Kapitel 9

 

Als der Lehrer am folgenden Tage zum Bürgermeister kam, lag dieser von Schmerz gequält auf dem Bette. Er hatte in seinem jämmerlichen Zustand nicht das geringste Interesse für Wohl oder Weh der Mitmenschen. Sooft Habrecht auch begann, von Pavel zu sprechen, der Kranke kam immer auf sich, auf seine Leiden, auf seine Klagen über den Arzt zurück, der alle Fingerlang daherlaufe, ihm das Geld aus der Tasche stehle und nicht helfe. Um wieviel besser dran als er war seine Magd! Ja, die! Vor ein paar Wochen so krank und so matt, daß sie sich kaum hatte auf den Beinen halten können, jetzt frisch und gesund. Und warum? Weil sie von allem Anfang an vom Arzt nichts hatte wissen wollen, weil sie, ohne erst lange zu fragen, zum Weib des Hirten geschickt um ein Mittel. Das hatte geholfen, gleich nach einer Stunde war sie hergestellt.

Der Lehrer sagte: »Hm, hm!« und brachte von neuem die Angelegenheit Pavels vor, worauf ihm der Patient nochmals die Geschichte der wunderbaren Heilung seiner Magd erzählte.

»Und was beschließt Ihr über den Pavel?« fragte der Schulmeister und erhielt endlich den Bescheid, er solle sich an die Räte wenden.

So machte er denn die Runde bei den Räten. Einer nach dem andern hörte ihn ernsthaft und geduldig an, und jeder sagte: »Da müssen Sie zuerst zum Bürgermeister.«

»Der Bürgermeister schickt mich zu Euch.«

»Ja, dann müssen Sie zu den zwei andern Räten.«

Selbständig einen Entschluß zu fassen oder nur eine Meinung auszusprechen, dahin war durch ruhiges Zureden keiner zu bringen; und in Eifer zu geraten hütete sich Habrecht, um nicht bei den mißtrauischen Dorfvätern in den Verdacht irgendeiner eigennützigen Absicht bei der Sache zu kommen.

Zuletzt ging er ins Schloß, um dort für seinen Schützling zu wirken, kam jedoch übel an. Der Brief aus dem Kloster hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Die Frau Baronin machte sich bittere Vorwürfe, die Zusammenkunft der Geschwister befürwortet zu haben, war sehr aufgebracht gegen Pavel, wollte nicht mehr von ihm sprechen hören und riet dem Schulmeister, den Schlingel ein für allemal seinem Schicksal zu überlassen.

Die Woche verfloß; Virgil begab sich täglich nach der Schule, um den Pavel abzuholen, aber der Junge ließ sich entweder nicht finden oder leistete offenen Widerstand. Da wanderten endlich der Hirt und sein Weib zum Bürgermeister und ersuchten ihn, seine Autorität geltend zu machen und den Buben zur Rückkehr zu ihnen zu zwingen. Der kranke Mann versprach alles, was sie verlangten, blickte zwischen jedem mühsam herausgestoßenen Satz die Wunderdoktorin fragend, fast flehend an und ächzte, nach seiner schmerzenden rechten Seite deutend: »Da sitzt’s! Da sitzt der Teufel!«

»Mein Gott, mein Gott!« sprach das Weib. »Rechts, ja rechts, da tut’s weh, das ist die Leber.«

»Die Leber? Nun ja – sie sagt also wenigstens etwas, sie! … sie sagt, die Leber ist’s? Aber der Doktor, der sagt nicht Leber und gar nichts.«

»Sagt nichts und weiß nichts«, sprach das Weib mit überlegener, wegwerfender Miene.

»Weiß nicht einmal eine Linderung, weiß gar nichts.«

Die Virgilova erhob die gefalteten Hände zur Höbe ihrer Lippen und hauchte über die Fingerspitzen: »Ach Gott, ach Gott! und wenn man denkt, wie leicht dem Herrn Bürgermeister zu helfen wäre.«

Der Kranke bäumte sich auf seinem Lager: »Meinst du? … So hilf mir!«

»Wenn ich nur dürft«, entgegnete sie mit einem raschen, lauernden Blick. »Wenn ich nur etwas schicken dürft! … In vierzehn Tagen wären Sie gesund.«

»So schick mir etwas, schick! … Aber – das Maul gehalten… verstehst du? …« Er unterbrach sich, um ängstlich auf Schritte und Stimmen, die sich näherten, zu horchen, und fuhr dann leise fort: »Wenn’s dunkel wird, kommt die Magd und holt’s.«

»Ich schick den Buben, das wird besser sein, da setzen Sie dem auch gleich den Kopf zurecht und sagen ihm: Wo du hing’hörst, da gehst wieder hin. Die Magd soll nur aufpassen bei der Stalltür.«

Der Bürgermeister winkte heftig: »Um neun. Geht fort geht!«

Virgil und sein Weib gehorchten schleunig, trafen aber schon am Ausgang der Stube mit Peter und dem Arzte zusammen. Dieser ließ die unbefugte Kollegin hart an mit der Frage, was sie hier zu suchen habe. Nicht minder mißtrauisch und viel derber wies Peter die beiden Alten hinweg.

Das Ehepaar legte den Heimweg schweigend zurück.

In der Hütte angelangt, begab die Frau sich sogleich zu der Truhe, kramte eine schmutzige, in Lumpen gehüllte Schachtel hervor und entnahm ihr zwei Fläschchen. Das eine trug die Etikette der städtischen Apotheke mit der Aufschrift: »Kamillengeist«. Der Inhalt der zweiten war von gelbgrauer Farbe und hatte einen dicken weißlichen Bodensatz. Aufmerksam prüfend hielt die Frau das Fläschchen gegen das Licht und begann es langsam in ihren Fingern zu drehen.

Virgil hatte sich auf die Bank gesetzt. »Was tust?« fragte er plötzlich. »Was willst ihm helfen? Laß ihn.«

»Dem kann niemand helfen«, antwortete das Weib. »Der muß sterben.«

»Muß sterben? – Was willst also? … Misch dich nicht hinein.«

Sie zuckte die Achseln: »Dreiviertel Jahr oder ein ganzes kann er’s schon noch machen.«

»Oder ein ganzes?« wiederholte Virgil bestürzt, dachte nach und rief auf einmal voll Grimm: »Hast gesehen, wie sein Bursch mit uns war?«

»Aus lauter Angst vorm Vater«, versetzte das Weib. »Er möcht uns prügeln aus lauter Angst… und sie kriegt auch noch Prügel von ihm – dann!« Sie legte ungemeines Gewicht auf dieses Wort und zwinkerte mit ihren blassen Katzenaugen. »Dann – wenn die Verliebtheit verraucht sein wird, und die verraucht bald, wie die Bursche schon sind, die schlechten Kerls. Pack dich, wird’s dann heißen, ich hab nichts mehr mit dir zu tun! Und das Mädel weiß, daß es so kommen kann, und wenn’s so kommt, dann geht das Mädel in den Brunnen.«

Virgil stieß einen heiseren Laut hervor und bekreuzte sich dreimal nacheinander: »Gered! Albernes Mädelgered!«

»Von unserem ist’s kein Gered«, erwiderte das Weib mit innigster Oberzeugung, »die tut’s.«

»Tut’s nicht.«

»Laß nur drauf ankommen.«

»Ich schon. Meinetwegen braucht sich der Racker nicht zu schinieren.«

»So soll sie gehen. ‘s wird halt auf der Welt um ein armes Mädel weniger geben. Mich hätt’s nur g’freut, wenn der Alte früher gestorben wär, jetzt! solang noch der Peter, wenn er dürft, wie er wollt, sie nehmen tät… Und wenn sie ihn nur hätt! wenn nur!« das Weib brach in ein Gelächter aus, »dann wär er’s, der Prügel bekäm.«

Virgil nahm zuerst teil an ihrer lauten Heiterkeit, doch hielt er bald inne, verzog heuchlerisch den Mund und sprach tief aufseufzend: »Gott geb’s, daß der liebe Gott den armen Herrn Bürgermeister bald erlöst.«

»Vielleicht gibt er’s«, versetzte rauheren Tones die Frau; »und jetzt mach fort und hol den Buben.«

»Er geht nicht.«

»Sag, daß der Bürgermeister es befiehlt.«

»Er geht doch nicht.«

»So sag, daß die Vinska um ihn schickt.«

Der Hirt stand auf und schlich dem Ausgang zu. Dort blieb er stehen, wandte sich und sprach: »Du, hörst – helfen sollst ihm just nicht, was Unrechtes geben aber auch nicht.«

Höhnisch blinzelte sie ihn an: »Werden schon sehen.« Um ihre dannen, über das vorstehende, noch gut erhaltene Gebiß fest gespannten Lippen flog ein grünlicher Schatten.

Den Mann überlief’s, er humpelte sachte davon.

Zwei volle Stunden ließ Pavel auf sich warten. Es war beinahe Nacht, als er endlich kam, an die Tür klopfte und nach Vinska fragte. In die Hütte einzutreten, war er nicht zu bewegen.

Der Hirt, der ihn begleitet hatte, lehnte an der Wand und rührte sich nicht. Bei den Nachbarn herrschte Stille, nur unterbrochen durch das kräftige Schnarchen Arnosts, dessen Lagerstätte in der Nähe des Fensters stand.

Virgilova erschien auf der Schwelle: »Die Vinska schlaft schon«, sagte sie, »jetzt kannst sie nicht mehr sehen, warum kommst so spät. Mußt auch gleich zum Bürgermeister.«

»Ich?«

»Sollst ihn selbst bitten, daß er dich beim Lehrer laßt, und –« sie senkte die Stimme zu kaum hörbarem Geflüster, »und mußt ihm auch ein Mittel bringen.«

»Aha!« Pavel begriff sogleich, um was es sich eigentlich handele. Er war oft genug seiner Prinzipalin verschwiegener Bote bei Kranken gewesen und teilte mit dem ganzen Dorfe den Glauben an ihre Kunst und an die Heilkraft ihrer Medikamente. So streckte er die Hand aus und sprach: »Gebt her.«

Sie reichte ihm das Fläschchen mit dem harmlosen Inhalt und schärfte ihm umständlich die Vorsichtsmaßregeln ein, unter denen es »auf dreimal« zu leeren sei. »Geh durch den Garten«, schloß sie, als der Junge ungeduldig zu werden begann und ihr nur noch mit halbem Ohr zuhörte: »Halt dich weit von der Straße, daß dich der Nachtwächter nicht sieht. Die Magd weiß, daß du kommst, und wird dir aufmachen.«

Mit ein paar Sätzen war Pavel auf dem Feldrain, einen Augenblick hob sein dunkler Schatten sich vom bleigrauen Horizont ab, dann war er verschwunden.

Virgilova trat auf ihren Mann zu, faßte ihn am Arm und zog ihn einige Schritte mit sich fort. »Jetzt laufst dem Buben nach und sagst ihm: Bald hätt die Frau vergessen; das da muß er zuerst austrinken und das Flascherl gleich wieder zurückschicken, damit die Frau es im Mörser zerstoßen und das Pulver auf sieben Maulwurfshügel streuen kann, sonst hilft alles nichts. So sagst ihm und das gibst ihm.«

Sie drückte ihm ein kleines kaltes Ding in die Hand, bei dessen Berührung ihn schauderte.

»Um Gottes willen, ist da was Unrechtes drin?«

»’s is was gegen die Schmerzen; die werden gut davon.«

»Wie den Ratzen ihre«, sagte er und fügte, plötzlich in Zorn geratend, hinzu: »Warum hast du’s nicht gleich dem Buben mitgegeben, warum soll ich’s hintragen?«

Sie kicherte: »Daß du nicht sagen kannst, wenn’s aufkommt: Ich weiß nichts davon; daß du mich nicht sitzenlassen kannst, wie du gern möchtest, wenn’s schief geht; darum, du Feigling. Und jetzt lauf.«

Er trat von ihr weg: »Ich geh nicht«, sagte er.

»So laß ihn leiden! … Niemand weiß, was der noch leiden muß. Sein eigener Sohn könnt ihm nichts Besseres tun, als ihn erlösen. Er wird zu seinem Sohn noch sagen: Bring mich um, oder ich fluch dir! … Lauf, lauf! … Willst noch nicht? … So laß ihn leiden wie einen gebissenen Hund, damit er Zeit hat, die Vinska in den Brunnen zu jagen und den Sohn um sein Glück zu fluchen und sich selber ums ewige Leben.«

Sie sprach leise mit heftiger und furchtbarer Beredsamkeit, und Virgil zuckte unter dem Schwall ihrer Worte wie von tausend Nadeln gestochen. »Ein Liebeswerk«, schloß sie, »ein Werk der Barmherzigkeit, den zu erlösen. Was ein rechter Mann wär, tät’s um Gottes willen.«

Er keuchte, es war ihm gräßlich, zu sehen, daß die Augen seines Weibes in der Dunkelheit glimmten von eigenem fahlen, weißlichen Licht.

»Um Gottes willen? … Um Gottes willen also«, wiederholte er, wandte sich und trat seine Wanderung an.

Das Gäßchen, dem er zueilte, wurde von der Rückwand einiger Scheuern und vom Zaun des Bürgermeistergartens gebildet. An der Ecke des letzteren angelangt, blieb Virgil stehen. Hinter dem Zaun regte sich’s… Ein Geflüster drang an des Alten Ohr, ein zärtliches Liebesgeflüster, ein Seufzen, Kosen, Küssen, ein Abschiednehmen für eine Nacht, als wär’s für die Ewigkeit… Es sind die zwei, dachte Virgil, es ist der Racker, der da küßt und herzt – der Racker, für den ich hingehen und töten muß… Muß ich? … War gestern bei der Beicht, und geh aufs Monat wieder… Und das könnt ich nicht beichten, und dafür gibt’s keine Absolution, dafür gibt’s nur die Hölle. – Am vorigen Sonntag hat der Pfarrer von ihr gesprochen und ihre Qualen ausführlich geschildert.

Der Hirt eilt immer noch vorwärts, seine Zähne schlagen zusammen, es pfeift laut in seiner Brust. Heulen und Zähneklappern, das ist schon die Hölle, er trägt sie schon in sich… Außer ihm ist sie aber auch, die Dunkelheit ist Hölle… Und was wandert da vor ihm her, was für ein breiter, schwarzer Strich, noch schwärzer als die Finsternis? – Ei, der Pavel! blitzt es durch das chaotische Durcheinander seiner Vorstellungen. Ruf ihn – so ruf ihn doch, ermahnt er sich selbst… Wozu? Nun, um ihm das Gift… er dachte es nicht mehr aus. Ihm war, als ob sein Kopf wüchse und groß würde wie ein Zehneimerfaß und als ob seine Füße so schwach und dünn würden wie Weidenruten; und diese schwachen Füße sollen den ungeheuren Kopf tragen und die Hölle, die er in der Brust hat? Das geht nicht, das nimmermehr… Was aber geschieht jetzt? Heiliges Erbarmen! … Der schwarze Strich verändert die Form, und es ist nicht Pavel, es ist der leibhaftige Teufel, hinter dem Virgil einhergeht, der Teufel, der sich nicht einmal nach ihm umsieht, so sicher ist er: Der folgt mir gewiß. Dem Hirten schwindelt, und er bricht zusammen. »Nein!« würgt er hervor, »nein, ich tu’s nicht! Herrgott im Himmel, gebenedeite Dreifaltigkeit, verzeih mir meine Sünden!« Und vor dem Namen des Höchsten und Heiligsten verrinnt der Spuk, und es ist Pavel, der sich jetzt über den Alten beugt und fragt: »Was wollt denn Ihr da?«

»Ich, ich?« schluchzt Virgil und klammert sich mit beiden Händen an ihm fest. »Ich – nichts. Gift hab ich bringen sollen, aber ich tu’s nicht…«

Er erhob sich, den Arm Pavels immer festhaltend, zertrat das Fläschchen und stampfte die Scherben in die Erde.

»Schau mir zu«, rief er, »bleib da und schau mir zu.«

»Laßt mich aus, Ihr seid einmal wieder betrunken«, sprach der Junge, machte sich los von Virgils krampfhaftem Umklammern und stieg über den Zaun in den Garten.

Am nächsten Morgen erwachte Pavel aus tiefem Schlafe. Die Tür der kleinen Kammer, die ihm der Lehrer als Wohnstube angewiesen hatte, war aufgerissen worden; im Dämmerschein des grauenden Herbsttages stand der Schulmeister da und rief: »Steh auf! beeil dich – du mußt die Sterbeglocke läuten.«

»Für wen denn?« fragte Pavel und regte die schlummerschweren Glieder.

»Für den Bürgermeister.«

Der Junge sprang empor wie angeschossen.

»Er ist tot, ich gehe hin, besorg du das Läuten«, sprach Habrecht und eilte hinweg.

Pavels erste Empfindung war Schrecken und Staunen. Der Bürgermeister, dem er gestern das Mittel gebracht hat, das ihn gesund machen sollte, nicht genesen? gestorben – nicht genesen? … Das Mittel hat nicht geholfen! Gott hat’s nicht gewollt, darum vielleicht nicht, weil er’s wohlmeint mit Pavel, dieser gute Gott. Er hat vielleicht den Bürgermeister sterben lassen, damit der Pavel nicht zwingen könne, noch länger bei Virgil zu bleiben.

Der Junge flog aus dem Hause und über den Hof, die Treppe zum Glockenturm hinauf und läutete, läutete mit Andacht, mit Inbrunst, mit feierlicher Langsamkeit. Und dabei betete er still und heiß für das Seelenheil des Verstorbenen.

Als er vom Turme herunterkam, traf er den Herrn Pfarrer, der, auf dem Heimweg aus dem Sterbehaus, den verdeckten Kelch in den Händen, eben im Begriff war, in die Kirche zu treten. Pavel sank auf die Knie vor dem heiligen Viatikum, und der Priester ließ im Vorübergehen einen Blick so voll Verdammnis und Verwerfung über ihn hingleiten, daß er erschrocken zusammenfuhr, an die Brust schlug und sich fragte: Ist er bös auf mich, weil er sich vielleicht auch denkt, daß der Bürgermeister meinetwegen hat sterben müssen?

Er ging in die Schule zurück und nach seiner Stube und hatte dieselbe kaum erreicht, als auch schon Vinska hereinstürzte, verstört, ganz außer sich.

Sie hatte die Kleider nur hastig übergeworfen, das Tüchlein fiel ihr vom zerrauften Haar in den Nacken, ihr Gesicht war totenbleich, und mit den Gebärden wilder Verzweiflung warf sie sich vor Pavel hin.

»Erbarm dich!« rief sie, »du bist besser als wir alle. Guter Pavel, weil du so gut bist, erbarm dich unser… Wir waren immer schlecht gegen dich, aber erbarm dich doch, erbarm dich meines alten Vaters, meiner alten Mutter, erbarm dich meiner!«

Sie preßte das Gesicht an seine Knie, die sie umschlungen hatte, und sah flehend zu ihm empor. Er war noch bleicher geworden als sie, eine unheimliche Wonne durchschauerte ihn: »Was willst du?« fragte er.

»Pavel«, antwortete sie und drückte sich fester an ihn, »das Fläschchen, das du gestern gebracht hast, hat der Tote, wie sie ihn gefunden haben, in der Hand gehalten, und die Leute sagen – und der Peter sagt auch, es ist Gift.«

»Gift?« Die nächtliche Szene mit Virgil fiel ihm plötzlich ein; »ja, von Gift hat dein Alter geredet… Otterngezücht! Ihr habt den Bürgermeister vergiften wollen…«

»So wahr Gott lebt«, beteuerte Vinska, »ich hab von nichts gewußt… Und auch, so wahr Gott lebt: Es ist nichts Böses geschehen… Glaub mir – der Bürgermeister ist an seiner Krankheit gestorben, nur früher, als der Doktor gemeint hat, und das Mittel, das du gebracht hast, war ein gutes Mittel… Man wird es schon sehen bei Gericht, denn es kommt vors Gericht, der Peter will’s!«

Keuchend, in namenloser Aufregung, brachte sie diese Worte hervor, und ihr starrer Blick hielt den seinen fest.

»Wenn’s so ist«, entgegnete Pavel, »vor was fürcht’st dich?« »Vor was? Weißt nicht, wie die Leute sind? … Wenn die Mutter vors Gericht kommt und wird zehnmal losgesprochen, deswegen heißt’s doch, losgesprochen ist nicht unschuldig… Die Mutter darf nicht vors Gericht kommen, Pavel – Pavel!«

Sie wiederholte seinen Namen in allen Tonarten des Jammers, ihr zarter Körper schmiegte sich schlangenmäßig an ihm empor, und er, mit widerstrebender Seele, voll Argwohn und Groll, verschlang sie mit den Augen.

»Ich kann nicht helfen«, murmelte er.

»Du kannst! Du brauchst nur zu wollen, du brauchst nur zu sagen… sag es, Pavel, guter, guter Pavel!«

»Was denn? was soll ich sagen?«

»Daß dich niemand geschickt hat«, stammelte sie zagend, »daß du von selbst zu ihm gegangen bist.«

»Von selbst?« brach er aus; »was werd denn ich von selbst zu ihm gehen? was werd denn ich ihm bringen von mir selbst? Ich weiß ja nichts.«

»O Lieber, Allerliebster! ein Hirt weiß immer was. Du hast oft Kräuter gekocht für die kranken Ziegen und Schafe und hast halt gemeint, was für die so gut ist, kann auch für einen kranken Menschen gut sein… Das sag, Pavlicek, wenn sie dich fragen.« Sie küßte ihn, der ihr nicht mehr wehrte, auf seine brennenden Lippen. »Das sag, und dann nur alles, wie es war, wie du dich eingeschlichen hast in seine Stube, und was er gesagt hat, wie er dich gesehen hat.«

»Da hat er ja nichts gesagt.«

»Nichts gesagt?«

»Nichts, aber fürchterlich geglotzt.«

»Und du?«

»Und ich hab ihn gebeten, daß er mich beim Herrn Lehrer lassen soll.«

»Und dann? Weiter, Pavlicek, weiter.«

»Dann hat er mit dem Kopf gemacht: Nein, nein, und noch fürchterlicher nach dem Mittel geglotzt und gewinkt, daß ich ihm davon gehen soll.«

»Und du hast ihm davon gegeben?«

»Ja.«

»Und niemand war dabei?«

»Niemand.«

»Und die Magd? Ist die draußen an der Tür gewesen?«

»Die ist draußen an der Tür gewesen.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt: Gott geb’s, daß das Mittel hilft.«

»Und du?«

»Ich hab auch gesagt: Gott geb’s.«

»Und wie du in den Garten hinausgekommen bist, war niemand dort?«

»Der Peter«, sprach Pavel mit Bestimmtheit, »er hat mich gehört und mir nachgeschrien.«

»Das ist gut, alles gut, das mußt du alles aussagen«, flüsterte Vinska und umarmte ihn, als ob sie ihn ersticken wollte; »und es wird dir nichts geschehen, sie sind ja gescheit bei Gericht und wissen gleich, ob ein Mittel giftig ist oder nicht. Dir wird nichts geschehen, und uns wird geholfen sein… ich bitte dich also, erbarm, erbarm dich!«

Sie sah ihn an wie ein in Todesangst Ringender den Retter, von dem er sein ganzes Heil erwartet, und ein wonniges Gefühl der Macht schwellte die Brust des verachteten Jungen.

»Was krieg ich, wenn ich’s tu?« rief er übermütig und packte sie an beiden Armen. »Wirst du dann den Peter stehen lassen und mich nehmen?«

Wilde Verzweiflung flog über ihre Züge; von Zorn übermannt, vergaß sie alle Klugheit. »Dummer Bub – so war’s nicht gemeint!«

Sie schrie es fast und suchte sich von ihm loszumachen.

Er spottete: »Nicht? Warum also gibst mir Küsse und nennst mich Allerliebster? … Soll ich statt euer vor Gericht, damit der Peter dich nehmen kann? Das willst?«

»Das will ich!« sprach sie finster; »das muß ich. Dummer Bub! …« Sie trat einen Schritt zurück und erhob die gerungenen Hände. »Ich muß als Weib ins Bürgermeisterhaus oder in den Brunnen.«

»Du mußt? – mußt? – mußt? …« Er hatte begriffen und stöhnte auf in qualvollem Entsetzen… »Nichtsnutzige!«

Ihre Augen schlossen sich, ein Tränenstrom rann über ihre Wangen. »Ich hab geglaubt, daß du mich liebhast und mir helfen wirst«, sprach sie mit weicher Stimme, »aber du willst nicht.«

Sie schwieg, ihm raubten Grimm und Schmerz den Atem. Eine Weile standen sie wortlos voreinander: er im Begriff, auf sie loszustürzen, um sie zu erwürgen, sie auf das Schlimmste gefaßt und sich darein ergebend.

»Vinska«, begann er endlich, und sie, bei diesem Ton, so trotzig er auch klang, sie faßte wieder Hoffnung.

»Was – guter, guter Pavel?«

»Nichtsnutzige!« wiederholte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie wollte sich von neuem vor ihm niederwerfen, da hob er sie in seinen Armen auf, trug sie zur Tür und stieß sie hinaus. Noch einmal wandte sie sich vernichtet, zerknirscht: »Was wirst du sagen vor Gericht?«

»Ich werd schon sehen, was ich sagen werd«, antwortete er. »Geh.«

Sie gehorchte.