Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Als Mr. Bounderby die Kunde von seinem Glücke vernahm, bestand seine erste Verlegenheit in der Zwangslage, dieses Glück Mrs. Sparsit mitzuteilen. Er konnte mit sich selbst nicht darüber einig werden, wie das anzustellen sei, oder was die Folgen eines solchen Schrittes sein dürften. Ob sie sogleich mit Sack und Pack zu Lady Scodgers reisen, oder sich weigern würde, das Haus überhaupt zu verlassen, ob sie sich durch Klagen oder Schmähreden Luft machen, oder ob sie alles zerreißen oder selbst zerrissen sein würde, ob sie ihr Herz oder den Spiegel entzweischlagen würde – das konnte Mr. Bounderby durchaus nicht vorhersehen. Da es aber geschehen mußte, so blieb ihm keine andere Wahl übrig, als es zu wagen. Nachdem er es nun mit mehreren Briefen versucht hatte und sie ihm sämtlich mißlangen, entschloß er sich, mündlichen Vortrag zu halten.

Auf seinem Heimweg an dem Abend, den er zu diesem wichtigen Zweck angesetzt hatte, gebrauchte er die Vorsicht, sich in den Laden eines Apothekers zu begeben und eine Flasche der am allerstärksten riechenden Salzessenzen zu kaufen. »Beim Himmel«, sagte Mr. Bounderby, »wenn sie mir mit einer Ohnmacht kommt, werde ich ihr jedenfalls die Haut von der Nase abreiben.« Trotzdem er nun auf diese Weise gewaffnet war, trat er in sein eigenes Haus mit einer nichts weniger als mutigen Miene und erschien vor dem Gegenstande seiner bangen Besorgnisse wie ein Hund, der es sich bewußt war, direkt aus der Speisekammer zu kommen.

»Guten Abend, Mr. Bounderby.«

»Guten Abend, Ma’am, guten Abend.« Er schob seinen Stuhl vor, Mrs. Sparsit schob den ihrigen zurück, als wollte sie sagen: »Ihr Kamin, Sir. Ich räume es ungehindert ein. Sie können ihn ganz einnehmen, wenn Sie es für billig halten.«

»Wandern Sie doch nicht gleich ganz nach dem Nordpol, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby.

»Danke, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit, indem sie zu ihrer früheren Stellung, obgleich nur unbedeutend, vorrückte.

Mr. Bounderby saß da und betrachtete sie, wie sie in ein Stückchen Batist mit einer steifen, scharfen Schere zu einer unerforschlichen Verzierung Löcher ausschnitt. Diese Operation erinnerte, verbunden mit den buschigen Augenbrauen und der römischen Nase, lebhaft an einen Habicht, der sich über die Augen eines zähen Vögelchens hermacht. Sie war so emsig beschäftigt, daß mehrere Minuten verflossen, ehe sie von ihrer Arbeit aufblickte. Als das geschehen war, zog Mr. Bounderby ihre Aufmerksamkeit auf sich, indem er sich mit dem Kopfe vorbog.

»Mrs. Sparsit, Ma’am«, sagte Bounderby und steckte die Hände in die Tasche, sich mit der Rechten überzeugend, daß der Kork des Fläschchens zum Gebrauch bereit sei. »Ich habe es gar nicht nötig, Ihnen zu sagen, daß Sie nicht nur eine Lady von Geburt und Erziehung sind, sondern auch eine verdammt kluge Frau.«

»Sir«, erwidert die Lady, »es ist in der Tat nicht zum ersten Male, daß Sie mich mit ähnlichen Ausdrücken Ihrer guten Meinung beehren.«

»Mrs. Sparsit, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby. »Ich werde Sie in Erstaunen setzen.«

»Wirklich, Sir?« entgegnete Mrs. Sparsit fragend und mit der größtmöglichen Ruhe. Sie trug gewöhnlich Fausthandschuhe, und jetzt glättete sie diese, nachdem sie ihre Arbeit niedergelegt hatte.

»Ich bin auf dem Sprunge, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby, »Tom Gradgrinds Tochter zu heiraten.«

»Wirklich, Sir? Ich wünsche, daß Sie glücklich sein mögen, Sir.«

Sie sagte das mit so viel Herablassung und mit so großem Bedauern für ihn, daß Bounderby, der jetzt mehr außer Fassung gebracht wurde, als wenn sie ihr Arbeitskistchen an den Spiegel geschleudert hätte oder auf dem Kaminteppich in Ohnmacht gefallen wäre, die Salzessenz in der Tasche wieder fest zustöpselte und dachte: »Nun, hol‘ der Teufel dieses Weib, wer hätte je gedacht, daß sie es in dieser Weise aufnehmen würde!«

»Ich wünsche es von ganzem Herzen, Sir«, sagte Mrs. Sparsit in einer höchst vornehmen Weise – auf irgendeine Art schien sie in einem Augenblick sich das Recht erworben zu haben, ihn nachher fortwährend zu bedauern – »daß Sie in jeder Beziehung vollkommen glücklich sein mögen.«

»Nun gut, Ma’am«, entgegnete Mr. Bounderby mit einigermaßen empfindlichem Tone, den er unwillkürlich dämpfte. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich hoffe, ich werde es sein.«

»Meinen Sie, Sir?« fragte Mrs. Sparsit mit großer Freundlichkeit. »Aber natürlich, meinen Sie es – freilich meinen Sie es.«

Eine höchst verlegene Pause trat auf Mr. Bounderbys Seite ein. Mrs. Sparsit machte sich wieder emsig an die Arbeit und ließ gelegentlich ein leises Husten vernehmen, das wie der Husten der sich selbst bewußten Kraft und Nachsicht klang.

»Aber freilich, Ma’am«, nahm Mr. Bounderby wieder das Wort, »unter solchen Umständen dürfte es für eine Persönlichkeit, wie es die Ihrige ist, nicht angenehm sein, hier weiter zu bleiben, obschon Sie hier höchst willkommen sein werden.«

»O du lieber Himmel, nein! Ich könnte auf keinen Fall daran denken.« Mrs. Sparsit schüttelte noch immer den Kopf in einer höchst vornehmen Weise und veränderte ein wenig den leisen Husten – indem sie hustete, als ob ein prophetischer Geist über sie käme und der Ansicht wäre, es sei besser, ihn hinunter zu husten.

»Es ist indessen, Ma’am«, sagte Bounderby, »in dem Bankhaus eine Wohnung frei, wo eine Lady von Geburt und Erziehung als Hausdame eine vorzügliche Position hätte, und wenn die Bedingungen –«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Sie waren so gefällig, mir zu versprechen, daß Sie stets die Redensart jährliches Kompliment dafür anwenden wollen.«

»Gut, Ma’am, jährliches Kompliment. Wenn dasselbe jährliche Kompliment auch dort annehmbar ist, so sehe ich nicht ein, warum wir scheiden sollten, ausgenommen Sie tun es.«

»Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit, »der Antrag gleicht Ihnen vollkommen, und wenn die Position, die ich in dem Bankhause einnehmen soll, der Art ist, daß ich sie ausfüllen kann, ohne tiefer auf der gesellschaftlichen Stufenleiter herabzusteigen –«

»Aber, natürlich!« sagte Bounderby. »Sie werden doch nicht denken, daß ich sie einer Lady angeboten hätte, die sich in einer solchen Gesellschaft bewegte, wie das bei Ihnen der Fall war, wenn sie es nicht wäre. Nicht, daß mir an solcher Gesellschaft läge! Aber Ihnen liegt daran!«

»Mr. Bounderby, Sie sind äußerst rücksichtsvoll.«

»Sie werden Ihre eigenen Gemächer haben und Sie werden ihre eigenen Kohlen, Kerzen und alles übrige haben. Sie werden auch ihr eigenes Mädchen zur Bedienung haben, und Sie werden Ihren Hausmann zur Beschützung haben, ja, Sie werden sich so daselbst – ich bin so frei zu sagen: köstlich komfortabel befinden«, sagte Bounderby.

»Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit, »sagen Sie nichts weiter. Indem ich das mir anvertraute Pflegeamt hier aufgebe, werde ich doch von der Notwendigkeit nicht befreit sein, das Brot der Abhängigkeit zu essen.« Sie hätte wohl sagen mögen, das Zuckerbrot; denn dieser delikate Artikel war eine Lieblingsspeise von ihr, »und ich empfange es lieber aus Ihrer Hand als aus einer andern. Ich nehme daher Ihr Anerbieten, Sir, dankbar und mit vieler aufrichtiger Dankbarkeit für frühere Gunstbezeugungen an. Und ich wünsche, Sir«, sagte Mrs. Sparsit in einem nachdrucksvoll mitleidigen Ton, »ich wünsche es von Herzen, daß Miss Gradgrind all‘ das sein möge, was Sie erwarten und verdienen.«

Nichts vermochte Mrs. Sparsit von diesem Standpunkt mehr abzubringen. Vergebens gebärdete sich Bounderby geräuschvoll oder versuchte sanft in seiner gewöhnlichen polternden Weise sich auszudrücken. Mrs. Sparsit war entschlossen, ihn als ein Opfer zu bemitleiden. Sie war höflich, gefällig, munter, hoffnungsvoll. Je höflicher, gefälliger, munterer, hoffnungsvoller und überhaupt je bestimmter sie war, ein desto unglücklicheres Schlachtopfer war er. Sie hatte eine solche Zärtlichkeit für sein tragisches Geschick, daß sein volles rotes Gesicht gewöhnlich in kalten Schweiß ausbrach, sobald sie ihn anblickte.

Inzwischen ward festgesetzt, daß die Hochzeitsfeier in acht Wochen stattfinden sollte, und Mr. Bounderby begab sich jeden Abend als ein anerkannter Freier nach Stone Lodge. Die Liebe ward daselbst in der Gestalt von Armbandgeschenken betont und nahm bei allen Anlässen während des Brautstandes einen fabrikmäßigen Anstrich an. Kleider wurden gemacht, Schmucksachen wurden gemacht, Kuchen und Handschuhe wurden gemacht und ein ausgedehntes Warenlager von Tatsachen machte dem Eheschließungskontrakte alle Ehre. Die ganze Angelegenheit war eine Tatsache von Anfang bis zu Ende. Die Stunden schwanden nicht inmitten jener rosigen Ereignisse dahin, von denen törichte Poeten zu solchen Zeiten zu träumen pflegen. Auch gingen die Uhren um nichts schneller oder langsamer als zu den anderen Perioden. Der grauenhaft-statistische Zeitmesser in dem Gradgrindischen Observatorium schlug jeder Sekunde auf den Kopf, sobald sie geboren wurde und begrub sie mit der herkömmlichen Regelmäßigkeit.

So rückte dieser Tag heran, wie alle Tage den Leuten heranrücken, die sich bloß an die Vernunft halten, und als er da war, wurden in der Kirche »mit den Schnörkelbeinen« – dieser beliebt gewordenen Bauart – Josiah Bounderby Esquire von Coketown und Luise, die älteste Tochter von Thomas Gradgrind Esquire von Stone Lodge, M. P.) für den Flecken, miteinander vermählt. Und als sie in heiliger Ehe verbunden waren, begaben sie sich zum Frühstück nach dem vorerwähnten Stone Lodge.

Zur Feier des Tages war eine Gesellschaft versammelt, die genau wußte, woraus alles, was gegessen und getrunken wurde, zubereitet war, wie hoch sich Import und Export des betreffenden Artikels beliefen, ob das in fremden oder einheimischen Schiffen geschah, kurz, sie wußten über alles Bescheid. Von den Brautjungfern angefangen bis zu der kleinen Jane Gradgrind waren sie sämtlich, vom intellektuellen Standpunkte aus betrachtet, ganz geeignete Gehilfinnen für den Oberrechenmeister, und niemand von der Gesellschaft hatte etwas an sich, das über Tatsachenvernunft hinausragte.

Nach dem Frühstück redete sie der junge Ehemann in folgender Weise an:

»Ladies und Gentlemen! Ich bin Josiah Bounderby von Coketown. Da Sie mir und meiner Frau die Ehre antaten, auf unsere Gesundheit und unser Glück zu trinken, so muß ich wohl auf diese erwidern. Sie werden ja freilich, da Sie mich alle kennen und wissen, was ich bin und was mein Ursprung war, keine Rede von einem Manne erwarten, der, wenn er einen Postwagen sieht, sagt: ›das ist ein Postwagen‹, und wenn er eine Pumpe sieht, sagt: ›das ist eine Pumpe‹, und der nicht dahin gebracht werden kann, einen Postwagen eine Pumpe, und eine Pumpe einen Postwagen, oder eines von beiden einen Zahnstocher zu nennen. Wenn Sie gegenwärtig eine Rede wollen, nun, mein Freund und Schwiegervater, Tom Gradgrind, ist Parlamentsmitglied, und Sie wissen, wo eine gehörige Rede zu haben ist. Dazu bin ich nicht der Mann. Wenn ich jedoch ein wenig das Gefühl der Unabhängigkeit empfinde, da ich meinen Blick um diesen Tisch schweifen lasse und bedenke, wie wenig ich daran gedacht habe, Tom Gradgrinds Tochter zu heiraten, als ich ein zerlumpter Straßenjunge war, der sich das Gesicht nur an den Pumpen wusch, und das nicht öfter als einmal in vierzehn Tagen, so wird man mich hoffentlich entschuldigen. Demnach hoffe ich nun, daß Sie meinen Stolz auf meine Unabhängigkeit billigen werden; tun Sie es nicht, so kann ich nichts dafür. Ich fühle mich unabhängig. Nun habe ich erwähnt, und auch Sie haben dessen Erwähnung getan, daß ich heute mit Tom Gradgrinds Tochter vermählt worden. Es freut mich sehr, daß dies der Fall ist. Es war schon längst mein Wunsch, daß dies der Fall sein möge. Ich habe ihre Erziehung genau beobachtet und ich glaube, sie ist meiner würdig. Zu gleicher Zeit glaube ich – um Sie alle nicht zu täuschen – daß ich ihrer würdig bin. Demnach danke ich Ihnen in unser beider Namen gemeinschaftlich für die Güte, die Sie gegen uns an den Tag legten, und der beste Wunsch, den ich dem unverheirateten Teil dieser Gesellschaft geben kann, ist der: Ich wünsche, daß jeder Junggeselle eine solche Frau finden möge, wie ich sie gefunden. Und ich wünsche, daß jede Jungfer einen so guten Mann finden möge, wie meine Frau ihn bekommt.«

Kurz nach dieser Rede war dieses glückliche Paar – da sie eine Hochzeitsreise nach Lyon machten, damit Mr. Bounderby die Gelegenheit habe, sich zu überzeugen, wie es mit den »Händen« daselbst steht, und ob sie auch verlangen, mit goldenen Löffeln gespeist zu werden – zur Eisenbahn gefahren. Die Braut fand, als sie in den Reisekleidern hinabstieg, Tom – dessen Gesicht entweder von Aufregung oder von dem rebensaftigen Teile des Frühstücks gerötet war – wie er auf sie wartete.

»Was du doch für ein spaßiges Mädchen bist, daß du eine so vortreffliche Schwester gewesen, Lu«, lispelte Thomas.

Sie schmiegte sich an ihn an, wie sie sich an diesem Tage an ein weit besseres Wesen hätte anschmiegen sollen, und zum ersten Male war jetzt ihre steife Zurückhaltung erschüttert.

»Der alte Bounderby ist fix und fertig«, sagte Tom. »Es ist gerade Zeit, Adieu. Ich werde dich aufsuchen, wenn du zurückkommst. Hör‘ mal, meine gute Lu! Ist das jetzt nicht alles ganz außerordentlich nett?«

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Ein sonnengoldener Sommertag. Sogar in Coketown gab es dergleichen. Bei solcher Witterung von der Ferne betrachtet, lag Coketown in seinem eigenen Nebeldunste eingehüllt, den kein Sonnenstrahl durchbrach. Man wußte nur, daß sich die Stadt daselbst befindet, weil man gewiß war, daß ohne Stadt kein ähnlicher Schmutzflecken sich dem Anblick bieten konnte. Ein Qualm von Dunst und Rauch, der bald diese, bald jene Richtung nahm, bald zum Himmelsgewölbe sich emporschwang, bald düster längs der Erde hinkroch, je nachdem der Wind sich erhob, oder sich senkte, oder die Richtung veränderte – ein dichtes, unförmliches Gemisch mit plötzlich aufblitzenden Lichtstreifen, die nur dunkle Massen sichtbar werden ließen – und Coketown gab sich schon von der Ferne kund, obgleich kein einziger Ziegelstein zu sehen war.

Das Wunder bestand darin, daß Coketown überhaupt vorhanden war. Es war schon so oft zugrunde gerichtet worden, daß es Erstaunen erregen musste, wie es so viele schwere Unglücksfälle ertragen konnte. Es gab sicher nie so zarte Porzellanware wie die, aus der die Spinnfabrikanten von Coketown gemacht waren. Man mochte sie noch so vorsichtig anfassen, sie brachen mit einer Leichtigkeit in Stücke, daß man vermuten konnte, sie hätten vorher schon einen Sprung gehabt. Sie schwanden dahin, als man von ihnen verlangte, sie sollten die arbeitenden Kinder in die Schule schicken: sie schwanden dahin, als Inspektoren beauftragt wurden, ihre Arbeiten zu untersuchen; sie schwanden dahin, als solche Inspektoren es für zweifelhaft hielten, ob sie ein Recht hätten, mit ihren Maschinen ihre Arbeiter in Stücke reißen zu lassen; und sie schwanden vollends dahin, als man ihnen einen Wink gab, daß sie vielleicht nicht immer so viel Rauch zu machen brauchten. Außer Mr. Bounderbys goldenem Löffel, der in Coketown wie ein Evangelium galt, war noch ein anderes herrschendes Märchen daselbst populär. Dasselbe nahm die Gestalt einer Drohung an. Sobald nur ein Coketowner Fabrikherr sich übel behandelt glaubte, d. h. sobald man ihn nicht allein gewähren ließ, und der Vorschlag gemacht wurde, ihn für die Folgen seiner Handlungen verantwortlich zu machen – so trat er gewiß mit der schrecklichen Drohung hervor, »daß er lieber sein Vermögen in den Atlantischen Ozean schleudern wollte«. Das hatte den Minister des Innern bei verschiedenen Gelegenheiten in eine wahre Todesangst gejagt.

Die Coketowner waren jedoch am Ende so patriotisch, daß sie ihr Vermögen noch nie in den Atlantischen Ozean geschleudert hatten, ja sie waren freundlich genug, es ganz gehörig in Verwahrung zu nehmen. Dort lag nun dies Vermögen in den Nebeldunst eingehüllt, und es nahm zu und vermehrte sich.

Die Straßen waren an dem Sommertag heiß und staubig, und der Sonnenschein war so hell, daß er sogar durch den dicken Dunst, der Coketown einhüllte, und den man nicht anhaltend mit den Augen aushalten konnte, hindurchschien. Heizer tauchten aus den tiefen unterirdischen Gängen der Fabriköfen auf, setzten sich auf Stufen, Pfosten und Geländer, rieben ihre rußgeschwärzten Gesichter und betrachteten die Kohlen. Die ganze Stadt schien in Öl zu braten. Allenthalben war ein erstickender Dunst von heißem Öl. Die Dampfmaschinen glänzten davon. Die Anzüge der »Hände« waren damit beschmutzt; die Fabriken in ihren vielen Stockwerken flossen und troffen davon. Die Atmosphäre dieser Feenpaläste war wie der heiße Hauch des Wüstenwindes, und ihre Bewohner, vor Hitze schier vergehend, arbeiteten schlaff und träge in dieser Wüste. Aber kein Wechsel der Temperatur machte die melancholisch-wahnsinnigen Elefanten wahnsinniger oder vernünftiger. Ihre langweiligen Köpfe wackelten stets in demselben Grade auf und nieder, in heißem und kaltem, feuchtem und trockenem, schönem und häßlichem Wetter. Die abgemessene Bewegung ihrer Schatten an den Wänden war der Ersatz, den Coketown für den Schatten rauschender Wälder aufzuweisen hatte, während es anstatt des Gesummes der Sommerkäfer das ganze Jahr hindurch, von dem ersten Tagesgrauen des Montags bis zur Nacht des Sonnabends das Schnurren der Triebstangen und Räder bot.

Schläfrig schnurrten sie jenen ganzen Sommertag hindurch, den Wanderer nur noch schläfriger und heißer machend, wenn er an den tönenden Wänden der Fabriken vorüberging. Markisen und Sprengwasser kühlten die Hauptstraßen und die Geschäfte ein wenig. Aber die Fabrikgebäude und Höfe und Gassen wurden gebacken in grimmiger Hitze. Unten auf dem Fluße, der schwarz war von dem dicken Abfluß der Farbstoffe, steuerten einige Jungen von Coketown, die unbeschäftigt waren, – ein seltener Anblick in diesem Orte – ein altes Boot, das, wie es sich so dahinschleppte, eine trüb-schlammige Furche auf dem Wasser zog, während jeder Stoß der Ruder ekle Gerüche aufstörte. Aber der Sonnenschein selbst, obwohl so allgemein wohltuend, zeigte sich in Coketown ungnädiger als strenge Kälte und blickte selten eine Zeitlang anhaltend auf eine dieser eingepferchten Regionen, ohne mehr Tod als Leben zu erzeugen. So wird das Auge des Himmels selbst ein schlimmes Auge, wenn ungeschickte oder schmutzige Hände sich vor die Dinge legen, auf die es segnend blickt.

Mrs. Sparsit saß in ihrem Nachmittagszimmer in der Bank, an der schattigen Seite der sonnengeschmorten Straße. Die Geschäftsstunde war vorüber, und just zu jener Tageszeit pflegte sie bei warmem Wetter das Tagungszimmer, das sich über dem Direktorzimmer befand, mit ihrer lieblichen Gegenwart zu schmücken. Ihr Privatgemach war ein Stockwerk höher, und an dem Fenster dieses Beobachtungspostens saß sie jeden Morgen, bereit, Mr. Bounderby, der die Straße heraufkam, mit jenem, für ein Opfer angemessenen, faszinierenden Blick zu begrüßen. Er war bereits ein Jahr verheiratet, und Mrs. Sparsit hatte ihn noch keinen Augenblick von ihrem beharrlichen Bedauern erlöst.

Die Bank natürlich tat der gesunden Einförmigkeit der Stadt keine Gewalt an. Es war nur ein Haus aus roten Ziegeln mehr, mit schwarzen Läden und grünen Jalousien, einem schwarzen Eingangstor über zwei weißen Stufen, einem messingenen Schild an der Tür und einem Schlußpunkt von ehernem Türdrücker. Es war bedeutend größer als Mr. Bounderbys Haus, während andere Häuser wiederum um die Hälfte oder mehr kleiner waren. In allen übrigen Einzelheiten aber war es strikt nach der Regel.

Mrs. Sparsit war sich sehr wohl bewußt, daß ihre Erscheinung des Abends unter den Pulten und Schreibgeräten eine gewisse weibliche, um nicht zu sagen aristokratische Grazie über die Geschäftsstube verbreite. Wenn sie mit ihrem Nähzeug oder Netzrahmen am Fenster saß, beschlich sie stets eine Art selbstgefälligen Gefühls, daß sie durch ihre ladyartige Haltung das rohgeschäftliche Aussehen des Orts etwas verbessere. Erhoben von diesem Eindruck ihrer interessanten Persönlichkeit betrachtete sich Mrs. Sparsit gewissermaßen als die Fee der Bank. Die Stadtleute dagegen, wenn sie vorbeipassierend Mrs. Sparsit so dasitzen sahen, erblickten in ihr den Drachen der Bank, der die Schätze der Anstalt bewachte.

Worin diese Schätze bestanden, das wußte Mrs. Sparsit ebensowenig wie es die Stadtleute wußten. Gold- und Silbermünzen, kostbare Papiere, Geheimnisse, deren Enthüllung ungeahntes Verderben über ungeahnte Persönlichkeiten bringen konnte (doch gewöhnlich Leute, die sie nicht leiden konnte). Das waren die Hauptpartien in ihrem Idealkontobuch.

Im übrigen wußte sie, daß sie nach den Geschäftsstunden über das ganze geschäftliche Mobiliar und über ein wohlverwahrtes Zimmer mit drei Schlössern, vor dessen Tür der Laufbursche jede Nacht auf einem Rollbett, das mit dem Hahnenschrei verschwand, seinen Kopf legte, mit Allgewalt herrschte. Ferner herrschte sie als allgebietende Dame über gewisse Räume in dem unterirdischen Geschoß, scharf verwahrt vor jeder Verbindung mit der räuberischen Welt. Außerdem über Überreste der laufenden Tagesarbeit, bestehend aus Tintenklecksen, abgenutzten Federn, Oblaten-Fragmenten und Papierfetzen, die in so kleine Stücke zerrissen waren, daß es Mrs. Sparsit niemals gelingen wollte, etwas Interessantes daraus zu entziffern. Endlich war sie Hüterin einer kleinen Rüstkammer von Säbeln und Revolvern, die drohend über einem der Kontorkamine hingen, und über jenes altehrwürdige Herkommen, das sich niemals vom Geschäftslokal trennen läßt, wofern dieses überhaupt auf den Anstrich von Reichtum Anspruch macht: über eine Reihe von Feuereimern – Gefäße, die aber gar nicht für eventuelles Löschen da hingen, sondern nur deshalb, weil sie einen imponierenden Eindruck auf die meisten Besucher machten, einen Eindruck, der fast dem der Gold- und Silberbarren gleichkam.

Eine taube Dienstmagd und der Laufbursche vollendeten Mrs. Sparsits Herrschaftsbereich. Von der tauben Dienstmagd murmelte man, daß sie wohlhabend sei, und ein Gerücht war schon seit Jahren in den niederen Klassen von Coketown umgegangen, daß sie gewiß einmal in der Nacht nach Bankschluß ihres Geldes wegen würde ermordet werden.

Man betrachtete sie in der Tat schon längst als pflichtschuldigst dem Tode verfallen; allein sie bewahrte Leben und Stellung mit einer übel angebrachten Zähigkeit, die viel Anstoß und Ärgernis erregte.

Mrs. Sparsits Tee war soeben für sie auf ein zierliches Tischchen gesetzt; dieses ward mit seinen drei Beinen herein- und aufgestellt, wenn das Geschäft beendigt war, und geriet in die Gesellschaft des düstern, lederbeschlagenen, langen Speisetisches, der die Mitte des Zimmers einnahm. Der Bürodiener setzte das Teegeschirr darauf, seine Stirn zum Zeichen der Huldigung tief duckend.

»Danke, Bitzer«, sagte Mr«. Sparsit.

»Danke Ihnen«, erwiderte der Bürodiener. Er war in der Tat wie zum Bürodiener geschaffen, so federleicht und leichtfüßig, wie in den Tagen, da er blinzelnd für das Mädchen Nummer Zwanzig ein Pferd definierte.

»Alles verschlossen, Bitzer?« fragte Mrs. Sparsit.

»Alles verschlossen, Ma’am.«

»Und was«, fragte Mrs. Sparsit, ihren Tee einschenkend, »gibt es heute neues? Etwas von Belang?«

»In der Tat, Ma’am, nichts Besonderes das ich wüßte. Unsere Leute sind ein böses Pack, Ma’am; aber das ist zum Unglück keine Neuigkeit.«

»Was treibt denn das unruhige Gesindel wieder?« fragte Mrs. Sparsit.

»Sie treiben es nur so fort in der alten Weise, Ma’am. Vereinigen sich, verbinden sich, verpflichten sich, es miteinander zu halten.«

»Es ist sehr zu bedauern«, sagte Mrs. Sparsit, und ihre gewaltige Strenge ließ ihre Nase nur noch römischer und ihre Brauen noch pompöser erscheinen, »es ist sehr zu bedauern, daß der Verein der Fabrikherren nur irgend solche Klassenverschwörungen gestattet.«

»Ja, Ma’am«, sagte Bitzer.

»Da sie doch selbst verbunden sind, so sollten sie einer wie alle sich darauf steifen, keinen Mann in Arbeit zu nehmen, der mit einem andern verbündet ist«, sagte Mrs. Sparsit.

»Das haben sie getan, Ma’am«, entgegnete Bitzer, »aber – das Unternehmen ist ihnen ins Wasser gefallen, Ma’am.«

»Ich behaupte nicht, etwas von diesen Dingen zu verstehen«, sagte Mrs. Sparsit mit Würde, »da mein Lebenslos eigentlich in einer ganz andern Sphäre gelegen war und Mr. Sparsit als eine Powler außerhalb des Bereiches solcher Bagatellen gestellt war. Ich weiß nur, daß man dieses Volk unterkriegen muß, und daß es hohe Zeit ist, daß es geschehe, ein für allemal.«

»Ja, Ma’am«, erwiderte Bitzer mit großer Respektbezeigung für Mrs. Sparsits orakelmäßige Autorität. »Sie hätten es nicht klarer ausdrücken können, sicherlich nicht, Ma’am.«

Da dies seine gewöhnliche Zeit war, wo er mit Mrs. Sparsit ein bißchen vertraulich schwatzte und er einen Blick von ihr auffing, aus dem hervorging, daß sie ihm eine Frage vorlegen wollte, so stellte er sich, als brächte er die Lineale, Tintenfäßer und so weiter in Ordnung, während unsere Lady sich mit ihrem Tee beschäftigte und durch das Fenster flüchtige Blicke auf die Straße warf.

»War heute viel zu tun?« fragte Mrs. Sparsit.

»Nicht besonders, Mylady. Ungefähr ein Durchschnittstag.«

Zuweilen sagte er Mylady, den Titel für adlige Damen, an Stelle von Ma’am, was eine unwillkürliche Anerkennung von Mrs. Sparsits persönlicher Würde und ihrer Ansprüche auf Ehrerbietung sein sollte.

»Die Kommis«, sagte Mrs. Sparsit, indem sie von dem linken Handschuh ein unmerkliches Butterbrotkrümchen abbürstete, »sind natürlich zuverlässig, pünktlich und fleißig?«

»Ja, Ma’am, so ziemlich, Ma’am. Mit der gewöhnlichen Ausnahme.«

Er bekleidete das ehrenhafte Amt eines allgemeinen Spions und Angebers in dem Etablissement. Für diesen freiwilligen Dienst erhielt er zu Weihnachten außer seinem gewöhnlichen Wochengehalt noch ein Geschenk. Er war zu einem äußerst helldenkenden, vorsichtigen und klugen jungen Mann herangewachsen, der sicher war, in der Welt sein Glück zu machen. Sein Verstand war so exakt reguliert, daß er weder Neigungen noch Leidenschaften hegte. All sein Tun und Lassen war das Resultat der klarsten und kältesten Berechnung. Mit Recht bemerkte daher Mrs. Sparsit von ihm, daß sie nie einen jungen Mann gekannt, der seinen Grundsätzen so treu geblieben wie er. Als er sich beim Tod seines Vaters vergewissert hatte, daß seine Mutter in Coketown heimatberechtigt sei, machte der ausgezeichnete junge Ökonom dieses Recht für sie mit standhafter Anhänglichkeit an dem Motiv der Rechtslage geltend: er brachte sie ins Armenhaus. Es muß noch erwähnt werden, daß er ihr jährlich ein halbes Pfund Tee gestattete, was eine Schwäche von ihm war: erstens, weil alle Gaben unvermeidlich dahin locken, den Empfänger an die Erhaltung von Almosen zu gewöhnen; zweitens, weil seine einzige vernünftige Berührung mit der Ware eigentlich darin hätte bestehen sollen, sie so billig wie möglich zu kaufen und so teuer wie möglich zu verkaufen. Denn es ist von Philosophen klar dargetan worden, daß darin die ganze Pflicht des Menschen begriffen sei – nicht ein Teil der menschlichen Pflicht, sondern die ganze.

»So ziemlich, Ma’am. Mit der gewöhnlichen Ausnahme, Ma’am«, antwortete Bitzer.

»A – ch!« sagte Mrs. Sparsit, indem sie den Kopf über der Teetasse schüttelte und einen langen Schluck nahm.

»Mr. Thomas, Ma’am. Ich habe einigen Verdacht gegen Mr. Thomas, Ma’am. Seine Manieren gefallen mir durchaus nicht.«

»Bitzer«, sagte Mrs. Sparsit mit vielem Nachdruck, »erinnerst du dich, daß ich dir zu dieser Persönlichkeit etwas sagte?«

»Ich bitte um Verzeihung, Ma’am. Es ist vollkommen richtig, daß Sie sich gegen die Erwähnung von Namen erklärten, und es ist auch stets das beste, niemanden beim Namen zu nennen.«

»Erinnere dich gefälligst, daß ich hier ein Amt bekleide«, sagte Mrs. Sparsit in ihrer gebieterischen Vornehmheit. »Ich versehe hier ein Vertrauensamt, Bitzer, im Auftrage von Mr. Bounderby. Wie unwahrscheinlich wir beide, Mr. Bounderby und ich es vor Jahren würde gedacht haben, daß er je mein Gönner sein sollte, indem er mir ein jährliches Kompliment macht, so muß ich ihn doch als solchen betrachten. Von Mr. Bounderby habe ich jede denkbare Anerkennung meiner gesellschaftlichen Stellung und jede Rücksicht auf meine Familienabstammung erfahren, die ich möglicherweise erwarten konnte. Noch mehr, weit mehr. Ich muß daher gegen meinen Gönner gewissenhaft treu sein. Und ich glaube nicht und mag nicht glauben und kann nicht glauben«, sagte Mrs. Sparsit mit einem sehr ausgedehnten Warenvorrat von Ehre und Moralität, »daß ich gewissenhaft treu sein würde, wenn ich es gestattete, daß man unter diesem Dache Namen nennte, die unglücklicherweise, höchst unglücklicherweise – daran ist kein Zweifel – mit dem seinen in Verbindung stehen.«

Bitzer duckte sich abermals und bat abermals um Verzeihung.

»Nein, Bitzer«, fuhr Mrs. Sparsit fort, »sage ein Individuum und ich will dich anhören; sagst du Mr. Thomas, so mußt du mich entschuldigen.«

»Mit der gewöhnlichen Ausnahme, Ma’am«, sagte Bitzer, der es wieder gutmachen wollte, »eines Individuums.«

»A – ch!« Mrs. Sparsit wiederholte den Ausruf, das Kopfschütteln über der Teetasse und den langen Schluck, um das Gespräch wieder bei dem Punkt anzuknüpfen, wo es unterbrochen worden war.

»Ein Individuum, Ma’am«, sagte Bitzer, »das niemals das gewesen ist, was es sein sollte, seitdem es sich an diesem Platz befindet. Er ist ein liederlicher, verschwenderischer Bursche. Er ist das Salz nicht wert, das er genießt. Er würde es nicht bekommen, Ma’am, wenn er nicht einen Freund und Verwandten bei Hofe hätte.«

»A – ch!« sagte Mrs. Sparsit mit einem abermaligen melancholischen Kopfschütteln.

»Ich will nur hoffen«, fuhr Bitzer fort, »daß die ihm befreundete und verwandte Person ihn nicht mit Mitteln versieht, es so fortzutreiben. Sonst wissen wir wohl, Ma’am, ans welcher Tasche das Geld kommt.«

»A – ch!« seufzte Mrs. Sparsit abermals, mit einem abermaligen Kopfschütteln.

»Er ist zu bedauern. Die letzte Person, auf die ich anspielte, ist zu bedauern, Ma’am«, sagte Bitzer.

»Ja, Bitzer«, sagte Mrs. Sparsit. »Ich habe immer diese Verblendung bedauert – immer.«

»Was dieses Individuum betrifft«, sagte Bitzer, der die Stimme senkte und näher trat, »so ist es so unbedachtsam, wie nur irgendwer unserer Stadtbewohner. Und Sie wissen, Ma’am, wie groß die Unbedachtsamkeit hier ist. Niemand brauchte es besser zu wissen, als eine Lady von Ihrer hohen Stellung es weiß.«

»Sie täten wohl daran«, versetzte Mrs. Sparsit, »sich ein Beispiel an dir zu nehmen, Bitzer.«

»Danke sehr, Ma’am. Da Sie sich aber auf mich beziehen, so betrachten Sie mich einmal. Ich habe schon etwas beiseite gelegt, Ma’am. Jenes Geschenk, das ich zu Weihnachten erhalte, berühre ich nie. Ich verbrauche nicht einmal meinen ganzen Lohn, obgleich er nicht hoch ist, Ma’am. Warum können sie es nicht machen wie ich, Ma’am? Was der eine kann, das kann der andere doch auch.«

Das gehörte ebenfalls zu den Dogmen von Coketown. Jeder dortige Kapitalist, der sich durch sechs Pence sechzigtausend Pfund erworben, wunderte sich stets darüber, daß die nächsten sechzigtausend »Hände« nicht ebenfalls sechzigtausend Pfund durch sechs Pence sich erwarben, und warf es jedem von ihnen mehr oder minder vor, daß sie solche Kleinigkeit nicht fertigbrächten. Was ich getan, das kannst du auch tun. Warum gehst du also nicht hin und tust es?

»Was ihre Bedürfnisse für Erholungen betrifft, Ma’am«, sagte Bitzer, »so ist es dummes Zeug und Unsinn. Ich brauche keine Erholungen. Ich hatte sie nie nötig und werde sie nie nötig haben: ich mag sie nicht. Was ihre enge Vereinigung betrifft – so gibt es ohne Zweifel viele unter ihnen, die hier und da durch gegenseitiges Bewachen und Angeben eine Kleinigkeit, sei es an Geld oder Wohlwollen, sich erwerben könnten, wodurch sie ihre Lage verbessern würden. Warum also verbessern sie diese nicht, Ma’am? Es ist das Streben jedes vernünftigen Geschöpfes, und sie behaupten doch, auch ihre Lage verbessern zu wollen.«

»Jawohl, sie behaupten es allerdings«, sagte Mrs. Sparsit.

»Wahrlich, wir müssen fort und fort das Geschwätz über ihre Weiber und Kinder hören, bis es schließlich ganz ekelhaft wird«, sagte Bitzer. »Nun, betrachten Sie mich einmal, Ma’am! Ich brauche weder Weib noch Kind. Warum denn diese?«

»Weil sie unbedachtsam sind«, sagte Mrs. Sparsit.

»Jawohl, Ma’am«, versetzte Bitzer. »Da steckt eigentlich der Haken. Wenn sie bedachtsamer und weniger verderbt wären, Ma’am, was würden sie tun? Sie würden sagen: ›Solange mein Hut meine ganze Familie bedeckt‹ oder ›solange meine Haube meine ganze Familie bedeckt‹ – je nachdem der Fall wäre, Ma’am – ›so brauche ich nur einen zu ernähren, und das ist die Person, die ich am liebsten ernähre‹.«

»Ganz gewiß«, stimmte Mrs. Sparsit bei, indem sie ein Stück Milchbrot aß.

»Danke sehr, Ma’am«, sagte Bitzer, abermals sich duckend als Erkenntlichkeit für die Gunst der Teilnahme an Mrs. Sparsits feiner Unterhaltung. »Wünschten Sie vielleicht noch etwas heißes Wasser oder kann ich Ihnen sonst etwas holen?«

»Nichts für den Augenblick, Bitzer.«

»Sehr verbunden, Ma’am. Ich würde Sie nicht gern bei Ihrem Essen stören, Ma’am, besonders beim Tee nicht, da ich Ihre Vorliebe für diesen kenne«, sagte Bitzer, indem er sich ein wenig emporschraubte, um von der Stelle, wo er sich befand, nach der Straße zu sehen – »aber da unten hat ein Herr ungefähr eine Minute heraufgesehen, Ma’am, und er ging dann über die Straße, als wollte er anklopfen. Das ist sein Klopfen an die Tür – ohne Zweifel, Ma’am.«

Er ging zum Fenster, und nachdem er hinausgesehen und den Kopf wieder zurückgezogen, bestätigte er es mit den Worten: »Ja, Ma’am. Wollen Sie, daß ich den Herrn hereinführe?«

»Ich weiß nicht, wer es sein kann«, sagte Mrs. Sparsit, indem sie sich den Mund abwischte und die Handschuhe in Ordnung brachte.

»Augenscheinlich ein Fremder, Ma’am.«

»Welcher Fremde um diese Abendstunde etwas in der Bank hier zu tun haben kann, wenn er nicht wegen eines Geschäftes kommt, wofür es schon zu spät ist, das wüßte ich wahrlich nicht«, sagte Mrs. Sparsit, »aber ich habe in diesem Etablissement von Mr. Bounderby ein Vertrauensamt übernommen und ich will mich ihm nicht entziehen. Wenn es zu meiner Pflicht gehört, ihn zu sehen, so will ich ihn sehen. Handle, wie du es für gut hältst, Bitzer.«

Der Besucher wiederholte hier, völlig unbekannt mit der großmütigen Äußerung von Mrs. Sparsit, das Klopfen an der Tür so laut, daß der Bürodiener hinuntereilte, um diese zu öffnen; Mrs. Sparsit gebrauchte unterdessen die Vorsicht, das Tischchen mit all seinem Zubehör darauf in einen Speiseschrank zu verbergen und brach dann nach dem oberen Stockwerk auf, um, falls notwendig, mit größerer Würde aufzutreten.

»Wenn’s beliebt, Ma’am, der Herr wünscht Sie zu sprechen«, sagte Bitzer, durch Mrs. Sparsits Schlüsselloch guckend. Mrs. Sparsit, die den Augenblick benutzt hatte, um ihre Haube zurechtzusetzen, begab sich mit ihrem klassischen Antlitz wieder nach dem unteren Stockwerk und trat in den Sitzungsraum wie eine römische Matrone, die sich außerhalb des Stadtgebietes begab, um mit einem General zu unterhandeln, der mit einem Einfall gedroht hat.

Der Besucher, der zum Fenster hingeschlendert war und gerade sich damit beschäftigte, nachlässig hinauszugucken, blieb bei dem nachdrucksvollen Eintritt so unbewegt, wie es nur ein Mensch sein konnte. Er stand da und pfiff mit aller erdenklichen Gemütsruhe vor sich hin, den Hut noch immer auf dem Kopf. Er schien etwas erschöpft, was teils von der übermäßigen Hitze und teils von seiner persönlichen außerordentlichen Vornehmheit herrührte. Denn man konnte es ihm mit einem flüchtigen Blick gleich ansehen, daß er durch und durch ein Gentleman war, ganz nach dem Modell der Zeit geformt; der Welt überdrüssig und so wenig etwas glaubend wie Luzifer.

»Wie ich denke, Sir«, sprach Mrs. Sparsit, »wünschten Sie mich zu sprechen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, indem er sich umwandte und den Hut abnahm, »bitte, entschuldigen Sie mich.«

»Hm!« dachte Mrs. Sparsit, während sie eine stattliche Verbeugung machte, »fünfunddreißig, gut aussehend, gute Figur, gute Zähne, gute Stimme, gute Erziehung, gut gekleidet, dunkles Haar und kühne Augen.«

Das alles hatte Mrs. Sparsit in ihrer Frauenmanier – gleich dem Sultan, der seinen Kopf in einen Eimer Wasser getaucht – bloß beim Untertauchen und Emporkommen bemerkt.

»Bitte Platz zu nehmen, Sir«, sagte Mrs. Sparsit.

»Danke sehr. Erlauben Sie.« Er rückte einen Stuhl für sie herbei, blieb aber selbst nachlässig an den Tisch gelehnt stehen.

»Ich ließ meinen Diener bei der Eisenbahn, um mein Gepäck zu besorgen – ein langer Zug und kolossal voll der Gepäckwagen – und schlenderte fort, um mich ein wenig umzusehen. Ein höchst merkwürdiger Ort. Wollen Sie mir die Frage erlauben, ob er stets so schwarz aussieht wie heute?«

»Im allgemeinen noch schwärzer«, erwiderte Mrs. Sparsit in ihrer gesetzten Weise.

»Ist es möglich! Bitte um Entschuldigung, Sie sind doch kein hiesiges Stadtkind, wie ich vermute?«

»Nein, Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit. »Ich war einst so glücklich oder so unglücklich, je nachdem man es nehmen will, mich – ehe ich Witwe geworden – in einer ganz andern Sphäre zu bewegen. Mein Mann war ein Powler.«

»Bitte um Verzeihung, wirklich!« rief der Fremde. »War ein –?«

Mrs. Sparsit wiederholte: »Ein Powler«.

»So, er hieß Powler?« sagte der Fremde nach einigem Nachdenken. Mrs. Sparsit nickte beistimmend. Der Fremde schien noch ein wenig müder als zuvor.

»Sie müssen hier viel Langeweile haben?« sagte er als Schlußfolgerung auf das Gehörte.

»Ich bin die Sklavin der Verhältnisse, Sir«, sagte Mrs. Sparsit, »und ich habe mich schon längst der Macht gefügt, die mein Leben regiert.«

»Sehr philosophisch«, versetzte der Fremde, »und sehr exakt und lobenswürdig und –« es schien ihm nicht einmal der Mühe wert, den Satz zu vollenden, und spielte deshalb achtlos mit der Uhrkette.

»Darf ich mir die Frage erlauben, Sir«, sagte Mrs. Sparsit, »welchem Umstände ich die Gunst zuzuschreiben habe –«

»Sicherlich«, sagte der Fremde. »Bin sehr verbunden, für die Erinnerung. Ich bin der Überbringer eines Empfehlungsschreibens, an den Bankier Mr. Bounderby. Indem ich, während das Diner für mich in dem Hotel bereitet wird – durch diese furchtbar schwarze Stadt spazierte, fragte ich einen Kerl, dem ich begegnete – einer von den Arbeitern, der ein Schauerbad von etwas Schmierigem genommen zu haben schien, was, wie ich vermute, das Rohmaterial sein muß –«

Mrs. Sparsit nickte.

»– Unverarbeiteter Stoff sein muß – wo Mr. Bounderby wohne. Worauf er mich, wahrscheinlich durch das Wort Bankier irregeführt, zur Bank wies. Das Ergebnis ist nun, wie ich vermute, daß Mr. Bounderby, der Bankier, nicht in dem Hause wohnt, wo ich die Ehre habe, diese Erklärung zu geben?«

»Nein, Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit, »er wohnt nicht hier.«

»Danke sehr. Ich hatte nicht die Absicht, den Brief augenblicklich abzugeben, auch habe ich ihn jetzt nicht. Da ich aber zur Bank schlenderte, um die Zeit zu töten, und das Glück hatte am Fenster« – wohin er träge mit der Hand hinwinkte und sich dann leichthin verneigte – »eine Lady von höchst vornehmem und angenehmem Äußern zu bemerken, so dachte ich nichts besseres tun zu können, als mir die Freiheit zu nehmen, jene Lady zu fragen, wo Mr. Bounderby, der Bankier, eigentlich wohnt. Das erlaube ich mir demgemäß mit allen gehörigen Entschuldigungen zu tun.

Die Lässigkeit und Nonchalance seiner Manieren waren in Mrs. Sparsits Augen genugsam durch eine natürliche Galanterie gemildert, die auch ihr huldigte. So lehnte er jetzt an der Tischkante, neigte sich dabei zugleich aber zu ihr hin, als ob er in ihr einen Reiz anerkannte, der sie – in ihrer Weise – bezaubernd erscheinen ließ.

»Die Banken sind, wie ich weiß, stets mißtrauisch und müssen es auch offiziell sein«, sagte der Fremde, dessen leichte und glatte Redeweise zugleich angenehm war – und die weit mehr Humor und Gefühl vermuten ließ als sie wirklich enthielt. – »Ich erlaube mir daher zu bemerken, daß mein Brief – hier ist er – von dem Parlamentsmitgliede für diesen Ort – von Mr. Gradgrind – ist, dessen Bekanntschaft ich das Vergnügen hatte, in London zu machen.«

Mrs. Sparsit, die die Handschrift erkannte, beteuerte, daß solche Bestätigung durchaus nicht nötig sei und gab Mr. Bounderbys Adresse nebst allen noch erforderlichen Anweisungen und Aufschlüssen an.

»Tausend Dank«, sagte der Fremde. »Sie kennen natürlich den Bankier sehr gut?«

»Ja, Sir«, versetzte Mrs. Sparsit, »ich kenne ihn in meinem abhängigen Verhältnisse bereits zehn Jahre.«

»Eine ganze Ewigkeit! Ich glaube, er hat Gradgrinds Tochter geheiratet?«

»Ja«, sagte Mrs. Sparsit, plötzlich den Mund zusammen, pressend. »Er hatte diese – Ehre.«

»Die Dame ist ganz Wissenschaft, wie man mir sagt?«

»In der Tat, Sir« – rief Mrs. Sparsit. »Ist sie das?«

»Entschuldigen Sie meine unbescheidene Neugier«, fuhr der Fremde fort, indem er mit versöhnendem Blicke über Mrs. Sparsits Augenbrauen hinflatterte, »aber Sie kennen die Familie und kennen die Welt. Ich bin daran, die Bekanntschaften der Familie zu machen und dürfte mit ihr in lebhaften Verkehr kommen. Ist denn die Lady gar so alarmierend? Ihr Vater bringt sie in den Ruf so schrecklicher Hartköpfigkeit, daß ich vor Begierde brenne, sie kennenzulernen. Ist sie absolut unnahbar? Abstoßend und erstaunlich gescheit? Ich sehe aus Ihrem bedeutungsvollen Lächeln, daß Sie nicht diese Meinung teilen. Sie haben Balsam in mein besorgtes Gemüt gegossen. Nun zum Alter. Vierzig? Fünfunddreißig?«

Mrs. Sparsit lachte laut auf.

»Ein Backfisch«, sagte sie. »Bei ihrer Verheiratung war sie nicht ganz zwanzig.«

»Ich versichere Sie auf Ehre, Mrs. Powler«, versetzte der Fremde, sich vom Tische erhebend, »daß ich all mein Lebtag nicht so erstaunt gewesen bin.«

Das Gehörte schien in der Tat Eindruck auf ihn zu machen, soweit überhaupt solches bei ihm möglich war. Er sah Mrs. Sparsit eine Viertelminute starr an und schien während der ganzen Zeit ganz verdutzt zu sein.

»Ich versichere Sie, Mrs. Powler«, sagte er darauf sehr erschöpft, »daß die Manieren des Vaters mich auf eine grimmige und steinharte alte Dame vorbereiteten. Ich bin Ihnen für alles verbunden, daß Sie meinen groben Irrtum berichtigten. Bitte, entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit. Vielen Dank. Guten Tag.«

Unter Verbeugungen entfernte er sich und Mrs. Sparsit, die sich hinter einem Fenstervorhang verborgen, sah ihn, von allen Leuten draußen angestarrt, auf der schattigen Seite der Straße nachlässig hinschlendern.

»Was hältst du von dem Herrn, Bitzer?« fragte sie den Bureaudiener, als er abzuräumen kam.

»Gibt viel Geld für Kleider aus, Ma’am.«

»Man muß gestehen«, sagte Mrs. Sparsit, »daß sie sehr geschmackvoll sind.«

»Ja, Ma’am«, versetzte Bitzer, »wenn das allein das Geld wert ist.«

»Außerdem, Ma’am«, fuhr Bitzer fort, indem er den Tisch blank rieb, »sieht er mir aus, als ob er spielt.«

»Spielen ist unmoralisch«, sagte Mrs. Sparsit.

»Es ist zudem lächerlich, Ma’am«, sagte Bitzer, »weil die Chancen gegen die Spieler sind.«

Ob es die Hitze war, die Mrs. Sparsit am Arbeiten hinderte, oder ob sie nicht mehr im Zuge war, kurz, jenen Abend arbeitete sie nicht. Sie saß hinter dem Fenster, als die Sonne hinter dem Rauch unterging; sie saß da, als der Rauch glührot erschien, als er die Farbe verlor, als Dunkelheit langsam aus der Erde sich zu erheben schien und emporstieg, empor bis zu den Giebeln der Häuser, bis zum Kirchturm, bis zu den Spitzen der Fabrikrauchfänge und bis zum Himmel. Ohne Licht im Zimmer saß Mrs. Sparsit am Fenster, die Hände in den Schoß gelegt und wenig bekümmert um die Abendklänge, um das Geschrei der Kinder, das Bellen der Hunde, das Gepolter der Räder, die Stimmen und Schritte der Vorübergehenden, die schrillen Straßenausrufe, das Getön der Holzschuhe auf dem Pflaster, als deren Zeit kam, und um das Schließen der Ladentüren. Nicht eher, als bis der Bürodiener ankündigte, daß ihr Abendessen bereit sei, erwachte Mrs. Sparsit aus ihren Träumereien und beförderte ihre dichten schwarzen Augenbrauen – jetzt durch Nachsinnen so sehr in Falten gelegt, daß sie des Bügeleisens zu bedürfen schienen – nach dem obern Stockwerk.

»O du Narr!« sagte Mrs. Sparsit, als sie allein bei ihrem Essen saß. Wen sie eigentlich meinte, sagte sie nicht; sie konnte jedoch kaum das Süßbrot damit gemeint haben.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Ein schwacher Lichtschimmer erhellte das Fenster, vor dem die schwarze Leiter schon oft aufgerichtet worden, um das, was einer sich abmühenden Frau und einer Brut hungriger Kinder in dieser Welt am kostbarsten war, darauf heruntergleiten zu lassen. Stephen ward nun bei seinen sonstigen Gedanken auch auf die ernsthafte Betrachtung geleitet, daß von allen zufälligen Ereignissen des irdischen Daseins keines mit so ungleicher Hand ausgeteilt werde, wie der Tod. Die Ungleichheit der Geburt schien ihm nichts dagegen. Denn angenommen, daß das Kind eines Königs und das eines Webers in dieser Nacht im gleichen Augenblick geboren wurden, was war diese Verschiedenartigkeit gegen den Tod eines menschlichen Wesens, das einem zweiten nützlich oder teuer war, wahrend dieses verworfene Weib am Leben blieb!

Von der Außenfront seiner Wohnung trat er düster gestimmt in das Innere derselben, mit angehaltenem Atem und leisen Schritten. Er näherte sich seiner Tür, öffnete sie und trat also ins Zimmer.

Ruhe und Friede herrschten dort. Rachael befand sich da, auf dem Bettrand sitzend.

Sie wandte ihren Kopf, und der Schimmer ihres Gesichtes fiel leuchtend in die Mitternächtigkeit seines Gemüts. Sie saß am Bette bei seiner Frau, wachend und pflegend. Das heißt, er sah jemanden daselbst liegen und er wußte zu gut, daß sie es sein müsse, Rachael hatte jedoch einen Vorhang angebracht, um sie vor seinen Blicken zu verbergen. Ihre elenden Kleidungsstücke waren beseitigt und einige von Rachael lagen an deren Stelle. Alles war an seinem Platz und in Ordnung, wie er es immer gehabt. Das kleine Feuer war sauber geschürt und der Herd frisch gefegt. Es schien ihm, als sähe er all das in Rachaels Gesicht und sah sonst auf nichts. Während er es so betrachtete, verschwand es durch die Tränen der Rührung, die sein Auge erfüllten, vor seinem Blick. – Aber das geschah nicht eher, als bis er gesehen hatte, wie ernsthaft sie ihn anschaute, und wie selbst ihre Augen mit Tränen gefüllt waren.

Sie wandte sich abermals gegen das Bett und sprach, nachdem sie sich gerne überzeugt hatte, daß dort alles ruhig war, mit einer leisen, gelassenen und heiteren Stimme:

»Ich bin froh, daß du endlich nach Hause gekommen bist, Stephen. Du kommst sehr spät.«

»Ich bin auf und ab gegangen.«

»Ich dachte es mir. Aber dazu ist die Nacht zu schlimm. Der Regen ist sehr stark und der Wind weht heftig.«

»Der Wind? Wohl wahr. Er wehte stark. Horch auf das Donnern im Kamin und auf das tobende Gepolter. Bei einem solchen Winde draußen gewesen zu sein und nicht gewußt zu haben, daß er wehte!«

»Ich bin heute schon einmal dagewesen, Stephen. Die Hausfrau holte mich um die Mittagsstunde. ›Jemand ist hier‹, sagte sie, ›der Pflege braucht‹ Und wahrlich, sie hatte recht. Sie phantasiert und ist bewußtlos, Stephen. Auch verwundet und voller Beulen.«

Er ging sacht zu einem Stuhl und setzte sich nieder, indem er den Kopf vor ihr senkte.

»Ich kam um das Wenige zu tun, was in meiner Macht steht, Stephen. Erstens weil wir als Mädchen zusammen arbeiteten, und weil du ihr den Hof machtest und sie heiratetest, als sie meine Freundin war –«

Er stützte die furchenreiche Stirn auf die Hand und stöhnte leise.

»Und dann weil ich dein Herz kenne und es ganz gewiß weiß, daß es zu barmherzig ist, um sie sterben, oder aus Mangel an Hilfe sie auch nur leiden zu lassen. Du kennst wohl den Spruch: ›Der ohne Sünde unter Euch ist, werfe den ersten Stein auf sie.‹ Gar viele haben das getan. Du aber bist nicht der Mann, den letzten Stein auf sie zu werfen, wenn sie so tief gesunken.«

»O Rachael, Rachael!«

»Du hast grausam gelitten, der Himmel belohne dich dafür«, sagte sie in mitleidsvollem Tone. »Ich bin deine arme Freundin mit ganzem Herzen und ganzer Seele.«

Die Wunden, von denen sie gesprochen hatte, schienen am Halse der Trinkerin zu sein. Sie verband sie jetzt, ohne sie seinen Blicken bloßzustellen. Sie tauchte ein Stück Linnen in ein Becken, worin sie etwas Flüssiges aus einer Flasche gegossen hatte und legte es sanft auf die wunde Stelle. Der dreibeinige Tisch war in die Nähe des Bettes gezogen worden und auf ihm befanden sich zwei Flaschen. Die mit der Flüssigkeit war die eine.

Sie stand nicht so weit von ihm entfernt, daß Stephen, der Rachaels Bewegungen mit den Blicken gefolgt war, nicht hätte lesen können, was mit großen Buchstaben darauf gedruckt war.

Totenbleich wandte er sich ab und ein plötzliches Grauen schien ihn zu überkommen.

»Ich will hierbleiben«, sagte Rachael, indem sie ihren Platz wieder ruhig einnahm, »bis die Uhr drei schlagen wird. Um drei muß es wieder vorgenommen werden, dann kann man sie bis zum Morgen allein lassen.«

»Aber deine Ruhe für morgen, Rachael?«

»Ich habe vergangene Nacht gut geschlafen. Ich kann viele Nächte durchwachen, wenn es sein muß. Du aber hast jetzt Ruhe nötig – so bleich und müde. Versuche es doch, in dem Stuhle hier zu schlafen, während ich wache. Du hast die vorige Nacht nicht geschlafen, das kann ich mir wohl denken. Die Arbeit morgen wird dir schwerer fallen als mir.«

Er vernahm das Donnern und Toben von draußen, und es schien ihm, als ob seine frühere düstere Kümmernis ihn wieder übermannen wollte. Sie hatte sie ausgetrieben, sie wird sie wohl auch ferne halten; er hegte das Vertrauen zu ihr, daß sie ihn vor sich selbst schützen werde.

»Sie kennt mich nicht; sie murmelt nur so schläfrig und stiert umher. Ich habe einige Male ihr zugeredet, aber sie achtete nicht darauf. Es ist auch gut so. Wenn sie wieder zur Besinnung kommt, so werde ich getan haben, was ich konnte, sie aber wird darum nicht besser sein.«

»Wie lang dürfte sie in diesem Zustand bleiben, Rachael?«

»Der Doktor sagte, sie könnte wohl morgen zur Besinnung kommen.«

Seine Augen fielen abermals auf die Flasche, wobei ihn ein Schaudern überkam, das alle seine Glieder erbeben machte. Sie glaubte, er zittere vor Kälte. »Nein«, sagte er, »es war nicht das. Ich habe einen Schreck bekommen.«

»Einen Schreck?«

»Ja doch! Ja doch! als ich hereintrat. Als ich herumging. Als ich nachdachte. Als ich–«

Es hatte ihn wieder erfaßt – und er erhob sich, indem er sich auf das Kamingesims stützte und das naßkalte Haar mit der Hand, die zitterte, als ob sie lahm wäre, beiseite strich.

»Stephen!«

Sie wollte sich ihm nähern, er streckte jedoch seine Hand aus, um sie zurückzuhalten.

»Nicht! Nicht doch, bitte! Nicht doch! Laß mich dich wieder am Bette sitzen sehen. Laß mich dich sehen, so gut und so vergebend. Laß mich dich sehen, wie ich dich bei meinem Hereintreten sah. Ich kann dich nie besser als so sehen. Niemals, niemals, niemals.«

Ihn befiel wieder ein heftiges Zittern und er sank dann in den Stuhl. Nach einiger Zeit ermannte er sich und, indem er den Ellbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand stützte, konnte er den Blick auf Rachael richten. Wie er sie durch den matten Lichtschimmer mit seinen feuchten Augen anblickte, sah sie aus, als schwebe ein Heiligenschein um ihr Haupt. Er hätte glauben mögen, das sei wirklich der Fall. Er glaubte es, als der Wind von außen die Fenster rüttelte, an der Tür unten rasselte und tobend und klagend um das Haus brauste.

»Wenn sie sich wieder erholt hat, Stephen, dann ist zu hoffen, daß sie dich wieder allein lassen und dir kein Leid mehr zufügen wird. Hoffen wir das wenigstens! Jetzt werde ich aber schweigen; denn ich will, daß du schläfst.«

Er schloß seine Augen, mehr aus Liebe zu ihr als um seinem müden Kopf Ruhe zu gönnen. Wie er jedoch dem Toben des Windes lauschte, hörte er nach und nach auf, ihn zu vernehmen. Das Dröhnen verwandelte sich in das Schnurren seines Webestuhles, oder selbst in die Stimmen, die er am Tage vernommen (die seine mit einbegriffen) die das wiederholten, was wirklich gesagt worden. Selbst dieses unvollkommene Bewußtsein verschwand endlich, und er träumte einen langen, verworrenen Traum.

Er meinte, daß er sich mit einer Person, die ihm schon seit langem teuer war – aber es war nicht Rachael, und das nahm ihn wunder selbst inmitten seines illusorischen Glücks –, in der Kirche befand, um getraut zu werden. Während die Trauung vollzogen wurde, und während er unter den Zeugen manche erkannte, die noch am Leben, und manche, von denen er wußte, daß sie schon tot waren, brach eine Finsternis herein, der ein schreckliches Licht folgte. Es ging aus von einer Zeile auf den Tafeln des Gesetzes, und die flammenden Worte erleuchteten das Gebäude. Diese Worte ertönten auch durch die Kirche, als ob die feurigen Buchstaben Stimmen besäßen. Hierauf veränderte sich die ganze Erscheinung ringsum, und nichts war von allem übrig geblieben, außer ihm und dem Geistlichen. Sie standen am hellen Tageslicht vor einer so ungeheuren Menge, daß er meinte, wenn sämtliche Bewohner dieser Welt in einen Raum hätten zusammengebracht werden können, so würden sie nicht zahlreicher erscheinen können. Sie verabscheuten ihn alle, und unter den Millionen, die ihn anstarrten, war nicht ein einziges freundliches oder mitleidvolles Auge für ihn. Er stand auf einem erhöhten Gerüste unter seinem eigenen Webestuhl und betrachtete die Gestalt, die der Webestuhl annahm. Er hörte die Leichenfeier ganz deutlich über sich abhalten und er wußte wohl, daß er sich da befinde, um hingerichtet zu werden. In einem Augenblick war das, worauf er gestanden hatte, unter ihm zusammengebrochen, und es war aus mit ihm.

Durch welches Wunder er zu seiner gewöhnlichen Lebensweise und zu den ihm bekannten Plätzen wieder zurückkehrte, das vermochte er nicht zu enträtseln. Er befand sich aber, der Himmel weiß wie, wieder an jenen Plätzen, aber mit dem Fluch beladen, weder in dieser noch in der andern Welt, durch alle undenkbaren Ewigkeiten hindurch, jemals Rachaels Gesicht wieder zu sehen oder ihre Stimme zu hören. Indem er unaufhörlich hin und her irrte, um ein unbekanntes Etwas aufzusuchen (er wußte bloß, daß er verdammt sei, es aufzusuchen), war er von einem namenlosen fürchterlichen Grauen, einer tödlichen Furcht vor einer gewissen Gestalt beherrscht, die alle Dinge annahmen. Was er immer betrachten mochte, verwandelte sich früher oder später in jene Gestalt. Sein jammervolles Dasein drehte sich einzig darum, zu verhindern, daß nicht jemand von den verschiedenen Leuten, die ihm begegneten, sie erkennen möchte. Vergebliche Mühe! Wenn er sie aus den Zimmern entfernte, wo sie sich befand, wenn er Kasten und Schränke verschloß, wo sie war, wenn er die Neugierigen von den Stellen entfernte, wo er sie verborgen wußte, und sie auf die Straße führte, so nahmen selbst die Schornsteine der Mühlwerke jene Gestalt an und rund um sie stand der Name gedruckt.

Der Wind blies abermals, der Regen schlug auf die Giebel der Häuser und die größeren Räume, die er durchstreift hatte, schrumpften zu den vier Wänden seines Zimmers zusammen. Mit der Ausnahme, daß das Feuer erloschen war, befand sich da alles wie vorher, als er seine Augen geschlossen hatte. Rachael schien auf dem Stuhl am Bette eingeschlummert zu sein. Sie saß in ihrem Schal eingehüllt vollkommen ruhig da. Der Tisch stand an derselben Stelle, dicht beim Bett, und darauf befand sich, mit seinen wirklichen Verhältnissen und in seinem wahren Äußern das, was er so oft geschaut.

Er meinte den Vorhang sich bewegen zu sehen. Er sah abermals hin und war jetzt gewiß, daß er sich bewege. Er nahm jetzt eine Hand wahr, die zum Vorschein kam und ein wenig herumtastete. Dann bewegte sich der Vorhang sichtbarer, das Weib im Bette schob ihn zurück und richtete sich empor. Mit ihren jammervollen Augen, die so graß und wild, so matt und weit offen waren, blickte sie im ganzen Zimmer umher, und streifte den Winkel, wo er auf einem Stuhle schlief. Ihr Blick kehrte wieder zu jenem Winkel und sie hielt die Hand vor die Augen, wie um sie zu beschatten, während sie nach dem Winkel sah. Sie schweiften abermals im Zimmer umher, bemerkten kaum Rachael und kehrten wieder zu jenem Winkel zurück. Er meinte, als sie diese wieder beschattete – nicht sowohl um auf ihn zu sehen, als um nach ihm zu sehen mit dem tierischen Instinkte, daß er da sei – daß keine einzige Spur von dem Weibe, das er vor achtzehn Jahren geheiratet hatte, in jenen wüsten Zügen oder in dem Geiste, der sich in ihnen kundgab, zurückgeblieben sei. Hätte er sie zu diesem Zustande nicht stufenweise heruntersinken gesehen, so würde er nie haben glauben mögen, daß sie die gleiche sei.

Während dieser ganzen Zeit war er bewegungs- und kraftlos und war nur imstande, sie zu bewachen.

Schläfrig hinbrütend oder mit ihrem trüben Hirn sich über nichts unterhaltend, saß sie eine kurze Weile und hielt die Hände an die Ohren. Alsbald jedoch begann sie wieder herumzustieren. Jetzt ruhten ihre Augen zum erstenmal auf dem Tisch, wo sich die Flaschen befanden. Flugs wandte sie ihre Augen mit herausforderndem Trotz, wie sie ihn vorige Nacht gehabt, zurück nach dem Winkel. Dann streckte sie sehr vorsichtig und sacht ihre schmierige Hand aus. Sie nahm einen Becher zu sich ins Bett und saß eine Weile nachdenkend da, welche von den beiden Flaschen sie wählen sollte. Endlich griff sie unsinnigerweise nach der Flasche, die schnellen und gewissen Tod in sich barg, und riß vor seinen Augen den Stöpsel mit den Zähnen heraus.

Traum oder Wirklichkeit, er war nicht der Stimme mächtig und besaß auch nicht Kraft genug, um sich zu bewegen. Wenn das Wirklichkeit ist und ihre bestimmte Zeit ist noch nicht da, wache, Rachael, wache!

Sie dachte auch daran. Sie blickte Rachael an und goß den Inhalt ganz sachte und höchst vorsichtig ein. Der Trank war an ihren Lippen. Einen Augenblick, und sie wäre rettungslos verloren gewesen, käme auch die ganze Welt mit all ihrer Macht herbei, um über sie zu wachen. In demselben Augenblicke fuhr Rachael mit einem unterdrückten Schrei empor. Die Kreatur rang, schlug sie und faßte sie bei den Haaren; Rachael hatte jedoch den Becher ihr entrissen.

Stephen rief von seinem Stuhle aus: »Rachael, wache oder träume ich in dieser schrecklichen Nacht?«

»Geht alles gut, Stephen. Ich selbst war eingeschlafen! Es ist gleich drei. St! Ich höre die Glocke.«

Der Wind brachte den Schall der Kirchenuhr ans Fenster. Sie horchten auf, und es schlug drei. Stephen blickte sie an, sah wie bleich sie war, bemerkte die Unordnung ihres Haars und die roten Fingerspuren auf ihrer Stirn und war nun gewiß, daß seine Gesicht- und Gehörsinne wach gewesen waren. Sie hielt noch immer den Becher in der Hand.

»Ich dachte, es müsse nah an drei sein«, sagte sie, indem sie den Becher in das Becken ruhig ausleerte und das Linnen wie früher wieder eintauchte. »Ich bin froh, daß ich geblieben bin. Wenn ich das aufgelegt habe, ist alles getan. Da – jetzt ist sie wieder ruhig. Die wenigen Tropfen im Becken will ich ausschütten, das ist zu schlechtes Zeug, um es so herumstehen zu lassen, wenn auch noch so wenig davon.« Während sie das sagte, ließ sie das Becken in die Asche beim Feuer abtropfen und zerbrach die Flasche am Herde.

Sie hatte dann nichts mehr zu tun, als sich in den Schal zu hüllen, ehe sie in Wind und Regen hinausging.

»Du wirst mich doch um diese Stunde mit dir gehen lassen, Rachael?«

»Nein, Stephen, es dauert nur eine Minute, und ich bin zu Hause.«

»Du fürchtest dich nicht«, sagte er mit leiser Stimme, als sie auf die Türe zugingen, »mich mit ihr allein zu lassen!«

Stephen riß sich vom Stuhl los: »Bin ich wach oder träume ich, Rachael, in dieser entsetzlichen Nacht?«

Wie sie ihn nun ansah und »Stephen« ausrief, sank er auf den schlichten, ärmlichen Treppen vor ihr auf die Knie nieder und drückte einen Zipfel ihres Schals an die Lippen.

»Du bist ein Engel. Gott mit dir! Gott mir dir!«

»Ich bin, wie ich dir gesagt habe, Stephen, deine arme Freundin. Engel sind nicht wie ich. Zwischen ihnen und einer sündigen Arbeiterin besteht ein tiefer Abgrund. Mein Schwesterlein ist unter ihnen, aber sie ist ganz gewandelt.«

Sie erhob ihre Augen für einen Moment, als sie diese Worte aussprach: dann senkte sie sie wieder mit ihrer ganzen Milde und Sanftheit auf sein Gesicht.

»Du hast mich vom Schlechten zum Guten geleitet. Du erregst in mir den demütig frommen Wunsch, dir mehr gleich zu werden und die Furcht, dich zu verlieren, wenn dieses Leben vorüber und die ganze Komödie dahin ist. Du bist ein Engel; es dürfte wohl sein, daß du meine Seele bei Lebzeiten gerettet hast.«

Sie blickte ihn an, wie er ihren Schal noch in der Hand hielt und zu ihren Füßen kniete. Der Verweis erstarb auf ihren Lippen, als sie das Zucken seiner Gesichtszüge wahrnahm.

»Ich kam verzweiflungsvoll nach Hause. Ich kam ohne Hoffnung nach Hause, und der Gedanke machte mich wie verrückt, daß, wenn ich eine Klage laut werden ließe, sie mich für eine unverständige »Hand« halten würden. Ich sagte dir, daß ich einen Schrecken gehabt hatte. Es war die Giftflasche auf dem Tisch. Ich habe nie einem lebendigen Geschöpf was zu Leide getan – da ich aber so rasch darauf stieß, dachte ich: Wer weiß, was ich mir selbst oder ihr oder uns beiden angetan hätte!«

Mit schreckensbleichem Gesicht legte sie ihm die Hände auf den Mund, um ihn davon abzuhalten, noch mehr zu sagen. Er nahm ihre Hände in seine freien Hände und hielt sie fest, indem er sich fortwährend an ihren Schal klammerte und hastig ausrief:

»Aber ich sah dich, Rachael, beim Bett sitzen. Ich habe dich während dieser ganzen Nacht gesehen. In meinem unruhigen Schlaf wußte ich auch noch, daß du da bist. Ich werde dich immer da sehen. Ich werde sie niemals sehen oder ihrer gedenken, ohne daß du an ihrer Seite sein wirst. Ich werde niemals etwas sehen, das mich zornig machen kann oder daran denken, ohne daß du, die du um so vieles besser bist als ich, danebenstehen wirst. Und nun will ich versuchen, der Zeit entgegenzusehen, und will auch versuchen, derzeit zu vertrauen, wo du und ich endlich weit dahin gehen werden, jenseits des tiefen Abgrunds, in das Land, wo dein Schwesterlein weilt.«

Er küßte abermals den Zipfel ihres Schals und ließ sie gehen. Sie wünschte ihm mit gebrochener Stimme gute Nacht und ging hinaus auf die Straße. Der Wind blies von der Seite, wo der Tag bald anbrechen sollte, und blies noch immer heftig. Er hatte den Himmel von Wolken freigefegt. Der Regen hatte sich erschöpft oder zog nach andern Orten, und die Sterne schienen hell. Er stand mit entblößtem Haupte auf der Straße und sah ihr nach, wie sie rasch verschwand. Wie die schimmernden Sterne sich verhielten zum trüben Licht im Fenster, so verhielt sich Rachael in der rauhen Phantasie dieses Mannes zu den gewöhnlichen Erfahrungen seines Lebens.

Einleitung.


Einleitung.

Den Roman »Schwere Zeiten« (Hard times) schrieb Dickens um 1853, zu einer Zeit, als er bereits auf der Höhe seines Ruhmes und seines meisterlichen Könnens stand. Warmherzige Menschlichkeit zu predigen und die Sprache des Gemütes und der Seele höher zu stellen als alle bloße kalte Verstandesweisheit, wird Dickens seit »Oliver Twist« nicht müde. »Schwere Zeiten« richtet sich vor allem gegen die trockene seelenlose Tatsachengelehrsamkeit. Man könnte als Motto über den Roman Goethes Worte aus der Schülerszene des »Faust« setzen:

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie
Und grün des Lebens goldner Baum.«

Insbesondere wandte sich Dickens gegen die Auswüchse der Manchester-Schule und ihrer Lehren vom rücksichtslosen wirtschaftlichen Egoismus. Er zeigt sich dabei diesmal weniger als Satiriker, sondern als der scharfe Beobachter und Menschenkenner. So malt er lebenswahr und ergreifend die Welt der Tatsachenmenschen und Verstandesegoisten: den brutalen, herzlosen Emporkömmling, den Fabrikanten Bounderby, der eitel, unbeherrscht und selbstsüchtig zum Tyrannen gegen die Arbeiter seiner Unternehmungen wird, und sein Gegenspiel Mr. Gradgrind; aber dieser Mann hat im Grunde ein menschlicher Empfindungen fähiges Herz. Er ist nur ein Opfer der zeitlichen Mode geworden, die mit Statistiken und Zahlen die Geheimnisse des Lebens glaubt meistern zu können, und die alle Phantasie und alles blühende Schöpfertum der Seele als ungehörig und belanglos ablehnt. So erzieht Gradgrind seine beiden Kinder Luise und Tom in dem erkältend nüchternen Sinn reiner Verstandesmechanik. Die Folge ist, daß er seiner Tochter alle Sicherheit und alles Glück ihrer Jugend zerstört, sein Sohn aber zum skrupellosen Verbrecher wird. Die feine, menschlich tiefe psychologische Entwicklung der dargestellten Menschen, ihres Wirkens und Leidens ist von Dickens mit unübertrefflicher Meisterschaft gegeben. Zuletzt offenbart sich darin Dickens schöner unbeirrter Glaube an die Weltgerechtigkeit, daß er zum Schluß die Sache des Guten siegen läßt. Die furchtbaren Folgen der verkehrten lebenstötenden Erziehung muß der alte Gradgrind unerbittlich auskosten, aber Reue und die Hoffnung, daß über die in schweren Zeiten geprüften und geläuterten Menschen eine bessere Zukunft heraufziehen möge, gibt dem Roman einen versöhnenden Ausklang. Erschütternd lebensecht ist daneben die Welt der gebundenen, in schwerem Werktagslos dahinlebenden Massen der trostlosen Fabrikstädte gesehen.

Hier erweist sich Dickens als ein Vorgänger Zolas und seiner großen sozialen Romane. Daneben sind dann einzelne Typen mit erfrischender Satire gezeichnet, so die vornehme Madame Sparsit, die den verarmten und entarteten Adel darstellt, der sich schmarotzend mit Emporkömmlingen vom Schlage Bounderbys und ähnlichen Industriellen verband. Sehr »interessant« (das Wort in seiner vollsten Bedeutung genommen) ist auch der Vertreter des Snobs, Mr. Harthouse, der amoralische Genußmensch, der das Leben in all seinen Gewöhnlichkeiten durchschaut, der an nichts als eben an diese Gewöhnlichkeit glaubt.

Was diesem Roman unvergängliche Frische verleiht, ist die lebendige Kraft, die noch immer von ihm ausströmt. Die Bounderbys und Gradgrinds wandeln noch immer unter uns. Und immer noch bemüht sich der technisierende nüchterne Verstand, allen Frühling des Herzens und der Phantasie totzuschlagen. Deshalb können die »Schweren Zeiten« auch unserer Generation als Mahnung zur Einkehr, zur Selbstbesinnung wärmstens empfohlen werden.

Bei der Textrevision bin ich von Dr. Eva Thaer freundlichst unterstützt worden.

P. Th. H.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

»Nun, was ich brauche, das sind Tatsachen. Bringen Sie diesen Knaben und Mädchen nichts als Tatsachen bei. Im Leben bedarf man nur der Tatsachen. Pflanzen Sie nichts anderes ein und entwurzeln Sie alles übrige. Den Geist vernunftbegabter Tiere können Sie nur durch Tatsachen bilden; nichts anderes wird ihnen je von Nutzen sein. Nach diesem Grundsatz erziehe ich meine eigenen Kinder und nach dem gleichen Grundsatz erziehe ich diese Kinder. Halten Sie sich an Tatsachen, mein Herr.«

Der Schauplatz bestand aus einem kahlen, schmucklosen und einförmigen Raum von Schulzimmer, und der plumpe Zeigefinger des Sprechers verlieh dessen Bemerkungen Nachdruck, indem er jeden Satz mit einer Linie am Ärmel des Schulmeisters unterstrich. Der Nachdruck wurde erhöht durch des Sprechers plumpe, mauerartige Stirn, die sich schwer über dessen Augenbrauen erhob. Seine Augen fanden gleichsam ein bequemes Kellergeschoß in zwei dunklen Höhlen, die von der Mauer beschattet wurden. Der Nachdruck wurde erhöht durch den Mund des Sprechers, der dünn, breit und scharf gezeichnet war. Der Nachdruck wurde erhöht durch die Stimme des Sprechers, die unbiegsam, trocken und herrisch klang. Der Nachdruck wurde erhöht durch das Haar des Sprechers, das sich borstenartig an den Enden seines kahlen Kopfes wie eine Pflanzschule von Tannen emporsträubte, um den Wind von dessen schimmernder Oberfläche abzuhalten. Diese war, der Kruste einer Rosinenpastete gleich, ganz mit Knoten bedeckt, als ob der Kopf kaum genug Lagerraum für die harten Tatsachen hätte, die in seinem Innern aufgespeichert lagen. Das stöckische Benehmen, der plumpe Rock, die plumpen Beine und die plumpen Schultern des Sprechers – ja, sein Halstuch sogar, das in seiner unbiegsamen Tatsächlichkeit so zusammengezogen war, um ihn bei der Kehle mit einem unnachgiebigen Griffe zu fassen – das alles erhöhte den Nachdruck.

»In diesem Leben haben wir nichts als Tatsachen nötig, mein Herr: nichts als Tatsachen.«

Der Sprecher und der Schulmeister samt der dritten erwachsenen Person, die zugegen war, alle zogen sich nunmehr etwas zurück und ließen ihre Augen über die geneigte Ebene kleiner Gefäße schweifen, die hier und da in Ordnung aufgepflanzt waren, bereit, mit richtig gemessenen Gallonen von Tatsachen vollgeschüttet zu werden, bis sie bis zum Rand gefüllt wären.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Ich wage zu glauben, daß die Engländer ein ebenso geplagtes Volk sind wie alle andern unter der Sonne. Diesem komischen Glauben rechne ich es zu, warum ich ihm etwas mehr Erholung wünschen möchte.

Es gibt in dem am schwersten arbeitenden Teile von Coketown innerste Werke dieser häßlichen Zitadelle, aus der die Natur ebenso nachdrücklich ausgesperrt, wie Gase und tödliche Dünste hineingesperrt werden. Das ist ein Zentrum von Labyrinth mit engen Höfen über Höfen, mit schmalen Gassen über Gassen, die alle stückweise ins Leben gerufen wurden, ein jedes Stück in gewaltiger Eile für irgend jemands Gebrauch, und das Ganze eine unnatürliche Familie bildend, die sich gegenseitig zu Tode drängt, tritt und quält. In diesem letzten stumpfen Winkel dieses großen unerschöpflichen Reservoirs sind die Rauchfänge aus Mangel an Luftzug in unendlicher Mannigfaltigkeit von verkrüppelten und krummen Gestalten erbaut, als ob jedes Haus ein Zeichen aushinge, was für Leute darin geboren werden dürften. Unter diesem hier hausenden Volke von Coketown, das man mit dem Sammelnamen ›die Hände‹ bezeichnet, einem Geschlecht, das bei gewissen Leuten weit mehr in Gunst gestanden hätte, wenn es durch die Vorsehung bloß als ›Hände‹, oder gleich den niedrigeren Tieren der Meeresküste, bloß als ›Hände und Magen‹ geschaffen wäre, lebte ein gewisser Stephen Blackpool, der vierzig Jahre alt war.

Stephen sah älter aus; er hatte aber auch ein saures Leben gehabt. Man sagt, jedes Leben hat seine Rosen und Dornen. Den Stephen ließ aber ein Unfall oder Mißgeschick dessen eigene Rosen durch andere ernten, während ihm die Dornen dieses andern als Zugabe zu den seinen vermacht wurden. Er hatte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, ein schwer Stück Kummer kennengelernt. Man nannte ihn gewöhnlich den alten Stephen in einer Art konsequenter Huldigung vor dieser Tatsache.

Der alte Stephen mochte wohl, bei seiner gebückten Haltung, mit seiner runzeligen Stirn und seinem streng aussehenden, klobigen Kopf, der von eisengrauem, langem und dünnem Haar bedeckt war, für einen besonders intelligenten Mann in seinem Stand gehalten werden. Dennoch war er es nicht. Er nahm keinen Platz unter jenen bemerkenswerten »Händen« ein, die viele Jahre hindurch, ihre Mußezeit zusammenraffend, mancher schwierigen Wissenschaft Meister wurden und eine Kenntnis der ungewöhnlichsten Dinge sich angeeignet hatten. Er gehörte nicht zu den »Händen«, die Reden halten und Debatten führen konnten. Tausende seiner Genossen waren imstande, zu jeder beliebigen Zeit viel besser zu sprechen als er. Er war ein guter Maschinenweber und ein vollkommen redlicher Mann. Was er mehr war, oder ihm sonst noch eigen war, das möge er selbst zeigen, wenn es überhaupt vorhanden.

Die Lichter in den großen Fabriken, die, wenn sie erleuchtet waren, wie Feenpaläste aussahen – wie die mit Luxus-Expreß-Reisenden wenigstens behaupten – waren sämtlich ausgelöscht, und die Glocken zur Einstellung der Arbeit für die Nacht waren erklungen und wieder verhallt. Die »Hände«, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen trappelten nach Hause. Der alte Stephen stand in der Straße mit der sonderbaren Empfindung, die das Stillestehen der Maschinen immer hervorbrachte – einer Empfindung, als wenn die Maschinen auch in seinem Kopfe arbeiteten und stilleständen.

»Ich sehe noch immer Rachael nicht!« sagte er.

Die Nacht war naß, und manche Gruppe junger Frauen eilte an ihm vorbei, die Umhängetücher um das bloße Haupt geschlagen und diese unter dem Kinn dicht, damit sie den Regen abhielten. Er mußte Rachael wohl kennen; denn ein flüchtiger Blick auf die Vorbeigehenden sagte ihm, daß sie sich nicht unter ihnen befinde. Endlich waren alle vorbeigegangen, die kommen konnten. Er wandte sich um und meinte mit einem Ton der Enttäuschung: »Nun, so muß ich sie eben verfehlt haben.«

Er hatte aber noch nicht drei Straßen durchkreuzt, als er wieder eine verhüllte Gestalt voraneilen sah. Er strengte seinen Blick so an, daß vielleicht ihr bloßer, auf dem nassen Pflaster undeutlich reflektierter Schatten – wenn er nur diesen ohne die Gestalt selbst hätte sehen können, die längs der Lampenreihe bald deutlicher sichtbar wurde, bald verschwand – schon genügt hätte, um ihm zu sagen, wer es sei. Er änderte seinen Schritt rasch in einen schnelleren und sachteren, eilte vorwärts, bis er ganz in der Nähe der Gestalt war. Dann nahm er wieder seinen früheren Gang an und rief: »Rachael«

Sie wandte sich um und stand nun gerade im Lampenschimmer. Sie schob das Umschlagetuch ein wenig zurück und zeigte ein ruhiges ovales Gesicht von dunkler Farbe und ziemlich zartem Ausdruck, das von einem Paar äußerst sanfter Augen belebt und durch ihr wohlgeordnetes schwarzglänzendes Haar hervorgehoben wurde. Das Gesicht stand sonst nicht mehr in erster Jugendblüte; sie war eine Frau von fünfunddreißig Jahren.

»Ach, Stephen, bist du’s?« Das sagte sie mit einem Lächeln, das sich ganz deutlich zeigte, obwohl nur ihre lieblichen Augen sichtbar waren. Sie zog das Kopftuch wieder zusammen, und beide schritten miteinander fort.

»Ich dachte, du wärest noch hinter mir, Rachael?«

»Nein.«

»Bist heut zeitig fertig?«

»Ich bin manchmal etwas früher fertig, Stephen, manchmal etwas später. Ich kann es nie genau bestimmen, wann ich heimgehe.«

»Auch nicht, ob man den andern Weg einschlägt, wie es mir scheint, Rachael?«

»Nein, Stephen.«

Er betrachtete sie enttäuscht, zugleich aber mit ehrfurchtsvoller, geduldiger Überzeugung, daß sie in allem, was sie täte, recht haben müsse. Dieser Blick war ihr nicht unbemerkt geblieben; sie legte ihre Hand für einen Augenblick sacht auf seinen Arm, um ihm ihren Dank dafür auszudrücken.

»Wir sind so treue Freunde, Stephen, und so alte Freunde, und fangen jetzt an, alte Leute zu werden.«

»Nein, Rachael, du bist so jung wie du je gewesen.«

»Es würde keinem von uns beiden recht sein, daß man alt würde, Stephen, ohne daß der andere ebenfalls alt würde, wenigstens so lange nicht, wie wir beide zusammen leben«, erwiderte sie lachend. Auf jeden Fall sind wir aber so alte Freunde, daß es jammerschade und eine Sünde wäre, wenn wir uns nicht aufrichtig die Wahrheit sagten. Es ist besser, wenn wir nicht zu viel zusammengehen, zuweilen, ja! denn es wäre wirklich gar zu schlimm, wenn es gar nicht mehr geschehen sollte«, fügte sie mit einer Heiterkeit hinzu, die auch ihn heiter stimmen sollte.

»Es ist allemal hart, Rachael.«

»Versuch‘ nicht daran zu denken, dann wird es schon besser.«

»Hab‘ das schon lang genug versucht, und ist nicht besser geworden. Aber du hast recht; die Leute könnten reden, sogar über dich. Du bist mir seit vielen Jahren so viel gewesen, du hast mir soviel Gutes getan und durch dein heiteres Wesen mir selbst soviel Lebensmut gegeben, daß dein Wort für mich Gesetz ist. Ach Mädel, ein gern befolgtes, freundliches Gesetz! Besser als manches wirkliche Gesetz.«

»Laß dich ja nicht mit Gesetzen ein, Stephen«, antwortete sie rasch, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf sein Gesicht. »Laß die Gesetze Gesetze sein.«

»Ja«, sagte er mit einem langsamen Kopfnicken. »Laß sie Gesetze sein. Laß alles sein. Laßt alle Dinge für sich. Es ist Hokuspokus und nichts weiter.«

»Immer Hokuspokus?« fragte Rachael mit einer zweiten leisen Berührung seines Armes, als wollte sie ihn aus der Melancholie reißen, in die er so versunken war, daß er im Gehen an den langen Enden seines losen Halstuchs kaute. Er ließ die Zipfel los, wandte sich freundlich zu ihr und sagte mit gutmütigem Lachen:

»Ah, Rachael, Mädel! Immer Hokuspokus, dabei bleib‘ ich. Ich komme oft und oft auf den Hokuspokus zurück und kann nie darüber hinauskommen.«

Sie waren schon eine Strecke gegangen und waren jetzt in der Nähe ihrer Wohnungen. Die der Frau kam zuerst. Die Wohnung lag in einer der vielen kleinen Straßen, für die der beliebte Leichenbesorger (der eine hübsche Summe aus diesem einzigen, ein bißchen armseligen Luxus der Nachbarschaft zog) eine schwarze Leiter bereithielt. Denn die, die zeit ihres Lebens täglich die schmalen Treppen hinauf- und hinuntergeklettert waren, sollten dann noch das Vergnügen haben, aus dieser Arbeitswelt einmal zum Fenster hinauszuspazieren. Sie stand an der Ecke still, legte ihre Hand in die seine und wünschte ihm gute Nacht.

»Gute Nacht, liebes Mädel, gute Nacht!«

Sie ging mit ihrer zierlichen Gestalt und ihrem gelassenen weiblichen Schritt die dunkle Straße hinab, und er stand da, ihr nachblickend, bis sie in eines der Häuschen verschwunden war. Es war nicht das leiseste Flattern ihres groben Umschlagtuches in den Augen dieses Mannes ohne Interesse und kein Ton ihrer Stimme ohne Echo in seinem inneren Herzen.

Als sie seinen Blicken entschwunden war, machte er sich wieder auf den Heimweg und blickte ein paar Mal zum Himmel empor, wo die Wolken rasch und wild dahinsegelten. Nun waren sie zerrissen, der Regen hatte aufgehört, der Mond guckte durch die hohen Schornsteine von Coketown in die tiefen Oefen hinunter und zeichnete die titanischen Schatten der nun ruhenden Dampfmaschinen auf den Mauern ab, die sie einschlossen. Unser Mann schien, wie er so dahinging, mit der Nacht heiterer zu werden. Seine Wohnung lag in einer andern Straße, die der früheren ähnlich und nur noch schmaler war und befand sich oberhalb eines kleinen Ladens. Wie es eigentlich kam, daß es die Leute der Mühe wert fanden, dort ihre armseligen Spielwaren zu kaufen oder zu verkaufen, in dem Laden, dessen Schaufenster zugleich billige Zeitungen und Schweinefleisch enthielt (den folgenden Abend sollte eine Keule ausgewürfelt werden), das braucht hier nicht erörtert zu werden. Er nahm einen Lichtstumpf von dem Gesims, zündete ihn an einem andern Lichtstumpf auf dem Ladentisch an, ohne die Eigentümerin zu stören, die in ihrem kleinen Zimmer eingeschlafen war, und ging in seine Wohnung hinauf.

Es war ein Zimmer, bei dessen verschiedenen vorangegangenen Bewohnern die schwarze Leiter mehrfach zu Gast gewesen war, sah aber jetzt so nett aus, wie ein solches Zimmer nur hergerichtet werden konnte. Einige Bücher und Schreibpapier lagen auf einem Schreibtisch in der Ecke; die Möbel waren vollständig, und obgleich die Zimmerluft dumpfig war, so sah das Zimmer doch rein aus.

Er ging zum Herd, um das Licht daneben auf einen dreibeinigen runden Tisch zu stellen. Dabei stolperte er über einen Gegenstand. Als er zurückfuhr, um ihn zu betrachten, erhob dieser sich. Es war eine Frau, die da gesessen hatte.

»Um’s Himmels willen, Weib«, rief er und fuhr vor der Gestalt noch weiter zurück. »Bist du wieder zurückgekommen?«

Was für ein Weib! Ein krüppelhaftes, betrunkenes Geschöpf, das bloß imstande war, in der sitzenden Stellung sich aufrecht zu erhalten. Sie stützte sich mit der einen schmutzigen Hand auf dem Boden, mit der andern versuchte sie vergeblich, sich das wirre Haar aus dem Gesicht zu streichen. Aber die schmutzige Hand machte auch das Haar nur noch schmutziger. Ein Geschöpf, in ihrer moralischen Verkommenheit nur noch um so viel schmutziger, daß es schon eine Schmach war, sie auch nur anzublicken.

Nachdem sie einige ungeduldige Flüche ausgestoßen und sich mit der Hand, die zu ihrer Unterstützung nicht nötig war, sich einfältig gekratzt hatte, war endlich das Haar genugsam aus ihrem Gesichte entfernt, um ihn zu erblicken. Dann saß sie da, den Leib hin- und herschaukelnd und machte mit ihrem schlaffen Arm Bewegungen, als sollten die das Lachen begleiten, was sie befiel, während ihr Gesicht einen dummen und schläfrigen Ausdruck zeigte.

»Nun, Junge, bist du auch da?« Einige heisere Töne, die das ausdrücken sollten, entfuhren ihr endlich höhnisch. Dann sank ihr Kopf vorwärts auf die Brust.

»Wieder zurück?« kreischte sie nach einigen Minuten, als ob er es in diesem Augenblick erst gesagt hätte. »Ja! Und wieder zurück, immer und immer so oft. Zurück? Ja, zurück. Warum nicht?«

Durch die Heftigkeit, mit der sie das ausrief, munter gemacht, krabbelte sie in die Höhe und stand da, sich mit den Schultern an der Wand stützend. Dabei hing ihr in der einen Hand ein Bruchstück von Hut, und sie suchte den Mann durchbohrend anzublicken. »Ich werde dich wieder ausverkaufen und ich werde dich wieder ausverkaufen und ich werde dich ein dutzendmal ausverkaufen«, rief sie mit einer Gebärde, die halb wie eine rasende Drohung, halb wie ein herausfordernder Tanz aussah. »Fort von meinem Bett!« Er saß auf dessen Rand und barg das Gesicht in den Händen. »Geh‘ fort davon! Es ist mein Eigentum: ich habe ein Recht darauf.«

Als sie darauf zuwankte, wich er ihr mit Schaudern aus und ging – das Gesicht immer bedeckt – nach dem entgegengesetzen Ende des Zimmers. Sie warf sich schwerfällig aufs Bett und fing bald tüchtig zu schnarchen an. Er sank auf einen Stuhl und bewegte sich in jener Nacht nur einmal. Er tat es, um noch eine Decke über sie zu werfen, als ob die Hände vor seinen Augen selbst ihm in der Dunkelheit nicht genügten, um sie seinen Augen zu verbergen.

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Noch vor Morgengrauen standen die »Feenpaläste« alle zugleich in voller Beleuchtung, und man konnte die monströsen Rauchschlangen sehen, die sich über Coketown hinwälzten. Klappern von Holzschuhen auf dem Straßenpflaster, hastiges Schellen der Glocken und all die melancholisch-wahnsinnigen Elefanten, die für die Monotonie des Tages poliert und geölt waren, alle Maschinen stampften wieder in ihrer schwerfälligen Tätigkeit.

Stephen neigte sich über seinen Webstuhl, ruhig, wachsam und anhaltend. Er bildete wie jeder, der in diesem Wald von Webstühlen gleich ihm arbeitete, einen scharfen Kontrast zu dem rasselnden, ratternden und aufreibenden Mechanismus, mit dem er beschäftigt war. Fürchtet nicht, ihr guten Leute mit einem ängstlichen Gemüt, daß die Natur von der Kunst in Vergessenheit gestoßen werden könnte. Stellet Gottes Werk und Menschenwerk nebeneinander, und das erste wird, wenn es auch nur aus einer Truppe »Hände« von sehr geringer Bedeutung besteht, im Vergleich als das weitaus Würdigere erscheinen.

Vierhundert und noch mehr »Hände« in diesem Mühlwerk – zweihundertundfünfzig Pferdekräfte. Man weiß bis zum letzten Pfund anzugeben, wieviel die Maschine zu leisten vermag. Sämtliche Berechner der Nationalschuld aber können nicht die Fähigkeit zum Guten oder Bösen, zur Liebe oder zum Haß, zum Patriotismus oder zur Rebellion, zur Verwandlung der Tugend in Laster oder zum Gegenteil, in der Seele eines dieser stillen Arbeiter mit den gesetzten Mienen und den sicheren Bewegungen, auch nur für einen einzigen Augenblick angeben. In der Maschine liegt kein Geheimnis, in diesen aber – selbst in den Geringsten von ihnen – ruht ein ewiges, undurchdringliches Mysterium. – Wie wäre es, wenn wir die Arithmetik für materielle Gegenstände reservierten und bei diesen hehren unbekannten Größen andere Hilfsmittel in Anwendung brächten?

Der Tag ward heller und zeigte sich draußen, trotz der drinnen schimmernden Lichter. Diese wurden gelöscht und die Arbeit ward fortgesetzt. Der Regen fiel und die Rauchschlangen wälzten sich, dem Fluche dieses ganzen Stammes sich unterwerfend, über die Erde. Im Hofe draußen aber war der Dampf aus dem Abzugsrohr, das Durcheinander von Fässern und altem Eisen, die glitzernden Kohlenhaufen und selbst die herumgestreute Asche von einem Regen- und Nebelschleier umhüllt.

Die Arbeit ward fortgesetzt, bis die Mittagsglocke ertönte. Vermehrtes Klappern auf dem Straßenpflaster. Der Weberstuhl, die Räder und Hände wurden sämtlich für eine Stunde außer Tätigkeit gesetzt.

Stephen kam aus dem heißen Mühlwerk, verstört und erschöpft, in den feuchten Wind und in die naßkalten Straßen. Er verließ seine Kameraden und sein eigenes Viertel. Er nahm nur ein Stück Brot auf dem Weg zu sich und wandte sich gegen einen Hügel, wo sein Prinzipal in einem roten Haus lebte. Das Haus hatte schwarze Fensterläden von außen, grüne Jalousien von innen, eine schwarze Haustür, zu der zwei weiße Stufen führten. »Bounderby« (mit Buchstaben, die ihm sehr ähnelten) stand auf dem Metallschild zu lesen, und unter diesen befand sich ein runder, metallener Türgriff, der wie ein ehernes »Punktum« aussah.

Mr. Bounderby befand sich beim Gabelfrühstück. Stephen hatte das erwartet. Ob sein Diener ihm ankündigen wollte, daß einer der »Hände« um die Erlaubnis bäte, ihn zu sprechen? Als Antwort die Anfrage, wie der Name dieser »Hand« laute. Stephen Blackpool. Gegen Stephen Blackpool lag nichts Mißliebiges vor – ja, er dürfte kommen.

Stephen Blackpool im Sprechzimmer. Mr. Bounderby (den er bloß vom Ansehen kannte) beim Gabelfrühstück mit Hammelkotelett und Sherry beschäftigt. Mrs. Sparsit am Kamin mit einer Stickerei beschäftigt. Sie sitzt wie eine Dame zu Pferde, mit einem Fuß in einem Bügel von Baumwollgarn. Es gehörte zu Mrs. Sparsits Würde und dienstlicher Stellung, selbst kein Gabelfrühstück zu nehmen. Sie beaufsichtigte das Mahl offizieller Weise, gab jedoch vor, daß sie bei der Vornehmheit ihrer Person dieses zweite Frühstück für eine Schwäche halte.

»Nun, Stephen«, sagte Mr. Bounderby, »was gibt’s mit Euch?«

Stephen machte eine Verbeugung. Keine knechtische – diese »Hände« werden sich nimmer dazu verstehen! Gott bewahre, mein Herr, Sie werden sie nie darauf ertappen, wenn sie auch zwanzig Jahre um Sie gewesen sind! – Und um sich für Mrs. Sparsit artig-angemessen zu verbeugen, stopfte er die Enden seines Halstuches in die Weste.

»Nun, Ihr wißt«, sagte Mr. Bounderby, indem er etwas Sherry nahm, »wir hatten nie Schwierigkeiten mit Euch und Ihr gehörtet nie zu denen, die unbillige Forderungen stellten. Ihr erwartet nicht, in einem sechsspännigen Wagen zu stolzieren und Schildkrötensuppe und Wildbret mit goldenen Löffeln zu essen, wie es so viele andere treiben.« Mr. Bounderby stellte das immer als das einzige, unmittelbare und direkte Streben einer »Hand« dar, die nicht vollständig zufrieden war, »und deshalb bin ich auch überzeugt, daß Ihr nicht gekommen seid, um eine Klage vorzubringen. Nun wißt Ihr, daß ich dessen im voraus gewiß bin.«

»Nein, Sir, ich bin gewiß wegen so etwas nicht gekommen.«

Mr. Bounderby schien, trotz seiner früheren festen Überzeugung, angenehm davon überzeugt zu sein. »Sehr gut«, entgegnete er, »Ihr seid eine solide ›Hand‹, ich habe mich also nicht getäuscht. Nun, laßt mich alles hören, was es gibt. Da es nicht jenes ist, so laßt mich hören, was es gibt. Was habt Ihr zu sagen? Heraus damit, Stephen!«

Stephen warf zufällig einen Blick auf Mrs. Sparsit. »Ich kann mich entfernen, Mr. Bounderby, wenn Sie es wünschen«, sagte diese sich aufopfernde Lady, und tat so, als ob sie den Fuß aus dem Steigbügel nehmen wollte.

Mr. Bounderby hielt sie zurück, indem er einen Mundvoll Hammelkotelette in der Schwebe hielt, ehe er ihn verschluckte, und dabei seine linke Hand ausstreckte. Nachdem er seine Hand zurückgezogen und den Bissen verschluckt hatte, sagte er zu Stephen:

»Nun, Ihr müßt wissen, daß diese gute Lady eine geborene Lady ist, eine hochgestellte Lady. Ihr müßt nicht glauben, daß sie, weil sie jetzt meinen Haushalt beaufsichtigt, nicht hoch auf dem Baume sich befunden – ach, auf dem Gipfel des Baumes! Wenn Ihr nun etwas zu sagen habt, das nicht vor einer Lady von Geburt gesagt werden kann, so wird diese Lady das Zimmer verlassen. Habt Ihr jedoch etwas zu sagen, das vor einer Lady von Geburt wirklich gesagt werden kann, so wird diese Lady bleiben, wo sie ist.«

»Sir, ich glaub‘, ich hab‘ nie nichts zu sagen gehabt, das nicht vor einer Lady von Geburt gesagt werden kann, seit ich selbst geboren bin«, lautete die Antwort mit einem leichten Erröten.

»Sehr gut«, sagte Mr. Bounderby, indem er den Teller von sich stieß und sich zurücklehnte. »Also los!«

»Ich bin gekommen«, fing Stephen nach kurzem Nachdenken an, indem er seine Augen erhob, »um mir bei Ihnen Rat zu holen. Brauche nicht gar zu viel. Neunzehn Jahre sind es her, seit ich an einem Ostermontag bin verheiratet worden. Sie war ein junges Mädchen, ziemlich hübsch und hatte guten Ruf. Gut! Fing bald an umzuschlagen. War nicht meine Schuld. Weiß Gott, bin kein schlechter Ehemann für sie gewesen.«

»Ich habe das alles schon früher gehört«, sagte Mr. Bounderby. »Sie geriet in fremde Gesellschaft, ergab sich dem Trunk, verließ die Arbeit, verkaufte die Möbel, versetzte die Kleider und gebärdete sich ganz rechthaberisch.«

»Ich hatte Geduld mit ihr.«

»Desto dummer von Euch«, meinte Mr. Bounderby vertraulich zu seinem Weinglas.

»Ich hatte viel Geduld mit ihr. Ich suchte sie davon abzubringen – nochmals und nochmals. Probierte dies, probierte jenes und probierte was anderes. Kam oft nach Hause und fand alles verschwunden, was ich in der lieben Welt besaß, und sie selbst ohne einen leisen Gedanken bewusstlos am Boden liegen. Das passierte nicht einmal – nicht zweimal – sondern zwanzigmal.«

Jeder Zug seines Gesichts vertiefte sich, wie er so sprach, und spiegelte auf rührende Weise die Leiden ab, die er ertragen.

»Vom Regen in die Traufe und immer schlimmer als je. Sie verließ mich. Sie machte sich überall zuschanden, ganz entsetzlich. Sie kam zurück, kam wieder und wieder. Was konnt ich tun, um sie daran zu hindern? Ich bin ganze Nächte durch die Straßen gerannt, nur um nicht nach Hause zu gehen. Bin zur Brücke gegangen, um darüber zu springen und alles los zu sein. Ich habe gar so vieles ertragen, woran ich nicht dachte, als ich jung war.«

Mrs. Sparsit, die die Stricknadeln leicht hin und her bewegte, erhob die römischen Augenbrauen und schüttelte mit dem Kopfe, als wollte sie sagen: »Die vornehmen Leute kennen Beschwerden sowohl wie die kleinen. Sehen Sie doch – natürlich in aller Bescheidenheit! – mich an.«

»Ich gab ihr Geld, um sie von mir fernzuhalten. Fünf Jahre lang hab‘ ich ihr Geld gegeben. Ich habe mir wieder anständiges Hausgerät angeschafft. Ich habe ein schweres und trübes Leben geführt, brauch mich aber keiner einzigen Minute zu schämen. Vorige Nacht ging ich nach Hause. Da lag sie auf dem Fußboden. Da ist sie nun!«

In der Gewalt seines Unglücks und in der Stärke seines Elends loderte er für einen Augenblick einem stolzen Manne gleich auf. Im nächsten Augenblick stand er da, wie er bisher dagestanden – in seiner gewöhnlichen gebückten Stellung. Sein nachdenkliches Gesicht war gegen Mr. Bounderby mit einem sonderbaren Ausdruck gerichtet, der halb klug und halb verlegen war, als ob er etwas höchst Schwieriges hätte enträtseln wollen. Den Hut hielt er fest in seiner linken Hand und stützte diese in seine Hüfte. Sein rechter Arm gab seinen Worten durch eine rauhe Eigentümlichkeit und Kraft in seinem Gebärdenspiel ernsthaften Nachdruck, was nicht weniger geschah; nicht am wenigsten, wenn er ihn etwas gebogen hielt, sobald er im Reden pausierte.

»Ich habe das alles, wie Ihr wisst«, sagte Mr. Bounderby, »mit Ausnahme des letzten Vorfalles, schon längst gewusst. Es ist eine schlimme Geschichte – ja, das ist es. Ihr hättet lieber mit Eurem Stand zufrieden sein und nicht heiraten sollen. Es ist indessen zu spät, das zu sagen.«

»War es hinsichtlich des Alters eine ungleiche Heirat, Sir?« fragte Mrs. Sparsit.

»Ihr hört, was diese Lady fragt. War diese schlimme Angelegenheit eine ungleiche Heirat hinsichtlich des Alters?« sagte Bounderby.

»Nicht so ganz. Ich selbst war einundzwanzig und sie noch nicht ganz zwanzig.«

»Wirklich, Sir«, sagte Mrs. Sparsit mit großer Gelassenheit zu ihrem Obern. »Ich schloss daraus – daß es eine so unglückliche Heirat ist, daß eine Altersverschiedenheit dabei obgewaltet haben müsse.«

Mr. Bounderby blickte die gute Lady scharf von der Seite an mit einem komisch-dummen Mienenspiel. Er stärkte sich hierauf mit etwas Sherry.

»Nun? Warum fahrt Ihr nicht fort?« fragte er, etwas ärgerlich gegen Stephen Blackpool gewendet.

»Ich habe Sie fragen wollen, Sir, wie ich mir das Weib vom Hals schaffen kann.« Stephen verlieh dem vermischten Ausdruck seines aufmerksamen Gesichtes einen noch tieferen Ernst. Mrs. Sparsit stieß einen leisen Ausruf aus, als hätte sie einen moralischen Stoß erlitten.

»Was meint Ihr?« fragte Mr. Bounderby, der aufgestanden war, um sich mit dem Rücken gegen den Kamin zu lehnen. »Wovon sprecht Ihr? Ihr habt sie aufs Geratewohl genommen?«

»Ich muß sie loswerden. Ich kann es nicht länger mehr ertragen. Ich hab‘ nur darum solange dabei existieren können, weil ich das Mitleid und den Trost eines Mädchens hatte, des besten unter den lebenden oder toten. Vielleicht hab‘ ich es nur ihr zu verdanken, daß ich nicht verrückt geworden bin.«

»Er will frei werden, um, wie ich fürchte, das Frauenzimmer zu heiraten, von dem er spricht, Sir!« bemerkte Mrs. Sparsit mit gedämpfter Stimme, höchst betrübt über die Sittenlosigkeit dieser Leute.

»Das will ich. Die Lady hat richtig gesprochen. Das will ich. Ich wollte das selbst noch sagen. Ich hab‘ in den Zeitungen gelesen, daß die Großen (denen es wohl ergehen möge – ich wünsche ihnen nichts Schlimmes) nicht aufs Geratewohl so fest miteinander verbunden sind, daß sie ihre unglücklichen Ehen nicht wieder auflösen könnten, um nochmals zu heiraten. Wenn sie sich nicht gut vertragen, weil sie ein ungleiches Temperament haben, so haben sie allerhand verschiedene Zimmer in ihren Häusern, und sie können abgesondert leben. Wir armen Leute haben nur ein Zimmer, und wir können das nicht. Wenn das nicht geht, so haben sie Gold und anderes Geld, und sie können sagen: ›Dies ist für mich und das für dich.‹ Dann kann ein jeder seine Wege gehen. Wir können das nicht. Trotz alledem können sie sich wegen kleinerer Ungerechtigkeiten freimachen, während Hunderte und aber Hunderte leiden müssen, und zwar mehr noch die Frauen als die Männer – sie können sich wegen kleinerer Unbilden, als die meinen sind, freimachen. Ich will nun mein Weib loswerden und möchte nun gern wissen, auf welche Weise?«

»Auf keine Weise!« erwiderte Mr. Bounderby.

»Wenn ich ihr etwas antue, gibt’s ein Gesetz, um mich zu bestrafen?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Wenn ich von ihr fortlaufe, gibt’s ein Gesetz, um mich zu bestrafen?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Wenn ich das andere liebe Mädchen heirate, gibt’s ein Gesetz, um mich zu bestrafen?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Wenn ich mit ihr lebte, ohne sie zu heiraten – den Fall angenommen, daß so etwas sein könnte, was eigentlich nie geschehen würde oder könnte, da sie so gut ist – gibt es ein Gesetz, mich in jedem unschuldigen Kinde zu bestrafen, das mir gehören würde?«

»Freilich gibt’s eins.«

»Zeigt mir nun, um Gottes willen«, rief Stephen Blackpool, »das Gesetz, womit mir zu helfen wäre.«

»Dieses Lebensverhältnis«, sagte Mr. Bounderby, »ist geheiligt und – und – muß aufrechterhalten werden.«

»Nein, nein – sagen Sie das nicht, Sir. In dieser Weise kann es nicht aufrechterhalten werden. Nicht in dieser Weise. In dieser Weise muß es zugrunde gehen. Ich bin ein Weber und kam schon als Kind in die Fabrik, aber ich habe Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Ich lese die Zeitungen – jede Gerichtsperiode, jede Sessionszeit – und Sie lesen sie auch – ich weiß es! – mit banger Besorgnis, wie die Unmöglichkeit, auf irgendeine Art von einander loszukommen, Blut über unser Land bringt und viele Ehepaare (ich sage aber, noch mehr die Frauen als die Männer) zu Kampf, Mord und Totschlag führt. Räumt uns doch dieses Recht ein. Mein Fall ist ein sehr trauriger, und ich möchte von Ihnen – wenn Sie so gut sein wollten – erfahren, welches Gesetz mir helfen könnte.«

»Ich will Euch nun was sagen«, bemerkte Bounderby, indem er die Hände in die Tasche steckte. »Es gibt ein solches Gesetz.«

Stephen nickte mit dem Kopf, indem er in seine frühere Ruhe versank und aufmerksam hinhorchte.

»Aber es ist durchaus nichts für Euch. Es kostet Geld. Kostet eine ungeheure Summe.«

»Wie viel würde das sein?« fragte Stephen ruhig.

»Nun, Ihr müsstet zu dem Gerichtshof für Ehesachen mit dem Prozess gehen, dann müsstet Ihr zu dem Common Law mit einem Prozess gehen, und Ihr müsstet zum Oberhaus mit einem Prozess gehen – dann müsstet Ihr einen Berechtigungsschein des Parlaments zu erlangen suchen, daß ihr wieder heiraten dürft. Das würde Euch (wenn der Wind günstig bläst), wie ich glaube, an tausend bis fünfzehnhundert Pfund kosten«, sagte Mr. Bounderby. »Vielleicht die doppelte Summe.«

»Gibt’s kein anderes Gesetz?«

»Auf keinen Fall.«

»Nun denn, Sir«, sagte Stephen erblassend und machte mit der rechten Hand eine Bewegung, als gäbe er alles den vier Wänden preis. »Es ist alles Hokuspokus. Es ist alles zusammen nichts als Hokuspokus, und je früher ich sterbe, desto besser ist’s.«

(Mrs. Sparsit war jetzt von neuem über die Gottlosigkeit dieser Leute in Betrübnis versetzt.)

»Ach was! sprecht keinen Unsinn, mein Lieber«, sagte Mr. Bounderby, »von Dingen, die Ihr nicht versteht, und nennt die Institutionen Eures Landes nicht Hokuspokus, oder Ihr werdet eines schönen Morgens selbst in ein Hokuspokus geraten. Die Institutionen Eures Landes sind nicht Eure Angelegenheit, und das einzige, worum Ihr Euch zu kümmern habt, ist, Eure Arbeit zu besorgen. Eure Frau ist Euch nicht durch ein betrügerisches Spiel zugefallen, sondern Ihr habt sie aus freien Willen genommen. Wenn sie sich schlecht bewährt – nun, alles was uns zu sagen übrig bleibt, ist, daß sie sich eben besser hätte bewähren sollen.«

»Hokuspokus«, sagte Stephen mit einem Kopfschütteln, als er sich der Tür näherte – »es ist alles Hokuspokus.«

»Ich will Euch nun was sagen«, fuhr Mr. Bounderby in einer Abschiedsermahnung fort. »Mit Euren Gesinnungen, die ich als ruchlos bezeichnen muß, habt Ihr diese Lady vollständig empört, die, wie ich Euch bereits gesagt habe, eine Lady von Geburt ist, und die, wie ich Euch noch nicht gesagt habe, ihre eigenen Unglücksfälle in der Ehe gehabt hat, die sich auf zehntausend Pfund beliefen – auf, sage und schreibe zehntausend Pfund (er wiederholte es mit großem Behagen). Bis jetzt seid Ihr nun eine solide ›Hand‹ gewesen, meine Meinung ist aber, und das will ich Euch geradezu sagen, daß Ihr anfangt, eine schlechte Bahn einzuschlagen. Ihr habt irgendeinem boshaften Fremden oder sonst jemandem Gehör geschenkt – sie sind immer dabei – und das beste, was Ihr tun könnt, ist, Euch das alles aus dem Kopf zu schlagen. Nun, Ihr wisst nun«; hier nahm sein Gesicht einen Ausdruck besonderer Schläue an, »ich kann ebenso tief in einen Schleifstein gucken wie jeder andere – ja, noch tiefer als viele andere Leute, weil mir die Nase in meiner Jugend tüchtig gerieben wurde. Ich wittere etwas von Schildkrötensuppe, Wildbret und goldenen Löffeln. Ja, das tue ich«, rief Mr. Bounderby, den Kopf in seiner hartnäckigen Schlauheit schüttelnd. »Weiß der Himmel, das tue ich.«

Mit einem ganz andern Kopfschütteln und tiefem Seufzer sagte Stephen: »Ich danke Ihnen, Sir. Guten Tag.«

So verließ er Mr. Bounderby, der sich vor seinem Bilde an der Wand aufblähte, als wollte er sich hineinexplodieren. Mrs. Sparsit aber strickte weiter, mit ihrem Fuß im Steigbügel und ganz betrübt über die Laster des Volkes.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Stephen Blackpool stieg die zwei weißen Stufen herab und schloss die schwarze Tür mit dem metallenen Türschild. Er tat das, indem er das messingene Punktum anzog und gab diesem zum Abschied mit seinem Rockärmel noch eine kleine Politur; denn er merkte, daß es von seiner warmen Hand angelaufen war. Mit zur Erde gesenktem Blick ging er über die Straße und schritt kummervoll dahin, als er sich plötzlich am Arm berührt fühlte.

E« war nicht die Berührung durch die Hand, die er in einem solchen Augenblick am meisten ersehnt hätte – die Berührung, die die aufgeregten Wogen seiner Seele hätte beschwichtigen können, wie die erhobene Hand der höchsten Liebe und Geduld das Toben des Meeres dämpfen konnte – und doch war es die Berührung einer Frauenhand. Seine Augen fielen, als er stillstand und sich umwandte, auf eine alte Frau, die von hoher Gestalt und noch stattlich war, obgleich die Zeit sie schon hatte verblühen lassen. Ihre Kleidung war sehr reinlich und einfach, der Staub der Landstraße haftete an ihren Schuhen – sie musste eben von einer Fußreise gekommen sein. Ihre Aufgeregtheit in dem ungewohnten Straßenlärm – der ärmliche Schal, den sie über dem Arm trug – der schwerfällige Regenschirm und der kleine Korb – die weiten Handschuh, an die ihre Hände nicht gewöhnt waren – alles verriet eine alte Frau vom Lande, die in den einfachen Sonntagskleidern nach Coketown kam, um, wie es gewiß selten geschah, irgend etwas hier zu besorgen.

Stephen Blackpool bemerkte das alles mit der schnellen Beobachtungsgabe seiner Klasse, neigte sein aufmerksames Gesicht – sein Gesicht, das wie die Gesichter so vieler seines Standes, durch anhaltendes Arbeiten mit Augen und Händen inmitten eines ungeheuren Lärms, einen konzentrierten Blick sich angeeignet hatte, den wir im Antlitz tauber Menschen gewöhnlich antreffen – zu ihr nieder, um sie besser zu verstehen.

»Bitte, mein Herr«, sagte die Alte, »Hab‘ ich Euch nicht aus dem Hause jenes Gentleman kommen sehen?« Dabei deutete sie nach der Besitzung von Mr. Bounderby. »Ich glaube. Ihr wart es, wenn ich nicht das Mißgeschick hatte, mich in der Person zu irren, der ich nachfolgte.«

»Ja, liebe Frau«, erwiderte Stephen, »ich war’s.«

»Habt Ihr – entschuldigt gefälligst die Neugier einer alten Frau – habt Ihr den Herrn gesehen?«

»Ja, liebe Frau.«

»Und wie sah er aus, mein Herr? War er bei Kräften, frisch, gesund und munter?«

Sie richtete sich mit dem Kopf in die Höhe, um ihre Gebärden ihren Worten anzupassen. Da durchkreuzte Stephen der Gedanke, daß er diese Frau schon früher gesehen, und daß sie ihm damals unsympathisch gewesen sei.

»O ja«, antwortete er, sie aufmerksamer betrachtend, »er war das alles.«

»Und gesund«, fragte die Alte, »wie der frische Wind?«

»Ja«, entgegnete Stephen, »er aß und trank so vernehmlich und derb wie eine dicke Hummel.«

»Danke«, sagte die Alte mit unendlicher Zufriedenheit. »Danke sehr.«

Er hatte die alte Frau früher wohl nie gesehen. Dennoch schwebte ihm die unbestimmte Erinnerung vor, als habe er schon mehr als einmal von einer ähnlichen alten Frau geträumt.

Sie schritt neben ihm her, und ihre frohe Laune übertrug sich auf ihn. Er bemerkte, daß Coketown ein betriebsamer Ort sei, nicht wahr? Worauf sie zur Antwort gab: »Ei, gewiß, schrecklich betriebsam.« Dann sagte er, sie komme vom Lande, wie er sehe? Das bejahte sie.

»Mit dem Frühschnellzug. Ich kam vierzig Meilen mit dem Frühschnellzug heute, und vierzig Meilen werde ich heute nachmittag wieder zurücklegen. Ich ging heute morgen zu Fuß neun Meilen zu der Eisenbahnstation, und wenn ich auf meinem Weg niemanden finde, der mich mitnimmt, so werde ich dieselben neun Meilen am Abend wieder zurücklegen. Da« ist bei meinem Alter ein schönes Stück Arbeit, Sir!« sagte die alte Frau, mit fröhlich leuchtenden Augen.

»Sicherlich. Aber so oft könnt Ihr das kaum, liebe Frau?«

»Nein, nein. Einmal im Jahr«, antwortete sie kopfschüttelnd, »gebe ich auf diese Weise meine Ersparnisse aus, nur einmal jedes Jahr. Ich komme regelmäßig, um durch die Straßen zu eilen und die Herren zu sehen.«

»Bloß um sie zu sehen?« fragte Stephen.

»Das genügt mir«, antwortete sie mit großem Ernst und merkwürdigem Eifer. »Ich verlange nicht mehr. Ich habe hier auf dieser Seite gestanden, um jenen Herrn«, hier drehte sie den Kopf abermals nach Mr. Bounderbys Wohnung um, »herauskommen zu sehen. Aber er verweilt lange dieses Jahr, und ich habe ihn nicht erblickt. Ihr kamt statt seiner heraus. Wenn ich nun zurückgehen muß, ohne einen Blick auf ihn geworfen zu haben – ich bedarf nur eines Blickes – so hilft das nichts. Ich habe Euch gesehen und ich muß damit zufrieden sein.« Während sie das sagte, betrachtete sie Stephen, als wolle sie sich seine Gesichtszüge einprägen, wobei ihre Augen den früheren Glanz verloren hatten.

So sehr er den verschiedenen Geschmack auch gelten ließ und so unterwürfig er auch gegen die Patrizier von Coketown war, so schien ihm das doch ein außergewöhnliches Interesse zu sein, daß sich jemand wegen solcher Sache so viel Mühe gab. Er ward ordentlich verwirrt davon. Sie kamen gerade an der Kirche vorüber, und da er die Uhr erblickte, beschleunigte er seinen Schritt.

»Es geht wohl zur Arbeit?« fragte die Alte, indem sie leichterweise auch den ihren beschleunigte. Ja, die Zeit war beinahe um. Als er ihr mitteilte, wo er arbeitete, wurde die Alte eine noch seltsamere Alte als früher.

»Seid Ihr nicht glücklich?« fragte sie ihn.

»Nun – es gibt – niemanden, der nicht seine Sorgen hat, Frau«, antwortete er ausweichend: denn die Alte schien es für ausgemacht zu halten, daß er in der Tat sehr glücklich sein müsse, und er hatte nicht das Herz, sie zu enttäuschen. Er wußte, daß es des Ungemachs in der Welt genug gebe, und wenn die Alte schon solange gelebt hatte und darauf rechnen konnte, daß ihm nur so wenig davon zuteil geworden, nun, um so besser für sie und nicht schlimmer für ihn.

»Ja, ja! Ihr habt wohl häuslichen Kummer?« fragte sie.

»Manchmal. Dann und wann eben«, antwortete er leichthin.

»Aber wenn ihr bei einem solchen Herrn in Arbeit steht, so folgt Euch der Kummer doch nicht in die Fabrik?«

»Nein, nein, er folgt mir nicht dahin«, sagte Stephen. »Da ist alles ohne Tadel, alles in Ordnung.« (Er ging nicht soweit, um zu ihrem Vergnügen zu bemerken, daß eine Art göttlichen Rechtes daselbst obwalte: wir haben freilich neuerdings ähnliche herrliche Behauptungen verlauten hören.)

Sie befanden sich nun in der schwarzen Seitengasse, in der Nähe der Fabrik, wohin die »Hände« sich drängten. Die Glocke schellte, und die Schlange war eine Schlange von verschiedenen Windungen, und der Elefant machte sich bereit. Die sonderbare Alte schien selbst von der Glocke entzückt zu sein. Es war die allerschönste Glocke, die sie je vernommen, und klang großartig.

Sie fragte ihn, als er vor seinem Eintreten gutmütig anhielt, um ihr die Hand zu schütteln, wie lange er hier schon arbeite?

»Ein Dutzend Jahre«, sagte er.

»Ich muß die Hand küssen«, sagte sie, »die in dieser schönen Fabrik ein Dutzend Jahre gearbeitet.« Sie zog sie empor, obgleich er sie daran hindern wollte, und führte sie an die Lippen. Die Einfalt ihres Wesens konnte er sich bei ihrem Alter und ihrer Einfachheit nicht erklären; aber selbst in diesem phantastischen Benehmen lag ein gewisses Etwas, das weder für Zeit noch Ort unschicklich war, ein gewisses Etwas, von dem es schien, als ob sonst niemand ein gleiches so ernsthaft und mit so natürlicher und rührender Art hätte tun können.

Eine volle halbe Stunde hatte er, über diese Alte in Nachdenken versunken, an seinem Webstuhl gesessen. Als er nun für irgendeine Zurichtung sich umwenden musste und einen Blick durch das Fenster in der Ecke warf, sah er sie noch vor dem Gebäude in Bewunderung versunken dastehen. Unbekümmert um Rauch, Kälte und Nässe und ihre zwei langen Reisen, staunte sie das Haus an, als ob das schwerfällige Knarren, das aus seinen vielfachen Stockwerken ertönte, wie rauschende Musik in ihren Ohren klänge.

Endlich war sie fort, und der Tag folgte ihr, und die Lichter erglänzten wieder, und der Expresstrain flog angesichts der Feenpaläste über die Schwibbogen in raschem Fluge vorüber: wenig ward inmitten des Maschinengeklappers davon gespürt, und bei dem Krachen und Knarren wurde kaum etwas gehört. Seine Gedanken waren indessen zu seinem trübseligen Zimmer über dem kleinen Laden und zu der schmachvollen Gestalt zurückgeeilt, die schwer auf dem Bette, noch schwerer aber ihm auf dem Herzen lag.

Die Maschinen erschlafften – schlugen schwach wie ein ermattender Puls – hielten inne. Abermals die Glocke – der Lichtschimmer und die Hitze verschwanden – die Fabriken sahen in der schwarzen, nassen Nacht düster darein – und ihre hohen Schornsteine erhoben sich in die Luft gleich den Türmen von Babel.

Es ist wahr, daß er mit Rachael erst am vorigen Abend gesprochen hatte und ein wenig mit ihr gegangen war. Nun lag aber das neue Unglück auf ihm, wobei ihm sonst niemand auch nur für einen Augenblick Trost zu gewähren vermochte. Darum, und auch weil er wußte, daß er eine Besänftigung für seinen zornigen Unmut nötig hatte, und weil er weiter wußte, wie ihn schon ihre Stimme trösten konnte, glaubte er, er dürfe gegen ihren Wink handeln und auf sie warten. Er wartete, aber sie hatte ihn getäuscht. Sie war bereits fort. An keinem Abend des ganzen Jahres kam es ihm so schwer an, ihr sanftes Gesicht zu entbehren.

Oh! Wahrlich besser, keinen häuslichen Herd besitzen, wohin man sein müdes Haupt legen kann, als einen wirklich haben und wegen solcher Gründe sich scheuen, ihn zu betreten. Er aß und trank, denn er war erschöpft – aber er wußte nicht was, noch kümmerte er sich darum. Er irrte in dem kalten Regen umher, immerfort sinnend und sinnend und brütend und brütend.

Kein einziges Wort über eine zweite Heimat war je zwischen ihnen gewechselt worden. Aber Rachael hatte ihm seit Jahren Mitleid bewiesen: und ihr allein hatte er während dieser ganzen Zeit sein gedrücktes Herz über die Ursache seines Elends erschlossen. Er wußte wohl, daß, wenn er um ihre Hand anhalten dürfte, sie ihm diese nicht verweigern würde. Er dachte an den häuslichen Herd, zu dem er im jetzigen Augenblick mit Stolz und Vergnügen geeilt wäre – welch ein anderer Mann er jetzt gewesen, wie leicht es ihm dann um das Herz gewesen wäre, das jetzt so schwer beladen war. Er dachte an die wiederhergestellte Ehre, an Selbstachtung und Ruhe –was jetzt alles zerstört war. Er dachte an den Verlust seiner besten Lebenszeit, an den Wechsel, der in seinem Charakter in jeder Beziehung zum Schlechten stattgefunden, an die schreckliche Art seines Daseins, da er mit Hand und Fuß an ein totes Weib gebunden war, da ihn ein Dämon in ihrer Gestalt folterte. Er dachte an Rachael, wie jung sie war, als sie sich zum ersten Mal unter solchen Umständen begegneten, wie herangereift sie jetzt war, und wie bald sie alt werden sollte. Er dachte an die Mädchen und Jungfrauen, die sie zum Altar hatte schreiten sehen, wie viele Familien sie kannte, in denen die Kinder heranwuchsen; wie sie sich trotz allem zufrieden gab, ihren ruhigen, einsamen Pfad weiterging, nur um seinetwillen. Er erinnerte sich, wie er zuweilen den Schatten der Melancholie über ihr freundliches Gesicht hat schweben sehen, was ihn mit Gewissensqualen und Verzweiflung erfüllte. Er stellte sich ihr Bild neben der schmachvollen Erscheinung von der vergangenen Nacht vor und dachte: Ist es möglich, daß die ganze irdische Laufbahn eines so sanften, guten und sich aufopfernden Wesens von so einem erbärmlichen Geschöpf, wie jene ist, abhängig sein sollte!

Erfüllt von diesen Gedanken – so sehr erfüllt, daß er ein seltsames Gefühl eigenen Zersprengtwerdens empfand, als träte er in eine neue und krankhafte Beziehung zu den Dingen, die ihn umgaben, und als sähe er den Lichtkreis von jedem Nebellicht rot glänzen – ging er Obdach suchend nach Hause.