8


Ein nächtlicher Besuch

Kirstie hatte vieles, das sie unglücklich machte. Je älter wir werden – insbesondere wenn wir älter werden und Frauen sind, welche die eisige Furcht vor dem Alter anhaucht –, desto mehr verlassen wir uns auf die Stimme als das Ausdrucksmittel der Seele. Nur so vermögen wir bei der Verarmung unserer Mittel dem geknebelten Schrei der Leidenschaft Raum zu geben; nur so können wir in der bitteren und empfindsamen Schüchternheit reiferer Jahre den Verkehr mit jenen lebensstrotzenden Gestalten der Jugend aufrechterhalten, die uns allseits noch umgeben und die doch täglich mehr zur beweglichen Tapete des Lebens zusammenschrumpfen. Das Wort ist das letzte verbindende Glied, die letzte Beziehung. Jedoch mit Beendigung der Unterhaltung, wenn die Stimme schweigt und das helle Gesicht des Zuhörers sich wegkehrt, senkt sich von neuem Einsamkeit auf das verwundete Herz. Kirstie hatte ihre geruhsame abendliche Plauderstunde verloren; vorbei war es mit ihren Wanderungen – als Geist, wenn man will, aber als seliger Geist – an Archies Seite in den Feldern Elysiums. Ihr war es, als sei die ganze Welt verstummt; für ihn dagegen bedeutete dieser Wegfall lediglich eine belanglose Abwechslung in der Art seiner Kurzweil. Kirstie raste bei dieser Erkenntnis. Der brausende Quell ihrer leidenschaftlichen, reizbaren Natur sprudelte mitunter so unbändig, daß eine Eruption drohte.

Dies ist der Preis, den wir für unzeitige Glut des Empfindens zahlen müssen. Sie hätte ihn zahlen müssen, wann immer die Umstände es erforderten; so aber geschah es, daß sie jener Wonne beraubt wurde gerade in der Stunde, da sie ihrer am meisten bedurfte, da sie am meisten zu reden und zu fragen hatte und vor der Erkenntnis zitterte, daß ihre Oberhoheit nicht nur im Schwinden, nein, am Ende gar aufgehoben sei. Denn mit der Hellsichtigkeit wahrer Liebe durchschaute sie das Geheimnis, das Frank so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte. Sie ward sich, noch vor dem eigentlichen Eintreten des Falles, ja bereits an jenem Sonntagabend, da die Sache ihren Anfang nahm, einer Invasion ihrer Rechte bewußt, und eine innere Stimme verriet ihr den Namen der Siegerin. Seither hatte sie sich durch kleine Kniffe, durch Zufälligkeiten, durch Beobachtungen von nebensächlichen Dingen und durch die allgemeine Färbung von Archies Laune Gewißheit, über allen Zweifel erhaben, verschafft. Mit einem Gerechtigkeitssinn, um den Lord Hermiston sie hätte beneiden können, hatte sie an jenem Tage in der Kirche die Reize der jüngeren Kirstie abgeschätzt und gewürdigt, und mit der tiefen Menschlichkeit und Sentimentalität ihrer Natur vernahm sie den Schritt des Schicksals. Nicht so hätte sie gewählt. Sie hatte Archie in ihrer Phantasie mit irgendeiner hochgewachsenen, stolzen und rosigen Heldin mit goldenen Locken vermählt, geschaffen nach ihrem eigenen Bilde, der sie mit Entzücken das Brautbett bestreut haben würde; und sie hätte über das Scheitern ihrer ehrgeizigen Träume weinen mögen. Jedoch die Götter hatten gesprochen; das Urteil lautete anders.

Unruhig, von fieberhaften Gedanken bestürmt, wand sie sich in jener Nacht auf ihrem Lager. Gefährliche Dinge standen bevor, eine Schlacht, über deren Ausgang sie mit Sympathie, Furcht und wechselnder Parteinahme für die eine oder die andere Seite eifersüchtig brütete. Jetzt fühlte sie sich wiedergeboren in ihrer Nichte, jetzt in Archie. Jetzt sah sie durch des Mädchens Augen den Jüngling vor sich knien, vernahm in tödlicher Schwäche sein hartnäckiges Flehen und empfing seine überwältigenden Liebkosungen. Und im nächsten Augenblick, in plötzlicher Umkehr ihrer Natur, raste sie bei dem Gedanken, jene höchsten Gaben des Geschicks und der Liebe an ein Balg von einem Mädchen verschwendet zu sehen, an ein Wesen ihres eigenen Hauses, das ihren eigenen Namen sich anmaßte – dies war eine tödliche Kränkung –, an jemand, »die selbst nicht wußte, was sie wollte, und die so schwarz war wie ihr eigener Hut!«. Und wieder zitterte sie vor Angst, daß ihr Idol vergeblich flehen könnte, denn sie sehnte den Erfolg als eine Art Triumph der Natur für ihn herbei; und im darauffolgenden Moment, mit wiederauflebender Treue für ihre eigene Familie und ihr Geschlecht, zitterte sie um Kirstie und um den guten Ruf der Elliotts. Endlich erblickte sie visionär sich selbst; die Zeit für ihre altmodischen Geschichten, für ihren Dorfklatsch war vorüber, auf ewig sagte sie dem Glanz der Liebe und des Lebens Lebewohl, und dahinter, in der Ferne, kroch sie, um zu sterben, dem düsteren, allmächtigen Ende zu. Hatte sie den Becher wirklich bis zur Neige geleert, sie, die sie so groß, so schön war, mit einem Herzen frisch wie das eines Mädchens und stark wie bei einem Weibe? Es konnte nicht sein, und doch war es so; einen Augenblick lang war ihr Bett ihr furchtbar wie die Mauern des Grabes. Vor ihr dehnte sich die Wüste der Stunden, in der sie rasen und zittern würde, bis der Tag anbräche und die Arbeit des Tages erneuert werden müßte.

Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe – seinen Schritt; bald danach wurde ein Fenster aufgestoßen. Sie setzte sich klopfenden Herzens aufrecht. Er war allein in seinem Zimmer, und er war nicht zu Bett gegangen. Eines ihrer nächtlichen Gespräche winkte ihr, und bei diesem bezaubernden Ausblick ging eine Veränderung in ihr vor; mit dem Nahen jener Hoffnung auf Freude schwand auch sogleich alles Niedrige aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, ganz Weib, das Weib in seiner reinsten Gestalt, zärtlich, mitfühlend, voller Haß gegen alles Böse und treu ihrem eigenen Geschlecht – und doch mit allen Schwächen dieses geliebten und komplizierten Wesens, mit Hoffnungen, wortlos und schmeichelnd, die sich eng an ihr weiches Herz schmiegten und an ihm zehrten, Hoffnungen, die sie sich selbst niemals zugestanden hätte, und wäre es um ihr Leben gegangen. Sie riß ihre Haube herunter, und ihr Haar fiel in üppiger Fülle um ihre Schultern. Unsterbliche Koketterie erwachte. Im matten Schein der nächtlichen Kerze stand sie vor ihrem Spiegel, die edlen Arme über dem Haupte erhoben, und sammelte den Schatz ihrer Flechten ein. Sie war nie zimperlich in ihrer Bewunderung von sich selbst; jene Art Bescheidenheit war ihr fremd, und sie hielt erfreut und überrascht bei diesem Anblick inne. »Du verrücktes, altes Frauenzimmer!« sagte sie zu sich selbst, damit einen Gedanken beantwortend, der doch nicht wirklich war, und sie errötete mit der Unschuld eines Kindes. Hastig band sie die schweren, leuchtenden Flechten auf, hastig zog sie einen Morgenrock an und stahl sich, Kerze in der Hand, in den Korridor. Von unten hörte sie die Uhr ihre gemessenen Sekunden ticken und Frank mit den Karaffen im Speisezimmer klirren. Feindschaft, bitter und jäh, stieg in ihr auf. »Ekliger, versoffener kleiner Köter!« dachte sie; im nächsten Moment hatte sie vorsichtig an Archies Zimmertür geklopft und die Aufforderung, einzutreten, erhalten.

Archie hatte hinaus in die uralte Nacht gestarrt, hier und dort von einem glanzlosen Stern erhellt; tief sog er die süßduftende Luft der Heide ein, suchte und fand vielleicht auch den Frieden der Unglücklichen. Er wandte sich bei ihrem Eintritt um und zeigte gegen den Fensterrahmen sein bleiches Gesicht.

»Bist du es, Kirstie?« fragte er. »Tritt nur näher!«

»Es ist schon unheimlich spät, Kind«, erklärte Kirstie mit erheucheltem Widerstreben.

»Nein, nein«, antwortete er, »durchaus nicht. Komm nur herein, wenn du einen Schwatz halten willst. Ich bin, weiß Gott, nicht schläfrig!«

Sie kam näher, nahm einen Stuhl neben dem Toilettentisch und stellte die Kerze vor sich auf den Boden. Etwas vielleicht ihre zwanglose Kleidung, vielleicht die Erregung in ihrer Brust – hatte sie mit dem Zauberstab der Verwandlung berührt; sie schien jung, von der Jugend der Göttinnen.

»Mr. Archie«, hub sie an, »was ist Ihnen nur?«

»Ich wüßte nicht, daß mir irgend etwas wäre«, entgegnete Archie errötend und bereute sogleich bitterlich, sie eingelassen zu haben.

»Ach, liebes Kind, so geht es nicht!« sagte Kirstie. »Wer liebt, den kann man nur schwer täuschen. Ach, Mr. Archie, überlegen Sie’s wohl, eh es zu spät ist. Sie sollten nicht gierig sein nach den guten Dingen des Lebens; die werden alle kommen, jedes zu seiner Zeit, wie die Sonne und der Regen. Sie sind ja noch so jung; Sie haben eine hübsche Anzahl Jahre vor sich. Achten Sie darauf, daß Sie nicht gleich zu Anfang, wie so viele andere, Schiffbruch erleiden! Haben Sie nur Geduld – mir hat man immer gesagt, das wäre die Hauptsache im Leben –, nur Geduld, der Sonnenschein kommt noch. Gott weiß es, mir ist er nie gekommen; hier sitze ich ohne Mann oder Kind, das ich mein eigen nennen könnte, und plage die Leute mit meiner giftigen Zunge. Sie vor allen anderen, Mr. Archie!«

»Ich weiß wirklich nicht, was du willst«, meinte Archie.

»So will ich’s denn sagen«, erklärte sie. »Es ist dies und nichts weiter: Ich fürchte mich. Ich fürchte für Euch, Lieber. Vergeßt nicht, Euer Vater ist ein harter Mann, der erntet, wo er nicht gesät, und einsammelt, wo er nicht gepflanzt hat. Reden ist leicht, aber hütet Euch! Ihr werdet eines Tages in sein finsteres Gesicht schauen, wohin schwer und vergeblich blicken ist auf der Suche nach Erbarmen. Ihr erinnert mich an ein schönes Schiff weit draußen auf dem schwarzen und stürmischen Meer – es kann Euch nichts geschehen, solange Ihr still mit Kirstie in Eurer Kammer schwatzt; aber wo werdet Ihr am Morgen sein, in welch fürchterlichem Ungewitter, darinnen Ihr die Berge anflehen werdet, Euch zu bedecken?«

»Aber Kirstie, du sprichst heute nacht ja in Rätseln, und sehr beredt obendrein«, warf Archie dazwischen.

»Mein lieber Mr. Archie«, fuhr sie mit veränderter Stimme fort, »Ihr müßt nicht denken, daß ich nicht mit Euch fühle. Ihr müßt nicht denken, daß ich nicht selbst mal jung gewesen bin. Vor langer Zeit, als ich noch ein dummes Ding war, noch keine zwanzig –« sie schwieg und seufzte – »sauber und frisch, mit einem Fuß so leicht wie eine Biene, war ich auch schon groß und stattlich, glaubt mir; ein ansehnliches Frauenzimmer, obwohl mir’s nicht zukommt, Euch das zu sagen – gebaut fürs Kindertragen – und schöne Kinder wären es geworden, und großartig hätte es mir gefallen! Aber ich war jung, Lieber, mit dem hellen Jugendlicht in den Augen, und ließ mir’s wahrhaftig nicht träumen, daß ich dereinst als einsames, runzeliges altes Weib Euch all dies erzählen würde. Und dann, Mr. Archie, ist da ein Bursch‘ um mich freien gekommen, wie’s ganz natürlich war. Viele hatten sich vor ihm gemeldet, aber ich mochte sie alle nicht! Doch dieser hier, der hatte eine Zunge, um die Vögel aus der Luft und die Bienen von den Glockenblumen zu locken. Liebe Zeit, liebe Zeit, ist das lang her! Die Leut‘ sind seither gestorben und begraben und vergessen worden, und Kinder sind zur Welt gekommen und haben geheiratet und haben selbst Kinder bekommen. Und Wälder sind gepflanzt worden seither und sind gewachsen und zu stattlichen Bäumen geworden, und die Mädels mit ihren Schätzen sitzen jetzt darunter im Schatten; und alte Güter haben die Herren gewechselt, und es hat Krieg und den Lärm des Krieges hier auf der Erde Angesicht gegeben. Und ich bin immer noch hier – eine alte, elende Krähe, die zuguckt und krächzt! Aber Ihr müßt nicht denken, Mr. Archie, daß ich mich nicht noch gut an alles erinnere! Ich lebte damals in meines Vaters Haus; und recht sonderbar ist, daß wir uns im Teufelsmoor trafen. Und glaubt ja nicht, daß ich die schönen Sommertage und die langen Meilen blutroter Heide, das Schreien der Brachvögel und das Mädel bei jenem Stelldichein vergessen habe! Wißt Ihr, daß ich jetzt noch die Süße der Berge spüre, die damals um mein Herze rann? Ach, Mr. Archie, ich weiß ja, wie’s ist – ich weiß es genau –, wie Gott in seiner Gnade die beiden nimmt, gleich Paulus von Tarsus, grad wenn sie sich’s am wenigsten versehen, und in ein Land treibt, das wie ein Traum ist; und die Welt und die Leute darinnen sind für das arme Mädel nicht mehr als die Wolken, und die Himmel selbst sind nur ein paar Grashalme, wenn sie ihm nur gefällt! Bis Tom starb – ja, das ist meine Geschichte«, brach sie ab; »er starb, und ich war nicht einmal bei dem Begräbnis. Doch solang er am Leben war, hatte ich mich fest in der Hand. Aber kann jenes arme Mädel das?«

Und Kirstie streckte, die Augen hellschimmernd von ungeweinten Tränen, ihm flehend die Hand hin; das leuchtende Gold und das matte Gold ihres Haares flammte und glomm in Windungen um ihr schönes Haupt gleich den Strahlen der ewigen Jugend selbst; reine Röte war ihr in die Wangen gestiegen, und Archie war bestürzt und betreten angesichts ihrer Schönheit und ihrer Geschichte. Er trat vom Fenster auf sie zu, ergriff ihre Hand und küßte sie.

»Kirstie«, sagte er heiser, »du hast mir bitter unrecht getan. Der Gedanke an sie hat mich nie verlassen; ich würde ihr um die Welt nicht schaden, Liebe!«

»Ach Junge, das ist leicht gesagt«, rief Kirstie, »aber nicht so leicht getan! Junge, verstehst du denn nicht? Es ist Gottes Wille, daß wir geblendet und betäubt sein sollen und keine Gewalt mehr haben über unsere eigenen Glieder in jener Zeit. Mein Kind«, rief sie, immer noch seine Hand haltend, »denk an die arme Dirn! Hab Mitleid mit ihr, Archie! Oh, sei klug für zwei! Denk an die Gefahr, die sie läuft! Ich habe euch beide gesehen – und wer hindert es, daß andere euch gleichfalls sehen? Ich sah euch das erste Mal im Teufelsmoor, in meinem eigenen Tal, und schrecklich war mir zumute – teils wegen der Vorbedeutung, denn es ist etwas Unheimliches um den Ort, und teils aus schierer, nackter Mißgunst und Bitterkeit des Herzens. Sonderbar ist, daß ihr beide euch gleichfalls dort trefft! Gott! Und wenn auch der arme, alte, querköpfige Puritaner bei Lebzeiten nichts von der menschlichen Natur wußte – seit er in seinem Todesstündlein in die Musketenrohre geschaut, hat er eine gehörige Portion davon gesehen!« Dies fügte sie hinzu mit einer Art Verwunderung in ihren Augen.

»Ich schwöre bei meiner Ehre, daß ich ihr nie unrecht getan«, sagte Archie. »Und ich schwöre bei meiner Ehre und bei meiner Seele Seligkeit, daß ich ihr auch in Zukunft keins tun werde. Ich habe das alles schon einmal gehört. Ich bin töricht gewesen, Kirstie, aber nicht ungut, und vor allen Dingen nicht gemein.«

»Da spricht mein Kind«, sagte Kirstie, sich erhebend.

»Ich kann dir jetzt vertrauen, ich gehe leichten Herzens schlafen.« Und dann erkannte sie blitzartig die nackte Unfruchtbarkeit ihres Sieges. Archie hatte versprochen, das Mädchen zu schonen, und er würde sein Versprechen halten; wer aber hatte versprochen, Archie zu schonen? Wie sollte das alles enden? Sie überschaute ein Labyrinth von Schwierigkeiten, aus dem ihr von jedem Kreuzweg das eiserne Gesicht Hermistons entgegenstarrte. Und eine Art Grauen vor ihrer eigenen Tat fiel sie an. Sie trug jetzt eine tragische Maske. »Archie, der Herr erbarme sich deiner und meiner, mein Liebstes du! Ich habe hier auf diesem Grunde gebaut –« sie legte ihre Hand schwer auf seine Schulter –, »ich habe hoch gebaut und mein Herz in den Bau hineingelegt. Sollte das ganze Gebäude zusammenstürzen, ich glaube, Kind, ich würde drüber sterben. Verzeih einem tollen alten Weibsbild, das dich liebt und das schon deine Mutter gekannt hat. Und um des lieben Herrgotts willen, halte dich frei von unmäßigem Verlangen; halte dein Herz in beiden Händen, trage es sicher und leicht; laß es nicht wie die Kinder ihre Drachen in die wilden Winde aufsteigen! Denk daran, Archie, mein lieber Archie, daß dies Leben eine einzige Enttäuschung ist und ein Mundvoll Erde das uns bestimmte Ende.«

»Aber Kirstie, liebe, gute Kirstie, du verlangst jetzt zu viel«, sagte Archie, tief erschüttert und nun auch seinerseits in breites Schottisch verfallend. »Du verlangst, was ich dir nicht geben kann, was nur der Herrgott im Himmel gewähren kann, wenn er es für gut befindet. Und vermag er es am Ende wirklich? Ich kann dir nur versprechen, was ich tun werde, und du magst dich darauf verlassen. Aber wie ich fühlen werde – das, Kirstie, steht schon längst nicht mehr in meiner Macht!«

Sie standen jetzt beide Angesicht zu Angesicht. Archies trug den elenden Schatten eines Lächelns; das ihre verzerrte sich einen Augenblick.

»Versprich mir das eine«, rief sie mit scharfer Stimme. »Versprich, daß du nie etwas unternehmen wirst, ohne es mir vorher zu sagen.«

»Nein, Kirstie, auch das kann ich dir nicht versprechen«, entgegnete er. »Ich habe so schon genug versprochen, Gott weiß es!«

»Der Segen des Herrn stütze und tröste dich, mein Herz!« sagte sie.

Und er entgegnete: »Gott schütze dich, meine alte Freundin!«

9


Neben des Webers Stein

Es war spät am Nachmittage, als Archie sich dem Bergpfad nach des Betenden Webers Stein näherte. Die Moore lagen im Schatten. Aber noch immer sandte die Sonne durch den Paßeinschnitt einen letzten Pfeil, der lang und gerade über der Moosfläche schwebte, hier und dort eine Erderhöhung berührte und erhellte und endlich auf dem Grabstein und der kleinen, dort wartenden Gestalt zur Erde niederging. Die ganze Leere und Einsamkeit der großen Moore schien sich dort zu sammeln, und jener Sonnenfleck wies auf Kirstie als auf den einzigen lebenden Menschen. Der erste Anblick, den Archie von ihr gewann, war daher über die Maßen traurig, wie ein Blick in eine Welt, aus der alles Licht, aller Trost und alle menschliche Gemeinschaft zu schwinden drohten. Im nächsten Augenblick, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte und ein rasches Lächeln es erhellte, lächelte ihm auch die ganze Natur zum Willkomm entgegen. Archies langsamer Schritt wurde schneller; sein Körper hastete, obwohl sein Herz ihn zurückhielt. Das Mädchen ihrerseits richtete sich langsam auf und stand dort erwartungsvoll; sie war ein einziges Verlangen, aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, ihre Arme schmerzten, ihn zu umschlingen, ihre Seele stand auf Zehenspitzen. Aber er enttäuschte sie; wenige Schritte vor ihr blieb er stehen, nicht weniger bleich als sie selbst, und hielt, eine Geste des Verzichts, die Hand hoch.

»Nein, Christina, heute nicht«, sagte er. »Heute muß ich ernst mit dir reden. Setz dich bitte wieder hin, wo du eben saßest; bitte«, wiederholte er.

Der Rückschlag der Gefühle in Christinas Herz war erschütternd. Das Warten und Sehnen dieser langen, ermüdenden Stunden, in denen sie sich alle seine Liebkosungen wiederholt hatte – ihn endlich, endlich kommen zu sehen – für ihn dazusein, atemlos, ganz hingegeben, sein Eigentum, mit dem er schalten und walten konnte und plötzlich einen bleichgesichtigen, harten Schulmeister vor sich zu haben – der Schlag war furchtbar. Sie hätte weinen mögen, aber Stolz hielt sie aufrecht. Sie setzte sich wieder auf den Stein, von dem sie sich soeben erhoben, teils mit dem Instinkt des Gehorsams, teils als hätte man sie gewaltsam niedergedrückt. Was hatte das zu bedeuten? Weshalb war sie verstoßen? Hatte sie aufgehört, ihm zu gefallen? Hier stand sie und bot ihre Waren feil, und er wollte sie nicht! Und doch waren sie ganz sein! Sein, sie zu hegen und zu pflegen, nicht sie zurückzuweisen! In ihrer heißblütigen, leidenschaftlichen Natur, die eine Sekunde zuvor noch in Flammen der Erwartung gestanden, rangen durchkreuzte Liebe und verwundete Eitelkeit. Der Schulmeister, der zur Verzweiflung aller Mädchen und der Mehrzahl der Frauen in jedem Manne lebt, beherrschte Archie jetzt vollständig. Er hatte eine Nacht der Predigten, einen Tag der Grübelei durchlebt; er war gekommen, innerlich für die Pflicht gestählt, und sein entschlossener Mund, bei ihm lediglich ein Zeichen der Willensanstrengung, erschien ihr als der Ausdruck eines erkaltenden Herzens. Nicht anders ging es ihr mit seiner gepreßten Stimme, der verlegenen Sprache; und war es wirklich so – war alles vorbei –, der Gedanke schmerzte so, daß er sie jeglicher Fähigkeit zum Denken beraubte.

Er stand da, in einiger Entfernung. »Kirstie, wir haben es zu arg getrieben. Wir haben einander zu oft gesehen.« Sie blickte hastig auf, und ihre Augen verengten sich. »Es kann nichts Gutes aus diesen geheimen Zusammenkünften kommen. Sie sind nicht offen, nicht wahrhaft ehrlich, und ich hätte es einsehen sollen. Die Leute haben angefangen zu reden; es ist nicht recht von mir. Verstehst du mich?«

»Ich verstehe, daß jemand mit dir gesprochen hat«, antwortete sie dumpf trotzig.

»Das hat man auch – mehr als einer.«

»Wer war es denn?« rief sie. »Und was ist das für eine Art Liebe, die wie ein Hampelmann hin und her zappelt, je nachdem wie die Leute reden? Meinst du etwa, sie haben nicht auch mit mir geredet?«

»Haben sie das wirklich?« fragte Archie und sog hastig den Atem ein. »Das eben hatte ich ja gefürchtet. Wer tat es? Wer hat gewagt –?«

Er war nahe daran, sehr zornig zu werden.

In Wahrheit hatte niemand in dieser Angelegenheit mit Christina geredet, aber in der Panik ihrer Selbstverteidigung hielt sie krampfhaft an ihrer ersten Frage fest.

»Gut, gut! Das ist ja auch ganz gleich!« sagte er. »Es waren brave Leute, die es gut mit uns meinten; das schlimme ist, daß die Leute überhaupt reden. Mein liebes Mädchen, wir müssen vorsichtig sein. Wir dürfen nicht gleich zu Anfang unser Leben ruinieren. Es wird vielleicht noch ein langes und schönes Leben werden, und wir müssen darauf achten, daß wir uns wie vernünftige Geschöpfe Gottes und nicht wie törichte Kinder benehmen. Auf das eine müssen wir vor allem achten. Du bist wert, daß man auf dich wartet, Kirstie! Wert, daß man eine Generation wartet; das wäre an sich Lohn genug.« – Hier erinnerte er sich wieder des Schulmeisters und schlug, äußerst unklug, die Bahn der Klugheit ein. »Vor allem müssen wir darauf achten, daß es keinen Skandal gibt – um meines Vaters willen. Das würde alles ruinieren; siehst du das nicht ein?«

Ein wenig war Kirstie besänftigt, denn in Archies letzten Worten hatte ein Anflug von Wärme gelegen. Aber dumpfer Zorn hielt sie immer noch gefangen, und dem alten Urinstinkt folgend, wünschte sie, da sie selbst gelitten hatte, daß auch Archie leide.

Außerdem war das Wort gefallen, das sie sich von Anfang an gefürchtet hatte von seinen Lippen zu vernehmen: der Name seines Vaters. Es wäre falsch, anzunehmen, daß in all den Tagen, seitdem sie sich ihre Liebe gestanden, nicht auch ihrer beider Zukunft erwähnt worden wäre. Sie hatten im Gegenteil das Thema häufig berührt, und es war vom ersten Tage an der wunde Punkt gewesen. Kirstie schloß mit Gewalt ihre Augen davor; sie wollte nicht einmal zu sich selbst darüber sprechen. Tapferes, verzweifeltes kleines Herz, das sie war, hatte sie dem gebieterischen Ruf des höchsten Entzückens gehorcht wie dem Rufe des Schicksals selbst und war blind in ihr Verhängnis geschritten. Allein Archie, mit dem Verantwortungsgefühl des Mannes, mußte logisch denken und folgern; er verweilte bei ihrem künftigen Glück, während für Kirstie die Gegenwart die ganze Welt bedeutete; er hatte reden müssen und – da die Notwendigkeit ihn trieb – recht lahm geredet von dem, was werden sollte. Wieder und wieder hatte er das Wort Ehe gestreift; und wieder und wieder hatte der Gedanke an Lord Hermiston ihn veranlaßt, sich unklar und unbestimmt auszudrücken. Und Kirstie hatte sofort verstanden und eiligst dieses Verstehen heruntergewürgt und erstickt; eiligst hatte die Flamme in ihr emporgelodert, sobald sie die Hoffnung, eines Tages Mrs. Weir von Hermiston zu werden, auch nur erwähnen hörte, eine Hoffnung, die ihre Liebe und Eitelkeit aufs tiefste berührte; doch ebenso eilig hatte sie aus seinen stotternden, gequälten Äußerungen das Todesurteil für all diese Aussichten herausgelesen. Und treu und unerschütterlich in ihrem großherzigen Wahn war sie ihren Weg gegangen, ohne jede Rücksicht auf die Zukunft. Allein diese unvollkommenen Anspielungen, diese flüchtigen Momente, in denen sein Herz sprach und die seine Erinnerung und seine Vernunft gebieterisch zum Schweigen brachten, noch ehe er das eigentliche Wort gesagt, taten ihr unsagbar weh. Sie fühlte sich erhoben und sogleich wieder blutend zu Boden geschmettert. Jede Wiederkehr des Themas zwang sie, wenn auch auf noch so kurze Zeit, ihre Augen dem zu erschließen, was sie nicht zu sehen wünschte, und endete regelmäßig mit einer neuen Enttäuschung. So kam es, daß sie auch jetzt, bei der Andeutung des Kommenden, schon bei Nennung von seines Vaters Namen – wahrhaftig, fast schien es, als sei die furchtbare Gestalt in der Perücke mit dem ironischen und bitteren Lächeln, allgegenwärtig dem schuldigen Gewissen, ihrer Liebe hinaus in die Heide gefolgt – den Kopf in den Sand vergrub.

»Du hast mir noch nicht gesagt, wer mit dir redete«, forschte sie.

»Deine Tante, zum Beispiel!«

»Tante Kirstie?« rief sie. »Was frage ich schon nach Tante Kirstie!«

»Sie fragt sehr viel nach ihrer Nichte«, lautete Archies freundlich tadelnde Bemerkung.

»Wahrhaftig, das ist das erste, was ich davon höre«, erwiderte das Mädchen.

»Die Frage ist ja auch nicht, wer geredet hat, sondern was geredet wird und was die Leute bemerkt haben«, fuhr der ungemein logische Schulmeister fort. »Das ist’s, woran wir aus Selbsterhaltungstrieb denken müssen.«

»Tante Kirstie, wahrhaftig! Eine bittere, verschrobene alte Jungfer, die Unfrieden im Lande säte, noch ehe ich zur Welt kam, und es wahrscheinlich bis an ihr Lebensende so weitertreiben wird! Es liegt in ihrer Natur; es kommt ihr so natürlich wie den Schafen das Fressen.«

»Verzeihung, Kirstie, sie war nicht die einzige«, warf Archie ein. »Ich bin zweimal gewarnt, zweimal ermahnt worden gestern abend, beidemal in der freundschaftlichsten und rücksichtsvollsten Weise. Wärest du dabeigewesen, ich schwöre dir, du hättest geweint, liebes Kind! Und das hat mir die Augen geöffnet. Ich erkannte, daß wir einen falschen Weg gegangen sind.«

»Und wer war der andere?« forschte Kirstie.

Jetzt befand sich Archie im Zustand eines gehetzten Tieres. Er war hergekommen, gewappnet mit einem festen Entschluß; es galt, für sie beide in wenigen kalten, überzeugenden Sätzen Verhaltensmaßregeln festzulegen; jetzt war er schon eine ganze Weile hier, und immer noch stolperte er an den Außenwerken der Festung herum, während man ihn, das fühlte er, gleichzeitig einem scharfen Kreuzverhör unterzog.

»Mr. Frank!« rief sie. »Wer sonst noch, möchte ich wissen?«

»Er sprach ungemein freundlich und zutreffend.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Ich werde es dir nicht wiederholen; das geht dich nichts an«, rief Archie, erschreckt, daß er bereits so viel zugegeben.

»So, das geht mich nichts an«, wiederholte sie, aufspringend. »Jedem in Hermiston steht es also frei, seine Ansichten über mich zu äußern, aber mich geht es nichts an. War es vielleicht gar bei der Hausandacht? Habt Ihr auch noch den Verwalter zu Rate gezogen? Kein Wunder, daß sie alle reden, wenn man sie alle ins Vertrauen zieht! Aber, wie Sie soeben bemerkten, Mr. Weir – ohne Zweifel sehr rücksichtsvoll, sehr treffend bemerkten –, mich geht es ja nichts an. Ich glaube, es ist wohl Zeit, daß ich gehe. Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Abend zu wünschen, Mr. Weir.« Und sie machte ihm, bebend von Kopf bis Fuß vor nacktem, heillosem Zorn, eine majestätische Verbeugung.

Der arme Archie stand sprachlos. Sie hatte sich bereits einige Schritte entfernt, bevor er die Sprache zurückgewann.

»Kirstie!« rief er. »O Kirstie, Kind!«

Ein Flehen lag in seiner Stimme und unverhohlenes Erstaunen, welches deutlich zeigte, daß der Schulmeister verschwunden war.

Sie wandte sich gegen ihn. »Was haben Sie mich Kirstie zu nennen? Was haben Sie überhaupt mit mir zu schaffen? Gehen Sie zu Ihren Freunden, und schwatzen Sie denen die Ohren voll!«

Er konnte nur flehend wiederholen: »Kirstie!«

»Kirstie, in der Tat!« rief das Mädchen mit flammenden Augen und schneeweißem Gesicht. »Mein Name ist Fräulein Christina Elliott, gebe ich Ihnen zu verstehen, und ich verbiete Ihnen, mich irgendwie anders zu nennen. Kann ich nicht Liebe haben, so verlange ich wenigstens Respekt, Mr. Weir. Ich stamme von anständigen Leuten ab, und ich verlange Respekt. Was habe ich denn getan, daß Sie mich so leichtfertig behandeln? Was habe ich nur getan? Was habe ich getan? Oh, was habe ich überhaupt getan?« Ihre Stimme überschlug sich bei der dritten Wiederholung. »Ich glaubte – ich glaubte – ich glaubte, ich wäre so glücklich!« Das erste Schluchzen brach aus ihr hervor, krampfartig, gleich einer tödlichen Krankheit.

Archie lief auf sie zu. Er nahm das arme Kind in seine Arme, und sie schmiegte sich an seine Brust wie an die einer Mutter und packte ihn mit Händen, fest wie Schraubstöcke. Er fühlte, wie ihr ganzer Körper in verzweifeltem Schmerz kreiste, und Mitleid, stärker als Worte, erfaßte ihn: Mitleid und Furcht zugleich vor diesem explosiven Etwas, das er da in den Armen hielt, das er nicht verstand und in dessen Maschinerie er dennoch eingegriffen. Der Vorhang seiner Knabenzeit ward plötzlich vor ihm hochgezogen, und zum erstenmal erschaute er das rätselvolle Gesicht des Weibes in seiner wahren Gestalt. Vergebens überdachte er ihre Unterredung; er wußte nicht, worin er gefehlt. Das Ganze schien schuldlos über ihn hereingebrochen – eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur –.

2


Vater und Sohn

Mylord, der Oberrichter, war vielen bekannt, der Mensch, Adam Weir, wohl niemandem. Der hatte nichts zu zeigen oder zu verbergen; der war restlos und schweigend sich selbst genug; und jener Teil unserer Natur, welcher (nur allzuoft mit falscher Münze) Ruhm und Liebe zu erwerben sucht, war bei ihm anscheinend vergessen worden. Er strebte nicht nach Liebe, er fragte nicht danach, ja höchstwahrscheinlich war ihm nicht einmal der Gedanke an sie je gekommen. Er war ein vielbewunderter Jurist, ein äußerst unbeliebter Richter und sah herab auf alle, die in diesen beiden Eigenschaften, sei es als weniger scharfsinnige Juristen oder als minder verhaßte Richter, unter ihm standen. Sonst war in all seinem Leben und Wirken keine Spur von Eitelkeit; er durchmaß das Dasein fast wie ein Nachtwandler, mit einem mechanischen Rhythmus, der an das Erhabene grenzte.

Seinen Sohn sah er nur selten. Wenn die üblichen Kinderkrankheiten den Jungen heimsuchten, pflegte er sich täglich nach ihm zu erkundigen und ihm täglich einen Besuch abzustatten, wobei er das Krankenzimmer mit einem fürchterlichen, humoristisch sein wollenden Ausdruck betrat, pflichtgemäß ein paar Scherze vom Stapel ließ und sich zu des Patienten Erleichterung sehr bald wieder entfernte. Einmal, als die Gerichtsferien in einen gelegenen Moment fielen, ließ Mylord seinen Wagen vorfahren und brachte das Kind persönlich nach Hermiston, dem gewöhnlichen Erholungsort. Es ist anzunehmen, daß er sich in diesem Falle ganz besonders um Archie sorgte, denn jene Reise stand einzig da in des Jungen Gedächtnis, da der Vater ihm von Anfang bis zu Ende und mit allen Einzelheiten drei authentische Mordfälle auseinandersetzte. Archie durchlief den üblichen Bildungsgang der Edinburger Jugend: das Gymnasium und die Universität, und Hermiston sah ihm von ferne zu, oder richtiger blickte hinweg, ohne auch nur ein schwaches Interesse für seine Fortschritte zu heucheln. Täglich nach dem Diner wurde Archie auf ein Zeichen zu ihm hereingeführt, erhielt eine Handvoll Nüsse und ein Glas Portwein und wurde einer sardonischen Musterung sowie einem sarkastischen Verhör unterzogen. »Nun, junger Mann, was haben wir heute gelernt?« lautete Mylords gewöhnliche Begrüßung, und zugleich ging er dazu über, ihm auf Juristenlatein allerlei Fragen zu stellen. Für ein Kind, das sich gerade durch seinen Corderius durchackerte, erwiesen Papinian und Paul sich als unüberwindlich. Aber Papa hatte alles andere selbst verlernt. Er war nicht etwa hart gegen den angehenden kleinen Gelehrten, da er sich vom Richterstuhl her einen unermeßlichen Vorrat an Geduld angeeignet hatte, aber ebensowenig gab er sich Mühe, seine Enttäuschung auszudrücken oder zu verbergen. »Na, du hast ja noch eine nette Strecke Wegs vor dir!« – so ungefähr lautete sein Kommentar, und in zwei Fällen von vier versank er sogleich von neuem in seine Gedanken, bis die Stunde des Schlafengehens schlug und er Karaffe und Glas ergriff und sich in sein Hinterzimmer mit dem Blick über die Meadows zurückzog, um dort noch bis tief in die Nacht hinein seine Akten zu bearbeiten. Im ganzen Richterkollegium gab es keinen beschlageneren Menschen; sein Gedächtnis war schier wunderbar, obwohl lediglich auf juristische Dinge beschränkt; galt es extempore zu arbeiten, so kam ihm keiner gleich, und doch war niemand so sorgfältig vorbereitet wie er. Wenn er so die Nächte durchwachte oder bei Tisch die Gegenwart seines Sohnes vergaß, schöpfte er ohne Zweifel tief aus verborgenen Genüssen. Gleich ihm sich völlig einer einzigen intellektuellen Übung hingeben bedeutet den sicheren Erfolg im Leben; und vielleicht vermögen nur die Jurisprudenz und die höhere Mathematik ohne Reaktion eine derartige Hingabe zu erzeugen und ohne Erregungen so unerschöpflichen Lohn zu spenden. Diese Atmosphäre gediegensten Fleißes war der beste Teil von Archies Erziehung. Sicherlich bot sie ihm nicht die leisesten Reize; sicherlich stieß sie ihn eher ab und bedrückte ihn. Und doch war sie allgegenwärtig, unauffällig wie das Ticken einer Uhr, ein dürres Ideal, ein unschmackhafter Stimulans in des Knaben Leben.

Aber Hermiston war nicht völlig aus einem Holze. Er war auch ein gewaltiger Zecher, der bis zum Morgengrauen beim Wein zu sitzen vermochte und sich dann direkt von der Tafel weg mit fester Hand und klarem Kopf auf den Richterstuhl begab. Nach der dritten Flasche verkündete er in immer größer werdenden Lettern den Plebejer; der breite, gewöhnliche Akzent wurde breiter, der gemeine, schmutzige Humor noch gröber; er wirkte jetzt weniger schreckenerregend, aber unendlich viel abstoßender. Nun hatte aber der Junge von Johanna Rutherford ein mimosenhaftes Zartgefühl geerbt, das sich nur schlecht mit einer Anlage zum Jähzorn paarte. Auf dem Spielplatz unter seinen Altersgenossen vergalt er einen gemeinen Ausdruck mit einem Hieb, an seines Vaters Tisch (als die Zeit kam, da er an dessen Gelagen teilnehmen mußte) erbleichte er und versank in angeekeltes Schweigen. Von allen Gästen, die er dort traf, vertrug er nur einen einzigen: David Keith Carnegie, Lord Glenalmond. Lord Glenalmond war hochgewachsen und hager mit schlanken, zarten Händen; man hatte ihn häufig mit Forbes Statue von Cullodon im Parlamentshaus verglichen, und seine blauen Augen hatten, selbst über die Sechzig hinaus, sich noch etwas von dem Feuer der Jugend bewahrt. Der vollendete Gegensatz, den er zu den anderen Gästen bot, seine Erscheinung, die der eines Künstlers und Aristokraten glich, welcher unversehens in rüde Gesellschaft geraten ist, fesselten des Knaben Aufmerksamkeit; und da Neugier und Interesse diejenigen Dinge sind, die auf dieser Welt den raschesten und sichersten Lohn ernten, fühlte sich Lord Glenalmond auch seinerseits von dem Knaben angezogen.

»Das ist also Ihr Sohn, Hermiston?« fragte er und legte seine Hand auf Archies Schulter. »Er wird mal ein großer Junge werden!«

»Pah!« sagte der gnädige Vater. »Ganz seiner Mutter Ebenbild – wagt nicht, buh zu ’ner Gans zu sagen!«

Aber der Fremde hielt den Jungen fest, verwickelte ihn in ein Gespräch über sich selber und entdeckte in ihm einen Geschmack an Büchern sowie eine reine, begeisterungsfähige, bescheidene jugendliche Seele. Er lud ihn ein, ihn an Sonntagabenden in seinem kahlen, kalten, einsamen Eßzimmer zu besuchen, wo er selbst in der Verlassenheit eines alten, in vornehmer Zurückgezogenheit ergrauten Junggesellen über seinen Büchern saß. Die schöne Sanftmut und Anmut des alten Richters, die Zartheit seiner Person, Gedanken und Sprache redeten unmittelbar in seiner eigenen Zunge zu Archies Herzen. In ihm wuchs der Ehrgeiz, ein ebensolcher Mann zu werden; und als der Tag erschien, da er sich einen Beruf wählen mußte, geschah es in Nacheiferung Lord Glenalmonds und nicht Lord Hermistons, daß er sich für die Jurisprudenz entschied. Hermiston begegnete dieser Freundschaft mit geheimem Stolz, öffentlich jedoch mit der Unduldsamkeit der Verachtung. Nur selten ließ er sich eine Gelegenheit entgehen, das Paar durch groben Spott zu ducken; und das war, um die Wahrheit zu sagen, nicht schwer, denn beide waren nicht schlagfertig. Er hatte ein verächtliches Wort für die ganze Horde von Poeten, Malern, Musikanten und deren Bewunderer: die Bastardrasse der Amateure. Es gab ein Wort, das er wieder und wieder gebrauchte. »Signor Fiedeldumdei«, pflegte er zu sagen. »Um Gottes willen, nichts mehr von dem Signor!«

»Sie und mein Vater sind sehr befreundet, nicht wahr?« fragte Archie einmal.

»Es gibt niemanden, den ich höher achte«, entgegnete Lord Glenalmond. »Er hat zwei unschätzbare Eigenschaften. Er ist ein großer Jurist, und er ist so aufrecht wie der Tag.«

»Sie und er sind so verschieden«, sagte der Junge, und sein Blick ruhte in dem seines alten Freundes wie der eines Liebhabers in den Augen seiner Herrin. »In der Tat«, erwiderte der Richter, »sehr verschieden. Und ich fürchte, du und er seid es auch. Und doch würde es mir sehr mißfallen, wenn mein junger Freund seinen Vater falsch beurteilte. Er besitzt alle Tugenden eines Römers: Cato und Brutus waren Männer seines Schlages; ich meine, ein Sohn müßte stolz sein, von solch einem Manne abzustammen.«

»Und ich wollte, er wäre ein einfacher Bauer!« rief Archie mit plötzlicher Bitterkeit.

»Das ist weder sehr klug noch, glaube ich, ganz ehrlich«, antwortete Glenalmond. »Wenn du es dir recht überlegst, wirst du finden, daß einige dieser Ausdrücke dir wie Reue in der Kehle aufsteigen werden. Sie sind rein literarisch und dekorativ; sie drücken nicht deine wahren Gedanken aus; auch hast du diese Gedanken selbst nicht klar erfaßt. Zweifellos würde dein Vater (wäre er jetzt hier) ›Signor Fiedeldumdei!‹ rufen.«

Mit dem unendlich feinen Takt der Jugend mied Archie von jener Stunde an das Thema. Das war vielleicht schade. Hätte er nur gesprochen – sich frei ausgesprochen – sich selbst in einen Strom von Worten aufgelöst (wie es die Jugend liebt und das ihr gutes Recht ist) – es hätte vielleicht nie eine Geschichte derer von Hermiston zu schreiben gegeben. Jedoch bereits der Schatten einer Drohung von Lächerlichkeit genügte; aus der milden Schärfe jener Worte las er ein Verbot, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Glenalmond es auch als solches beabsichtigt hatte.

Diesen Greis ausgenommen, besaß der Junge keinen Vertrauten oder Freund. Ernst und feurig legte er den Weg durch Schule und Universität zurück und bewegte sich unter einer Schar von Gleichgültigen in dem unsichtbaren Panzer seiner Schüchternheit. Er wuchs heran, ein schöner Mensch, mit offenem, sprechendem Antlitz und anmutigem, jugendlichem Wesen; er war klug, errang sich Auszeichnungen, glänzte im »Speculative Club«. Von Rechts wegen hätte er den Mittelpunkt eines Freundeskreises bilden sollen; allein etwas, das teils seiner Mutter Feinfühligkeit, teils seines Vaters Strenge war, hielt ihn allen fern. Es ist eine Tatsache – und obendrein eine äußerst sonderbare –, daß Hermistons Sohn unter seinen Altersgenossen als ein echter Sproß vom alten Stamme galt. »Sie sind ein Freund Archie Weirs?« bemerkte einst jemand zu Frank Innes; und Innes antwortete mit seiner üblichen Frivolität und mit mehr als gewöhnlicher Einsicht: »Ich kenne Weir, aber mit Archie hatte ich noch nie das Vergnügen.« Niemand kannte Archie, eine Krankheit, die vornehmlich einzigen Söhnen eigen ist. Er segelte unter eigener Flagge, und keiner achtete darauf; es war, als sei er in eine Welt verpflanzt, wo selbst die Hoffnung auf Intimität verbannt war, und er blickte um sich: auf das Treiben seiner Kommilitonen und vorwärts in die Zukunft und sah nichts als banale Tage voll banaler Bekanntschaften, ohne Hoffnung und ohne Interesse.

Als die Zeit verstrich, fühlte sich der alte, zähe Sünder immer mehr zu dem Sohne seiner Lenden und dem einzigen Stammhalter des neubegründeten Geschlechts hingezogen, und das mit einer Weichheit des Gefühls, die er selbst kaum zu glauben vermochte und die auszudrücken er sich völlig außerstande sah. Mit einem Gesicht, einer Stimme und einem Wesen, in vierzig Jahren geschult, Schrecken und Widerwillen einzuflößen, wird Rhadamanth vielleicht groß, niemals jedoch liebenswürdig erscheinen. Daß er Archie zu gewinnen versuchte, ist eine Tatsache, jedoch nicht gering genug zu bewerten, so unauffällig war der Versuch, so stoisch wurde sein Scheitern ertragen. Eiserne Naturen wie die Hermistons dürfen kein Mitgefühl beanspruchen. War es ihm mißlungen, seines Sohnes Freundschaft, ja auch nur dessen Duldung zu erringen – nun, so mußte er seinen Weg aufwärts über die mächtige, öde Treppenflucht seiner Pflicht allein, ungestützt, aber auch unverzagt fortsetzen. Vielleicht hätte er seinen Beziehungen zu Archie ein wenig mehr Freude abgewinnen können, das sah er zu Momenten ein; aber Freude war in der seltsamen Chemie des Lebens lediglich ein Nebenprodukt, auf das nur Narren rechneten.

Schwieriger ist es, Archies Standpunkt verständlich zu machen, da wir inzwischen alle erwachsen sind und die Tage unserer Jugend vergessen haben. Er machte auch nicht den leisesten Versuch, diesen Mann zu verstehen, mit dem er beim Frühstück und beim Abendessen beisammensaß. Scheu vor Schmerz, Gier nach Genuß – das sind die beiden einander ablösenden Pole der Jugend; und Archie neigte mehr zu dem ersteren. Der Wind blies kalt aus der einen Richtung – er kehrte ihr den Rücken, blieb so wenig wie irgend möglich in seines Vaters Gesellschaft und wandte, wenn dort, den Blick, soweit der Anstand das erlaubte, von seines Vaters Gesicht. Viele Hunderte von Tagen spielte das Lampenlicht bei der Tafel über diesen beiden Gesichtern – Mylords, gerötet, finster, geringschätzig; Archies, voll potentiellen Lebens, das jedoch in dieser Gesellschaft stets gedämpft und wie unter einem Schleier erglänzte; vielleicht gab es in der ganzen Christenheit keine zwei Wesen, die einander so radikal fremd waren. Der Vater sprach entweder mit großartiger Einfachheit nur von dem, was ihn selbst interessierte, oder bewahrte ein ungekünsteltes Schweigen. Der Sohn zerbrach sich währenddessen den Kopf nach irgendeinem ganz sicheren Thema, das ihm erneute Beweise von Mylords eingeborener Grobschlächtigkeit oder restloser Inhumanität ersparen möchte. Dabei betrat er die Wege der Unterhaltung zimperlich gleich einer Dame, die auf einer Nebengasse ihre Röcke hochrafft. Machte er einen Mißgriff und floß Mylord über von verletzenden Reden, so straffte sich Archies Gestalt, seine Stirn verfinsterte sich, sein Anteil an dem Gespräch erstarb; Mylord dagegen fuhr getreulich und unbekümmert fort, vor seinem schweigenden und beleidigten Sohne sein schlimmstes Selbst zu entbreiten.

»Nun, der ist ein armer Teufel, der nicht auch einen guten Tag zu genießen versteht«, pflegte er am Schluß solch einer nachtmahrähnlichen Unterhaltung zu bemerken. »Aber ich muß jetzt wieder an meinen Pflug!« Und er zog sich, wie gewöhnlich, in sein Hinterzimmer zurück, während Archie zitternd vor Feindseligkeit und Verachtung in die Dunkelheit und auf die Straße hinausstürzte.

3


Betrifft das Hängen von Duncan Jopp

Eines Tages im Jahre 1813 verirrte sich Archie durch Zufall in den Kriminalgerichtshof. Der diensttuende Beamte schaffte dem Sohne des Vorsitzenden Platz. Dort vor den Schranken, im Mittelpunkt aller Augen, stand eine elende, gemeine Mißgeburt von einem Menschen, ein gewisser Duncan Jopp, im Kampf um seinen Kopf. Seine Geschichte, wie sie an diesem öffentlichen Ort mühsam aus ihm herausgepreßt wurde, bot ein Abbild der Schande, des Lasters und der Feigheit, kurz, des Verbrechens in seiner nacktesten Gestalt, und das Geschöpf dort lauschte ihr zeitweilig, als habe es sie begriffen – als vergäße es mitunter das Grauen seiner Umgebung und erinnere sich der Schmach, die es hierhergebracht. Sein Haupt war auf die Brust gesunken, seine Hände umklammerten zuckend die Schranken; die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und von Zeit zu Zeit warf er sie in den Nacken zurück; jetzt blickte er sich hastig voll abgründigen Entsetzens im Publikum um, jetzt betrachtete er das Antlitz des Richters und schluckte krampfhaft. Um seinen Hals hatte er einen Fetzen schmutzigen Flanells gebunden; das war es vielleicht, was das zwischen Ekel und Mitleid schwankende Zünglein der Waage in Archies Herzen zu seinen Gunsten sich neigen ließ. Das Wesen dort stand vor dem Sprung ins Nichts; noch eine kleine Weile, noch das pomphaft rohe Possenspiel des Endes, und es hatte zu leben aufgehört. Inzwischen aber pflegte es mit einem letzten menschlichen Zug, der den Zuschauer selbst an der Kehle packte, einen wehen Hals. Ihm gegenüber, in der roten Robe der Kriminaljustiz, saß Lord Hermiston, das Gesicht von einer weißen Perücke umrahmt. Ehrlich wie er war vom Scheitel bis zur Sohle, gab er sich nicht die Mühe, die Tugend der Unparteilichkeit zu heucheln. Der vorliegende Fall verlangte auch keine Feinfühligkeit; hier war ein Mann, der gehenkt werden mußte – so etwa würde Hermistons Auffassung gelautet haben –, und er war dabei, ihn zu henken. Auch konnte man seine Lordschaft unmöglich von einer gewissen Freude an seiner Aufgabe freisprechen. Es war klar, er schwelgte im Gebrauch seines geschulten Intellekts, in der klaren Einsicht, mit der er sofort die Lücken in dem Tatbestand entdeckte, in dem groben, unverhohlenen Spott, mit dem er die fadenscheinigen Vorwände der Verteidigung zerpflückte. Er hatte es sich bequem gemacht, er scherzte und benahm sich an diesem feierlichen Ort mit der Ungeniertheit der Schenke; und der Fetzen Menschheit mit dem Flanellappen um den Hals wurde unter Hohn- und Spottgelächter zum Galgen gejagt.

Duncan besaß eine Geliebte, eine kaum weniger jämmerliche Kreatur, wenn auch weit älter als er selbst, die jetzt knicksend und winselnd vortrat, um noch das Gewicht ihres Verrats hinzuzufügen. Mylord sprach ihr in seinen donnerndsten Tönen die Eidesformel vor und schloß mit einer schneidenden Ermahnung.

»Achte auf deine Worte, Janet. Ich hab‘ schon längst ein Auge auf dich gerichtet und lasse nicht mit mir spaßen.« Bald darauf hatte sie zitternd ihre Aussage begonnen. »Und wie kamst du dazu, so zu handeln, alte Urschel?« mischte sich der hohe Gerichtshof ein. »Willst du mir etwa sagen, daß du des Kerls Hure warst?« »Zu Befehl, Mylord«, wimmerte das Frauenzimmer. »Gott steh uns bei! Ihr macht ein sauberes Paar!« bemerkte seine Lordschaft, und in seiner Verachtung lag eine so wilde Drohung, daß nicht einmal die Galerie zu lachen wagte.

Die Schlußrede enthielt ein paar Leckerbissen.

»Diese zwei erbärmlichen Geschöpfe scheinen einander in die Hände gearbeitet zu haben – die nähere Erklärung kommt mir nicht zu.« – »Der Angeklagte ist (was immer er sonst sein mag) gleich abstoßend an Geist wie an Körper.« – »Weder der Angeklagte noch das alte Frauenzimmer scheinen auch nur so viel Verstand gehabt zu haben, im erforderlichen Moment zu lügen.« Und im Verlauf der Urteilssprechung bekannte sich Mylord zu folgendem obiter dictum: »Ich bin unter Gott das Werkzeug gewesen, bereits einen stattlichen Haufen Gesindels an den Galgen zu bringen, aber noch nie einen so gottverlassenen Lumpen wie Euch.« Die Worte waren an sich schon stark, allein die Schärfe und Wucht und Betonung, mit der sie gesprochen wurden, und die barbarische Freude, die der Redner an seiner Aufgabe hatte, bewirkten, daß sie allen noch lang in den Ohren klangen.

Als alles vorüber war, trat Archie hinaus in eine veränderte Welt. Hätte das Verbrechen auch nur einen Schatten versöhnender Größe gezeigt, etwas Dunkles, Geheimnisvolles, er hätte vielleicht verstanden. Aber der Delinquent stand dort in seinem Todesschweiß, ohne Abwehr, ohne Entschuldigung, mit einem wehen Hals, ein Etwas, das Scham einen jeden zu verhüllen zwang: ein Wesen, so weit unter der Grenze der Sympathie und des Mitleids, daß es fast harmlos anmutete. Und der Richter hatte es mit monströser, mit genießerischer Heiterkeit, ein Bild aus einem Albtraum, über alle Maßen furchtbar, in den Tod gehetzt. Einen Tiger erlegen ist ein ander Ding als eine Kröte zertreten; selbst das Schlachthaus besitzt seine Ästhetik; und das Abstoßende, das Archie bei Duncan Jopps Anblick empfand, hatte auf seinen Richter übergegriffen und verpestete dessen Bild.

Unter wirren Reden und Gesten schritt Archie auf der Hauptstraße an seinen Freunden vorüber. Wie im Traum erblickte er Holyrood, Erinnerung an dessen romantische Geschichte erwachte und verblaßte wieder, visionär sah er die alten, strahlenden Gestalten: Maria Stuart, Prinz Charlie, den gekrönten Hirsch, den Glanz und die Verbrechen, Samt und funkelnden Stahl der Vergangenheit. Er verscheuchte das alles mit einem schmerzlichen Aufschrei. Jetzt lag er stöhnend auf der feuchten Erde von Hunters Bog, und die Himmel über ihm waren verdunkelt und die Gräser auf dem Felde ein Greuel in seinen Augen. »Das ist nun mein Vater«, dachte er. »Von ihm habe ich das Leben empfangen; das Fleisch auf meinen Knochen ist sein Fleisch, das Brot, das ich esse, ist der Lohn dieser Scheußlichkeiten.« Er gedachte seiner Mutter und trommelte mit der Stirn gegen den Boden. Er dachte an Flucht und an ein neues Leben. Wohin sollte er wohl fliehen? Und gab es überhaupt ein Leben, des Lebens wert, in dieser Höhle blutrünstiger, schadenfroher Tiere?

Die Zeit bis zur Hinrichtung verging ihm wie ein quälender Traum. Er kam mit seinem Vater zusammen, allein er konnte ihn nicht ansehen, er brachte es nicht über sich, mit ihm zu sprechen. Man hätte glauben können, jedes lebende Wesen müsse unverzüglich diese schwelende Feindschaft empfinden, aber des Lord Oberrichters Fell blieb unverletzt. Wäre Mylord zum Sprechen aufgelegt gewesen, der Waffenstillstand hätte niemals dauern können; aber zum Glück befand er sich gerade in einer seiner Launen sauertöpfischen Schweigens, und so nährte Archie die Begeisterungsflamme der Rebellion unter den Breitseiten des Feindes selbst. Ihn dünkte es von der Höhe seiner neunzehnjährigen Erfahrung herab, als sei er von Geburt aus dazu bestimmt, Träger irgendeiner großen Tat zu werden, die am Boden liegende Barmherzigkeit neu aufzurichten und den Teufel samt Hörnern und Klauen, der ihren Thron usurpiert, zu stürzen. Verführerische, jakobitische Trugschlüsse, die er im Speculative Club häufig widerlegt, tauchten vor seinem geistigen Auge auf und erschreckten ihn mit ihren Stimmen; und es war ihm, als wandle er in Begleitung einer fast greifbaren Gegenwart neuer Grundsätze und Pflichten einher.

An dem betreffenden Morgen begab er sich an den Ort der Hinrichtung. Er sah den grinsenden Pöbel, sah die Vorführung des zitternden Verbrechers. Eine Weile war er Zeuge einer Art parodistischer Andachtsübung, die dem bejammernswerten Geschöpf noch seinen letzten Anspruch auf Menschentum zu rauben schien. Dann folgte der brutale Akt der Vernichtung und das armselige Zappeln der Überreste gleich denen eines zerbrochenen Hampelmannes. Er war auf etwas Furchtbares gefaßt gewesen, nicht auf dieses Schauspiel tragischer Gemeinheit. Einen Augenblick verharrte er in seinem Schweigen, dann brüllte er: »Ich verdamme dies als einen gotteswidrigen Mord!«, und sein Vater, der zwar den Inhalt jenes Ausrufs zurückgewiesen haben würde, hätte doch die Stentorstimme, mit der dieser vorgebracht wurde, schwerlich verleugnen können.

Frank Innes schleppte ihn mit Gewalt hinweg. Die beiden hübschen jungen Burschen folgten demselben Studium und den gleichen Vergnügungen und fühlten sich, hauptsächlich durch ihr gutes Aussehen, zueinander hingezogen. Dieses Gefühl ging jedoch niemals tief; Frank war von Natur ein schmächtiges, zynisches Geschöpf, weder fähig, Freundschaft zu empfinden noch einzuflößen, und die Beziehungen zwischen den beiden waren rein oberflächlich und wurzelten in gemeinsamen Kenntnissen sowie in den Annehmlichkeiten, die einem gemeinsamen Bekanntenkreise entspringen. Um so anerkennenswerter war es von Frank, daß er sich über Archies Ausbruch ehrlich entsetzte und zum mindesten den Vorsatz faßte, ihn tagsüber im Auge und, wenn möglich, unter seiner Zucht zu behalten. Aber Archie, der soeben Gott oder dem Satan – es war unklar, welchem von beiden – getrotzt hatte, wollte auf das Wort eines Studiengenossen nicht hören.

»Ich werde nicht mit Ihnen gehen«, sagte er. »Ich wünsche Ihre Begleitung nicht, Herr; ich will allein sein.«

»Weir, Mensch, machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Innes und hielt ihn hartnäckig am Ärmel fest. »Ich lasse Sie nicht fort, bis ich nicht weiß, was Sie vorhaben; es hat gar keinen Zweck, derart mit dem Stocke herumzufuchteln.« Im Augenblick hatte Archie tatsächlich eine rasche, vielleicht sogar kampflustige Bewegung gemacht. »Das hier war kompletter Wahnsinn; Sie wissen es selber ganz genau. Sie wissen genau, daß ich jetzt lediglich den barmherzigen Samariter spiele. Ich will ja nichts weiter, als daß Sie sich beruhigen.«

»Wenn das alles ist, Mr. Innes«, entgegnete Archie, »und Sie mir versprechen, mich in Ruhe zu lassen, kann ich Ihnen das eine verraten: Es ist meine Absicht, aufs Land zu gehen und die Schönheiten der Natur zu bewundern.«

»Ehrenwort?« forschte Frank.

»Ich pflege nicht zu lügen, Mr. Innes«, lautete Archies Erwiderung. »Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Tag zu wünschen.«

»Sie werden doch nicht vergessen, in den Speculative Club zu kommen?«

»Den Speculative Club? O nein, ich werde es nicht vergessen.«

Und der junge Mann trug seinen gefolterten Geist hinaus aus der Stadt wegauf, wegab, einen ganzen Tag lang, auf eine endlose Pilgerfahrt der Qual, während der andere sich lächelnd beeilte, die Nachricht von Weirs Wahnsinnsanfall zu verbreiten und auf den Abend hin den ganzen Speculative Club zusammenzutrommeln mit der Mitteilung, daß weitere exzentrische Entwicklungen mit Gewißheit zu erwarten ständen. Es ist zu bezweifeln, ob Innes selbst ernstlich an seine Voraussage glaubte; wahrscheinlich entsprang diese vor allem dem Wunsche, eine gute Geschichte auszuschmücken und den Skandal so groß wie möglich zu machen, und das nicht etwa aus bösem Willen gegen Archie, sondern lediglich, um den Kreis gespannter Gesichter zu sehen. Trotzdem waren seine Worte prophetisch. Archie vergaß den Club nicht; er war pünktlich zur Stelle und hatte vor Ablauf des Abends seinen Kameraden einen denkwürdigen Schock versetzt. Zufällig führte er an jenem Abend den Vorsitz. Er saß in dem nämlichen Zimmer, in dem auch heute noch der Club tagt – nur waren die jetzigen Porträts noch nicht vorhanden: die Männer, die für sie saßen, standen damals noch an den Anfängen ihrer Laufbahn. Aber die nämliche Lichtflut zahlreicher Kerzen umspielte die Versammlung; ja, vielleicht saß Archie in dem gleichen Sessel, auf dem seither so viele von uns gesessen. Zeitweilig schien er die Geschäfte des Abends ganz zu vergessen; aber auch in diesen Momenten zeigte sein Ausdruck trotzige Energie und Entschlossenheit. Dann wieder griff er bitter und unberufen in die Debatten ein und erhob mit herausfordernder Miene Geldbußen, welche die kostbare und selten benutzte Artillerie des Vorsitzenden bilden. Schwerlich ahnte er, wie sehr er dabei seinem Vater glich und daß seine Freunde darüber kichernd ihre Bemerkungen machten. Bislang schien er dort auf seinem erhöhten Sitze über die Möglichkeit eines Skandals erhaben; aber er hatte seinen Beschluß gefaßt – er war fest entschlossen, sein Vergehen bis in dessen letzte Konsequenzen zu verfolgen. Durch ein Zeichen berief er Innes (den er soeben gestraft hatte und der gegen seine Art, den Vorsitz zu führen, protestierte) auf den Präsidentenstuhl, trat von dem Katheder herunter und nahm seinen Platz neben dem Kamin ein, wo der Glanz vieler Wachskerzen sein bleiches Gesicht erhellte und die rote Glut des Feuers die Umrisse seiner schlanken Gestalt klar abzeichnete. Als Amendment zu dem nächsten auf der Liste stehenden Gegenstande hatte er Folgendes vorzuschlagen: »Ist die Todesstrafe mit Gottes allmächtigem Willen und menschlicher Politik vereinbar?«

Ein Hauch von Verlegenheit, ein Schauer des Erschreckens wehte durch den Raum, so tollkühn erschienen diese Worte auf den Lippen von Hermistons einzigem Sohne. Allein der Vorschlag gewann keine weiteren Stimmen; der vorhergehende Antrag wurde prompt eingebracht und einstimmig angenommen, und der momentane Skandal stahl sich zur Hintertür hinaus. Innes brüstete sich mit der Erfüllung seiner Prophezeiung. Er und Archie waren jetzt die Helden des Abends geworden; während sich jedoch Innes nach Schluß der Versammlung von allen umdrängt sah, trat nur ein einziger von seinen Gefährten an Archie heran.

»Mensch, Weir, das war aber ein kolossal merkwürdiger Angriff von Ihnen!« bemerkte dieses tapfere Mitglied und nahm im Hinausgehen vertraulich Archies Arm.

»Ich glaube, es war gar kein Angriff«, meinte Archie grimmig. »Eher Krieg bis aufs Messer. Ich war heute morgen dabei, als der arme Teufel gehenkt wurde, und mir steigt jetzt noch der Ekel hoch.«

»Pah, pah«, entgegnete sein Gefährte und ließ, als hätte er heißes Eisen berührt, den Arm fallen, um die weniger heikle Gesellschaft anderer aufzusuchen. Archie sah sich allein. Der letzte der Getreuen – oder war es nur der kühnste der Neugierigen – war geflohen. Er sah die gedrängte Schar seiner Mitstudenten sich in flüsternde oder lärmende Gruppen auflösen und in der Dunkelheit nach verschiedenen Richtungen auseinandergehen, und seine momentane Verlassenheit lastete auf ihm wie ein Omen und Symbol seines Schicksals im Leben. Erzogen wie er war, in ständiger Furcht, inmitten zitternder Dienstboten, in einem Hause, das bereits bei der leisesten Verschärfung von des Herrn Stimme in schauderndes Schweigen versank, sah er sich jetzt am Rande des blutroten Tals des Krieges und maß dessen Länge und Gefahr mit eingeschüchtertem Blick. Er machte durch Licht und Dunkel der Straßen einen Umweg, betrat die Gasse hinter den Ställen und beobachtete lange Zeit das ruhig brennende Licht in des Lord Oberrichters Zimmer. Je länger er den erleuchteten Vorhang ansah, um so verschwommener wurde das Bild des Mannes dahinter, der dort unermüdlich Blatt um Blatt seiner Prozeßakten wendete und nur von Zeit zu Zeit innehielt, um an einem Glase Portwein zu nippen oder sich schwerfällig zu erheben und vor den mit Büchern bekleideten Wänden in irgendeinem Nachschlagewerk zu kramen. Niemals vermochte Archie den brutalen Richter mit diesem fleißigen, leidenschaftslosen Arbeiter in Einklang zu bringen; ihm fehlte das verbindende Glied; unmöglich konnte man von einer derartigen Doppelnatur voraussagen, wie sie sich verhalten würde, und er fragte sich, ob er recht daran getan, sich in eine Sache einzulassen, deren Ende nicht abzusehen war. Und gleich darauf folgte mit einem schwindelerregenden Gefühl wankenden Vertrauens die Frage, ob er nicht verräterisch gehandelt hätte, seinen Vater zu schlagen. Denn er hatte ihn geschlagen – zweimal vor einer Schar Zeugen hatte er ihn herausgefordert – vor einem Haufen Pöbels ihm einen Schlag versetzt. Wer hatte ihn selbst in diesen delikaten und schwierigen Fragen zum Richter über seinen Vater erhoben? Er hatte dessen Amt usurpiert. Einem Fremden wäre das vielleicht zugekommen; von einem Sohne jedoch – es ließ sich nicht bemänteln – bedeutete es Verrat. Jetzt schwebte zwischen diesen beiden so antipathischen, einander so verhaßten Naturen jene nie zu sühnende Beleidigung! Gott in seiner Voraussicht allein mochte wissen, wie Lord Hermiston sie rächen würde. Diese Zweifel quälten Archie die ganze Nacht und erhoben sich an jenem Wintermorgen mit ihm vom Lager. Sie folgten ihm von Vorlesung zu Vorlesung, machten ihn schreckhaft empfindlich gegenüber jeder Nuance in dem Betragen seiner Kollegen und klangen ihm in der eintönigen Stimme des Professors entgegen; ja er brachte sie am Abend unvermindert, eher noch gesteigert, nach Hause zurück. Die Ursache dieser Steigerung lag in einer zufälligen Begegnung mit dem berühmten Dr. Gregory. Archie hatte, ohne zu sehen, in das erleuchtete Schaufenster einer Buchhandlung gestarrt, bemüht, sich gegen den bevorstehenden Kampf zu stählen. Mylord und er waren am Morgen zusammengekommen und hatten sich getrennt wie alle Tage, mit kaum einem Austausch der üblichen Höflichkeiten; es war dem Sohne klar, daß der Vater bisher nichts erfahren hatte. Ja, als er sich jetzt Mylords furchterregendes Antlitz ins Gedächtnis rief, erwachte in ihm die schwache Hoffnung, daß vielleicht niemand den Mut finden würde, ihm die Geschichte zu hinterbringen. Er fragte sich, ob er in diesem Fall wohl fortfahren würde, und fand keine Antwort. Das war der Augenblick, in dem eine Hand sich auf seinen Arm legte und eine Stimme dicht vor seinem Ohr sagte: »Mein lieber Mr. Archie, ich glaube, Sie täten gut daran, mich einmal aufzusuchen.«

Erschreckt fuhr er herum und sah sich Angesicht zu Angesicht mit Dr. Gregory. »Weshalb sollte ich Sie besuchen?« fragte er mit dem Trotz der Verzweiflung.

»Weil Sie schwerkrank aussehen«, sagte der Arzt. »Sie brauchen offenbar ärztlichen Rat, mein junger Freund. Tüchtige Leute sind rar, wie Sie wissen; und nicht jeder würde im Leben eine solche Lücke zurücklassen. Hermiston vermißt nicht so leicht einen Menschen.«

Mit einem Kopfnicken und einem Lächeln setzte der Arzt seinen Weg fort.

In der nächsten Sekunde war Archie ihm nachgesprungen und packte jetzt seinerseits ungestüm des anderen Arm.

»Was soll das heißen? Was wollen Sie damit sagen? Was veranlaßt Sie zu dem Glauben, daß Hermis – daß mein Vater mich vermissen würde?«

Der Arzt drehte sich um und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß mit klinisch geschultem Auge. Auch ein weit dümmerer Mensch als Dr. Gregory hätte die Wahrheit erraten können, aber neunundneunzig von hundert würden selbst mit gleich gutem Willen wie er durch irgendeine wohlmeinende Übertreibung alles verdorben haben. Der Arzt wußte es besser. Er kannte den Vater genau; aus diesem bleichen, intelligenten, gequälten Gesicht sprach ein gut Teil von des Sohnes Wesen, und er berichtete die schlichte Wahrheit ohne Milderung oder Ausschmückung.

»Als Sie die Masern hatten, Mr. Archibald, erkrankten Sie sehr schwer, und ich dachte, Sie würden mir noch durch die Finger gehen. Nun, Ihr Vater war sehr besorgt um Sie. Sie werden mich fragen, woher ich das weiß. Einfach weil ich ein geschulter Beobachter bin. Das Zeichen, das ich ihn geben sah, wäre Zehntausenden entgangen; und doch hat er sich vielleicht – ich sage vielleicht, weil er ein Mann ist, den man nur schwer beurteilen kann – nie wieder verraten. Eine seltsame Sache das, nicht wahr? Es war so. Ich ging eines Tages zu ihm. ›Hermiston‹, sagte ich, ›es ist eine Wendung eingetreten.‹ Er sagte kein Wort, sondern funkelte mich nur so an (Sie werden den Ausdruck entschuldigen) wie ein wildes Tier. ›Eine Wendung zum Guten‹, sagte ich. Und dann hörte ich ganz deutlich, wie er aufatmete.«

Der Arzt wartete nicht erst eine Antiklimax ab. Mit einer Neigung seines Dreispitzes (ein altmodisches Stück, an dem er getreulich festhielt) und der vielsagenden Wiederholung »Ganz deutlich« verabschiedete er sich und ließ Archie sprachlos auf der Straße zurück.

Die Anekdote mochte unendlich belanglos sein, für Archie besaß sie einen unermeßlich tiefen Sinn. »Ich ahnte ja nicht, daß der Alte so viel Blut in sich hätte.« Niemals hatte er sich träumen lassen, daß sein Vater, dieses wahre Urbild eines »alten Römers«, dieser Adam aus Granit, ein Herz besäße, das überhaupt für irgendeinen anderen Menschen zu schlagen vermöchte; und dieser andere, er selbst, hatte ihn beleidigt! Mit der ganzen Großmut der Jugend schlug sich Archie sogleich auf die entgegengesetzte Seite, hatte sich im Augenblick ein völlig neues Bild von Lord Hermiston geschaffen: das eines Mannes, der nach außen hin Eisen, im Innern aber ganz Gefühl ist. Der Liebhaber niedriger Späße, der Jäger, der Duncan Jopp mit unmännlichen Beleidigungen in den Tod gehetzt, das ungeliebte Antlitz, das er so lange gekannt und gefürchtet hatte, alles war vergessen. Stürmisch eilte er nach Hause, voller Ungeduld, seine Missetaten zu beichten und sich völlig dieser imaginären Persönlichkeit auszuliefern.

Das rauhe Erwachen kam bald. Es dämmerte bereits, als er sich dem Hause näherte, in welchem schon die Lichter brannten, und er sah seinen Vater aus der anderen Richtung auf sich zukommen. Es war ziemlich dunkel, jedoch durch die offene Haustür strömte starkes, helles Lampenlicht über die Schwelle auf Archies Gestalt, während er in altmodischer, respektvoller Haltung wartete, um seinem Vater den Vortritt zu lassen. Der Richter kam ohne jede Hast mit würdevollem, festem Schritt, das Haupt hoch erhoben, das Gesicht (als er in den Lichtkreis trat) ebenfalls voll beleuchtet, die Lippen unerbittlich zusammengepreßt. Nicht der Schatten einer Veränderung huschte über dieses Gesicht; ohne nach rechts oder links zu blicken, ging er hart an Archie vorüber und betrat das Haus. Der Jüngling hatte bei seinem Nahen eine instinktive Bewegung zu seinem Willkomm gemacht; instinktiv wich er jetzt gegen das Geländer zurück, als der alte Mann in großartiger Empörung an ihm vorbeifegte. Worte waren überflüssig; er wußte alles, vielleicht sogar mehr als das – die Stunde des Gerichts war da. Es ist möglich, daß Archie nach diesem völligen Rückschlag all seiner Hoffnungen und angesichts jener Symptome drohender Gefahr versucht war, die Flucht zu ergreifen. Aber nicht einmal das blieb ihm übrig. Nach Ablegen von Mantel und Hut drehte sich Mylord in dem erleuchteten Vorraum um und machte ihm mit dem Daumen eine einzige, gebieterische Geste, und mit dem seltsamen Instinkt des Gehorsams folgte ihm Archie ins Haus.

Bei Tisch herrschte schweres, drückendes Schweigen, und als der letzte Gang serviert war, stand der Richter auf.

»M’Killup, bring den Wein in mein Zimmer«, befahl er, und zu seinem Sohn gewendet: »Archie, du und ich haben miteinander zu reden.«

In diesem elenden Moment war es, daß Archies Mut ihn das erste- und letztemal im Stich ließ. »Ich habe eine Verabredung«, erklärte er.

»So wirst du sie brechen müssen«, entgegnete Hermiston und schritt voran in sein Arbeitszimmer.

Die Lampe war abgeblendet, das Feuer vollendet sauber geschichtet, der Tisch dicht mit wohlgeordneten Dokumenten bedeckt; die Rücken der Bücher bildeten einen einheitlichen Rahmen, nur von dem Fenster und den Türen durchbrochen.

Einen Augenblick wärmte sich Hermiston die Hände am Feuer und kehrte Archie den Rücken zu; dann drehte er sich plötzlich um und zeigte ihm alle Schrecken seines Henkergesichts.

»Was sind das für Dinge, die ich von dir hören muß?« forderte er.

Eine Antwort war Archie unmöglich.

»Also muß ich sie dir sagen«, fuhr Hermiston fort. »Es scheint, du hast deine Stimme gegen den Vater, der dich gezeugt, erhoben und gegen einen von seiner Majestät Richtern im Land; und das obendrein noch auf der Gasse, während ein Befehl des Gerichts ausgeführt wurde. Und damit nicht genug, scheinst du deine Ansichten noch in einem Debattierclub für Studenten zum besten gegeben zu haben«; er schwieg einen Augenblick und fügte dann mit überwältigender Bitterkeit hinzu: »Du verdammter Idiot!«

»Ich hatte die Absicht, es Ihnen zu erzählen«, stammelte Archie. »Ich sehe, Sie sind gut informiert.«

»Außerordentlich liebenswürdig«, meinte seine Lordschaft und ließ sich an seinem gewohnten Platze nieder. »Also du bist gegen die Todesstrafe?« fügte er hinzu.

»Zu meinem Bedauern, ja«, entgegnete Archie.

»Ich bedauere es ebenfalls«, meinte seine Lordschaft. »Und jetzt wollen wir, mit deiner Erlaubnis, die Angelegenheit ein wenig näher untersuchen. Ich höre, daß du bei der Hinrichtung von Duncan Jopp – Mann, einen sauberen Klienten hast du dir ausgesucht – inmitten des gesamten Pöbels dieser Stadt es für gut befunden hast, zu schreien: ›Dies ist ein verdammter Mord, und der Ekel steigt mir hoch vor dem Manne, der jenen Menschen henkte‹.«

»Nein, Vater, das waren meine Worte nicht«, rief Archie.

»Was waren deine Worte?« fragte der Richter.

»Ich glaube, ich sagte: Ich verurteile dies als einen Mord! Verzeihung – als einen gotteswidrigen Mord. Ich habe nicht den Wunsch, die Wahrheit zu verbergen«, fügte er hinzu und blickte einen Augenblick seinem Vater voll ins Gesicht.

»Du großer Gott, das wäre das einzige, was noch fehlte!« rief Hermiston. »Also davon, daß dir der Ekel hochstieg, war nicht die Rede?«

»Das war später, Mylord, als ich den Club verließ. Ich sagte, ich wäre dabeigewesen, als der elende Mensch gehenkt wurde, und mir wäre der Ekel hochgestiegen.«

»So, in der Tat«, sagte Hermiston. »Und ich nehme an, du wußtest, wer ihn gehenkt hat?«

»Ich habe der Verhandlung beigewohnt, das Ihnen zu sagen, bin ich verpflichtet; ich bin Ihnen auch noch eine Erklärung schuldig. Die Lage, in der ich mich befinde, ist eine äußerst unglückliche«, sagte der bejammernswerte Held, jetzt endlich Angesicht zu Angesicht mit der Sache, die zu verteidigen er sich erwählt hatte. »Ich habe einige Ihrer Prozesse nachgelesen. Ich war dabei, als Jopp verurteilt wurde. Es war eine abscheulich häßliche Geschichte. Vater, es war abscheulich! Zugegeben, daß er ein gemeines Geschöpf war, aber weshalb ihn dann noch mit einer Gemeinheit, würdig seiner eigenen, in den Tod hetzen? Es wurde mit Freuden getan – das ist das Wort –, Sie taten es mit Freuden; und ich sah – Gott helfe mir! – mit Abscheu zu.«

»Du bist ein junger Gentleman, der die Todesstrafe mißbilligt«, sagte Hermiston. »Nun, ich bin ein alter Mann und heiße sie gut. Ich freute mich, Jopp an den Galgen zu bringen, weshalb sollte ich dann heucheln, als freute ich mich nicht? Du bist, scheint’s, ganz für Ehrlichkeit; kannst ja nicht einmal draußen auf der Gasse den Mund halten. Weshalb sollte ich es da auf dem Richterstuhl tun, ich, des Königs Stellvertreter, mit seinem Schwerte belehnt, der Schrecken aller Übeltäter, wie ich es von Anbeginn war und bis an mein Ende sein werde? Mehr als genug hiervon! Keine zwei Gedanken hab‘ ich an die Häßlichkeit verschwendet, mir ist auch nicht eingefallen, sie schön zu nennen. Ich bin ein Mann, der seine Arbeit zu leisten hat, und damit gut.«

Im Weiterreden war jeder Anflug von Sarkasmus aus seiner Stimme gewichen; seine schlichten Worte schmückte etwas von der Würde des Richteramts.

»Es wäre gut für dich, wenn du das gleiche sagen könntest«, fuhr der Sprecher fort. »Aber du kannst es nicht. Du sagst, du hättest einige meiner Prozesse nachgelesen. Aber es geschah nicht des Rechtes wegen darin, es geschah, um deines Vaters Blöße auszukundschaften: eine edle Beschäftigung für einen Sohn! Du hast begonnen, auszuschlagen; du läufst zaumlos herum im Leben gleich verwildertem Vieh. Es ist ausgeschlossen, hinfürder noch an den Anwaltsberuf zu denken. Du taugst nicht dafür; kein Zügelloser taugt dazu. Und noch etwas anderes: Sohn oder nicht Sohn – du hast einen der Senatoren des Justizkollegiums öffentlich mit Schmutz beworfen, und ich ließe es meine Sorge sein, darauf zu achten, daß du nicht zugelassen würdest. Es gilt, einen gewissen Anstand zu wahren. Jetzt kommen wir zu dem nächsten Punkt – was soll ich mit dir anfangen? Du mußt irgendeinen Beruf ergreifen, denn Müßiggang dulde ich nicht. Wofür glaubst du zu taugen? Für die Kanzel? Nein, Gottesgelehrtheit läßt sich in deinen Schädel nicht eintrichtern! Wer die Gesetze der Menschen umstürzt, wird auch mit Gottes Gesetz nicht viel anders verfahren. Was würdest du wohl mit der Hölle anfangen? Würde dir nicht der Ekel hochsteigen? Nein, auch bei Johann Calvin ist für die Zügellosen kein Platz. Was gibt es denn sonst noch? Rede! Hast du nicht selbst was vorzuschlagen?«

»Vater, lassen Sie mich nach Spanien«, bat Archie. »Für was anderes als den Krieg tauge ich nicht.«

»Für was anderes, sagt Er! Als wäre das nicht genug, wenn ich’s nur glauben könnte! Aber ich traue dir nicht, so nah bei den Franzosen, du, der du selbst ein halber Franzmann bist!«

»Darin tun Sie mir unrecht, Vater. Ich bin treu; ich will mich nicht brüsten, aber was ich an Interesse für die Franzosen empfunden habe –«

»Bist du mir treu gewesen?« unterbrach ihn sein Vater.

Hierauf kam keine Antwort.

»Ich denke, nein. Und ich schicke keinen Mann in den Dienst des Königs – Gott segne ihn –, der seinem leiblichen Vater ein so wankelmütiger Sohn war. Hier in den Straßen von Edinburg kannst du über die Stränge schlagen, wer fragt schon danach? Mir streust du damit keinen Sand in die Augen. Und wenn es zwanzigtausend solcher Hansnarren wie dich gäbe, darum würde auch nicht ein Duncan Jopp weniger gehenkt. Aber in einem Kriegslager ist kein Ausschlagen möglich; und wolltest du’s versuchen, du würdest sehr bald persönlich erfahren, ob Lord Wellington die Todesstrafe billigt oder nicht. Du, ein Soldat!« stieß er in plötzlicher Verachtung hervor. »Du altes Frauenzimmer! Die Soldaten würden dich wie die Schafe anblöken!«

Wie bei dem Hochziehen eines Vorhanges erkannte Archie eine gewisse Unlogik in seiner eigenen Position und stand dort vernichtet. Außerdem wurde er sich, er wußte nicht, wie, eines zwingenden Eindrucks persönlichen Mutes an dem alten Herrn bewußt.

»Nun, hast du keinen andern Vorschlag zu machen?« hub Mylord von neuem an.

»Sie haben diese Sache so ruhig genommen, Sir, daß ich mich nur noch schämen kann«, begann Archie.

»Mir ist das Speien aber näher, als du glaubst«, sagte Mylord.

Das Blut stieg Archie in die Wangen.

»Verzeihung, ich meinte damit, daß Sie meine Beleidigung hingenommen haben – ich gebe zu, daß es eine Beleidigung war; ich hatte nicht die Absicht, mich zu entschuldigen, aber ich bitte Sie um Verzeihung. Ich werde nicht wieder so handeln, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf… Ich habe damit sagen wollen, daß ich Ihre Großmut gegenüber – gegenüber – dem Beleidiger bewundere«, schloß Archie mühsam.

»Ich habe keinen zweiten Sohn, verstehst du?« sagte Hermiston. »Und sauber ist der, den ich mir gezeugt! Aber ich muß mich mit ihm abfinden, so gut ich kann; was bleibt mir sonst übrig? Wärest du jünger gewesen, ich hätte dich dieser lächerlichen Schaustellung wegen geprügelt. So wie die Dinge liegen, muß ich mit möglichst guter Miene stillhalten. Aber das eine gebe ich dir hiermit klar zu verstehen: als Vater muß ich stillhalten und lächeln; wäre ich jedoch Lord Staatsanwalt und nicht Lord Oberrichter – Sohn oder nicht Sohn –, Mr. Archibald Weir hätte heute nacht im Gefängnis geschlafen.«

Damit hatte er Archie besiegt. Lord Hermiston war vulgär und grausam; dennoch erkannte der Sohn an ihm einen gewissen dürren Edelmut, eine unschöne Selbstverleugnung zugunsten seines hohen Amts. Mit jedem Wort ward er sich der Größe Lord Hermistons stärker bewußt; gleichzeitig fühlte er seine eigene Ohnmacht: er hatte zum Schlage – vielleicht sogar zum verräterischen Schlage – gegen seinen eigenen Vater ausgeholt und hatte ihn nicht einmal zu reizen vermocht.

»Ich liefere mich ohne Vorbehalt in Ihre Hände«, sagte er.

»Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute abend von dir höre«, entgegnete Hermiston. »Ich kann dir nur sagen, so oder so – das wäre doch das Ende gewesen; aber es ist besser, du gelangst selbst zu dieser Einsicht, als daß ich dich dazu dränge. Nun, meiner Ansicht nach – und meine Ansicht ist die beste – gibt es nur einen einzigen Beruf, den du mit Anstand ausfüllen kannst – du mußt Landwirt werden. Dort zum mindesten kannst du keinen Schaden anrichten. Mußt du schon schreien und ausschlagen, so soll’s wenigstens unter den Kühen geschehen, und die schlimmste Form der Todesstrafe, mit der du dich dort abgeben wirst, wird wohl der Forellenfang sein. Nun hab‘ ich aber für faule Landwirte nichts übrig; jeder Mann hat seine Arbeit zu verrichten, und wenn er Balladen verhökert; er muß arbeiten oder geprügelt oder gehängt werden. Wenn ich dich nach Hermiston setze, will ich erleben, daß du das Gut führst, wie es noch nie geführt wurde; du mußt über die Schafe Bescheid wissen wie der Schäfer selbst; du sollst mein Verwalter sein, und ich werde dafür sorgen, daß ich an dir profitiere. Hast du mich verstanden?«

»Ich werde mein möglichstes tun«, sagte Archie.

»Gut, dann werde ich morgen Kirstie benachrichtigen, und du kannst übermorgen reisen«, meinte Hermiston. »Und versuche, ein etwas geringerer Idiot zu werden!« Diese Schlußworte wurden mit einem eisigen Lächeln gesprochen, worauf er sich sogleich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zuwandte.

4


Ansichten des Richterkollegiums

Spät in der gleichen Nacht, nach einem aufgeregten Spaziergang, wurde Archie in Lord Glenalmonds Speisezimmer eingelassen. Dort neben drei spärlich glühenden Kohlen, saß der alte Richter mit einem Buch auf seinen Knien. Auf dem Richterstuhl in seiner Amtsrobe erweckte Glenalmond einen fast behäbigen Eindruck; dieser Hülle beraubt, war es eine Hopfenstange von einem Menschen, der sich jetzt unsicher von seinem Sessel erhob, um seinen Besuch willkommen zu heißen. Archie hatte viel gelitten in diesen Tagen, er hatte auch an jenem Abend gelitten; seine Züge waren bleich und abgehärmt, die Augen wild und dunkel. Aber Lord Glenalmond begrüßte ihn ohne die geringste Spur von Überraschung oder Neugier.

»Komm herein, komm herein«, sagte er. »Komm und nimm Platz. Carstairs« (an seinen Diener gewandt) »schüre das Feuer, und bring uns was zu essen.« Und von neuem fuhr er in der gleichgültigsten Art fort: »Ich hatte dich so halb und halb erwartet.«

»Kein Essen«, sagte Archie. »Unmöglich kann ich auch nur einen Bissen zu mir nehmen.«

»Nicht unmöglich«, meinte der hochgewachsene alte Mann und legte seine Hand auf Archies Schulter, »vielmehr, wenn du mir glauben willst, durchaus notwendig.«

»Sie wissen, was mich hierherführt?« forschte Archie, als der Diener das Zimmer verlassen hatte.

»Ich kann es erraten, ja, erraten«, entgegnete Glenalmond. »Wir werden später davon sprechen – wenn Carstairs gekommen und wieder gegangen ist und du ein Stück von meinem guten Cheddarkäse probiert und einen Schluck Porter getrunken hast: vordem nicht.«

»Ich kann unmöglich etwas essen«, beharrte Archie.

»Unsinn, Unsinn! Du hast heute noch gar nichts gegessen, und ich wage zu vermuten, gestern auch nicht. Es gibt nichts auf der Welt, das nicht noch schlimmer sein könnte: das hier mag eine recht unangenehme Sache sein, aber wenn du krank würdest und stürbest, wäre es weit schlimmer, für alle Beteiligten – für alle.«

»Ich sehe, Sie wissen alles«, sagte Archie. »Wo haben Sie es erfahren?«

»Auf dem Markt des Skandals – im Parlamentshaus«, antwortete Glenalmond. »Der Klatsch hat stets ungeminderten, stürmischen Umlauf im Publikum und in der Anwaltschaft, und eine Wolke versteigt sich mitunter auch zu uns Richtern; ja selbst in den Provinzialabteilungen hat die Fama ihre Stimme.«

In diesem Augenblick kehrte Carstairs zurück und trug in aller Eile ein kleines Abendessen auf. Inzwischen redete Lord Glenalmond ausgiebig und ein wenig weitschweifig über die nebensächlichsten Dinge, so daß sein Gespräch eher einem heiteren Geräusch als einer menschlichen Unterhaltung zu gleichen schien; während Archie ihm, ohne zuzuhören, gegenübersaß, ganz in das ihm angetane Unrecht und in seine Irrtümer versponnen.

Sobald jedoch der Diener gegangen war, brach es von neuem aus ihm hervor. »Wer hat es meinem Vater hinterbracht? Wer hatte den Mut, es ihm zu sagen? Ist’s möglich, waren Sie es?«

»Nein, ich war es nicht«, sagte der Richter; »obwohl – um ganz aufrichtig zu sein – das leicht hätte sein können – natürlich nachdem ich zuvor dich gesprochen und gewarnt hätte. So war es, glaube ich, Glenkindie.«

»Jener elende Knirps?« rief Archie.

»Sehr richtig, jener Knirps«, entgegnete seine Lordschaft, »obgleich das kaum eine passende Bezeichnung für einen Senator des Justizkollegiums sein dürfte. Wir vernahmen gerade die verschiedenen Parteien in einem langen, spitzfindigen Fideikommißstreit; Creech plädierte ziemlich weitschweifig zugunsten einer Neubelehnung, als ich sah, wie Glenkindie sich mit der Hand vor dem Mund zu Hermiston vorbeugte, um ihm etwas zuzuflüstern. Niemand hätte die Art der Mitteilung aus deines Vaters Miene erraten können, wohl aber aus der Glenkindies, denn die Bosheit funkelte ihm ein wenig zu deutlich aus den Augen. Aber dein Vater – nein! Ein Mann aus Granit. Im nächsten Moment hatte er sich auf Creech gestürzt. ›Mr. Creech‹, sagte er, ›ich möchte einen Blick in jene Belehnungsurkunde werfen‹, und in den nächsten dreißig Minuten«, bemerkte Glenalmond mit einem Lächeln, »kämpften Mr. Creech und Kompanie einen ziemlich unebenen Kampf, der, wie ich wohl kaum hinzuzufügen brauche, mit ihrer völligen Niederlage endete. Die Klage wurde abgewiesen. Ja, ich zweifle, ob ich Hermiston je in besserer Form sah. Er schwelgte buchstäblich in apicibus juris.«

Archie vermochte nicht länger an sich zu halten. Brüsk schob er den Teller hinweg und unterbrach diesen wohlüberlegten und belanglosen Redefluß. »Da habe ich nun einen Narren aus mir gemacht, wenn nicht noch Schlimmeres. Sie sollen über uns beide richten – richten zwischen Vater und Sohn. Zu Ihnen kann ich sprechen; es ist nicht so, als – ich will Ihnen sagen, was ich empfinde und was ich zu tun beabsichtige, und Sie sollen der Richter sein.«

»Ich lehne jegliche Jurisdiktion ab«, antwortete Glenalmond mit feierlichem Ernst. »Aber wenn es dir guttut, mein lieber Junge, dein Herz auszuschütten, und falls es dich interessiert, was ich darüber zu sagen habe, stehe ich ganz zu deiner Verfügung. Laß einen alten Mann es einmal aussprechen, ohne sich dessen zu schämen: Ich liebe dich wie einen Sohn.«

Archie stieß einen scharfen, unartikulierten Laut aus. »Ja«, rief er, »da haben wir’s! Lieben! Wie einen Sohn! Und wie, meinen Sie, liebe ich meinen Vater?«

»Ruhig, immer ruhig«, sagte Mylord.

»Ich will sehr ruhig sein«, erwiderte Archie, »und rückhaltlos offen. Ich liebe meinen Vater nicht, ich frage mich manchmal, ob ich ihn nicht hasse. Das ist meine Schmach, vielleicht sogar meine Sünde, aber vor Gottes Angesicht nicht meine Schuld. Wie sollte ich ihn auch lieben? Er hat niemals zu mir gesprochen, niemals mich angelächelt; ja, ich glaube, er hat mich niemals berührt. Sie kennen ja seine Art zu reden. Sie reden nicht so, dennoch vermögen Sie stillzusitzen und ihm ohne zu schaudern zuzuhören, das kann ich nicht. Mir dreht sich die Seele im Leibe um, wenn er damit anfängt; ich möchte ihn auf den Mund schlagen. Und das ist noch gar nichts. Ich wohnte der Verhandlung gegen Duncan Jopp bei. Sie waren nicht da, aber Sie müssen meinen Vater oft genug gehört haben; er ist ja berüchtigt dafür – dafür, daß – sehen Sie nur meine Lage! Er ist mein Vater, und so muß ich über ihn sprechen – berüchtigt dafür, daß er ein brutaler Mensch und grausam und feig ist. Lord Glenalmond, ich gebe Ihnen mein Wort, als ich den Gerichtssaal verließ, hatte ich nur noch den Wunsch, zu sterben – die Schmach ging über meine Kraft: aber ich – ich –« Er erhob sich von seinem Platze und begann aufgeregt im Zimmer auf und ab zu schreiten. »Ja, wer bin ich denn? Ein Knabe, der noch nie auf die Probe gestellt wurde, der außer dieser ohnmächtigen, billigen Torheit gegenüber seinem Vater noch nie etwas geleistet hat. Aber ich sage Ihnen, Mylord – und ich kenne mich selbst –, wenigstens gehöre ich zu jener Art Männern – oder, wenn Sie wollen, Knaben –, die lieber unter Qualen ihr Leben lassen würden, als zuzusehen, daß auf der Welt jemand so leiden muß, wie jener Schuft gelitten hat. Und was habe ich dagegen getan? Ich sehe es jetzt ein. Ich habe einen Narren aus mir gemacht, wie ich das schon zu Anfang sagte, und ich bin umgekehrt und habe meinen Vater um Verzeihung gebeten und habe mich ganz in seine Hand gegeben – und –, und er hat mich nach Hermiston geschickt«, fügte er mit einem elenden Lächeln hinzu, »auf Lebenszeit vermutlich – und was soll ich dazu sagen? Ich glaube sogar, er hat ganz recht getan und hat mich leichteren Kaufs davongelassen, als ich es verdiene.«

»Mein armer, lieber Junge«, bemerkte Glenalmond. »Mein armer, lieber und – wenn das Wort gestattet ist – grenzenlos törichter Junge! Du bist lediglich im Begriff, einzusehen, wo du stehst: für jemanden deines oder auch meines Temperaments eine schmerzliche Entdeckung. Die Welt ist nicht für uns geschaffen; sie ist für tausend Millionen Menschen geschaffen, die sich alle voneinander und von uns unterscheiden; aber für uns gibt es keine breite, bequeme Heerstraße, wir müssen mühsam klettern und uns schinden. Denke nur nicht, daß ich mich im geringsten wundere; glaube auch ja nicht, daß ich dich zu tadeln beabsichtige; im Gegenteil, ich bewundere dich eher! Aber die Sache fordert zu ein, zwei Bemerkungen heraus, die mir da gerade einfallen und die (wenn du sie leidenschaftslos betrachtest) vielleicht dazu dienen können, dich zu einer gemäßigteren Anschauungsweise zu bekehren. Erstens einmal vermag ich dich nicht von einem gut Teil sogenannter Intoleranz freizusprechen. Du scheinst dich ungemein verletzt zu fühlen, nur weil dein Vater sich nach dem Abendessen ein wenig unfein ausdrückt, was unzweifelhaft sein gutes Recht und (obwohl ich es selbst auch nicht sehr liebe) doch lediglich eine Frage des Geschmacks ist. Dein Vater ist – daran brauche ich dich wohl kaum erst zu erinnern, da es ein so offenbarer Gemeinplatz ist – älter als du selbst. Zum mindesten ist er majorenn und sui juris und kann seine Unterhaltung ganz nach seinem Belieben wählen. Und weißt du, daß ich mich manchmal frage, ob er nicht eine genauso stichhaltige Klage gegen uns vorbringen könnte? Wir sagen, daß wir ihn manchmal – hm – ein wenig – gewöhnlich finden, aber ich vermute stark, er könnte uns entgegenhalten, er fände uns immer langweilig. Ein durchaus beachtenswerter Einwand!«

Und er strahlte Archie an, ohne ihm jedoch ein Lächeln zu entlocken.

»Nun zu ›Archibald über die Todesstrafe‹. Das ist ein durchaus einleuchtender, akademischer Standpunkt; natürlich vertrete ich ihn nicht und kann ihn auch nicht vertreten, aber damit ist nicht gesagt, daß nicht zahlreiche tüchtige und treffliche Männer in der Vergangenheit deiner Meinung waren. Vielleicht habe auch ich selbst einmal ein wenig in die nämliche Ketzerei hineingerochen. Mein dritter Klient – oder war es der vierte – wurde der Anlaß, daß ich zu meiner ursprünglichen Ansicht zurückkehrte. In meinem Leben ist mir kein Mensch begegnet, an den ich so rückhaltlos glaubte; ich hätte meine Hand für ihn ins Feuer gesteckt, hätte mich für ihn kreuzigen lassen; aber als es zur Gerichtsverhandlung kam, enthüllte er sich mir langsam und allmählich und nach unleugbaren Beweisen als ein so niedriger, so kaltblütiger und so abgründiger Schurke, daß ich mich versucht fühlte, ihm mein Mandat vor die Füße zu schleudern. Damals kochte ich über gegen den Mann mit noch stärkerer tropischer Temperatur, als ich früher für ihn brannte. Aber ich sagte zu mir selbst: Nein, du hast seine Verteidigung übernommen, und du darfst nicht, nur weil deine Ansicht sich geändert hat, den Mann jetzt fallenlassen. All die Ströme der Beredsamkeit, die du erst gestern nacht mit so viel Begeisterung gesammelt, sind hier nicht am Platze, und doch darfst du ihn nicht im Stiche lassen; du mußt reden. Also redete ich und – bekam ihn frei. Der Fall begründete meinen Ruf. Aber eine derartige Erfahrung wirkt charakterbildend. Ein Mann darf seine Leidenschaften weder vor die Schranken noch vor den Richterstuhl bringen«, fügte er hinzu.

Die Geschichte hatte Archies Interesse von neuem geweckt. »Ich kann nicht leugnen«, begann er, »ich meine, ich kann mir sehr wohl denken, daß es Menschen gibt, die besser tot als lebendig wären. Aber wer sind denn wir, daß wir uns anmaßen, all die verborgenen Beweggründe von Gottes unglücklicher Kreatur zu kennen? Wie kommen wir dazu, uns selbst zu trauen, da es scheint, daß Gott selbst sich prüfen muß, ehe er handelt? Und uns obendrein in Wohlbehagen zu wiegen? Ja, Behagen: Tigris ut aspera.«

»Vielleicht kein angenehmes Schauspiel«, meinte Glenalmond. »Und doch eines, das, glaube ich, nicht ganz der Größe entbehrt.«

»Ich hatte heute abend eine lange Auseinandersetzung mit ihm«, sagte Archie.

»Das dachte ich mir.«

»Und er kam mir – ja, ich kann es nicht leugnen, er kam mir irgendwie sehr groß vor. Ja, er ist groß. Er sagte kein Wort von sich selbst, sondern sprach nur von mir. Ich glaube, ich bewunderte ihn sogar. Die fürchterliche Rolle –«

»Wie wäre es, wenn wir davon lieber nicht sprächen?« unterbrach ihn Glenalmond. »Du weißt sehr genau, daß du keinen Schritt weiter kommst, wenn du darüber nachgrübelst, und manchmal frage ich mich, ob du und ich – ich meine, zwei Sentimentalisten wie wir – einfacheren Menschen gegenüber wirklich gute Richter sind.«

»Wie meinen Sie das?« forschte Archie.

» Gerechte Richter, will ich damit sagen«, entgegnete Glenalmond. »Können wir ihnen gegenüber gerecht sein? Fordern wir nicht zu viel? Du hast eben ein Wort gesagt, das mich ein wenig getroffen hat, als du mich fragtest, wie wir dazu kämen, sämtliche Beweggründe von Gottes unglücklicher Kreatur beurteilen zu wollen. Du wandtest es, wenn ich dich recht verstanden habe, lediglich auf die zum Tode Verurteilten an. Aber ich frage mich, trifft das nicht auch auf die Allgemeinheit zu? Ist es die Spur weniger schwierig, einen guten oder einen halb guten Menschen zu beurteilen, als den schlimmsten Verbrecher vor Gericht? Und hat nicht vielleicht ein jeder triftige Entschuldigungsgründe?«

»Ah, aber es ist auch niemals davon die Rede, die Guten zu bestrafen«, rief Archie.

»Nein, es ist nicht davon die Rede«, sagte Glenalmond, »aber ich glaube, wir tun es dennoch. Nimm deinen Vater zum Beispiel.«

»Sie meinen, ich habe ihn bestraft?«

Lord Glenalmond neigte den Kopf.

»Ich glaube, ich habe es wirklich getan«, rief Archie. »Und das Schlimmste ist, ich glaube, er fühlt es! In welchem Maße? Wer vermöchte das von solch einem Wesen zu sagen! Aber ich glaube, er fühlt es wirklich.«

»Ich bin davon überzeugt«, sagte Glenalmond.

»Hat er mit Ihnen davon gesprochen?« fragte Archie lebhaft.

»O nein!«

»Ich will Ihnen ganz offen gestehen, ich möchte ihn wieder versöhnen. Ich reise; ich habe es Hermiston versprochen. Das ist das eine Versprechen. Und jetzt möchte ich Ihnen, hier im Angesichte Gottes, mein Wort verpfänden, daß ich sowohl über die Todesstrafe wie über alle Dinge, in denen unsere Ansichten auseinandergehen, schweigen werde auf – auf wie lange? – sagen wir, bis ich genügend Reife habe – also zehn Jahre. Ist das gut so?«

»Es ist gut«, sagte Mylord.

»Bis zu einem bestimmten Grade, ja. Es genügt, insofern es mich betrifft, genügt, um meine Einbildung zu dämpfen. Aber wie steht es mit ihm, den ich öffentlich beleidigt habe? Was soll ich ihm antun? Wie erweist man einem – einem Montblanc Aufmerksamkeiten?«

»Nur auf eine einzige Weise. Nur durch pünktlichen, prompten und peinlichen Gehorsam.«

»Ich verspreche, daß der ihm werden soll. Hier haben Sie meine Hand darauf.«

»Und ich ergreife feierlich diese Hand«, entgegnete der Richter. »Gott segne dich, mein lieber Sohn, und helfe dir, dein Versprechen zu halten. Gott geleite dich auf den rechten Pfad und sei deinen Tagen gnädig und erhalte dir dein ehrliches Herz.« Und damit küßte er auf anmutige, kühle, altmodische Art des jungen Mannes Stirn, um sogleich mit merklich veränderter Stimme ein anderes Thema anzuschneiden. »Und jetzt wollen wir von neuem den Krug füllen, und ich glaube, du würdest finden, falls du es noch einmal mit meinem Käse versuchtest, daß dein Appetit sich gebessert hat. Der Gerichtshof hat gesprochen, und der Fall ist abgeschlossen.«

»Nein, das eine muß ich noch sagen«, rief Archie. »Ich muß es zu seiner Rechtfertigung sagen. Ich weiß – ich glaube bestimmt – ja, ja, jetzt nach unserer Unterredung mit sklavischer Überzeugung –, daß er niemals ein ungerechtes Verlangen an mich stellen wird. Ich bin stolz darauf, dieses eine mit ihm gemein zu haben, stolz, Ihnen das sagen zu können.«

Der Richter hob mit leuchtenden Augen den Humpen. »Und ich glaube, wir dürfen uns jetzt gestatten, einen Toast auszubringen. Ich möchte auf das Wohl eines Mannes trinken, der von mir sehr verschieden ist und mir unendlich überlegen – eines Mannes, dem ich oft opponiert habe, der (um eine banale Redensart zu gebrauchen) mir häufig gegen den Strich geht, den ich jedoch niemals zu achten und – das kann ich getrost hinzufügen – gehörig zu fürchten aufgehört habe. Soll ich dir seinen Namen nennen?«

»Der Lord Oberrichter, Lord Hermiston«, sagte Archie fast heiter; und das Paar tat einen ansehnlichen Schluck.

Nach diesen Gefühlsergüssen war es etwas schwierig, die Unterhaltung wieder in natürlichen Fluß zu bringen. Aber der Richter füllte die Pausen mit freundlichen Blicken aus, zog eine sonst nur selten gesehene Schnupftabakdose hervor und wollte endlich, da er bereits an weiteren gesellschaftlichen Erfolgen verzweifelte, ein Buch herunterholen, um daraus irgendeine Lieblingsstelle vorzulesen, als an der Haustür jähes Klingelläuten erscholl und Carstairs Lord Glenkindie, auf dem Heimwege von einem mitternächtlichen Souper, ins Zimmer führte. Glenkindie bildete zu keiner Zeit eine reizvolle Erscheinung, da er plump und untersetzt war, mit einem grobsinnlichen Ausdruck gleich dem eines Bären. In diesem Augenblick jedoch, erhitzt von übermäßigem Trinken, mit gerötetem Gesicht und schwimmenden Augen, bot er einen überwältigenden Gegensatz zu der hohen, blassen, königlichen Gestalt Glenalmonds. Ein Heer wirrer Gedanken stürmte auf Archie ein – Scham, daß dieser einer von seines Vaters Busenfreunden wäre; Stolz auf die Tatsache, daß Hermiston zum mindesten seinen Alkohol vertrüge, und endlich Wut, hier vor sich den Mann zu sehen, der ihn verraten hatte. Zuletzt schwand jedoch auch dieses Empfinden, und er wartete in Ruhe seine Gelegenheit ab.

Der angetrunkene Würdenträger erging sich sogleich in weitschweifigen Erklärungen. Da sei gestern ein noch unaufgeklärter Punkt gewesen, mit dem er absolut nicht zu Rande kommen könne, und da er noch Licht im Hause erblickt, habe er einen Augenblick vorgesprochen, um bei einem Glase Porter – in diesem Moment bemerkte er die Anwesenheit eines Dritten. Archie sah das Fischmaul und die feisten Lippen Glenkindies sich eine Sekunde lang zu gaffendem Erstaunen öffnen, dann funkelte Erkennen in des anderen Augen.

»Wer ist denn das? Was? Ist’s möglich, unser Don Quichote? Und wie geht’s Ihnen eigentlich? Und wie geht’s Ihrem Vater? Und was sind das für Dinge, die wir von Ihnen hören müssen? Es scheint, Sie sind ja ein ganz Radikaler, nach allem, was die Leute behaupten. Kein König, keine Gerichte, und der Ekel steigt Ihnen vor den vollziehenden Beamten hoch, ehrenwerte Leute, die sie sind? Jessas, jessas! Liebe Zeit, liebe Zeit! Obendrein als Ihres Vaters Sohn! Höchst lächerlich!«

Archie war hochgesprungen, ein wenig erhitzt über die Wiederkehr jener unglücklichen Redewendung, aber im übrigen vollständig beherrscht. »Mylord – und Sie, Lord Glenalmond, mein lieber Freund«, hub er an, »ich ergreife diese günstige Gelegenheit, mein Geständnis abzulegen und Sie beide gleichzeitig um Entschuldigung zu bitten.«

»Wie? Was? Was soll das heißen? Geständnis? Das wird eine gerichtliche Angelegenheit, mein junger Freund«, rief der scherzhafte Glenkindie. »Und ich habe Angst, Sie anzuhören. Wenn Sie mich nun bekehrten!«

»Mit Verlaub, Mylord«, lautete Archies Erwiderung, »es ist mir mit dem, was ich zu sagen habe, sehr ernst; vielleicht hätten Eure Lordschaft die Güte, Eure Scherze bis nach meinem Fortgehen aufzusparen?«

»Vergessen Sie nicht, ich will nichts gegen die vollziehenden Beamten hören!« fiel der unverbesserliche Glenkindie ein.

Doch Archie fuhr fort, als hätte jener nicht gesprochen.

»Ich habe sowohl gestern wie heute eine Rolle gespielt, für die ich als einzige Entschuldigung meine Jugend anführen kann. Ich war so töricht, zu einer Hinrichtung zu gehen; es scheint, ich habe vor dem Galgen eine Szene gemacht; damit nicht zufrieden, redete ich noch am nämlichen Abend in einer studentischen Vereinigung gegen die Todesstrafe. Das ist das ganze Ausmaß meiner Verfehlungen, und falls mehr gegen mich vorgebracht wird, kann ich nur meine Unschuld beteuern. Ich habe meinem Vater bereits mein Bedauern ausgesprochen; er ist so gütig, mein Betragen zu übersehen – gewissermaßen und unter der Bedingung, daß ich mein juristisches Studium aufgebe …«

5


Winter auf den Mooren

 

I. In Hermiston

Die Straße nach Hermiston führt auf weite Strecken durch das Tal eines Flüßchens, ein Lieblingsplatz der Angler und Mücken, voller Wasserfälle und Teiche, und von Weiden sowie einem natürlichen Birkengehölz beschattet. Hier und dort in großen Abständen zweigt ein Seitenweg ab, und man kann über irgendeiner Hügelfalte ein ödes Bauernhaus erspähen; größtenteils jedoch ist die Straße menschenleer und das Hügelland unbesiedelt. Die Gemeinde Hermiston ist eine der am dünnsten bevölkerten in Schottland; und ist man erst bis zu ihr vorgedrungen, wundert man sich kaum noch über die beispiellose Kleinheit der Kirche, eines zwergenhaften, uralten Baues mit etwa fünfzig Sitzplätzen, der zwischen einigen vierzig Gräbern auf einem grasbewachsenen Platz neben dem Bache steht. Das ganz in der Nähe gelegene Pfarrhaus ist, obwohl kaum größer als ein Bauernhaus, von der Farbenpracht eines Ziergartens und von den Strohdächern zahlreicher Bienenkörbe umgeben; und die ganze Ansiedlung – Kirche und Pfarrhaus, Garten und Friedhof – findet Schutz und einen Hafen in einem Hain von Ebereschen. Dort ruht sie jahraus, jahrein in einer großen Stille, unterbrochen nur von dem Summen der Bienen, dem Plätschern des Baches und den sonntäglichen Kirchenglocken. Eine Meile jenseits der Kirche entwindet sich die Straße über eine steile Anhöhe dem Tal und führt den Reisenden bald darauf nach dem Herrensitz Hermiston, wo sie in dem rückwärts gelegenen Hof vor der Wagenremise mündet. Jenseits und in der Runde dehnt sich das weite Feld der Hügel; Kiebitz, Moorhuhn und Lerche bevölkern es mit ihrem Schrei; der Wind bläst dort wie in einer Schiffstakelung, hart und kalt und rein; und die Hügelkämme drängen sich dicht aneinander gleich einer Viehherde bei Sonnenuntergang.

Das Haus war sechzig Jahre alt, unansehnlich und behaglich; links lagen der Wirtschaftshof und ein Küchengarten mit einer Spaliermauer, an der kleine, harte, grüne Birnen gegen Ende Oktober ihre Reife erreichten.

Das zum Hause gehörende Grundstück (wer hätte den Mut, es einen Park zu nennen?) war ziemlich ausgedehnt, aber sehr schlecht erhalten; Heide- und Moorgeflügel hatten die trennende Mauer durchbrochen und mehrten sich und nisteten darinnen; es hätte einem Landschaftsgärtner viel Kopfzerbrechen verursacht, anzugeben, wo das Grundstück endete und die ungepflegte Natur begönne. Mylord hatte sich durch Herrn Sheriff Scott zu ziemlich weitläufigen Anpflanzungen bewegen lassen; viele Hektar Landes waren daher mit jungen Tannen bestanden, und die kleinen, grünen Federbesen verliehen der Heide einen falschen Maßstab und ein seltsames, spielzeugähnliches Aussehen. Eine starke, würzige Süße von den Torfmooren erfüllte die Luft, und zu allen Jahreszeiten durchzitterte sie die unendliche Melancholie pfeifender Vogelstimmen. In seiner hohen, ungeschützten Lage war es ein kaltes, rauhes Haus, von Wetterstürzen gewaschen, von unermüdlichen Regengüssen durchnäßt, welche die Dachrinnen Wasser speien ließen, gezaust, geprellt von sämtlichen Winden des Himmels, und die Aussicht war oft schwarz von Gewittersturm und weiß von dem Schnee des Winters. Aber das Haus war wind- und wetterfest; die Kamine waren stets freundlich erhellt, die Räume von glühenden Torffeuern durchwärmt, und Archie konnte an den Abenden, wenn er das Feuer aus dem erdigen Stoff erblühen sah und beobachtete, wie der Rauch sich den Schornstein hinaufschlängelte, tief von den Genüssen der Behaglichkeit trinken, während draußen auf der Heide der Wind trompetete.

So einsam der Ort auch war, Archie verlangte es nicht nach Nachbarn. Allabendlich konnte er, wenn der Sinn ihm danach stand, sich ins Pfarrhaus hinunter begeben. Dort trank er dann seinen Toddy mit dem Pastor – einem »spinneten« uralten Herrn, hochgewachsen, hager, aber noch immer rüstig, obwohl das Alter ihm die Knie gelockert hatte und seine Stimme sich fortwährend in kindischen, zitternden Fisteltönen überschlug – sowie mit dessen hochgeborener Frau Gemahlin, einer beleibten, stattlichen Dame, die außer guten Abend und guten Tag noch allerlei für sich zu sagen wußte. Wüste, verdrehte, junge Krautjunker aus der Nachbarschaft erwiesen ihm die Ehre eines Besuches. Der junge Hay von Romanes ritt auf seinem Stutzohrpony herüber; der junge Pringle von Drumanno erschien auf seinem knochigen Grauschimmel. Hay blieb als Leiche auf dem Felde der Gastfreundschaft zurück und mußte in sein Bett getragen werden; Pringle gelang es auf irgendeine Weise, sich etwa um drei Uhr morgens in den Sattel zu schwingen; dort saß er schwankend (während Archie ihm mit der Lampe von der obersten Treppenstufe leuchtete), stieß ein vollkommen sinnloses Halali aus und verschwand dann plötzlich gespenstergleich aus dem kleinen Lichtkreise. Ein, zwei Minuten lang verkündete das Rasseln der Pferdehufe seine halsbrecherische Flucht, bis der dazwischenliegende steile Hügel es verschluckte; und wieder ertönte nach langer Pause geisterhaftes Rossegestampf weit unten im Tal von Hermiston und verriet, daß zum mindesten das Pferd, wenn nicht der Reiter, sich immer noch auf dem Heimwege befände.

Außerdem gab es zu Crossmichael im Wirtshaus »Zu den gekreuzten Schlüsseln« noch einen Dienstagklub, allwo sich die jungen Herren aus der Nachbarschaft zusammenfanden und sich gegen einen Prozentsatz der eigentlichen Kosten volltranken, so daß zum Schluß derjenige der Gewinner war, der am meisten getrunken hatte. Archie fand keinen großen Geschmack an dieser Zerstreuung, aber er nahm sie hin, gleich einer gottgewollten Pflicht, beteiligte sich an ihr mit anständiger Regelmäßigkeit, stand seinen Mann beim Zechen, hielt angesichts der lokalen Witze den Kopf hoch und gelangte auch glücklich wieder nach Hause, wo er zu Kirsties und der Dienstmagd Bewunderung sogar noch imstande war, sein Pferd einzustellen. Er dinierte zu Driffels und soupierte auf Windielaws. Er besuchte den Silvesterball in Huntsfield, wurde mit offenen Armen aufgenommen und ritt hernach in Gesellschaft Lord Miurfells die Fuchsjagden mit, Lord Miurfells, eines waschechten Lords des Parlaments, bei dessen Namen meine Feder in diesem Buche, darin soviel von Würdenträgern des Gerichts die Rede ist, von Rechts wegen mit Ehrfurcht verweilen müßte. Jedoch auch hier erwartete ihn das gleiche Los wie in Edinburg. Einsamkeit ist eine Gewohnheit, die schwer zu brechen ist, und eine gewisse, ihm gänzlich unbewußte Strenge sowie Stolz, der sich in den Augen der anderen wie Arroganz ausnahm und doch vornehmlich Schüchternheit war, entmutigten und kränkten seine neuen Gefährten. Hay wiederholte nur zweimal den Besuch, Pringle überhaupt nicht, und es kam eine Zeit, in der Archie selbst den Dienstagklub mied und in allen Dingen zu dem wurde, was er dem Namen nach von Anfang an gewesen – zum Einsiedler von Hermiston. Zwischen der hochmütigen Miß Pringle von Drumanno und der hochtrabenden Miß Marshall of the Mains kam es, einem Gerücht zufolge, am Tage nach dem Ball zu einer Meinungsverschiedenheit – seinetwegen –; er ahnte nichts davon, wie sollte er auch auf den Gedanken kommen, daß diese bezaubernden Damen ihn überhaupt bemerkt hätten? Auf dem Balle selbst redete ihn Mylord Miurfells Tochter, Lady Flora, zweimal an, das zweitemal gleichsam mit einer leisen Bitte in ihrer Stimme, die ihr das Blut in die Wangen trieb und die Worte, gleich einer flüchtigen Schönheit in der Musik, in Archies Ohren nachzittern ließ. Er wich zurück, das Herz in Flammen, entschuldigte sich kalt, wenn auch nicht ohne Anmut, und mußte zusehen, als sie bald darauf in den Armen des jungen Drumanno – des Gecken mit dem leeren Lachen – an ihm vorübertanzte. Der Anblick ärgerte ihn, wütend sagte er zu sich selbst, daß es in dieser Welt einem Drumanno beschieden sei, zu gefallen, während er neidisch beiseite stehen müßte. Er schien, offenbar mit Recht, von der Gunst einer derartigen Gesellschaft ausgeschlossen – schien Lustbarkeit und Freude zu töten, wohin immer er auch kam, empfand sogleich heftig die Wunde, ließ von allem ab und zog sich in die Einsamkeit zurück. Hätte er nur die Figur, die er machte, erkannt, den Eindruck, den er in jenen schönen Augen und empfänglichen Herzen hinterließ: hätte er nur geahnt, daß der Einsiedler von Hermiston, jung, anmutig, gewandt im Reden, aber immer kalt, die Mädchen der Grafschaft mit dem Charme des Byronismus berührte zu einer Zeit, da der Byronismus noch neu war – sein Schicksal hätte sich selbst in dieser elften Stunde – vielleicht noch mildern lassen. Das darf zwar als Frage aufgeworfen, muß aber, meiner Ansicht nach, bezweifelt werden. Es stand in seinem Horoskop, daß er vor allen Schmerzen, ja selbst vor der Möglichkeit des Schmerzes, und sei es auf Kosten einer Gelegenheit zur Freude, zurückscheute; daß er ein schier römisches Pflichtgefühl sowie einen instinktiven Adel des Wesens und des Geschmacks besaß, kurz, daß er der Sohn Adam Weirs und Johanna Rutherfords war.

 

II. Kirstie

Kirstie war jetzt über fünfzig und hätte einem Bildhauer Modell sitzen können. Langgliedrig, immer noch leicht von Fuß, vollbrüstig und mit breiten Hüften, ohne einen einzigen Silberfaden in ihrem Goldhaar, war sie von den Jahren verschönt und geliebkost worden. Kraft einer üppigen, starken Mütterlichkeit schien sie einem Helden zur Braut und zur Mutter seiner Kinder bestimmt; und siehe: durch eine besondere Tücke des Geschicks war sie einsam durch ihre Jugend geschritten und näherte sich jetzt, eine kinderlose Frau, den Grenzen des Alters. Alle zärtlichen Hoffnungen, die sie bei ihrer Geburt empfangen, hatten Zeit und Enttäuschungen in unfruchtbare Arbeitswut und in eine krankhafte Sucht, sich einzumischen, verwandelt. Sie trug ihre verdrängten Lebensenergien in ihre Hausarbeit hinein: sie wusch die Fußböden mit ihrem leeren Herzen. Konnte sie nicht mit Liebe eines einzigen Menschen Liebe gewinnen, so mußte sie wenigstens alle durch ihre Launen beherrschen. Hitzig, wortreich und jähzornig, lebte sie mit der Mehrzahl ihrer Nachbarn in unentschiedenem Streit und mit den übrigen in nicht viel mehr als bewaffneter Neutralität. Die Inspektorsfrau war »hochnäsig« gewesen; die Schwester des Gärtners, die ihm die Wirtschaft führte, »frech«, und sie schrieb durchschnittlich einmal im Jahr an Lord Hermiston mit der gebieterischen Forderung, die Missetäter zu entlassen, wobei sie ihr Verlangen durch einen Überfluß an Beweisen begründete. Denn man darf beileibe nicht annehmen, daß der Streit sich etwa auf die Ehefrau beschränkte, ohne den Mann einzubeziehen – oder daß Kirstie es bei des Gärtners Schwester bewenden ließ und nicht sehr bald den Gärtner selbst in die Fehde verwickelte. Das Ergebnis all dieser kleinlichen Zänkereien und heftigen Reden war, daß sie sich (ähnlich dem Leuchtturmwächter auf seinem Turm) gleichsam von den Tröstungen menschlichen Verkehrs ausgeschlossen sah. Die einzige Ausnahme bildete ihre eigene schwer arbeitende Hausmagd, die als junges Ding, auf Gnade und Ungnade ihr ausgeliefert, sämtliche Launen der wetterwendischen Herrin ohne Klage über sich ergehen lassen mußte, bereit, Ohrfeigen wie Liebkosungen zu empfangen, so wie die jeweilige Stimmung es erheischte. Und Kirstie in dem warmen Spätherbst ihres Herzens, das sich nur widerwillig dem Alter unterwarf, sandten die Götter den zweifelhaften Segen von Archies Gegenwart. Sie hatte ihn von der Wiege her gekannt, hatte seine Ungezogenheiten weggestreichelt, aber sie war ihm seit seinem zwölften Lebensjahr und seiner letzten schweren Krankheit nicht wieder begegnet; daher fühlte sie sich jetzt angesichts dieses großen, schlanken, aristokratischen und leicht melancholischen jungen Herrn von zwanzig überrumpelt wie von einer neuen und unerwarteten Bekanntschaft. Er war »der junge Hermiston«, der »Gutsherr selbst«; er trug eine entschiedene Überlegenheit zur Schau; ein einziger kalter, gerader Blick seiner dunklen Augen schlug gleich zu Anbeginn der Frau cholerisches Temperament in Banden und schloß auf immer die Möglichkeit eines Streites aus. Er war neu und erregte daher ihre Neugier; er war zurückhaltend und hielt diese ständig wach. Und endlich war er dunkel und sie blond, er männlich und sie weiblich: der unversiegliche Quell allen Interesses.

Ihr Gefühl für ihn hatte etwas von der sklavischen Treue einer Clansmännin, der Heldenverehrung einer unverheirateten Tante und der blinden Anbetung, die man einem Götzen schuldet. Er hätte alles von ihr verlangen können, Lächerliches und Tragisches, sie würde es für ihn getan haben und wäre glücklich dabei gewesen. Ihre Leidenschaft – denn es war nichts Geringeres als das – erfüllte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Es war für sie ein wollüstiger Genuß, sein Bett zu machen, in seiner Abwesenheit seine Lampe anzuzünden, ihm die nassen Stiefel auszuziehen oder ihm nach seiner Rückkehr bei Tische aufzuwarten. Von einem jungen Manne, der also moralisch und physisch von dem Gedanken an eine Frau besessen wäre, hätte man mit Recht behauptet, er sei bis über beide Ohren verliebt, und er würde sich auch dementsprechend benommen haben. Kirstie jedoch – obwohl ihr Herz bei dem Klang seiner Schritte höher schlug, obwohl, wenn er ihr auf die Schulter klopfte, sie den ganzen Tag über strahlte –, Kirstie hatte keine Hoffnung und keinen anderen Gedanken als die Gegenwart und deren Fortsetzung bis in alle Ewigkeit. Bis an ihr Lebensende wünschte sie sich nichts Besseres, als mit Entzücken ihrem Idol dienen zu können und zum Lohne dafür (sagen wir, zweimal im Monat) auf die Schulter getätschelt zu werden.

Ich sagte, daß ihr Herz höher schlüge – so lautet die gebräuchliche Redensart. Richtiger wäre es, zu sagen, daß, wenn sie sich allein in irgendeinem Zimmer befand und auf dem Korridor seinen Schritt hörte, etwas langsam in ihrem Busen höher stieg, bis ihr der Atem stockte, um dann ebenso langsam wieder in einem tiefen Seufzer zu ersterben, falls die Schritte an ihr vorübergingen und sie sich um ihren Herzenswunsch betrogen sah. Dieser ewige Hunger und Durst nach seiner Gegenwart hielt sie den ganzen Tag auf den Beinen. Wenn er des Morgens fortging, sah sie ihm mit bewundernden Blicken nach. Schritt der Tag vor und rückte die Zeit seiner Heimkehr heran, so stahl sie sich hinaus an die Gartenmauer und hielt dort manchmal stundenlang, mit der Hand die Augen beschattend, nach ihm Ausschau, nur um die köstliche und darre Freude zu genießen, ihn eine Meile entfernt über die Hügel reiten zu sehen. Hatte sie des Nachts das Feuer geschürt und versorgt, sein Bett aufgedeckt und sein Nachtzeug ausgelegt und gab es nichts mehr für seine Majestät zu tun, als seiner inbrünstig in ihren sonst recht lauen Gebeten zu gedenken und beim Schlafengehen über seine Vollkommenheiten, seine künftige Laufbahn und über die Frage nachzugrübeln, was sie ihm wohl morgen zum Essen vorsetzen sollte – ja, dann blieb ihr noch eine einzige Möglichkeit: ihm das Tablett mit dem Abendessen hineinzutragen und ihm gute Nacht zu wünschen. In solchen Fällen blickte Archie hin und wieder mit einem zerstreuten Kopfnicken und einem pflichtschuldigen Gruß, der in Wahrheit eine Entlassung bedeutete, von seinem Buche auf; mitunter jedoch – und allmählich immer häufiger – wurde der Band beiseite gelegt und ihr Eintritt mit einem erleichterten Aufatmen begrüßt; und sehr bald waren sie in ein Gespräch verwickelt, das sich bei dem schwindenden Feuer über die ganze Mahlzeit bis tief in die Nacht hinein erstreckte. Kein Wunder, daß Archie sich bei seinem einsamen Leben nach Gesellschaft sehnte; Kirstie ihrerseits führte sämtliche Künste ihrer kraftvollen Natur ins Treffen, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie pflegte während des Mittagessens mit einer Neuigkeit zurückzuhalten, nur um beim Hereintragen des Abendbrottabletts damit herauszuplatzen und so gleichsam den Vorhang über der abendlichen Unterhaltung aufgehen zu lassen. Hatte sich ihre Zunge erst einmal in Bewegung gesetzt, so war sie ihres Erfolges sicher. Unmerklich glitt sie von einem Thema zu dem anderen hinüber, voller Angst vor der geringsten Pause; ja mitunter ließ sie ihm kaum Zeit zu einer Antwort, aus Furcht, er könne einen Wink zum Aufbruch einflechten. Wie so viele Leute ihres Standes war sie eine vorzügliche Erzählerin; ihr Platz war der häusliche Herd, aber sie verwandelte ihn in ein Rostrum, begleitete ihre Geschichten mit der entsprechenden Mimik und schmückte sie mit lebendigsten Einzelheiten aus, indem sie sie durch endlose »Sagt er« und »Sagt sie« verlängerte und ihre Stimme bei jeder Schilderung des Übernatürlichen oder Grausigen zu einem Flüstern dämpfte. Zum Schluß sprang sie dann mit geheucheltem Erstaunen auf, deutete auf die Uhr und rief: »Liebe Zeit, Mr. Archie! Wie spät es schon geworden ist! Gott verzeih mir tollem altem Frauenzimmer!« So brachte sie es durch geschicktes Manövrieren zustande, daß sie nicht nur diese nächtliche Unterredungen anknüpfte, sondern auch unfehlbar die erste war, sie abzubrechen. Dadurch gelang es ihr, sich zurückzuziehen, ohne von ihm fortgeschickt zu werden.

 

III. Eine Familie aus den Grenzlanden

Eine so ungleiche Vertrautheit ist von jeher in Schottland gebräuchlich gewesen, wo der alte Clansgeist sich erhalten hat; wo die Dienerin nicht selten ihr Leben im Dienste einer Familie verbringt, anfänglich als Gehilfin, später als Tyrannin und zuletzt als Gnadenbrotempfängerin; wo auch sie mitunter sich der Auszeichnung vornehmer Geburt rühmen darf, ja vielleicht wie Kirstie eine entfernte Verwandte der Herrschaft ist, zum mindesten in den Traditionen ihrer eigenen Familie bewandert oder mit irgendwelchen illustren Toten versippt. Denn das kennzeichnet den Schotten jeden Standes: er nimmt der Vergangenheit gegenüber eine Haltung ein, die dem Engländer unfaßlich ist, und hegt und pflegt das Andenken all seiner Vorfahren, ob gut, ob böse; ja in ihm brennt als lebendiges Feuer das Bewußtsein der Identität mit den Toten, selbst bis ins zwanzigste Glied. Hierfür hätte es kein trefflicheres Beispiel geben können als Kirstie Elliott und ihre Familie. Alle, ihnen voran Kirstie selbst, waren bereit, ja brannten darauf, jedem die Einzelheiten ihrer Genealogie zu unterbreiten, geschmückt mit tausend Zügen, welche die Überlieferung ihnen vererbt oder die Phantasie ersonnen hatte; und siehe: An jeder Verzweigung des Familienstammbaumes baumelte der Strick des Henkers. Die Elliotts selbst haben eine bewegte Geschichte; aber sie leiten ihren Ursprung noch von drei der unglücklichsten Grenzclans ab – den Nicksons, den Ellwalds und den Crozers. Einen Vorfahren nach dem anderen sah man auf Schleichwegen aus dem Regen und Nebel der Berge auftauchen und mit seiner ärmlichen Beute an lahmen Pferden oder magerem Niederlandsvieh wieder nach Hause jagen; oder aber er schrie und teilte Mord und Totschlag aus bei irgendeiner elenden Hochlandsfehde der Frettchen und Wildkatzen. Einer nach dem anderen beschloß seine obskuren Abenteuer zwischen Himmel und Erde, an irgendeinem königlichen oder feudalherrlichen Galgen. Denn die rostige Donnerbüchse schottischer Kriminaljustiz, die gewöhnlich niemandem außer den Geschworenen selbst etwas zuleide tut, wurde den Nicksons, den Ellwalds und den Crozers gegenüber zur Präzisionswaffe. Jedoch im Gedächtnis ihrer Nachkommen schien allein der Rausch ihrer Taten fortzuleben, die Schande war vergessen; Stolz schwoll ihre Brust, wenn es galt, ihre Verwandtschaft mit »Andrew Ellwald von Laverockstanes« zu proklamieren, »genannt ›Dand, der Pechvogel‹ der mit sieben anderen seines Namens zu Jeddart unter König Jakob VI. hochnotpeinlich gerichtet wurde«. Bei diesem langen Gespinst von Unglück und Verbrechen konnten sich die Elliotts von Cauldstaneslap einer Sache mit Recht rühmen: Die Männer waren alle Galgenvögel, geborene Räuber, Strauchdiebe und mörderische Raufbolde; die Weiber dagegen, der nämlichen Tradition zufolge, sämtlich keusch und treu. Der Einfluß der Ahnen auf den Charakter ist nicht auf die Vererbung des Keimplasmas beschränkt. Wenn ich mir vom Heroldsamt dutzendweise Ahnen kaufe, wird mein Enkel (falls er ein Schotte ist) sich dennoch bewogen fühlen, ihre Taten nachzuahmen. Die Männer der Elliotts waren stolz, gesetzlos, gewalttätig als ihr gutes Recht und Heger und Pfleger der Familientradition. Ebenso die Frauen. Und diese nämlichen Weiber, die, selbst leidenschaftlich und wagemutig, vor den glimmenden Torffeuern kauernd, jene Geschichten überlieferten, hegten und pflegten ihr Leben lang eine wilde Integrität der Tugend.

Kirsties Vater, Gilbert, war tieffromm gewesen, ein unerbittlicher Puritaner alten Stils und dabei ein notorischer Schmuggler. »Kann mich noch besinnen, daß ich als Kind manche Ohrfeige bekam und zeitweilen wie die Hühner ins Bett gescheucht wurde«, pflegte Kirstie zu erzählen. »Das war, wenn die Jungens mit ihren Packs unterwegs waren. Oft saß das Gesindel von zwei, drei Grafschaften in unserer Küche so zwischen zwölf und drei Uhr nachts; und ihre Laternen standen derweil im Vorhof, Stücker zwanzig auf einmal. Aber gottlose Reden wurden auf Cauldstaneslap nicht geduldet; mein Vater war ein strenger Mann in seinem Wandel wie in seinen Worten; da brauchte dir nur ein einziger Fluch entschlüpfen, und schon saßest du vor der Tür! Er war ein großer Eiferer im Herrn, ein reines Wunder, was das Beten anbelangt, aber darin hat unsere Familie von jeher eine besondere Begabung gehabt!« Dieser Vater war zweimal verheiratet, einmal mit einem dunkelhäutigen Weib vom alten Ellwald-Schlage, mit der er Gilbert, den Erben von Cauldstaneslap, zeugte, und das zweitemal mit der Mutter von Kirstie. »Er war schon ’n alter Mann, als er sie heiratete, ein häßlicher, alter Mann mit einer mächtigen Stimme – hören konnte man ihn, wenn er vom Gipfel des Kye-skairs zu uns herunterbrüllte; aber sie, Mr. Archie, sie war wahrhaftig ein Wunder. Gutes, adliges Blut floß ihr in den Adern, Mr. Archie: Euer eigenes und kein anderes. Die ganze Umgebung war rein verrückt nach ihr und ihrem goldenen Haar. Meins ist damit nicht in einem Atem zu nennen, und doch gibt’s wenige Weiber, die mehr Haar haben als ich oder von schönerer Farbe. Oft hab‘ ich meinem lieben Fräulein Hannchen gesagt – Eurer Mutter, mein Herz schrecklich gesorgt hat sie sich um ihr Haar, und es war auch wahrhaftig gar zu dünne –! ›Unsinn, Fräulein Hannchen‹, sagt‘ ich, ›werft Euer Haarwasser und Eure französischen Pomaden ins Feuer; das ist der Platz, wo sie hingehören; und herunter mit Euch an den Bach, und wascht Euch in dem kalten Bergwasser, und trocknet Euer hübsches Haar in dem frischen Wind der Heide, wie meine Mutter es tat und wie ich es allweg mit meinen getan habe – tut nur, was ich Euch sage, mein Liebchen, und wir wollen uns wiedersprechen! Haare werdet Ihr bekommen im Überfluß, einen Zopf so dick wie mein Arm‹ – das hab‘ ich ihr gesagt – ›und von allerschönster Farbe wie die blanken, goldenen Guineen, daß die Burschen in der Kirche sich nicht werden satt sehen können!‹ Ach ja – für sie, armes Ding, hat es gereicht! Hab‘ ihr eine Locke abgeschnitten, als sie da starr und kalt auf dem Totenbett lag. Eines Tages zeig‘ ich sie Euch, wenn Ihr brav seid. Aber was ich sagen wollte, meine Mutter …«

Beim Tode ihres Vaters blieben die goldhaarige Kirstie, die bei ihren entfernten Verwandten, den Rutherfords, Dienste nahm, sowie der um zwanzig Jahre ältere, schwarze Gilbert zurück. Dieser übernahm Cauldstaneslap, heiratete und zeugte zwischen 1773 und 1784 vier Söhne sowie im Jahre 97, dem Jahr von Camperdown und Kap St. Vincent, eine Nachzüglerin, eine Tochter. Auch das schien Familientradition zu sein: die Reihe der Kinder mit einer spätgeborenen Tochter zu beschließen. 1804, im Alter von sechzig Jahren, kam Gilbert zu einem Ende, das man getrost heroisch nennen kann. Er wurde vom Markte zurückerwartet, irgendwann zwischen acht Uhr abends und fünf Uhr früh und in jedem beliebigen Zustand von Rauflust oder wortloser Trunkenheit, wie es damals die wohllöbliche Gewohnheit der schottischen Bauern war. Es war bekannt, daß er diesmal ein hübsches Stück Geld heimbringen würde; es war offen darüber gesprochen worden. Der Bauer hatte zudem seine Guineen herumgezeigt, und zum Unglück hatte niemand bemerkt, daß eine übel aussehende Landstreicherbande, der Abschaum der Edinburger Gossen, sich lange vor Anbruch der Dämmerung vom Markte entfernt und den Bergweg nach Hermiston eingeschlagen hatte, allwo sie schwerlich rechtmäßige Geschäfte haben konnten. Einen aus der Nachbarschaft, einen gewissen Dickieson, hatten sie als Führer gedungen – teuer mußte er später dafür büßen! Und plötzlich, an der Furt von Broken Dykes, fiel dieses lausige Gesindel über den Großbauern her, sechs gegen einen, und er obendrein noch drei Viertel eingeschlafen, da er kräftig getrunken hatte! Aber es hielt schwer, einen Elliott zu überrumpeln. Eine Weile schlug er drauflos mit seinem Stock, dort in der Finsternis und in dem pechschwarzen Wasser, das ihm bis zum Sattelgurt ging, gleich einem Schmied auf seinen Amboß, und gewaltig war der Lärm seiner Flüche und Hiebe. Dann hatte er den Hinterhalt durchbrochen und jagte nach Hause mit einer Pistolenkugel im Leibe, drei Messerstichwunden, dem Verlust seiner Vorderzähne, einer zerbrochenen Rippe, einem zerrissenen Zaumzeug und einem sterbenden Pferd. Es war ein Rennen mit dem Tode, das der Großbauer in jener Nacht ritt! In der tiefschwarzen Dunkelheit, mit zerrissenen Zügeln und schwindelndem Kopf, grub er die Sporen bis zu den Rädern in des Pferdes Flanken, und das Pferd, armes Geschöpf!, das selbst noch schwerer getroffen war, schrie laut auf in seiner Qual wie ein Mensch, und die Leute in Cauldstaneslap sprangen vom Tische auf und blickten einander in die bleichen Gesichter. Das Pferd brach tot vor dem Hoftor zusammen, aber der Bauer erreichte noch das Haus und stürzte dort auf der Schwelle hin. Dem Sohne, der ihn aufhob, drückte er den Sack Geld in die Hand. »Da«, sagte er. Den ganzen Weg herauf hatte er die Diebe hinter sich gespürt, aber jetzt verließ ihn die Halluzination – er erblickte sie wieder in jenem Hinterhalt –, und der Durst nach Rache ergriff seine sterbende Seele. Er reckte sich hoch und wie mit gebieterischer Gebärde in die schwarze Nacht, aus der er gekommen; dann gab er den einen Befehl »Broken Dykes« und verlor die Besinnung. Niemals hatte man ihn geliebt, aber man hatte ihn geehrt und gefürchtet. Bei jenem Anblick, jenem Wort, das sich keuchend dem zahnlosen, blutenden Munde entrang, erwachte mit einem Schrei in seinen vier Söhnen der alte Elliott-Geist. »Ohne Hut«, fährt meine Gewährsmännin Kirstie fort, der ich nur zögernd folge, denn sie erzählte die Mär wie inspiriert, »ohne Gewehre es waren keine zwei Gramm Pulver im ganzen Haus –, ohne andere Waffen als die Knüttel in ihren Händen, nahmen die vier die Verfolgung auf. Nur Hob, der älteste, kniete einen Augenblick auf der Türschwelle hin, wo das Blut rann, tauchte seine Hand hinein und hielt sie zum Himmel empor nach Art des alten Grenzeids. ›Die Hölle soll heut nacht ihr Eigen wiederhaben‹ schrie er und stürzte hinaus auf sein Pferd.« Drei Meilen waren es bis nach Broken Dykes, immer bergab, eine schlimme Straße. Kirstie hatte erlebt, daß Leute aus Edinburg bei hellichtem Tage abgestiegen waren und lieber ihre Pferde am Zügel führten. Aber die vier Brüder ritten, als wäre ihnen der Böse selbst auf den Fersen. Da waren sie an der Furt, und da war Dickieson. Nach allem, was man hört, war er nicht tot, sondern atmete noch und hob sich auf seinen Ellbogen und schrie um Hilfe. Es war ein erbarmungsloses Antlitz, das er um Gnade anflehte. Kaum hatte ihn Hob beim Licht der Laterne erkannt, die auf das Weiße seiner Augen und die Zähne in des Mannes Gesicht traf, da sagte er: »Gott verdamme dich! Deine Zähne hast du noch, was?« und jagte sein Pferd hin und her über die menschlichen Überreste. Danach mußte Dandie absitzen und ihnen leuchten; er war der jüngste Sohn und kaum erst zwanzig. »Die ganze liebe, lange Nacht ging’s weiter durch die nasse Heide und die Wacholderbüsche, und wo sie gingen, das wußten sie nicht und fragten auch nicht danach, sondern folgten nur den Blutflecken und der Spur von ihres Vaters Mördern. Und die ganze Nacht strich Dandie mit der Nase über den Boden hin wie ein Bluthund, und die anderen folgten und sprachen kein Wort, weder schwarz noch weiß. Und da war kein Laut zu hören außer dem Stöhnen der geschwollenen Bäche und außer Hob, dem harten, der im Gehen mit den Zähnen knirschte.« Beim ersten Strahl des Morgengrauens erkannten sie, daß sie auf dem Treiberweg waren; da hielten die vier inne und nahmen einen Bissen Frühstück, denn sie wußten, daß Dand sie richtig geführt und daß sie die Gauner dicht vor sich hatten, Hals über Kopf auf der Flucht nach Edinburg und den Hügeln von Pentland. Um acht Uhr erhielten sie die erste Auskunft – ein Schäfer hatte vier Männer, »arg mißhandelt«, vor noch nicht einer Stunde vorübereilen sehen. »Auf jeden einer«, sagte Clemens und schwang seinen Knüttel. »Fünf Stück«, meinte Hob. »Gottes Tod, aber der Vater war ein Mann! Und obendrein in der Trunkenheit!« Und dann stieß ihnen etwas zu, das meine Gewährsmännin als ein »großes Unglück« bezeichnete, denn sie wurden von einem Trupp berittener Nachbarn überholt, die gekommen waren, ihnen zu helfen. Vier saure Gesichter begrüßten diese Verstärkung. »Der Teufel hat euch hergeführt!« sagte Clemens, und sie ritten von nun an mit hängenden Köpfen in der hintersten Reihe. Noch vor zehn hatten sie die Schufte eingeholt und gefangengenommen, und als sie mit ihren Gefangenen um drei Uhr nachmittags in Edinburg einritten, begegnete ihnen eine Schar Menschen mit einer triefenden Bürde. »Denn die Leiche des sechsten«, fuhr Kirstie fort, »mit einem Kopf, zerdrückt wie eine Haselnuß, hatte der Hermistoner Fluß die ganze Nacht über in Gewahrsam genommen; und er hatte sie an den Steinen geprellt und an den Sandbänken zerschunden und hernach das tote Ding Hals über Kopf die Fälle von Spango hinuntergejagt; und beim Morgengrauen hatte der Tweed es gepackt und wie der Wind entführt – denn es war arges Hochwasser dazumalen. Und so sauste er mit ihm dahin und tauchte es unter die Böschung und riß es wieder empor und spielte lange mit jenem Geschöpf unten in den Stromschnellen am Fuße der Burg; und das Ende war, daß er es bei der Crossmichael-Brücke wieder an Land spie. Und damit hatten sie alle sechs endlich beisammen (denn den Dickieson hatte man längst auf einem Karren hereingefahren), und die Leute konnten sehen, was für eine Art Mann mein Bruder gewesen war, der sich gegen sechse gehalten hatte, und obendrein noch in der Trunkenheit!« So starb an seinen ehrenvollen Wunden und auf der Höhe des Ruhmes Gilbert Elliott von Cauldstaneslap; aber seine Söhne ernteten aus der ganzen Sache kaum geringere Ehre. Ihre barbarische Eile, die Geschicklichkeit, mit der Dand die Spur aufgenommen und verfolgt hatte, die Unmenschlichkeit gegen den verwundeten Dickieson (die rings im Lande ein offenes Geheimnis war) und das furchtbare Schicksal, das sie nach allgemeiner Ansicht auch den anderen zugedacht, packte und beschwingte die Volksphantasie. Ein Jahrhundert früher hätte wohl der letzte der Barden aus diesem homerischen Kampf und Ende die letzte der Balladen gedichtet; aber der alte Geist war gestorben und hatte bereits in Herrn Sheriff Scott seine Reinkarnation erlebt, und die entarteten Heidebewohner mußten sich damit begnügen, die Mär in Prosa zu erzählen und aus den »Vier Schwarzen Brüdern« eine Einheit zu schaffen nach Art der »Zwölf Apostel« oder der »Drei Musketiere«.

Robert, Gilbert, Clemens und Andreas – in der volkstümlichen Abkürzung der Grenzlande Hob, Gib, Clem und Dand Elliott –, diese Balladenhelden, hatten manches miteinander gemein, insbesondere den stark ausgeprägten Familiensinn und das lebendige Gefühl für die Familienehre; aber sie gingen alle ihre eigenen Wege und hatten Erfolg oder scheiterten in den verschiedensten Berufen. Um mit Kirstie zu reden, alle waren ein wenig »spinnet« mit Ausnahme von Hob. Hob, der Großbauer, war in Wahrheit in allen Dingen ein hochachtbarer Mann. Als Kirchenältester hatte niemand, seit jener Jagd hinter den Mördern seines Vaters her, je einen Fluch von ihm vernommen, außer gelegentlich einmal bei der Schafwäsche. Die Figur, die er an jenem verhängnisvollen Abend machte, schien wie von der Erde verschluckt. Er, der in der Ekstase seine Hand in das rote Blut getaucht, der Dickieson unter den Hufen seines Pferdes zertrampelt hatte, wurde von jenem Augenblick an ein steifes und wenig anziehendes Vorbild ländlicher Ehrbarkeit; ein Schlaukopf, der bedachtsam an den hohen Kriegspreisen profitierte und alljährlich ein rundes Sümmchen als Notgroschen auf die Bank trug, geachtet und mitunter sogar geschätzt von den Großgrundbesitzern der Nachbarschaft, die ihn seiner schwerfälligen, gelassenen Vernunft wegen zu Rate zogen – vorausgesetzt, daß er zum Reden zu bewegen war; daneben war er der erklärte Günstling des Pastors, Mr. Torrance, der ihn in Gemeindeangelegenheiten als seine rechte Hand betrachtete und ihn den Eltern als Vorbild pries. Die Transfiguration hatte nur einen kurzen Augenblick gedauert; irgend ein Barbarossa, ein alter Adam unserer Vorfahren, schlummert wohl in uns allen, bis der gegebene Moment ihn zum Handeln ruft; und dieser jetzt so nüchterne Hob hatte ein für allemal das Ausmaß des Teufels, der ihn ritt, gezeigt. Er war verheiratet und wurde von seiner Frau dank des verklärenden Schimmers jener legendären Nacht auf Händen getragen. Er besaß eine Horde kleiner, kräftiger, barfüßiger Kinder, die in einer langen Karawane die vielen Meilen zur Schule marschierten und die einzelnen Stationen ihrer Pilgerfahrt durch Zerstörungswut und allen möglichen Unfug bezeichneten. In der ganzen Gegend waren sie als eine Landplage verschrien, aber daheim verhielten sie sich mucksmäuschenstill, »wenn der Vater zu Haus‘ war«. Mit einem Wort, Hob bewegte sich im Geschwindschritt durchs Leben – wie das der Lohn eines jeden ist, der inmitten eines von der Zivilisation geknebelten und verzärtelten Landes unter grausigen und romantischen Begleitumständen seinen Mann getötet hat.

Es gab ein geflügeltes Wort im Lande: Die Elliotts wären wie die Sandwichs – auf jede schmackhafte Scheibe folgt eine unschmackhafte –, und wirklich wechselten durch einen sonderbaren Unterschied die Träumer mit den Tüchtigen ab. Der zweite Bruder, Gib, war von Beruf ein Weber und war schon als junger Mensch in die Welt nach Edinburg gezogen, von wo er mit versengten Schwingen heimkehrte. In seiner Natur lag eine gewisse Exaltation, die ihn veranlaßte, sich mit Begeisterung die Prinzipien der französischen Revolution anzueignen. Die Folge war, daß er gelegentlich jenes wütenden Ansturms gegen die Liberalen, der Muir und Palmer in die Verbannung hetzte und die ganze Partei gleich Spreu in alle Winde trieb, Lord Hermiston in die Quere kam. Man munkelte, Mylord habe in seiner grenzenlosen Verachtung und von einer gelinden, freundnachbarlichen Regung bewogen, Gib noch rechtzeitig einen Wink erteilt. Als dieser ihm eines Tages in der Potterrow begegnete, hatte Mylord ihn mit den Worten angehalten: »Gib, du Idiot, was muß ich von dir hören? Politik, Politik, nichts als Politik, Weberpolitik, nach allem, was die Leute sagen! Wenn du nicht ganz von deiner Idiotie besoffen bist, marschierst du schnurstracks nach Cauldstaneslap zurück; dort treib deinen Webstuhl, treib deinen Webstuhl, Mann!« Und Gilbert hatte den Wink beherzigt und war mit einer Hast, die man fast als Flucht bezeichnen konnte, in das Haus seiner Väter zurückgekehrt. Sein klarstes Erbe war jene Familienbegabung fürs Gebet, deren Kirstie sich rühmte; und der gescheiterte Politikus wandte jetzt seine Aufmerksamkeit religiösen Dingen oder – wie andere es nannten – der Ketzerei und dem Schisma zu. Er begab sich von nun an jeden Sonntag nach Crossmichael, wo er allmählich eine Sekte, bestehend aus einem Dutzend Mitgliedern, zusammenbrachte, die sich »Gottes letzte Streiter des wahren Glaubens« oder kurz nur »Gottes letzte Streiter« nannten. Den Lästermäulern waren sie als »Gibs Teufel« bekannt. Bailie Sweedie, ein bekannter Witzbold jener Stadt, schwur, der Gottesdienst würde regelmäßig mit der Melodie »Die Zollbeamten soll der Teufel holen« eingeleitet und das Sakrament würde in Form von heißem Whisky-Toddy genommen. Beides war ein boshafter Hieb gegen den Evangelimann, den man in seiner Jugend der Schmuggelei verdächtigt hatte und der einmal während des Jahrmarkts »knüppelhagelvoll« (wie der Ausdruck lautet) in den Straßen von Crossmichael aufgefunden worden war. Man wußte, daß diese letzten Streiter allsonntäglich den Segen auf Bonapartes Waffen herabflehten. Aus eben diesem Grunde waren sie wiederholt vor dem Häuschen, das ihnen als Tempel diente, von den Kindern mit Steinen beworfen worden; ja Gibs eigener Bruder Dand hatte einmal als Mitglied der freiwilligen Grenzwacht mit gezogenem Schwert gegen ihn eine Attacke geritten. Die »Letzten Streiter« hatten den Ruf, im Prinzip »Antinomisten« zu sein, was anderenfalls ein schwerer Vorwurf gewesen wäre, bei der damalig herrschenden öffentlichen Meinung jedoch gänzlich von dem Skandal um Bonaparte verschlungen wurde. Im übrigen hatte Gilbert seinen Webstuhl in einem der Nebengebäude von Cauldstaneslap aufgestellt, wo er sechs Tage in der Woche fleißig arbeitete. Seine Brüder waren über seine politischen Ansichten entsetzt und sprachen, um Zwistigkeiten zu vermeiden, nur selten mit ihm; er jedoch noch seltener mit ihnen, da er fast ständig im Studium der Bibel und im Gebet versunken war. Dagegen wurde der hagere Weber zur Kinderfrau von Cauldstaneslap; alle Kleinen liebten ihn zärtlich. Außer wenn er ein Kind auf den Armen trug, sah man ihn nur selten lächeln; überhaupt waren die Lächler rar in der Familie. Wenn dann seine Schwägerin ihn neckte und ihm vorschlug, er solle doch selbst eine Frau nehmen und Kinder zeugen, da er sie so liebe, pflegte er zu erwidern: »In jenem Punkte bin ich noch zu keiner Klarheit gekommen.« Falls man ihn nicht zum Essen rief, blieb er einfach fort. Mrs. Hob, eine harte, wenig mitfühlende Frau, machte einmal die Probe aufs Exempel. Er blieb den ganzen Tag ohne Nahrung, aber etwa um die Dämmerung, als das Licht versagte, betrat er von sich aus mit verwirrtem Ausdruck das Haus. »Heut hab‘ ich mächtig im Gebet gerungen«, bemerkte er. »Ich weiß nicht, ich kann mich nicht so recht besinnen, was es zu Mittag gab.« Die Sekte der »Gottesstreiter« ward durch ihres Gründers Leben gerechtfertigt. »Und doch, wer weiß«, meinte Kirstie, »vielleicht ist er gar nicht mal schlimmer als seine Nachbarn! Er ist mit den anderen ausgeritten und soll sich nach allem, was man so hört, gut gehalten haben! Gottes letzte Streiter? Des Teufels Marktschreier! Viel Christliches war aber auch nicht an der Art, wie Hob Johnny Dickieson traktierte! Gott allein weiß Bescheid! Ist Gib überhaupt ein Christ? Meines Wissens könnte er ebensogut ein Mohammedaner oder ein Teufel oder ein Feueranbeter sein!«

Der dritte Bruder schrieb seinen Namen in der Stadt Glasgow auf ein messingnes Türschild so lang wie sein Arm: »Mr. Clemens Elliott«, nicht mehr und nicht weniger. In seinem Falle hatte jener Geist der Neuerung, der sich bei Hob nur schüchtern in Versuchen mit Düngemitteln hervorwagte und sich bei Gilbert an umstürzlerische Politik und ketzerische Dogmen verschwendete, die Form von sinnreichen, mechanischen Erfindungen angenommen und wahrhaft nützliche Früchte getragen. Als Knabe hatte man ihn dank seiner Neigung zu allerlei seltsamen Versuchen mit Hölzchen und Bindfaden für den Sonderling der Familie gehalten. Aber das war jetzt längst vorbei: Clemens war inzwischen Teilhaber seiner Firma geworden und würde aller Wahrscheinlichkeit nach als Alderman sterben. Auch er hatte geheiratet und zog nun inmitten des Rauchs und Lärms von Glasgow eine zahlreiche Familie auf; er war reich, und man flüsterte, er könne seinen Bruder, den Dungkärrner, sechsmal auskaufen; und wenn er sich jetzt auf Cauldstaneslap eine wohlverdiente Erholung gönnte, was er so oft tat, als es ihm möglich war, setzte er die Nachbarn durch seinen feinen Tuchanzug, seinen Kastorhut und die üppigen Falten seines Halstuchs in Erstaunen. Obgleich im Grunde seines Herzens ein durchaus solider Mann nach dem Vorbilde Hobs, hatte er sich eine gewisse Glasgower Smartneß und einen Aplomb angeeignet, die ihn vor allen auszeichneten. Alle übrigen Elliotts waren mager wie die Heringe, Clemens aber setzte allmählich Fett an und schnaufte zum Gottserbarmen, wenn er sich die Stiefel anzog. Dand pflegte dann wohl kichernd zu bemerken: »Ja, Clem, der hat die Elemente zu einem ganzen städtischen Gemeinderat in sich.« »Zum Bürgermeister und zum Rat«, erwiderte Clem, und seine Schlagfertigkeit wurde viel bewundert.

Der vierte Bruder, Dand, war seines Zeichens nach ein Schäfer und tat sich zeitweise in seinem Beruf hervor, wenn er sich dazu zwingen konnte, ihn auszuüben. Niemand verstand wie Dandie einen Hund zu dressieren; keiner zeichnete sich in den Fährnissen der großen winterlichen Schneestürme durch größere Tapferkeit aus. Allein trotz seiner vollendeten Geschicklichkeit war er nur ein unregelmäßiger Arbeiter, und er diente seinem Bruder lediglich gegen Wohnung und Beköstigung und ein geringes Taschengeld, das er auf Verlangen erhielt. Er liebte Geld zwar sehr und wußte es auch auszugeben. Ja, er verstand sich sogar gelegentlich, wenn er wollte, zu einem schlauen, vorteilhaften Handel. Aber er zog doch das unklare Bewußtsein, genügend Kleingeld im Beutel zu haben, der genauen Kenntnis der Summe in seiner Tasche vor; er fühlte sich reicher so. Hob hielt ihm dann vor: »Du machst, daß ich in der Schafzucht nur ein Stümper bleibe«, worauf Dand gewöhnlich erwiderte: »Ich werd‘ dir deine Schafe hüten, wenn ich Lust dazu habe, aber meine Freiheit hüt‘ ich mir auch. Ich lasse keinen Menschen an mir rumnörgeln.« Clem pflegte ihm die wunderbaren Resultate von Zins und Zinseszins auseinanderzusetzen und ihm eine Anlage seiner Ersparnisse zu empfehlen. »Was?« meinte Dandie: »Mann, glaubst du wirklich, wenn ich Hob das Geld aus der Tasche zöge, daß ich’s nicht in Schnaps und in Geschenken für die Mädels anlegte? Überhaupt ist mein Reich nicht von dieser Welt. Entweder bin ich ein Dichter, oder ich bin gar nichts.« Clem gemahnte ihn an seine alten Tage. »Ich sterbe jung wie Robbie Burns«, lautete die tapfere Antwort. Ohne Frage zeichnete er sich auch wirklich durch eine Begabung für volkstümliche Verse aus. Sein Lied »Der Bach von Hermiston« mit dem einschmeichelnden Refrain

Gedankenvoll weil‘ ich beim Bache, so eilig,
Von Hermiston unten im Tal;

seine »alten, alten Elliotts, todeskalten Elliotts, harten, heißen Elliotts alter Zeit« sowie seine wahrhaft faszinierende Ballade von »Des betenden Webers Stein« erwarben ihm in der ganzen Gegend den in Schottland immer noch möglichen Ruf eines lokalen Barden; und obgleich er niemals gedruckt wurde, erntete er doch die Anerkennung wirklicher und berühmter Autoren. Walter Scott verdankte den Text zu dem »Raid of Wearie« in seiner »Minstrelsy« niemand anderem als Dandie, hieß ihn in seinem Hause willkommen und lobte auf seine warmherzige Art seine bescheidenen Talente. Der Schäfer von Ettrick war sein geschworener Busenfreund; bei ihren Zusammenkünften betranken sie sich regelmäßig bis zur Bewußtlosigkeit, brüllten sich ihre Gedichte gegenseitig in die Ohren und zankten und versöhnten sich wieder, alles in der nämlichen Sitzung. Neben diesen als offiziell zu bezeichnenden Anerkennungen wurde Dandie dank seiner Kunst auch in den Bauernhäusern zahlreicher Nachbartäler willkommen geheißen; so wurde er denn mannigfachen Versuchungen ausgesetzt, die er indes eher suchte als floh. Einmal postierte er sogar als Büßer und wahrte so die Tradition seines Helden und Vorbilds bis aufs I-Tüpfelchen. Die humoristischen Verse, die er bei dieser Gelegenheit an Mr. Torrance richtete:

Hier steh‘ ich mutterwindallein in aller Augen

sind allzu derb, um wiedergegeben zu werden; aber sie durchliefen wie das Feuerkreuz im Fluge die ganze Nachbarschaft und wurden zitiert, rezitiert, paraphrasiert und belacht, überall von Dunfries bis Dunbar.

Diese vier Brüder verknüpfte ein enges Band – das der gegenseitigen Bewunderung oder besser Heldenverehrung –, wie dergleichen bei einsam lebenden Familien, in denen viel Tüchtigkeit und wenig Kultur herrscht, nur allzu häufig ist. Selbst die Extreme bewunderten einander. Hob, in welchem etwa ebensoviel Poesie lebte wie in einem Schürhaken, gab vor, Dandies Verse innig zu lieben; Clem, der nicht mehr religiöses Empfinden als Claverhouse besaß, bezeugte eine aufrichtige oder doch zum mindesten offenmäulige Bewunderung für Gibs Frömmigkeit, und Dand verfolgte mit sichtlichem Behagen Clems Aufstieg in der Geschäftswelt. Hand in Hand mit dieser Bewunderung ging duldsame Nachsicht. Der Großbauer, Clem und Dand, die sämtlich Tories und glühende Patrioten waren, beschönigten untereinander schüchtern und verlegen Gibs revolutionäre Ketzereien. Wiederum nahmen Hob, Clem und Gib, alle drei peinlich tugendhafte Männer, Dandies lockeren Lebenswandel schweigend als eine Art Hemmschuh oder Nachteil in den Kauf, wie ihn eine rätselhafte Vorsehung den Barden zum Zeichen ihres poetischen Genies eigens auferlegt. Um die Einfalt ihrer gegenseitigen Bewunderung wahrhaft zu würdigen, mußte man Clem, wenn er daheim zu Besuch war, im Geiste der Ironie über die Angelegenheiten der großen Stadt Glasgow und die Personen, mit denen er dort zu tun hatte, reden hören. Diese verschiedenen Persönlichkeiten – Geistliche, städtische Beamte und Größen der Geschäftswelt – wurden allesamt angeschwärzt; alle waren nur dazu da, um ein schmeichelhaftes Licht auf das Haus in Cauldstaneslap zu werfen. Den Bürgermeister, dem Clem ausnahmsweise noch eine gewisse Achtung entgegenbrachte, pflegte er mit Hob zu vergleichen. »Er erinnert mich an den Gutsherrn hier«, meinte er. »Er hat etwas von Hobs großartigem, gesundem Menschenverstand und schiebt auch genau wie er die Lippe so vor, wenn ihm was gegen den Strich geht.« Worauf Hob völlig unbewußt die Oberlippe herunterzog und zum Vergleich die erwähnte furchterregende Grimasse produzierte. Der unbeliebte Pfarrer von St. Enoch wurde mit der kurzen Bemerkung abgetan: »Ja, wenn er auch nur zwei Fingerbreit von Gibs Talent hätte, dann würde er’s ihnen schon zeigen!« Und der ehrliche Gib schlug bescheiden die Augen nieder und lächelte still in sich hinein. Clem war der Kundschafter, den sie in die große Welt geschickt hatten. Er war mit der guten Nachricht zurückgekehrt, daß sich dort niemand mit den vier schwarzen Brüdern vergleichen könne; daß es keine Stellung gäbe, der sie nicht zur Zierde gereichen würden, keinen Beamten, dessen Posten sie nicht besser auszufüllen vermöchten, keine Angelegenheit, weltlicher oder geistlicher Art, die nicht unter ihrer Pflege sofort zur höchsten Blüte gedeihen müßte. Die Entschuldigung für ihre Torheit läßt sich in zwei Worte zusammenfassen: Sie unterschieden sich kaum um Haaresbreite von der eigentlichen Bauernschaft. Ihre Vernunft ließ sich an der Tatsache ermessen: dieses Symposium rustikaler Eitelkeit wurde in der Familie selbst gefeiert und dort gleich einer geheimen, ererbten Zeremonie begangen. Der Welt gegenüber trübte auch nicht der Schatten eines selbstzufriedenen Lächelns den Ernst ihrer Gesichter. Trotzdem wußte die Welt davon. »Sie halten große Stücke auf sich!« hieß es rings in der Umgegend.

Endlich gilt es, in dieser Geschichte aus den Grenzlanden auch noch ihre Spitznamen zu erwähnen. Hob hieß »der Gutsherr«. »Roy ne puis, prince ne daigne«; er war der Herr über Cauldstaneslap – also über rund fünfzig Acres eigensten Landes. Clemens war einfach Mr. Elliott, wie auf seinem Türschild geschrieben stand; das ehemalige Beiwort »toll« hatte man längst fallenlassen, da es unangebracht und obendrein nur ein Beweis für die Urteilsschwäche und Torheit der öffentlichen Meinung war; und der Jüngste wurde zu Ehren seiner unstillbaren Wanderlust der »Wander-Dandie« genannt.

Selbstverständlich stammten all diese Informationen nicht durchweg von der Tante, die selbst zu viel von den Familienschwächen besaß, um diese bei den anderen von Grund auf würdigen zu können. Mit der Zeit jedoch wurde Archie einer Lücke in der Familienchronik inne.

»Aber ist denn nicht noch ein Mädchen da?« forschte er.

»Ja: Kirstie. Sie wurde nach mir getauft oder nach meiner Großmutter – was dasselbe ist«, entgegnete die Tante und fuhr sogleich fort, von Dand zu sprechen, den sie seines galanten Lebenswandels wegen insgeheim bevorzugte.

»Und wie ist eigentlich deine Nichte?« warf Archie bei nächster Gelegenheit ein.

»Die? So schwarz wie Euer Hut! Aber so richtig häßlich kann man sie auch nicht gerade nennen. Nein, eigentlich ist sie ein ganz hübsches Balg – so ’ne Art Zigeunerin«, meinte die Tante, die zwei Maßstäbe hatte, einen für die Männer und einen für die Frauen – oder vielleicht wäre es richtiger, von dreien zu sprechen: der dritte und strengste galt den Mädchen.

»Wie kommt es, daß ich sie niemals in der Kirche sehe?« fragte Archie.

»Tja, ich glaube, sie wohnt in Glasgow bei Clem und seiner Frau. Viel Gutes kann auch nicht dabei rausspringen! Ich würde ja nichts sagen, wenn sich’s um ein Mannsbild handelte; aber wo Weiber geboren sind, da sollen sie auch bleiben! Gott sei Lob und Dank! Ich bin mein Lebtag nicht über Crossmichael rausgekommen!«

Allmählich begann es Archie auch aufzufallen, daß, obwohl Kirstie ständig das Lob ihrer Sippe sang und deren Tugenden, ja selbst deren Laster gleich einer persönlichen Auszeichnung schätzte, dennoch keine Spur von Herzlichkeit zwischen den Häusern Hermiston und Cauldstaneslap zu walten schien. Wenn die adelige Jungfer Haushälterin den sonntäglichen Kirchgang antrat, die Röcke dezent aufgeschlagen, daß drei Fingerbreit ihres weißen Unterrocks hervorguckten, bei schönem Wetter angetan mit ihrem besten, in strahlenden Farben erglänzenden Kaschmirschal, überholte sie mitunter ihre bedächtiger einherschreitenden Verwandten. Gib war natürlich nicht dabei; bei Tagesanbruch hatte er sich nach Crossmichael zu seinen Mitketzern begeben; aber die übrige Familie sah man in offener Marschordnung daherkommen: voran Hob und Dand, steifnackig, kerzengerade, sechs Fuß hoch mit strengen, dunklen Gesichtern, ihre Plaids um die Schultern geschlungen: dahinter der Convoi Kinder (glänzend vor Seife und Wasser), rings am Wegrande zerstreut und nur von Zeit zu Zeit auf den schrillen Ruf der Mutter sich sammelnd; und endlich die Mutter selbst, die – o vielsagender Umstand, der einem erfahreneren Beobachter als Archie wohl allerlei zu denken gegeben hätte! einen fast gleichen, aber unverkennbar neueren und um eine Schattierung grelleren Schal trug als Kirstie selbst. Bei diesem Anblick wuchs Kirstie noch um einige Zoll – sie zeigte ihr klassisches Profil, die Nase in der Luft und mit leicht bebenden Nüstern, während das reine Blut in ihren Adern ihre Wangen mit einer zarten, gleichmäßigen Röte überhauchte.

»Wünsche Euch einen schönen Tag, Mistreß Elliott«, sagte sie, und Feindseligkeit und Vornehmheit verschmolzen in ihrer Stimme zu einer wohlabgewogenen Mischung. »Schön‘ guten Tag, Madam«, pflegte des »Gutsherrn« Frau mit einem unnachahmlichen Knicks zu erwidern, während sie ihre Federn – oder mit anderen Worten das Muster ihres Kaschmirschals – mit einer dem gemeinen Mannsbild völlig unerreichbaren Kunst spreizte. Von nun an marschierte das gesamte Cauldstaneslaper Kontingent in geschlossener Ordnung und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck, der verriet, daß es sich in der Gegenwart des Feindes befände, und während Dandie seine Tante mit der Vertraulichkeit des gern gesehenen Neffen begrüßte, stolzierte Hob in erhabener Steifheit an ihr vorbei. Aus der Haltung aller Familienmitglieder mußte man auf irgendeine erbitterte Fehde schließen. Wahrscheinlich waren die beiden Frauen in dem ersten Treffen die Hauptbeteiligten gewesen, und offenbar hatte man den Gutsherrn mit Gewalt hineingezerrt, und zwar zu spät, um ihn in diese oberflächliche Versöhnung einzuschließen.

»Kirstie«, sagte Archie eines Tages, »was hast du eigentlich gegen deine Familie?«

»Ich beklag‘ mich ja gar nicht«, antwortete Kirstie errötend. »Ich hab‘ kein Wort gesagt.«

»Das weiß ich – nicht einmal guten Tag zu deinem eigenen Neffen.«

»Ich brauche mich nicht zu schämen. Ich kann das Vaterunser mit gutem Gewissen beten. Wäre Hob krank oder in Not, ich tat‘ ihn mit Freuden besuchen. Aber Scharwenzeln und Schöntun und Herumparlieren – nein, danke bestens!«

Archie lächelte leise; er lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ich glaube«, meinte er schlau, »du und Mrs. Hob seid nicht besonders gute Freunde, wenn ihr eure Kaschmirschals tragt.«

Sie sah ihn schweigend an, ein rätselhaftes Funkeln in ihren Augen; und das war alles, was Archie je von der Schlacht der Kaschmirschals erfahren sollte.

»Kommt keiner von ihnen je, dich zu besuchen?« forschte er weiter.

»Mr. Archie«, entgegnete sie, »ich hoffe, ich weiß, was sich für meine Stellung schickt. Das wär‘ mir eine schöne Sache, wenn ich Eures Vaters Haus mit einem schmutzigen, schwarzhäuptigen Clan vollstopfen möchte, von dem kein einziger (wenn ich’s denn schon offen sagen muß) das bissel Seife wert ist, das man an ihn verschwendet, mich selbst ganz allein ausgenommen! Nein, nein, die sind alle miteinander durch die verdammten schwarzen Ellwalds verdorben! Ich kann die Schwarzhaarigen nun mal nicht leiden!« Und in plötzlicher Erkenntnis Archies fügte sie hastig hinzu: »Nicht daß es bei den Mannsleuten so viel ausmacht, aber daß es reinweg unweiblich ist, kann wohl keiner bestreiten! Langes Haar ist eine Zierde der Frauenzimmer; dafür haben wir Zeugen genug – es steht schon in der Bibel –, und das ist doch ganz klar, daß der Apostel irgendein blondhaariges Mädel damit gemeint hat, denn – Apostel oder nicht – er war ja trotz allem doch nur ein Mannsbild wie Ihr selbst!«

6


Ein Blatt aus Christinas Gesangbuch

Archie war ein fleißiger Kirchgänger. Sonntag für Sonntag durchmaß er mit jener kleinen Gemeinde das Zeremoniell des Gottesdienstes, hörte die Stimme von Mr. Torrance, einer schlecht gespielten Klarinette gleich, sprunghaft von Tonart zu Tonart sich steigern und erhielt Gelegenheit, des Geistlichen mottenzerfressenen Talar und schwarze Zwirnhandschuhe zu studieren, wenn der alte Herr die Hände im Gebet faltete oder sie beim Segen in ehrfürchtiger Andacht zum Himmel erhob. Der Hermistoner Kirchenstuhl war ein kleiner, viereckiger Kasten von den gleichen zwergenhaften Ausmaßen wie die Kirche selbst und umschloß einen Tisch, nicht viel größer als eine Fußbank. Hier saß Archie mit der Miene eines Prinzen, der alleinige unverkennbare Gentleman und wohlhabende Erbe der Gemeinde, und machte es sich bequem – sein Kirchenstuhl war der einzige mit Türen. Von hier aus konnte er ungestört die ganze Versammlung überblicken: gesetzte Männer in ihren Plaids, robuste Frauen und Töchter, Kinder, die unter dem Drucke des Gottesdienstes seufzten, und unruhige Schäferhunde. Seltsam, wie sehr Archie den Eindruck des Rassigen entbehrte; die Hunde mit ihren edlen Fuchsköpfen und wundervoll gebogenen Ruten waren von allen Anwesenden die einzigen, die einen Anspruch auf Adel erheben durften. Selbst die Cauldstaneslaper Gesellschaft bildete kaum eine Ausnahme. Dandie vielleicht, wenn er so dasaß und sich die nicht enden wollende Last des Gottesdienstes durch Versekritzeln erleichterte, zeichnete sich ein wenig durch sein leuchtendes Auge und eine gewisse Lebhaftigkeit des Ausdrucks und Straffheit des Körpers aus; aber selbst Dandie hatte den locker schlurfenden Schritt des Bauern. Die ganze übrige Gemeinde bedrückte Archie ähnlich dem lieben Vieh durch das Bewußtsein ihrer erdgebundenen Routine; ein Tag verlief wie der andere körperliche Arbeit in frischer Luft, Hafergrütze, Erbsmehlpfannkuchen, ein schläfriger Feierabend neben dem Kamin und eine lange, durchschnarchte Nacht in einem Wandbett. Und doch kannte er viele von ihnen als schlaue, humorvolle Menschen; charakterfeste Männer, tüchtige Frauen, die sich etwas zu schaffen machten und von ihren niedrigen Hütten einen gewissen Einfluß ausstrahlten. Er wußte außerdem, daß sie nicht anders waren als andere Menschen; unter der Kruste der Gewohnheit lebte Begeisterungsfähigkeit; er hatte sie vor Bacchus die Zimbel schlagen hören – hatte ihren lärmenden Zechgelagen über ihrem Whisky-Toddy beigewohnt, und auch die hölzernsten und strengsten unter ihnen, ja selbst jene feierlichen Kirchenältesten, waren in Dingen der Liebe der seltsamsten Bocksprünge fähig. Da waren Männer, deren abenteuerliche Lebensreise sich ihrem Ende nahte – Mädchen, die voll zitternder Neugier erst an der Schwelle des Lebens standen – Frauen, die Kinder geboren und vielleicht auch begraben hatten, die sich noch der Berührung zärtlicher, toter Händchen und des Trippelns jetzt erlahmter kleiner Füße erinnerten – er fragte sich in grenzenloser Verwunderung, wie es käme, daß unter all diesen Gesichtern keines wäre, das Erwartung, Bewegung, den Rhythmus und die Poesie des Lebens zeigte. »Oh, ein einziges lebendiges Gesicht!« seufzte er; und dann fiel ihm mitunter Lady Flora ein; ein andermal musterte er diese lebende Galerie vor ihm voller Verzweiflung und sah sich selbst seine unfruchtbaren Tage in jener freudlosen ländlichen Einöde beschließen, sah den Tod herannahen und die Leute unter den Ebereschen sein Grab schaufeln, während der Geist der Erde das riesenhafte Fiasko durch donnerndes Gelächter feierte.

An dem betreffenden Sonntag stand es außer Frage, daß der Frühling endlich gekommen war. Es war warm; trotzdem schlummerte Frost in der Luft, der die Wärme indes nur noch willkommener machte. Der Bach rann an den flachen Stellen plätschernd und funkelnd zwischen Sträußen von Himmelsschlüsseln vorbei. Wandernde Düfte der Erde fesselten im Gehen Archies Geist; zu Momenten erfüllte ihn ätherische Trunkenheit. Das graue, quäkerische Tal war erst stellenweise aus seiner nüchternen Winterfärbung erwacht; er wunderte sich über seine Schönheit; sie erschien ihm als die Quintessenz der Schönheit dieser alten Erde, wohnhaft nicht im einzelnen, sondern aus dem Ganzen ihm entgegenatmend. Er entdeckte in sich einen unerwarteten Impuls zum Verseschreiben – er schrieb mitunter wirklich – lose, dahinstürmende Vierfüßler nach der Art Scotts –, und als er sich neben einem elfenhaften Wasserfall auf einen Stein niederließ, den ein gertenschlanker, im ersten Frühlingsgrün strahlender Baum beschattete, war er noch mehr erstaunt, daß ihm nichts einfallen wollte. Vielleicht war es nur sein Herz, das im Einklang mit dem ungeheuren Rhythmus des Weltalls schlug. Bald darauf sah er hinter einer Biegung des Tals die Kirche liegen; er hatte so lange gesäumt, daß bereits der erste Psalm im Verklingen war. Das nasale Psalmodieren, voller Schnörkel, Triller und anmutloser Verzierungen, schien ihm wie die Stimme der Kirche selbst, zum Dankgebet erhoben. »Alles lebt«, sagte er für sich und rief plötzlich laut: »Gott sei gelobt, alles lebt!« Er verweilte noch kurze Zeit auf dem Friedhof. Ein Büschel Himmelsschlüsselchen blühte dicht neben dem Fuß einer alten, schwarzen Grabtafel, und er blieb stehen, um die weitschweifige Aufschrift zu studieren. Die Blumen standen da in schneidendem Gegensatz zu der kalten Erde; plötzlich fiel ihm die Unfertigkeit des Tages, der Jahreszeit, der ihn umgebenden Schönheit auf – die Kühle in der Wärme, die groben, schwarzen Erdschollen neben den sich erschließenden Himmelsschlüsseln, der feuchte, erdige Geruch, der sich allseits unter die Düfte mischte. Die Stimme des greisenhaften Torrance schwang sich in Ekstase auf, und er fragte sich, ob auch Torrance in seinen alten Knochen die Luft dieses Frühlingsmorgens spüre; Torrance oder der Schatten dessen, was einst Torrance gewesen war und was so bald schon samt seinem Rheumatismus hier draußen in Sonne und Regen liegen mußte, während ein neuer Prediger seinen Platz einnahm und von seiner altvertrauten Kanzel donnerte. Der Jammer des Ganzen und etwas von der Kälte des Grabes ließen ihn einen Augenblick erschauern, und er beeilte sich, die Kirche zu betreten.

Ehrfürchtig schritt er den Gang hinauf und ließ sich, ohne aufzublicken, auf seinem Platze nieder; er fürchtete, er hätte den freundlichen alten Herrn auf der Kanzel bereits gekränkt, und hütete sich geflissentlich, weiteren Anstoß zu erregen. Er vermochte dem Gebet nicht einmal in dessen Umrissen zu folgen. Strahlende Himmelsbläue, Wolken von Luft, ein Singen fallenden Wassers und zwitschernder Vögel stiegen gleich Ausstrahlungen einer tieferen, urgrundlichen Erinnerung, die nicht ihm selbst, sondern dem Fleisch auf seinen Knochen angehörte, in seinem Inneren auf. Sein Körper erinnerte sich; es schien ihm, daß dieser Körper keineswegs plump, sondern ätherisch und vergänglich wie eine Melodie wäre; er fühlte für ihn eine wundervolle Zärtlichkeit wie für ein unschuldiges, von reinsten Instinkten bewegtes und zu einem frühen Tode verurteiltes Kind. Und auch für Torrance – für diesen von so zahlreichen Gebeten überströmenden und mit so wenigen Tagen beschenkten Torrance – empfand er ein Mitleid, das ihn fast zu Tränen rührte. Das Gebet war zu Ende. Unmittelbar über ihm war eine Tafel in die Mauer gelassen, der einzige Schmuck des roh verputzen Kapellchens – denn mehr war es nicht; die Tafel verewigte die Existenz – fast hätte ich gesagt die Tugenden – irgendeines früheren Rutherfords von Hermiston; und Archie lehnte sich unter jenen Beweis seiner alten Abstammung und lokalen Größe in seinen Stuhl zurück und stählte sich, den Schatten eines halb spielerischen, halb traurigen, aber seltsam reizvollen Lächelns um den Mund, gegen einen langen Ausblick in die Leere. Dies war der Moment, den Dandies Schwester, die in vollem Glasgower Staat neben Clem saß, wählte, um sich den jungen Gutsherrn anzusehen. Ihr war die Bewegung, die bei seinem Eintritt die Reihen durchlief, nicht entgangen, aber die kleine Puritanerin hatte während des Gebetes die Augen gesenkt gehalten und sich ihre sittsame Ruhe des Ausdrucks bewahrt. Das war nicht etwa Heuchelei; es gab auf der Welt keinen Menschen, dem dergleichen ferner lag. Das Mädchen hatte einfach gelernt, sich zu benehmen: gelernt, auf und nieder zu blicken, unbefangen dreinzuschauen, in der Kirche ernst und aufmerksam und in allen Lebenslagen möglichst vorteilhaft zu erscheinen. Das war nun mal der Weiber Art und Vorrecht, und sie spielte das Spiel ganz unverhohlen. Archie war der einzige Mensch in der Kirche, der sie interessierte; er war ein fremdes Wesen, dem Rufe nach ein Sonderling und jung, ein großer Herr, den Christina noch nicht kannte. Kein Wunder, daß ihre Gedanken sich mit ihm beschäftigten, während sie stehend in einer Haltung reizenden Anstandes wartete. Falls er einen Blick für sie übrig hätte, sollte er eine wohlerzogene junge Dame sehen, die schon in Glasgow gewesen war. Vernünftigerweise mußte er ihren Putz bewundern, und vielleicht fand er sie selbst sogar hübsch. Bei diesem Gedanken klopfte ihr Herz ein klein wenig schneller; sogleich begann sie sich als Korrektiv eine Reihe Bilder von dem jungen Mann, der von Rechts wegen jetzt zu ihr herüberblicken müßte, zu entwerfen und rasch wieder zu verbannen. Schließlich entschied sie sich für das wenigst anziehende – einen rosigen, kurzbeinigen Jüngling mit einem Tellergesicht und mangelhafter Figur, über dessen Bewunderung sie getrost lächeln durfte; trotzdem hielt das Gefühl, daß sein Blick auf ihr ruhe (während er in Wahrheit an Torrance und dessen Handschuhen haftete), sie bis zu dem Amen in gelinder Erregung. Selbst dann war sie noch viel zu wohlerzogen, um ihrer Neugier durch Ungeduld zu frönen. Lässig – das war eine Glasgower Nuance – ordnete sie ihren Anzug, zupfte ihren Strauß Himmelsschlüssel zurecht, blickte erst gerade vor, dann hinter sich und gestattete ihren Augen, endlich ohne jede Hast auch nach dem Hermistoner Kirchenstuhl hinüberzuschweifen. Einen Augenblick hafteten sie dort wie gebannt. In der nächsten Sekunde kehrte ihr Blick zu ihr zurück, gleich einem zahmen Vogel vor der Flucht. Möglichkeiten stürmten auf sie ein; schwindelnd bedachte sie die Zukunft; das Bild dieses jungen Mannes, schlank, reizvoll, dunkel, mit jenem unergründlichen, schattenhaften Lächeln, zog sie an und stieß sie ab gleich einem Abgrund. Ob ich wohl meinem Schicksal begegnet bin? fragte sie sich selbst, und ihr schwoll das Herz in der Brust.

Heute behandelte Torrance einen besonders heiklen Punkt der Gottesgelehrtheit und war bereits ziemlich weit mit seinem ersten Abschnitt gediehen, wobei er im Vordringen sich eine feste Grundlage aus Bibeltexten aufbaute, ehe Archie seinerseits sich umschaute. Sein Blick fiel zuerst auf Clem, der unausstehlich satt und behäbig aufsah und Torrance großmütig durch halbe Aufmerksamkeit begönnerte, wie jemand, der von Glasgow her Besseres gewohnt ist. Obwohl er ihn nie zuvor gesehen hatte, wußte Archie doch sofort, wer er war, und fand ihn auch sogleich vulgär, den schlimmsten Typ der Familie. Clem beugte sich gerade faul vor, als Archie ihn zuerst erblickte. Schließlich lehnte er sich nonchalant in seinen Stuhl zurück, und plötzlich ward jene tödliche Waffe, das Mädchen, im Profil demaskiert. Obwohl nicht ganz auf der Höhe der Mode stehend (wer fragte hier schon danach), hatten gewisse kunstgerechte Glasgower Mantillenmacherinnen und ihr eigener natürlicher Geschmack sie sehr vorteilhaft herausgeputzt. Ja, ihr Anzug hatte in jener winzigen Gemeinde viel brennendes Herzweh und fast einen Skandal hervorgerufen. Mrs. Hob hatte ihr bereits in Cauldstaneslap die Meinung gesagt. »Verrückt!« lautete ihr Urteil. »Eine Jacke, die vorn nicht schließt! Was für ’n Sinn hat sie denn, wenn man sie nicht zuknöpfen kann und man damit in den Regen kommt? Und wie nennt man die Dinger an deinen Füßen da? Demmi Brokins, Demi-broquins sagst du? Brocken werden sie sein, ehe du damit wieder nach Hause kommst! Na, mich geht’s ja nichts an – aber ich sag‘ nur – guter Geschmack ist es nicht!« Clem, dessen Portemonnaie diese Metamorphose seiner Schwester bewirkt hatte und der gegenüber der Reklame, die sie für ihn machte, nicht empfänglich war, eilte ihr zu Hilfe. »Unsinn, Weib! Was verstehst du schon von Geschmack, wo du nie in der Stadt gewesen bist?« Und Hob, der mit wohlgefälligem Lächeln das Mädchen musterte, während sie ängstlich in der dunklen Küche ihren Staat präsentierte, hatte die Diskussion mit den Worten beendet: »Hübsch sieht die kleine Katze aus; und regnen wird’s wahrscheinlich auch nicht. Trag die Sachen ruhig heute am Sonntag, Mädel; aber es ist nichts, was man zur Gewohnheit machen soll.« Im Busen ihrer Rivalinnen, die im allzu deutlichen Bewußtsein weißer Unterröcke und mit Gesichtern, die von vieler Seife glänzten, zur Kirche gegangen waren, hatte der Anblick von Christinas Toilette einen Sturm mannigfaltigster Gefühle entfesselt, von einfacher, neidischer Bewunderung angefangen, die sich in einem einzigen, langgezogenen »Ah!« ausdrückte, bis zu jener zornigeren und in den Worten sich Luft machenden Empfindung: »An den Schandpfahl gehört sie!« Ihr Kleid war aus strohfarbenem Seidenmusselin, vorn tief ausgeschnitten und unten fußfrei, um ihre Demi-broquins aus violettem Leder zu zeigen, die mit vielen Schnüren über einem gelben, in Spinnwebmustern gewirkten Strumpf befestigt waren. Nach der hübschen Mode, der unsere Großmütter unbedenklich folgten und mit der bewaffnet unsere Großtanten auszogen, um unsere Großonkel zu erobern, war das Kleid zugeschnitten, um die Formen der Brüste hervortreten zu lassen, und wurde in dem Einschnitt zwischen beiden von einer Brosche aus Rauchtopas gehalten. Hier, ebenfalls in einer sehr beneidenswerten Lage, zitterte der Strauß Himmelsschlüssel. Um die Schultern – oder auf dem Rücken vielmehr, denn er reichte kaum darüber hinaus – trug sie einen Mantel aus Florentiner Taft, der auf der Brust mit Margate-Bändern von der gleichen violetten Farbe wie ihre Schuhe festgebunden war. Ihr Gesicht umrahmte eine Flut wirrer, dunkler Locken; ein zierlicher Kranz gelber, französischer Rosen umwand ihre Stirn, und das Ganze krönte ein ländlicher Hut aus grobem Stroh. Unter all den roten und wettergebräunten Gesichtern ihrer Umgebung erglühte sie gleich einer offenen Blume: Mädchen und Kleidung, der Rauchtopas, der die Sonnenstrahlen auffing und blitzend zurückwarf, ja selbst die bronzenen und goldenen Fäden in ihrem Haare funkelten.

Archie fühlte sich von dem Hellen angezogen wie ein Kind. Er sah sie an, wieder und immer wieder, und ihre Blicke kreuzten sich. Ihre Lippen öffneten sich leise und ließen ihre kleinen Zähne frei. Er sah das rote Blut lebhaft unter der braungoldenen Haut aufsteigen. Ihr Auge, groß wie bei einem Hirsch, begegnete dem seinen, hielt es fest. Er wußte, wer sie sein mußte – Kirstie, das Mädchen mit dem hartklingenden Rufnamen, die Nichte seiner Haushälterin, die Schwester des rustikalen Propheten, Gibs –, und er fand in ihr die Antwort auf all seine Wünsche. Christina fühlte den elektrischen Funken der sich treffenden Blicke, und es war ihr, als entschwebe sie, ganz in Lächeln gekleidet, in mystisch-strahlende Regionen. Aber ihr Entzücken war so kurz, wie es vollkommen war. Hastig blickte sie weg und begann sich sogleich ob dieser Hast zu tadeln. Sie wußte, was sie hätte tun müssen, als es bereits zu spät war – langsam, die Nase in der Luft, hätte sie sich wegdrehen müssen. Inzwischen aber blieb sein Blick an ihr haften und schien sie zu bestürmen gleich einer Batterie trefflich gerichteter und in fortgesetzter Tätigkeit befindlicher Geschütze; jetzt schien er sie und sich völlig zu isolieren, jetzt wieder hob er sie vor der ganzen Gemeinde gleichsam auf den Pranger. Archie fuhr fort, mit den Augen ihr Bild zu trinken, ähnlich dem Wanderer, der am Berge auf eine Quelle stößt und sein Gesicht eintaucht und sich nicht satt trinken kann. Das feurige Auge des Topas und die blassen Blüten der Primeln in der Kerbe ihrer kleinen Brüste bannten ihn. Er sah, wie diese Brüste sich hoben und senkten, und fragte sich verwundert, was das Mädchen wohl so erregen könne. Und Christina fühlte wieder diesen Blick, nahm ihn wahr – vielleicht mit dem graziösen Spielzeug von Ohr, das unter ihren Locken hervoräugte; sie fühlte, wie sie die Farbe wechselte, fühlte ihren unruhigen Atem. Gleich einem Geschöpf der Wildnis, das sich gehetzt, eingeholt und allseits umstellt sieht, fahndete sie nach einem Dutzend Auswege, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie holte ihr Taschentuch hervor – es war wirklich ein sehr feines – und steckte es erschrocken wieder ein: »Er glaubt vielleicht, mir wäre zu heiß.« Sie fing an, in den metrischen Psalmen zu lesen, und erinnerte sich plötzlich, daß ja die Predigt im Gange wäre. Endlich steckte sie sich eine gezuckerte Pflaume in den Mund und bereute bereits im nächsten Augenblick diesen Schritt. Was für ein hausbackenes Benehmen! Mr. Archie würde bestimmt niemals in der Kirche Süßigkeiten essen; mit gewaltiger Anstrengung schluckte sie das Ganze hinunter, und sofort war ihr Gesicht eine einzige Flamme. Bei diesem Zeichen tödlicher Verlegenheit erwachte Archie zum Bewußtsein seines schlechten Benehmens. Was hatte er nur getan? Er war in der Kirche unerhört unhöflich zu seiner Haushälterin Nichte gewesen; er hatte gleich einem Lakai und Libertin ein schönes und züchtiges Mädchen angestarrt. Es war möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß man ihn nach dem Gottesdienst auf dem Friedhof vorstellen würde, und wie würde er dann dastehen? Es gab für ihn keine Entschuldigung. Er hatte die Zeichen ihrer Scham, ihrer wachsenden Empörung bemerkt, und er war ein solcher Esel, daß er sie nicht einmal begriffen hatte. Scham lastete jetzt auf ihm, und er blickte resolut zu Mr. Torrance hinüber. Dieser brave, würdige Mann ahnte freilich nicht, während er fortfuhr, das Werk der Erlösung durch den Glauben zu erläutern, was in Wahrheit sein Amt war: nämlich zwei Kindern gegenüber bei dem uralten Spiel des Sichverliebens die Rolle des Blitzableiters zu spielen.

Anfänglich verspürte Christina eine ungeheuere Erleichterung. Es war ihr, als ginge sie plötzlich nicht mehr nackt. Sie überdachte das Geschehene. Alles wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn sie nur nicht rot geworden wäre! Dumme Närrin! Was gab es da zu erröten, selbst wenn sie eine Zuckerpflaume gegessen hatte! Mrs. Mac Taggert, die Frau des Kirchenvorstehers von St. Enoch, tat das häufig. Und wenn er sie schon angeblickt hatte – was war natürlicher, als daß ein junger Mann das bestangezogene Mädchen in der Kirche sich ansah? Gleichzeitig wußte sie genau, daß dies nicht stimmte; sie wußte, in dem Blick hatte nichts Zufälliges, Alltägliches gelegen, und sie schätzte sich selbst höher und den Blick als eine Art Auszeichnung. Nun, ein Segen, daß er jetzt etwas anderes zum Ansehen gefunden hatte! Und bald gingen ihre Gedanken in eine neue Richtung. Es war ihrer Ansicht nach notwendig, daß sie sich durch eine besser geführte Wiederholung des Vorfalls rechtfertigte. War der Wunsch Vater des Gedankens, so wurde sie sich dessen doch nicht bewußt oder wollte es sich nicht eingestehen. Der Anstand – die Notwendigkeit, die Bedeutung des Geschehenen zu vermindern – erheischte, daß sie ein zweites Mal, ohne zu erröten, seinen Augen begegnete. In Erinnerung an dieses Erröten errötete sie von neuem und war im nächsten Augenblick eine einzige, heiße Blutwelle. Hatte jemals zuvor ein Mädchen sich so unpassend, so herausfordernd benommen? Sie hatte hier vor der ganzen Gemeinde um nichts und wieder nichts eine Szene aufgeführt! Heimlich warf sie einen Blick zu ihren Nachbarn hinüber, und siehe: Alle schienen unerschütterlich gleichgültig, ja Clem war sogar eingenickt! Und doch gewann diese eine Idee immer mehr Macht über sie: schon die gemeine Klugheit erforderte, daß sie noch einmal hinüberblicke, ehe der Gottesdienst zu Ende wäre. Ähnliches ging auch in Archie vor; er kämpfte mit der Last seiner Reue. Und so geschah es, daß in einem einzigen bebenden Moment, als der letzte Choral bekanntgegeben wurde und Torrance die Verse las und die Blätter sämtlicher Gesangbücher zwischen eifrigen Fingern raschelten, zwei heimliche Blicke antennengleich zwischen den Kirchenstühlen und über deren gleichgültige und geschäftige Insassen ausgesandt wurden und sich der geraden Linie von Archie zu Christina näherten. Jetzt trafen sie sich, saugten sich den geringsten Bruchteil einer Sekunde fest! Vorbei! Ein elektrischer Funke durchzuckte Christinas Körper, und siehe: Die Seite ihres Gesangbuches war mitten durchgerissen!

Archie stand draußen neben dem Friedhofstor, unterhielt sich mit Hob und dem Pfarrer und schüttelte allseits der auseinandergehenden Gemeinde die Hände, als Clem und Christina zur Vorstellung herangerufen wurden. Der junge Herr lüftete den Hut und verneigte sich anmutig und ehrerbietig. Christina machte dem Herrn ihren Glasgower Knicks und schritt weiter in der Richtung von Hermiston und Cauldstaneslap, eilig, nach Atem ringend, mit erhöhter Farbe und in jener seltsamen Verfassung, die ihr während des Alleinseins ein vollkommenes Glücksgefühl vortäuschte und sie jedes Ansprechen gleich einem Widerspruch verübeln hieß. Einen Teil des Weges mußte sie die Begleitung einiger Nachbarmädchen und eines tölpelhaften Jünglings erdulden; niemals waren sie ihr so fade erschienen; noch nie hatte sie sich selbst so unfreundlich gezeigt. Aber nacheinander bogen sie alle vom Wege ab, um sich nach ihren verschiedenen Bestimmungsorten zu begeben, oder blieben hinter der rasch schreitenden Christina zurück; und nachdem sie das angebotene Geleit einiger Neffen und Nichten mit scharfen Worten zurückgewiesen hatte, konnte sie endlich, wie auf Luft und von Wolken des Glücks umgeben, ungestört den Hermistoner Berg hinaufwandeln. Nahe dem Gipfel hörte sie Schritte hinter sich, eines Mannes Schritte, leicht und sehr rasch. Sie erkannte sie sofort und eilte um so hastiger vorwärts. »Wenn er’s auf mich abgesehen hat, soll er um mich laufen«, dachte sie lächelnd.

Archie überholte sie gleich einem Mann, dessen Entschluß feststeht.

»Miß Kirstie«, begann er.

»Miß Christina, bitte, Mr. Weir«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich kann die Abkürzung nun mal nicht leiden.«

»Sie vergessen, daß sie in meinen Ohren freundlich klingt. Ihre Tante ist eine alte Freundin von mir, und zwar eine sehr liebe. Ich hoffe, wir werden Sie häufig in Hermiston sehen?«

»Meine Tante und meine Schwägerin kommen nicht gut miteinander aus. Nicht daß es mich was anginge. Aber während ich dort wohne, würde es nicht recht rücksichtsvoll erscheinen, falls ich meine Tante besuchte.«

»Das tut mir aber leid«, meinte Archie.

»Danke vielmals, Mr. Weir«, entgegnete sie. »Ich denke mitunter selbst, daß es recht schade ist.«

»Ach, sicherlich stehen Sie immer auf seiten des Friedens!« rief er.

»Davon würde ich nicht so ganz überzeugt sein«, sagte sie. »Ich hab‘ auch meine bösen Tage, wie andere Leut‘.«

»Wissen Sie, in unserer alten Kirche unter unseren grauen, alten Matronen wirkten Sie wie ein Strahl Sonnenschein.«

»Ach, das sind nur meine Glasgower Kleider.«

»Ich glaube nicht, daß ich so stark unter dem Einfluß hübscher Sachen stehe.«

Sie lächelte und warf ihm einen halben Blick zu. »Sie wären nicht der einzige!« sagte sie. »Aber ich bin nur ein Aschenputtel, wirklich. Ich muß all diese Dinge wieder in meinen Koffer packen; nächsten Sonntag werd‘ ich so grau wie die andern sein. Es sind Glasgower Kleider, verstehen Sie, und es ginge beileibe nicht, daß man sie zu einer Gewohnheit machte. Das würde zu auffallend sein.«

Jetzt waren sie an die Stelle gelangt, an der ihre Wege sich trennten. Rings dehnten sich die alten, grauen Moore, in deren Mitte ein paar Schafe wanderten; vor ihnen sahen sie die verstreute Karawane sich den Berg nach Cauldstaneslap hinaufarbeiten, seitwärts zweigte das Hermistoner Kontingent vom Wege ab und verschwand gruppenweise hinter den Toren des Parks. In dieser Umgebung wandten sie sich einander zu, um Lebewohl zu sagen, und als sie sich die Hände schüttelten, sahen sie sich bewußt fest in die Augen. Alles ging gesittet vor sich, wie es sich gehörte; und als Christina die steile Anhöhe nach Cauldstaneslap hinaufklomm, verdrängte ein befriedigendes Gefühl des Triumphes die Erinnerung an geringe Entgleisungen und Fehler. Sie trug jetzt ihr Kleid hochgeschürzt, wie sie das auf diesem rauhen Bergweg gewöhnlich tat; als sie jedoch entdeckte, daß Archie ihr immer noch vom gleichen Flecke nachstarrte, flogen die Röcke wie durch Zauber wieder herunter. Das war eine Probe der Gesittung hier in dieser Berggemeinde, wo die Matronen im Regen mit aufgesteckten Röcken und die Mädchen barfuß durch den sommerlichen Staub wanderten, um später vor ihrem Eintritt in die Kirche tapfer auf einem Stein am Bachesrand öffentlich Toilette zu machen! Vielleicht war jene Geste ihr von Glasgow zugeweht, vielleicht bezeichnete sie auch nur ein Stadium jenes Rausches befriedigter Eitelkeit, der eine instinktive Handlung unbemerkt geschehen läßt. Er sah ihr nach! Sie erleichterte ihren Busen durch einen ungeheuren Seufzer reinster Freude und hub zu laufen an. Als sie die Nachzügler der Familie überholte, zog sie jene Nichte, die sie eben erst zurückgestoßen hatte, an sich, küßte sie, gab ihr einen Klaps und trieb sie unter anmutigem Lachen und Rufen vor sich her. Vielleicht, dachte sie, beobachte der junge Herr sie noch immer. Zufällig jedoch spielte sich die kleine Szene vor weniger wohlwollenden Augen ab, denn jetzt kam Christina an Mrs. Hob vorbei, die mit Clem und Dand des Weges marschierte.

»Wahrhaftig, bei dir spukt’s, Mädel!« meinte Dandie. »Sollst dich was schämen!« erklärte die streitbare Mrs. Hob. »Ist das ’ne Art, sich auf dem Heimwege von der Kirche zu benehmen? Bist wahrhaftig nicht gescheit heute! Zum mindesten würd‘ ich achtgeben auf meine guten Kleider!«

»Pah!« sagte Christina und schritt allen voran, Kopf in der Luft, mit dem Tritt eines wilden Rehs den rauhen Bergpfad hinauf.

Sie war verliebt in sich selbst, in ihr Geschick, in die Luft der Berge, in das Gnadengeschenk der Sonne. Auf dem ganzen Heimwege hielt sie der Rausch ihrer himmelstürmenden Laune in Bann. Bei Tisch war sie beherrscht genug, um unbefangen über den jungen Hermiston zu reden; mit lauter Stimme und ziemlich nonchalant meinte sie, er wäre ein hübscher, junger Mann, mit wirklich artigen Manieren und dazu recht vernünftig, aber es sei doch schade, daß er so traurig aussähe. Im nächsten Augenblick setzte die Erinnerung an seine Augen in der Kirche sie in Verlegenheit. Das war jedoch alles. Diese unbedeutende Hemmung ausgenommen, entwickelte sie die Mahlzeit über einen guten Appetit und ließ die anderen aus dem Lachen nicht herauskommen, bis Gib (der vor ihnen von seinen separatistischen Andachtsübungen in Crossmichael heimgekehrt war) sie alle ob ihrer unziemlichen Heiterkeit tadelte.

Im Gehen »in sich hineinsingend«, immer noch ein Chaos froher Gedanken im Busen, trippelte sie nach oben in ihre enge, von vier kleinen Giebelfenstern erhellte Dachkammer, die sie mit einer ihrer Nichten teilte. Die Kleine, auf »Tantchens« gute Laune pochend, war ihr gefolgt und wurde höchst unzeremoniös aus der Kammer wieder hinausexpediert, um, brennend unter der Kränkung und halb in Tränen, ihren Kummer auf dem Boden im Heu zu ersticken. Immer noch summend, entledigte sich Christina ihres Putzes und barg nacheinander ihre Schätze in ihrem großen, grünen Koffer, als letztes ihr Gesangbuch. Dieses war ein schönes Stück, ein Geschenk von Mrs. Clem, in deutlicher, altmodischer Schrift auf einem Papier gedruckt, das vom langen Lagern auf dem Speicher – nicht vom Gebrauch – vergilbt war, und Christina war gewohnt, es allsonntäglich nach dem Gottesdienst in ein Taschentuch zu hüllen und es zuoberst in ihrem Koffer wegzulegen. Als sie es jetzt in die Hand nahm, öffnete es sich an der Stelle, an der das Blatt zerrissen war, und sie blieb stehen und betrachtete sinnend diesen Beweis ihrer früheren Aufregung. Da tauchten vor ihr zwei braune Augen auf, die sie, leuchtend und sehr intensiv, aus einem dunklen Kirchenwinkel anstarrten. Beim Anblick des zerfetzten Blattes sah sie blitzartig die ganze Erscheinung vor sich, die Haltung, das Lächeln, die angedeutete Geste des jungen Hermiston. »Wahrhaftig, bei mir hat’s heute gespukt!« sagte sie, Dandies Worte wiederholend, und bei dem Gedanken an ein unnatürliches, vorausbestimmtes Geschick wich ihre freudige Stimmung. Sie warf sich der Länge nach auf ihr Bett und lag dort stundenlang, das Gesangbuch in der Hand, die meiste Zeit in starrem, gelähmtem Widerstreit sich sträubender Freude und unvernünftiger Furcht. Diese Furcht war abergläubisch; wieder und wieder stieg die Erinnerung an Dandies unheilvolles Wort auf, und hundert düstere, unheimliche Geschichten aus der nächsten Nachbarschaft bestätigten ihr dessen Sinn. Die Freude drang nicht bis in ihr Bewußtsein vor. Vielmehr waren es die einzelnen Glieder ihres Körpers, welche dachten und sich erinnerten und froh waren, während ihr wahres Ich im Mittelpunkt ihres Bewußtseins fieberhaft von anderen Dingen redete, gleich einem nervösen Menschen bei einem Feuer. Das Bild, bei dem sie am liebsten verweilte, war das Fräulein Christina in ihrer Eigenschaft als hübsches Mädchen von Cauldstaneslap, das in strohfarbenem Kleid, violetter Mantille und gelben Spinnwebstrümpfen alle Herzen im Sturm eroberte. Archies Bildnis dagegen wurde, wenn es auftauchte, nicht willkommen geheißen, viel weniger mit Inbrunst begrüßt; ja mitunter mußte es erbarmungsloser Kritik standhalten. Im Laufe der langen, verschwommenen Dialoge, die sie in Gedanken häufig mit allerlei Bildern, häufig auch mit schattenhaften Fragestellern hielt, mußte Archie, falls er überhaupt erwähnt wurde, die rauheste Behandlung erdulden. Da hieß es, »daß er der reinste Storch wäre«, »geglotzt hätte wie ein Kalb«; »ein Gesicht wie ein Gespenst besäße« usw. »Überhaupt, was sind das für Manieren?« fragte sie; oder: »Ich hab‘ ihn aber gehörig zurechtgewiesen«. »›Jungfer Christina, bitte, Mr. Weir‹, hab‘ ich gesagt und meine Röcke aufgerafft und damit gut.« Mit dergleichen verworrenem Geschwätz unterhielt sie sich ununterbrochen lange Zeit; dann fiel ihr Blick auf das zerrissene Blatt, und die Augen Archies sprangen aus dem Dunkel der Mauer heraus, und die geläufigen Worte stockten, und sie lag still und stumpf und dachte hingegeben an nichts und seufzte mitunter nur leise. Wäre ein Doktor der Medizin in jene Dachkammer gestiegen, er hätte sie als ein gesundes, gutentwickeltes, lebenssprühendes Mädchen diagnostiziert, das sich in momentaner Schmollstimmung auf ihr Bett geworfen hatte, und durchaus nicht als einen Menschen, der soeben erst von einer tödlichen Krankheit des Gemüts, die ihn dem Tode und der Verzweiflung nahebringen konnte, befallen war oder befallen wurde. Wäre er ein Doktor der Psychologie gewesen, er hätte in dem Mädchen eine bis zur Leidenschaft gesteigerte kindische Eitelkeit, eine Selbstliebe in excelsis entdeckt und auch verziehen, sonst aber nichts. Es ist jedoch zu bedenken, daß ich hier das Chaos schildere, das Unfaßbare in Worte fasse. Keine Linie, die nicht zu deutlich, kein Ausdruck, der nicht zu stark wäre. Man denke sich einen Wegweiser in den Bergen an einem Tage brauender Nebel; ich habe lediglich die Namen auf jenem Schilde kopiert, die Namen bestimmter, bekannter und zur Zeit vielleicht im Sonnenschein sich badender Städte, während Christina all diese Stunden gleichsam am Fuße des Zeigers weilte, bewegungslos und in fließende, blinde Nebelschwaden gehüllt.

Der Tag ging zur Neige, die Sonnenstrahlen wurden lang und schräge, als sie sich plötzlich aufraffte und das Gesangbuch, das in dem ersten Kapitel ihrer Liebesgeschichte bereits eine so wichtige Rolle gespielt, in das Taschentuch wickelte und wegschloß. Es wird behauptet, daß mangels des Auges des Mesmeristen auch ein leuchtender Nagelkopf als Ersatz dienen könne, vorausgesetzt, daß man ihn nur recht inständig betrachte. So hatte jene zerrissene Seite ihre Aufmerksamkeit an eine Sache gefesselt, die ihr andernfalls nur unbedeutend erschienen wäre und die sie sonst vielleicht bald vergessen hätte, während die unheilschwangeren Worte Dandies – vernommen, doch nicht beachtet und dennoch haften geblieben – ihren Gedanken oder besser ihrer Stimmung eine gewisse Feierlichkeit und Schicksalhaftigkeit verliehen: das Bewußtsein heidnischen Fatums, keiner christlichen Gottheit unterworfen, dunkel, gesetzlos, erhaben und unerbittlich in die Schicksale der Christenheit eingreifend. So läßt sich selbst das seltene Phänomen der Liebe auf den ersten Blick, das so einfach und so zwingend, ja einer Erschütterung unserer Lebensfundamente vergleichbar erscheint, in eine Folge zufälliger Ereignisse auflösen. Sie legte ein graues Kleid mit rosa Fichu an, betrachtete sich einen Augenblick wohlgefällig in dem kleinen, viereckigen Glas, das ihr als Toilettenspiegel diente, und schlich sich leise die Treppe hinunter und durch das schlafende Haus, das von nachmittäglichem Schnarchen widerhallte. Unmittelbar vor der Tür saß Dandie mit einem Buch in der Hand; er las jedoch nicht, sondern ehrte den Sabbat lediglich durch vollkommene Gedankenleere. Sie trat zu ihm und blieb stehen.

»Ich will ins Moor hinaus, Dandie«, sagte sie. Ihr Ton war ungewöhnlich weich, und er blickte auf. Sie war blaß, ihre Augen strahlten dunkel; nirgends mehr eine Spur von ihrer früheren Ausgelassenheit.

»Ist’s wahr, Mädel? Bei dir geht’s auch immer bergauf und bergab, akkurat wie bei mir«, bemerkte er.

»Was meinst du damit?« erkundigte sie sich.

»Oh, nichts Besonderes«, sagte Dandie. »Ich meine nur, du bist mir ähnlicher als die andern alle. Hast mehr von dem poetischen Temperament, wenn auch nichts von der Begabung, weiß der liebe Herrgott. Nun, ’s ist im besten Fall ein heikles Geschenk. Sieh dich selber an. Beim Essen warst du ganz Sonnenschein und Blumen und Lachen, und jetzt bist du wie der Abendstern über einem See.«

Sie trank das abgedroschene Kompliment gleich Wein; es glühte in ihren Adern.

»Ich sagte schon, Dand« – sie trat näher –, »ich will hinaus ins Moor. Ich muß mal Luft schöpfen. Wenn Clem nach mir fragt, stopf ihm den Mund, nicht wahr?«

»Wie denn?« fragte Dandie. »Ich kenn‘ nur eine Methode, und die heißt lügen. Ich werd‘ ihm sagen, daß du Kopfschmerzen gehabt hättest, wenn du willst.«

»Ich hab‘ aber keine«, wandte sie ein.

»Schon recht«, entgegnete er, »ich sagte ja auch nur, ich würde behaupten, daß du welche gehabt hättest; und wenn du’s mir hinterher abstreiten willst, bleibt’s auch so ziemlich gleich; mein Ruf ist sowieso ein für allemal hin.«

»O Dand, bist du denn ein Lügner?« fragte sie und zögerte noch immer.

»Die Leut‘ behaupten es«, entgegnete der Barde.

»Wer behauptet es?« fuhr sie fort.

»Die, welche mich am besten kennen«, erwiderte er. »Die Mädels, zum Beispiel.«

»Aber Dand, mich würdest du doch nie belügen?« forschte sie.

»Das will ich dir überlassen, Katzel«, meinte er. »Wirst mich schon rasch genug beschwindeln, wenn du erst einen Schatz hast. Das sag ich dir, und es ist die Wahrheit; wenn du erst ’n Schatz hast, hast du ihn für gute und schlechte Tage, komme, was da will. Ich kenn‘ mich aus: war auch einmal so, aber der Teufel hat mir reingepatzt. Und jetzt mach, daß du fortkommst, und laß mich in Ruh; bist akkurat in meine poetische Stunde reingefahren, du unruhiger Aff.« Aber sie klammerte sich an ihres Bruders Gesellschaft, weshalb, wußte sie selbst nicht.

»Willst mir nicht einen Kuß geben, Dand?« bat sie. »Hab‘ dich immer so gern gehabt.«

Er küßte sie und musterte sie einen Augenblick; etwas an ihr mutete ihn fremd an. Aber er war durch und durch Frauenjäger, hegte für das ganze Weibervolk nur Verachtung, gleichmäßig mit Argwohn gepaart, und erkaufte sich seinen Weg unter ihnen gewohnheitsmäßig durch müßige Komplimente.

»So, und jetzt lauf!« sagte er. »Bist ein appetitlicher Fratz; damit gib dich zufrieden!«

So war Dandie: ein Kuß und ein Zuckerplätzchen für die Hanne – billigen Tand und seinen Segen für Marie – und dann gute Nacht und auf Nimmerwiedersehen der ganzen Bande! Dinge, die ans Ernste streiften, waren Männerangelegenheiten: das dachte und sagte er offen. Frauen durften einen nicht gefangennehmen; sie waren Kinder, die man gegebenenfalls fortscheuchte. Lediglich in seiner Eigenschaft als Connoisseur blickte er seiner Schwester flüchtig nach, als sie über die Wiese schritt. »Der Balg ist gar nicht so übel!« dachte er überrascht, denn obwohl er ihr eben erst ein Kompliment gezollt, hatte er sie doch nicht wirklich angesehen. »Nanu? Was soll das heißen?« Das graue Kleid hatte kurze Ärmel und einen fußfreien Rock und enthüllte ein paar feste, schlanke Beine in rosa Strümpfen von der gleichen Farbe wie das Tuch, das sie um die Schultern trug, und die Strümpfe glänzten im Gehen. Das war nicht das richtige Werkelstaggewand; er kannte ihre Gepflogenheiten und die aller Weiber hierzulande, keiner kannte sie besser; wenn sie nicht barfuß gingen, trugen sie dicke, wollene Strümpfe meist von fast unsichtbarem Blau, wenn nicht gar Schwarz; und beim Anblick dieses Putzes rechnete Dandie zwei und zwei zusammen. Das Busentuch war aus Seide, folglich würden die Strümpfe gleichfalls aus Seide sein; sie paßten zueinander – ergo war der ganze Anzug ein Geschenk Clems, ein kostbares Geschenk, keines, das man spät an Sonntagnachmittagen durch Sumpf und Dornen spazierentrug. Er stieß einen Pfiff aus. »Mein sauberes Püppchen, entweder du bist ganz verdreht, oder es geht hier was vor«, bemerkte er und ließ damit den Gegenstand fallen.

Sie ging anfänglich langsam, dann immer rascher und in geraderer Linie auf Cauldstaneslap zu, einen Paß zwischen den Bergen, dem der Hof seinen Namen verdankte. Der Paß öffnete sich gleich einer Tür zwischen zwei runden Hügelkuppen; durch ihn führte der Abkürzungsweg nach Hermiston. Auf der anderen Seite fiel er stracks ab in das Teufelsmoor, ein ziemlich großes, morastiges Tal zwischen den Höhen, voller Quellen, verkrüppeltem Wacholder und Tümpeln, in denen das schwarze Torfwasser schlummerte. Hier gab es keine Aussicht. Man hätte ein halbes Jahrhundert lang auf des Betenden Webers Stein sitzen können, ohne ein einziges Lebewesen zu sehen, außer zweimal alle vierundzwanzig Stunden die Kinder von Cauldstaneslap auf dem Schulwege und gelegentlich einen Schäfer samt seinem Clan Schafe, oder die Vögel, die schreiend und schrill pfeifend die Quellen belagerten. Sowie Kirstie daher den Eingang des Passes durchschritten hatte, sah sie sich von Einsamkeit umfangen. Sie blickte ein letztes Mal nach dem Hofe zurück. Immer noch lag er verlassen, mit Ausnahme von Dandie, den man jetzt etwas in seinen Schoß kritzeln sah, denn endlich war der Muse ersehnte Stunde gekommen. Von dort kreuzte sie in raschem Schritt das Moor und erreichte das andere Ende, wo ein träger Bach entspringt, den der Weg nach Hermiston in seinem ersten Abschnitt zu Tal geleitet. Von dieser Seite aus gewann sie einen umfassenden Rundblick über die ganze Heidefläche, die stellenweise vom Winterfrost immer noch gelblich und rotbraun schimmerte, mit dem kühn sie durchschneidenden Pfad samt einzelnen Birkengruppen am Bachesrand und – zwei Meilen fern im Vogelflug, von jungen Pflanzungen und Einfriedungen umgeben – den in der Abendsonne blitzenden Fenstern von Hermiston.

Hier setzte sie sich und wartete und spähte lange Zeit nach den fernen, hellen Scheiben hinüber. Es freute sie, einen so weiten Blick zu haben, schoß es ihr durch den Kopf. Es freute sie, das Hermistoner Herrenhaus zu sehen. »Menschen, Nachbarn«, und in der Tat unterschied sie eine menschliche Einheit, vielleicht den Gärtner, der dort den Kiesweg herunterschlenderte.

Als die Sonne untergegangen war und die östliche Moorfläche ganz in klarem Schatten lag, gewahrte sie eine männliche Gestalt mit äußerst unregelmäßigen Schritten, jetzt laufend, dann wieder innehaltend und unverhohlen zögernd, den Pfad hinaufkommen. Sie beobachtete ihn anfänglich in völliger Gedankenleere. Sie hielt ihre Gedanken an, wie ein Mensch den Atem anhält. Dann, endlich, gestattete sie sich, ihn zu erkennen. »Er wird nicht hierherkommen, es kann nicht sein; es ist unmöglich.« Und eine unterdrückte, würgende Spannung bemächtigte sich langsam ihrer. Aber er kam wirklich; sein Zaudern war völlig dahin, sein Schritt wurde fest und rasch; es blieb kein Raum für Zweifel. Statt dessen erhob sich sogleich die Frage: Was sollte sie tun? Was nützte es schon, daß ihr Bruder selbst ein Grundbesitzer war, daß man von gelegentlichen Zwischenheiraten sprach und auf die Verwandtschaft pochte wie Tante Kirstie? Der Unterschied in ihrer sozialen Stellung war schneidend; Schicklichkeit, Klugheit, alles, was sie gelernt hatte, was sie wußte, hieß sie fliehen. Allein der Becher des Lebens, der sich ihr bot, war gar zu köstlich. Einen kurzen Augenblick erkannte sie deutlich die Frage und traf endgültig ihre Wahl. Sie stand auf und zeigte ihre Umrisse eine Sekunde lang klar gegen den Himmel in dem Bergeinschnitt; in der nächsten Sekunde floh sie zitternd und setzte sich, glühend vor Aufregung, auf des Betenden Webers Stein. Sie schloß die Augen und rang, betete um Fassung. Die Hand in ihrem Schoß bebte, sinnlose, nichtige Reden drängten sich in ihrem Hirn. Was gab es nur, sich so anzustellen! Sie war sich selber doch Schutz genug! Was konnte es schaden, mit dem jungen Herrn zusammenzutreffen? Es war im Gegenteil das Beste, was geschehen konnte. Sie würde ein für allemal die richtige Entfernung zwischen ihnen abstecken. Mählich, ganz allmählich hörten die Räder ihres Seins auf, wie toll zu kreisen, und sie saß in passiver Erwartung, eine stille, einsame Gestalt mitten im grauen Moos. Ich sagte, sie sei keine Heuchlerin gewesen, aber darin tat ich unrecht. Nicht einen Augenblick gestand sie sich selber zu, daß sie den Berg hinaufgekommen wäre, um Archie zu treffen. Und vielleicht wußte sie es wirklich nicht, vielleicht geschah es einfach, wie der Stein zur Erde fällt. Denn die Schritte der Jugend sind in der Liebe, besonders bei Mädchen, instinktiv und unbewußt.

Inzwischen kam Archie eilig näher; er zum mindesten suchte bewußt ihre Nähe. Der Nachmittag war zu Asche geworden in seinem Munde; die Erinnerung an das Mädchen hatte ihn am Lesen verhindert und ihn wie mit Stricken gezogen, und endlich bei beginnender Abendkühle hatte er mit ersticktem Ausruf nach seinem Hut gegriffen und sich auf den Heideweg nach Cauldstaneslap gemacht. Er erwartete nicht, sie hier zu treffen; er wählte diese blasse Möglichkeit ohne Hoffnung auf Erfolg, lediglich um seine eigene Unruhe zu bekämpfen. Um so größer war daher seine Überraschung, als er den Hang hinaufklomm und das Teufelsmoor erreichte, hier auf des Toten Webers verwittertem Stein als Erfüllung all seiner Wünsche die zierliche, frauliche Gestalt in dem grauen Kleide und dem rosa Brusttuch zu finden, klein, hingekauert, verloren und grenzenlos einsam in dieser Öde. Was noch vom Winter sprach, umgab sie rings mit rostigbraunem Schimmer, und alle Frühlingsverheißungen hatten die zarten, frischen Farben der kommenden Zeit angelegt. Selbst das unwandelbare Antlitz des Grabsteins verriet den Wandel des Jahres: das Moos in der geritzten Inschrift erneuerte sich in funkelnden Juwelen von Grün. Dank eines nachträglichen, echt künstlerischen Einfalls hatte das Mädchen den rückwärtigen Zipfel ihres Tuches über den Kopf gezogen, daß es jetzt eine kleidsame Folie für ihr lebhaftes und doch nachdenkliches Gesicht bot. Sie saß, die Füße hochgezogen, und stützte sich auf den rechten Arm, der kräftig und rund in einer schlanken Handfessel auslief und im schwindenden Lichte glänzte. Ein kühler Schauer überlief den jungen Hermiston. Ihm kam der Gedanke, daß er sich jetzt auf eine ernste, um Tod und Leben gehende Angelegenheit einlasse. Es war ein erwachsenes Weib, dem er sich hier näherte, begabt mit geheimnisvollen Kräften und Reizen, mit dem ewigen Schatz ihres Geschlechts, und er war nicht besser und nicht schlechter als der Durchschnitt seines Alters und seiner Art. Eine gewisse Zartheit war ihm eigen, die ihn bisher rein erhalten und die ihn (ohne daß er oder sie es ahnte) nur um so gefährlicher machte, sobald sein Herz ernstlich gesprochen hatte. Seine Kehle war trocken, als er sich ihr näherte, aber die bittende Süße ihres Lächelns stand, ein Schutzengel, zwischen ihnen beiden.

Denn sie wandte sich ihm zu und lächelte, jedoch ohne sich zu erheben. In dieser Art, ihn als Kavalier zu begrüßen, lag eine Nuance, die beiden entging, ihm sowohl, der ihren Gruß einfach liebenswürdig und anmutig wie sie selbst fand, als auch ihr, die sie trotz ihres raschen Denkens den Unterschied zwischen dem Aufstehen, um den jungen Herrn zu begrüßen, und dem sitzenden Gruß an den erwarteten Verehrer nicht erfaßte.

»Geht Ihr nach Westen, Hermiston?« fragte sie, indem sie ihm nach der herrschenden Sitte den Titel seines Guts verlieh.

»Jawohl«, sagte er ein wenig heiser, »aber ich glaube, mein kleiner Spaziergang ist jetzt zu Ende. Geht es Ihnen wie mir, Fräulein Christina? Mich duldete es nicht zu Hause. Ich kam hierher, um Luft zu schöpfen.«

Er ließ sich auf dem anderen Ende des Grabsteins nieder und betrachtete sie, forschend, was wohl hinter ihr stecke. Diese Frage war unendlich wichtig für sie beide. »Ja«, meinte sie, »auch ich konnte kein Dach über dem Kopf vertragen. Es ist so eine Gewohnheit von mir, wenn’s dämmert und es ruhig und kühl ist, hierherzukommen.«

»Das war auch meiner Mutter Gewohnheit«, sagte er ernst. Halb schreckte ihn die Erinnerung, als er ihr Worte verlieh. Er blickte sich um. »Seither bin ich kaum hiergewesen. Es ist friedlich hier«, sagte er, tief Atem schöpfend.

»Ja, ganz anders als in Glasgow«, entgegnete sie. »Ein trauriger Ort, Glasgow! Aber was für einen Tag und welch herrlichen Abend hab‘ ich mir für mein Heimkommen ausgesucht!«

»Ja, es war wahrhaftig ein wunderbarer Tag«, sagte Archie. »Ich glaube, ich werde ihn nicht vergessen, bis ich sterbe. An Tagen wie heute – ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht – erscheint alles so flüchtig, so gebrechlich und so wundervoll, daß ich Angst habe, mit dem Leben in Berührung zu kommen. Wir sind gar so kurze Zeit hier auf Erden – und all die alten Leute vor uns – die Rutherfords von Hermiston, die Elliotts von Cauldstaneslap –, alle, die vor kurzem erst hier herumritten und viel Geschrei in diesem stillen Winkel machten – und liebten und heirateten –, wo sind sie jetzt? Es ist eine tödliche Banalität, die ich da sage, aber schließlich sind auch die großen poetischen Wahrheiten Banalitäten.«

Er war am Werk, sie zu prüfen, halb unbewußt, ob sie ihn wohl verstehen würde, um zu erfahren, ob sie nur ein Tier wäre, in die Farben der Blumen gekleidet, oder auch eine Seele besäße, ihr unvergänglichen Liebreiz zu verleihen. Sie, ihrerseits, wartete beherrscht und frauengleich auf eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen und seine Stimmung widerzuspiegeln, wie immer diese auch sein mochte. Der dramatische Künstler, der schlummernd oder nur halb wach in fast allen Menschen ruht, war in ihr zu göttlicher Raserei erweckt, und der Zufall war ihr günstig. Sie warf ihm einen zurückhaltenden, dämmrigen Blick zu, wie er zu dieser Stunde und zu seinem Gedankengang paßte; heiliger Ernst leuchtete aus ihr gleich den Sternen im purpurnen Westen; und von der starken, aber gebändigten Erschütterung ihres ganzen Wesens ging ein Schauer in ihre Stimme über, der auch in ihren nebensächlichsten Worten widerklang.

»Erinnert Ihr Euch an Dandies Lied?« fragte sie. »Ich glaube, er hat damit ausdrücken wollen, was Ihr soeben dachtet.«

»Nein, ich habe es niemals gehört«, meinte er. »Wollen Sie es mir nicht aufsagen?«

»Es ist aber gar nichts ohne Melodie«, entgegnete Christina.

»Dann singen Sie’s mir doch vor«, bat er.

»Am heiligen Sonntag? Das ginge doch beileibe nicht, Mr. Weir.«

»Ich fürchte, ich nehm‘ es mit dem Sonntag nicht gar zu ernst, und hier ist ja auch niemand, zuzuhören, höchstens der arme Tote dort unter dem Stein.«

»Nicht daß ich das wirklich so meine«, fuhr sie fort. »Meiner Ansicht nach ist das Lied genauso ernst wie ein Psalm. Soll ich’s Ihnen also vorsummen?«

»Ich bitte darum«, sagte er und rückte näher an sie heran, ganz Ohr.

Sie setzte sich aufrecht, wie um zu singen. »Ich kann es Ihnen doch nur vorsummen«, lächelte sie. »Ich möchte am Sonntag nicht laut singen. Ich glaube, die Vögel würden es Gilbert zutragen. Es handelt von den Elliotts«, fuhr sie fort, »und ich meine, es gibt in all den Gedichtbüchern nur wenige Dinge, die schöner sind, obwohl Dand niemals gedruckt worden ist.« Und sie hub in den weichen klaren Schwingungen ihrer gedämpften Stimme zu singen an; jetzt sank die Stimme fast zu einem Flüstern herab, jetzt wieder, bei den Tönen, die ihr besonders gut lagen und auf die Archie bald mit wachsender Bewegung wartete, schwoll sie an:

Sie ritten im Regen in den Zeiten, die gewesen,
In Regen und Wind und Luft;
Sie schrien beim Gelage und schlugen sich im Hage,
Jetzt ruhen sie stumm in der Gruft.
Die alten, alten Elliotts, todeskalten Elliotts,
Harten, heißen Elliotts alter Zeit.

Während dieser ganzen Zeit blickte sie fest vor sich hin, mit graden Knien, die Hände im Schoß und den Kopf hoch aufgerichtet. Ihr Vortrag war durchweg bewundernswert; hatte sie ihn nicht unter des Autors Fuchtel von ihm selbst gelernt? Als sie schwieg, wandte sie Archie ein weiches, strahlendes Gesicht zu, Augen, die im Dämmerlicht matt leuchteten und verschwammen, und sein Herz schlug heftig und flog ihr in Mitleid und grenzenloser Sympathie entgegen. Dies war die Antwort auf seine Frage. Sie war ein menschliches Wesen, empfänglich auch für die Tragik des Lebens; ja, Tragik, Musik und ein großes Herz lebten in diesem Mädchen.

Instinktiv erhob er sich; sie folgte, denn sie sah, sie hatte einen Sieg davongetragen, wollte den Eindruck verstärken und war klug genug, nach einem Erfolge zu fliehen. Jetzt gab es nur noch Nichtigkeiten auszutauschen, aber ihre leisen, bewegten Stimmen heiligten auch diese in ihrem Gedächtnis. In dem wachsenden Grau des Abends sah er ihre Gestalt auf dem gewundenen Pfad durch das Moor entschwinden, sah sie ein letztes Mal sich umdrehen und ihm winken, dann hatte der Einschnitt der Berge sie verschluckt, und es war ihm, als habe sie etwas aus der Tiefe seines Herzens mitgenommen. Doch wahrlich, er hatte dafür eine Gegengabe empfangen, etwas, das dauern sollte. Aus den Tagen seiner Kindheit war ihm ein Bild seiner Mutter haftengeblieben, halb verblaßt durch die Zeit und durch ein Heer neuer Eindrücke, das Bild, wie sie ihm mit zittrigem Ernst und häufig unter strömenden Tränen des Betenden Webers Geschichte erzählte, hier auf dem Schauplatz seiner kurzen Tragödie und langen Rast. Und jetzt gab es ein Gegenbild dazu; er sah und würde bis in alle Ewigkeit Christina sehen, wie sie in den grauen Farben des Abends auf dem nämlichen Grabmal hockte, anmutig, zierlich, vollkommen wie eine Blume, und auch sie sang.

Vom Unglück ferner Zeiten,
Von Schlachten, altersgrau,

von ihren gemeinsamen, längst verstorbenen Ahnen, von deren rohen Kriegen und Waffen, mit ihnen verscharrt, von jenen seltsamen Wechselbälgen, ihren Nachkommen, die noch eine kleine Spanne Zeit hier verweilen würden, um dann wie jene zu vergehen und vielleicht auch von Fremden zur Dämmerstunde besungen zu werden. Dank einer unbewußten, zärtlichen Gefühlswallung stellte er die beiden Frauen Seite an Seite in den Heiligenschrein seines Gedächtnisses. Ja, in jener empfindsamen Stunde schössen ihm Tränen in die Augen, wenn er der einen oder anderen gedachte; und das Mädchen rückte aus der Kategorie der leuchtenden und reizvollen Erscheinungen in die Region der Dinge auf, die so ernst waren wie das Leben selbst und der Tod oder das Bild seiner verstorbenen Mutter. So spielte allseits und in jeder Richtung das Schicksal mit diesen armen Kindern sein kunstvolles Spiel. Die Generationen waren vorbereitet, die Schmerzen vorherbestimmt, ehe noch der Vorhang sich über dem dunklen Drama erhob.

Im nämlichen Augenblick, da sie seinen Blicken entschwand, öffnete sich vor Kirsties Augen das bechergleiche Tal, in dem ihres Bruders Hof lag. Sie sah in einer Tiefe von etwa fünfhundert Fuß, wie sich das Haus mit Kerzen schmückte – ein deutlicher Wink, daß sie sich beeilen müsse. Denn Kerzen wurden an Sonntagabenden nur zu jener Familienandacht entzündet, welche die unvergleichliche Langeweile des Tages beschloß und die Entspannung des Abendessens heranrückte. Sie wußte, Robert würde jetzt schon am Kopfende des Tisches sitzen und den Text auswählen; denn es war Robert in seiner Eigenschaft als Familienpriester und -richter und nicht der begabte Gilbert, der bei diesen Gelegenheiten amtierte. Sie eilte daher so rasch wie möglich den steilen Abhang hinunter und kam atemlos vor der Tür an, gerade als die drei jüngeren Brüder, frisch ihrem Schlummer entrissen und umgeben von einer Horde kleiner Neffen und Nichten, in der Abendkühle schwatzend auf das Zeichen zur Andacht warteten. Sie hielt sich zurück; sie hatte wenig Lust, deren Aufmerksamkeit auf ihr verspätetes Eintreffen und ihren keuchenden Atem zu lenken.

»Kirstie, diesmal bist grad noch zurechtgekommen«, meinte Clem. »Wo warst du nur?«

»Ach, nur so ’n bißchen spazieren«, sagte Kirstie.

Und sie fuhren fort, über den amerikanischen Krieg zu sprechen, ohne der Ausreißerin zu achten, die zitternd vor Glück und im Bewußtsein ihrer Schuld neben ihnen im Schutze der Dunkelheit sich verkroch.

Das Zeichen ertönte, und die Brüder gingen, umdrängt von Hobs Kinderschwarm, einzeln ins Haus.

Aber Dandie blieb als letzter zurück und ergriff Kirsties Arm. »Seit wann geht Ihr in rosa Strümpfen spazieren, Mamsell Elliott?« fragte er schlau.

Sie blickte an sich herab, von Kopf bis Fuß eine einzige Blutwelle. »Ich muß reinweg vergessen haben, sie zu wechseln«, sagte sie und begab sich jetzt ihrerseits voller Unruhe zum Gottesdienst, hin und her gerissen zwischen Sorge, ob Dandie auch nicht in der Kirche ihre gelben Strümpfe bemerkt und sie über einer greifbaren Lüge ertappt hätte, und Scham, daß sie so bald seine Prophezeiung wahr gemacht. Sie erinnerte sich seiner Worte; wie es ihr ergehen würde, wenn sie erst einen Schatz hätte, und daß sie ihm dann in guten und schlechten Zeiten anhängen würde. »Habe ich denn jetzt wirklich einen Schatz?« dachte sie mit heimlichem Glücksschauer.

Und im Verlaufe der Andacht, bei der es ihr Hauptbestreben war, vor der gleichgültigen Madam Hob ihre rosa Strümpfe zu verbergen – und beim Abendbrot, während sie lediglich zu essen vorgab und strahlend und verlegen bei Tische saß – und später, als sie die anderen verlassen und sich in ihr Zimmer begeben hatte, wo sie mit ihrer schlafenden Nichte allein war und endlich den Panzer gesellschaftlicher Formen ablegen konnte – klangen die gleichen Worte in ihr nach: das nämliche, tiefe Glück, das Bewußtsein einer völlig veränderten, wiedergeborenen Welt, eines Tages, den sie im Paradies verbracht, und einer Nacht, in der sich ihr der Himmel erschließen sollte. Diese ganze Nacht war es ihr, als glitte sie auf einem seichten Strom des Schlafens und Wachens zwischen den Grotten Elysiums dahin; diese ganze Nacht pflegte sie in ihrem Herzen jene köstliche Hoffnung; und als sie diese gegen Morgen in tieferer Bewußtlosigkeit begrub, geschah es nur, um im ersten Augenblick des Erwachens von neuem nach jenem Regenbogen des Gedankens zu greifen.

7


Eintritt Mephistopheles‘

Zwei Tage später setzte ein Gig aus Crossmichael Frank Innes vor den Toren Hermistons ab. Einmal im vergangenen Winter während eines besonders heftigen Anfalls von Langeweile hatte ihm Archie einen Brief geschrieben. Dieser hatte eine Art Einladung enthalten, oder eine Anspielung auf eine Einladung – Innes wie er selbst erinnerten sich nicht mehr genau daran. Als Innes ihn empfing, hatte ihm nichts ferner gelegen, als sich mit Archie zusammen im Moor zu vergraben; allein selbst die scharfsinnigsten politischen Köpfe wandeln nicht immer mit untrüglicher Zielbewußtheit durchs Leben. Das würde eine Gabe der Voraussicht erheischen, die den Menschen abgeht. Wer hätte sich zum Beispiel denken können, daß noch nicht einen Monat nach Empfang jenes Briefes, den er verspottet, dessen Beantwortung er verschoben, ja den er zu guter Letzt gar verloren hatte, Mißgeschicke düsterster Natur sich um Franks Laufbahn sammeln würden? Der Fall läßt sich mit wenigen Worten schildern. Sein Vater, ein kleiner Gutsbesitzer in Morayshire mit einer zahlreichen Familie, wurde widerspenstig und sperrte plötzlich den Wechsel; Frank hatte sich die Anfänge einer recht anständigen Bibliothek zugelegt, die er sich genötigt sah nach einigen unerwarteten Verlusten auf dem Rennplatz wieder zu verkaufen, noch ehe sie bezahlt waren; seinem Buchhändler kam diese Tat zu Ohren, und er erließ gegen Innes einen Haftbefehl. Frank hörte noch rechtzeitig davon und war imstande, seine Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Bei diesem Wirrwarr seiner Angelegenheiten und angesichts der drohenden Klage hielt er es für das klügste, sofort zu verschwinden; er schrieb daher einen glühenden Brief an seinen Vater und bestieg die Postkutsche nach Crossmichael. Jeder Hafen war ihm recht in diesem Sturm! Mit männlicher Entschlossenheit kehrte er dem Parlamentshaus und seinem heiteren Klatsch, kehrte Porter und Austern, dem Rennplatz und der Arena den Rücken, kühn entschlossen, mit Archie Weir in Hermiston ein lebendes Grab zu teilen, bis die Wolken sich zerstreut hätten.

Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er selbst war über seine Abreise nicht weniger erstaunt als Archie über seine Ankunft; nur verbarg er seine Verwunderung mit unendlich viel größerer Gewandtheit.

»Ja, hier bin ich!« sagte er, als er ausstieg. »Endlich ist Pylades zu seinem Orest gekommen. Übrigens, haben Sie meine Antwort erhalten? Nein? Wie ärgerlich! Ja, jetzt bringe ich die Antwort selbst; um so besser!«

»Ich freue mich natürlich sehr, Sie zu sehen«, sagte Archie. »Sie sind natürlich herzlich willkommen. Aber Sie haben doch nicht die Absicht zu bleiben, solange das Gericht noch tagt? Wäre das nicht äußerst unvernünftig?«

»Der Teufel hole das Gericht!« meinte Frank. »Was ist die Jurisprudenz gegen die Freundschaft und ein bißchen Fischen?«

Und so kamen sie überein, daß er bleiben solle ohne jeden anderen Termin für seine Abreise als den, welchen er sich privatim stellte – nämlich den Tag, an dem sein Vater mit dem Gelde herausrücken würde und er imstande wäre, seinen Buchhändler zu befriedigen. Unter so unklaren Verhältnissen begann für diese beiden jungen Männer (die nicht einmal Freunde waren) ein Leben größter räumlicher Nähe und ständig schwindender Vertraulichkeit. Sie sahen sich bei den Mahlzeiten sowie des Abends, wenn die Stunde des Whisky-Toddys sich nahte; allein es war auffallend (wäre jemand dagewesen, es zu beobachten), daß sie bei Tage nur selten zusammenkamen. Archie hatte Hermiston zu verwalten; die mannigfachsten Obliegenheiten führten ihn in die Berge, wo Franks Begleitung überflüssig war und Archie sie mitunter auch ablehnte. Manchmal ging er in aller Frühe vom Hause fort und ließ dem anderen auf dem Frühstückstisch lediglich einen Zettel zurück, um ihn von dieser Tatsache in Kenntnis zu setzen; dann und wann kehrte er auch ohne jede vorherige Ankündigung erst lang nach der Essenszeit heim. Innes seufzte unter dieser Fahnenflucht; er brauchte seine ganze Philosophie, um sich gelassen an den gemeinsamen Frühstückstisch zu setzen, und mußte die echte Gutmütigkeit seiner Natur zu Hilfe rufen, um Archie bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er verspätet zum Essen heimkehrte, freundlich zu begrüßen.

»Was in aller Welt macht ihm nur so viel zu schaffen, Madam Elliott?« fragte er eines Morgens, nachdem er soeben eines dieser flüchtig hingekrizelten Billette gelesen und sich zu Tisch gesetzt hatte.

»Geschäftliche Angelegenheiten vermutlich, Sir«, entgegnete trocken die Haushälterin und wies ihn durch die Andeutung eines Knickses auf den zwischen ihnen herrschenden Abstand hin.

»Was für Angelegenheiten?« wiederholte er.

» Seine Angelegenheiten, vermutlich«, wiederholte die unerbittliche Kirstie.

Er wandte sich ihr mit jener strahlend guten Laune zu, die sein gewinnendster Zug war, und brach in schallendes, gesundes und natürliches Gelächter aus. »Gut pariert, Madame Elliott!« rief er, und der Haushälterin Gesicht löste sich in den Schatten eines eisernen Lächelns auf. »Wahrhaftig, gut pariert! Aber Sie müssen mich nicht so als Fremden behandeln! Archie und ich sind doch auf der gleichen Schule und gemeinsam auf der Universität gewesen und wollten auch beide in den Anwaltsstand eintreten, als – na, sie wissen ja! Liebe Zeit, liebe Zeit! Welch ein Jammer! Ein ganzes Leben ruiniert, ein junger Mensch hier in der Wildnis unter lauter Bauern begraben, und weswegen nur? Nur wegen eines dummen, törichten Streichs, nichts weiter. Gott, wie prachtvoll Ihre Haferkuchen schmecken, Madam Elliott!«

»Es sind nicht meine, das Mädel hat sie gebacken«, antwortete Kirstie, »und mit Eurer Erlaubnis: Es hat wenig Sinn, des Herrn Name nur um etlicher eitler Brocken willen, die man sich in den Bauch stopft, in den Mund zu nehmen.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht, Madam«, entgegnete der unerschütterliche Frank. »Aber was ich gerade sagen wollte: Die Sache mit dem armen Archie ist doch ewig schade, und Sie und ich könnten Schlimmeres tun, als die Köpfe zusammenstecken und wie zwei vernünftige Leute überlegen, wie man ihr ein Ende machen könnte. Ich sage Ihnen, Madam, Archie galt wirklich als ein äußerst vielversprechender junger Mann, und ich bin durchaus der Ansicht, daß er’s als Anwalt noch weit gebracht hätte. Und was seinen Vater anbetrifft, so kann ja zwar keiner seine Tüchtigkeit leugnen, ebensowenig wie man bestreiten kann, daß er des Teufels eigene Laune geerbt hat –«

»Wenn Ihr gütigst entschuldigen wollt, Mr. Innes, ich glaube, die Dirn‘ hat nach mir gerufen«, sagte Kirstie und fegte aus dem Zimmer.

»Der verdammte, haarige, alte Besen!« rief Innes. Inzwischen war Kirstie in die Küche geflohen und machte vor ihrer Vasallin ihren Gefühlen Luft.

»Hier, Nichtsnutz! Marsch hinein, und warte dem Innes auf! Ich hab‘ mich nicht mehr in der Gewalt. ›Armer Archie!‹ Ich würd’s ihm zeigen, mit seinem ›armen Archie‹, wenn’s nach mir ginge! Und Hermiston mit des Leibhaftigen eigener Laune? Herrgott, zuvor gib, daß er ihm Hermistons Haferkuchen aus dem Maule herausholt. Nicht ein Haar an den beiden Weirs, das nicht mehr Schneid und Kraft hätte als jener an seinem ganzen elenden Leibe! Und ausgerechnet mir kommt er mit seinen Schimpfereien! Er soll sich zurück in seine schmutzige Stadt trollen, wo sie ihn vielleicht brauchen können, und in seinen Kabriolets rumsausen – er mit seiner Pomade im Haar – und sich mit liederlichen Frauenzimmern gemein machen – Schande, die er ist!« Unmöglich konnte man ohne Bewunderung vernehmen, wie Kirsties wachsender Ekel sich entlud, während sie nacheinander diese ein wenig unbegründeten Anschuldigungen vorbrachte. Da erinnerte sie sich ihres augenblicklichen Vorhabens und wandte sich noch einmal an ihre faszinierte Zuhörerin. »Hast mich nicht verstanden, Schlafmütze? Hast nicht verstanden, was ich dir sagte? Muß ich dich zu ihm hineinjagen? Ich werde Ihr Beine machen, Mamsell!« Und die Magd floh aus der jetzt unsicher gewordenen Küche nach vorn, um Innes zu bedienen.

Tantaene irae? Hat man den Grund noch nicht erraten? Seit Franks Kommen hatte es ein Ende mit den vertraulichen Gesprächen über dem Abendbrottablett! Franks ganze Schmeicheleien waren umsonst; er hatte das Rennen um Madam Elliotts Gunst mit einem Handicap angetreten.

Seltsam jedoch war, wie hartnäckig der Mißerfolg sich bei all seinen Versuchen, Freundschaft zu schließen, an seine Fersen heftete. Ich muß den Leser warnen, Kirsties Epitheta für bare Münze zu nehmen; ihr lag mehr an deren Kraft als Wahrheit. Da war das Wort »elend« zum Beispiel; nichts hätte verleumderischer sein können. Frank war der Inbegriff schöner, gutgelaunter, kraftvoller männlicher Jugend. Er hatte strahlende, vergnügt funkelnde Augen, lockiges Haar, ein einnehmendes Lächeln, blendend weiße Zähne, eine bewundernswerte Kopfhaltung, das Aussehen eines Gentleman und die Sicherheit eines Menschen, der gewohnt ist, auf den ersten Blick zu gefallen und bei näherer Bekanntschaft noch zu gewinnen. Und trotz all dieser Vorzüge scheiterte er bei allen Menschen auf Hermiston; bei dem schweigsamen Schäfer, dem unterwürfigen Verwalter, dem Pferdeburschen, der gleichzeitig der Ackerknecht war, dem Gärtner und bei des Gärtners Schwester – einer frömmelnden, gedrückten Frau, die ständig einen Schal um die Ohren trug –, bei allen fiel er gleichmäßig und gründlich durch. Sie mochten ihn nicht und zeigten es ihm deutlich. Das kleine Hausmädchen war die einzige Ausnahme; sie bewunderte ihn inbrünstig, ja wahrscheinlich träumte sie von ihm in ihren Mußestunden; aber sie war gewohnt, bei Kirsties Tiraden die Rolle der stummen Zuhörerin zu spielen und auch schweigend Kirsties Ohrfeigen hinzunehmen, und hatte gelernt, in Anbetracht ihrer Jahre sowohl ein sehr tüchtiges als auch ein schweigsames und vorsichtiges Mädchen zu sein. Frank war sich daher bewußt, der geschlossenen Mißbilligung gegenüber, die ihn allseits auf Hermiston umgab, beobachtete und bediente, eine einzige Verbündete und mitfühlende Seele zu besitzen; allein er gewann nur geringsten Trost aus dieser Gesellschaft und Unterstützung; die gesetzte kleine Magd (bei ihrem letzten Geburtstag eben erst zwölf geworden) hielt ihren Mund und trippelte hurtig, stumm mitfühlend, aber unerbittlich wortkarg in seinen Diensten hin und her. Alle anderen waren hoffnungslos und völlig unleidlich. Noch nie war ein junger Apollo derart unter rustikalen Barbaren gestrandet. Vielleicht jedoch lag die Ursache all seines Mißerfolges in einem einzigen Zug, den er sich, ohne es zu wissen, angeeignet hatte und der für den ganzen Burschen charakteristisch war. Das war seine Gewohnheit, sich einem Menschen stets auf Kosten irgendeines anderen zu nähern. Er bot dem Betreffenden ein Bündnis gegen einen dritten an; er schmeichelte dem einen durch Vernachlässigung des anderen; ehe man es wußte, war man in irgendeine kleine Intrige verwickelt. Im allgemeinen ist ein derartiges Verhalten ganz wunderbar wirksam; Franks Mißgriff lag nur in der Wahl dieses dritten. Darin war er nicht diplomatisch; er lauschte der Stimme seines Ärgers. Archie hatte ihn gleich zu Anfang durch einen seiner Meinung nach ziemlich trockenen Empfang gekränkt, seither durch häufige Abwesenheit. Außerdem war Archie der einzige, der ihm ständig vor Augen stand, und Archies unmittelbare Untergebene waren gerade diejenigen, denen Frank den Köder seiner Sympathie auswerfen konnte. Jedoch um die beiden Weirs, Vater und Sohn, scharte sich ein ganzer Clan eingefleischter Anhänger. Auf Mylord waren sie alle ungeheuer stolz. Es war eine Auszeichnung, des »Henker-Richters« Vasall zu sein, und seine grobe, furchteinflößende Jovialität war in der unmittelbaren Umgebung seines Hauses durchaus nicht unpopulär. Archie dagegen brachten sie alle bis auf den letzten Mann feinfühlige Liebe und einen Respekt entgegen, die auch vor dem geringsten absprechenden Wort zurückschreckten.

Ebensowenig Erfolg hatte Frank, als er sich weiter hinauswagte. Den Vier Schwarzen Brüdern, zum Beispiel, war er im höchsten Grade antipathisch. Hob fand ihn zu frivol, Gib zu weltlich, Clem, der ihn erst ein, zwei Tage vor seiner Abreise nach Glasgow kennenlernte, wollte wissen, was der Hansnarr eigentlich hier draußen zu tun hätte und ob er die ganze Sessionszeit hier zu verbringen gedächte. »Das ist ’ne Drohne«, erklärte er. Und was gar Dandie betrifft, so wird es genügen, ihre erste Zusammenkunft zu schildern. Frank war gerade beim Fischen, als jene ländliche Berühmtheit zufällig des Weges kam.

»Ich höre, daß Sie ein richtiger Dichter sind«, sagte Frank.

»Und wer hat Ihnen das gesagt, mein Bürschchen?« lautete die nicht sehr entgegenkommende Antwort.

»Ach, alle!« entgegnete Frank.

»Gott, das nenn‘ ich mir Ruhm!« meinte der sardonische Dichter und ging seiner Wege.

Wenn man es sich recht überlegt, bietet sich hier vielleicht die wahre Erklärung für Franks Mißerfolge. Wäre er dem Herrn Sheriff Scott begegnet, er hätte sicherlich ein geschickteres Kompliment gedrechselt, denn es würde sich ja auch gelohnt haben, mit Mr. Scott Freundschaft zu schließen. Dandie dagegen war ihm keinen Sixpence wert, und er zeigte das, selbst während er ihm zu schmeicheln suchte. Herablassung ist eine vortreffliche Sache; merkwürdig ist nur, welch einseitiges Vergnügen sie gewährt! Und wer unter der schottischen Bauernschaft mit Herablassung als Köder angeln geht, wird am Abend mit leerem Korbe heimkehren.

Als Beweis für diese Theorie erzielte Frank große Erfolge im Dienstagklub zu Crossmichael, wo ihn Archie gleich nach seiner Ankunft einführte: sein letztes eigenes Auftreten an dieser Stätte der Lustbarkeit. Frank wurde dort sogleich willkommen geheißen, fuhr fort, regelmäßig hinzugehen und besuchte noch am Vorabend seines Todes (wie die Mitglieder stets mit Vorliebe erzählten) eine dieser Versammlungen. Der junge Hay und der junge Pringle tauchten plötzlich wieder auf. Es gab wieder einmal ein Souper in Windielaws und ein Diner auf Driffel; die Folge war, daß der Landadel der Grafschaft Frank ebenso rückhaltlos in seine Mitte aufnahm, wie die Bauernschaft ihn ablehnte. Er hauste zu Hermiston gleich einem Eroberer in einer besiegten Hauptstadt. Er unternahm auch ständig Ausfälle von dort, wie von einer großen Operationsbasis, um Toddy-Gelage, Ausflüge zum Fischen und Abendgesellschaften zu besuchen, zu denen Archie nicht geladen wurde oder zu denen er nicht hinging. Dies war auch die Zeit, in der die Bezeichnung »der Einsiedler« sich einbürgerte. Manche behaupteten sogar, Innes hätte sie erfunden; zum mindesten sorgte Innes für ihre Verbreitung.

»Was macht Ihr Einsiedler heute?« erkundigten sich die Leute.

»Ach, er einsiedelt weiter!« pflegte Innes dann mit strahlendem Ausdruck zu erklären, als habe er etwas Geistreiches gesagt, um dann sofort das allgemeine Gelächter, das viel eher durch seine Art als durch seine Worte hervorgerufen wurde, mit der Bemerkung zu unterbrechen: »Wissen Sie, Sie haben gut lachen, aber mir gefällt die Sache gar nicht. Der arme Archie ist ja ein recht guter Kerl, den ich immer habe leiden mögen. Ich finde es aber kleinlich von ihm, die geringfügige Dummheit, die er sich hat zuschulden kommen lassen, so schwer zu nehmen und sich derart vor den Menschen zu verschließen. ›Zugegeben, daß es eine lächerliche Sache war, eine peinlich lächerliche Sache‹, sag‘ ich ihm immer. ›Aber seien Sie ein Mann! Stellen Sie sich der Welt wie ein Mann!‹ Aber er denkt gar nicht daran! Natürlich ist nur die Einsamkeit und die Schande und dergleichen daran schuld. Aber, Sie verstehen, ich beginne, mich vor den Folgen zu fürchten. Es wäre doch unsäglich schade, wenn ein wirklich vielversprechender Mensch wie Weir ein schlechtes Ende nähme. Ich fühle mich allen Ernstes versucht, einmal Lord Hermiston zu schreiben und ihm die Sache klarzulegen.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle tun«, pflegten dann einige seiner Zuhörer zu erwidern, kopfschüttelnd, erschrocken und verwirrt durch diese neue und so geschickt durch ein einziges Wort beleuchtete Auffassung der Angelegenheit. »Eine ausgezeichnete Idee!« fügten sie meist hinzu und wunderten sich über den Aplomb und die Position dieses jungen Mannes, der als etwas Selbstverständliches davon sprach, Hermiston zu schreiben und ihn in seinen Privatangelegenheiten zurechtzuweisen.

Und Frank fügte mit gewinnendem Vertrauen hinzu: »Ich will Ihnen etwas sagen: Er nimmt es sich tatsächlich zu Herzen, daß ich hier so gut aufgenommen werde und daß er in der Grafschaft keine Rolle spielt – er ist wahrhaftig eifersüchtig und nimmt es sich zu Herzen. Ich habe ihn geneckt, und ich habe ihm zugeredet; ich habe ihm erklärt, daß alle ihm wirklich wohlgesinnt wären, ja ich hab‘ ihm sogar weisgemacht, daß ich lediglich so aufgenommen würde, weil ich sein Gast sei. Aber es nützt alles nichts. Er nimmt weder die Einladungen an, die man ihm schickt, noch hört er auf, über diejenigen nachzugrübeln, die man ihm nicht schickt. Wovor ich mich fürchte, ist, daß die Wunde allmählich zu schwären anfangen könnte. Er gehörte von jeher zu den dunklen, verschlossenen, zornigen Naturen – ein wenig hinterlistig mit einer tüchtigen Portion Galle –, Sie kennen ja die Art. Er muß es wohl von den Weirs geerbt haben, die vermutlich irgendwo von einer ehrbaren Weberfamilie abstammten; wie heißt doch der landläufige Ausdruck? – sitzende Lebensweise. Das gerade sind die Naturen, die in einer falschen Stellung, wie sie sein Vater für ihn geschaffen hat oder wie er sie sich jetzt selbst schafft – das können Sie halten, wie’s Ihnen beliebt –, auf Abwege geraten. Ich für meinen Teil finde es eine Schmach«, fügte Frank edelmütig hinzu.

Allmählich nahmen der Kummer und die Sorge dieses uneigennützigen Freundes festere Gestalt an. Er fing an, im Vertrauen, unter vier Augen, unklar von allerlei schlechten und gemeinen Gewohnheiten Archies zu sprechen. »Ich muß sagen, ich fürchte tatsächlich, daß er völlig auf Abwege geraten ist«, meinte er alsdann. »Ich sag‘ es Ihnen offen heraus und ganz unter uns: Ich mag eigentlich nicht länger hier bleiben; aber verstehen Sie, ich fürchte mich einfach, ihn allein zu lassen. Mir wird man natürlich später die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Ich bringe ein großes Opfer, wenn ich bleibe. Ich schade meiner Karriere als Advokat: dagegen kann ich meine Augen nun mal nicht verschließen. Ich fürchte wirklich, ich werde noch von allen Seiten Fußtritte bekommen, ehe die Sache vorbei ist. Sehen Sie, keiner glaubt ja heutzutage noch an Freundschaft.«

»Ja, Innes, das ist aber kolossal anständig von Ihnen«, pflegte der Fragesteller dann zu erwidern. »Ich muß schon sagen, wenn man je was gegen Sie vorbringt, können Sie natürlich zum mindesten auf mich rechnen.«

»Ja«, fuhr Frank fort, »offen gestanden, man kann es nicht als angenehm bezeichnen. Er hat eine furchtbar ungehobelte Art; seines Vaters Sohn, verstehen Sie? Ich sag‘ ja nicht, daß er geradezu unhöflich ist – natürlich kann man nicht von mir erwarten, daß ich mir auch das noch bieten lasse –, aber er segelt schon hart an den Wind. Nein, angenehm ist es nicht; doch ich sage Ihnen, Mann, ich halte es auf mein Gewissen nicht für fair, ihn im Stich zu lassen. Verstehen Sie mich ja nicht falsch: ich sag‘ nicht, daß wirklich etwas nicht im Lote ist. Was ich sage, ist nur, daß mir die ganze Sache nicht gefällt.« Und er preßte den Arm seines jeweiligen Vertrauten.

Ich bin überzeugt, daß er anfänglich nichts Böses beabsichtigte. Er redete lediglich um des Vergnügens willen, sich reden zu hören. Er besaß von Natur eine flinke Zunge, wie sich das für einen jungen Advokaten schickt, und nahm es ebenso natürlich mit der Wahrheit nicht sehr genau – was das Zeichen eines jungen Esels ist. So redete er drauflos. Einen besonderen Zweck verfolgte er dabei nicht, außer dem allgemeinen, ihm angeborenen, sich selbst zu schmeicheln und dem Freund des Augenblicks zu gefallen und ihn zu interessieren. Und dank dieser Gewohnheit, Wind zu dreschen, baute er allmählich von Archie ein Bild auf, das in allen Winkeln und Ecken des Landes bekannt und beredet wurde. Wo immer ein Herrenhaus inmitten seines ummauerten Gartens lag, wo immer ein zwergenhaftes Schloß in seinem Parke sich erhob, wo immer ein vierfach vergrößertes Cottage neben einem alten Wachtturm den Niedergang einer alten Familie anzeigte oder eine stattliche Villa mit Wagenauffahrt und Strauchwerk den Aufschwung einer neuen – auf den Rädern der Maschine vermutlich –, da wurde Archie im Licht eines düsteren, vielleicht gar lasterhaften Geheimnisses betrachtet und die weitere Entwicklung seiner Laufbahn mit Unruhe und vertraulichem Geraune erwartet. »Er hat irgend etwas Unehrenhaftes begangen, meine Liebe! Was, ist nicht ganz klar, aber jener reizende, freundliche junge Mann, Mr. Innes, hat sein Bestes getan, es auf die leichte Achsel zu nehmen.« Das war es nun einmal. Und Mr. Innes machte sich um ihn jetzt große Sorgen. »Er ist wirklich ganz beunruhigt, mein Bester; er ruiniert sich tatsächlich seine Laufbahn, weil er es nicht wagt, ihn allein zu lassen.« Wie restlos sind wir alle doch einem einzigen Schwätzer ausgeliefert, der nicht einmal bösen Willens zu sein braucht! Wenn ein Mann nur im richtigen Geiste von sich selbst redet und seine Tugenden beiläufig erwähnt, ohne sie je als Tugend zu bezeichnen, wie leichtfertig wird dann sein Zeugnis im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung angenommen!

Während dieser ganzen Zeit gärte ein noch giftigeres Ferment zwischen diesen beiden jungen Burschen, eines, das erst spät an die Oberfläche gekommen war, das ihre Unstimmigkeiten jedoch von Anfang an beeinflußt und vergrößert hatte. Für einen müßigen, oberflächlichen, leichtlebigen Kunden wie Frank bot die Witterung eines Geheimnisses einen besonderen Reiz. Es beschäftigte seinen Geist, wie ein neues Spielzeug ein Kind beschäftigt, und es packte ihn an seiner schwachen Seite; denn wie viele junge Männer, die sich den Anwaltsberuf gewählt haben, schmeichelte er sich selber, bevor er noch gewogen und zu leicht befunden war, daß er ein besonders rasches Auffassungsvermögen und einen hervorragenden Scharfblick besäße. In jenen Tagen wußte man noch nichts von Sherlock Holmes, aber man sprach viel über Talleyrand. Und hätte man Frank in einer schwachen Minute überrascht, er würde mit verlegenem Schmunzeln gestanden haben, daß er, wenn überhaupt, dem Marquis de Talleyrand-Perigord ähnelte. Es war gelegentlich der ersten Abwesenheit Archies, daß dieses Interesse Wurzel schlug. Es wurde noch ungeheuer vertieft, als Kirstie beim Frühstück seine Neugier hart zurückwies, und am gleichen Nachmittag ereignete sich ein Vorfall, der die Krisis herbeiführte. Frank war dabei, in Begleitung Archies im Swingle-Bach zu fischen, als Archie auf seine Uhr schaute.

»Also, leben Sie wohl«, sagte Archie. »Ich habe zu tun. Ich seh‘ Sie dann später beim Essen.«

»Wozu diese Eile?« rief Frank. »Warten Sie doch, bis ich meine Angel eingeholt habe. Ich gehe mit Ihnen; ich hab‘ es satt, diesen Graben zu belagern.« Und er begann, die Leine aufzuwinden.

Archie stand sprachlos. Er brauchte eine ganze Weile, bis er nach diesem direkten Angriff seine fünf Sinne wieder beisammen hatte; als er aber die Antwort endlich fand und das Aufwickeln der Leine fast beendet war, hatte er sich gänzlich in Weir verwandelt: das Henkergesicht thronte finster auf seinen jungen Schultern. Er sprach mit erzwungener Ruhe, mit erzwungener Freundlichkeit sogar, allein selbst ein Kind hätte erkannt, daß sein Entschluß feststand.

»Bitte um Verzeihung, Innes: ich möchte nicht schroff erscheinen, aber wir wollen uns doch von Anfang an richtig verstehen. Wenn ich Ihre Gesellschaft wünsche, werde ich es Sie wissen lassen.«

»Oh«, rief Frank. »Sie wollen also meine Gesellschaft nicht, was?«

»Jetzt im Augenblick offenbar nicht«, entgegnete Archie. »Ich ließ jedoch durchblicken, wann sie mir genehm sein würde, falls Sie sich erinnern – und zwar beim Essen. Falls wir beide reibungslos zusammenleben wollen – und ich sehe nicht ein, weshalb das nicht der Fall sein sollte –, kann das nur geschehen, wenn einer des anderen Bedürfnis, allein zu sein, respektiert. Fangen wir gleich zu Anfang an, uns einander aufzudrängen –«

»Hören Sie auf! Das lass‘ ich mir von niemandem gefallen! Ist das Ihre Art, einen Gast und alten Freund zu behandeln?« schrie Innes.

»Jetzt gehen Sie nach Hause, und denken Sie allein über das nach, was ich Ihnen sagte«, fuhr Archie fort, »ob es vernünftig oder ob es in Wahrheit beleidigend ist, und wir wollen beim Essen zusammenkommen, als wäre nichts geschehen. Ich will mich sogar folgendermaßen ausdrücken: Ich kenne meinen eigenen Charakter, ich freue mich im voraus (und zwar aufrichtig) auf einen langen Besuch von Ihnen und treffe von vornherein meine Vorsichtsmaßregeln. Ich erkenne den Punkt, über den wir – über den ich meinetwegen mich zanken werde, und ich beuge vor und obsto principiis. Ich wette mit Ihnen fünf Pfund, Sie werden schließlich einsehen, daß ich aus lauter Freundschaft so handle, und das tue ich auch wirklich, glauben Sie mir, Francie«, schloß er nachgebend.

Berstend vor Zorn, nicht eines Wortes mächtig, schulterte Innes seine Angel, verabschiedete sich mit einer Geste und ging mit langen Schritten den Flußpfad hinab. Archie sah ihm regungslos nach. Er bedauerte das Vorgefallene, aber er schämte sich durchaus nicht. Er haßte es, ungastlich zu erscheinen, aber in einem Punkte war er seines Vaters Sohn. Er war von dem Bewußtsein durchdrungen, daß sein Haus sein Haus sei und niemandes anderen; und sich auf Gnade und Ungnade einem Gast ausliefern, das zu tun, weigerte er sich strikte. Er haßte es, schroff zu erscheinen, aber schuld daran war Franks Standpunkt. Hätte Frank nur das gewöhnliche Maß Diskretion gezeigt, er wäre selbst anständig höflich geblieben. Dann gab es auch noch ein weiteres Bedenken. Das Geheimnis, das er jetzt hütete, gehörte nicht ihm allein; es war genauso Christinas; es gehörte zugleich jenem unfaßlichen Wesen, das mit Macht von seiner Seele Besitz zu ergreifen begann und das zu verteidigen er bald bereit sein würde, ganze Städte einzuäschern. Er blickte Frank nach, der hastig und mit großen Schritten weiterging, hin und wieder in der verfärbten Heide untertauchend und allmählich zu weniger als Liliputgröße zusammenschrumpfend, und als dieser das Ende des Baches erreicht hatte, vermochte Archie bereits über den Vorfall zu lächeln. Entweder würde Frank abreisen – das würde an sich eine Befriedigung bedeuten –, oder er würde bleiben, und sein Wirt mußte sich weiterhin mit ihm abfinden. Jetzt aber hinderte Archie nichts mehr daran, auf verschlungenen Wegen hinter Hügeln und über Bachbette dem Stelldichein zuzueilen, wo Kirstie, von Moorhuhn und Kiebitz umschrien, auf des Puritaners Stein seiner harrte und ihm entgegenbrannte.

Innes schritt währenddessen in einem Sturm haßerfüllter Empörung, der sehr natürlich war, sich allmählich jedoch dem Gebot der Lage anpaßte, den Hügel hinunter. Er beschimpfte Archie als einen kaltherzigen, unfreundschaftlichen, sacksiedegroben Hund und sich selbst noch leidenschaftlicher als einen Narren, hierher nach Hermiston gekommen zu sein, da ihm fast jedes andere Haus in Schottland als Zufluchtsstätte offengestanden haben würde. Aber der Schritt war, einmal getan, so gut wie unwiderruflich. Er besaß kein Geld mehr, sich anderswo hinzubegeben; er würde sowieso zum nächsten Klubabend Archie anpumpen müssen; und so niedrig er auch seines Gastgebers Manieren einschätzte, so überzeugt war er von dessen Freigebigkeit. Franks Ähnlichkeit mit Talleyrand erscheint mir zwar als ziemlich illusorisch, aber Talleyrand selbst hätte sich nicht gehorsamer den Tatsachen unterwerfen können. Frank begegnete Archie beim Essen ohne jede Feindschaft, ja fast mit Herzlichkeit. Seine Erklärung würde gelautet haben, daß man seine Freunde nehmen müsse, wie sie nun mal wären. Archie könne ja nichts dafür, daß er seines Vaters Sohn oder seines Großvaters, des hypothetischen Webers, Enkel sei. Als Sohn eines groben Klotzes war er eben selber im Herzen ein grober Klotz geblieben, unfähig wahrer Großmut und Rücksichtnahme: aber er besaß andere Eigenschaften, die Frank sich mittlerweile zunutze machen konnte und die zu genießen es notwendig war, daß Frank seine schlechte Laune meistere.

So vorzüglich war seine Selbstbeherrschung, daß er am folgenden Morgen ganz erfüllt von einem neuen, aber verwandten Gedanken aufwachte. Was war es eigentlich, das Archie im Schilde führte? Weshalb mied er Franks Gesellschaft? Was verbarg er vor ihm? Hatte er mit irgend jemandem ein Rendezvous gehabt – mit einer Frau? Es wäre doch ein prachtvoller Witz und zugleich eine gerechte Rache, wenn er, Frank, dahinterkäme. Diesem Ziele wandte er sich mit ziemlicher Ausdauer zu, wie sie seine Freunde sogar in Erstaunen versetzt hätte, denn Frank hatte von jeher eher als geistreich und klug denn als zäh gegolten; und so, ganz allmählich, Stück für Stück, gelang es ihm, ein Bild der Lage zusammenzutragen. Zuerst beobachtete er, daß Archie, obwohl er im Weggehen die verschiedensten Richtungen einschlug, doch stets aus Südwesten heimkehrte. Das Studium einer Landkarte und die Tatsache, daß sich in dieser Richtung bis zu der Mündung des Clyde eine weite Fläche unbewohnten Heidelandes erstreckte, führten ihn gar bald nach Cauldstaneslap und nach zwei anderen benachbarten Höfen: Kingsmuir und Polintarf. Von dort aus war jedes Weiterkommen schwierig. Mit seiner Angel als Vorwand suchte er vergeblich jeden dieser drei Punkte auf; nirgends fand sich in der Nachbarschaft der Heidehöfe etwas Verdächtiges. Er würde versucht haben, Archie nachzugehen, wäre das überhaupt möglich gewesen, allein die Bodenbeschaffenheit schloß diesen Gedanken ein für allemal aus. Also tat er das Nächstbeste: Er verbarg sich an irgendeinem stillen Winkel und verfolgte Archies Bewegungen mit dem Fernglas. Auch das führte zu nichts, und bald bekam er seine vergebliche Wachsamkeit satt, ließ das Fernglas zu Hause und hatte die ganze Sache bereits aufgegeben, als er sich ganz plötzlich, am siebenundzwanzigsten Tage seines Aufenthalts, dem Menschen, den er suchte, gegenübersah. Den ersten Sonntag war es Kirstie unter irgendeinem Vorwand der Unpäßlichkeit, in Wahrheit jedoch aus Anstandsgefühl, gelungen, der Kirche fernzubleiben; die Freude, Archie dort zu sehen, schien ihr zu heilig, zu lebendig für einen so öffentlichen Ort. An den folgenden beiden Sonntagen war Frank selbst auf irgendwelchen Ausflügen zu benachbarten Familien von Hermiston abwesend gewesen. So geschah es, daß Frank erst am vierten Sonntag die Zauberin zu Gesichte bekam. Schon bei dem ersten Blick war aller Zweifel geschwunden. Sie kam mit der Gesellschaft aus Cauldstaneslap, folglich wohnte sie dort. Hier war Archies Geheimnis, hier war die Frau, die jener besuchte, ja mehr noch – schon auf den ersten Blick empfand er sich selbst als Rivale. Beteiligt dabei waren ein gut Teil Ehrgeiz, ein klein wenig Rache und viel ehrliche Bewunderung: der Teufel mag die genauen Maße bestimmen. Ich kann es nicht, und wahrscheinlich würde auch Frank es nicht gekonnt haben.

»Ein ungemein reizvolles Milchmädchen«, bemerkte er auf dem Heimwege.

»Wer?« fragte Archie.

»Na, das Mädel, das Sie jetzt anstarren – nicht wahr? Dort auf der Landstraße vor uns. Sie kam in Begleitung des rustikalen Barden, gehört daher vermutlich zu der berühmten Familie. Das einzige Bedenken! Die Vier schwarzen Brüder dürften unangenehme Kunden sein. Falls da was schiefginge, würde der Weber wohl wabern und Clem einen in die Klemme bringen und Dand einen Tanz aufführen und Hob sich etwas ungehobelt entpuppen. Kurz, die Elliottaffaire dürfte eine wahre Höllenaffaire werden!«

»Außerordentlich witzig, wahrhaftig«, meinte Archie.

»Na, ich geb‘ mir aber auch Mühe. Und es fällt mir nicht einmal leicht, an diesem Orte in Ihrer feierlichen Gesellschaft, mein Lieber. Aber gestehen Sie nur, das Milchmädchen hat in Ihren Augen Gnade gefunden, oder verzichten Sie ein für allemal darauf, als Mann von Geschmack zu gelten.«

»Es ist ja auch ganz gleichgültig«, entgegnete Archie. Allein der andere fuhr fort, ihn fest und spöttisch anzublicken, und das Blut stieg langsam, dann immer rascher in Archies Wangen, bis selbst die größte Unverfrorenheit nicht mehr hätte leugnen können, daß er errötete. Im nämlichen Augenblick verlor Archie einen Teil seiner Selbstbeherrschung. Er wechselte den Stock von einer Hand zur anderen und rief: »Um Gottes willen, seien Sie doch kein Esel!«

»Esel? Eine zartfühlende Erwiderung, ohne Zweifel«, sagte Frank. »Aber hüten Sie sich vor den hausbackenen Brüdern, Liebster. Wenn die in den Tanz eingreifen, werden Sie ja sehen, wer der Esel ist. Überlegen Sie sich mal, falls jene Burschen – na, sagen wir auch nur ein Viertel der Begabung, die ich drangesetzt habe, auf die Frage verwenden, wo Mr. Archie seine Abendstunden zubringt und weshalb er so herzerfrischend widerborstig ist, jedesmal wenn jenes Thema berührt wird –«

»Sie berühren es auch jetzt in diesem Augenblick«, unterbrach ihn Archie zuckend.

»Danke schön. Mehr wollte ich nicht. Das ist ein offenes Geständnis«, sagte Frank.

»Ich möchte Sie daran erinnern –« begann Archie.

Aber jetzt war er an der Reihe, unterbrochen zu werden. »Aber mein lieber Junge, lassen Sie das doch. Es ist gänzlich überflüssig. Das Thema ist tot und begraben.«

Und Frank fing in aller Eile an, von anderen Dingen zu reden, eine Kunst, in der er Meister war, denn es war seine besondere Begabung, über alles und nichts fließend sprechen zu können. Allein, obwohl Archie die Zuvorkommenheit oder die Feigheit besaß, ihn schwatzen zu lassen, war Frank durchaus noch nicht mit dem Thema fertig. Als Archie zum Abendessen nach Hause kam, begrüßte ihn Frank mit der schlauen Frage, wie es unten in Cauldstaneslap stünde. Nach dem Essen leerte Frank sein erstes Glas Portwein auf Kirsties Wohl, und später am Abend ritt er abermals zur Attacke.

»Hören Sie mal, Weir, Sie müssen entschuldigen, daß ich auf jene Sache zurückgreife. Aber ich hab‘ sie mir durch den Kopf gehen lassen und möchte Sie doch allen Ernstes drum bitten, vorsichtiger zu sein. Die Geschichte ist nicht ungefährlich. Nicht ungefährlich, mein Junge.«

»Welche Geschichte?« fragte Archie.

»Ja, dann ist’s Ihre eigene Schuld, wenn Sie mich zwingen, die Sache bei ihrem Namen zu nennen; aber ich kann wahrhaftig als Freund nicht einfach stillsitzen und zuschauen, wie Sie sich kopfüber in diese Gefahr stürzen. Mein lieber Junge«, fuhr er fort und hielt warnend die Zigarre hoch, »denken Sie einmal nach! Wie soll denn das Ende sein?«

»Welches Ende?« In hilflosem Ärger hielt Archie an seiner gefährlichen und unliebenswürdigen Verteidigung fest.

»Das Ende des Milchmädchens oder, um mich formeller auszudrücken, das Ende der Jungfer Christina Elliott von Cauldstaneslap.«

»Ich versichere Sie«, brach Archie aus, »das Ganze ist lediglich eine Frucht Ihrer blühenden Phantasie. Es läßt sich nicht das Geringste gegen die junge Dame sagen, und Sie haben kein Recht, ihren Namen in unser Gespräch zu zerren.«

»Ich werde es mir merken«, sagte Frank. »Von jetzt ab sei sie namenlos, namenlos, namenlos! Ich werde mir außerdem noch das glänzende Leumundszeugnis merken, das Sie ihr ausgestellt haben. Ich wünsche diese Sache ja lediglich als Mann von Welt zu betrachten. Zugegeben, daß sie ein Engel ist – aber, mein lieber Junge, ist sie auch eine Dame?«

Dies war für Archie die reinste Folter. »Ich bitte um Verzeihung«, bemerkte er, nach Fassung ringend, »da Sie sich aber in mein Vertrauen eingeschlichen haben –«

»Pah, pah!« rief Frank. »Ihr Vertrauen? Es wurde zwar keusch errötend, aber doch nur sehr widerwillig geschenkt. Vertrauen? Wahrhaftig! Nun hören Sie aber mal zu. Ich habe Ihnen folgendes zu sagen, Weir, denn es betrifft Ihre persönliche Sicherheit und Ihren guten Ruf und daher auch meine eigene Ehre als Ihr Freund. Eingeschlichen ist gut! Was habe ich eigentlich getan? Ich habe zwei und zwei zusammengerechnet, wie das morgen die ganze Gemeinde tun wird und in zwei Wochen das gesamte Tweedtal und die Vier schwarzen Brüder – aber da will ich kein Datum festlegen; jedenfalls dürfte es ein dunkler, stürmischer Morgen werden! Kurz, Ihr Geheimnis liegt auf der Gasse! Und ich frage Sie als Freund: Gefällt Ihnen die Aussicht? Aus Ihrem Dilemma gibt es zwei Auswege, und ich muß sagen, beide würde ich persönlich nur sehr ungern in Erwägung ziehen. Beabsichtigen Sie, den Vier schwarzen Brüdern eine Erklärung zu geben? Oder wollen Sie das Milchmädchen als künftige Herrin von Hermiston dem Papa vorführen? Ich sage Ihnen offen: Ich kann’s mir nicht vorstellen!«

Archie erhob sich. »Ich will nichts mehr von diesen Dingen hören«, sagte er mit bebender Stimme.

Allein Frank hielt abermals die Zigarre hoch. »Sagen Sie mir vor allem das eine. Sagen Sie mir, ob ich nicht wirklich als Freund an Ihnen handle.«

»Ich glaube, daß Sie davon überzeugt sind«, lautete Archies Antwort. »So weit kann ich gehen. Ich kann Ihren Motiven diese Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber ich will nichts mehr hiervon hören. Ich gehe jetzt zu Bett.«

»So ist’s recht, Weir«, meinte Frank herzlich. »Gehen Sie zu Bett, und überschlafen Sie die Sache. Und noch eins: Vergessen Sie Ihr Abendgebet nicht! Ich bin nicht häufig fürs Moralische – dergleichen Dinge liegen mir nicht –, aber wenn ich mich dafür einsetze, dann mein‘ ich’s auch ehrlich.«

Also marschierte Archie ins Bett, und Frank saß noch eine gute Stunde allein bei Tisch, mit ungemein selbstzufriedenem, sattem Lächeln. An sich lag nichts Rachsüchtiges in seiner Natur; aber wenn die Rache ihm in den Weg lief, so sollte sie auch gründlich sein, und der Gedanke an Archies einsame nächtliche Betrachtungen war ihm unbeschreiblich süß. Er spürte ein angenehmes Gefühl der Macht. Er blickte auf Archie herab wie auf einen sehr kleinen Jungen, den er am Gängelband führte – wie auf ein Pferd, das er ritt und das er durch schiere Intelligenz im Zaume hielt, ein Pferd, das er nach Belieben zu Grabe oder zum Ruhme reiten konnte. Welches von beiden sollte es sein? Er verweilte noch lange und kostete die Einzelheiten der Pläne aus, die durchzuführen er viel zu träge war. Armer Kork auf reißenden Stromes Oberfläche! In jener Nacht sog er die Süße der Allmacht ein und brütete, einer Gottheit gleich, über den Fäden einer Intrige, die ihn selbst vernichten sollte, noch ehe der Sommer schwand.

Vorwort

In den öden Ausläufern eines schottischen Heidekirchspiels, weit außer Sichtweite von irgendeiner menschlichen Behausung, erhebt sich inmitten Heidekrauts ein Grabhügel sowie ein wenig östlich davon, dem Laufe des Baches folgend, ein Grabmal mit einigen halbverwitterten Versen. Dies ist der Ort, an dem Claverhouse mit eigener Hand den betenden Weber von Balweary erschoß, und die Sichel des Sensenmannes selbst hat gegen jenen einsamen Grabstein geklirrt. Weltgeschichte und lokale Geschichte haben demnach beide jenes kleine Tal zwischen den Bergen mit blutigem Finger gezeichnet; und seit der Cameronier dort vor zweihundert Jahren ohne Verständnis und ohne Bedauern, einer herrlichen Torheit zuliebe, sein Leben opferte, ist das Schweigen der Moore noch einmal durch den Knall von Feuerwaffen und den Schrei eines Sterbenden zerrissen worden.

Das Teufelsmoor war der alte Name des Ortes; jetzt aber heißt er Francies Grab. Eine Weile behaupteten die Leute, daß Francie umginge. Aggie Hogg traf ihn einmal in der Dämmerstunde neben dem Grabhügel; er sprach sie an, und seine Zähne klapperten dabei so stark, daß sie kein Wort verstehen konnte. Er verfolgte Rob Todd (falls auch nur eine Seele Robbie glauben könnte) eine halbe Meile weit mit jämmerlichen Bitten. Aber unser Zeitalter ist das Zeitalter der Skepsis; diese abergläubischen Verbrämungen bröckelten sehr bald ab, und nur die Tatsachen der Begebenheit selbst leben, dem Gebein eines dort verscharrten und halb ausgegrabenen Riesen gleich, nackt und unvollkommen im Gedächtnis der weit verstreuten Einwohner fort. Bis auf den heutigen Tag erzählt man an Winterabenden, wenn der Hagel gegen die Fenster prasselt und die Kühe im Stalle schlafen, unter dem andächtigen Schweigen der Jugend und den Zusätzen und Zurechtweisungen des Alters die Geschichte des Lord Oberrichters und seines Sohnes, des jungen Hermiston, der auf immer aus der Menschen Gesichtskreis schwand; der beiden Kirsties und der vier schwarzen Brüder von Cauldstaneslap sowie des »jungen Narren von Advokaten«, Frank Innes, der hinaus in diese Moore kam, seinem Verhängnis zu begegnen.

I


Leben und Sterben von Mrs. Weir

Der Lord Oberrichter galt in jenem Teile des Landes als ein Fremder; aber seine gnädige Frau Gemahlin war allen schon von Kindheit an bekannt, wie ihr Geschlecht vor ihr bereits bekannt gewesen war. Die alten »reitenden Rutherfords von Hermiston«, deren letzter Sproß sie war, standen von alters her in berüchtigtem Ansehen: lauter schlechte Nachbarn, schlechte Untertanen und schlechte Gatten, wenn auch tüchtige Hauswirte. Anekdoten gingen über sie um auf zwanzig Meilen in der Runde, und ihr Name fand sich sogar schwarz auf weiß in den Blättern unserer schottischen Geschichte, obschon nicht immer zu ihrem Ruhme. Der eine mußte zu Flodden den Staub küssen; ein anderer wurde von Jakob V. an seinem eigenen Burgtor aufgehängt; ein dritter sank tot um bei einem Zechgelage mit Tom Dalyell, während ein vierter (Johannas eigener Vater) als Vorsitzender des Höllenfeuerklubs starb, den er selbst begründet hatte. Damals wurden zu Crossmichael ob dieses Gottesurteils gar viele Köpfe geschüttelt, zumal der Mann bei groß und klein, bei den Frommen wie bei den Weltleuten einen verabscheuungswürdigen Ruf besaß. Im Augenblick seines Ablebens hatte er bei den Assisen nicht weniger als zehn Klagen angestrengt, von denen acht auf Unterdrückung der Schwachen abzielten. Das gleiche Schicksal erstreckte sich sogar auf seine Verwalter. Des Gutsherrn Inspektor, seine rechte Hand in manchem linkshändigen Geschäft, fiel eines Nachts vom Pferde und ertrank in dem Torfmoor bei Kye-skairs; ja selbst sein Anwalt sollte ihn nicht lange überleben (obwohl doch Advokaten bekanntlich mit langen Löffeln essen). Er starb ganz plötzlich an einem Schlagfluß.

In allen diesen Generationen, solange ein Rutherford mit seinen Burschen im Sattel saß oder im Wirtshaus sich raufte, gab es daheim auf der alten Burg oder in dem späteren Herrenhaus ein bleiches Ehegespons. Es scheint, daß diese lange Reihe von Märtyrerinnen sich in Geduld faßte, aber endlich sollte ihnen doch ihre Rache werden; das geschah in der Person ihrer letzten Nachkommin Johanna. Sie trug zwar den Namen der Rutherfords, aber sie war die Tochter der zitternden Ehefrauen. Anfänglich entbehrte auch sie nicht des Reizes. Die Nachbarn erinnerten sich, in ihr als Kind Züge eines schwachen, elfenhaften Mutwillens wahrgenommen zu haben, sanfte, kleine Widerspenstigkeiten, traurige, kurze Anfälle von Heiterkeit, ja selbst einen Morgenstrahl von Schönheit, dessen Verheißung jedoch niemals in Erfüllung ging. Sie welkte bereits im Blühen und erreichte ihre Reife (sei es durch die Sünden der Väter oder die Leiden ihrer Mütter) geknickt, ja gleichsam entblättert – ohne Lebenssaft, Kraft und Frohsinn; fromm, sorgenvoll, empfindsam, tränenreich und untüchtig.

Vielen war es ein Wunder, daß sie überhaupt geheiratet hatte – sie war so ganz aus dem Holz, aus dem man die alten Jungfern schnitzt. Aber ein Zufall warf sie Adam Weir, dem neugebackenen Lord Staatsanwalt, einem anerkannt tüchtigen, zu hohen Ehren emporgestiegenen Manne, in den Weg, diesem Sieger über viele Hindernisse, der sich jetzt in vorgerückten Jahren nach einer Gattin umzuschauen begann. Er war ein Mann, der mehr auf Gehorsam als auf Schönheit sah; dennoch schien er gleich auf den ersten Blick einen tiefen Eindruck von Johanna empfangen zu haben. »Wer ist die da?« fragte er seinen Wirt und fügte hinzu, als dieser ihm geantwortet hatte: »So, so; sie sieht recht sittsam aus. Sie erinnert mich –«, und nach einer Pause (die etliche die Kühnheit hatten, einer sentimentalen Erinnerung zuzuschreiben) forschte er weiter: »Ist sie religiös?« Kurz danach wurde er auf sein eigenes Gesuch ihr vorgestellt. Diese Bekanntschaft, die man nur profanerweise als eine Liebeswerbung bezeichnen kann, wurde von Mr. Weir mit gewohnter Energie gepflegt und lebte lange Zeit als Fabel, oder besser als Quelle von allerlei fabelhaften Gerüchten, im Parlamentshaus fort. Man schilderte, wie Weir, ganz rosig vom vielen Portwein, den Salon betrat, schnurstracks auf die Dame zusteuerte und sie mit allerhand Scherzen bestürmte, auf welche die verlegene Schöne nur mit einem qualvollen »Herrjeh, Mr. Weir!« oder »Liebe Zeit, Mr. Weir!« oder »Gott schütz uns, Mr. Weir!« zu antworten vermochte. Noch am Vorabend ihrer Verlobung wollte jemand, der sich dem zärtlichen Paare genaht, gehört haben, wie die Dame im Tone eines Menschen, der, nur um nicht zu schweigen, redet, fragte: »Großer Gott, Mr. Weir, und was tat man mit ihm?« Worauf die tiefe Stimme des Freiers antwortete: »Ihn henken, Madame, ihn henken!«

Die Motive auf beiden Seiten wurden viel erörtert. Mr. Weir muß seine Braut aus irgendeinem Grunde für eine sehr passende Lebensgefährtin gehalten haben; vielleicht gehörte er zu jener Klasse Männer, die einen schwachen Verstand bei Frauen schätzen – eine Auffassung, die schon in diesem Leben unfehlbar bestraft wird. Abstammung und Vermögen der Dame waren jedenfalls tadelfrei. Ihre räuberischen Ahnen und ihr händelsüchtiger Vater hatten Johanna mit Glücksgütern bedacht. Es waren sowohl weite Äcker wie bares Geld vorhanden, bereit, dem Gatten ein für allemal überantwortet zu werden, seinen Nachkommen Würde und ihm selbst einen Titel zu verleihen, wenn man ihn erst auf den Richterstuhl berufen hätte. Andererseits bestand für Johanna wohl ein gewisser Reiz der Neugier diesem unbekannten, männlichen Tier gegenüber, das sich ihr mit der Rauheit eines Bauern und dem Aplomb des Advokaten näherte. Da er einen so schneidenden Gegensatz zu allem bot, was sie kannte, liebte und verstand, mag er ihr sehr wohl als das Extrem, wenn auch nicht als das Ideal seines Geschlechts erschienen sein. Außerdem war er ein Mann, dem man so leicht keinen Korb geben konnte. Wenn auch nur wenig über vierzig, sah er zur Zeit seiner Heirat doch bereits älter aus; dem Gewichte der Mannheit gesellte sich die senatorische Würde der Jahre hinzu; zwar betrachtete sie ihn mit unheiliger Ehrfurcht, aber mit Ehrfurcht trotz alledem. Das Richterkollegium, die Anwaltschaft, die gerissensten und widerspenstigsten Zeugen – alle neigten sich seiner Autorität – weshalb da nicht auch die kleine Hanna Rutherford?

Jene Ketzerei betreffs törichter Ehefrauen wird, wie gesagt, stets bestraft, und Lord Hermiston begann auf der Stelle die Buße zu zahlen. Sein Haus in George Square wurde entsetzlich schlecht geführt; nichts stand im entsprechenden Verhältnis zur Höhe des Aufwands als sein Weinkeller, den er persönlich verwaltete. Wenn bei der Tafel alles verkehrt ging, was ständig der Fall war, pflegte Mylord über den Tisch hinweg seine Frau anzublicken: »Mir scheint, diese Brühe ist besser zum Baden als zum Essen geeignet.« Oder zu dem Haushofmeister gewandt: »Hier, M’Killop, fort mit diesem radikalen Gigot – bring’s den Franzosen, Kerl, und hol mir ein paar Frösche. Es ist doch eine harte Sache, daß ich den ganzen Tag im Gerichtshof Radikale aufhängen muß und nachher zu Hause nicht mal was zu essen bekomme.« Natürlich war das nur eine Redensart; niemals in seinem Leben hatte er einen Mann seines Radikalismus wegen gehenkt, da das Gesetz, dessen treuer Diener er war, es anders bestimmte. Und ebenso natürlich war dieser knurrende Protest als eine Art Witz gedacht, aber es war ein versteckter Witz; und mit tönender Stimme vorgetragen und von jenem Ausdruck begleitet, den man im Parlamentshaus als »Hermistons Henkergesicht« bezeichnete, erfüllte er die Frau mit lähmender Bestürzung. Da saß sie ihm gegenüber, sprachlos und zitternd; bei jedem Gang hing ihr Blick, wie bei einer Feuerprobe, unsicher an Mylords Antlitz, nur um sich sogleich wieder zu senken. Aß er schweigend, so war unaussprechliche Erleichterung ihr Los, klagte er, versank die Welt in Finsternis. Dann pflegte sie die Köchin, die stets »ihre Schwester im Herrn« war, aufzusuchen. »Ach, Liebste, es ist ein schrecklich Ding, daß Mylord niemals in seinem eigenen Hause zufriedengestellt werden kann«, so lautete der Anfang; und dann weinte sie und betete mit der Köchin; und dann betete die Köchin mit Mrs. Weir; und am folgenden Tage pflegte die Mahlzeit nicht um einen Penny besser zu sein – und die nächste Köchin war (wenn sie überhaupt erschien) womöglich noch schlechter, aber nicht minder fromm. Vielfach wunderte man sich, daß Lord Hermiston die Sache so ruhig nahm; in Wahrheit war er ein stoischer, alter Genüßling, zufrieden mit solidem Wein, und zwar in reichlichen Mengen. Dennoch gab es Momente, in denen ihm die Geduld riß. Vielleicht ein halbes dutzendmal in der Geschichte seiner Ehe brach er mit fürchterlicher Wut und ein paar knappen Gebärden in die Worte aus: »Hier, schaff das fort, und bring mir ein Stück Brot und Käse.« Niemand fiel es ein, zu protestieren oder sich zu entschuldigen; die Mahlzeit wurde abgebrochen; Mrs. Weir flennte unverhohlen am Kopfende der Tafel, während seine Lordschaft ihr gegenüber mir betonter Gleichgültigkeit sein Brot und seinen Käse kaute. Ein einziges Mal nur hatte Mrs. Weir hilfesuchend eine Bitte gewagt. Das geschah, als er auf dem Wege in sein Studierzimmer an ihrem Stuhl vorbeischritt.

»Ach, Adam«, jammerte sie mit einer Stimme, tragisch von vielen Tränen, und streckte ihm, in der einen Hand ein triefendes Taschentuch, beide Arme entgegen.

Er hielt mit zornigem Ausdruck inne; allmählich jedoch, während er sie musterte, stahl sich ein Funken von Humor in seinen Blick.

»Unsinn!« sagte er. »Du mit deinem Unsinn! Was nützt mir eine christliche Familie? Eine christliche Suppe will ich! Hol mir ’ne Dirn, die eine simple Kartoffel kochen kann, und wär’s eine Hure von der Straße.« Und mit diesen Worten, die in ihren zarten Ohren wie Blasphemie widerhallten, war er an ihr vorüber in sein Zimmer geschritten und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

So war die Hauswirtschaft in George Square. Besser war es damit auf Hermiston bestellt. Dort ruhten alle Lasten auf Kirstie Elliott, der Schwester eines kleinen Grundbesitzers aus der Nachbarschaft, die zugleich im achtzehnten Grade mit Mylady verwandt war und dort ein geordnetes Haus wie eine gute, ländliche Tafel führte. Kirstie war eine Frau unter tausend, sauber, tüchtig, bemerkenswert, ehemals eine Helena der Heide und noch immer ansehnlich schön wie ein rassiges Pferd und so gesund wie der Wind von den Bergen. Vollbusig, vollstimmig und vollblütig, führte sie mit ganzer, leidenschaftlicher Seele und viel Lärm, der nicht ohne heftige Zusammenstöße verlief, die Wirtschaft. Sie war kaum frömmer, als der Anstand der damaligen Zeit es verlangte, und bot Mrs. Weir daher Anlaß zu vielen sorgenvollen Bedenken und tränenreichen Gebeten. Haushälterin und Herrin erneuerten in ihrer Person die Rollen von Martha und Maria, und Maria stützte sich, wenn auch mit nagendem Gewissen, auf die Stärke Marthas wie auf einen Fels. Selbst Lord Hermiston brachte Kirstie besondere Hochachtung entgegen. Wenigen Menschen gegenüber zeigte er sich so leutselig, wenige beehrte er mit so zahlreichen Scherzen. »Kirstie und ich müssen unseren Spaß haben«, erklärte er in glänzender Laune, während er Kirsties frische Haferkuchen mit Butter bestrich und Kirstie ihm bei Tisch aufwartete. Für diesen Mann, den es weder nach Liebe noch nach Popularität gelüstete, für diesen scharfsichtigen Kenner von Menschen und Ereignissen gab es vielleicht nur eine Wahrheit, die er sich niemals träumen ließ: niemals vermutete er, daß Kirstie ihn haßte. Er hielt Herrn und Dienerin für trefflich gepaart; beide waren sie harte, tüchtige, gesunde, derbe Schotten, ohne eine Spur von Firlefanz. Tatsache war, daß Kirstie die schwache, weinerliche Dame zur Göttin und zu ihrem einzigen Kinde erhoben hatte; ja mitunter, wenn sie bei Tisch bediente, juckte es sie in den Fingern, mit Mylords Ohren nähere Bekanntschaft zu schließen.

So genoß nicht nur Mylord, nein auch Mrs. Weir ihre Ferien, wenn sich die Familie auf Hermiston befand. Befreit von dem fürchterlichen Ausblick auf ein verunglücktes Essen, nähte Madame ihren Saum, las ihre Andachtsbücher und machte (auf Befehl von Mylord) ihren Spaziergang, mitunter allein, mitunter aber auch in Begleitung Archies, des einzigen Kindes dieser kaum natürlichen Verbindung. Das Kind war das Band, das sie am innigsten mit dem Leben verknüpfte. Die erfrorene Knospe ihres Gefühls erblühte von neuem, tief sog sie den Atem des Lebens ein, entfesselte in des Kindes Gesellschaft die Ströme ihres Herzens. Das Wunder ihrer Mutterschaft blieb ihr ewig neu. Der Anblick des kleinen Kerls an ihrem Rockzipfel berauschte sie mit einem Gefühl der Macht, während gleichzeitig das Bewußtsein der Verantwortlichkeit ihr das Blut in den Adern gefror. Sie blickte in die Zukunft und sah ihn im Geiste heranwachsen und auf der Weltbühne eine vielgestaltige Rolle spielen: sogleich hielt sie den Atem an und gab mit lebhafter Willensanstrengung ihrem Mute neuen Schwung. Nur in des Kindes Gegenwart vermochte sie sich ganz zu vergessen und wenigstens zu Momenten natürlich zu sein; und doch war es ihr wieder nur dem Kinde gegenüber möglich, konsequent zu bleiben. Archie sollte ein großer und ein guter Mann werden, wenn möglich ein Diener des Herrn, ein Heiliger ganz gewiß. Sie versuchte ihn für ihre Lieblingsbücher zu interessieren: Rutherfords »Briefe«, Scougals »Fülle der Gnade« usw. Es gehörte zu ihren liebsten Gewohnheiten (eine Tatsache, die jetzt wundernimmt), das Kind nach dem Teufelsmoor zu tragen, sich dort mit ihm auf des »Betenden Webers« Stein zu setzen und ihm von den Covenanters zu erzählen, bis ihnen beiden die Tränen über die Backen rannen. Ihre Auffassung der Weltgeschichte war völlig naiv, eine Zeichnung in Schnee und Tinte; liebliche Heilige mit Psalmen auf den Lippen einerseits, auf der anderen Seite die Schar der Verfolger, gespornt, blutrünstig, vom Weine erhitzt: hie leidender Christ, dort rasender Beelzebub. Verfolger: das war das Wort, das der Frau ans Herz griff, das für sie den Gipfel des Bösen bedeutete, und sein Makel lastete auch auf ihrem Hause. Ihr Ururgroßvater hatte auf dem Schlachtfelde von Rullion Green gegen die Gesalbten des Herrn das Schwert gezogen und der Überlieferung zufolge in den Armen des abscheulichen Dalyell sein Leben ausgehaucht. Auch vermochte sie sich der Wahrheit nicht zu verschließen, daß, hätten sie in den alten Zeiten gelebt, Hermiston selbst zu den Reihen des Blutigen Mackenzie und der Schlauköpfe Lauderdale und Rothes, kurz zu der Horde von Gottes persönlichen Feinden gehört haben würde. Dieses Bekenntnis bewegte sie tief im Innersten und peitschte sie zu noch glühenderer Andacht auf; die Stimme, in der sie das Wort »Verfolger« aussprach, erschütterte das Kind bis ins Mark hinein; und als eines Tages der Pöbel sie alle in Mylords Reisewagen auspfiff und verhöhnte und »Nieder mit dem Verfolger! Nieder mit dem Henker Hermiston!« schrie, während Mama die Hand vor ihre Augen hielt und weinte und Papa lediglich die Fensterscheibe herunterließ und den Mob mit seinem drolligen, fürchterlichen, bitteren und doch zugleich lächelnden Ausdruck musterte – dem Ausdruck – so sagten die Leute –, den er mitunter hatte, wenn er jemandem sein Urteil verkündete – ja, da war Archies grenzenlose Verwunderung viel zu groß, um das Gefühl der Furcht aufkommen zu lassen. Kaum jedoch war er mit seiner Mutter allein, als seine schrille Kinderstimme eine Erklärung forderte: Weshalb hatten sie Papa einen »Verfolger« genannt?

»Gott schütz uns, mein Liebling!« rief sie. »Gott schütz uns! Die Sache ist eine politische Sache, mein Schatz! Niemals darfst du nach einer politischen Sache fragen, Archie. Dein Vater ist ein großer Mann, mein Schatz, und es kommt weder dir noch mir zu, ihn zu richten. Es würde uns allen zum Ruhme gereichen, wenn jeder von uns sich in seiner Stellung so führte, wie dein Vater in seinem hohen Amt; laß mich nie wieder eine so unehrerbietige und pflichtvergessene Frage hören! Nicht etwa, daß du die Absicht hattest, unehrerbietig zu sein, mein Lämmchen. Deine Mutter weiß das schon – sie weiß es ganz genau, mein Herzblatt.« Und damit glitt sie zu gefahrloseren Themen über, hinterließ jedoch in dem Kindergemüt ein dumpfes, aber unauslöschliches Gefühl des Unrechts.

Mrs. Weirs Lebensphilosophie ließ sich in ein Wort zusammenfassen: Empfindsamkeit! So wie sich ihr das ganz von der Glut der Höllentore erleuchtete Weltall malte, waren gute Menschen verpflichtet, in einer Art Ekstase der Empfindsamkeit durchs Leben zu gehen. Die Tiere und Pflanzen besaßen zwar keine Seelen, aber sie waren ja nur auf einen Tag geschaffen; mochte dieser Tag ihnen sanft verrinnen! Und was die unsterblichen Menschen betraf – wie abschüssig war der Pfad, den viele von ihnen gingen – wie grausam die Ewigkeit, in die er mündete! »Kauft man nicht zwei Sperlinge –« »So dir jemand einen Streich gibt –« »und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet« – diese Texte bedeuteten für sie das A und O des Gottesworts. Sie zog sie morgens mit ihren Kleidern an und legte sich des Nachts mit ihnen schlafen; sie gingen ihr unablässig im Kopfe herum wie eine geliebte Melodie und umschwebten sie gleich einem Lieblingsparfüm. Der Familiengeistliche war ein kerniger Ausleger der Schrift, dem Mylord mit Behagen lauschte; allein Mrs. Weir verehrte ihn nur von ferne, hörte sein nützliches Dröhnen jenseits der Rampen des Dogmas (gleich den Kanonen einer belagerten Stadt) und weilte inzwischen innerhalb wie außerhalb der Schußweite in ihrem privaten Garten, den sie mit dankbaren Tränen wässerte. Seltsam zu sagen, war diese farblose und rückgratlose Frau wahrhaft fromm; sie hätte der Sonnenschein und der Ruhm eines Klosters werden können. Vielleicht kannte niemand außer Archie ihre Beredsamkeit; er allein hatte seine Mutter mit geröteten Wangen und verschlungenen oder bebenden Händen gesehen, ganz sanfte Glut. In dem Parke von Hermiston gibt es einen Winkel, von wo aus man einen unerwarteten Blick auf den Gipfel des Schwarzen Berges hat, der mitunter nichts weiter ist als die grasige Kuppe einer Anhöhe, mitunter aber auch (um Mrs. Weirs eigenen Ausdruck zu gebrauchen) einem kostbaren Juwel in einer Wolkenfassung gleicht. Wenn der Berg an solchen Tagen plötzlich vor ihr auftauchte, preßten ihre Finger sich um die des Kindes, und ihre Stimme schwang sich zu einem Liede auf. »Auf die Berge möcht‘ ich steigen!« sang sie und fügte hinzu: »Ach, Archie, sind sie nicht wie die Hügel Naphtalis?«, und ihre Tränen strömten.

Auf ein eindrucksfähiges Kind mußte diese ständige, sanfte Begleitmusik des Lebens eine tiefe Wirkung ausüben. Der Frau Quietismus und Frömmigkeit gingen ungeschmälert auf seine völlig verschiedene Natur über; aber während sie dort dem eingeborenen Gefühl entsprangen, waren sie hier nur ein eingepflanztes Dogma. Natur und des Kindes Kampflust lehnten sich manchmal dagegen auf. Ein Proletarierjunge aus der Potterrow schlug ihn eines Tages auf den Mund; er schlug zurück, die beiden trugen die Sache in einer Gasse hinter den Ställen bei den Meadows aus, und Archie kehrte mit einer beträchtlich verminderten Anzahl Vorderzähne nach Hause zurück, wo er in wenig erbaulicher Weise mit den Verlusten seines Feindes prahlte. Das war ein schlimmer Tag für Mrs. Weir; sie betete und weinte über dem jugendlichen Sünder, bis die Zeit von Mylords Heimkehr vom Gericht herannahte und sie die Miene zittriger Ruhe aufsetzen mußte, mit der sie ihn zu begrüßen pflegte. Der Richter war an jenem Tage in beobachtender Laune und bemerkte sehr bald die fehlenden Zähne. »Ich fürchte, Archie hat mit einem der Burschen aus dem Hinterhause gerauft«, sagte Mrs. Weir.

Mylords Stimme dröhnte, wie sie das in der Zurückgezogenheit seiner Häuslichkeit selten tat. »Dergleichen Dinge verbitte ich mir, Junge! Hast du mich verstanden? – Alle dergleichen Dinge! Ich dulde nicht, daß sich ein Sohn von mir mit irgendwelchem schmutzigen Pöbel in der Gosse wälzt!«

Die besorgte Mutter war dankbar für eine so kräftige Unterstützung; sie hatte eher das Gegenteil befürchtet. Und als sie an jenem Abend das Kind zu Bett brachte, sagte sie: »Jetzt siehst du’s, mein Herz. Ich hab‘ dir ja vorausgesagt, was dein Vater davon denken würde, wenn er erführe, daß du dich zu dieser schrecklichen Sünde hast verleiten lassen; und jetzt wollen du und ich zu Gott beten, daß er dich vor einer ähnlichen Versuchung bewahren oder dir Kraft verleihen möge, ihr zu widerstehen!«

Die weibliche Lüge war in diesem Falle umsonst. Eis und Eisen lassen sich nicht zusammenschweißen, und die Standpunkte des Lord Oberrichters und Mrs. Weirs waren nicht weniger antagonistisch. Charakter und Stellung seines Vaters waren Archie schon längst ein Stein des Anstoßes, und die Schwierigkeit wuchs mit jedem Jahre, das er älter wurde. Der Mann verhielt sich meistens schweigsam; wenn er aber überhaupt redete, geschah es, um weltliche Dinge in durchaus weltlichem Geiste vorzutragen, teils in einer Sprache, die man den Jungen gelehrt hatte als roh zu betrachten, teils sogar mit Worten, die er als direkt sündhaft erkannte. Zärtliche Sanftmut war die vornehmste Pflicht, und Mylord war unfehlbar hart. Gott war die Liebe; der Name Mylords lautete (für alle, die ihn kannten) Furcht. In dem Weltschema, das die Mutter Archie aufgebaut hatte, war eines derartigen Geschöpfes Platz gezeichnet. Dort gab es Menschen, die man bemitleiden mußte und für die zu beten gut, wenn auch wahrscheinlich vergeblich war. Diese wurden Verworfene, Böcke, Feinde Gottes genannt, Fackeln, die sich selbst verzehrten; Archie fand ein jedes Merkmal hier vertreten und zog den unvermeidlichen Schluß, daß der Lord Oberrichter der größte aller Sünder sei.

Der Mutter Aufrichtigkeit war kaum vollkommen. Einen einzigen Einfluß gab es, den sie für ihr Kind fürchtete und im geheimen bekämpfte: den Mylords; und halb unbewußt, halb in willkürlicher Blindheit fuhr sie fort, ihres Gatten Stellung bei ihrem Sohne zu unterminieren. Solange Archie schwieg, tat sie dies erbarmungslos, den Blick einzig auf des Kindes Seelenheil gerichtet; aber es kam der Tag, da Archie redete. Es war im Jahre 1801, als er das siebente Jahr vollendet hatte und für sein Alter bereits eine ungewöhnliche Wißbegier und Logik zeigte. War es Sünde und verboten, andere zu richten, weshalb war Papa dann ein Richter? Und machte aus der Sünde einen Beruf? Und trug ihren Namen als eine Auszeichnung?

»Ich verstehe es nicht«, sagte der kleine Rabbi und schüttelte altklug den Kopf.

Mrs. Weir floß über von Gemeinplätzen.

»Nein, ich kann es trotzdem nicht verstehen«, wiederholte Archie. »Und ich will dir was sagen, Mama, ich glaube nicht, daß du und ich berechtigt sind, bei ihm zu bleiben.«

Das rüttelte die Frau auf; sie sah sich abtrünnig von ihrem Mann, ihrem Gebieter und Ernährer, von ihm, für den sie (soweit Weltlichkeit überhaupt in ihrer Natur lag) einen gewissen unterdrückten Stolz empfand. Sie tat sofort Buße in Form eines Vortrages über Mylords Ruhm und Größe, seine verdienstvollen Leistungen in dieser Welt des Leides und des Unrechts und über den Platz, den er einnähme, hoch erhaben über Kinder und Unmündige, die ihn niemals zu erkennen oder zu kritisieren hoffen dürften. Aber Archie hatte seine Antwort parat: Waren nicht Kinder und Unmündige Typen des Gottesreichs? Waren Ruhm und Größe etwa nicht der Welt Abzeichen? Und überhaupt, wie war das mit dem Mob gewesen, der Mylords Wagen umbrandet hatte?

»Das ist alles schön und gut«, schloß er, »aber meine Meinung ist, Papa hat kein Recht, Richter zu sein. Und das ist anscheinend noch nicht mal das Schlimmste. Es scheint, sie nennen ihn den ›Henker-Richter‹ – es scheint, daß er grausam ist. Ich will dir was sagen, Mama, ich muß immer an den Text denken: ›Besser wäre es für jenen Menschen, man hinge ihm einen Mühlstein um den Hals und würfe ihn in die tiefste See.‹«

»Ach, mein Lamm, nie wieder darfst du so etwas sagen!« jammerte sie. »Du sollst Vater und Mutter ehren, mein Herz, auf daß du lange lebest auf Erden. Das sind nur Atheisten, die sich gegen ihn auflehnen – französische Atheisten, Archie. Du willst dich doch nicht mit französischen Atheisten auf ein und dieselbe Stufe stellen? Es würde mir das Herz brechen, wenn ich das von dir glauben müßte. Ach Archie, Archie, bist du es denn nicht selber, der sich jetzt zu seinem Richter aufwirft? Hast du Gottes unmißverständliches Gebot – das erste mit einer Verheißung – schon so rasch vergessen? Denke an den Splitter des anderen und an den Balken im eigenen Auge!«

Nachdem sie also den Krieg ins feindliche Lager getragen, vermochte die geängstigte Dame wieder zu atmen. Ohne Zweifel ist es auch leicht, ein Kind derart mit Schlagworten zu überfallen, aber es ist noch sehr die Frage, inwiefern es wirksam ist. Ein Instinkt in der Brust des Kindes entdeckt die Sophisterei und verdammt sie. Es wird sich zwar sogleich unterwerfen, insgeheim aber an seiner Ansicht festhalten. Denn selbst in der primitiven und uralten Beziehung zwischen Mutter und Kind gebiert eine scheinheilige Lüge die andere.

Als in jenem Jahre die Gerichtsferien anbrachen und die Familie nach Hermiston übersiedelte, fiel es allgemein im Lande auf, daß die gnädige Frau arg kränkelte. Sie schien unversehens ihren Halt am Leben zu verlieren und dann wiederzugewinnen; mitunter saß sie teilnahmslos, ja in grenzenloser Verwirrung; dann wieder erwachte sie zu fieberhafter, schwächlicher Tätigkeit. Sie lungerte bei den Mägden und deren Hausarbeit herum und beobachtete sie mit stumpfen Blicken, schickte sich an, in alten Schränken und Kommoden zu kramen, wobei sie die Arbeit halb verrichtet wieder liegenließ, und pflegte allerlei Bemerkungen mit großer Lebhaftigkeit anzufangen, nur um sie widerstandslos wieder abzubrechen. Im allgemeinen gemahnte sie an jemand, der etwas vergessen hat und sich nun vergeblich daran erinnern möchte, und während sie so nacheinander die wertlosen und rührenden Andenken ihrer verlorenen Jugend durchstöberte, hätte man meinen können, daß sie in ihnen nach jenem vergessenen Gedanken suche. Etwa um dieselbe Zeit teilte sie zahlreiche Geschenke unter den Nachbarn und Hausdirnen aus, jedoch gleichsam mit einem Ausdruck des Bedauerns, der die Empfänger verlegen machte. An ihrem letzten Abend auf Erden war sie mit einer Handarbeit beschäftigt und lag ihr mit so unverhohlenem Eifer ob, daß selbst Mylord (der nicht oft neugierig war) sie fragte, was sie denn da mache.

Sie errötete bis über die Ohren. »Ach, Adam, es ist für dich! Pantoffeln! Ich – ich habe dir niemals Pantoffeln gestickt.«

»Du verrückte, alte Kruke!« war seiner Lordschaft Erwiderung, »’ne nette Figur würd‘ ich abgeben, wenn ich in Pampuschen herumschlurfte!«

Am folgenden Tage zur Stunde des Spazierengehens mischte sich Kirstie ein. Kirstie nahm das Hinsiechen ihrer Herrin sehr schwer, verübelte es ihr, zankte sie aus und überhäufte sie mit Vorwürfen, die Besorgnisse echter Liebe unter der Maske der Übellaunigkeit verbergend. An diesem Tage von allen Tagen bestand sie äußerst unehrerbietig, ja mit einer Art bäurischer Wut darauf, daß Mrs. Weir zu Hause bleibe. Aber deren Antwort lautete nur: »Nein, nein, es ist Mylords Befehl«, und sie brach wie gewöhnlich zu ihrem Spaziergang auf. Archie spielte auf dem Sumpfacker irgendein kindliches Spiel, dessen Gegenstand Schlamm war; sie blieb stehen und sah zu ihm hinüber, als wolle sie ihn rufen. Dann überlegte sie es sich anders, seufzte, schüttelte den Kopf und setzte allein ihren Rundgang fort. Am Bach stieß sie auf die Hausmägde beim Waschen und ging mit ihrem schlenkernden, müden, nachlässigen Schritt vorüber.

»’s ist doch ’n jämmerliches Geschöpf, die Frau«, sagte eine der Dirnen.

»Unsinn«, meinte die andere, »das Weib ist krank.«

»Pah, ich seh‘ keinen Unterschied«, entgegnete die erste. »Ein saftloses Frauenzimmer, ein elendes, altes Weibsbild.«

Das so besprochene arme Wesen schlenderte währenddessen verloren durch das Grundstück. In ihrem Geiste wogten und verebbten die Strömungen und rissen sie wie Seetang hin und her. Sie schlug den einen Pfad ein, blieb stehen, kehrte um und versuchte es mit einem neuen, immer suchend, suchend und hatte doch schon im nächsten Augenblick ihr Vorhaben wieder vergessen, da das Wahlvermögen in ihrem Busen längst erloschen oder zum mindesten jeder Konsequenz beraubt war. Plötzlich jedoch war es ihr, als habe sie sich des Vergessenen erinnert oder einen Entschluß gefaßt; sie wandte sich eilig, hastete zurück und erschien im Speisezimmer, das Kirstie gerade aufräumte, wie jemand, der einen wichtigen Auftrag zu erledigen hat.

»Kirstie«, hub sie an und stockte; dann fuhr sie mit Überzeugung fort: »Mr. Weir ist nicht geistlich gesinnt, aber er ist mir ein guter Mann gewesen.«

Es war vielleicht das erstemal seit ihres Mannes Aufstieg, daß sie das Vorwort zu seinem Namen, auf das die zärtliche, inkonsequente Frau nicht wenig stolz war, vergaß. Und als Kirstie der Sprechenden ins Gesicht blickte, erkannte sie, daß dort eine Veränderung vorgegangen war.

»Gott steh uns bei, was fehlt Ihnen, Madame?« rief die Haushälterin und erhob sich hastig von dem Teppich.

»Ich weiß nicht«, erwiderte kopfschüttelnd ihre Herrin. »Aber er ist nicht geistlich gesinnt, meine Liebe.«

»Hier, setzen Sie sich! Um Gottes willen, was fehlt der Frau?« rief Kirstie, eilte, sie zu stützen, und drückte sie in Mylords eigenen Sessel neben dem Kamin.

»Gott schütz uns, was ist das?« keuchte Mrs. Weir. »Kirstie, was ist es nur? Ich fürchte mich.«

Das waren ihre letzten Worte.

Es war um die Dämmerstunde, als Mylord heimkehrte. Der Sonnenuntergang, eine strahlende Wolkenmasse, stand ihm im Rücken, und vor ihm am Wegrande entdeckte er wartend Kirstie Elliott. Sie war in Tränen aufgelöst und redete ihn in den hohen, falschen Tönen barbarischer Trauer an, wie man sie heute noch, wenn auch gemildert, in der schottischen Heide findet.

»Der Herr erbarme sich Eurer, Hermiston! Der Herr gebe Euch Kraft!« schrillte sie. »Weh über mich, daß ich es Euch verkünden muß!«

Er parierte sein Pferd und blickte mit seinem Henkergesicht auf sie herab.

»Sind die Franzosen gelandet?«

»Mann, Mann«, rief sie, »ist das alles, woran Ihr zu denken vermögt? Der Herr gebe Euch Geduld: der Herr tröste und schütze Euch!«

»Ist jemand gestorben?« fragte seine Lordschaft. »Doch nicht Archie?«

»Gott sei Dank, nein!« rief das Weib, vor Schreck in einen natürlichen Ton fallend. »Nein, nein, so schlimm ist es nicht, ’s ist die Frau, Mylord; vor meinen Augen ist sie verschieden. Einen einzigen Seufzer stieß sie aus und war hinüber. Ach, mein süßes Fräulein Hannchen; ich sehe sie noch vor mir!« Und wieder brach sie in eine Klageflut aus, von der Art, in der Frauen ihrer Klasse stets schwelgen und exzellieren.

Lord Hermiston saß aufrecht im Sattel und musterte sie. Dann schien er seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen.

»Nun, es ist etwas plötzlich gekommen«, meinte er. »Aber sie war immer schon ein schwächliches Frauenzimmer.«

Und er ritt in eiligem Trabe heim, Kirstie an seinem Sattelknopf. In den Kleidern ihres letzten Ausganges hatten sie die tote Frau auf ihrem Bette aufgebahrt. Im Leben war sie niemals interessant gewesen; sie war auch nicht ergreifend im Tode; und als ihr Gatte jetzt vor ihr stand, die Hände hinter seinem mächtigen Rücken verschränkt, erschien ihm das, was er aus seiner Höhe dort betrachtete, als eine Verkörperung alles dessen, was in der Welt unbedeutend ist.

»Sie und ich waren niemals füreinander zugeschnitten«, bemerkte er endlich. »Es war eine verdrehte Heirat.« Und er fügte mit ausnehmender Sanftheit hinzu: »Arme Krott, arme Krott!« Dann plötzlich: »Wo ist Archie?«

Kirstie hatte ihn in ihr Zimmer gelockt und ihm eine Marmeladenschnitte gegeben.

»Einen Funken von Verstand hast du ja«, bemerkte der Richter und betrachtete grimmig seine Haushälterin. »Alles in allem – es hätte können schlimmer kommen –, ich hätte auch eine keifende Jesabel wie dich heiraten können!«

»Wer denkt jetzt an Euch, Hermiston!« rief die gekränkte Frau. »Wir denken nur an sie, die endlich ihren Leiden entrückt ist. Hätte sie es etwa schlechter treffen können, Hermiston – antwortet mir darauf, hier vor ihrer starren Leiche!«

»Nun, es gibt immer welche, die nie zufrieden sind«, bemerkte seine Lordschaft.