam Weirs und Johanna Rutherfords war.

 

II. Kirstie

Kirstie war jetzt über fünfzig und hätte einem Bildhauer Modell sitzen können. Langgliedrig, immer noch leicht von Fuß, vollbrüstig und mit breiten Hüften, ohne einen einzigen Silberfaden in ihrem Goldhaar, war sie von den Jahren verschönt und geliebkost worden. Kraft einer üppigen, starken Mütterlichkeit schien sie einem Helden zur Braut und zur Mutter seiner Kinder bestimmt; und siehe: durch eine besondere Tücke des Geschicks war sie einsam durch ihre Jugend geschritten und näherte sich jetzt, eine kinderlose Frau, den Grenzen des Alters. Alle zärtlichen Hoffnungen, die sie bei ihrer Geburt empfangen, hatten Zeit und Enttäuschungen in unfruchtbare Arbeitswut und in eine krankhafte Sucht, sich einzumischen, verwandelt. Sie trug ihre verdrängten Lebensenergien in ihre Hausarbeit hinein: sie wusch die Fußböden mit ihrem leeren Herzen. Konnte sie nicht mit Liebe eines einzigen Menschen Liebe gewinnen, so mußte sie wenigstens alle durch ihre Launen beherrschen. Hitzig, wortreich und jähzornig, lebte sie mit der Mehrzahl ihrer Nachbarn in unentschiedenem Streit und mit den übrigen in nicht viel mehr als bewaffneter Neutralität. Die Inspektorsfrau war »hochnäsig« gewesen; die Schwester des Gärtners, die ihm die Wirtschaft führte, »frech«, und sie schrieb durchschnittlich einmal im Jahr an Lord Hermiston mit der gebieterischen Forderung, die Missetäter zu entlassen, wobei sie ihr Verlangen durch einen Überfluß an Beweisen begründete. Denn man darf beileibe nicht annehmen, daß der Streit sich etwa auf die Ehefrau beschränkte, ohne den Mann einzubeziehen – oder daß Kirstie es bei des Gärtners Schwester bewenden ließ und nicht sehr bald den Gärtner selbst in die Fehde verwickelte. Das Ergebnis all dieser kleinlichen Zänkereien und heftigen Reden war, daß sie sich (ähnlich dem Leuchtturmwächter auf seinem Turm) gleichsam von den Tröstungen menschlichen Verkehrs ausgeschlossen sah. Die einzige Ausnahme bildete ihre eigene schwer arbeitende Hausmagd, die als junges Ding, auf Gnade und Ungnade ihr ausgeliefert, sämtliche Launen der wetterwendischen Herrin ohne Klage über sich ergehen lassen mußte, bereit, Ohrfeigen wie Liebkosungen zu empfangen, so wie die jeweilige Stimmung es erheischte. Und Kirstie in dem warmen Spätherbst ihres Herzens, das sich nur widerwillig dem Alter unterwarf, sandten die Götter den zweifelhaften Segen von Archies Gegenwart. Sie hatte ihn von der Wiege her gekannt, hatte seine Ungezogenheiten weggestreichelt, aber sie war ihm seit seinem zwölften Lebensjahr und seiner letzten schweren Krankheit nicht wieder begegnet; daher fühlte sie sich jetzt angesichts dieses großen, schlanken, aristokratischen und leicht melancholischen jungen Herrn von zwanzig überrumpelt wie von einer neuen und unerwarteten Bekanntschaft. Er war »der junge Hermiston«, der »Gutsherr selbst«; er trug eine entschiedene Überlegenheit zur Schau; ein einziger kalter, gerader Blick seiner dunklen Augen schlug gleich zu Anbeginn der Frau cholerisches Temperament in Banden und schloß auf immer die Möglichkeit eines Streites aus. Er war neu und erregte daher ihre Neugier; er war zurückhaltend und hielt diese ständig wach. Und endlich war er dunkel und sie blond, er männlich und sie weiblich: der unversiegliche Quell allen Interesses.

Ihr Gefühl für ihn hatte etwas von der sklavischen Treue einer Clansmännin, der Heldenverehrung einer unverheirateten Tante und der blinden Anbetung, die man einem Götzen schuldet. Er hätte alles von ihr verlangen können, Lächerliches und Tragisches, sie würde es für ihn getan haben und wäre glücklich dabei gewesen. Ihre Leidenschaft – denn es war nichts Geringeres als das – erfüllte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Es war für sie ein wollüstiger Genuß, sein Bett zu machen, in seiner Abwesenheit seine Lampe anzuzünden, ihm die nassen Stiefel auszuziehen oder ihm nach seiner Rückkehr bei Tische aufzuwarten. Von einem jungen Manne, der also moralisch und physisch von dem Gedanken an eine Frau besessen wäre, hätte man mit Recht behauptet, er sei bis über beide Ohren verliebt, und er würde sich auch dementsprechend benommen haben. Kirstie jedoch – obwohl ihr Herz bei dem Klang seiner Schritte höher schlug, obwohl, wenn er ihr auf die Schulter klopfte, sie den ganzen Tag über strahlte –, Kirstie hatte keine Hoffnung und keinen anderen Gedanken als die Gegenwart und deren Fortsetzung bis in alle Ewigkeit. Bis an ihr Lebensende wünschte sie sich nichts Besseres, als mit Entzücken ihrem Idol dienen zu können und zum Lohne dafür (sagen wir, zweimal im Monat) auf die Schulter getätschelt zu werden.

Ich sagte, daß ihr Herz höher schlüge – so lautet die gebräuchliche Redensart. Richtiger wäre es, zu sagen, daß, wenn sie sich allein in irgendeinem Zimmer befand und auf dem Korridor seinen Schritt hörte, etwas langsam in ihrem Busen höher stieg, bis ihr der Atem stockte, um dann ebenso langsam wieder in einem tiefen Seufzer zu ersterben, falls die Schritte an ihr vorübergingen und sie sich um ihren Herzenswunsch betrogen sah. Dieser ewige Hunger und Durst nach seiner Gegenwart hielt sie den ganzen Tag auf den Beinen. Wenn er des Morgens fortging, sah sie ihm mit bewundernden Blicken nach. Schritt der Tag vor und rückte die Zeit seiner Heimkehr heran, so stahl sie sich hinaus an die Gartenmauer und hielt dort manchmal stundenlang, mit der Hand die Augen beschattend, nach ihm Ausschau, nur um die köstliche und darre Freude zu genießen, ihn eine Meile entfernt über die Hügel reiten zu sehen. Hatte sie des Nachts das Feuer geschürt und versorgt, sein Bett aufgedeckt und sein Nachtzeug ausgelegt und gab es nichts mehr für seine Majestät zu tun, als seiner inbrünstig in ihren sonst recht lauen Gebeten zu gedenken und beim Schlafengehen über seine Vollkommenheiten, seine künftige Laufbahn und über die Frage nachzugrübeln, was sie ihm wohl morgen zum Essen vorsetzen sollte – ja, dann blieb ihr noch eine einzige Möglichkeit: ihm das Tablett mit dem Abendessen hineinzutragen und ihm gute Nacht zu wünschen. In solchen Fällen blickte Archie hin und wieder mit einem zerstreuten Kopfnicken und einem pflichtschuldigen Gruß, der in Wahrheit eine Entlassung bedeutete, von seinem Buche auf; mitunter jedoch – und allmählich immer häufiger – wurde der Band beiseite gelegt und ihr Eintritt mit einem erleichterten Aufatmen begrüßt; und sehr bald waren sie in ein Gespräch verwickelt, das sich bei dem schwindenden Feuer über die ganze Mahlzeit bis tief in die Nacht hinein erstreckte. Kein Wunder, daß Archie sich bei seinem einsamen Leben nach Gesellschaft sehnte; Kirstie ihrerseits führte sämtliche Künste ihrer kraftvollen Natur ins Treffen, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie pflegte während des Mittagessens mit einer Neuigkeit zurückzuhalten, nur um beim Hereintragen des Abendbrottabletts damit herauszuplatzen und so gleichsam den Vorhang über der abendlichen Unterhaltung aufgehen zu lassen. Hatte sich ihre Zunge erst einmal in Bewegung gesetzt, so war sie ihres Erfolges sicher. Unmerklich glitt sie von einem Thema zu dem anderen hinüber, voller Angst vor der geringsten Pause; ja mitunter ließ sie ihm kaum Zeit zu einer Antwort, aus Furcht, er könne einen Wink zum Aufbruch einflechten. Wie so viele Leute ihres Standes war sie eine vorzügliche Erzählerin; ihr Platz war der häusliche Herd, aber sie verwandelte ihn in ein Rostrum, begleitete ihre Geschichten mit der entsprechenden Mimik und schmückte sie mit lebendigsten Einzelheiten aus, indem sie sie durch endlose »Sagt er« und »Sagt sie« verlängerte und ihre Stimme bei jeder Schilderung des Übernatürlichen oder Grausigen zu einem Flüstern dämpfte. Zum Schluß sprang sie dann mit geheucheltem Erstaunen auf, deutete auf die Uhr und rief: »Liebe Zeit, Mr. Archie! Wie spät es schon geworden ist! Gott verzeih mir tollem altem Frauenzimmer!« So brachte sie es durch geschicktes Manövrieren zustande, daß sie nicht nur diese nächtliche Unterredungen anknüpfte, sondern auch unfehlbar die erste war, sie abzubrechen. Dadurch gelang es ihr, sich zurückzuziehen, ohne von ihm fortgeschickt zu werden.

 

III. Eine Familie aus den Grenzlanden

Eine so ungleiche Vertrautheit ist von jeher in Schottland gebräuchlich gewesen, wo der alte Clansgeist sich erhalten hat; wo die Dienerin nicht selten ihr Leben im Dienste einer Familie verbringt, anfänglich als Gehilfin, später als Tyrannin und zuletzt als Gnadenbrotempfängerin; wo auch sie mitunter sich der Auszeichnung vornehmer Geburt rühmen darf, ja vielleicht wie Kirstie eine entfernte Verwandte der Herrschaft ist, zum mindesten in den Traditionen ihrer eigenen Familie bewandert oder mit irgendwelchen illustren Toten versippt. Denn das kennzeichnet den Schotten jeden Standes: er nimmt der Vergangenheit gegenüber eine Haltung ein, die dem Engländer unfaßlich ist, und hegt und pflegt das Andenken all seiner Vorfahren, ob gut, ob böse; ja in ihm brennt als lebendiges Feuer das Bewußtsein der Identität mit den Toten, selbst bis ins zwanzigste Glied. Hierfür hätte es kein trefflicheres Beispiel geben können als Kirstie Elliott und ihre Familie. Alle, ihnen voran Kirstie selbst, waren bereit, ja brannten darauf, jedem die Einzelheiten ihrer Genealogie zu unterbreiten, geschmückt mit tausend Zügen, welche die Überlieferung ihnen vererbt oder die Phantasie ersonnen hatte; und siehe: An jeder Verzweigung des Familienstammbaumes baumelte der Strick des Henkers. Die Elliotts selbst haben eine bewegte Geschichte; aber sie leiten ihren Ursprung noch von drei der unglücklichsten Grenzclans ab – den Nicksons, den Ellwalds und den Crozers. Einen Vorfahren nach dem anderen sah man auf Schleichwegen aus dem Regen und Nebel der Berge auftauchen und mit seiner ärmlichen Beute an lahmen Pferden oder magerem Niederlandsvieh wieder nach Hause jagen; oder aber er schrie und teilte Mord und Totschlag aus bei irgendeiner elenden Hochlandsfehde der Frettchen und Wildkatzen. Einer nach dem anderen beschloß seine obskuren Abenteuer zwischen Himmel und Erde, an irgendeinem königlichen oder feudalherrlichen Galgen. Denn die rostige Donnerbüchse schottischer Kriminaljustiz, die gewöhnlich niemandem außer den Geschworenen selbst etwas zuleide tut, wurde den Nicksons, den Ellwalds und den Crozers gegenüber zur Präzisionswaffe. Jedoch im Gedächtnis ihrer Nachkommen schien allein der Rausch ihrer Taten fortzuleben, die Schande war vergessen; Stolz schwoll ihre Brust, wenn es galt, ihre Verwandtschaft mit »Andrew Ellwald von Laverockstanes« zu proklamieren, »genannt ›Dand, der Pechvogel‹ der mit sieben anderen seines Namens zu Jeddart unter König Jakob VI. hochnotpeinlich gerichtet wurde«. Bei diesem langen Gespinst von Unglück und Verbrechen konnten sich die Elliotts von Cauldstaneslap einer Sache mit Recht rühmen: Die Männer waren alle Galgenvögel, geborene Räuber, Strauchdiebe und mörderische Raufbolde; die Weiber dagegen, der nämlichen Tradition zufolge, sämtlich keusch und treu. Der Einfluß der Ahnen auf den Charakter ist nicht auf die Vererbung des Keimplasmas beschränkt. Wenn ich mir vom Heroldsamt dutzendweise Ahnen kaufe, wird mein Enkel (falls er ein Schotte ist) sich dennoch bewogen fühlen, ihre Taten nachzuahmen. Die Männer der Elliotts waren stolz, gesetzlos, gewalttätig als ihr gutes Recht und Heger und Pfleger der Familientradition. Ebenso die Frauen. Und diese nämlichen Weiber, die, selbst leidenschaftlich und wagemutig, vor den glimmenden Torffeuern kauernd, jene Geschichten überlieferten, hegten und pflegten ihr Leben lang eine wilde Integrität der Tugend.

Kirsties Vater, Gilbert, war tieffromm gewesen, ein unerbittlicher Puritaner alten Stils und dabei ein notorischer Schmuggler. »Kann mich noch besinnen, daß ich als Kind manche Ohrfeige bekam und zeitweilen wie die Hühner ins Bett gescheucht wurde«, pflegte Kirstie zu erzählen. »Das war, wenn die Jungens mit ihren Packs unterwegs waren. Oft saß das Gesindel von zwei, drei Grafschaften in unserer Küche so zwischen zwölf und drei Uhr nachts; und ihre Laternen standen derweil im Vorhof, Stücker zwanzig auf einmal. Aber gottlose Reden wurden auf Cauldstaneslap nicht geduldet; mein Vater war ein strenger Mann in seinem Wandel wie in seinen Worten; da brauchte dir nur ein einziger Fluch entschlüpfen, und schon saßest du vor der Tür! Er war ein großer Eiferer im Herrn, ein reines Wunder, was das Beten anbelangt, aber darin hat unsere Familie von jeher eine besondere Begabung gehabt!« Dieser Vater war zweimal verheiratet, einmal mit einem dunkelhäutigen Weib vom alten Ellwald-Schlage, mit der er Gilbert, den Erben von Cauldstaneslap, zeugte, und das zweitemal mit der Mutter von Kirstie. »Er war schon ’n alter Mann, als er sie heiratete, ein häßlicher, alter Mann mit einer mächtigen Stimme – hören konnte man ihn, wenn er vom Gipfel des Kye-skairs zu uns herunterbrüllte; aber sie, Mr. Archie, sie war wahrhaftig ein Wunder. Gutes, adliges Blut floß ihr in den Adern, Mr. Archie: Euer eigenes und kein anderes. Die ganze Umgebung war rein verrückt nach ihr und ihrem goldenen Haar. Meins ist damit nicht in einem Atem zu nennen, und doch gibt’s wenige Weiber, die mehr Haar haben als ich oder von schönerer Farbe. Oft hab‘ ich meinem lieben Fräulein Hannchen gesagt – Eurer Mutter, mein Herz schrecklich gesorgt hat sie sich um ihr Haar, und es war auch wahrhaftig gar zu dünne –! ›Unsinn, Fräulein Hannchen‹, sagt‘ ich, ›werft Euer Haarwasser und Eure französischen Pomaden ins Feuer; das ist der Platz, wo sie hingehören; und herunter mit Euch an den Bach, und wascht Euch in dem kalten Bergwasser, und trocknet Euer hübsches Haar in dem frischen Wind der Heide, wie meine Mutter es tat und wie ich es allweg mit meinen getan habe – tut nur, was ich Euch sage, mein Liebchen, und wir wollen uns wiedersprechen! Haare werdet Ihr bekommen im Überfluß, einen Zopf so dick wie mein Arm‹ – das hab‘ ich ihr gesagt – ›und von allerschönster Farbe wie die blanken, goldenen Guineen, daß die Burschen in der Kirche sich nicht werden satt sehen können!‹ Ach ja – für sie, armes Ding, hat es gereicht! Hab‘ ihr eine Locke abgeschnitten, als sie da starr und kalt auf dem Totenbett lag. Eines Tages zeig‘ ich sie Euch, wenn Ihr brav seid. Aber was ich sagen wollte, meine Mutter …«

Beim Tode ihres Vaters blieben die goldhaarige Kirstie, die bei ihren entfernten Verwandten, den Rutherfords, Dienste nahm, sowie der um zwanzig Jahre ältere, schwarze Gilbert zurück. Dieser übernahm Cauldstaneslap, heiratete und zeugte zwischen 1773 und 1784 vier Söhne sowie im Jahre 97, dem Jahr von Camperdown und Kap St. Vincent, eine Nachzüglerin, eine Tochter. Auch das schien Familientradition zu sein: die Reihe der Kinder mit einer spätgeborenen Tochter zu beschließen. 1804, im Alter von sechzig Jahren, kam Gilbert zu einem Ende, das man getrost heroisch nennen kann. Er wurde vom Markte zurückerwartet, irgendwann zwischen acht Uhr abends und fünf Uhr früh und in jedem beliebigen Zustand von Rauflust oder wortloser Trunkenheit, wie es damals die wohllöbliche Gewohnheit der schottischen Bauern war. Es war bekannt, daß er diesmal ein hübsches Stück Geld heimbringen würde; es war offen darüber gesprochen worden. Der Bauer hatte zudem seine Guineen herumgezeigt, und zum Unglück hatte niemand bemerkt, daß eine übel aussehende Landstreicherbande, der Abschaum der Edinburger Gossen, sich lange vor Anbruch der Dämmerung vom Markte entfernt und den Bergweg nach Hermiston eingeschlagen hatte, allwo sie schwerlich rechtmäßige Geschäfte haben konnten. Einen aus der Nachbarschaft, einen gewissen Dickieson, hatten sie als Führer gedungen – teuer mußte er später dafür büßen! Und plötzlich, an der Furt von Broken Dykes, fiel dieses lausige Gesindel über den Großbauern her, sechs gegen einen, und er obendrein noch drei Viertel eingeschlafen, da er kräftig getrunken hatte! Aber es hielt schwer, einen Elliott zu überrumpeln. Eine Weile schlug er drauflos mit seinem Stock, dort in der Finsternis und in dem pechschwarzen Wasser, das ihm bis zum Sattelgurt ging, gleich einem Schmied auf seinen Amboß, und gewaltig war der Lärm seiner Flüche und Hiebe. Dann hatte er den Hinterhalt durchbrochen und jagte nach Hause mit einer Pistolenkugel im Leibe, drei Messerstichwunden, dem Verlust seiner Vorderzähne, einer zerbrochenen Rippe, einem zerrissenen Zaumzeug und einem sterbenden Pferd. Es war ein Rennen mit dem Tode, das der Großbauer in jener Nacht ritt! In der tiefschwarzen Dunkelheit, mit zerrissenen Zügeln und schwindelndem Kopf, grub er die Sporen bis zu den Rädern in des Pferdes Flanken, und das Pferd, armes Geschöpf!, das selbst noch schwerer getroffen war, schrie laut auf in seiner Qual wie ein Mensch, und die Leute in Cauldstaneslap sprangen vom Tische auf und blickten einander in die bleichen Gesichter. Das Pferd brach tot vor dem Hoftor zusammen, aber der Bauer erreichte noch das Haus und stürzte dort auf der Schwelle hin. Dem Sohne, der ihn aufhob, drückte er den Sack Geld in die Hand. »Da«, sagte er. Den ganzen Weg herauf hatte er die Diebe hinter sich gespürt, aber jetzt verließ ihn die Halluzination – er erblickte sie wieder in jenem Hinterhalt –, und der Durst nach Rache ergriff seine sterbende Seele. Er reckte sich hoch und wie mit gebieterischer Gebärde in die schwarze Nacht, aus der er gekommen; dann gab er den einen Befehl »Broken Dykes« und verlor die Besinnung. Niemals hatte man ihn geliebt, aber man hatte ihn geehrt und gefürchtet. Bei jenem Anblick, jenem Wort, das sich keuchend dem zahnlosen, blutenden Munde entrang, erwachte mit einem Schrei in seinen vier Söhnen der alte Elliott-Geist. »Ohne Hut«, fährt meine Gewährsmännin Kirstie fort, der ich nur zögernd folge, denn sie erzählte die Mär wie inspiriert, »ohne Gewehre es waren keine zwei Gramm Pulver im ganzen Haus –, ohne andere Waffen als die Knüttel in ihren Händen, nahmen die vier die Verfolgung auf. Nur Hob, der älteste, kniete einen Augenblick auf der Türschwelle hin, wo das Blut rann, tauchte seine Hand hinein und hielt sie zum Himmel empor nach Art des alten Grenzeids. ›Die Hölle soll heut nacht ihr Eigen wiederhaben‹ schrie er und stürzte hinaus auf sein Pferd.« Drei Meilen waren es bis nach Broken Dykes, immer bergab, eine schlimme Straße. Kirstie hatte erlebt, daß Leute aus Edinburg bei hellichtem Tage abgestiegen waren und lieber ihre Pferde am Zügel führten. Aber die vier Brüder ritten, als wäre ihnen der Böse selbst auf den Fersen. Da waren sie an der Furt, und da war Dickieson. Nach allem, was man hört, war er nicht tot, sondern atmete noch und hob sich auf seinen Ellbogen und schrie um Hilfe. Es war ein erbarmungsloses Antlitz, das er um Gnade anflehte. Kaum hatte ihn Hob beim Licht der Laterne erkannt, die auf das Weiße seiner Augen und die Zähne in des Mannes Gesicht traf, da sagte er: »Gott verdamme dich! Deine Zähne hast du noch, was?« und jagte sein Pferd hin und her über die menschlichen Überreste. Danach mußte Dandie absitzen und ihnen leuchten; er war der jüngste Sohn und kaum erst zwanzig. »Die ganze liebe, lange Nacht ging’s weiter durch die nasse Heide und die Wacholderbüsche, und wo sie gingen, das wußten sie nicht und fragten auch nicht danach, sondern folgten nur den Blutflecken und der Spur von ihres Vaters Mördern. Und die ganze Nacht strich Dandie mit der Nase über den Boden hin wie ein Bluthund, und die anderen folgten und sprachen kein Wort, weder schwarz noch weiß. Und da war kein Laut zu hören außer dem Stöhnen der geschwollenen Bäche und außer Hob, dem harten, der im Gehen mit den Zähnen knirschte.« Beim ersten Strahl des Morgengrauens erkannten sie, daß sie auf dem Treiberweg waren; da hielten die vier inne und nahmen einen Bissen Frühstück, denn sie wußten, daß Dand sie richtig geführt und daß sie die Gauner dicht vor sich hatten, Hals über Kopf auf der Flucht nach Edinburg und den Hügeln von Pentland. Um acht Uhr erhielten sie die erste Auskunft – ein Schäfer hatte vier Männer, »arg mißhandelt«, vor noch nicht einer Stunde vorübereilen sehen. »Auf jeden einer«, sagte Clemens und schwang seinen Knüttel. »Fünf Stück«, meinte Hob. »Gottes Tod, aber der Vater war ein Mann! Und obendrein in der Trunkenheit!« Und dann stieß ihnen etwas zu, das meine Gewährsmännin als ein »großes Unglück« bezeichnete, denn sie wurden von einem Trupp berittener Nachbarn überholt, die gekommen waren, ihnen zu helfen. Vier saure Gesichter begrüßten diese Verstärkung. »Der Teufel hat euch hergeführt!« sagte Clemens, und sie ritten von nun an mit hängenden Köpfen in der hintersten Reihe. Noch vor zehn hatten sie die Schufte eingeholt und gefangengenommen, und als sie mit ihren Gefangenen um drei Uhr nachmittags in Edinburg einritten, begegnete ihnen eine Schar Menschen mit einer triefenden Bürde. »Denn die Leiche des sechsten«, fuhr Kirstie fort, »mit einem Kopf, zerdrückt wie eine Haselnuß, hatte der Hermistoner Fluß die ganze Nacht über in Gewahrsam genommen; und er hatte sie an den Steinen geprellt und an den Sandbänken zerschunden und hernach das tote Ding Hals über Kopf die Fälle von Spango hinuntergejagt; und beim Morgengrauen hatte der Tweed es gepackt und wie der Wind entführt – denn es war arges Hochwasser dazumalen. Und so sauste er mit ihm dahin und tauchte es unter die Böschung und riß es wieder empor und spielte lange mit jenem Geschöpf unten in den Stromschnellen am Fuße der Burg; und das Ende war, daß er es bei der Crossmichael-Brücke wieder an Land spie. Und damit hatten sie alle sechs endlich beisammen (denn den Dickieson hatte man längst auf einem Karren hereingefahren), und die Leute konnten sehen, was für eine Art Mann mein Bruder gewesen war, der sich gegen sechse gehalten hatte, und obendrein noch in der Trunkenheit!« So starb an seinen ehrenvollen Wunden und auf der Höhe des Ruhmes Gilbert Elliott von Cauldstaneslap; aber seine Söhne ernteten aus der ganzen Sache kaum geringere Ehre. Ihre barbarische Eile, die Geschicklichkeit, mit der Dand die Spur aufgenommen und verfolgt hatte, die Unmenschlichkeit gegen den verwundeten Dickieson (die rings im Lande ein offenes Geheimnis war) und das furchtbare Schicksal, das sie nach allgemeiner Ansicht auch den anderen zugedacht, packte und beschwingte die Volksphantasie. Ein Jahrhundert früher hätte wohl der letzte der Barden aus diesem homerischen Kampf und Ende die letzte der Balladen gedichtet; aber der alte Geist war gestorben und hatte bereits in Herrn Sheriff Scott seine Reinkarnation erlebt, und die entarteten Heidebewohner mußten sich damit begnügen, die Mär in Prosa zu erzählen und aus den »Vier Schwarzen Brüdern« eine Einheit zu schaffen nach Art der »Zwölf Apostel« oder der »Drei Musketiere«.

Robert, Gilbert, Clemens und Andreas – in der volkstümlichen Abkürzung der Grenzlande Hob, Gib, Clem und Dand Elliott –, diese Balladenhelden, hatten manches miteinander gemein, insbesondere den stark ausgeprägten Familiensinn und das lebendige Gefühl für die Familienehre; aber sie gingen alle ihre eigenen Wege und hatten Erfolg oder scheiterten in den verschiedensten Berufen. Um mit Kirstie zu reden, alle waren ein wenig »spinnet« mit Ausnahme von Hob. Hob, der Großbauer, war in Wahrheit in allen Dingen ein hochachtbarer Mann. Als Kirchenältester hatte niemand, seit jener Jagd hinter den Mördern seines Vaters her, je einen Fluch von ihm vernommen, außer gelegentlich einmal bei der Schafwäsche. Die Figur, die er an jenem verhängnisvollen Abend machte, schien wie von der Erde verschluckt. Er, der in der Ekstase seine Hand in das rote Blut getaucht, der Dickieson unter den Hufen seines Pferdes zertrampelt hatte, wurde von jenem Augenblick an ein steifes und wenig anziehendes Vorbild ländlicher Ehrbarkeit; ein Schlaukopf, der bedachtsam an den hohen Kriegspreisen profitierte und alljährlich ein rundes Sümmchen als Notgroschen auf die Bank trug, geachtet und mitunter sogar geschätzt von den Großgrundbesitzern der Nachbarschaft, die ihn seiner schwerfälligen, gelassenen Vernunft wegen zu Rate zogen – vorausgesetzt, daß er zum Reden zu bewegen war; daneben war er der erklärte Günstling des Pastors, Mr. Torrance, der ihn in Gemeindeangelegenheiten als seine rechte Hand betrachtete und ihn den Eltern als Vorbild pries. Die Transfiguration hatte nur einen kurzen Augenblick gedauert; irgend ein Barbarossa, ein alter Adam unserer Vorfahren, schlummert wohl in uns allen, bis der gegebene Moment ihn zum Handeln ruft; und dieser jetzt so nüchterne Hob hatte ein für allemal das Ausmaß des Teufels, der ihn ritt, gezeigt. Er war verheiratet und wurde von seiner Frau dank des verklärenden Schimmers jener legendären Nacht auf Händen getragen. Er besaß eine Horde kleiner, kräftiger, barfüßiger Kinder, die in einer langen Karawane die vielen Meilen zur Schule marschierten und die einzelnen Stationen ihrer Pilgerfahrt durch Zerstörungswut und allen möglichen Unfug bezeichneten. In der ganzen Gegend waren sie als eine Landplage verschrien, aber daheim verhielten sie sich mucksmäuschenstill, »wenn der Vater zu Haus‘ war«. Mit einem Wort, Hob bewegte sich im Geschwindschritt durchs Leben – wie das der Lohn eines jeden ist, der inmitten eines von der Zivilisation geknebelten und verzärtelten Landes unter grausigen und romantischen Begleitumständen seinen Mann getötet hat.

Es gab ein geflügeltes Wort im Lande: Die Elliotts wären wie die Sandwichs – auf jede schmackhafte Scheibe folgt eine unschmackhafte –, und wirklich wechselten durch einen sonderbaren Unterschied die Träumer mit den Tüchtigen ab. Der zweite Bruder, Gib, war von Beruf ein Weber und war schon als junger Mensch in die Welt nach Edinburg gezogen, von wo er mit versengten Schwingen heimkehrte. In seiner Natur lag eine gewisse Exaltation, die ihn veranlaßte, sich mit Begeisterung die Prinzipien der französischen Revolution anzueignen. Die Folge war, daß er gelegentlich jenes wütenden Ansturms gegen die Liberalen, der Muir und Palmer in die Verbannung hetzte und die ganze Partei gleich Spreu in alle Winde trieb, Lord Hermiston in die Quere kam. Man munkelte, Mylord habe in seiner grenzenlosen Verachtung und von einer gelinden, freundnachbarlichen Regung bewogen, Gib noch rechtzeitig einen Wink erteilt. Als dieser ihm eines Tages in der Potterrow begegnete, hatte Mylord ihn mit den Worten angehalten: »Gib, du Idiot, was muß ich von dir hören? Politik, Politik, nichts als Politik, Weberpolitik, nach allem, was die Leute sagen! Wenn du nicht ganz von deiner Idiotie besoffen bist, marschierst du schnurstracks nach Cauldstaneslap zurück; dort treib deinen Webstuhl, treib deinen Webstuhl, Mann!« Und Gilbert hatte den Wink beherzigt und war mit einer Hast, die man fast als Flucht bezeichnen konnte, in das Haus seiner Väter zurückgekehrt. Sein klarstes Erbe war jene Familienbegabung fürs Gebet, deren Kirstie sich rühmte; und der gescheiterte Politikus wandte jetzt seine Aufmerksamkeit religiösen Dingen oder – wie andere es nannten – der Ketzerei und dem Schisma zu. Er begab sich von nun an jeden Sonntag nach Crossmichael, wo er allmählich eine Sekte, bestehend aus einem Dutzend Mitgliedern, zusammenbrachte, die sich »Gottes letzte Streiter des wahren Glaubens« oder kurz nur »Gottes letzte Streiter« nannten. Den Lästermäulern waren sie als »Gibs Teufel« bekannt. Bailie Sweedie, ein bekannter Witzbold jener Stadt, schwur, der Gottesdienst würde regelmäßig mit der Melodie »Die Zollbeamten soll der Teufel holen« eingeleitet und das Sakrament würde in Form von heißem Whisky-Toddy genommen. Beides war ein boshafter Hieb gegen den Evangelimann, den man in seiner Jugend der Schmuggelei verdächtigt hatte und der einmal während des Jahrmarkts »knüppelhagelvoll« (wie der Ausdruck lautet) in den Straßen von Crossmichael aufgefunden worden war. Man wußte, daß diese letzten Streiter allsonntäglich den Segen auf Bonapartes Waffen herabflehten. Aus eben diesem Grunde waren sie wiederholt vor dem Häuschen, das ihnen als Tempel diente, von den Kindern mit Steinen beworfen worden; ja Gibs eigener Bruder Dand hatte einmal als Mitglied der freiwilligen Grenzwacht mit gezogenem Schwert gegen ihn eine Attacke geritten. Die »Letzten Streiter« hatten den Ruf, im Prinzip »Antinomisten« zu sein, was anderenfalls ein schwerer Vorwurf gewesen wäre, bei der damalig herrschenden öffentlichen Meinung jedoch gänzlich von dem Skandal um Bonaparte verschlungen wurde. Im übrigen hatte Gilbert seinen Webstuhl in einem der Nebengebäude von Cauldstaneslap aufgestellt, wo er sechs Tage in der Woche fleißig arbeitete. Seine Brüder waren über seine politischen Ansichten entsetzt und sprachen, um Zwistigkeiten zu vermeiden, nur selten mit ihm; er jedoch noch seltener mit ihnen, da er fast ständig im Studium der Bibel und im Gebet versunken war. Dagegen wurde der hagere Weber zur Kinderfrau von Cauldstaneslap; alle Kleinen liebten ihn zärtlich. Außer wenn er ein Kind auf den Armen trug, sah man ihn nur selten lächeln; überhaupt waren die Lächler rar in der Familie. Wenn dann seine Schwägerin ihn neckte und ihm vorschlug, er solle doch selbst eine Frau nehmen und Kinder zeugen, da er sie so liebe, pflegte er zu erwidern: »In jenem Punkte bin ich noch zu keiner Klarheit gekommen.« Falls man ihn nicht zum Essen rief, blieb er einfach fort. Mrs. Hob, eine harte, wenig mitfühlende Frau, machte einmal die Probe aufs Exempel. Er blieb den ganzen Tag ohne Nahrung, aber etwa um die Dämmerung, als das Licht versagte, betrat er von sich aus mit verwirrtem Ausdruck das Haus. »Heut hab‘ ich mächtig im Gebet gerungen«, bemerkte er. »Ich weiß nicht, ich kann mich nicht so recht besinnen, was es zu Mittag gab.« Die Sekte der »Gottesstreiter« ward durch ihres Gründers Leben gerechtfertigt. »Und doch, wer weiß«, meinte Kirstie, »vielleicht ist er gar nicht mal schlimmer als seine Nachbarn! Er ist mit den anderen ausgeritten und soll sich nach allem, was man so hört, gut gehalten haben! Gottes letzte Streiter? Des Teufels Marktschreier! Viel Christliches war aber auch nicht an der Art, wie Hob Johnny Dickieson traktierte! Gott allein weiß Bescheid! Ist Gib überhaupt ein Christ? Meines Wissens könnte er ebensogut ein Mohammedaner oder ein Teufel oder ein Feueranbeter sein!«

Der dritte Bruder schrieb seinen Namen in der Stadt Glasgow auf ein messingnes Türschild so lang wie sein Arm: »Mr. Clemens Elliott«, nicht mehr und nicht weniger. In seinem Falle hatte jener Geist der Neuerung, der sich bei Hob nur schüchtern in Versuchen mit Düngemitteln hervorwagte und sich bei Gilbert an umstürzlerische Politik und ketzerische Dogmen verschwendete, die Form von sinnreichen, mechanischen Erfindungen angenommen und wahrhaft nützliche Früchte getragen. Als Knabe hatte man ihn dank seiner Neigung zu allerlei seltsamen Versuchen mit Hölzchen und Bindfaden für den Sonderling der Familie gehalten. Aber das war jetzt längst vorbei: Clemens war inzwischen Teilhaber seiner Firma geworden und würde aller Wahrscheinlichkeit nach als Alderman sterben. Auch er hatte geheiratet und zog nun inmitten des Rauchs und Lärms von Glasgow eine zahlreiche Familie auf; er war reich, und man flüsterte, er könne seinen Bruder, den Dungkärrner, sechsmal auskaufen; und wenn er sich jetzt auf Cauldstaneslap eine wohlverdiente Erholung gönnte, was er so oft tat, als es ihm möglich war, setzte er die Nachbarn durch seinen feinen Tuchanzug, seinen Kastorhut und die üppigen Falten seines Halstuchs in Erstaunen. Obgleich im Grunde seines Herzens ein durchaus solider Mann nach dem Vorbilde Hobs, hatte er sich eine gewisse Glasgower Smartneß und einen Aplomb angeeignet, die ihn vor allen auszeichneten. Alle übrigen Elliotts waren mager wie die Heringe, Clemens aber setzte allmählich Fett an und schnaufte zum Gottserbarmen, wenn er sich die Stiefel anzog. Dand pflegte dann wohl kichernd zu bemerken: »Ja, Clem, der hat die Elemente zu einem ganzen städtischen Gemeinderat in sich.« »Zum Bürgermeister und zum Rat«, erwiderte Clem, und seine Schlagfertigkeit wurde viel bewundert.

Der vierte Bruder, Dand, war seines Zeichens nach ein Schäfer und tat sich zeitweise in seinem Beruf hervor, wenn er sich dazu zwingen konnte, ihn auszuüben. Niemand verstand wie Dandie einen Hund zu dressieren; keiner zeichnete sich in den Fährnissen der großen winterlichen Schneestürme durch größere Tapferkeit aus. Allein trotz seiner vollendeten Geschicklichkeit war er nur ein unregelmäßiger Arbeiter, und er diente seinem Bruder lediglich gegen Wohnung und Beköstigung und ein geringes Taschengeld, das er auf Verlangen erhielt. Er liebte Geld zwar sehr und wußte es auch auszugeben. Ja, er verstand sich sogar gelegentlich, wenn er wollte, zu einem schlauen, vorteilhaften Handel. Aber er zog doch das unklare Bewußtsein, genügend Kleingeld im Beutel zu haben, der genauen Kenntnis der Summe in seiner Tasche vor; er fühlte sich reicher so. Hob hielt ihm dann vor: »Du machst, daß ich in der Schafzucht nur ein Stümper bleibe«, worauf Dand gewöhnlich erwiderte: »Ich werd‘ dir deine Schafe hüten, wenn ich Lust dazu habe, aber meine Freiheit hüt‘ ich mir auch. Ich lasse keinen Menschen an mir rumnörgeln.« Clem pflegte ihm die wunderbaren Resultate von Zins und Zinseszins auseinanderzusetzen und ihm eine Anlage seiner Ersparnisse zu empfehlen. »Was?« meinte Dandie: »Mann, glaubst du wirklich, wenn ich Hob das Geld aus der Tasche zöge, daß ich’s nicht in Schnaps und in Geschenken für die Mädels anlegte? Überhaupt ist mein Reich nicht von dieser Welt. Entweder bin ich ein Dichter, oder ich bin gar nichts.« Clem gemahnte ihn an seine alten Tage. »Ich sterbe jung wie Robbie Burns«, lautete die tapfere Antwort. Ohne Frage zeichnete er sich auch wirklich durch eine Begabung für volkstümliche Verse aus. Sein Lied »Der Bach von Hermiston« mit dem einschmeichelnden Refrain

Gedankenvoll weil‘ ich beim Bache, so eilig,
Von Hermiston unten im Tal;

seine »alten, alten Elliotts, todeskalten Elliotts, harten, heißen Elliotts alter Zeit« sowie seine wahrhaft faszinierende Ballade von »Des betenden Webers Stein« erwarben ihm in der ganzen Gegend den in Schottland immer noch möglichen Ruf eines lokalen Barden; und obgleich er niemals gedruckt wurde, erntete er doch die Anerkennung wirklicher und berühmter Autoren. Walter Scott verdankte den Text zu dem »Raid of Wearie« in seiner »Minstrelsy« niemand anderem als Dandie, hieß ihn in seinem Hause willkommen und lobte auf seine warmherzige Art seine bescheidenen Talente. Der Schäfer von Ettrick war sein geschworener Busenfreund; bei ihren Zusammenkünften betranken sie sich regelmäßig bis zur Bewußtlosigkeit, brüllten sich ihre Gedichte gegenseitig in die Ohren und zankten und versöhnten sich wieder, alles in der nämlichen Sitzung. Neben diesen als offiziell zu bezeichnenden Anerkennungen wurde Dandie dank seiner Kunst auch in den Bauernhäusern zahlreicher Nachbartäler willkommen geheißen; so wurde er denn mannigfachen Versuchungen ausgesetzt, die er indes eher suchte als floh. Einmal postierte er sogar als Büßer und wahrte so die Tradition seines Helden und Vorbilds bis aufs I-Tüpfelchen. Die humoristischen Verse, die er bei dieser Gelegenheit an Mr. Torrance richtete:

Hier steh‘ ich mutterwindallein in aller Augen

sind allzu derb, um wiedergegeben zu werden; aber sie durchliefen wie das Feuerkreuz im Fluge die ganze Nachbarschaft und wurden zitiert, rezitiert, paraphrasiert und belacht, überall von Dunfries bis Dunbar.

Diese vier Brüder verknüpfte ein enges Band – das der gegenseitigen Bewunderung oder besser Heldenverehrung –, wie dergleichen bei einsam lebenden Familien, in denen viel Tüchtigkeit und wenig Kultur herrscht, nur allzu häufig ist. Selbst die Extreme bewunderten einander. Hob, in welchem etwa ebensoviel Poesie lebte wie in einem Schürhaken, gab vor, Dandies Verse innig zu lieben; Clem, der nicht mehr religiöses Empfinden als Claverhouse besaß, bezeugte eine aufrichtige oder doch zum mindesten offenmäulige Bewunderung für Gibs Frömmigkeit, und Dand verfolgte mit sichtlichem Behagen Clems Aufstieg in der Geschäftswelt. Hand in Hand mit dieser Bewunderung ging duldsame Nachsicht. Der Großbauer, Clem und Dand, die sämtlich Tories und glühende Patrioten waren, beschönigten untereinander schüchtern und verlegen Gibs revolutionäre Ketzereien. Wiederum nahmen Hob, Clem und Gib, alle drei peinlich tugendhafte Männer, Dandies lockeren Lebenswandel schweigend als eine Art Hemmschuh oder Nachteil in den Kauf, wie ihn eine rätselhafte Vorsehung den Barden zum Zeichen ihres poetischen Genies eigens auferlegt. Um die Einfalt ihrer gegenseitigen Bewunderung wahrhaft zu würdigen, mußte man Clem, wenn er daheim zu Besuch war, im Geiste der Ironie über die Angelegenheiten der großen Stadt Glasgow und die Personen, mit denen er dort zu tun hatte, reden hören. Diese verschiedenen Persönlichkeiten – Geistliche, städtische Beamte und Größen der Geschäftswelt – wurden allesamt angeschwärzt; alle waren nur dazu da, um ein schmeichelhaftes Licht auf das Haus in Cauldstaneslap zu werfen. Den Bürgermeister, dem Clem ausnahmsweise noch eine gewisse Achtung entgegenbrachte, pflegte er mit Hob zu vergleichen. »Er erinnert mich an den Gutsherrn hier«, meinte er. »Er hat etwas von Hobs großartigem, gesundem Menschenverstand und schiebt auch genau wie er die Lippe so vor, wenn ihm was gegen den Strich geht.« Worauf Hob völlig unbewußt die Oberlippe herunterzog und zum Vergleich die erwähnte furchterregende Grimasse produzierte. Der unbeliebte Pfarrer von St. Enoch wurde mit der kurzen Bemerkung abgetan: »Ja, wenn er auch nur zwei Fingerbreit von Gibs Talent hätte, dann würde er’s ihnen schon zeigen!« Und der ehrliche Gib schlug bescheiden die Augen nieder und lächelte still in sich hinein. Clem war der Kundschafter, den sie in die große Welt geschickt hatten. Er war mit der guten Nachricht zurückgekehrt, daß sich dort niemand mit den vier schwarzen Brüdern vergleichen könne; daß es keine Stellung gäbe, der sie nicht zur Zierde gereichen würden, keinen Beamten, dessen Posten sie nicht besser auszufüllen vermöchten, keine Angelegenheit, weltlicher oder geistlicher Art, die nicht unter ihrer Pflege sofort zur höchsten Blüte gedeihen müßte. Die Entschuldigung für ihre Torheit läßt sich in zwei Worte zusammenfassen: Sie unterschieden sich kaum um Haaresbreite von der eigentlichen Bauernschaft. Ihre Vernunft ließ sich an der Tatsache ermessen: dieses Symposium rustikaler Eitelkeit wurde in der Familie selbst gefeiert und dort gleich einer geheimen, ererbten Zeremonie begangen. Der Welt gegenüber trübte auch nicht der Schatten eines selbstzufriedenen Lächelns den Ernst ihrer Gesichter. Trotzdem wußte die Welt davon. »Sie halten große Stücke auf sich!« hieß es rings in der Umgegend.

Endlich gilt es, in dieser Geschichte aus den Grenzlanden auch noch ihre Spitznamen zu erwähnen. Hob hieß »der Gutsherr«. »Roy ne puis, prince ne daigne«; er war der Herr über Cauldstaneslap – also über rund fünfzig Acres eigensten Landes. Clemens war einfach Mr. Elliott, wie auf seinem Türschild geschrieben stand; das ehemalige Beiwort »toll« hatte man längst fallenlassen, da es unangebracht und obendrein nur ein Beweis für die Urteilsschwäche und Torheit der öffentlichen Meinung war; und der Jüngste wurde zu Ehren seiner unstillbaren Wanderlust der »Wander-Dandie« genannt.

Selbstverständlich stammten all diese Informationen nicht durchweg von der Tante, die selbst zu viel von den Familienschwächen besaß, um diese bei den anderen von Grund auf würdigen zu können. Mit der Zeit jedoch wurde Archie einer Lücke in der Familienchronik inne.

»Aber ist denn nicht noch ein Mädchen da?« forschte er.

»Ja: Kirstie. Sie wurde nach mir getauft oder nach meiner Großmutter – was dasselbe ist«, entgegnete die Tante und fuhr sogleich fort, von Dand zu sprechen, den sie seines galanten Lebenswandels wegen insgeheim bevorzugte.

»Und wie ist eigentlich deine Nichte?« warf Archie bei nächster Gelegenheit ein.

»Die? So schwarz wie Euer Hut! Aber so richtig häßlich kann man sie auch nicht gerade nennen. Nein, eigentlich ist sie ein ganz hübsches Balg – so ’ne Art Zigeunerin«, meinte die Tante, die zwei Maßstäbe hatte, einen für die Männer und einen für die Frauen – oder vielleicht wäre es richtiger, von dreien zu sprechen: der dritte und strengste galt den Mädchen.

»Wie kommt es, daß ich sie niemals in der Kirche sehe?« fragte Archie.

»Tja, ich glaube, sie wohnt in Glasgow bei Clem und seiner Frau. Viel Gutes kann auch nicht dabei rausspringen! Ich würde ja nichts sagen, wenn sich’s um ein Mannsbild handelte; aber wo Weiber geboren sind, da sollen sie auch bleiben! Gott sei Lob und Dank! Ich bin mein Lebtag nicht über Crossmichael rausgekommen!«

Allmählich begann es Archie auch aufzufallen, daß, obwohl Kirstie ständig das Lob ihrer Sippe sang und deren Tugenden, ja selbst deren Laster gleich einer persönlichen Auszeichnung schätzte, dennoch keine Spur von Herzlichkeit zwischen den Häusern Hermiston und Cauldstaneslap zu walten schien. Wenn die adelige Jungfer Haushälterin den sonntäglichen Kirchgang antrat, die Röcke dezent aufgeschlagen, daß drei Fingerbreit ihres weißen Unterrocks hervorguckten, bei schönem Wetter angetan mit ihrem besten, in strahlenden Farben erglänzenden Kaschmirschal, überholte sie mitunter ihre bedächtiger einherschreitenden Verwandten. Gib war natürlich nicht dabei; bei Tagesanbruch hatte er sich nach Crossmichael zu seinen Mitketzern begeben; aber die übrige Familie sah man in offener Marschordnung daherkommen: voran Hob und Dand, steifnackig, kerzengerade, sechs Fuß hoch mit strengen, dunklen Gesichtern, ihre Plaids um die Schultern geschlungen: dahinter der Convoi Kinder (glänzend vor Seife und Wasser), rings am Wegrande zerstreut und nur von Zeit zu Zeit auf den schrillen Ruf der Mutter sich sammelnd; und endlich die Mutter selbst, die – o vielsagender Umstand, der einem erfahreneren Beobachter als Archie wohl allerlei zu denken gegeben hätte! einen fast gleichen, aber unverkennbar neueren und um eine Schattierung grelleren Schal trug als Kirstie selbst. Bei diesem Anblick wuchs Kirstie noch um einige Zoll – sie zeigte ihr klassisches Profil, die Nase in der Luft und mit leicht bebenden Nüstern, während das reine Blut in ihren Adern ihre Wangen mit einer zarten, gleichmäßigen Röte überhauchte.

»Wünsche Euch einen schönen Tag, Mistreß Elliott«, sagte sie, und Feindseligkeit und Vornehmheit verschmolzen in ihrer Stimme zu einer wohlabgewogenen Mischung. »Schön‘ guten Tag, Madam«, pflegte des »Gutsherrn« Frau mit einem unnachahmlichen Knicks zu erwidern, während sie ihre Federn – oder mit anderen Worten das Muster ihres Kaschmirschals – mit einer dem gemeinen Mannsbild völlig unerreichbaren Kunst spreizte. Von nun an marschierte das gesamte Cauldstaneslaper Kontingent in geschlossener Ordnung und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck, der verriet, daß es sich in der Gegenwart des Feindes befände, und während Dandie seine Tante mit der Vertraulichkeit des gern gesehenen Neffen begrüßte, stolzierte Hob in erhabener Steifheit an ihr vorbei. Aus der Haltung aller Familienmitglieder mußte man auf irgendeine erbitterte Fehde schließen. Wahrscheinlich waren die beiden Frauen in dem ersten Treffen die Hauptbeteiligten gewesen, und offenbar hatte man den Gutsherrn mit Gewalt hineingezerrt, und zwar zu spät, um ihn in diese oberflächliche Versöhnung einzuschließen.

»Kirstie«, sagte Archie eines Tages, »was hast du eigentlich gegen deine Familie?«

»Ich beklag‘ mich ja gar nicht«, antwortete Kirstie errötend. »Ich hab‘ kein Wort gesagt.«

»Das weiß ich – nicht einmal guten Tag zu deinem eigenen Neffen.«

»Ich brauche mich nicht zu schämen. Ich kann das Vaterunser mit gutem Gewissen beten. Wäre Hob krank oder in Not, ich tat‘ ihn mit Freuden besuchen. Aber Scharwenzeln und Schöntun und Herumparlieren – nein, danke bestens!«

Archie lächelte leise; er lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ich glaube«, meinte er schlau, »du und Mrs. Hob seid nicht besonders gute Freunde, wenn ihr eure Kaschmirschals tragt.«

Sie sah ihn schweigend an, ein rätselhaftes Funkeln in ihren Augen; und das war alles, was Archie je von der Schlacht der Kaschmirschals erfahren sollte.

»Kommt keiner von ihnen je, dich zu besuchen?« forschte er weiter.

»Mr. Archie«, entgegnete sie, »ich hoffe, ich weiß, was sich für meine Stellung schickt. Das wär‘ mir eine schöne Sache, wenn ich Eures Vaters Haus mit einem schmutzigen, schwarzhäuptigen Clan vollstopfen möchte, von dem kein einziger (wenn ich’s denn schon offen sagen muß) das bissel Seife wert ist, das man an ihn verschwendet, mich selbst ganz allein ausgenommen! Nein, nein, die sind alle miteinander durch die verdammten schwarzen Ellwalds verdorben! Ich kann die Schwarzhaarigen nun mal nicht leiden!« Und in plötzlicher Erkenntnis Archies fügte sie hastig hinzu: »Nicht daß es bei den Mannsleuten so viel ausmacht, aber daß es reinweg unweiblich ist, kann wohl keiner bestreiten! Langes Haar ist eine Zierde der Frauenzimmer; dafür haben wir Zeugen genug – es steht schon in der Bibel –, und das ist doch ganz klar, daß der Apostel irgendein blondhaariges Mädel damit gemeint hat, denn – Apostel oder nicht – er war ja trotz allem doch nur ein Mannsbild wie Ihr selbst!«

6


Ein Blatt aus Christinas Gesangbuch

Archie war ein fleißiger Kirchgänger. Sonntag für Sonntag durchmaß er mit jener kleinen Gemeinde das Zeremoniell des Gottesdienstes, hörte die Stimme von Mr. Torrance, einer schlecht gespielten Klarinette gleich, sprunghaft von Tonart zu Tonart sich steigern und erhielt Gelegenheit, des Geistlichen mottenzerfressenen Talar und schwarze Zwirnhandschuhe zu studieren, wenn der alte Herr die Hände im Gebet faltete oder sie beim Segen in ehrfürchtiger Andacht zum Himmel erhob. Der Hermistoner Kirchenstuhl war ein kleiner, viereckiger Kasten von den gleichen zwergenhaften Ausmaßen wie die Kirche selbst und umschloß einen Tisch, nicht viel größer als eine Fußbank. Hier saß Archie mit der Miene eines Prinzen, der alleinige unverkennbare Gentleman und wohlhabende Erbe der Gemeinde, und machte es sich bequem – sein Kirchenstuhl war der einzige mit Türen. Von hier aus konnte er ungestört die ganze Versammlung überblicken: gesetzte Männer in ihren Plaids, robuste Frauen und Töchter, Kinder, die unter dem Drucke des Gottesdienstes seufzten, und unruhige Schäferhunde. Seltsam, wie sehr Archie den Eindruck des Rassigen entbehrte; die Hunde mit ihren edlen Fuchsköpfen und wundervoll gebogenen Ruten waren von allen Anwesenden die einzigen, die einen Anspruch auf Adel erheben durften. Selbst die Cauldstaneslaper Gesellschaft bildete kaum eine Ausnahme. Dandie vielleicht, wenn er so dasaß und sich die nicht enden wollende Last des Gottesdienstes durch Versekritzeln erleichterte, zeichnete sich ein wenig durch sein leuchtendes Auge und eine gewisse Lebhaftigkeit des Ausdrucks und Straffheit des Körpers aus; aber selbst Dandie hatte den locker schlurfenden Schritt des Bauern. Die ganze übrige Gemeinde bedrückte Archie ähnlich dem lieben Vieh durch das Bewußtsein ihrer erdgebundenen Routine; ein Tag verlief wie der andere körperliche Arbeit in frischer Luft, Hafergrütze, Erbsmehlpfannkuchen, ein schläfriger Feierabend neben dem Kamin und eine lange, durchschnarchte Nacht in einem Wandbett. Und doch kannte er viele von ihnen als schlaue, humorvolle Menschen; charakterfeste Männer, tüchtige Frauen, die sich etwas zu schaffen machten und von ihren niedrigen Hütten einen gewissen Einfluß ausstrahlten. Er wußte außerdem, daß sie nicht anders waren als andere Menschen; unter der Kruste der Gewohnheit lebte Begeisterungsfähigkeit; er hatte sie vor Bacchus die Zimbel schlagen hören – hatte ihren lärmenden Zechgelagen über ihrem Whisky-Toddy beigewohnt, und auch die hölzernsten und strengsten unter ihnen, ja selbst jene feierlichen Kirchenältesten, waren in Dingen der Liebe der seltsamsten Bocksprünge fähig. Da waren Männer, deren abenteuerliche Lebensreise sich ihrem Ende nahte – Mädchen, die voll zitternder Neugier erst an der Schwelle des Lebens standen – Frauen, die Kinder geboren und vielleicht auch begraben hatten, die sich noch der Berührung zärtlicher, toter Händchen und des Trippelns jetzt erlahmter kleiner Füße erinnerten – er fragte sich in grenzenloser Verwunderung, wie es käme, daß unter all diesen Gesichtern keines wäre, das Erwartung, Bewegung, den Rhythmus und die Poesie des Lebens zeigte. »Oh, ein einziges lebendiges Gesicht!« seufzte er; und dann fiel ihm mitunter Lady Flora ein; ein andermal musterte er diese lebende Galerie vor ihm voller Verzweiflung und sah sich selbst seine unfruchtbaren Tage in jener freudlosen ländlichen Einöde beschließen, sah den Tod herannahen und die Leute unter den Ebereschen sein Grab schaufeln, während der Geist der Erde das riesenhafte Fiasko durch donnerndes Gelächter feierte.

An dem betreffenden Sonntag stand es außer Frage, daß der Frühling endlich gekommen war. Es war warm; trotzdem schlummerte Frost in der Luft, der die Wärme indes nur noch willkommener machte. Der Bach rann an den flachen Stellen plätschernd und funkelnd zwischen Sträußen von Himmelsschlüsseln vorbei. Wandernde Düfte der Erde fesselten im Gehen Archies Geist; zu Momenten erfüllte ihn ätherische Trunkenheit. Das graue, quäkerische Tal war erst stellenweise aus seiner nüchternen Winterfärbung erwacht; er wunderte sich über seine Schönheit; sie erschien ihm als die Quintessenz der Schönheit dieser alten Erde, wohnhaft nicht im einzelnen, sondern aus dem Ganzen ihm entgegenatmend. Er entdeckte in sich einen unerwarteten Impuls zum Verseschreiben – er schrieb mitunter wirklich – lose, dahinstürmende Vierfüßler nach der Art Scotts –, und als er sich neben einem elfenhaften Wasserfall auf einen Stein niederließ, den ein gertenschlanker, im ersten Frühlingsgrün strahlender Baum beschattete, war er noch mehr erstaunt, daß ihm nichts einfallen wollte. Vielleicht war es nur sein Herz, das im Einklang mit dem ungeheuren Rhythmus des Weltalls schlug. Bald darauf sah er hinter einer Biegung des Tals die Kirche liegen; er hatte so lange gesäumt, daß bereits der erste Psalm im Verklingen war. Das nasale Psalmodieren, voller Schnörkel, Triller und anmutloser Verzierungen, schien ihm wie die Stimme der Kirche selbst, zum Dankgebet erhoben. »Alles lebt«, sagte er für sich und rief plötzlich laut: »Gott sei gelobt, alles lebt!« Er verweilte noch kurze Zeit auf dem Friedhof. Ein Büschel Himmelsschlüsselchen blühte dicht neben dem Fuß einer alten, schwarzen Grabtafel, und er blieb stehen, um die weitschweifige Aufschrift zu studieren. Die Blumen standen da in schneidendem Gegensatz zu der kalten Erde; plötzlich fiel ihm die Unfertigkeit des Tages, der Jahreszeit, der ihn umgebenden Schönheit auf – die Kühle in der Wärme, die groben, schwarzen Erdschollen neben den sich erschließenden Himmelsschlüsseln, der feuchte, erdige Geruch, der sich allseits unter die Düfte mischte. Die Stimme des greisenhaften Torrance schwang sich in Ekstase auf, und er fragte sich, ob auch Torrance in seinen alten Knochen die Luft dieses Frühlingsmorgens spüre; Torrance oder der Schatten dessen, was einst Torrance gewesen war und was so bald schon samt seinem Rheumatismus hier draußen in Sonne und Regen liegen mußte, während ein neuer Prediger seinen Platz einnahm und von seiner altvertrauten Kanzel donnerte. Der Jammer des Ganzen und etwas von der Kälte des Grabes ließen ihn einen Augenblick erschauern, und er beeilte sich, die Kirche zu betreten.

Ehrfürchtig schritt er den Gang hinauf und ließ sich, ohne aufzublicken, auf seinem Platze nieder; er fürchtete, er hätte den freundlichen alten Herrn auf der Kanzel bereits gekränkt, und hütete sich geflissentlich, weiteren Anstoß zu erregen. Er vermochte dem Gebet nicht einmal in dessen Umrissen zu folgen. Strahlende Himmelsbläue, Wolken von Luft, ein Singen fallenden Wassers und zwitschernder Vögel stiegen gleich Ausstrahlungen einer tieferen, urgrundlichen Erinnerung, die nicht ihm selbst, sondern dem Fleisch auf seinen Knochen angehörte, in seinem Inneren auf. Sein Körper erinnerte sich; es schien ihm, daß dieser Körper keineswegs plump, sondern ätherisch und vergänglich wie eine Melodie wäre; er fühlte für ihn eine wundervolle Zärtlichkeit wie für ein unschuldiges, von reinsten Instinkten bewegtes und zu einem frühen Tode verurteiltes Kind. Und auch für Torrance – für diesen von so zahlreichen Gebeten überströmenden und mit so wenigen Tagen beschenkten Torrance – empfand er ein Mitleid, das ihn fast zu Tränen rührte. Das Gebet war zu Ende. Unmittelbar über ihm war eine Tafel in die Mauer gelassen, der einzige Schmuck des roh verputzen Kapellchens – denn mehr war es nicht; die Tafel verewigte die Existenz – fast hätte ich gesagt die Tugenden – irgendeines früheren Rutherfords von Hermiston; und Archie lehnte sich unter jenen Beweis seiner alten Abstammung und lokalen Größe in seinen Stuhl zurück und stählte sich, den Schatten eines halb spielerischen, halb traurigen, aber seltsam reizvollen Lächelns um den Mund, gegen einen langen Ausblick in die Leere. Dies war der Moment, den Dandies Schwester, die in vollem Glasgower Staat neben Clem saß, wählte, um sich den jungen Gutsherrn anzusehen. Ihr war die Bewegung, die bei seinem Eintritt die Reihen durchlief, nicht entgangen, aber die kleine Puritanerin hatte während des Gebetes die Augen gesenkt gehalten und sich ihre sittsame Ruhe des Ausdrucks bewahrt. Das war nicht etwa Heuchelei; es gab auf der Welt keinen Menschen, dem dergleichen ferner lag. Das Mädchen hatte einfach gelernt, sich zu benehmen: gelernt, auf und nieder zu blicken, unbefangen dreinzuschauen, in der Kirche ernst und aufmerksam und in allen Lebenslagen möglichst vorteilhaft zu erscheinen. Das war nun mal der Weiber Art und Vorrecht, und sie spielte das Spiel ganz unverhohlen. Archie war der einzige Mensch in der Kirche, der sie interessierte; er war ein fremdes Wesen, dem Rufe nach ein Sonderling und jung, ein großer Herr, den Christina noch nicht kannte. Kein Wunder, daß ihre Gedanken sich mit ihm beschäftigten, während sie stehend in einer Haltung reizenden Anstandes wartete. Falls er einen Blick für sie übrig hätte, sollte er eine wohlerzogene junge Dame sehen, die schon in Glasgow gewesen war. Vernünftigerweise mußte er ihren Putz bewundern, und vielleicht fand er sie selbst sogar hübsch. Bei diesem Gedanken klopfte ihr Herz ein klein wenig schneller; sogleich begann sie sich als Korrektiv eine Reihe Bilder von dem jungen Mann, der von Rechts wegen jetzt zu ihr herüberblicken müßte, zu entwerfen und rasch wieder zu verbannen. Schließlich entschied sie sich für das wenigst anziehende – einen rosigen, kurzbeinigen Jüngling mit einem Tellergesicht und mangelhafter Figur, über dessen Bewunderung sie getrost lächeln durfte; trotzdem hielt das Gefühl, daß sein Blick auf ihr ruhe (während er in Wahrheit an Torrance und dessen Handschuhen haftete), sie bis zu dem Amen in gelinder Erregung. Selbst dann war sie noch viel zu wohlerzogen, um ihrer Neugier durch Ungeduld zu frönen. Lässig – das war eine Glasgower Nuance – ordnete sie ihren Anzug, zupfte ihren Strauß Himmelsschlüssel zurecht, blickte erst gerade vor, dann hinter sich und gestattete ihren Augen, endlich ohne jede Hast auch nach dem Hermistoner Kirchenstuhl hinüberzuschweifen. Einen Augenblick hafteten sie dort wie gebannt. In der nächsten Sekunde kehrte ihr Blick zu ihr zurück, gleich einem zahmen Vogel vor der Flucht. Möglichkeiten stürmten auf sie ein; schwindelnd bedachte sie die Zukunft; das Bild dieses jungen Mannes, schlank, reizvoll, dunkel, mit jenem unergründlichen, schattenhaften Lächeln, zog sie an und stieß sie ab gleich einem Abgrund. Ob ich wohl meinem Schicksal begegnet bin? fragte sie sich selbst, und ihr schwoll das Herz in der Brust.

Heute behandelte Torrance einen besonders heiklen Punkt der Gottesgelehrtheit und war bereits ziemlich weit mit seinem ersten Abschnitt gediehen, wobei er im Vordringen sich eine feste Grundlage aus Bibeltexten aufbaute, ehe Archie seinerseits sich umschaute. Sein Blick fiel zuerst auf Clem, der unausstehlich satt und behäbig aufsah und Torrance großmütig durch halbe Aufmerksamkeit begönnerte, wie jemand, der von Glasgow her Besseres gewohnt ist. Obwohl er ihn nie zuvor gesehen hatte, wußte Archie doch sofort, wer er war, und fand ihn auch sogleich vulgär, den schlimmsten Typ der Familie. Clem beugte sich gerade faul vor, als Archie ihn zuerst erblickte. Schließlich lehnte er sich nonchalant in seinen Stuhl zurück, und plötzlich ward jene tödliche Waffe, das Mädchen, im Profil demaskiert. Obwohl nicht ganz auf der Höhe der Mode stehend (wer fragte hier schon danach), hatten gewisse kunstgerechte Glasgower Mantillenmacherinnen und ihr eigener natürlicher Geschmack sie sehr vorteilhaft herausgeputzt. Ja, ihr Anzug hatte in jener winzigen Gemeinde viel brennendes Herzweh und fast einen Skandal hervorgerufen. Mrs. Hob hatte ihr bereits in Cauldstaneslap die Meinung gesagt. »Verrückt!« lautete ihr Urteil. »Eine Jacke, die vorn nicht schließt! Was für ’n Sinn hat sie denn, wenn man sie nicht zuknöpfen kann und man damit in den Regen kommt? Und wie nennt man die Dinger an deinen Füßen da? Demmi Brokins, Demi-broquins sagst du? Brocken werden sie sein, ehe du damit wieder nach Hause kommst! Na, mich geht’s ja nichts an – aber ich sag‘ nur – guter Geschmack ist es nicht!« Clem, dessen Portemonnaie diese Metamorphose seiner Schwester bewirkt hatte und der gegenüber der Reklame, die sie für ihn machte, nicht empfänglich war, eilte ihr zu Hilfe. »Unsinn, Weib! Was verstehst du schon von Geschmack, wo du nie in der Stadt gewesen bist?« Und Hob, der mit wohlgefälligem Lächeln das Mädchen musterte, während sie ängstlich in der dunklen Küche ihren Staat präsentierte, hatte die Diskussion mit den Worten beendet: »Hübsch sieht die kleine Katze aus; und regnen wird’s wahrscheinlich auch nicht. Trag die Sachen ruhig heute am Sonntag, Mädel; aber es ist nichts, was man zur Gewohnheit machen soll.« Im Busen ihrer Rivalinnen, die im allzu deutlichen Bewußtsein weißer Unterröcke und mit Gesichtern, die von vieler Seife glänzten, zur Kirche gegangen waren, hatte der Anblick von Christinas Toilette einen Sturm mannigfaltigster Gefühle entfesselt, von einfacher, neidischer Bewunderung angefangen, die sich in einem einzigen, langgezogenen »Ah!« ausdrückte, bis zu jener zornigeren und in den Worten sich Luft machenden Empfindung: »An den Schandpfahl gehört sie!« Ihr Kleid war aus strohfarbenem Seidenmusselin, vorn tief ausgeschnitten und unten fußfrei, um ihre Demi-broquins aus violettem Leder zu zeigen, die mit vielen Schnüren über einem gelben, in Spinnwebmustern gewirkten Strumpf befestigt waren. Nach der hübschen Mode, der unsere Großmütter unbedenklich folgten und mit der bewaffnet unsere Großtanten auszogen, um unsere Großonkel zu erobern, war das Kleid zugeschnitten, um die Formen der Brüste hervortreten zu lassen, und wurde in dem Einschnitt zwischen beiden von einer Brosche aus Rauchtopas gehalten. Hier, ebenfalls in einer sehr beneidenswerten Lage, zitterte der Strauß Himmelsschlüssel. Um die Schultern – oder auf dem Rücken vielmehr, denn er reichte kaum darüber hinaus – trug sie einen Mantel aus Florentiner Taft, der auf der Brust mit Margate-Bändern von der gleichen violetten Farbe wie ihre Schuhe festgebunden war. Ihr Gesicht umrahmte eine Flut wirrer, dunkler Locken; ein zierlicher Kranz gelber, französischer Rosen umwand ihre Stirn, und das Ganze krönte ein ländlicher Hut aus grobem Stroh. Unter all den roten und wettergebräunten Gesichtern ihrer Umgebung erglühte sie gleich einer offenen Blume: Mädchen und Kleidung, der Rauchtopas, der die Sonnenstrahlen auffing und blitzend zurückwarf, ja selbst die bronzenen und goldenen Fäden in ihrem Haare funkelten.

Archie fühlte sich von dem Hellen angezogen wie ein Kind. Er sah sie an, wieder und immer wieder, und ihre Blicke kreuzten sich. Ihre Lippen öffneten sich leise und ließen ihre kleinen Zähne frei. Er sah das rote Blut lebhaft unter der braungoldenen Haut aufsteigen. Ihr Auge, groß wie bei einem Hirsch, begegnete dem seinen, hielt es fest. Er wußte, wer sie sein mußte – Kirstie, das Mädchen mit dem hartklingenden Rufnamen, die Nichte seiner Haushälterin, die Schwester des rustikalen Propheten, Gibs –, und er fand in ihr die Antwort auf all seine Wünsche. Christina fühlte den elektrischen Funken der sich treffenden Blicke, und es war ihr, als entschwebe sie, ganz in Lächeln gekleidet, in mystisch-strahlende Regionen. Aber ihr Entzücken war so kurz, wie es vollkommen war. Hastig blickte sie weg und begann sich sogleich ob dieser Hast zu tadeln. Sie wußte, was sie hätte tun müssen, als es bereits zu spät war – langsam, die Nase in der Luft, hätte sie sich wegdrehen müssen. Inzwischen aber blieb sein Blick an ihr haften und schien sie zu bestürmen gleich einer Batterie trefflich gerichteter und in fortgesetzter Tätigkeit befindlicher Geschütze; jetzt schien er sie und sich völlig zu isolieren, jetzt wieder hob er sie vor der ganzen Gemeinde gleichsam auf den Pranger. Archie fuhr fort, mit den Augen ihr Bild zu trinken, ähnlich dem Wanderer, der am Berge auf eine Quelle stößt und sein Gesicht eintaucht und sich nicht satt trinken kann. Das feurige Auge des Topas und die blassen Blüten der Primeln in der Kerbe ihrer kleinen Brüste bannten ihn. Er sah, wie diese Brüste sich hoben und senkten, und fragte sich verwundert, was das Mädchen wohl so erregen könne. Und Christina fühlte wieder diesen Blick, nahm ihn wahr – vielleicht mit dem graziösen Spielzeug von Ohr, das unter ihren Locken hervoräugte; sie fühlte, wie sie die Farbe wechselte, fühlte ihren unruhigen Atem. Gleich einem Geschöpf der Wildnis, das sich gehetzt, eingeholt und allseits umstellt sieht, fahndete sie nach einem Dutzend Auswege, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie holte ihr Taschentuch hervor – es war wirklich ein sehr feines – und steckte es erschrocken wieder ein: »Er glaubt vielleicht, mir wäre zu heiß.« Sie fing an, in den metrischen Psalmen zu lesen, und erinnerte sich plötzlich, daß ja die Predigt im Gange wäre. Endlich steckte sie sich eine gezuckerte Pflaume in den Mund und bereute bereits im nächsten Augenblick diesen Schritt. Was für ein hausbackenes Benehmen! Mr. Archie würde bestimmt niemals in der Kirche Süßigkeiten essen; mit gewaltiger Anstrengung schluckte sie das Ganze hinunter, und sofort war ihr Gesicht eine einzige Flamme. Bei diesem Zeichen tödlicher Verlegenheit erwachte Archie zum Bewußtsein seines schlechten Benehmens. Was hatte er nur getan? Er war in der Kirche unerhört unhöflich zu seiner Haushälterin Nichte gewesen; er hatte gleich einem Lakai und Libertin ein schönes und züchtiges Mädchen angestarrt. Es war möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß man ihn nach dem Gottesdienst auf dem Friedhof vorstellen würde, und wie würde er dann dastehen? Es gab für ihn keine Entschuldigung. Er hatte die Zeichen ihrer Scham, ihrer wachsenden Empörung bemerkt, und er war ein solcher Esel, daß er sie nicht einmal begriffen hatte. Scham lastete jetzt auf ihm, und er blickte resolut zu Mr. Torrance hinüber. Dieser brave, würdige Mann ahnte freilich nicht, während er fortfuhr, das Werk der Erlösung durch den Glauben zu erläutern, was in Wahrheit sein Amt war: nämlich zwei Kindern gegenüber bei dem uralten Spiel des Sichverliebens die Rolle des Blitzableiters zu spielen.

Anfänglich verspürte Christina eine ungeheuere Erleichterung. Es war ihr, als ginge sie plötzlich nicht mehr nackt. Sie überdachte das Geschehene. Alles wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn sie nur nicht rot geworden wäre! Dumme Närrin! Was gab es da zu erröten, selbst wenn sie eine Zuckerpflaume gegessen hatte! Mrs. Mac Taggert, die Frau des Kirchenvorstehers von St. Enoch, tat das häufig. Und wenn er sie schon angeblickt hatte – was war natürlicher, als daß ein junger Mann das bestangezogene Mädchen in der Kirche sich ansah? Gleichzeitig wußte sie genau, daß dies nicht stimmte; sie wußte, in dem Blick hatte nichts Zufälliges, Alltägliches gelegen, und sie schätzte sich selbst höher und den Blick als eine Art Auszeichnung. Nun, ein Segen, daß er jetzt etwas anderes zum Ansehen gefunden hatte! Und bald gingen ihre Gedanken in eine neue Richtung. Es war ihrer Ansicht nach notwendig, daß sie sich durch eine besser geführte Wiederholung des Vorfalls rechtfertigte. War der Wunsch Vater des Gedankens, so wurde sie sich dessen doch nicht bewußt oder wollte es sich nicht eingestehen. Der Anstand – die Notwendigkeit, die Bedeutung des Geschehenen zu vermindern – erheischte, daß sie ein zweites Mal, ohne zu erröten, seinen Augen begegnete. In Erinnerung an dieses Erröten errötete sie von neuem und war im nächsten Augenblick eine einzige, heiße Blutwelle. Hatte jemals zuvor ein Mädchen sich so unpassend, so herausfordernd benommen? Sie hatte hier vor der ganzen Gemeinde um nichts und wieder nichts eine Szene aufgeführt! Heimlich warf sie einen Blick zu ihren Nachbarn hinüber, und siehe: Alle schienen unerschütterlich gleichgültig, ja Clem war sogar eingenickt! Und doch gewann diese eine Idee immer mehr Macht über sie: schon die gemeine Klugheit erforderte, daß sie noch einmal hinüberblicke, ehe der Gottesdienst zu Ende wäre. Ähnliches ging auch in Archie vor; er kämpfte mit der Last seiner Reue. Und so geschah es, daß in einem einzigen bebenden Moment, als der letzte Choral bekanntgegeben wurde und Torrance die Verse las und die Blätter sämtlicher Gesangbücher zwischen eifrigen Fingern raschelten, zwei heimliche Blicke antennengleich zwischen den Kirchenstühlen und über deren gleichgültige und geschäftige Insassen ausgesandt wurden und sich der geraden Linie von Archie zu Christina näherten. Jetzt trafen sie sich, saugten sich den geringsten Bruchteil einer Sekunde fest! Vorbei! Ein elektrischer Funke durchzuckte Christinas Körper, und siehe: Die Seite ihres Gesangbuches war mitten durchgerissen!

Archie stand draußen neben dem Friedhofstor, unterhielt sich mit Hob und dem Pfarrer und schüttelte allseits der auseinandergehenden Gemeinde die Hände, als Clem und Christina zur Vorstellung herangerufen wurden. Der junge Herr lüftete den Hut und verneigte sich anmutig und ehrerbietig. Christina machte dem Herrn ihren Glasgower Knicks und schritt weiter in der Richtung von Hermiston und Cauldstaneslap, eilig, nach Atem ringend, mit erhöhter Farbe und in jener seltsamen Verfassung, die ihr während des Alleinseins ein vollkommenes Glücksgefühl vortäuschte und sie jedes Ansprechen gleich einem Widerspruch verübeln hieß. Einen Teil des Weges mußte sie die Begleitung einiger Nachbarmädchen und eines tölpelhaften Jünglings erdulden; niemals waren sie ihr so fade erschienen; noch nie hatte sie sich selbst so unfreundlich gezeigt. Aber nacheinander bogen sie alle vom Wege ab, um sich nach ihren verschiedenen Bestimmungsorten zu begeben, oder blieben hinter der rasch schreitenden Christina zurück; und nachdem sie das angebotene Geleit einiger Neffen und Nichten mit scharfen Worten zurückgewiesen hatte, konnte sie endlich, wie auf Luft und von Wolken des Glücks umgeben, ungestört den Hermistoner Berg hinaufwandeln. Nahe dem Gipfel hörte sie Schritte hinter sich, eines Mannes Schritte, leicht und sehr rasch. Sie erkannte sie sofort und eilte um so hastiger vorwärts. »Wenn er’s auf mich abgesehen hat, soll er um mich laufen«, dachte sie lächelnd.

Archie überholte sie gleich einem Mann, dessen Entschluß feststeht.

»Miß Kirstie«, begann er.

»Miß Christina, bitte, Mr. Weir«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich kann die Abkürzung nun mal nicht leiden.«

»Sie vergessen, daß sie in meinen Ohren freundlich klingt. Ihre Tante ist eine alte Freundin von mir, und zwar eine sehr liebe. Ich hoffe, wir werden Sie häufig in Hermiston sehen?«

»Meine Tante und meine Schwägerin kommen nicht gut miteinander aus. Nicht daß es mich was anginge. Aber während ich dort wohne, würde es nicht recht rücksichtsvoll erscheinen, falls ich meine Tante besuchte.«

»Das tut mir aber leid«, meinte Archie.

»Danke vielmals, Mr. Weir«, entgegnete sie. »Ich denke mitunter selbst, daß es recht schade ist.«

»Ach, sicherlich stehen Sie immer auf seiten des Friedens!« rief er.

»Davon würde ich nicht so ganz überzeugt sein«, sagte sie. »Ich hab‘ auch meine bösen Tage, wie andere Leut‘.«

»Wissen Sie, in unserer alten Kirche unter unseren grauen, alten Matronen wirkten Sie wie ein Strahl Sonnenschein.«

»Ach, das sind nur meine Glasgower Kleider.«

»Ich glaube nicht, daß ich so stark unter dem Einfluß hübscher Sachen stehe.«

Sie lächelte und warf ihm einen halben Blick zu. »Sie wären nicht der einzige!« sagte sie. »Aber ich bin nur ein Aschenputtel, wirklich. Ich muß all diese Dinge wieder in meinen Koffer packen; nächsten Sonntag werd‘ ich so grau wie die andern sein. Es sind Glasgower Kleider, verstehen Sie, und es ginge beileibe nicht, daß man sie zu einer Gewohnheit machte. Das würde zu auffallend sein.«

Jetzt waren sie an die Stelle gelangt, an der ihre Wege sich trennten. Rings dehnten sich die alten, grauen Moore, in deren Mitte ein paar Schafe wanderten; vor ihnen sahen sie die verstreute Karawane sich den Berg nach Cauldstaneslap hinaufarbeiten, seitwärts zweigte das Hermistoner Kontingent vom Wege ab und verschwand gruppenweise hinter den Toren des Parks. In dieser Umgebung wandten sie sich einander zu, um Lebewohl zu sagen, und als sie sich die Hände schüttelten, sahen sie sich bewußt fest in die Augen. Alles ging gesittet vor sich, wie es sich gehörte; und als Christina die steile Anhöhe nach Cauldstaneslap hinaufklomm, verdrängte ein befriedigendes Gefühl des Triumphes die Erinnerung an geringe Entgleisungen und Fehler. Sie trug jetzt ihr Kleid hochgeschürzt, wie sie das auf diesem rauhen Bergweg gewöhnlich tat; als sie jedoch entdeckte, daß Archie ihr immer noch vom gleichen Flecke nachstarrte, flogen die Röcke wie durch Zauber wieder herunter. Das war eine Probe der Gesittung hier in dieser Berggemeinde, wo die Matronen im Regen mit aufgesteckten Röcken und die Mädchen barfuß durch den sommerlichen Staub wanderten, um später vor ihrem Eintritt in die Kirche tapfer auf einem Stein am Bachesrand öffentlich Toilette zu machen! Vielleicht war jene Geste ihr von Glasgow zugeweht, vielleicht bezeichnete sie auch nur ein Stadium jenes Rausches befriedigter Eitelkeit, der eine instinktive Handlung unbemerkt geschehen läßt. Er sah ihr nach! Sie erleichterte ihren Busen durch einen ungeheuren Seufzer reinster Freude und hub zu laufen an. Als sie die Nachzügler der Familie überholte, zog sie jene Nichte, die sie eben erst zurückgestoßen hatte, an sich, küßte sie, gab ihr einen Klaps und trieb sie unter anmutigem Lachen und Rufen vor sich her. Vielleicht, dachte sie, beobachte der junge Herr sie noch immer. Zufällig jedoch spielte sich die kleine Szene vor weniger wohlwollenden Augen ab, denn jetzt kam Christina an Mrs. Hob vorbei, die mit Clem und Dand des Weges marschierte.

»Wahrhaftig, bei dir spukt’s, Mädel!« meinte Dandie. »Sollst dich was schämen!« erklärte die streitbare Mrs. Hob. »Ist das ’ne Art, sich auf dem Heimwege von der Kirche zu benehmen? Bist wahrhaftig nicht gescheit heute! Zum mindesten würd‘ ich achtgeben auf meine guten Kleider!«

»Pah!« sagte Christina und schritt allen voran, Kopf in der Luft, mit dem Tritt eines wilden Rehs den rauhen Bergpfad hinauf.

Sie war verliebt in sich selbst, in ihr Geschick, in die Luft der Berge, in das Gnadengeschenk der Sonne. Auf dem ganzen Heimwege hielt sie der Rausch ihrer himmelstürmenden Laune in Bann. Bei Tisch war sie beherrscht genug, um unbefangen über den jungen Hermiston zu reden; mit lauter Stimme und ziemlich nonchalant meinte sie, er wäre ein hübscher, junger Mann, mit wirklich artigen Manieren und dazu recht vernünftig, aber es sei doch schade, daß er so traurig aussähe. Im nächsten Augenblick setzte die Erinnerung an seine Augen in der Kirche sie in Verlegenheit. Das war jedoch alles. Diese unbedeutende Hemmung ausgenommen, entwickelte sie die Mahlzeit über einen guten Appetit und ließ die anderen aus dem Lachen nicht herauskommen, bis Gib (der vor ihnen von seinen separatistischen Andachtsübungen in Crossmichael heimgekehrt war) sie alle ob ihrer unziemlichen Heiterkeit tadelte.

Im Gehen »in sich hineinsingend«, immer noch ein Chaos froher Gedanken im Busen, trippelte sie nach oben in ihre enge, von vier kleinen Giebelfenstern erhellte Dachkammer, die sie mit einer ihrer Nichten teilte. Die Kleine, auf »Tantchens« gute Laune pochend, war ihr gefolgt und wurde höchst unzeremoniös aus der Kammer wieder hinausexpediert, um, brennend unter der Kränkung und halb in Tränen, ihren Kummer auf dem Boden im Heu zu ersticken. Immer noch summend, entledigte sich Christina ihres Putzes und barg nacheinander ihre Schätze in ihrem großen, grünen Koffer, als letztes ihr Gesangbuch. Dieses war ein schönes Stück, ein Geschenk von Mrs. Clem, in deutlicher, altmodischer Schrift auf einem Papier gedruckt, das vom langen Lagern auf dem Speicher – nicht vom Gebrauch – vergilbt war, und Christina war gewohnt, es allsonntäglich nach dem Gottesdienst in ein Taschentuch zu hüllen und es zuoberst in ihrem Koffer wegzulegen. Als sie es jetzt in die Hand nahm, öffnete es sich an der Stelle, an der das Blatt zerrissen war, und sie blieb stehen und betrachtete sinnend diesen Beweis ihrer früheren Aufregung. Da tauchten vor ihr zwei braune Augen auf, die sie, leuchtend und sehr intensiv, aus einem dunklen Kirchenwinkel anstarrten. Beim Anblick des zerfetzten Blattes sah sie blitzartig die ganze Erscheinung vor sich, die Haltung, das Lächeln, die angedeutete Geste des jungen Hermiston. »Wahrhaftig, bei mir hat’s heute gespukt!« sagte sie, Dandies Worte wiederholend, und bei dem Gedanken an ein unnatürliches, vorausbestimmtes Geschick wich ihre freudige Stimmung. Sie warf sich der Länge nach auf ihr Bett und lag dort stundenlang, das Gesangbuch in der Hand, die meiste Zeit in starrem, gelähmtem Widerstreit sich sträubender Freude und unvernünftiger Furcht. Diese Furcht war abergläubisch; wieder und wieder stieg die Erinnerung an Dandies unheilvolles Wort auf, und hundert düstere, unheimliche Geschichten aus der nächsten Nachbarschaft bestätigten ihr dessen Sinn. Die Freude drang nicht bis in ihr Bewußtsein vor. Vielmehr waren es die einzelnen Glieder ihres Körpers, welche dachten und sich erinnerten und froh waren, während ihr wahres Ich im Mittelpunkt ihres Bewußtseins fieberhaft von anderen Dingen redete, gleich einem nervösen Menschen bei einem Feuer. Das Bild, bei dem sie am liebsten verweilte, war das Fräulein Christina in ihrer Eigenschaft als hübsches Mädchen von Cauldstaneslap, das in strohfarbenem Kleid, violetter Mantille und gelben Spinnwebstrümpfen alle Herzen im Sturm eroberte. Archies Bildnis dagegen wurde, wenn es auftauchte, nicht willkommen geheißen, viel weniger mit Inbrunst begrüßt; ja mitunter mußte es erbarmungsloser Kritik standhalten. Im Laufe der langen, verschwommenen Dialoge, die sie in Gedanken häufig mit allerlei Bildern, häufig auch mit schattenhaften Fragestellern hielt, mußte Archie, falls er überhaupt erwähnt wurde, die rauheste Behandlung erdulden. Da hieß es, »daß er der reinste Storch wäre«, »geglotzt hätte wie ein Kalb«; »ein Gesicht wie ein Gespenst besäße« usw. »Überhaupt, was sind das für Manieren?« fragte sie; oder: »Ich hab‘ ihn aber gehörig zurechtgewiesen«. »›Jungfer Christina, bitte, Mr. Weir‹, hab‘ ich gesagt und meine Röcke aufgerafft und damit gut.« Mit dergleichen verworrenem Geschwätz unterhielt sie sich ununterbrochen lange Zeit; dann fiel ihr Blick auf das zerrissene Blatt, und die Augen Archies sprangen aus dem Dunkel der Mauer heraus, und die geläufigen Worte stockten, und sie lag still und stumpf und dachte hingegeben an nichts und seufzte mitunter nur leise. Wäre ein Doktor der Medizin in jene Dachkammer gestiegen, er hätte sie als ein gesundes, gutentwickeltes, lebenssprühendes Mädchen diagnostiziert, das sich in momentaner Schmollstimmung auf ihr Bett geworfen hatte, und durchaus nicht als einen Menschen, der soeben erst von einer tödlichen Krankheit des Gemüts, die ihn dem Tode und der Verzweiflung nahebringen konnte, befallen war oder befallen wurde. Wäre er ein Doktor der Psychologie gewesen, er hätte in dem Mädchen eine bis zur Leidenschaft gesteigerte kindische Eitelkeit, eine Selbstliebe in excelsis entdeckt und auch verziehen, sonst aber nichts. Es ist jedoch zu bedenken, daß ich hier das Chaos schildere, das Unfaßbare in Worte fasse. Keine Linie, die nicht zu deutlich, kein Ausdruck, der nicht zu stark wäre. Man denke sich einen Wegweiser in den Bergen an einem Tage brauender Nebel; ich habe lediglich die Namen auf jenem Schilde kopiert, die Namen bestimmter, bekannter und zur Zeit vielleicht im Sonnenschein sich badender Städte, während Christina all diese Stunden gleichsam am Fuße des Zeigers weilte, bewegungslos und in fließende, blinde Nebelschwaden gehüllt.

Der Tag ging zur Neige, die Sonnenstrahlen wurden lang und schräge, als sie sich plötzlich aufraffte und das Gesangbuch, das in dem ersten Kapitel ihrer Liebesgeschichte bereits eine so wichtige Rolle gespielt, in das Taschentuch wickelte und wegschloß. Es wird behauptet, daß mangels des Auges des Mesmeristen auch ein leuchtender Nagelkopf als Ersatz dienen könne, vorausgesetzt, daß man ihn nur recht inständig betrachte. So hatte jene zerrissene Seite ihre Aufmerksamkeit an eine Sache gefesselt, die ihr andernfalls nur unbedeutend erschienen wäre und die sie sonst vielleicht bald vergessen hätte, während die unheilschwangeren Worte Dandies – vernommen, doch nicht beachtet und dennoch haften geblieben – ihren Gedanken oder besser ihrer Stimmung eine gewisse Feierlichkeit und Schicksalhaftigkeit verliehen: das Bewußtsein heidnischen Fatums, keiner christlichen Gottheit unterworfen, dunkel, gesetzlos, erhaben und unerbittlich in die Schicksale der Christenheit eingreifend. So läßt sich selbst das seltene Phänomen der Liebe auf den ersten Blick, das so einfach und so zwingend, ja einer Erschütterung unserer Lebensfundamente vergleichbar erscheint, in eine Folge zufälliger Ereignisse auflösen. Sie legte ein graues Kleid mit rosa Fichu an, betrachtete sich einen Augenblick wohlgefällig in dem kleinen, viereckigen Glas, das ihr als Toilettenspiegel diente, und schlich sich leise die Treppe hinunter und durch das schlafende Haus, das von nachmittäglichem Schnarchen widerhallte. Unmittelbar vor der Tür saß Dandie mit einem Buch in der Hand; er las jedoch nicht, sondern ehrte den Sabbat lediglich durch vollkommene Gedankenleere. Sie trat zu ihm und blieb stehen.

»Ich will ins Moor hinaus, Dandie«, sagte sie. Ihr Ton war ungewöhnlich weich, und er blickte auf. Sie war blaß, ihre Augen strahlten dunkel; nirgends mehr eine Spur von ihrer früheren Ausgelassenheit.

»Ist’s wahr, Mädel? Bei dir geht’s auch immer bergauf und bergab, akkurat wie bei mir«, bemerkte er.

»Was meinst du damit?« erkundigte sie sich.

»Oh, nichts Besonderes«, sagte Dandie. »Ich meine nur, du bist mir ähnlicher als die andern alle. Hast mehr von dem poetischen Temperament, wenn auch nichts von der Begabung, weiß der liebe Herrgott. Nun, ’s ist im besten Fall ein heikles Geschenk. Sieh dich selber an. Beim Essen warst du ganz Sonnenschein und Blumen und Lachen, und jetzt bist du wie der Abendstern über einem See.«

Sie trank das abgedroschene Kompliment gleich Wein; es glühte in ihren Adern.

»Ich sagte schon, Dand« – sie trat näher –, »ich will hinaus ins Moor. Ich muß mal Luft schöpfen. Wenn Clem nach mir fragt, stopf ihm den Mund, nicht wahr?«

»Wie denn?« fragte Dandie. »Ich kenn‘ nur eine Methode, und die heißt lügen. Ich werd‘ ihm sagen, daß du Kopfschmerzen gehabt hättest, wenn du willst.«

»Ich hab‘ aber keine«, wandte sie ein.

»Schon recht«, entgegnete er, »ich sagte ja auch nur, ich würde behaupten, daß du welche gehabt hättest; und wenn du’s mir hinterher abstreiten willst, bleibt’s auch so ziemlich gleich; mein Ruf ist sowieso ein für allemal hin.«

»O Dand, bist du denn ein Lügner?« fragte sie und zögerte noch immer.

»Die Leut‘ behaupten es«, entgegnete der Barde.

»Wer behauptet es?« fuhr sie fort.

»Die, welche mich am besten kennen«, erwiderte er. »Die Mädels, zum Beispiel.«

»Aber Dand, mich würdest du doch nie belügen?« forschte sie.

»Das will ich dir überlassen, Katzel«, meinte er. »Wirst mich schon rasch genug beschwindeln, wenn du erst einen Schatz hast. Das sag ich dir, und es ist die Wahrheit; wenn du erst ’n Schatz hast, hast du ihn für gute und schlechte Tage, komme, was da will. Ich kenn‘ mich aus: war auch einmal so, aber der Teufel hat mir reingepatzt. Und jetzt mach, daß du fortkommst, und laß mich in Ruh; bist akkurat in meine poetische Stunde reingefahren, du unruhiger Aff.« Aber sie klammerte sich an ihres Bruders Gesellschaft, weshalb, wußte sie selbst nicht.

»Willst mir nicht einen Kuß geben, Dand?« bat sie. »Hab‘ dich immer so gern gehabt.«

Er küßte sie und musterte sie einen Augenblick; etwas an ihr mutete ihn fremd an. Aber er war durch und durch Frauenjäger, hegte für das ganze Weibervolk nur Verachtung, gleichmäßig mit Argwohn gepaart, und erkaufte sich seinen Weg unter ihnen gewohnheitsmäßig durch müßige Komplimente.

»So, und jetzt lauf!« sagte er. »Bist ein appetitlicher Fratz; damit gib dich zufrieden!«

So war Dandie: ein Kuß und ein Zuckerplätzchen für die Hanne – billigen Tand und seinen Segen für Marie – und dann gute Nacht und auf Nimmerwiedersehen der ganzen Bande! Dinge, die ans Ernste streiften, waren Männerangelegenheiten: das dachte und sagte er offen. Frauen durften einen nicht gefangennehmen; sie waren Kinder, die man gegebenenfalls fortscheuchte. Lediglich in seiner Eigenschaft als Connoisseur blickte er seiner Schwester flüchtig nach, als sie über die Wiese schritt. »Der Balg ist gar nicht so übel!« dachte er überrascht, denn obwohl er ihr eben erst ein Kompliment gezollt, hatte er sie doch nicht wirklich angesehen. »Nanu? Was soll das heißen?« Das graue Kleid hatte kurze Ärmel und einen fußfreien Rock und enthüllte ein paar feste, schlanke Beine in rosa Strümpfen von der gleichen Farbe wie das Tuch, das sie um die Schultern trug, und die Strümpfe glänzten im Gehen. Das war nicht das richtige Werkelstaggewand; er kannte ihre Gepflogenheiten und die aller Weiber hierzulande, keiner kannte sie besser; wenn sie nicht barfuß gingen, trugen sie dicke, wollene Strümpfe meist von fast unsichtbarem Blau, wenn nicht gar Schwarz; und beim Anblick dieses Putzes rechnete Dandie zwei und zwei zusammen. Das Busentuch war aus Seide, folglich würden die Strümpfe gleichfalls aus Seide sein; sie paßten zueinander – ergo war der ganze Anzug ein Geschenk Clems, ein kostbares Geschenk, keines, das man spät an Sonntagnachmittagen durch Sumpf und Dornen spazierentrug. Er stieß einen Pfiff aus. »Mein sauberes Püppchen, entweder du bist ganz verdreht, oder es geht hier was vor«, bemerkte er und ließ damit den Gegenstand fallen.

Sie ging anfänglich langsam, dann immer rascher und in geraderer Linie auf Cauldstaneslap zu, einen Paß zwischen den Bergen, dem der Hof seinen Namen verdankte. Der Paß öffnete sich gleich einer Tür zwischen zwei runden Hügelkuppen; durch ihn führte der Abkürzungsweg nach Hermiston. Auf der anderen Seite fiel er stracks ab in das Teufelsmoor, ein ziemlich großes, morastiges Tal zwischen den Höhen, voller Quellen, verkrüppeltem Wacholder und Tümpeln, in denen das schwarze Torfwasser schlummerte. Hier gab es keine Aussicht. Man hätte ein halbes Jahrhundert lang auf des Betenden Webers Stein sitzen können, ohne ein einziges Lebewesen zu sehen, außer zweimal alle vierundzwanzig Stunden die Kinder von Cauldstaneslap auf dem Schulwege und gelegentlich einen Schäfer samt seinem Clan Schafe, oder die Vögel, die schreiend und schrill pfeifend die Quellen belagerten. Sowie Kirstie daher den Eingang des Passes durchschritten hatte, sah sie sich von Einsamkeit umfangen. Sie blickte ein letztes Mal nach dem Hofe zurück. Immer noch lag er verlassen, mit Ausnahme von Dandie, den man jetzt etwas in seinen Schoß kritzeln sah, denn endlich war der Muse ersehnte Stunde gekommen. Von dort kreuzte sie in raschem Schritt das Moor und erreichte das andere Ende, wo ein träger Bach entspringt, den der Weg nach Hermiston in seinem ersten Abschnitt zu Tal geleitet. Von dieser Seite aus gewann sie einen umfassenden Rundblick über die ganze Heidefläche, die stellenweise vom Winterfrost immer noch gelblich und rotbraun schimmerte, mit dem kühn sie durchschneidenden Pfad samt einzelnen Birkengruppen am Bachesrand und – zwei Meilen fern im Vogelflug, von jungen Pflanzungen und Einfriedungen umgeben – den in der Abendsonne blitzenden Fenstern von Hermiston.

Hier setzte sie sich und wartete und spähte lange Zeit nach den fernen, hellen Scheiben hinüber. Es freute sie, einen so weiten Blick zu haben, schoß es ihr durch den Kopf. Es freute sie, das Hermistoner Herrenhaus zu sehen. »Menschen, Nachbarn«, und in der Tat unterschied sie eine menschliche Einheit, vielleicht den Gärtner, der dort den Kiesweg herunterschlenderte.

Als die Sonne untergegangen war und die östliche Moorfläche ganz in klarem Schatten lag, gewahrte sie eine männliche Gestalt mit äußerst unregelmäßigen Schritten, jetzt laufend, dann wieder innehaltend und unverhohlen zögernd, den Pfad hinaufkommen. Sie beobachtete ihn anfänglich in völliger Gedankenleere. Sie hielt ihre Gedanken an, wie ein Mensch den Atem anhält. Dann, endlich, gestattete sie sich, ihn zu erkennen. »Er wird nicht hierherkommen, es kann nicht sein; es ist unmöglich.« Und eine unterdrückte, würgende Spannung bemächtigte sich langsam ihrer. Aber er kam wirklich; sein Zaudern war völlig dahin, sein Schritt wurde fest und rasch; es blieb kein Raum für Zweifel. Statt dessen erhob sich sogleich die Frage: Was sollte sie tun? Was nützte es schon, daß ihr Bruder selbst ein Grundbesitzer war, daß man von gelegentlichen Zwischenheiraten sprach und auf die Verwandtschaft pochte wie Tante Kirstie? Der Unterschied in ihrer sozialen Stellung war schneidend; Schicklichkeit, Klugheit, alles, was sie gelernt hatte, was sie wußte, hieß sie fliehen. Allein der Becher des Lebens, der sich ihr bot, war gar zu köstlich. Einen kurzen Augenblick erkannte sie deutlich die Frage und traf endgültig ihre Wahl. Sie stand auf und zeigte ihre Umrisse eine Sekunde lang klar gegen den Himmel in dem Bergeinschnitt; in der nächsten Sekunde floh sie zitternd und setzte sich, glühend vor Aufregung, auf des Betenden Webers Stein. Sie schloß die Augen und rang, betete um Fassung. Die Hand in ihrem Schoß bebte, sinnlose, nichtige Reden drängten sich in ihrem Hirn. Was gab es nur, sich so anzustellen! Sie war sich selber doch Schutz genug! Was konnte es schaden, mit dem jungen Herrn zusammenzutreffen? Es war im Gegenteil das Beste, was geschehen konnte. Sie würde ein für allemal die richtige Entfernung zwischen ihnen abstecken. Mählich, ganz allmählich hörten die Räder ihres Seins auf, wie toll zu kreisen, und sie saß in passiver Erwartung, eine stille, einsame Gestalt mitten im grauen Moos. Ich sagte, sie sei keine Heuchlerin gewesen, aber darin tat ich unrecht. Nicht einen Augenblick gestand sie sich selber zu, daß sie den Berg hinaufgekommen wäre, um Archie zu treffen. Und vielleicht wußte sie es wirklich nicht, vielleicht geschah es einfach, wie der Stein zur Erde fällt. Denn die Schritte der Jugend sind in der Liebe, besonders bei Mädchen, instinktiv und unbewußt.

Inzwischen kam Archie eilig näher; er zum mindesten suchte bewußt ihre Nähe. Der Nachmittag war zu Asche geworden in seinem Munde; die Erinnerung an das Mädchen hatte ihn am Lesen verhindert und ihn wie mit Stricken gezogen, und endlich bei beginnender Abendkühle hatte er mit ersticktem Ausruf nach seinem Hut gegriffen und sich auf den Heideweg nach Cauldstaneslap gemacht. Er erwartete nicht, sie hier zu treffen; er wählte diese blasse Möglichkeit ohne Hoffnung auf Erfolg, lediglich um seine eigene Unruhe zu bekämpfen. Um so größer war daher seine Überraschung, als er den Hang hinaufklomm und das Teufelsmoor erreichte, hier auf des Toten Webers verwittertem Stein als Erfüllung all seiner Wünsche die zierliche, frauliche Gestalt in dem grauen Kleide und dem rosa Brusttuch zu finden, klein, hingekauert, verloren und grenzenlos einsam in dieser Öde. Was noch vom Winter sprach, umgab sie rings mit rostigbraunem Schimmer, und alle Frühlingsverheißungen hatten die zarten, frischen Farben der kommenden Zeit angelegt. Selbst das unwandelbare Antlitz des Grabsteins verriet den Wandel des Jahres: das Moos in der geritzten Inschrift erneuerte sich in funkelnden Juwelen von Grün. Dank eines nachträglichen, echt künstlerischen Einfalls hatte das Mädchen den rückwärtigen Zipfel ihres Tuches über den Kopf gezogen, daß es jetzt eine kleidsame Folie für ihr lebhaftes und doch nachdenkliches Gesicht bot. Sie saß, die Füße hochgezogen, und stützte sich auf den rechten Arm, der kräftig und rund in einer schlanken Handfessel auslief und im schwindenden Lichte glänzte. Ein kühler Schauer überlief den jungen Hermiston. Ihm kam der Gedanke, daß er sich jetzt auf eine ernste, um Tod und Leben gehende Angelegenheit einlasse. Es war ein erwachsenes Weib, dem er sich hier näherte, begabt mit geheimnisvollen Kräften und Reizen, mit dem ewigen Schatz ihres Geschlechts, und er war nicht besser und nicht schlechter als der Durchschnitt seines Alters und seiner Art. Eine gewisse Zartheit war ihm eigen, die ihn bisher rein erhalten und die ihn (ohne daß er oder sie es ahnte) nur um so gefährlicher machte, sobald sein Herz ernstlich gesprochen hatte. Seine Kehle war trocken, als er sich ihr näherte, aber die bittende Süße ihres Lächelns stand, ein Schutzengel, zwischen ihnen beiden.

Denn sie wandte sich ihm zu und lächelte, jedoch ohne sich zu erheben. In dieser Art, ihn als Kavalier zu begrüßen, lag eine Nuance, die beiden entging, ihm sowohl, der ihren Gruß einfach liebenswürdig und anmutig wie sie selbst fand, als auch ihr, die sie trotz ihres raschen Denkens den Unterschied zwischen dem Aufstehen, um den jungen Herrn zu begrüßen, und dem sitzenden Gruß an den erwarteten Verehrer nicht erfaßte.

»Geht Ihr nach Westen, Hermiston?« fragte sie, indem sie ihm nach der herrschenden Sitte den Titel seines Guts verlieh.

»Jawohl«, sagte er ein wenig heiser, »aber ich glaube, mein kleiner Spaziergang ist jetzt zu Ende. Geht es Ihnen wie mir, Fräulein Christina? Mich duldete es nicht zu Hause. Ich kam hierher, um Luft zu schöpfen.«

Er ließ sich auf dem anderen Ende des Grabsteins nieder und betrachtete sie, forschend, was wohl hinter ihr stecke. Diese Frage war unendlich wichtig für sie beide. »Ja«, meinte sie, »auch ich konnte kein Dach über dem Kopf vertragen. Es ist so eine Gewohnheit von mir, wenn’s dämmert und es ruhig und kühl ist, hierherzukommen.«

»Das war auch meiner Mutter Gewohnheit«, sagte er ernst. Halb schreckte ihn die Erinnerung, als er ihr Worte verlieh. Er blickte sich um. »Seither bin ich kaum hiergewesen. Es ist friedlich hier«, sagte er, tief Atem schöpfend.

»Ja, ganz anders als in Glasgow«, entgegnete sie. »Ein trauriger Ort, Glasgow! Aber was für einen Tag und welch herrlichen Abend hab‘ ich mir für mein Heimkommen ausgesucht!«

»Ja, es war wahrhaftig ein wunderbarer Tag«, sagte Archie. »Ich glaube, ich werde ihn nicht vergessen, bis ich sterbe. An Tagen wie heute – ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht – erscheint alles so flüchtig, so gebrechlich und so wundervoll, daß ich Angst habe, mit dem Leben in Berührung zu kommen. Wir sind gar so kurze Zeit hier auf Erden – und all die alten Leute vor uns – die Rutherfords von Hermiston, die Elliotts von Cauldstaneslap –, alle, die vor kurzem erst hier herumritten und viel Geschrei in diesem stillen Winkel machten – und liebten und heirateten –, wo sind sie jetzt? Es ist eine tödliche Banalität, die ich da sage, aber schließlich sind auch die großen poetischen Wahrheiten Banalitäten.«

Er war am Werk, sie zu prüfen, halb unbewußt, ob sie ihn wohl verstehen würde, um zu erfahren, ob sie nur ein Tier wäre, in die Farben der Blumen gekleidet, oder auch eine Seele besäße, ihr unvergänglichen Liebreiz zu verleihen. Sie, ihrerseits, wartete beherrscht und frauengleich auf eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen und seine Stimmung widerzuspiegeln, wie immer diese auch sein mochte. Der dramatische Künstler, der schlummernd oder nur halb wach in fast allen Menschen ruht, war in ihr zu göttlicher Raserei erweckt, und der Zufall war ihr günstig. Sie warf ihm einen zurückhaltenden, dämmrigen Blick zu, wie er zu dieser Stunde und zu seinem Gedankengang paßte; heiliger Ernst leuchtete aus ihr gleich den Sternen im purpurnen Westen; und von der starken, aber gebändigten Erschütterung ihres ganzen Wesens ging ein Schauer in ihre Stimme über, der auch in ihren nebensächlichsten Worten widerklang.

»Erinnert Ihr Euch an Dandies Lied?« fragte sie. »Ich glaube, er hat damit ausdrücken wollen, was Ihr soeben dachtet.«

»Nein, ich habe es niemals gehört«, meinte er. »Wollen Sie es mir nicht aufsagen?«

»Es ist aber gar nichts ohne Melodie«, entgegnete Christina.

»Dann singen Sie’s mir doch vor«, bat er.

»Am heiligen Sonntag? Das ginge doch beileibe nicht, Mr. Weir.«

»Ich fürchte, ich nehm‘ es mit dem Sonntag nicht gar zu ernst, und hier ist ja auch niemand, zuzuhören, höchstens der arme Tote dort unter dem Stein.«

»Nicht daß ich das wirklich so meine«, fuhr sie fort. »Meiner Ansicht nach ist das Lied genauso ernst wie ein Psalm. Soll ich’s Ihnen also vorsummen?«

»Ich bitte darum«, sagte er und rückte näher an sie heran, ganz Ohr.

Sie setzte sich aufrecht, wie um zu singen. »Ich kann es Ihnen doch nur vorsummen«, lächelte sie. »Ich möchte am Sonntag nicht laut singen. Ich glaube, die Vögel würden es Gilbert zutragen. Es handelt von den Elliotts«, fuhr sie fort, »und ich meine, es gibt in all den Gedichtbüchern nur wenige Dinge, die schöner sind, obwohl Dand niemals gedruckt worden ist.« Und sie hub in den weichen klaren Schwingungen ihrer gedämpften Stimme zu singen an; jetzt sank die Stimme fast zu einem Flüstern herab, jetzt wieder, bei den Tönen, die ihr besonders gut lagen und auf die Archie bald mit wachsender Bewegung wartete, schwoll sie an:

Sie ritten im Regen in den Zeiten, die gewesen,
In Regen und Wind und Luft;
Sie schrien beim Gelage und schlugen sich im Hage,
Jetzt ruhen sie stumm in der Gruft.
Die alten, alten Elliotts, todeskalten Elliotts,
Harten, heißen Elliotts alter Zeit.

Während dieser ganzen Zeit blickte sie fest vor sich hin, mit graden Knien, die Hände im Schoß und den Kopf hoch aufgerichtet. Ihr Vortrag war durchweg bewundernswert; hatte sie ihn nicht unter des Autors Fuchtel von ihm selbst gelernt? Als sie schwieg, wandte sie Archie ein weiches, strahlendes Gesicht zu, Augen, die im Dämmerlicht matt leuchteten und verschwammen, und sein Herz schlug heftig und flog ihr in Mitleid und grenzenloser Sympathie entgegen. Dies war die Antwort auf seine Frage. Sie war ein menschliches Wesen, empfänglich auch für die Tragik des Lebens; ja, Tragik, Musik und ein großes Herz lebten in diesem Mädchen.

Instinktiv erhob er sich; sie folgte, denn sie sah, sie hatte einen Sieg davongetragen, wollte den Eindruck verstärken und war klug genug, nach einem Erfolge zu fliehen. Jetzt gab es nur noch Nichtigkeiten auszutauschen, aber ihre leisen, bewegten Stimmen heiligten auch diese in ihrem Gedächtnis. In dem wachsenden Grau des Abends sah er ihre Gestalt auf dem gewundenen Pfad durch das Moor entschwinden, sah sie ein letztes Mal sich umdrehen und ihm winken, dann hatte der Einschnitt der Berge sie verschluckt, und es war ihm, als habe sie etwas aus der Tiefe seines Herzens mitgenommen. Doch wahrlich, er hatte dafür eine Gegengabe empfangen, etwas, das dauern sollte. Aus den Tagen seiner Kindheit war ihm ein Bild seiner Mutter haftengeblieben, halb verblaßt durch die Zeit und durch ein Heer neuer Eindrücke, das Bild, wie sie ihm mit zittrigem Ernst und häufig unter strömenden Tränen des Betenden Webers Geschichte erzählte, hier auf dem Schauplatz seiner kurzen Tragödie und langen Rast. Und jetzt gab es ein Gegenbild dazu; er sah und würde bis in alle Ewigkeit Christina sehen, wie sie in den grauen Farben des Abends auf dem nämlichen Grabmal hockte, anmutig, zierlich, vollkommen wie eine Blume, und auch sie sang.

Vom Unglück ferner Zeiten,
Von Schlachten, altersgrau,

von ihren gemeinsamen, längst verstorbenen Ahnen, von deren rohen Kriegen und Waffen, mit ihnen verscharrt, von jenen seltsamen Wechselbälgen, ihren Nachkommen, die noch eine kleine Spanne Zeit hier verweilen würden, um dann wie jene zu vergehen und vielleicht auch von Fremden zur Dämmerstunde besungen zu werden. Dank einer unbewußten, zärtlichen Gefühlswallung stellte er die beiden Frauen Seite an Seite in den Heiligenschrein seines Gedächtnisses. Ja, in jener empfindsamen Stunde schössen ihm Tränen in die Augen, wenn er der einen oder anderen gedachte; und das Mädchen rückte aus der Kategorie der leuchtenden und reizvollen Erscheinungen in die Region der Dinge auf, die so ernst waren wie das Leben selbst und der Tod oder das Bild seiner verstorbenen Mutter. So spielte allseits und in jeder Richtung das Schicksal mit diesen armen Kindern sein kunstvolles Spiel. Die Generationen waren vorbereitet, die Schmerzen vorherbestimmt, ehe noch der Vorhang sich über dem dunklen Drama erhob.

Im nämlichen Augenblick, da sie seinen Blicken entschwand, öffnete sich vor Kirsties Augen das bechergleiche Tal, in dem ihres Bruders Hof lag. Sie sah in einer Tiefe von etwa fünfhundert Fuß, wie sich das Haus mit Kerzen schmückte – ein deutlicher Wink, daß sie sich beeilen müsse. Denn Kerzen wurden an Sonntagabenden nur zu jener Familienandacht entzündet, welche die unvergleichliche Langeweile des Tages beschloß und die Entspannung des Abendessens heranrückte. Sie wußte, Robert würde jetzt schon am Kopfende des Tisches sitzen und den Text auswählen; denn es war Robert in seiner Eigenschaft als Familienpriester und -richter und nicht der begabte Gilbert, der bei diesen Gelegenheiten amtierte. Sie eilte daher so rasch wie möglich den steilen Abhang hinunter und kam atemlos vor der Tür an, gerade als die drei jüngeren Brüder, frisch ihrem Schlummer entrissen und umgeben von einer Horde kleiner Neffen und Nichten, in der Abendkühle schwatzend auf das Zeichen zur Andacht warteten. Sie hielt sich zurück; sie hatte wenig Lust, deren Aufmerksamkeit auf ihr verspätetes Eintreffen und ihren keuchenden Atem zu lenken.

»Kirstie, diesmal bist grad noch zurechtgekommen«, meinte Clem. »Wo warst du nur?«

»Ach, nur so ’n bißchen spazieren«, sagte Kirstie.

Und sie fuhren fort, über den amerikanischen Krieg zu sprechen, ohne der Ausreißerin zu achten, die zitternd vor Glück und im Bewußtsein ihrer Schuld neben ihnen im Schutze der Dunkelheit sich verkroch.

Das Zeichen ertönte, und die Brüder gingen, umdrängt von Hobs Kinderschwarm, einzeln ins Haus.

Aber Dandie blieb als letzter zurück und ergriff Kirsties Arm. »Seit wann geht Ihr in rosa Strümpfen spazieren, Mamsell Elliott?« fragte er schlau.

Sie blickte an sich herab, von Kopf bis Fuß eine einzige Blutwelle. »Ich muß reinweg vergessen haben, sie zu wechseln«, sagte sie und begab sich jetzt ihrerseits voller Unruhe zum Gottesdienst, hin und her gerissen zwischen Sorge, ob Dandie auch nicht in der Kirche ihre gelben Strümpfe bemerkt und sie über einer greifbaren Lüge ertappt hätte, und Scham, daß sie so bald seine Prophezeiung wahr gemacht. Sie erinnerte sich seiner Worte; wie es ihr ergehen würde, wenn sie erst einen Schatz hätte, und daß sie ihm dann in guten und schlechten Zeiten anhängen würde. »Habe ich denn jetzt wirklich einen Schatz?« dachte sie mit heimlichem Glücksschauer.

Und im Verlaufe der Andacht, bei der es ihr Hauptbestreben war, vor der gleichgültigen Madam Hob ihre rosa Strümpfe zu verbergen – und beim Abendbrot, während sie lediglich zu essen vorgab und strahlend und verlegen bei Tische saß – und später, als sie die anderen verlassen und sich in ihr Zimmer begeben hatte, wo sie mit ihrer schlafenden Nichte allein war und endlich den Panzer gesellschaftlicher Formen ablegen konnte – klangen die gleichen Worte in ihr nach: das nämliche, tiefe Glück, das Bewußtsein einer völlig veränderten, wiedergeborenen Welt, eines Tages, den sie im Paradies verbracht, und einer Nacht, in der sich ihr der Himmel erschließen sollte. Diese ganze Nacht war es ihr, als glitte sie auf einem seichten Strom des Schlafens und Wachens zwischen den Grotten Elysiums dahin; diese ganze Nacht pflegte sie in ihrem Herzen jene köstliche Hoffnung; und als sie diese gegen Morgen in tieferer Bewußtlosigkeit begrub, geschah es nur, um im ersten Augenblick des Erwachens von neuem nach jenem Regenbogen des Gedankens zu greifen.

7


Eintritt Mephistopheles‘

Zwei Tage später setzte ein Gig aus Crossmichael Frank Innes vor den Toren Hermistons ab. Einmal im vergangenen Winter während eines besonders heftigen Anfalls von Langeweile hatte ihm Archie einen Brief geschrieben. Dieser hatte eine Art Einladung enthalten, oder eine Anspielung auf eine Einladung – Innes wie er selbst erinnerten sich nicht mehr genau daran. Als Innes ihn empfing, hatte ihm nichts ferner gelegen, als sich mit Archie zusammen im Moor zu vergraben; allein selbst die scharfsinnigsten politischen Köpfe wandeln nicht immer mit untrüglicher Zielbewußtheit durchs Leben. Das würde eine Gabe der Voraussicht erheischen, die den Menschen abgeht. Wer hätte sich zum Beispiel denken können, daß noch nicht einen Monat nach Empfang jenes Briefes, den er verspottet, dessen Beantwortung er verschoben, ja den er zu guter Letzt gar verloren hatte, Mißgeschicke düsterster Natur sich um Franks Laufbahn sammeln würden? Der Fall läßt sich mit wenigen Worten schildern. Sein Vater, ein kleiner Gutsbesitzer in Morayshire mit einer zahlreichen Familie, wurde widerspenstig und sperrte plötzlich den Wechsel; Frank hatte sich die Anfänge einer recht anständigen Bibliothek zugelegt, die er sich genötigt sah nach einigen unerwarteten Verlusten auf dem Rennplatz wieder zu verkaufen, noch ehe sie bezahlt waren; seinem Buchhändler kam diese Tat zu Ohren, und er erließ gegen Innes einen Haftbefehl. Frank hörte noch rechtzeitig davon und war imstande, seine Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Bei diesem Wirrwarr seiner Angelegenheiten und angesichts der drohenden Klage hielt er es für das klügste, sofort zu verschwinden; er schrieb daher einen glühenden Brief an seinen Vater und bestieg die Postkutsche nach Crossmichael. Jeder Hafen war ihm recht in diesem Sturm! Mit männlicher Entschlossenheit kehrte er dem Parlamentshaus und seinem heiteren Klatsch, kehrte Porter und Austern, dem Rennplatz und der Arena den Rücken, kühn entschlossen, mit Archie Weir in Hermiston ein lebendes Grab zu teilen, bis die Wolken sich zerstreut hätten.

Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er selbst war über seine Abreise nicht weniger erstaunt als Archie über seine Ankunft; nur verbarg er seine Verwunderung mit unendlich viel größerer Gewandtheit.

»Ja, hier bin ich!« sagte er, als er ausstieg. »Endlich ist Pylades zu seinem Orest gekommen. Übrigens, haben Sie meine Antwort erhalten? Nein? Wie ärgerlich! Ja, jetzt bringe ich die Antwort selbst; um so besser!«

»Ich freue mich natürlich sehr, Sie zu sehen«, sagte Archie. »Sie sind natürlich herzlich willkommen. Aber Sie haben doch nicht die Absicht zu bleiben, solange das Gericht noch tagt? Wäre das nicht äußerst unvernünftig?«

»Der Teufel hole das Gericht!« meinte Frank. »Was ist die Jurisprudenz gegen die Freundschaft und ein bißchen Fischen?«

Und so kamen sie überein, daß er bleiben solle ohne jeden anderen Termin für seine Abreise als den, welchen er sich privatim stellte – nämlich den Tag, an dem sein Vater mit dem Gelde herausrücken würde und er imstande wäre, seinen Buchhändler zu befriedigen. Unter so unklaren Verhältnissen begann für diese beiden jungen Männer (die nicht einmal Freunde waren) ein Leben größter räumlicher Nähe und ständig schwindender Vertraulichkeit. Sie sahen sich bei den Mahlzeiten sowie des Abends, wenn die Stunde des Whisky-Toddys sich nahte; allein es war auffallend (wäre jemand dagewesen, es zu beobachten), daß sie bei Tage nur selten zusammenkamen. Archie hatte Hermiston zu verwalten; die mannigfachsten Obliegenheiten führten ihn in die Berge, wo Franks Begleitung überflüssig war und Archie sie mitunter auch ablehnte. Manchmal ging er in aller Frühe vom Hause fort und ließ dem anderen auf dem Frühstückstisch lediglich einen Zettel zurück, um ihn von dieser Tatsache in Kenntnis zu setzen; dann und wann kehrte er auch ohne jede vorherige Ankündigung erst lang nach der Essenszeit heim. Innes seufzte unter dieser Fahnenflucht; er brauchte seine ganze Philosophie, um sich gelassen an den gemeinsamen Frühstückstisch zu setzen, und mußte die echte Gutmütigkeit seiner Natur zu Hilfe rufen, um Archie bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er verspätet zum Essen heimkehrte, freundlich zu begrüßen.

»Was in aller Welt macht ihm nur so viel zu schaffen, Madam Elliott?« fragte er eines Morgens, nachdem er soeben eines dieser flüchtig hingekrizelten Billette gelesen und sich zu Tisch gesetzt hatte.

»Geschäftliche Angelegenheiten vermutlich, Sir«, entgegnete trocken die Haushälterin und wies ihn durch die Andeutung eines Knickses auf den zwischen ihnen herrschenden Abstand hin.

»Was für Angelegenheiten?« wiederholte er.

» Seine Angelegenheiten, vermutlich«, wiederholte die unerbittliche Kirstie.

Er wandte sich ihr mit jener strahlend guten Laune zu, die sein gewinnendster Zug war, und brach in schallendes, gesundes und natürliches Gelächter aus. »Gut pariert, Madame Elliott!« rief er, und der Haushälterin Gesicht löste sich in den Schatten eines eisernen Lächelns auf. »Wahrhaftig, gut pariert! Aber Sie müssen mich nicht so als Fremden behandeln! Archie und ich sind doch auf der gleichen Schule und gemeinsam auf der Universität gewesen und wollten auch beide in den Anwaltsstand eintreten, als – na, sie wissen ja! Liebe Zeit, liebe Zeit! Welch ein Jammer! Ein ganzes Leben ruiniert, ein junger Mensch hier in der Wildnis unter lauter Bauern begraben, und weswegen nur? Nur wegen eines dummen, törichten Streichs, nichts weiter. Gott, wie prachtvoll Ihre Haferkuchen schmecken, Madam Elliott!«

»Es sind nicht meine, das Mädel hat sie gebacken«, antwortete Kirstie, »und mit Eurer Erlaubnis: Es hat wenig Sinn, des Herrn Name nur um etlicher eitler Brocken willen, die man sich in den Bauch stopft, in den Mund zu nehmen.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht, Madam«, entgegnete der unerschütterliche Frank. »Aber was ich gerade sagen wollte: Die Sache mit dem armen Archie ist doch ewig schade, und Sie und ich könnten Schlimmeres tun, als die Köpfe zusammenstecken und wie zwei vernünftige Leute überlegen, wie man ihr ein Ende machen könnte. Ich sage Ihnen, Madam, Archie galt wirklich als ein äußerst vielversprechender junger Mann, und ich bin durchaus der Ansicht, daß er’s als Anwalt noch weit gebracht hätte. Und was seinen Vater anbetrifft, so kann ja zwar keiner seine Tüchtigkeit leugnen, ebensowenig wie man bestreiten kann, daß er des Teufels eigene Laune geerbt hat –«

»Wenn Ihr gütigst entschuldigen wollt, Mr. Innes, ich glaube, die Dirn‘ hat nach mir gerufen«, sagte Kirstie und fegte aus dem Zimmer.

»Der verdammte, haarige, alte Besen!« rief Innes. Inzwischen war Kirstie in die Küche geflohen und machte vor ihrer Vasallin ihren Gefühlen Luft.

»Hier, Nichtsnutz! Marsch hinein, und warte dem Innes auf! Ich hab‘ mich nicht mehr in der Gewalt. ›Armer Archie!‹ Ich würd’s ihm zeigen, mit seinem ›armen Archie‹, wenn’s nach mir ginge! Und Hermiston mit des Leibhaftigen eigener Laune? Herrgott, zuvor gib, daß er ihm Hermistons Haferkuchen aus dem Maule herausholt. Nicht ein Haar an den beiden Weirs, das nicht mehr Schneid und Kraft hätte als jener an seinem ganzen elenden Leibe! Und ausgerechnet mir kommt er mit seinen Schimpfereien! Er soll sich zurück in seine schmutzige Stadt trollen, wo sie ihn vielleicht brauchen können, und in seinen Kabriolets rumsausen – er mit seiner Pomade im Haar – und sich mit liederlichen Frauenzimmern gemein machen – Schande, die er ist!« Unmöglich konnte man ohne Bewunderung vernehmen, wie Kirsties wachsender Ekel sich entlud, während sie nacheinander diese ein wenig unbegründeten Anschuldigungen vorbrachte. Da erinnerte sie sich ihres augenblicklichen Vorhabens und wandte sich noch einmal an ihre faszinierte Zuhörerin. »Hast mich nicht verstanden, Schlafmütze? Hast nicht verstanden, was ich dir sagte? Muß ich dich zu ihm hineinjagen? Ich werde Ihr Beine machen, Mamsell!« Und die Magd floh aus der jetzt unsicher gewordenen Küche nach vorn, um Innes zu bedienen.

Tantaene irae? Hat man den Grund noch nicht erraten? Seit Franks Kommen hatte es ein Ende mit den vertraulichen Gesprächen über dem Abendbrottablett! Franks ganze Schmeicheleien waren umsonst; er hatte das Rennen um Madam Elliotts Gunst mit einem Handicap angetreten.

Seltsam jedoch war, wie hartnäckig der Mißerfolg sich bei all seinen Versuchen, Freundschaft zu schließen, an seine Fersen heftete. Ich muß den Leser warnen, Kirsties Epitheta für bare Münze zu nehmen; ihr lag mehr an deren Kraft als Wahrheit. Da war das Wort »elend« zum Beispiel; nichts hätte verleumderischer sein können. Frank war der Inbegriff schöner, gutgelaunter, kraftvoller männlicher Jugend. Er hatte strahlende, vergnügt funkelnde Augen, lockiges Haar, ein einnehmendes Lächeln, blendend weiße Zähne, eine bewundernswerte Kopfhaltung, das Aussehen eines Gentleman und die Sicherheit eines Menschen, der gewohnt ist, auf den ersten Blick zu gefallen und bei näherer Bekanntschaft noch zu gewinnen. Und trotz all dieser Vorzüge scheiterte er bei allen Menschen auf Hermiston; bei dem schweigsamen Schäfer, dem unterwürfigen Verwalter, dem Pferdeburschen, der gleichzeitig der Ackerknecht war, dem Gärtner und bei des Gärtners Schwester – einer frömmelnden, gedrückten Frau, die ständig einen Schal um die Ohren trug –, bei allen fiel er gleichmäßig und gründlich durch. Sie mochten ihn nicht und zeigten es ihm deutlich. Das kleine Hausmädchen war die einzige Ausnahme; sie bewunderte ihn inbrünstig, ja wahrscheinlich träumte sie von ihm in ihren Mußestunden; aber sie war gewohnt, bei Kirsties Tiraden die Rolle der stummen Zuhörerin zu spielen und auch schweigend Kirsties Ohrfeigen hinzunehmen, und hatte gelernt, in Anbetracht ihrer Jahre sowohl ein sehr tüchtiges als auch ein schweigsames und vorsichtiges Mädchen zu sein. Frank war sich daher bewußt, der geschlossenen Mißbilligung gegenüber, die ihn allseits auf Hermiston umgab, beobachtete und bediente, eine einzige Verbündete und mitfühlende Seele zu besitzen; allein er gewann nur geringsten Trost aus dieser Gesellschaft und Unterstützung; die gesetzte kleine Magd (bei ihrem letzten Geburtstag eben erst zwölf geworden) hielt ihren Mund und trippelte hurtig, stumm mitfühlend, aber unerbittlich wortkarg in seinen Diensten hin und her. Alle anderen waren hoffnungslos und völlig unleidlich. Noch nie war ein junger Apollo derart unter rustikalen Barbaren gestrandet. Vielleicht jedoch lag die Ursache all seines Mißerfolges in einem einzigen Zug, den er sich, ohne es zu wissen, angeeignet hatte und der für den ganzen Burschen charakteristisch war. Das war seine Gewohnheit, sich einem Menschen stets auf Kosten irgendeines anderen zu nähern. Er bot dem Betreffenden ein Bündnis gegen einen dritten an; er schmeichelte dem einen durch Vernachlässigung des anderen; ehe man es wußte, war man in irgendeine kleine Intrige verwickelt. Im allgemeinen ist ein derartiges Verhalten ganz wunderbar wirksam; Franks Mißgriff lag nur in der Wahl dieses dritten. Darin war er nicht diplomatisch; er lauschte der Stimme seines Ärgers. Archie hatte ihn gleich zu Anfang durch einen seiner Meinung nach ziemlich trockenen Empfang gekränkt, seither durch häufige Abwesenheit. Außerdem war Archie der einzige, der ihm ständig vor Augen stand, und Archies unmittelbare Untergebene waren gerade diejenigen, denen Frank den Köder seiner Sympathie auswerfen konnte. Jedoch um die beiden Weirs, Vater und Sohn, scharte sich ein ganzer Clan eingefleischter Anhänger. Auf Mylord waren sie alle ungeheuer stolz. Es war eine Auszeichnung, des »Henker-Richters« Vasall zu sein, und seine grobe, furchteinflößende Jovialität war in der unmittelbaren Umgebung seines Hauses durchaus nicht unpopulär. Archie dagegen brachten sie alle bis auf den letzten Mann feinfühlige Liebe und einen Respekt entgegen, die auch vor dem geringsten absprechenden Wort zurückschreckten.

Ebensowenig Erfolg hatte Frank, als er sich weiter hinauswagte. Den Vier Schwarzen Brüdern, zum Beispiel, war er im höchsten Grade antipathisch. Hob fand ihn zu frivol, Gib zu weltlich, Clem, der ihn erst ein, zwei Tage vor seiner Abreise nach Glasgow kennenlernte, wollte wissen, was der Hansnarr eigentlich hier draußen zu tun hätte und ob er die ganze Sessionszeit hier zu verbringen gedächte. »Das ist ’ne Drohne«, erklärte er. Und was gar Dandie betrifft, so wird es genügen, ihre erste Zusammenkunft zu schildern. Frank war gerade beim Fischen, als jene ländliche Berühmtheit zufällig des Weges kam.

»Ich höre, daß Sie ein richtiger Dichter sind«, sagte Frank.

»Und wer hat Ihnen das gesagt, mein Bürschchen?« lautete die nicht sehr entgegenkommende Antwort.

»Ach, alle!« entgegnete Frank.

»Gott, das nenn‘ ich mir Ruhm!« meinte der sardonische Dichter und ging seiner Wege.

Wenn man es sich recht überlegt, bietet sich hier vielleicht die wahre Erklärung für Franks Mißerfolge. Wäre er dem Herrn Sheriff Scott begegnet, er hätte sicherlich ein geschickteres Kompliment gedrechselt, denn es würde sich ja auch gelohnt haben, mit Mr. Scott Freundschaft zu schließen. Dandie dagegen war ihm keinen Sixpence wert, und er zeigte das, selbst während er ihm zu schmeicheln suchte. Herablassung ist eine vortreffliche Sache; merkwürdig ist nur, welch einseitiges Vergnügen sie gewährt! Und wer unter der schottischen Bauernschaft mit Herablassung als Köder angeln geht, wird am Abend mit leerem Korbe heimkehren.

Als Beweis für diese Theorie erzielte Frank große Erfolge im Dienstagklub zu Crossmichael, wo ihn Archie gleich nach seiner Ankunft einführte: sein letztes eigenes Auftreten an dieser Stätte der Lustbarkeit. Frank wurde dort sogleich willkommen geheißen, fuhr fort, regelmäßig hinzugehen und besuchte noch am Vorabend seines Todes (wie die Mitglieder stets mit Vorliebe erzählten) eine dieser Versammlungen. Der junge Hay und der junge Pringle tauchten plötzlich wieder auf. Es gab wieder einmal ein Souper in Windielaws und ein Diner auf Driffel; die Folge war, daß der Landadel der Grafschaft Frank ebenso rückhaltlos in seine Mitte aufnahm, wie die Bauernschaft ihn ablehnte. Er hauste zu Hermiston gleich einem Eroberer in einer besiegten Hauptstadt. Er unternahm auch ständig Ausfälle von dort, wie von einer großen Operationsbasis, um Toddy-Gelage, Ausflüge zum Fischen und Abendgesellschaften zu besuchen, zu denen Archie nicht geladen wurde oder zu denen er nicht hinging. Dies war auch die Zeit, in der die Bezeichnung »der Einsiedler« sich einbürgerte. Manche behaupteten sogar, Innes hätte sie erfunden; zum mindesten sorgte Innes für ihre Verbreitung.

»Was macht Ihr Einsiedler heute?« erkundigten sich die Leute.

»Ach, er einsiedelt weiter!« pflegte Innes dann mit strahlendem Ausdruck zu erklären, als habe er etwas Geistreiches gesagt, um dann sofort das allgemeine Gelächter, das viel eher durch seine Art als durch seine Worte hervorgerufen wurde, mit der Bemerkung zu unterbrechen: »Wissen Sie, Sie haben gut lachen, aber mir gefällt die Sache gar nicht. Der arme Archie ist ja ein recht guter Kerl, den ich immer habe leiden mögen. Ich finde es aber kleinlich von ihm, die geringfügige Dummheit, die er sich hat zuschulden kommen lassen, so schwer zu nehmen und sich derart vor den Menschen zu verschließen. ›Zugegeben, daß es eine lächerliche Sache war, eine peinlich lächerliche Sache‹, sag‘ ich ihm immer. ›Aber seien Sie ein Mann! Stellen Sie sich der Welt wie ein Mann!‹ Aber er denkt gar nicht daran! Natürlich ist nur die Einsamkeit und die Schande und dergleichen daran schuld. Aber, Sie verstehen, ich beginne, mich vor den Folgen zu fürchten. Es wäre doch unsäglich schade, wenn ein wirklich vielversprechender Mensch wie Weir ein schlechtes Ende nähme. Ich fühle mich allen Ernstes versucht, einmal Lord Hermiston zu schreiben und ihm die Sache klarzulegen.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle tun«, pflegten dann einige seiner Zuhörer zu erwidern, kopfschüttelnd, erschrocken und verwirrt durch diese neue und so geschickt durch ein einziges Wort beleuchtete Auffassung der Angelegenheit. »Eine ausgezeichnete Idee!« fügten sie meist hinzu und wunderten sich über den Aplomb und die Position dieses jungen Mannes, der als etwas Selbstverständliches davon sprach, Hermiston zu schreiben und ihn in seinen Privatangelegenheiten zurechtzuweisen.

Und Frank fügte mit gewinnendem Vertrauen hinzu: »Ich will Ihnen etwas sagen: Er nimmt es sich tatsächlich zu Herzen, daß ich hier so gut aufgenommen werde und daß er in der Grafschaft keine Rolle spielt – er ist wahrhaftig eifersüchtig und nimmt es sich zu Herzen. Ich habe ihn geneckt, und ich habe ihm zugeredet; ich habe ihm erklärt, daß alle ihm wirklich wohlgesinnt wären, ja ich hab‘ ihm sogar weisgemacht, daß ich lediglich so aufgenommen würde, weil ich sein Gast sei. Aber es nützt alles nichts. Er nimmt weder die Einladungen an, die man ihm schickt, noch hört er auf, über diejenigen nachzugrübeln, die man ihm nicht schickt. Wovor ich mich fürchte, ist, daß die Wunde allmählich zu schwären anfangen könnte. Er gehörte von jeher zu den dunklen, verschlossenen, zornigen Naturen – ein wenig hinterlistig mit einer tüchtigen Portion Galle –, Sie kennen ja die Art. Er muß es wohl von den Weirs geerbt haben, die vermutlich irgendwo von einer ehrbaren Weberfamilie abstammten; wie heißt doch der landläufige Ausdruck? – sitzende Lebensweise. Das gerade sind die Naturen, die in einer falschen Stellung, wie sie sein Vater für ihn geschaffen hat oder wie er sie sich jetzt selbst schafft – das können Sie halten, wie’s Ihnen beliebt –, auf Abwege geraten. Ich für meinen Teil finde es eine Schmach«, fügte Frank edelmütig hinzu.

Allmählich nahmen der Kummer und die Sorge dieses uneigennützigen Freundes festere Gestalt an. Er fing an, im Vertrauen, unter vier Augen, unklar von allerlei schlechten und gemeinen Gewohnheiten Archies zu sprechen. »Ich muß sagen, ich fürchte tatsächlich, daß er völlig auf Abwege geraten ist«, meinte er alsdann. »Ich sag‘ es Ihnen offen heraus und ganz unter uns: Ich mag eigentlich nicht länger hier bleiben; aber verstehen Sie, ich fürchte mich einfach, ihn allein zu lassen. Mir wird man natürlich später die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Ich bringe ein großes Opfer, wenn ich bleibe. Ich schade meiner Karriere als Advokat: dagegen kann ich meine Augen nun mal nicht verschließen. Ich fürchte wirklich, ich werde noch von allen Seiten Fußtritte bekommen, ehe die Sache vorbei ist. Sehen Sie, keiner glaubt ja heutzutage noch an Freundschaft.«

»Ja, Innes, das ist aber kolossal anständig von Ihnen«, pflegte der Fragesteller dann zu erwidern. »Ich muß schon sagen, wenn man je was gegen Sie vorbringt, können Sie natürlich zum mindesten auf mich rechnen.«

»Ja«, fuhr Frank fort, »offen gestanden, man kann es nicht als angenehm bezeichnen. Er hat eine furchtbar ungehobelte Art; seines Vaters Sohn, verstehen Sie? Ich sag‘ ja nicht, daß er geradezu unhöflich ist – natürlich kann man nicht von mir erwarten, daß ich mir auch das noch bieten lasse –, aber er segelt schon hart an den Wind. Nein, angenehm ist es nicht; doch ich sage Ihnen, Mann, ich halte es auf mein Gewissen nicht für fair, ihn im Stich zu lassen. Verstehen Sie mich ja nicht falsch: ich sag‘ nicht, daß wirklich etwas nicht im Lote ist. Was ich sage, ist nur, daß mir die ganze Sache nicht gefällt.« Und er preßte den Arm seines jeweiligen Vertrauten.

Ich bin überzeugt, daß er anfänglich nichts Böses beabsichtigte. Er redete lediglich um des Vergnügens willen, sich reden zu hören. Er besaß von Natur eine flinke Zunge, wie sich das für einen jungen Advokaten schickt, und nahm es ebenso natürlich mit der Wahrheit nicht sehr genau – was das Zeichen eines jungen Esels ist. So redete er drauflos. Einen besonderen Zweck verfolgte er dabei nicht, außer dem allgemeinen, ihm angeborenen, sich selbst zu schmeicheln und dem Freund des Augenblicks zu gefallen und ihn zu interessieren. Und dank dieser Gewohnheit, Wind zu dreschen, baute er allmählich von Archie ein Bild auf, das in allen Winkeln und Ecken des Landes bekannt und beredet wurde. Wo immer ein Herrenhaus inmitten seines ummauerten Gartens lag, wo immer ein zwergenhaftes Schloß in seinem Parke sich erhob, wo immer ein vierfach vergrößertes Cottage neben einem alten Wachtturm den Niedergang einer alten Familie anzeigte oder eine stattliche Villa mit Wagenauffahrt und Strauchwerk den Aufschwung einer neuen – auf den Rädern der Maschine vermutlich –, da wurde Archie im Licht eines düsteren, vielleicht gar lasterhaften Geheimnisses betrachtet und die weitere Entwicklung seiner Laufbahn mit Unruhe und vertraulichem Geraune erwartet. »Er hat irgend etwas Unehrenhaftes begangen, meine Liebe! Was, ist nicht ganz klar, aber jener reizende, freundliche junge Mann, Mr. Innes, hat sein Bestes getan, es auf die leichte Achsel zu nehmen.« Das war es nun einmal. Und Mr. Innes machte sich um ihn jetzt große Sorgen. »Er ist wirklich ganz beunruhigt, mein Bester; er ruiniert sich tatsächlich seine Laufbahn, weil er es nicht wagt, ihn allein zu lassen.« Wie restlos sind wir alle doch einem einzigen Schwätzer ausgeliefert, der nicht einmal bösen Willens zu sein braucht! Wenn ein Mann nur im richtigen Geiste von sich selbst redet und seine Tugenden beiläufig erwähnt, ohne sie je als Tugend zu bezeichnen, wie leichtfertig wird dann sein Zeugnis im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung angenommen!

Während dieser ganzen Zeit gärte ein noch giftigeres Ferment zwischen diesen beiden jungen Burschen, eines, das erst spät an die Oberfläche gekommen war, das ihre Unstimmigkeiten jedoch von Anfang an beeinflußt und vergrößert hatte. Für einen müßigen, oberflächlichen, leichtlebigen Kunden wie Frank bot die Witterung eines Geheimnisses einen besonderen Reiz. Es beschäftigte seinen Geist, wie ein neues Spielzeug ein Kind beschäftigt, und es packte ihn an seiner schwachen Seite; denn wie viele junge Männer, die sich den Anwaltsberuf gewählt haben, schmeichelte er sich selber, bevor er noch gewogen und zu leicht befunden war, daß er ein besonders rasches Auffassungsvermögen und einen hervorragenden Scharfblick besäße. In jenen Tagen wußte man noch nichts von Sherlock Holmes, aber man sprach viel über Talleyrand. Und hätte man Frank in einer schwachen Minute überrascht, er würde mit verlegenem Schmunzeln gestanden haben, daß er, wenn überhaupt, dem Marquis de Talleyrand-Perigord ähnelte. Es war gelegentlich der ersten Abwesenheit Archies, daß dieses Interesse Wurzel schlug. Es wurde noch ungeheuer vertieft, als Kirstie beim Frühstück seine Neugier hart zurückwies, und am gleichen Nachmittag ereignete sich ein Vorfall, der die Krisis herbeiführte. Frank war dabei, in Begleitung Archies im Swingle-Bach zu fischen, als Archie auf seine Uhr schaute.

»Also, leben Sie wohl«, sagte Archie. »Ich habe zu tun. Ich seh‘ Sie dann später beim Essen.«

»Wozu diese Eile?« rief Frank. »Warten Sie doch, bis ich meine Angel eingeholt habe. Ich gehe mit Ihnen; ich hab‘ es satt, diesen Graben zu belagern.« Und er begann, die Leine aufzuwinden.

Archie stand sprachlos. Er brauchte eine ganze Weile, bis er nach diesem direkten Angriff seine fünf Sinne wieder beisammen hatte; als er aber die Antwort endlich fand und das Aufwickeln der Leine fast beendet war, hatte er sich gänzlich in Weir verwandelt: das Henkergesicht thronte finster auf seinen jungen Schultern. Er sprach mit erzwungener Ruhe, mit erzwungener Freundlichkeit sogar, allein selbst ein Kind hätte erkannt, daß sein Entschluß feststand.

»Bitte um Verzeihung, Innes: ich möchte nicht schroff erscheinen, aber wir wollen uns doch von Anfang an richtig verstehen. Wenn ich Ihre Gesellschaft wünsche, werde ich es Sie wissen lassen.«

»Oh«, rief Frank. »Sie wollen also meine Gesellschaft nicht, was?«

»Jetzt im Augenblick offenbar nicht«, entgegnete Archie. »Ich ließ jedoch durchblicken, wann sie mir genehm sein würde, falls Sie sich erinnern – und zwar beim Essen. Falls wir beide reibungslos zusammenleben wollen – und ich sehe nicht ein, weshalb das nicht der Fall sein sollte –, kann das nur geschehen, wenn einer des anderen Bedürfnis, allein zu sein, respektiert. Fangen wir gleich zu Anfang an, uns einander aufzudrängen –«

»Hören Sie auf! Das lass‘ ich mir von niemandem gefallen! Ist das Ihre Art, einen Gast und alten Freund zu behandeln?« schrie Innes.

»Jetzt gehen Sie nach Hause, und denken Sie allein über das nach, was ich Ihnen sagte«, fuhr Archie fort, »ob es vernünftig oder ob es in Wahrheit beleidigend ist, und wir wollen beim Essen zusammenkommen, als wäre nichts geschehen. Ich will mich sogar folgendermaßen ausdrücken: Ich kenne meinen eigenen Charakter, ich freue mich im voraus (und zwar aufrichtig) auf einen langen Besuch von Ihnen und treffe von vornherein meine Vorsichtsmaßregeln. Ich erkenne den Punkt, über den wir – über den ich meinetwegen mich zanken werde, und ich beuge vor und obsto principiis. Ich wette mit Ihnen fünf Pfund, Sie werden schließlich einsehen, daß ich aus lauter Freundschaft so handle, und das tue ich auch wirklich, glauben Sie mir, Francie«, schloß er nachgebend.

Berstend vor Zorn, nicht eines Wortes mächtig, schulterte Innes seine Angel, verabschiedete sich mit einer Geste und ging mit langen Schritten den Flußpfad hinab. Archie sah ihm regungslos nach. Er bedauerte das Vorgefallene, aber er schämte sich durchaus nicht. Er haßte es, ungastlich zu erscheinen, aber in einem Punkte war er seines Vaters Sohn. Er war von dem Bewußtsein durchdrungen, daß sein Haus sein Haus sei und niemandes anderen; und sich auf Gnade und Ungnade einem Gast ausliefern, das zu tun, weigerte er sich strikte. Er haßte es, schroff zu erscheinen, aber schuld daran war Franks Standpunkt. Hätte Frank nur das gewöhnliche Maß Diskretion gezeigt, er wäre selbst anständig höflich geblieben. Dann gab es auch noch ein weiteres Bedenken. Das Geheimnis, das er jetzt hütete, gehörte nicht ihm allein; es war genauso Christinas; es gehörte zugleich jenem unfaßlichen Wesen, das mit Macht von seiner Seele Besitz zu ergreifen begann und das zu verteidigen er bald bereit sein würde, ganze Städte einzuäschern. Er blickte Frank nach, der hastig und mit großen Schritten weiterging, hin und wieder in der verfärbten Heide untertauchend und allmählich zu weniger als Liliputgröße zusammenschrumpfend, und als dieser das Ende des Baches erreicht hatte, vermochte Archie bereits über den Vorfall zu lächeln. Entweder würde Frank abreisen – das würde an sich eine Befriedigung bedeuten –, oder er würde bleiben, und sein Wirt mußte sich weiterhin mit ihm abfinden. Jetzt aber hinderte Archie nichts mehr daran, auf verschlungenen Wegen hinter Hügeln und über Bachbette dem Stelldichein zuzueilen, wo Kirstie, von Moorhuhn und Kiebitz umschrien, auf des Puritaners Stein seiner harrte und ihm entgegenbrannte.

Innes schritt währenddessen in einem Sturm haßerfüllter Empörung, der sehr natürlich war, sich allmählich jedoch dem Gebot der Lage anpaßte, den Hügel hinunter. Er beschimpfte Archie als einen kaltherzigen, unfreundschaftlichen, sacksiedegroben Hund und sich selbst noch leidenschaftlicher als einen Narren, hierher nach Hermiston gekommen zu sein, da ihm fast jedes andere Haus in Schottland als Zufluchtsstätte offengestanden haben würde. Aber der Schritt war, einmal getan, so gut wie unwiderruflich. Er besaß kein Geld mehr, sich anderswo hinzubegeben; er würde sowieso zum nächsten Klubabend Archie anpumpen müssen; und so niedrig er auch seines Gastgebers Manieren einschätzte, so überzeugt war er von dessen Freigebigkeit. Franks Ähnlichkeit mit Talleyrand erscheint mir zwar als ziemlich illusorisch, aber Talleyrand selbst hätte sich nicht gehorsamer den Tatsachen unterwerfen können. Frank begegnete Archie beim Essen ohne jede Feindschaft, ja fast mit Herzlichkeit. Seine Erklärung würde gelautet haben, daß man seine Freunde nehmen müsse, wie sie nun mal wären. Archie könne ja nichts dafür, daß er seines Vaters Sohn oder seines Großvaters, des hypothetischen Webers, Enkel sei. Als Sohn eines groben Klotzes war er eben selber im Herzen ein grober Klotz geblieben, unfähig wahrer Großmut und Rücksichtnahme: aber er besaß andere Eigenschaften, die Frank sich mittlerweile zunutze machen konnte und die zu genießen es notwendig war, daß Frank seine schlechte Laune meistere.

So vorzüglich war seine Selbstbeherrschung, daß er am folgenden Morgen ganz erfüllt von einem neuen, aber verwandten Gedanken aufwachte. Was war es eigentlich, das Archie im Schilde führte? Weshalb mied er Franks Gesellschaft? Was verbarg er vor ihm? Hatte er mit irgend jemandem ein Rendezvous gehabt – mit einer Frau? Es wäre doch ein prachtvoller Witz und zugleich eine gerechte Rache, wenn er, Frank, dahinterkäme. Diesem Ziele wandte er sich mit ziemlicher Ausdauer zu, wie sie seine Freunde sogar in Erstaunen versetzt hätte, denn Frank hatte von jeher eher als geistreich und klug denn als zäh gegolten; und so, ganz allmählich, Stück für Stück, gelang es ihm, ein Bild der Lage zusammenzutragen. Zuerst beobachtete er, daß Archie, obwohl er im Weggehen die verschiedensten Richtungen einschlug, doch stets aus Südwesten heimkehrte. Das Studium einer Landkarte und die Tatsache, daß sich in dieser Richtung bis zu der Mündung des Clyde eine weite Fläche unbewohnten Heidelandes erstreckte, führten ihn gar bald nach Cauldstaneslap und nach zwei anderen benachbarten Höfen: Kingsmuir und Polintarf. Von dort aus war jedes Weiterkommen schwierig. Mit seiner Angel als Vorwand suchte er vergeblich jeden dieser drei Punkte auf; nirgends fand sich in der Nachbarschaft der Heidehöfe etwas Verdächtiges. Er würde versucht haben, Archie nachzugehen, wäre das überhaupt möglich gewesen, allein die Bodenbeschaffenheit schloß diesen Gedanken ein für allemal aus. Also tat er das Nächstbeste: Er verbarg sich an irgendeinem stillen Winkel und verfolgte Archies Bewegungen mit dem Fernglas. Auch das führte zu nichts, und bald bekam er seine vergebliche Wachsamkeit satt, ließ das Fernglas zu Hause und hatte die ganze Sache bereits aufgegeben, als er sich ganz plötzlich, am siebenundzwanzigsten Tage seines Aufenthalts, dem Menschen, den er suchte, gegenübersah. Den ersten Sonntag war es Kirstie unter irgendeinem Vorwand der Unpäßlichkeit, in Wahrheit jedoch aus Anstandsgefühl, gelungen, der Kirche fernzubleiben; die Freude, Archie dort zu sehen, schien ihr zu heilig, zu lebendig für einen so öffentlichen Ort. An den folgenden beiden Sonntagen war Frank selbst auf irgendwelchen Ausflügen zu benachbarten Familien von Hermiston abwesend gewesen. So geschah es, daß Frank erst am vierten Sonntag die Zauberin zu Gesichte bekam. Schon bei dem ersten Blick war aller Zweifel geschwunden. Sie kam mit der Gesellschaft aus Cauldstaneslap, folglich wohnte sie dort. Hier war Archies Geheimnis, hier war die Frau, die jener besuchte, ja mehr noch – schon auf den ersten Blick empfand er sich selbst als Rivale. Beteiligt dabei waren ein gut Teil Ehrgeiz, ein klein wenig Rache und viel ehrliche Bewunderung: der Teufel mag die genauen Maße bestimmen. Ich kann es nicht, und wahrscheinlich würde auch Frank es nicht gekonnt haben.

»Ein ungemein reizvolles Milchmädchen«, bemerkte er auf dem Heimwege.

»Wer?« fragte Archie.

»Na, das Mädel, das Sie jetzt anstarren – nicht wahr? Dort auf der Landstraße vor uns. Sie kam in Begleitung des rustikalen Barden, gehört daher vermutlich zu der berühmten Familie. Das einzige Bedenken! Die Vier schwarzen Brüder dürften unangenehme Kunden sein. Falls da was schiefginge, würde der Weber wohl wabern und Clem einen in die Klemme bringen und Dand einen Tanz aufführen und Hob sich etwas ungehobelt entpuppen. Kurz, die Elliottaffaire dürfte eine wahre Höllenaffaire werden!«

»Außerordentlich witzig, wahrhaftig«, meinte Archie.

»Na, ich geb‘ mir aber auch Mühe. Und es fällt mir nicht einmal leicht, an diesem Orte in Ihrer feierlichen Gesellschaft, mein Lieber. Aber gestehen Sie nur, das Milchmädchen hat in Ihren Augen Gnade gefunden, oder verzichten Sie ein für allemal darauf, als Mann von Geschmack zu gelten.«

»Es ist ja auch ganz gleichgültig«, entgegnete Archie. Allein der andere fuhr fort, ihn fest und spöttisch anzublicken, und das Blut stieg langsam, dann immer rascher in Archies Wangen, bis selbst die größte Unverfrorenheit nicht mehr hätte leugnen können, daß er errötete. Im nämlichen Augenblick verlor Archie einen Teil seiner Selbstbeherrschung. Er wechselte den Stock von einer Hand zur anderen und rief: »Um Gottes willen, seien Sie doch kein Esel!«

»Esel? Eine zartfühlende Erwiderung, ohne Zweifel«, sagte Frank. »Aber hüten Sie sich vor den hausbackenen Brüdern, Liebster. Wenn die in den Tanz eingreifen, werden Sie ja sehen, wer der Esel ist. Überlegen Sie sich mal, falls jene Burschen – na, sagen wir auch nur ein Viertel der Begabung, die ich drangesetzt habe, auf die Frage verwenden, wo Mr. Archie seine Abendstunden zubringt und weshalb er so herzerfrischend widerborstig ist, jedesmal wenn jenes Thema berührt wird –«

»Sie berühren es auch jetzt in diesem Augenblick«, unterbrach ihn Archie zuckend.

»Danke schön. Mehr wollte ich nicht. Das ist ein offenes Geständnis«, sagte Frank.

»Ich möchte Sie daran erinnern –« begann Archie.

Aber jetzt war er an der Reihe, unterbrochen zu werden. »Aber mein lieber Junge, lassen Sie das doch. Es ist gänzlich überflüssig. Das Thema ist tot und begraben.«

Und Frank fing in aller Eile an, von anderen Dingen zu reden, eine Kunst, in der er Meister war, denn es war seine besondere Begabung, über alles und nichts fließend sprechen zu können. Allein, obwohl Archie die Zuvorkommenheit oder die Feigheit besaß, ihn schwatzen zu lassen, war Frank durchaus noch nicht mit dem Thema fertig. Als Archie zum Abendessen nach Hause kam, begrüßte ihn Frank mit der schlauen Frage, wie es unten in Cauldstaneslap stünde. Nach dem Essen leerte Frank sein erstes Glas Portwein auf Kirsties Wohl, und später am Abend ritt er abermals zur Attacke.

»Hören Sie mal, Weir, Sie müssen entschuldigen, daß ich auf jene Sache zurückgreife. Aber ich hab‘ sie mir durch den Kopf gehen lassen und möchte Sie doch allen Ernstes drum bitten, vorsichtiger zu sein. Die Geschichte ist nicht ungefährlich. Nicht ungefährlich, mein Junge.«

»Welche Geschichte?« fragte Archie.

»Ja, dann ist’s Ihre eigene Schuld, wenn Sie mich zwingen, die Sache bei ihrem Namen zu nennen; aber ich kann wahrhaftig als Freund nicht einfach stillsitzen und zuschauen, wie Sie sich kopfüber in diese Gefahr stürzen. Mein lieber Junge«, fuhr er fort und hielt warnend die Zigarre hoch, »denken Sie einmal nach! Wie soll denn das Ende sein?«

»Welches Ende?« In hilflosem Ärger hielt Archie an seiner gefährlichen und unliebenswürdigen Verteidigung fest.

»Das Ende des Milchmädchens oder, um mich formeller auszudrücken, das Ende der Jungfer Christina Elliott von Cauldstaneslap.«

»Ich versichere Sie«, brach Archie aus, »das Ganze ist lediglich eine Frucht Ihrer blühenden Phantasie. Es läßt sich nicht das Geringste gegen die junge Dame sagen, und Sie haben kein Recht, ihren Namen in unser Gespräch zu zerren.«

»Ich werde es mir merken«, sagte Frank. »Von jetzt ab sei sie namenlos, namenlos, namenlos! Ich werde mir außerdem noch das glänzende Leumundszeugnis merken, das Sie ihr ausgestellt haben. Ich wünsche diese Sache ja lediglich als Mann von Welt zu betrachten. Zugegeben, daß sie ein Engel ist – aber, mein lieber Junge, ist sie auch eine Dame?«

Dies war für Archie die reinste Folter. »Ich bitte um Verzeihung«, bemerkte er, nach Fassung ringend, »da Sie sich aber in mein Vertrauen eingeschlichen haben –«

»Pah, pah!« rief Frank. »Ihr Vertrauen? Es wurde zwar keusch errötend, aber doch nur sehr widerwillig geschenkt. Vertrauen? Wahrhaftig! Nun hören Sie aber mal zu. Ich habe Ihnen folgendes zu sagen, Weir, denn es betrifft Ihre persönliche Sicherheit und Ihren guten Ruf und daher auch meine eigene Ehre als Ihr Freund. Eingeschlichen ist gut! Was habe ich eigentlich getan? Ich habe zwei und zwei zusammengerechnet, wie das morgen die ganze Gemeinde tun wird und in zwei Wochen das gesamte Tweedtal und die Vier schwarzen Brüder – aber da will ich kein Datum festlegen; jedenfalls dürfte es ein dunkler, stürmischer Morgen werden! Kurz, Ihr Geheimnis liegt auf der Gasse! Und ich frage Sie als Freund: Gefällt Ihnen die Aussicht? Aus Ihrem Dilemma gibt es zwei Auswege, und ich muß sagen, beide würde ich persönlich nur sehr ungern in Erwägung ziehen. Beabsichtigen Sie, den Vier schwarzen Brüdern eine Erklärung zu geben? Oder wollen Sie das Milchmädchen als künftige Herrin von Hermiston dem Papa vorführen? Ich sage Ihnen offen: Ich kann’s mir nicht vorstellen!«

Archie erhob sich. »Ich will nichts mehr von diesen Dingen hören«, sagte er mit bebender Stimme.

Allein Frank hielt abermals die Zigarre hoch. »Sagen Sie mir vor allem das eine. Sagen Sie mir, ob ich nicht wirklich als Freund an Ihnen handle.«

»Ich glaube, daß Sie davon überzeugt sind«, lautete Archies Antwort. »So weit kann ich gehen. Ich kann Ihren Motiven diese Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber ich will nichts mehr hiervon hören. Ich gehe jetzt zu Bett.«

»So ist’s recht, Weir«, meinte Frank herzlich. »Gehen Sie zu Bett, und überschlafen Sie die Sache. Und noch eins: Vergessen Sie Ihr Abendgebet nicht! Ich bin nicht häufig fürs Moralische – dergleichen Dinge liegen mir nicht –, aber wenn ich mich dafür einsetze, dann mein‘ ich’s auch ehrlich.«

Also marschierte Archie ins Bett, und Frank saß noch eine gute Stunde allein bei Tisch, mit ungemein selbstzufriedenem, sattem Lächeln. An sich lag nichts Rachsüchtiges in seiner Natur; aber wenn die Rache ihm in den Weg lief, so sollte sie auch gründlich sein, und der Gedanke an Archies einsame nächtliche Betrachtungen war ihm unbeschreiblich süß. Er spürte ein angenehmes Gefühl der Macht. Er blickte auf Archie herab wie auf einen sehr kleinen Jungen, den er am Gängelband führte – wie auf ein Pferd, das er ritt und das er durch schiere Intelligenz im Zaume hielt, ein Pferd, das er nach Belieben zu Grabe oder zum Ruhme reiten konnte. Welches von beiden sollte es sein? Er verweilte noch lange und kostete die Einzelheiten der Pläne aus, die durchzuführen er viel zu träge war. Armer Kork auf reißenden Stromes Oberfläche! In jener Nacht sog er die Süße der Allmacht ein und brütete, einer Gottheit gleich, über den Fäden einer Intrige, die ihn selbst vernichten sollte, noch ehe der Sommer schwand.

2


Vater und Sohn

Mylord, der Oberrichter, war vielen bekannt, der Mensch, Adam Weir, wohl niemandem. Der hatte nichts zu zeigen oder zu verbergen; der war restlos und schweigend sich selbst genug; und jener Teil unserer Natur, welcher (nur allzuoft mit falscher Münze) Ruhm und Liebe zu erwerben sucht, war bei ihm anscheinend vergessen worden. Er strebte nicht nach Liebe, er fragte nicht danach, ja höchstwahrscheinlich war ihm nicht einmal der Gedanke an sie je gekommen. Er war ein vielbewunderter Jurist, ein äußerst unbeliebter Richter und sah herab auf alle, die in diesen beiden Eigenschaften, sei es als weniger scharfsinnige Juristen oder als minder verhaßte Richter, unter ihm standen. Sonst war in all seinem Leben und Wirken keine Spur von Eitelkeit; er durchmaß das Dasein fast wie ein Nachtwandler, mit einem mechanischen Rhythmus, der an das Erhabene grenzte.

Seinen Sohn sah er nur selten. Wenn die üblichen Kinderkrankheiten den Jungen heimsuchten, pflegte er sich täglich nach ihm zu erkundigen und ihm täglich einen Besuch abzustatten, wobei er das Krankenzimmer mit einem fürchterlichen, humoristisch sein wollenden Ausdruck betrat, pflichtgemäß ein paar Scherze vom Stapel ließ und sich zu des Patienten Erleichterung sehr bald wieder entfernte. Einmal, als die Gerichtsferien in einen gelegenen Moment fielen, ließ Mylord seinen Wagen vorfahren und brachte das Kind persönlich nach Hermiston, dem gewöhnlichen Erholungsort. Es ist anzunehmen, daß er sich in diesem Falle ganz besonders um Archie sorgte, denn jene Reise stand einzig da in des Jungen Gedächtnis, da der Vater ihm von Anfang bis zu Ende und mit allen Einzelheiten drei authentische Mordfälle auseinandersetzte. Archie durchlief den üblichen Bildungsgang der Edinburger Jugend: das Gymnasium und die Universität, und Hermiston sah ihm von ferne zu, oder richtiger blickte hinweg, ohne auch nur ein schwaches Interesse für seine Fortschritte zu heucheln. Täglich nach dem Diner wurde Archie auf ein Zeichen zu ihm hereingeführt, erhielt eine Handvoll Nüsse und ein Glas Portwein und wurde einer sardonischen Musterung sowie einem sarkastischen Verhör unterzogen. »Nun, junger Mann, was haben wir heute gelernt?« lautete Mylords gewöhnliche Begrüßung, und zugleich ging er dazu über, ihm auf Juristenlatein allerlei Fragen zu stellen. Für ein Kind, das sich gerade durch seinen Corderius durchackerte, erwiesen Papinian und Paul sich als unüberwindlich. Aber Papa hatte alles andere selbst verlernt. Er war nicht etwa hart gegen den angehenden kleinen Gelehrten, da er sich vom Richterstuhl her einen unermeßlichen Vorrat an Geduld angeeignet hatte, aber ebensowenig gab er sich Mühe, seine Enttäuschung auszudrücken oder zu verbergen. »Na, du hast ja noch eine nette Strecke Wegs vor dir!« – so ungefähr lautete sein Kommentar, und in zwei Fällen von vier versank er sogleich von neuem in seine Gedanken, bis die Stunde des Schlafengehens schlug und er Karaffe und Glas ergriff und sich in sein Hinterzimmer mit dem Blick über die Meadows zurückzog, um dort noch bis tief in die Nacht hinein seine Akten zu bearbeiten. Im ganzen Richterkollegium gab es keinen beschlageneren Menschen; sein Gedächtnis war schier wunderbar, obwohl lediglich auf juristische Dinge beschränkt; galt es extempore zu arbeiten, so kam ihm keiner gleich, und doch war niemand so sorgfältig vorbereitet wie er. Wenn er so die Nächte durchwachte oder bei Tisch die Gegenwart seines Sohnes vergaß, schöpfte er ohne Zweifel tief aus verborgenen Genüssen. Gleich ihm sich völlig einer einzigen intellektuellen Übung hingeben bedeutet den sicheren Erfolg im Leben; und vielleicht vermögen nur die Jurisprudenz und die höhere Mathematik ohne Reaktion eine derartige Hingabe zu erzeugen und ohne Erregungen so unerschöpflichen Lohn zu spenden. Diese Atmosphäre gediegensten Fleißes war der beste Teil von Archies Erziehung. Sicherlich bot sie ihm nicht die leisesten Reize; sicherlich stieß sie ihn eher ab und bedrückte ihn. Und doch war sie allgegenwärtig, unauffällig wie das Ticken einer Uhr, ein dürres Ideal, ein unschmackhafter Stimulans in des Knaben Leben.

Aber Hermiston war nicht völlig aus einem Holze. Er war auch ein gewaltiger Zecher, der bis zum Morgengrauen beim Wein zu sitzen vermochte und sich dann direkt von der Tafel weg mit fester Hand und klarem Kopf auf den Richterstuhl begab. Nach der dritten Flasche verkündete er in immer größer werdenden Lettern den Plebejer; der breite, gewöhnliche Akzent wurde breiter, der gemeine, schmutzige Humor noch gröber; er wirkte jetzt weniger schreckenerregend, aber unendlich viel abstoßender. Nun hatte aber der Junge von Johanna Rutherford ein mimosenhaftes Zartgefühl geerbt, das sich nur schlecht mit einer Anlage zum Jähzorn paarte. Auf dem Spielplatz unter seinen Altersgenossen vergalt er einen gemeinen Ausdruck mit einem Hieb, an seines Vaters Tisch (als die Zeit kam, da er an dessen Gelagen teilnehmen mußte) erbleichte er und versank in angeekeltes Schweigen. Von allen Gästen, die er dort traf, vertrug er nur einen einzigen: David Keith Carnegie, Lord Glenalmond. Lord Glenalmond war hochgewachsen und hager mit schlanken, zarten Händen; man hatte ihn häufig mit Forbes Statue von Cullodon im Parlamentshaus verglichen, und seine blauen Augen hatten, selbst über die Sechzig hinaus, sich noch etwas von dem Feuer der Jugend bewahrt. Der vollendete Gegensatz, den er zu den anderen Gästen bot, seine Erscheinung, die der eines Künstlers und Aristokraten glich, welcher unversehens in rüde Gesellschaft geraten ist, fesselten des Knaben Aufmerksamkeit; und da Neugier und Interesse diejenigen Dinge sind, die auf dieser Welt den raschesten und sichersten Lohn ernten, fühlte sich Lord Glenalmond auch seinerseits von dem Knaben angezogen.

»Das ist also Ihr Sohn, Hermiston?« fragte er und legte seine Hand auf Archies Schulter. »Er wird mal ein großer Junge werden!«

»Pah!« sagte der gnädige Vater. »Ganz seiner Mutter Ebenbild – wagt nicht, buh zu ’ner Gans zu sagen!«

Aber der Fremde hielt den Jungen fest, verwickelte ihn in ein Gespräch über sich selber und entdeckte in ihm einen Geschmack an Büchern sowie eine reine, begeisterungsfähige, bescheidene jugendliche Seele. Er lud ihn ein, ihn an Sonntagabenden in seinem kahlen, kalten, einsamen Eßzimmer zu besuchen, wo er selbst in der Verlassenheit eines alten, in vornehmer Zurückgezogenheit ergrauten Junggesellen über seinen Büchern saß. Die schöne Sanftmut und Anmut des alten Richters, die Zartheit seiner Person, Gedanken und Sprache redeten unmittelbar in seiner eigenen Zunge zu Archies Herzen. In ihm wuchs der Ehrgeiz, ein ebensolcher Mann zu werden; und als der Tag erschien, da er sich einen Beruf wählen mußte, geschah es in Nacheiferung Lord Glenalmonds und nicht Lord Hermistons, daß er sich für die Jurisprudenz entschied. Hermiston begegnete dieser Freundschaft mit geheimem Stolz, öffentlich jedoch mit der Unduldsamkeit der Verachtung. Nur selten ließ er sich eine Gelegenheit entgehen, das Paar durch groben Spott zu ducken; und das war, um die Wahrheit zu sagen, nicht schwer, denn beide waren nicht schlagfertig. Er hatte ein verächtliches Wort für die ganze Horde von Poeten, Malern, Musikanten und deren Bewunderer: die Bastardrasse der Amateure. Es gab ein Wort, das er wieder und wieder gebrauchte. »Signor Fiedeldumdei«, pflegte er zu sagen. »Um Gottes willen, nichts mehr von dem Signor!«

»Sie und mein Vater sind sehr befreundet, nicht wahr?« fragte Archie einmal.

»Es gibt niemanden, den ich höher achte«, entgegnete Lord Glenalmond. »Er hat zwei unschätzbare Eigenschaften. Er ist ein großer Jurist, und er ist so aufrecht wie der Tag.«

»Sie und er sind so verschieden«, sagte der Junge, und sein Blick ruhte in dem seines alten Freundes wie der eines Liebhabers in den Augen seiner Herrin. »In der Tat«, erwiderte der Richter, »sehr verschieden. Und ich fürchte, du und er seid es auch. Und doch würde es mir sehr mißfallen, wenn mein junger Freund seinen Vater falsch beurteilte. Er besitzt alle Tugenden eines Römers: Cato und Brutus waren Männer seines Schlages; ich meine, ein Sohn müßte stolz sein, von solch einem Manne abzustammen.«

»Und ich wollte, er wäre ein einfacher Bauer!« rief Archie mit plötzlicher Bitterkeit.

»Das ist weder sehr klug noch, glaube ich, ganz ehrlich«, antwortete Glenalmond. »Wenn du es dir recht überlegst, wirst du finden, daß einige dieser Ausdrücke dir wie Reue in der Kehle aufsteigen werden. Sie sind rein literarisch und dekorativ; sie drücken nicht deine wahren Gedanken aus; auch hast du diese Gedanken selbst nicht klar erfaßt. Zweifellos würde dein Vater (wäre er jetzt hier) ›Signor Fiedeldumdei!‹ rufen.«

Mit dem unendlich feinen Takt der Jugend mied Archie von jener Stunde an das Thema. Das war vielleicht schade. Hätte er nur gesprochen – sich frei ausgesprochen – sich selbst in einen Strom von Worten aufgelöst (wie es die Jugend liebt und das ihr gutes Recht ist) – es hätte vielleicht nie eine Geschichte derer von Hermiston zu schreiben gegeben. Jedoch bereits der Schatten einer Drohung von Lächerlichkeit genügte; aus der milden Schärfe jener Worte las er ein Verbot, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Glenalmond es auch als solches beabsichtigt hatte.

Diesen Greis ausgenommen, besaß der Junge keinen Vertrauten oder Freund. Ernst und feurig legte er den Weg durch Schule und Universität zurück und bewegte sich unter einer Schar von Gleichgültigen in dem unsichtbaren Panzer seiner Schüchternheit. Er wuchs heran, ein schöner Mensch, mit offenem, sprechendem Antlitz und anmutigem, jugendlichem Wesen; er war klug, errang sich Auszeichnungen, glänzte im »Speculative Club«. Von Rechts wegen hätte er den Mittelpunkt eines Freundeskreises bilden sollen; allein etwas, das teils seiner Mutter Feinfühligkeit, teils seines Vaters Strenge war, hielt ihn allen fern. Es ist eine Tatsache – und obendrein eine äußerst sonderbare –, daß Hermistons Sohn unter seinen Altersgenossen als ein echter Sproß vom alten Stamme galt. »Sie sind ein Freund Archie Weirs?« bemerkte einst jemand zu Frank Innes; und Innes antwortete mit seiner üblichen Frivolität und mit mehr als gewöhnlicher Einsicht: »Ich kenne Weir, aber mit Archie hatte ich noch nie das Vergnügen.« Niemand kannte Archie, eine Krankheit, die vornehmlich einzigen Söhnen eigen ist. Er segelte unter eigener Flagge, und keiner achtete darauf; es war, als sei er in eine Welt verpflanzt, wo selbst die Hoffnung auf Intimität verbannt war, und er blickte um sich: auf das Treiben seiner Kommilitonen und vorwärts in die Zukunft und sah nichts als banale Tage voll banaler Bekanntschaften, ohne Hoffnung und ohne Interesse.

Als die Zeit verstrich, fühlte sich der alte, zähe Sünder immer mehr zu dem Sohne seiner Lenden und dem einzigen Stammhalter des neubegründeten Geschlechts hingezogen, und das mit einer Weichheit des Gefühls, die er selbst kaum zu glauben vermochte und die auszudrücken er sich völlig außerstande sah. Mit einem Gesicht, einer Stimme und einem Wesen, in vierzig Jahren geschult, Schrecken und Widerwillen einzuflößen, wird Rhadamanth vielleicht groß, niemals jedoch liebenswürdig erscheinen. Daß er Archie zu gewinnen versuchte, ist eine Tatsache, jedoch nicht gering genug zu bewerten, so unauffällig war der Versuch, so stoisch wurde sein Scheitern ertragen. Eiserne Naturen wie die Hermistons dürfen kein Mitgefühl beanspruchen. War es ihm mißlungen, seines Sohnes Freundschaft, ja auch nur dessen Duldung zu erringen – nun, so mußte er seinen Weg aufwärts über die mächtige, öde Treppenflucht seiner Pflicht allein, ungestützt, aber auch unverzagt fortsetzen. Vielleicht hätte er seinen Beziehungen zu Archie ein wenig mehr Freude abgewinnen können, das sah er zu Momenten ein; aber Freude war in der seltsamen Chemie des Lebens lediglich ein Nebenprodukt, auf das nur Narren rechneten.

Schwieriger ist es, Archies Standpunkt verständlich zu machen, da wir inzwischen alle erwachsen sind und die Tage unserer Jugend vergessen haben. Er machte auch nicht den leisesten Versuch, diesen Mann zu verstehen, mit dem er beim Frühstück und beim Abendessen beisammensaß. Scheu vor Schmerz, Gier nach Genuß – das sind die beiden einander ablösenden Pole der Jugend; und Archie neigte mehr zu dem ersteren. Der Wind blies kalt aus der einen Richtung – er kehrte ihr den Rücken, blieb so wenig wie irgend möglich in seines Vaters Gesellschaft und wandte, wenn dort, den Blick, soweit der Anstand das erlaubte, von seines Vaters Gesicht. Viele Hunderte von Tagen spielte das Lampenlicht bei der Tafel über diesen beiden Gesichtern – Mylords, gerötet, finster, geringschätzig; Archies, voll potentiellen Lebens, das jedoch in dieser Gesellschaft stets gedämpft und wie unter einem Schleier erglänzte; vielleicht gab es in der ganzen Christenheit keine zwei Wesen, die einander so radikal fremd waren. Der Vater sprach entweder mit großartiger Einfachheit nur von dem, was ihn selbst interessierte, oder bewahrte ein ungekünsteltes Schweigen. Der Sohn zerbrach sich währenddessen den Kopf nach irgendeinem ganz sicheren Thema, das ihm erneute Beweise von Mylords eingeborener Grobschlächtigkeit oder restloser Inhumanität ersparen möchte. Dabei betrat er die Wege der Unterhaltung zimperlich gleich einer Dame, die auf einer Nebengasse ihre Röcke hochrafft. Machte er einen Mißgriff und floß Mylord über von verletzenden Reden, so straffte sich Archies Gestalt, seine Stirn verfinsterte sich, sein Anteil an dem Gespräch erstarb; Mylord dagegen fuhr getreulich und unbekümmert fort, vor seinem schweigenden und beleidigten Sohne sein schlimmstes Selbst zu entbreiten.

»Nun, der ist ein armer Teufel, der nicht auch einen guten Tag zu genießen versteht«, pflegte er am Schluß solch einer nachtmahrähnlichen Unterhaltung zu bemerken. »Aber ich muß jetzt wieder an meinen Pflug!« Und er zog sich, wie gewöhnlich, in sein Hinterzimmer zurück, während Archie zitternd vor Feindseligkeit und Verachtung in die Dunkelheit und auf die Straße hinausstürzte.