Die Geschichte des Gottesmannes

Der hochwürdige Herr Simon Rolles hatte sich in den theologischen Wissenschaften ausgezeichnet und im Studium der Gottesgelahrtheit ungewöhnliche Fortschritte gemacht. Seine Abhandlung »Über das Christentum und die sozialen Pflichten« verschaffte ihm eine gewisse Berühmtheit an der Universität Oxford, und man erzählte sich in geistlichen und gelehrten Kreisen, der junge Rolles sei mit einem umfangreichen Werk – man sprach von mehreren Bänden – über die Autorität der Kirchenväter beschäftigt. Doch verhalfen ihm diese Leistungen und ehrgeizigen Pläne keineswegs zu schnellerem Fortkommen, und er wartete immer noch auf seine erste Pfarrstelle, als ihn ein zufälliger Spaziergang im westlichen Teile Londons, der Anblick des stillen, schönen Gartens, der Wunsch nach ungestörter Muße und die Billigkeit der Wohnung bewogen, bei Herrn Raeburn, dem Gärtner in der Stockdove-Straße, Wohnung zu nehmen.

Jeden Nachmittag pflegte er, nachdem er sieben oder acht Stunden dem Studium des heiligen Ambrosius oder Chrysostomus gewidmet hatte, sich eine Weile, in Nachsinnen verloren, zwischen den Rosen zu ergehen. Und diese Minuten gehörten zu den fruchtbarsten seines Tagewerkes. Aber selbst eine wirkliche Freude an der Gedankenarbeit und das Interesse an schwierigen, ihrer Lösung harrenden Problemen vermögen nicht immer den Geist des Philosophen von den kleinlichen Dingen dieser Welt fernzuhalten. Als daher Herr Rolles General Vandeleurs Sekretär zerrissen und blutig in der Gesellschaft seines Hausherrn fand, als er beide die Farbe wechseln sah und sie seinen Fragen auszuweichen suchten, und vor allem, als Herr Hartley mit dreister Stirn seine eigene Person verleugnete, vergaß er sofort, von ganz gewöhnlicher Neugier geplagt, alle Heiligen und Kirchenväter.

Es ist kein Irrtum möglich, dachte er. Zweifellos ist das Herr Hartley. Wie kommt er in diesen sonderbaren Zustand? Warum nimmt er einen andern Namen an, und was kann er nur mit meinem Hauswirt, diesem verdächtigen Gesellen, zu tun haben?

Während dieser Erwägungen erregte noch ein weiterer auffallender Vorfall seine Aufmerksamkeit. Herr Raeburns Gesicht zeigte sich an einem Fenster dicht bei der Tür, und seine Augen begegneten denen des Theologen. Der Gärtner schien verlegen, ja beunruhigt, und gleich darauf wurden die Fensterläden heftig zugeschlagen.

Das kann ja alles ganz harmlos sein, überlegte Herr Rolles, es kann gar nichts zu bedeuten haben; aber ich gestehe offen, daß ich das nicht glaube. Verdächtig, heimlich, unwahr, voll Furcht vor Beobachtung – ich glaube meiner Seele, dachte er, das Paar plant irgend etwas Schändliches.

Der Geheimpolizist, der in uns allen lebt, erwachte in Herrn Rolles‘ Herzen und verlangte sein Recht; und mit lebhaftem, eiligem Schritt, der seinem gewöhnlichen Gange ganz unähnlich war, schritt er auf den Gartenwegen dahin. Als er zu dem Schauplatze von Harrys Kopfsprung kam, fiel sein Auge sogleich auf einen abgebrochenen Rosenzweig und tiefe Fußspuren auf der zertretenen Gartenerde. Beim Aufschauen bemerkte er Kratzer an der Mauer und einen Tuchfetzen an einem Glasscherben. Auf diese Weise war also Herrn Raeburns sonderbarer Freund eingedrungen! Diesen Weg wählte General Vandeleurs Sekretär zur Besichtigung eines Blumengartens. Der junge Geistliche pfiff leise vor sich hin, als er sich zur näheren Prüfung des Bodens bückte. Er konnte feststellen, wo Harry nach seinem Luftsprung aufs Feste kam, er erkannte Herrn Raeburns breiten Fuß, der tief in das Erdreich eingesunken war, als der Gärtner den Sekretär am Kragen in die Höhe zog, ja, bei genauerem Hinsehen glaubte er die Spuren tappender Finger zu erkennen, als wäre etwas ausgestreut und dann eifrig zusammengerafft worden.

Auf mein Wort, dachte er, das wird ungemein spannend.

Jetzt fiel ihm etwas ins Auge, das fast ganz in der Erde vergraben lag. In einem Nu hatte er ein feines, ledernes Futteral, das mit goldenem Verschluß versehen war, herausgegraben. Es war gewaltsam in die Erde getreten worden und so Herrn Raeburn bei seinem hastigen Suchen entgangen. Herr Rolles öffnete das Futteral und tat vor fast schreckhaftem Erstaunen einen langen Atemzug, denn vor ihm lag auf grünsamtener Unterlage ein Diamant von wunderbarer Größe und vom reinsten Wasser. Er war so groß wie ein Entenei, schön geformt und fleckenlos, und als die Sonne darauf schien, gab er einen Glanz von sich gleich elektrischem Feuer und schien mit tausendfachem Scheine in der Hand des jungen Mannes zu flammen.

Rolles verstand wenig von Edelsteinen, aber der Diamant des Rajahs war ein Wunder, das keiner Erklärung bedurfte; ein Dorfkind, das ihn gefunden hätte, würde schreiend zum nächsten Hause gelaufen sein, und ein Wilder sich vor einem so gewaltigen Fetisch anbetend niedergeworfen haben. Die Schönheit des Steines schmeichelte den Augen des jungen Geistlichen, und der Gedanke an seinen unberechenbaren Wert überwältigte seinen Verstand. Er wußte, daß, was er in der Hand hielt, weit wertvoller war als das Einkommen eines Erzbischofssitzes in vielen, vielen Jahren, daß man davon Dome bauen könnte, stattlicher als die von Ely oder Köln, daß der Besitzer für immer frei wäre vom schlimmsten Fluch und seinen eigenen Neigungen frank und frei folgen könnte. Und als er den Stein plötzlich umdrehte, sprühten ihm die Strahlen mit erneutem Glanze entgegen, und es war, als drängen sie ihm bis ins Herz.

Der Mensch entschließt sich zu entscheidenden Schritten oft im Augenblick und ohne vor seiner Vernunft Rechenschaft abzulegen. So war es auch jetzt bei Herrn Rolles. Eilig blickte er ringsum, bemerkte, wie Herr Raeburn vor ihm, nichts als den sonnenbeschienenen Blumengarten, die hohen Baumspitzen und das Haus mit den geschlossenen Fensterläden, und in einem Nu hatte er das Futteral zugemacht und in die Tasche gesteckt, worauf er mit der Hast des schlechten Gewissens in sein Studierzimmer eilte.

Der hochwürdige Simon Rolles hatte den Diamanten des Rajahs gestohlen!

Am frühen Nachmittage stellte sich die Polizei mit Harry Hartley ein. Der Gärtner, der vor Schreck außer sich war, gab seinen Hort ohne Widerstand preis, und die Edelsteine wurden in Gegenwart des Sekretärs als die vermißten festgestellt und verzeichnet. Was Herrn Rolles betrifft, so zeigte er sich höchst liebenswürdig, erzählte freimütig alles, was er wußte, und drückte sein Bedauern darüber aus, daß er den Beamten im übrigen nicht weiter behilflich sein könnte.

»Doch denke ich,« fügte er hinzu, »Sie haben Ihre Arbeit so ziemlich getan.«

»Keineswegs,« erwiderte der oberste Polizist und erzählte von der zweiten Beraubung, deren Opfer Harry geworden war. Hierauf beschrieb er dem jungen Geistlichen die besonders wertvollen Kleinode, die noch fehlten, vor allem den Diamanten des Rajahs.

»Der muß ja ein Vermögen wert sein,« bemerkte Herr Rolles.

»Zehn – zwanzig Vermögen,« rief der Beamte.

»Je größer sein Wert ist, desto schwieriger muß es sein, ihn zu verkaufen,« bemerkte Simon mit List. »So ein Ding hat seine eigene Physiognomie, die sich nicht verwischen läßt, und ich sollte meinen, es könnte einer ebenso leicht die Paulskirche verhandeln können.«

»O gewiß!« sagte der Beamte; »aber wenn der Dieb nur einigen Verstand besitzt, so wird er ihn in drei oder vier Stücke zerschneiden und immer noch genug zum reichen Mann haben.«

»Danke,« sagte der Geistliche. »Sie glauben nicht, wie interessant mir Ihre Mitteilungen sind.«

»Ja,« meinte der Polizist, »wir haben allerdings in unserem Berufe Gelegenheit, so manches Werkwürdige zu erfahren,« worauf er das Haus wieder verließ.

Herr Rolles begab sich in sein Zimmer, das ihm kleiner und öder als gewöhnlich vorkam. Auch die Vorarbeiten für sein großes Werk waren ihm niemals so wenig reizvoll erschienen, und er sah mit Verachtung auf seine Bücherschätze herab. Verschiedene Kirchenväter nahm er, Band für Band, herunter und sah sie schnell durch, aber sie enthielten offenbar nicht das, was er suchte.

Diese uralten Herren, dachte er, waren zweifellos große Kirchenlichter, aber vom Leben verstanden sie, wie mir scheint, blutwenig. Mit allen meinen Kenntnissen, die für einen Bischof vollauf genügend wären, weiß ich nicht einmal, wie ich den gestohlenen Diamanten verwerten soll. Ich bin froh, von einem gewöhnlichen Polizisten einen Fingerzeig zu erhalten, und mit allen meinen Folianten bin ich nicht einmal imstande, ihm Folge zu leisten. Das läßt mich von dem Wert der Universitätsbildung sehr gering denken.

Darauf stellte er die Bücher an ihren Platz, setzte seinen Hut auf und begab sich eilends in den Klub, dessen Mitglied er war. An dieser Stätte weltlicher Erholung hoffte er einen lebensklugen, vielerfahrenen Mann zu finden, der ihm einen guten Rat geben könnte. Im Lesezimmer traf er viele Landgeistliche und einen Dekan; drei Zeitungsschreiber und ein philosophischer Schriftsteller spielten Pool, und bei Tisch zeigten sich die gewöhnlichen nichtssagenden Gesichter der ihm bekannten Klubtreter. Keinem von allen diesen traute Herr Rolles eine größere Vertrautheit mit einem etwas bedenklichen Thema zu, als er sie selbst besaß, keinem die Fähigkeit, ihm in seiner augenblicklichen Not als Rater und Führer zu dienen. Schließlich traf er ganz oben im Rauchsaal einen stattlichen Herrn in auffallend einfacher Kleidung. Er rauchte eine Zigarre und las eine Wochenschrift; sein Gesicht legte offenbar Zeugnis ab von einem vorurteilslosen und sehr lebhaften Geiste; auch fand Herr Rolles in seinen Zügen etwas Vertrauenerweckendes und Hoheitsvolles. Je forschender sich der junge Mann in sein Gesicht vertiefte, um so mehr gewann er die Überzeugung, den Mann gefunden zu haben, der ihm den rechten Rat geben könnte.

»Mein Herr,« sagte er, »entschuldigen Sie meinen Freimut; aber nach Ihrem Aussehen glaube ich, daß Sie mehr als ein anderer ein Mann der Welt sind.«

»Auf diese Bezeichnung habe ich in der Tat gegründeten Anspruch,« erwiderte der Fremde, indem er die Zeitschrift mit einem halb erstaunten und halb spöttischen Blick aus der Hand legte.

»Ich bin,« fuhr der Theologe fort, »ein Klausner, ein Gelehrter, ein Kind der Tintenflaschen und Folianten. Ein Ereignis jüngster Zeit hat mir meine Torheit in weltlichen Dingen lebhaft vor Augen gestellt, und ich möchte Lebensweisheit gewinnen. Welchen Weg weisen Sie mir?«

»Sie bringen mich in Verlegenheit,« sagte der Fremde. »Doch können Sie vielleicht aus Gaboriau einen kleinen Begriff von Welt und Leben bekommen.«

Herr Rolles dankte dem Fremden und kaufte sich auf dem Heimwege ein Werk über Edelsteine und ein paar Romane von Gaboriau. Das Lesen dieser Romane brachte ihn wirklich auf einen nutzbaren Gedanken. Als er von einem Manne las, der alle möglichen Fertigkeiten selbst besaß und dadurch alle Schwierigkeiten überwand, rief er plötzlich aus: »Himmel, ist das nicht eine Lehre für mich? Muß ich nicht ebenfalls selbst Diamanten schneiden lernen?«

Es fiel ihm ein, daß er einen Goldschmied in Edinburg kenne, der ihn gerne in den nötigen Handgriffen unterweisen würde; in ein paar Monaten, vielleicht Jahren niedriger Arbeit hoffte er genug Handfertigkeit erworben zu haben, um den Diamanten zerteilen zu können, und genug Erfahrung, um ihn mit Vorteil an den Mann zu bringen. Darauf könnte er seine Forschungen in aller Muße als reicher, von allen beneideter und geachteter Gelehrter fortsetzen. Goldene Träume umgaukelten ihn, als er sich zum Schlummer niederlegte, und erfrischt und frohgemut erwachte er mit der Morgensonne.

Herrn Raeburns Haus sollte an diesem Tage polizeilich geschlossen werden, und das diente dem jungen Mann als Vorwand zur Abreise nach Edinburg. Munter packte er seinen Koffer, brachte ihn zum Bahnhof und begab sich dann zum Klub, um hier den Nachmittag zu verbringen und zu speisen.

»Wenn Sie heute hier essen wollen,« bemerkte ein Bekannter zu ihm, »können Sie zwei der bemerkenswertesten Männer Englands sehen, den Prinzen Florisel von Böhmen und den alten John Vandeleur.«

»Vom Prinzen habe ich gehört,« versetzte Herr Rolles, »und den General Vandeleur habe ich sogar in Gesellschaft kennengelernt.«

»Der General Vandeleur ist ein Esel,« entgegnete der andere. »Das hier ist sein Bruder John, ein Abenteurer sondergleichen, der beste Kenner von Edelsteinen und einer der scharfsinnigsten Diplomaten Europas. Haben Sie niemals von seinem Zweikampf mit dem Herzog von Orges, von seinen Taten und Grausamkeiten als Diktator von Paraguay, von seiner Geschicklichkeit beim Aufspüren der Juwelen des Barons Levi oder von seinen Diensten beim indischen Aufstand gehört – Dienste, die der Regierung zugute kamen, die aber die Regierung nicht zu vertreten wagte? Es ist schwer zu sagen, ob John Vandeleur mehr berühmt oder mehr berüchtigt ist, auf beides hat er überreichen Anspruch. Gehen Sie hinunter,« fuhr er fort, »setzen Sie sich an einen Tisch in ihrer Nähe und halten Sie Ihre Ohren offen! Sie werden manches Sonderbare hören, oder ich müßte mich sehr täuschen.«

»Aber woran soll ich sie erkennen?« fragte der Geistliche.

»Sie erkennen!« rief der Freund. »Nun, der Prinz ist der schönste Gentleman in Europa, der einzige Mensch, der wie ein König aussieht; und was John Vandeleur betrifft, so denken Sie sich einen siebzig Jahre zählenden Odysseus, mit einem Säbelschmiß quer übers Gesicht, und Sie haben Ihren Mann vor sich. Die sind leicht zu erkennen! Man könnte sie ohne Schwierigkeiten aus einer Jahrmarktsmenge herausfinden!«

Eiligst begab sich Rolles ins Speisezimmer. Es war, wie ihm sein Freund versichert hatte, man konnte das fragliche Paar unmöglich verkennen. Der alte John Vandeleur besaß einen auffallend kräftigen, offenbar äußerst gewandten Körper. Seine Züge waren kühn und adlerartig, sein Ausdruck anmaßend und habsüchtig, seine ganze Erscheinung verriet einen raschen, heftigen, durch keine Rücksicht gehemmten Mann der Tat, und sein üppiges weißes Haar und die Säbelfurche, die über seine Nase und Schläfe lief, gaben dem schon an und für sich auffallenden und herausfordernden Gesicht noch einen besonderen Anstrich von Wildheit.

In seinem Begleiter, dem böhmischen Prinzen, erkannte Rolles zu seiner Überraschung den Herrn, der ihm Gaboriaus Werke empfohlen hatte.

Die Unterhaltung war in der Tat für die Ohren des am nächsten Tische sich niederlassenden Gottesmannes neu. Der Exdiktator von Paraguay erzählte von seinen zahlreichen außerordentlichen Erlebnissen in verschiedenen Weltgegenden, und der Prinz gab einen Kommentar dazu, der für einen Mann von Geist noch fesselnder war als die Ereignisse selbst.

Schließlich kam die Rede auch auf die großen Diebstähle der jüngsten Zeit und auf den Diamanten des Rajahs.

»Dieser Diamant ruhte besser auf dem Grunde des Meeres,« bemerkte Prinz Florisel.

»Eure Hoheit können sich denken,« versetzte der Diktator, »daß ich als ein Vandeleur abweichender Meinung bin.«

»Ich sage dies in Hinsicht auf das allgemeine Wohl,« erklärte der Prinz. »So kostbare Edelsteine sollten nur in fürstlichen Sammlungen oder öffentlichen Schatzkammern zu finden sein. Sie im Besitze gewöhnlicher Sterblicher belassen heißt einen Preis auf die Tugend setzen; und wenn der Rajah von Kaschgar, der ein höchst erleuchteter Fürst sein soll, den Wunsch hatte, sich an den Europäern zu rächen, so hätte er schwerlich etwas Wirksameres tun können, als indem er diesen Apfel der Zwietracht unter uns warf. Der Ehrlichste widersteht einer solchen Versuchung nicht. Ich selbst, der sich vieler besonderen Vorrechte erfreut, Herr Vandeleur, könnte mich kaum, wenn ich den wunderbaren Stein in Händen hätte, von seinem berauschenden Einflusse frei halten. Und von Ihnen, einem Diamantenjäger aus Neigung und Beruf, glaube ich, gibt es überhaupt kein Verbrechen, vor dem Sie zurückschrecken würden – ich glaube, Sie haben keinen Freund auf der Welt, den Sie nicht darum verrieten, – ich weiß nicht, ob Sie Familie haben, aber wenn es der Fall ist, so erkläre ich, Sie würden Ihre Kinder opfern – und dies alles wofür? Nicht um reicher zu sein, nicht um ein bequemeres Leben oder größere Achtung zu gewinnen, sondern einzig zu dem Zwecke, diesen Diamanten ein oder zwei Jahre, bis zu Ihrem Tode, Ihr Eigentum zu nennen und hin und wieder Ihren Geldschrank zu öffnen und sich den Stein anzusehen, wie man ein Bild anschaut.«

»Es ist wahr,« gab Vandeleur zurück. »Gar vielem habe ich nachgejagt, von Männern und Frauen bis herab zu Moskitos; als Korallenfischer tauchte ich tief in das Meer; ich habe Walfischen wie Tigern nachgestellt, aber ein Diamant lohnt von allem am meisten die Mühe. Er ist schön und kostbar, er allein vergilt den Schweiß des Jägers in rechter Weise. Im Augenblick bin ich, wie sich Eure Hoheit denken können, auf der Fährte; ich habe eine sichere Hand und eine gewaltige Erfahrung; ich kenne jeden wertvollen Stein in der Sammlung meines Bruders, wie ein Hirt seine Schafe kennt, und ich möchte lieber den Tod erleiden, wenn ich sie nicht allesamt in meinen Besitz bringe.«

»Sir Thomas Vandeleur wird alle Ursache haben, Ihnen dafür dankbar zu sein,« sagte der Prinz.

»Dessen bin ich nicht so sicher,« gab der Diktator auflachend zurück. »Einer von den Vandeleurs wird Ursache dazu haben. Thomas oder Johannes – Peter oder Paul – wir sind alle Apostel.«

»Ihre Worte sind mir unverständlich,« sagte der Prinz, der seinen Abscheu nicht unterdrücken konnte.

Im selben Augenblick meldete der Kellner Herrn Vandeleur, daß seine Droschke vor der Türe seiner harre.

Herr Rolles schaute nach der Uhr und sah, daß auch er fort müsse. Dieser gleichzeitige Aufbruch war ihm unbehaglich, denn er hatte den lebhaften Wunsch, von dem Diamantenjäger nichts mehr zu sehen.

Da der junge Mann infolge angestrengter Studien etwas nervös war, pflegte er beim Reisen keine Kosten zu sparen; so hatte er auch diesmal ein Sofa in einem Schlafwagen für sich genommen.

»Sie können sich’s recht bequem machen,« bemerkte der Schaffner; »in Ihrem Abteil ist niemand weiter und am andern Ende nur ein alter Herr.«

Kurz vor Abgang des Zuges, als die Schaffner bereits die Fahrkarten vorzeigen ließen, bekam Herr Rolles seinen Mitreisenden zu Gesicht. Sicher gab es keinen Zweiten auf der Welt, den er nicht lieber gesehen hätte, denn es war – der alte Exdiktator, John Vandeleur.

Die Schlafwagen der Großen Nordbahn bestehen aus drei Abteilungen, beiderseits ist ein Raum für Fahrgäste und in der Mitte ein Wasch- und Toilettenraum. Rolltüren trennen die Seitenräume von der Toilette, da aber an den Türen keine Riegel und Schlösser angebracht sind, so stehen in Wahrheit jedem Fahrgast alle drei Räume zur Verfügung.

Als sich Herr Rolles seine Lage klargemacht hatte, erkannte er, daß er wehrlos sei. Wenn der Diktator ihm im Laufe der Nacht einen Besuch abstatten wollte, so konnte er sich dem nicht entziehen. Dieser Gedanke ängstigte ihn ungemein. Mit bangem Herzen erinnerte er sich an die prahlerischen Reden seines Mitreisenden und seine vor dem entrüsteten Prinzen dargelegten unmoralischen Ansichten. Es fiel ihm ein, daß es Leute geben sollte, die die sonderbare Fähigkeit besitzen, die Anwesenheit von Gold und kostbaren Metallen selbst durch Wände hindurch und auf beträchtliche Entfernungen zu merken. Konnte es sich nicht mit Diamanten ebenso verhalten? Wenn dem aber so war, bei wem konnte man den Besitz dieses unbegreiflichen Sinnes mit größerer Wahrscheinlichkeit vermuten als bei dem, der sich selbst mit seinem Beinamen »Diamantenjäger« brüstete? Es war ihm klar, daß er von einem solchen Manne alles zu fürchten habe, und sehnlichst sah er dem Tagesanbruch entgegen.

Inzwischen versäumte er keine Maßregel der Vorsicht, versteckte seinen Diamanten in der innersten Tasche einer Periode von Überziehern und empfahl sich fromm der himmlischen Vorsehung.

Wie gewöhnlich sauste der Zug mit gleichmäßiger Schnelligkeit dahin, und es war schon beinahe die Hälfte des Weges zurückgelegt, als der Schlummer in Herrn Rolles‘ unruhvolle Brust einzukehren Miene machte. Eine Zeitlang widerstand er ihm, aber der Schlaf gewann mehr und mehr Macht über ihn, und kurz vor York streckte sich der junge Mann auf das Kissen und ließ seine Lider sich senken; fast im selben Augenblick verließ ihn das Bewußtsein, nachdem sein letzter Gedanke noch seinem entsetzlichen Nachbar gegolten hatte.

Als er erwachte, war es, vom Flackern der verhüllten Lampe abgesehen, noch stockdunkel, und das fortgesetzte Dröhnen und Schwanken zeugte von der unverminderten Schnelligkeit des Zuges. Voll Schreck fuhr Rolles auf, denn die greulichsten Träume hatten ihn gequält. Es dauerte einige Sekunden, bis er die Gewalt über seine Sinne wiedergewann. Auch als er sich nun von neuem niederlegte, kam der Schlaf nicht wieder, und er lag mit heftig arbeitendem Gehirn und offenen, nach der Tür des Waschzimmers gerichteten Augen da. Er zog seinen breitkrempigen Filzhut noch weiter über die Augen, um das Licht abzuhalten, und versuchte die gewöhnlichen Mittel der Schlummerlosen, wie das Zählen bis tausend, um den ersehnten Schlaf herbeizuzwingen. Aber in diesem Falle war alle Mühe umsonst, denn Rolles schwebte in tausend Ängsten, der Gedanke an den Alten am andern Ende des Wagens verfolgte ihn in hunderterlei verschiedenen Formen, und der Diamant in seiner Tasche verursachte ihm, er mochte ihn legen, wie er wollte, ein fühlbares physisches Unbehagen. Er brannte ihn, er war zu groß, er quetschte ihm die Rippen, und es kamen mehr wie einmal blitzartig vorübergehende Momente, in denen er sich halb bewogen fühlte, ihn aus dem Fenster zu werfen.

Während er so dalag, trug sich etwas Sonderbares zu.

Die Rolltür bewegte sich ein wenig und dann noch ein wenig und war schließlich etwa zwanzig Zoll weit aufgezogen. Die Lampe im Zwischenraum war nicht verhüllt, und in der so beleuchteten Öffnung konnte Rolles Herrn Vandeleurs Gesicht, auf dem sich der Ausdruck höchster Spannung widerspiegelte, bemerken. Er war sich bewußt, daß der Blick des Diktators an ihm haftete, und der Instinkt der Selbsterhaltung bewog ihn, seinen Atem zurückzuhalten, bewegungslos dazuliegen, seine Augenlider halb zu schließen und seinen Gast zwischen den Wimpern hindurch zu beobachten. Im nächsten Augenblick wurde der Kopf zurückgezogen und die Tür wieder zugeschoben.

Der Diktator hatte keinen Angriff im Sinne gehabt, sondern nur beobachten wollen; er handelte nicht wie einer, der gegen andere etwas im Schilde führt, sondern wie einer, der sich selbst bedroht fühlt. Er war anscheinend nur gekommen, um sich zu überzeugen, ob sein einziger Mitreisender im Schlafe liege, und hatte sich, nachdem er diese Überzeugung gewonnen, sofort zurückgezogen.

Der Geistliche sprang auf. Der höchste Schrecken hatte bei ihm unvermittelt der entgegengesetzten Stimmung, dem dreistesten Wagemute, Platz gemacht. Er bedachte, daß das Rasseln des Schnellzuges jeden andern Ton verschlinge, und beschloß, komme, was wolle, den Besuch zu erwidern. Er warf seinen Mantel ab, der seine freie Bewegung hindern konnte, trat in den Waschraum und stand still, um zu horchen. Wie er erwartet hatte, war nichts zu hören außer dem Tosen des fortrasenden Zuges. Dann legte er seine Hand vorsichtig auf den Knopf der andern Rolltüre und zog sie leise etwa sechs Zoll zurück. Als er durch den Spalt einen Blick auf sein Gegenüber warf, konnte er einen leisen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken.

John Vandeleur trug eine Pelzreisemütze mit Ohrklappen, und dies mochte ihn im Verein mit dem Dröhnen des vorwärtsstürmenden Zuges gehindert haben, Rolles‘ Annäherung zu bemerken. Auf alle Fälle hob er seinen Kopf nicht und fuhr in seiner sonderbaren Beschäftigung unbeirrt fort. Zwischen seinen Füßen stand eine offene Hutschachtel; in einer Hand hielt er den Ärmel seines Überziehers von Seehundsfell und in der andern ein fürchterliches Messer, mit dem er soeben das Futter des Ärmels aufgetrennt hatte. Herr Rolles hatte von Leuten gelesen, die ihr Geld in Gürteln bei sich trugen, und da er nur Gürtel, wie man sie beim Kricketspiel braucht, kannte, so hatte er sich niemals eine rechte Vorstellung von dieser Art der Geldverwahrung machen können. Aber hier bot sich seinen Augen noch ein seltsameres Schauspiel, denn John Vandeleur trug, wie es schien, seine Diamanten im Ärmelfutter, und gerade, wie der junge Diener Gottes hinschaute, sah er einen glitzernden Diamanten nach dem andern in die Hutschachtel fallen.

Er stand da wie festgenagelt und folgte dieser ungewöhnlichen Verrichtung mit den Augen. Die Diamanten waren zumeist klein und weder in Form noch in Feuer voneinander sehr verschieden. Dann aber schien der Diktator auf eine Schwierigkeit zu stoßen; er brauchte beide Hände und neigte sich tiefer herab, aber erst nach vielem Mühen brachte er aus dem Futter ein großes diamantbesetztes Diadem hervor, das er ein paar Sekunden betrachtete, ehe er es zu dem übrigen in die Hutschachtel legte. Das Diadem ließ in Herrn Rolles‘ Geist ein Licht aufgehen, er erkannte es sofort als zu den Schmuckstücken gehörig, die der herumlungernde Strolch Harry Hartley gestohlen hatte. Es war kein Irrtum möglich, es entsprach genau der Beschreibung des Geheimpolizisten. Da waren die Rubinsterne mit einem großen Smaragd in der Mitte, die funkelnden Halbmonde, die perlenähnlichen Gehänge, je aus einem besonders wertvollen Steine bestehend.

Herr Rolles hatte das Gefühl großer Erleichterung. Der Diktator saß ebensotief in der Tinte wie er selbst; keiner hatte dem andern etwas vorzuwerfen. Es entfuhr ihm ein tiefer Seufzer, dem, da seine Kehle infolge der fortgesetzten Anspannung trocken und seine Brust beklommen war, ein Husten folgte.

Herr Vandeleur blickte auf, sein Gesicht verzerrte sich unter dem Einfluß der finstersten, schrankenlosesten Leidenschaft, seine Augen öffneten sich weit, und das Sinken seines unteren Kinnbackens zeugte von einem an Wut grenzenden Erstaunen. Mit einer unwillkürlichen Bewegung hatte er die Hutschachtel mit dem Mantel bedeckt. Eine halbe Minute lang starrten beide einander stillschweigend an. In diesen wenigen Minuten entschloß sich Herr Rolles, der die Gabe zeigte, in gefährlichen Lagen schnell zu denken, zu einem äußerst waghalsigen Vorgehen, und obschon er sich bewußt war, sein Leben aufs Spiel zu setzen, brach er zuerst das Schweigen.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er.

Der Diktator bebte sichtlich, und mit heiserer Stimme fragte er:

»Was wollen Sie hier?«

»Ich interessiere mich ausnehmend für Diamanten,« erwiderte Herr Rolles mit der Miene vollkommenster Selbstbeherrschung. »Zwei Kenner sollten miteinander bekannt werden. Ich habe hier auch eine Kleinigkeit, die vielleicht zu meiner Beglaubigung als Diamantenfreund dienen kann.«

Hierbei nahm er ruhig das Futteral aus seiner Tasche, zeigte dem Diktator einen Moment den Diamanten des Rajahs und brachte ihn wieder in Sicherheit.

»Er gehörte einmal Ihrem Bruder,« fügte er hinzu.

John Vandeleur fuhr fort, ihm Blicke fast schmerzlicher Überraschung zuzuwerfen, aber verharrte starr und stumm.

»Ich habe zu meiner Freude bemerkt,« nahm der junge Mann das Wort, »daß wir Edelsteine aus derselben Sammlung haben.«

Der Diktator wurde von Erstaunen überwältigt. »Verzeihen Sie,« sagte er; »ich merke, daß ich alt werde! Auf derartige kleine Zwischenfälle bin ich in der Tat nicht vorbereitet. Aber geben Sie mir über eins Auskunft: Täuschen mich meine Augen, oder sind Sie wirklich ein Geistlicher?«

»Ich habe die Weihen empfangen,« antwortete Herr Rolles.

»Nun,« schrie der andere, »solange ich lebe, soll niemand wieder etwas gegen den Talar sagen.«

»Sie schmeicheln mir,« sagte Herr Rolles.

»Bitte sehr,« erwiderte Vandeleur, »bitte sehr, junger Mann. Sie sind kein Feigling, aber es bleibt noch eine Frage, ob Sie nicht der allerschlimmste Narr sind. Sie sind vielleicht so freundlich,« fuhr er fort und lehnte sich in seinen Sitz zurück, »und beantworten mir ein paar Fragen. Ich muß annehmen, Sie hatten bei Ihrer erstaunlich unverschämten Handlungsweise ein bestimmtes Ziel, und ich gestehe, die Neugier treibt mich, es kennenzulernen.«

»Das ist äußerst einfach,« versetzte der Gottesmann; »es entspringt aus meinem großen Mangel an Lebenserfahrung.«

»Wie ist dies zu verstehen?«

Hierauf erzählte ihm Herr Rolles die ganze Geschichte seiner Beziehungen zum Diamanten des Rajahs, von dem Moment an, wo er ihn in Raeburns Garten fand, bis zu dem Zeitpunkt, als er London mit dem Blitzzug verließ. Er knüpfte daran eine gedrängte Schilderung seiner Gefühle und Gedanken während der Reise und schloß mit folgenden Worten:

»Als ich das Diadem erkannte, wußte ich, daß wir beide der menschlichen Gesellschaft gegenüber die gleiche Stellung einnehmen, und dies erfüllte mich mit einer Hoffnung, von der ich fest glaube, sie wird sich nicht als unbegründet erweisen, der Hoffnung, Sie würden gewissermaßen mein Geschäftspartner werden und mit mir die Gefahren und Schwierigkeiten und natürlich auch den zu erhoffenden Gewinn teilen. Für einen, der Ihre Fachkenntnisse und reiche Erfahrung besitzt, wäre die Verwertung des Diamanten eine verhältnismäßig leichte Aufgabe, während sie für mich geradezu ein Ding der Unmöglichkeit ist. Auf der andern Seite war ich der Meinung, beim Zerschneiden des Diamanten mit meiner ungeübten Hand würde ich wohl nicht weniger verlieren, als mich so eine angemessene Vergeltung für Ihren Beistand kosten würde. Das Thema ist etwas heikler Natur, und vielleicht bin ich zu sehr mit der Tür ins Haus gefallen, aber die Lage war für mich eine völlig ungewohnte, und ich war mit den hierbei üblichen Formen ganz unvertraut. Ich glaube, ohne Überhebung, ich hätte Sie ganz vorschriftsmäßig verheiraten oder taufen können; aber jeder hat seine besonderen Fertigkeiten, und das vorliegende Geschäft fällt ganz und gar aus dem Rahmen der von mir bisher erworbenen Kenntnisse.«

»Ich will Ihnen nicht schmeicheln,« versetzte Vandeleur; »aber Sie haben, auf mein Wort, ein ungewöhnliches Talent für eine Verbrecherlaufbahn. Ihre Fähigkeiten sind umfassender, als Sie meinen; und obwohl ich eine gute Zahl von Schurken an allen Enden der Welt getroffen habe, ist mir doch noch niemals ein so schamloser vorgekommen wie Sie. Glück auf, Herr Rolles, Sie sind jetzt wenigstens im richtigen Fahrwasser. Was meinen Beistand betrifft, so können Sie über mich verfügen. Ich muß nur einen Tag auf ein kleines Geschäft verwenden, das ich für meinen Bruder in Edinburg zu besorgen habe. Ist dies getan, so gehe ich nach Paris zurück, wo ich gewöhnlich meinen Wohnsitz habe. Wenn Sie wollen, können Sie mich dorthin begleiten. Und ehe der Monat um ist, werde ich, denk‘ ich, auch Ihr kleines Geschäft zu befriedigendem Abschluß gebracht haben.«