Triers Alter

Trier und Solothurn sollen die ältesten Städte in Europa sein; 1300 Jahre vor Christus habe Trier schon gestanden, wie alte Rheinverse aussagen. Ja, Trier war lange die zweitgrößte Stadt in der alten Welt, Rom die größte. Die Alten nannten es das reiche Trier – und dies schon zur Römerzeit. Zur Zeit des Mittelalters war Trier des Christentums Wiege, das deutsche Rom. Triers frühe Blüte brachen zuerst die Gallier durch eine dreimalige Verheerung und schufen aus der Stadt einen großen Totenhof.

Das schönste unter den vielen Baudenkmälern uralter Zeit ist der Dom zu Trier. Lange zeigte man in ihm ein Horn, das die Einwohner die Teufelskralle nannten, und sie erzählten, der Erbauer des Doms habe allein nicht zustande kommen können und den Teufel zu Hilfe gerufen und diesen überlistet. Da habe der Teufel in seiner Wut die Altäre umreißen wollen; es sei ihm aber nicht gelungen, und er habe noch dazu eine Kralle lassen müssen.

Im Dom zu Trier wird auch der ungenähte heilige Rock aufbewahrt, den Christus der Herr getragen haben soll und um den die Kriegsknechte gewürfelt, weil er zu schön war, als daß sie ihn hätten zerschneiden mögen. Es ist ein Mannsrock mit langen Ärmeln, aus zartem Linnenstoff, aus feinen Fäden buntfarbig gewirkt. Die heilige Helena war es, welche diesen Rock mit einem Stücke des heiligen Kreuzes und einem Nagel, mit welchem Christus an das Kreuz geheftet war, nach Trier schenkte. Dieser Rock genießt der andächtigsten Verehrung von vielen Millionen Gläubigen, die an seiner Echtheit nicht zweifeln, obschon an vielen Orten ein ähnlicher Rock für echt gezeigt wird.

Sankt Arnulfs Ring

Von besonders hohem Alter ist zu Trier die Moselbrücke, ein dauerbares Gebäu von Steinen ungeheurer und ungewöhnlicher Größe, jedenfalls ein Bauwerk aus der Römerzeit; der Kaiser Nero soll schon über die Brücke gezogen sein, um alles Land bis Köln zu erobern. Wo sich die Bogen der Brücke miteinander schließen, stehen Säulen, welche über die Brustwehr der Brücke emporragen, darauf sollen heidnische Götterbilder gestanden haben.

Einst fühlte der heilige Arnulf zu Trier sein Gewissen belastet. Und da er von ohngefähr über die Moselbrücke ging, sah er in des Wassers Tiefe nieder, zog einen kostbaren Ring vom Finger und warf ihn voll Vertrauen auf Gottes Allmacht und Barmherzigkeit hinab in die Mosel und rief: »Wenn ich hoffen darf, daß meine Sünden mir verziehen werden, so werde ich diesen Ring wiederbekommen.«

Es vergingen wenige Jahre, und der heilige Arnulf wurde unterdes Bischof zu Metz. Da lieferte eines Tages ein Fischer einen großen Fisch in die bischöfliche Küche, und da der Koch ihn zubereitete für die Tafel seines Herrn, fand er voller Verwunderung im Eingeweide des Fisches einen schönen Ring und brachte ihn zum Bischof. Da sah dieser, daß es sein Ring war, den der Fisch, ihn wohl für Speise haltend, beim Fallen hinabgeschlungen und einige Jahre bei sich behalten hatte. Und Sankt Arnulf pries Gott in Demut für dieses Gnadenzeichen und tat sich aller sündigen Gedanken ab, um dieser Gnade sich wert zu erzeigen.

Die Gefangenen auf Altenahr

Aus dem Ahrtale ragen stolz und kühn die Trümmer der Burg Altenahr auf felsenreichem Kegelgipfel über dem Ort gleichen Namens in die Lüfte. Mächtige Gaugrafen beherrschten von ihr aus das Land, und einer derselben, Graf Friedrich von Hochstaden-Ahre, dessen Bruder Konrad von Hochstaden als Erzbischof in Köln gebot, schenkte die ganze Grafschaft mit den beiden Stammschlössern Ahr und Hochstaden dem Erzstift Köln, und das Erzstift wußte die starken Burgen wohl zu nutzen.

Als einst eine Anzahl vom Rat und von der Bürgerschaft Kölns sich gegen den Bischofstuhl erhob, wurden elf Patrizier43 , die Führer der gegenbischöflichen Partei, gefangengenommen und auf Altenahr in sichern Gewahrsam gebracht. Da schmachteten sie hart und lange, und ihr einziger Zeit- und Leidvertreib war ein Mäuselein, das sie kirre gemacht hatten, und das ohne Scheu zu ihnen kam, doch immer schnell, wenn es Geräusch vernahm, in sein Loch zurückschlüpfte. Eines Tages beobachteten sie das Mäuslein auch, wie es munter sich sehen ließ und Brosamen knusperte, als plötzlich draußen Schlüssel klirrten. Da fuhr es schnell in sein Loch, und da hörte einer, daß es in dem Loche auch klirrte. Als es nun wieder stille und sicher geworden war, begann er nachzusuchen. Da fand sich in dem Mauseloch verborgen eine Feile und ein Meißel, schon etwas rostig, aber doch noch brauchbar, so gut, daß bald die Gefangenen ihre Ketten abgefeilt und ihre Bande gesprengt hatten und die Gitterstäbe ihres Kerkerfensters durchschnitten. Darauf zerschnitten die Gefangenen ihre Gewänder und machten Seile daraus und knüpften diese fest aneinander und stiegen durch das Fenster allzumal nieder, kletterten den steilen Ziegenpfad hinab und entkamen glücklich. Niemand konnte fassen und begreifen, wie solche Flucht möglich geworden.

  1. Stadtadelige

Vom Siebengebirge

Von sieben Burgen, die auf nachbarlichen Berghöhen einander nahe lagen, hat das Siebengebirge am Rhein seinen Namen. Die Namen dieser Burgtürme waren: Drachenfels, Wolkenburg, Löwenburg, Dadenberg, Blankenberg, Mahlberg und Stromberg.

Die schroffste Spitze des kleinen Gebirges ist der Drachenfels. Hier hat der Hörnerne Siegfried den Drachen erlegt, gebraten und mit seinem Fett, das zu Horn erhärtete, sich überall die Haut bestrichen, daß sie unverwundbar ward. Nur zwischen die Achseln vermocht‘ er nicht zu gelangen; eine kleine Stelle blieb unbestrichen, und das ward hernach die Ursache, daß der Kampfheld erlag. Denn gerade, als Siegfried sich an einem Brunnen niederbückte und diese Stelle preisgab, schleuderte ein boshafter Feind eine Lanze auf ihn, die ihm tödlich ward.

Rolandseck

Es saß auf hoher Burg am Rhein hoch über dem Stromtal ein junger Rittersmann, Roland geheißen – manche sagen Roland von Angers, Neffe Karls des Großen –, der liebte ein Burgfräulein, Hildegunde, die Tochter des Burggrafen Heribert, der auf dem nahen Schloß Drachenfels saß, und wurde wiederum auch von ihr geliebt. Da auch der alte Burggraf nichts gegen die Verbindung seiner Tochter mit Ritter Roland einzuwenden hatte, so verlobte er ihm seine geliebte Tochter herzlich gern.

Da erscholl bevor noch die Vermählung des Brautpaares erfolgen konnte, ein Aufgebot der Ritterschaft gegen Hunnen und Heidenscharen, die im Osten das Reich bedrohten, und dem Ritter Roland geboten Pflicht und Ehre, diesem Aufgebot zu folgen. Große Taten der Tapferkeit tat Roland gegen die Heidenschwärme, und seine Hand entschied den Kampf zugunsten des Christenheeres. Davon kam die erfreuliche Kunde bald an den Rhein und auf den Drachenfels und weckte dort große Freude. Dann aber ward wieder eine Zeitlang keine Kunde vom Ritter Roland vernommen.

Endlich kam ein heimkehrender Ritter am Siebengebirge vorüber und sprach ein Nachtlager auf dem gastlichen Drachenfels an. Der verkündete, ohne daß er wußte, wie schmerzlich für seine Wirte seine Kunde sei, daß Ritter Roland in einem der letzten Kämpfe an seiner Seite den Heldentod gefunden habe. Da entstand großes Leid und Wehklagen, und Hildegunde war so trauervoll, daß sie sogleich den Entschluß faßte, im Kloster Nonnenwerth den Schleier zu nehmen. Und da der Bischof, der über dieses Kloster gebot, ihr Verwandter war, so willigte er in Hildegundens dringendes Verlangen, ihr das Probejahr zu erlassen, und ließ sie schon nach eines Monats Frist als Nonne einkleiden.

Am folgenden Tage stieg ein Gast zum Drachenfels empor. Er ward eingelassen und sah auf allen Mienen nur Trauer. Mit Schreck und Freude erkannte Ritter Heribert in dem Fremden den geliebten Ritter Roland. Wohl war dieser für tot vom Schlachtfeld getragen worden, doch war er wieder genesen; wohl hatte er Botschaft gesandt, aber der Bote war nicht angelangt. Und nun fragte er nach seiner Hildegunde und vernahm das Donnerwort: »Sie ist eine Nonne!«

Rheinsagen

Schrecklich war, was Roland empfand. Stumm vor Schmerz geht er vom Drachenfels herab, besteigt sein Roß, reitet nach Rolandseck hinauf –, entläßt seine Diener, wählt sich droben einen Felsensitz, wo er herabschauen kann nach Nonnenwerth. Und er schaut herab nach der Geliebten, jeden Tag, und Mond um Mond, und Jahr um Jahr, lebt als Einsiedler und murmelt Gebete, wenn drunten im Tale die Klosterglocke klingt. Bisweilen erblickt er die Nonne Hildegunde, die aus Trauer um ihn das ewig unlösbare Gelübde tat –, bis er einst sie lange nicht mehr sieht, bis ein Leichenzug ihm sagt, daß sie geschieden aus dem irdischen Leben und eingegangen zum ewigen Frieden. Und bald danach ist Roland auch erblichen gefunden und ihr dahin nachgegangen, wo alle liebenden Seelen im Schoße der ewigen Liebe sich wieder vereinigen.

Das heilige Köln

Köln ist eine der ältesten, größten und berühmtesten Städte am Rhein. Es soll, nachdem seine Stätte schon von Urvölkern bewohnt worden, 16 Jahre vor Christi Geburt begründet sein, und zwar von Marcus Agrippa, dem Schwiegersohn des Kaisers Augustus, daher sein lateinischer Name Colonia Agrippina. –

Es hatte die Stadt Köln so viel Kirchen und Kapellen, als das Jahr Tage zählt, und es birgt so viele Heiligen- und Märtyrerleiber, daß der Stadt schon in früher Zeit der Beiname das heilige Köln wurde. Auch ward es häufig das deutsche Rom genannt. Die drei Weisen des Morgenlandes, die das Christkind begabten, ruhen allda, St. Gereon mit seinen Kriegern, St. Ursula mit ihren 11 000 Jungfrauen, St. Georg der Drachentöter und viele andere Heilige. Und nun die langen Reihen heiliger und frommer Bischöfe und Erzbischöfe aus den edelsten und berühmtesten rheinischen Geschlechtern, mit großer Macht begabt; unter ihnen St. Severin, St. Cunibert, St. Anno u. a.

Gar große Rechte und Freiheiten hatte die Stadt und hat sie zum Teil noch immer, und sie stammen aus uralten Zeiten her.

Das Pfaffenkäppchen

Zwischen schroff und steil überm Tal der Nahe zum Himmel sich aufgipfelnden Felskolossen werden noch jetzt die Trümmer der einst trotzigen Burgfeste Rheingrafenstein erblickt.

Auf der Kauzenburg saß ein junger Rheingraf, jagdlustig und mutig, der wünschte sich eine Burg auf diesen ungeheuren Felsen, stattlich wie die Ebernburg und der Landstuhl der Sickinger, unnahbar dem Feinde. Und mit solchen Wünschen weilte er einstens sehnend und sinnend in der Nähe der Felsriesen, deren Gipfel noch kein Mensch erstiegen hatte. Da gesellte sich einer zu ihm, den man nicht gern nennt, der las in des jungen Rheingrafen Seele den Wunsch und redete ihn an und sprach: »Eine Burg da droben, eine schöne, stattliche, feste, ja, die wär‘ Euch recht! Nicht so? Fehlt nur der Baumeister – ja! – Und wenn einer käme und baute sie über Nacht, dem verschriebet Ihr wohl einen stattlichen Lohn? Was gäbet Ihr solchem? Sagt an!« – »Ihr redet wunderlich,« erwiderte der Rheingraf; »seid Ihr der Mann, der das vermag, so fordert und bestimmt den Lohn!« – »Nur eine einzige Seele – die Seele dessen, der zuerst durchs Fenster der neuen Burg hinab ins Tal der Nahe und über alle Täler und Berge ausschaut; – das ist doch wohl wenig für eine stattliche Grafenburg!«

– »Kommt heute abend wieder her –; ich will es mir überlegen!« sagte der Rheingraf und verließ gedankenvoll den Ort. Eine Seele seinem Wunsche zu opfern, dünkte ihn sündlicher Frevel, und doch war sein Wunsch stark und groß.

Daheim ließ er seinen Burgkaplan kommen und offenbarte dem den Handel. Der Kaplan schlug viele Kreuze und riet ernstlich ab, warnte gar treu vor des bösen Feindes List und Tücken und rückte sein schwarzes Käppchen auf dem Scheitel wohl hin und her. Da trat des Rheingrafen junges Ehegemahl herein und hörte das Gespräch. Sie ließ erst den Kaplan hinausgehen; dann sagte sie: »Laß jenen nur gewähren! Versprich ihm, was er begehrt; das andere findet sich.«

Da ritt der Ritter wieder hinaus ins Nahetal und hielt ganz allein am Fuß der Felsen, und es dämmerte schon. Oben aber sprang eine schwarze Gestalt von Fels zu Felsen, einer Gemse gleich, und mit einem Male stand der Fremde auch unten im Tale. »Was machst du da droben?« fragte der Ritter. – »Ich nahm einstweilen die Maße,« antwortete jener und fragte: »Nun, soll ich?« Fast hätte der Rheingraf gesagt: »In Gottes Namen!« – da wäre es gleich aus gewesen – aber er besann sich und sagte bloß: »Ja – aber bis morgen früh fertig! Und daß nichts fehle: Bergfried34 , Palas35 , Luginsland, Mauern, Brücken – alles, was zu einer stattlichen Burg gehört!«

Rheinsagen

Am andern Morgen glänzte die Burg flammenrot ins Nahetal herab. Alle Welt war erstaunt; solch Wunder und Zauberwerk war noch nicht dagewesen. Der Rheingraf ritt nun hinauf, und der Baumeister der Nacht führte ihn in dem neuen herrlichen Eigentum umher, zeigte ihm Hallen und Säle, Brücken und Gänge, und öffnete im Palas ein hohes Bogenfenster, die herrliche Aussicht bewundern zu lassen. Aber der Ritter sah nicht hinaus; er sagte spöttisch: »Machet zu; hier zieht’s! Wir sind warm vom Steigen. Morgen wollen wir die Kauzenburg verlassen und hier heraufziehen. Ihr räumt wohl den Platz und nehmt ein Zimmer im Wächterturme? Nicht?« – Der Teufel zog ein schiefes Maul; er hatte sich schon unendlich darauf gefreut, dem Rheingrafen einen Stoß aus dem Fenster in die schwindelnde Tiefe zu geben und mit dessen Seele davonzufahren.

Am andern Morgen kamen der Rheingraf und die Gräfin, der Burgkaplan und das Hofgesinde, die Leibdiener, die Jäger, die Knappen, die Stalleute, die Wächter, die Hundejungen, die Hühnerwärter, die Schloßmägde, die Käsemutter, der Schloßzwerg, die Pferde, die Kühe, die Esel, die Rüden, der Meeraffe, die Katzen. Es war ein Zug, schier gleich dem des Erzvaters Noah, da er in den Kasten ging, zu Roß, zu Esel, zu Wagen – alles auf das neue Schloß.

Die junge Gräfin scherzte freundlich mit dem Burgkaplan, da droben werde es sehr zugig sein, sie wolle ihm ein wärmeres Käpplein nähen, er möge ihr das alte einmal zum Muster leihen. Und als sie oben angelangt war, ließ sie durch die Knappen auch ein Eselsfüllen hinauf in den Palas führen. Und sie hieß es halten und band ihm des Kaplans Käpplein auf den Kopf und ließ das Fenster öffnen und das Füllen daranstellen. Das schaute gar sanft und bedächtiglich zum Fenster hinaus und spitzte die Ohren und witterte die frische Morgenluft.

Der Teufel hatte lange schon still lauernd seitwärts gegenüber auf der Turmzinne gesessen. Jetzt sah er das Fenster sich öffnen, sah des Kaplans ihm wohlbekanntes Käppchen zum Vorschein kommen und fuhr im Nu hin und krallte seiner Meinung nach den Burgkaplan heraus und schmetterte ihn ins Tal und fing die Seele auf. Herr Gott, was der Teufel für einen Zorn hatte, als er sich überlistet sah und statt einer Menschenseele eine Eselsfüllenseele in den Klauen hielt! –

  1. Wartturm
  2. Wohnhaus (Teile der Ritterburg)

Sankt Gallus

Schon in frühen Zeiten drang das Christentum in das rhätische Gebirge. Ein britischer Königssohn, Ludius mit Namen, soll übers Meer gekommen sein und diesem Lande zuerst das Evangelium gepredigt haben. Nach ihm heißt heute noch ein Gebirgspfad zwischen Graubünden und der Herrschaft Vaduz6 der Ludiensteig.

Nach ihm kamen die Apostel Rhätiens und Helvetiens7 , Sankt Gallus, ein Königssohn aus Schottland, und seine Gefährten Mangold und Siegbert, samt dem heiligen Columban an den Bodensee, zerstörten die Götzenbilder und brachen das Heidentum. Sie wohnten als fromme Einsiedler in Hütten, heilten Kranke und predigten das Evangelium. Ein allemannischer Herzog, Gunzo, wohnte in Überlingen8 ; dem war die Tochter schwer erkrankt. Der heilige Gallus heilte sie, und dafür schenkte Gunzo ihm und seinen Gefährten ein großes Waldgebirge zum Eigentum, in welchem sie sich nun besser anbauten. Aus diesem ersten Anbau ist die hernachmals so berühmte und herrliche Abtei Sankt Gallen geworden, die einer Stadt und einer ganzen Landschaft den Namen gegeben. Aber St. Gallus blieb nicht beständig in seiner Einsiedelei. Als die Abtei St. Gallen begründet war, stieg er an der Sitter9 entlang höher empor und erbaute sich an einem geeigneten Ort eine neue Zelle, um das Hirtenvolk zu bekehren. Diese nannte das Volk des Abten Zelle; daraus ist der Name Appenzell entstanden.

Das Hirtenvolk nahm auch willig das Christentum an. Als aber später die mächtige Abtei es in seiner Freiheit bedrohte, erhob es sich zum Kampfe. Der Abt von St. Gallen suchte Hilfe bei Österreich. Es saß aber droben auf der festen Burg Werdenberg10 ein edler Grafensohn, Rudolf von Werdenberg, der hielt zu den Hirten des Appenzeller Gebietes und führte sie zum Kampfe gegen St. Gallen. Am Stoß11 geschah eine heftige Schlacht. Lange schwankte der Sieg. Plötzlich aber kam über den Berg herüber eine große Schar Kriegsvolk den Hirten zu Hilfe. Als die Feinde der Appenzeller diese erblickten, flohen sie eilend vom Schlachtfeld. Die Hilfsvölker aber, die sich gezeigt und durch ihren Anblick schon von weitem den Feind hinweggeschreckt hatten, waren keineswegs Kriegsmänner, sondern – der Hirten Weiber und Töchter in männlicher Tracht gewesen. Seitdem blieb das Ländlein Appenzell mitten im St. Galler Lande ein eigenfreies und regierte sich selbst.

  1. Fürstentum Liechtenstein
  2. lateinische Bezeichnung für die Schweiz
  3. am Bodensee
  4. Nebenfluß der Thur
  5. am linken Rheinufer
  6. in Appenzell-Außerrhoden

Der wilde Jäger

36

Der Wild- und Rheingrafen einer war ein gewaltiger Jäger, aber nicht wie Nimrod vor dem Herrn, sondern so recht vor dem Teufel. Einen Tag und alle Tage ging es hinaus in die Forste, mit wildem, wüstem Gefolge. Werktag und Feiertag, das war dem Grafen alles gleich. In die Kirche ging er nicht; nur Jagen war seine Freude.

Da geschah es eines Sonntagmorgens, daß der Wild- und Rheingraf abermals vom hohen Stein mit dem Gefolge seiner Jagdknechte und Rüden herab zu Tale zog, durch Felder und Saaten, nichts achtend, junge Saat und reife Ähren in den Boden niederstampfend. Es währte nicht lange, so brachten die Hunde einen großen weißen Hirsch auf, dessen Spur sie nun mit lautem Kliffen und Klaffen folgten. Die Hifthörner klangen, und die Hetzpeitschen knallten, daß es nur so sauste und brauste, immer dem Hirsch nach.

In allen Tälern riefen die Kirchenglocken zu Gebet und Amt; der Wildgraf hörte es gar nicht. Ein Bäuerlein, in dessen Feld der fliehende Hirsch sich zu bergen suchte, sah den Troß auf sein Feld losjagen. Er fiel auf die Knie und flehte, seines Ackers, des einzigen, welchen er besitze, doch gnädiglich zu schonen. Der Wild- und Rheingraf aber überritt den Bauern und stürmte mit dem ganzen Jagdtroß über den Acker hin. Der fliehende Hirsch mischte sich nun unter eine weidende Herde, da Sicherheit zu suchen. Der Hirt sah die wilde Jagd herannahen und flehte um Barmherzigkeit für das ihm anvertraute Vieh. Der Wild- und Rheingraf aber knallte ihm mit der Peitsche um die Ohren und schrie: »Hui hatz! Hui hatz!« Da fiel die blutgierige Meute mit wütenden Bissen den Hirten an und riß ihn nieder und biß die Rinder tot und jagte den Hirsch weiter. Dieser gewann einen Wald, dessen friedliche Sonntagsstille jetzt gellend laut der Zug des wilden Jägers durchtobte.

Im Walde stand eine Einsiedlerklause, und in diese floh jetzt der auf den Tod gehetzte Hirsch. Der Wild- und Rheingraf stürmte mit seinem Troß gegen die Klause an. Der Klausner, ein Greis mit schneeweißem Bart, trat heraus und hob warnend die Hand. »Nicht weiter!« rief er mit starker Stimme; »hier ist das Asyl37 der Kreatur38 !« – »In der Hölle ist dein Asyl, du alter Hund!« schnaubte der Wild- und Rheingraf den Klausner an und hob die Peitsche hoch gegen ihn auf. Aber die aufgehobene Rechte fiel nicht mehr zum Schlage nieder. – Nacht ward es plötzlich; der Klausner und die Hütte, der Hirsch und die Hunde, die Jäger und die Knechte – alles schwand, und des Wild- und Rheingrafen keuchendes Roß brach zusammen. Und da zuckte ein Blitz, und da fuhr des Teufels Faust riesengroß aus der Erde und drehte dem wilden Jäger den Hals um, und eine Stimme donnerte: »Jage fort, bis an der Welt Ende!«

Und also geschieht es, wie viele Sagen melden, daß von Zeit zu Zeit die wilde Jagd durch die Lüfte und über Felder und Wälder fährt mit gräßlichem Geschrei, mit dem Kliffen und Klaffen der Hunde, mit gespenstischem Wild, und der wilde Jäger selbst als Wild gehetzt vom wilden Heere der Hölle.

  1. vgl. die Ballade von Bürger u. Bl. 13
  2. Zufluchtsort
  3. Geschöpf

Heinrich Frauenlobs Begräbnis

Es war in deutschen Landen ein Minnesänger, der sang viel süße Weisen zum Lobe der Frauen; deshalb gewann er auch den Namen Frauenlob, denn sein rechter Name war Meister Heinrich von Meißen. Viele Reisen machte der Sänger von einem deutschen Hofe zum andern. Er sang irdische und sang Gottesminne. Zu Rostock regierte Markgraf Waldemar von Brandenburg, der hatte einen Rosengarten und ließ ein Wettsingen veranstalten; da war Meister Heinrich der erste Sieger. Einstmals lauerten Feinde ihm auf und umringten ihn mit Dräuen, sie wollten ihn töten. Da bat er, sie sollten ihm noch einen Sang vergönnen. Und als sie das taten, sang er so rührend zum Preise der himmlischen Frauen, daß jede gehobene Waffe sich senkte und die Feinde ihn ungehemmt und ungeschädigt von dannen ziehen ließen.

Auf seinen Sangesfahrten kam Meister Heinrich auch nach Mainz und verstarb allda und wurde begraben im Umgang des Domes, neben der Schule, mit großen Ehren. Von seiner Herberge bis zur Grabstätte trugen ihn Frauen und erhoben um ihn großes Weinen und Wehklagen, um des großen Lobes willen, welches der Sänger dem ganzen weiblichen Geschlecht zeit seines Lebens erteilt hatte. Und mit den Tränen zugleich gossen sie eine Fülle edlen Weins auf Meister Heinrichs Grab, daß der Wein durch den ganzen Umgang der Kirche floß. Und wäre manchem Dichter lieber, sie gäben ihm solchen Wein beim Leben. Mehr als ein Denkmal ist Heinrich Frauenlob errichtet worden, und seine Sänge sind noch unvergessen.