Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Die Gestalt kam die große Treppe herab, Schritt für Schritt; und neigte sich fortwährend, gleich einer Last im tiefen Wasser, dem schwarzen Schlund im Abgrunde zu.

Mr. Gradgrind, von dem Hinscheiden seiner Frau in Kenntnis gesetzt, kam von London herüber und begrub sie in geschäftsmäßiger Weise. Mit Pünktlichkeit kehrte er dann wieder zum nationalen Aschenhaufen zurück und nahm das Sichten seines Quarkes wieder auf. Er begann wieder Sand in die Augen jener Leute zu streuen, die ihren eigenen Quark traten. Kurz, er lag wieder seinen parlamentarischen Pflichten ob.

Mrs. Sparsit hielt indessen rastlos Wache. Während der ganzen Woche von ihrer Treppe geschieden, durch die Länge des Eisenbahnweges, der Coketown von dem Landhause trennte, setzte sie dennoch ihre katzenartige Beobachtung Luises fort. Sie besorgte das durch deren Mann, durch deren Bruder, durch James Harthouse, durch die Adressen der Pakete und Briefe, durch alles Lebendige und Leblose, das sich irgend der Treppe näherte: »Ihr Fuß ruht auf der letzten Stufe, Mylady«, sagte Mrs. Sparsit, die herunterkommende Gestalt mit Beihilfe ihres drohenden Handschuhs begrüßend, »und all Ihre Kunst wird mich nicht täuschen!«

Sei es indessen Kunst oder Natur, der angeborene Grundzug von Luises Charakter, oder die Umstände, die diesem eingeimpft wurden – ihre besondere Verschlossenheit machte selbst den Scharfsinn einer Mrs. Sparsit zuschanden, während sie ihn herausforderte. Es gab Zeiten, wo Mr. James Harthouse an ihr irre ward. Es gab Zeiten, wo er in dem Gesicht nicht lesen konnte, das er so lange studiert hatte, und wo dieses alleinstehende Frauengeschöpf für ihn ein größeres Geheimnis war, als irgendein Weib in der Welt, das einen Kreis von schützenden Rittern um sich hat.

So verging die Zeit, bis es sich fügte, daß Mr. Bounderby, durch ein Geschäft, das seine Gegenwart anderwärts notwendig machte, für drei oder vier Tage abgerufen ward. Es war an einem Freitag, wo er dieses Mrs. Sparsit in der Bank mitteilte und hinzufügte:

»Sie werden morgen hinüberfahren, Ma’am, ganz wie sonst. Sie werden hinüberfahren, gerade als wenn ich da wäre. Das wird für Sie keinen Unterschied machen.«

»Bitte, Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit vorwurfsvoll, »darf ich Sie bitten, dergleichen nicht zu sagen. Ihre Abwesenheit wird für mich einen mächtigen Unterschied machen, Sir, wie Sie, glaube ich, recht wohl wissen.«

»Gut, Ma’am, dann müssen Sie sich in meiner Abwesenheit so gut behelfen, wie Sie können«, sagte Bounderby nicht ungehalten.

»Mr. Bounderby«, entgegnete sie, »Ihr Wille ist für mich Gesetz, Sir; sonst wäre ich geneigt, gegen Ihre freundlichen Befehle zu protestieren. Denn ich weiß nicht, ob es Miß Gradgrind so angenehm sei, mich zu empfangen, wie das bei Ihrer großmütigen Gastfreundschaft der Fall ist. Sprechen Sie jedoch nichts mehr darüber, Sir, ich werde auf Ihre Einladung gehen.«

»Nun, wenn ich Sie in mein Haus einlade, Ma’am«, sagte Bounderby, die Augen aufreißend, »so sollte ich meinen, daß keine andere Einladung mehr nötig ist.«

»Wahrlich nicht, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit. »Ich sollte meinen, nein. Sprechen Sie nicht mehr darüber, Sir. Ich wollte, Sir, ich könnte Sie wieder fröhlich sehen.«

»Was meinen Sie, Ma’am?« schnaubte Bounderby.

»Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit, »es pflegte sonst eine Elastizität in Ihrem Wesen zu herrschen, die ich mit Betrübnis vermisse. Kopf hoch, Sir.«

Mr. Bounderby konnte vor dem Bann dieser wunderlichen Verschwörung, die von ihrem mitleidsvollen Blick unterstützt war, sich bloß in einer schwachen und lächerlichen Weise den Kopf kratzen, und später sich schon von weitem bemerklich machen, indem er den ganzen Morgen in seinen Geschäften polterte und rumorte.

»Bitzer«, sagte Mrs. Sparsit an jenem Nachmittag, als ihr Gönner die Reise antrat und die Bank geschlossen wurde, »bring‘ meine Empfehlungen dem jungen Mr. Thomas, und frage ihn, ob er heraufkommen könnte, um Lammsschnittchen mit Champignonsoße nebst einem Glas India-Ale zu genießen.« Der junge Mr. Thomas, der für so etwas immer zu haben war, sandte eine freundliche Antwort zurück und folgte ihr auf den Fersen. »Mr. Thomas«, sagte Mrs. Sparsit, »dieses einfache Mahl, so meinte ich, könnte Ihnen zusagen.«

»Danke, Mrs. Sparsit«, sagte der Bengel. Und fiel mürrischen Blickes darüber her.

»Wie geht es Mr. Harthouse, Mr. Tom?« fragte Mrs. Sparsit.

»O! dem geht’s gut!« sagte Tom.

»Wo mag er jetzt sein?« fragte Mrs. Sparsit in einer leichten Gesprächsweise, nachdem sie den Bengel in Gedanken zu allen Furien gewünscht hatte, weil er so unmitteilsam war.

»Er befindet sich auf der Jagd in Yorkshire«, sagte Tom. »Schickte gestern an Lu einen Korb, halb so groß wie eine Kirche.«

»Der liebe Mann!« sagte Mrs. Sparsit süß; »man möchte wetten, er ist ein guter Schütze.«

»Und ob!« sagte Tom.

Tom hatte sich längst nicht mehr dadurch ausgezeichnet, den Leuten gerade in die Augen zu sehen. Aber jetzt hatte diese Eigenart so zugenommen, daß er jemandem nicht drei Minuten hinter einander ins Gesicht sehen konnte. Mrs. Sparsit hatte demgemäß reiche Gelegenheit, seine Blicke zu beobachten, wenn sie sich dazu aufgelegt gefühlt hätte.

»Mr. Harthouse ist ein besonderer Liebling von mir«, sagte Mrs. Sparsit, »wie er es auch wahrlich bei den meisten Leuten ist. Dürfen wir hoffen, ihn bald wieder zu sehen, Mr. Tom?«

»Nun, ich erwarte ihn morgen wieder«, erwiderte der Bengel.

»Wie schön!« rief Mrs. Sparsit freudig.

»Ich soll ihn heute abend von der Bahn abholen«, sagte Tom, »und ich werde dann, denke ich, mit ihm essen. Er kommt eine Woche oder so was nicht zu Nickits hinunter, da er anderwärts beschäftigt ist. Wenigstens sagt er’s; ich würde mich aber nicht wundern, wenn er über den Sonntag hier bliebe und sich dorthin verliefe.«

»Das erinnert mich an was!« sagte Mrs. Sparsit. »Wollten Sie Ihrer Schwester eine Botschaft überbringen, Mr. Tom, wenn ich Sie darum bäte?«

»O ja, wenn sie nicht zu lang ist«, entgegnete der unwillige Bengel.

»Sie besteht bloß in meinem ehrerbietigen Gruß«, sagte Mrs. Sparsit, »und daß ich sie wahrscheinlich diese Woche mit meiner Gesellschaft nicht belästigen würde, da ich noch ein wenig nervös bin, und besser mit meinem armen Selbst allein bleibe.«

»O! wenn es nur das ist«, bemerkte Tom, »daran wäre nicht viel gelegen, selbst wenn ich’s vergessen sollte, denn Lu dürfte schwerlich an Sie denken, bis Sie vor ihr erscheinen.«

Nachdem er für das Genossene mit diesem angenehmen Kompliment gedankt hatte, verfiel er in ein mürrisches Stillschweigen, bis kein India-Ale mehr übrig war, worauf er sagte: »Nun, Mrs. Sparsit, ich muß fort«, und fortging.

Sonnabends, am nächsten Tage, saß Mrs. Sparsit die ganze Zeit über am Fenster und betrachtete die Kunden, die ein- und ausgingen. Sie beobachtete die Briefträger, überblickte den Handel und Wandel auf der Straße, überlegte viele Dinge in ihren Gedanken; vor allem aber richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Treppe.

Als der Abend kam, nahm sie Hut und Schal und ging ruhig aus, wobei sie ihre Gründe hatte, verstohlenerweise um den Bahnhof zu streichen, wo ein Passagier von Yorkshire ankommen sollte. Sie zog es vor, hinter Säulen und Ecken und von den Fenstern des Wartezimmers für Frauen aus Umschau zu halten, als sich frei in den Gängen zu zeigen.

Tom wartete und schlenderte umher, bis der erwartete Zug ankam. Er brachte keinen Mr. Harthouse. Tom wartete, bis die Menge sich zerstreute und der Lärm vorüber war. Dann wandte er sich zu den angeschlagenen Plänen der Züge und erkundigte sich bei den Gepäckträgern. Nachdem er dies getan, schlenderte er träge fort, hielt in der Straße inne, betrachtete dieselbe nach oben und unten, nahm den Hut ab und setzte ihn wieder auf, gähnte, reckte sich und stellte alle Symptome sterblicher Langeweile zur Schau, die man bei jemandem erwarten kann, der bis zur Ankunft des nächsten Zuges eine Stunde und vierzig Minuten harren muß.

»Das ist eine List, um ihn nicht als Augenzeuge zu haben«, sagte Mrs. Sparsit, indem sie von dem trüben Bureaufenster aufschoß, von wo sie ihn zuletzt bewacht hatte. »Harthouse ist jetzt bei seiner Schwester.«

Es war die Eingebung eines inspirierten Augenblickes, und sie eilte mit äußerster Schnelligkeit davon, die Eingebung ausführend. Der Bahnhof für das Landhaus befand sich am entgegengesetzten Ende der Stadt. Die Zeit war kurz, der Weg beschwerlich, allein sie bemächtigte sich rasch eines leeren Wagens, sprang rasch hinein, zahlte ihr Geld, ergriff ihr Billett und stürzte in den Zug, daß sie längs der Schwibbogen, die über das Land mit den ehemaligen und gegenwärtigen Kohlengruben sich aufspannten, so schnell weggeführt wurde, als ob sie in eine Wolke gehüllt und fortgewirbelt worden wäre. Während der ganzen Reise hatte Mrs. Sparsit ihre Treppe mit der herabsteigenden Gestalt unbeweglich in der Luft, obwohl nie zurückbleibend, deutlich vor den dunklen Augen ihres Geistes, wie sie die elektrischen Drähte, die am Himmel gleich den Linien auf Notenpapier sich dahinzogen, deutlich vor den dunklen Augen ihres Körpers hatte. Schon sehr nahe am Boden. Am Rande des Abgrundes.

Ein trüber Septemberabend sah bei einbrechender Nacht unter seinem sinkenden Augenlide Mrs. Sparsit aus ihrem Wagen gleiten, die hölzernen Stufen der kleinen Eisenbahnstation in eine steinige Straße hinuntergehen, von dieser in einen grünen Heckenweg sich begeben und daselbst unter Blättern und Zweigen verschwinden. Ein oder zwei verspätete Vögel, die schläfrig in ihren Nestern zirpten, und eine Fledermaus, die langsam auf sie zu und wieder zurückflog, und die Dunstwolke, die sich wie Samt anfühlte – das war alles, was Mrs. Sparsit hörte oder sah, bis sie sehr leise ein Gitter schloß.

Sie ging auf das Haus zu, sich immer im Gesträuch haltend, umkreiste es und lauschte zwischen den Blättern hindurch nach den niedrigen Fenstern. Die meisten derselben waren offen, wie gewöhnlich bei solchem warmen Wetter; es waren aber noch keine Lichter sichtbar, und es war alles still. Sie versuchte es mit dem Garten ohne besseren Erfolg. Sie dachte an das Gehölz und stahl sich dorthin, unbekümmert um das hohe Gras und die Sträucher, die Würmer, die nackten Gartenschnecken und all die kriechenden Geschöpfe. Mit den dunklen Augen und der Habichtsnase als Vorhut, arbeitete sich Mrs. Sparsit leise durch das dicke Unterholz. Sie war so erpicht auf ihre Beute, daß sie wahrscheinlich nichts weniger getan haben würde – wenn das Gehölz aus Nattern bestanden hätte.

Horch!

Die kleineren Vögel hätten aus ihren Nestern purzeln können, bezaubert von Mrs. Sparsits im Dunkeln schimmernden Augen, während diese Dame selbst stehenblieb und lauschte.

Leise Stimmen dicht in der Nähe. Seine Stimme und die ihre. Die Bestellung nach dem Bahnhof war also wirklich nur eine List, um den Bruder fern zu halten! Dort saßen sie, bei dem gefällten Baume.

Mrs. Sparsit schritt näher an sie heran, indem sie sich in das taubenetzte Gras niederbeugte. Dann richtete sie sich empor und stand hinter einem Baume, wie Robinson Crusoe in seinem Hinterhalte gegen die Wilden. Sie war ihnen jetzt so nahe, daß sie mit einem Sprung, und das nicht mit einem großen, die beiden hätte erreichen können. Er war heimlicherweise da und hatte sich nicht im Hause gezeigt. Er war zu Pferde gekommen und mußte die benachbarten Felder passiert haben; denn sein Pferd war auf der Wiesenseite der Hecke, nur einige Schritt entfernt, festgebunden.

»Mein liebstes Lieb«, sagte er, »was sollte ich machen?« War es für mich möglich, fernzubleiben, da ich dich allein wußte?«

»Du magst immerzu den Kopf hängen lassen, um dich anziehender zu machen – ich weiß nicht, was die Männer an dir sehen, wenn du ihn emporhältst«, dachte Mrs. Sparsit, »du denkst aber wenig daran, mein liebstes Lieb, welche Augen dich bewachen.«

Daß sie den Kopf hängen ließ, war gewiß. Sie drang in ihn, sich zu entfernen, sie befahl ihm, sich zu entfernen, aber sie wandte ihr Gesicht nicht gegen ihn und erhob es auch nicht. Dennoch war es merkwürdig, daß sie so ruhig saß, wie das liebenswürdige Weib im Hinterhalt sie zu jeder Zeit ihres Lebens hatte sitzen sehen. Ihre Hände ruhten ineinander, gleich den Händen einer Statue, und selbst ihre Redeweise war nicht hastig. »Mein liebes Kind«, sagte Harthouse; Mrs. Sparsit bemerkte mit Entzücken, daß er sie mit einem Arm umschlang, »willst du meine Gesellschaft nicht für kurze Weile erlauben?«

»Nicht hier.«

»Wo, Luise.«

»Nicht hier.«

»Aber wir haben so wenig Zeit für so vieles, und ich bin so weit hergekommen und bin zugleich so ergeben und verzweifelt. Es gab nie einen Sklaven, der zu gleicher Zeit so ergeben und von seiner Gebieterin so schlecht behandelt wurde. Es ist wahrhaft herzzerreißend, herbeigeeilt zu sein, um deinen sonnigen Gruß, der mir neues Leben gewährt, zu empfangen, und in deiner frostigen Weise aufgenommen zu werden.«

»Soll ich es abermals sagen, daß ich hier allein sein muß?«

»Aber wir müssen wieder zusammenkommen, meine liebe Luise. Wo sollen wir zusammenkommen?«

Sie fuhren beide empor. Die Lauscherin fuhr schuldbewußt ebenfalls empor; denn sie glaubte, es befinde sich noch jemand lauschend zwischen den Bäumen. Es war aber bloß der Regen, der in schweren Tropfen stark niederzuströmen begann.

»Soll ich in einigen Minuten nach dem Hause reiten, in der unschuldigen Voraussetzung, daß der Herr sich daselbst befinde und entzückt sein werde, mich zu empfangen?«

»Nein!«

Deine grausamen Befehle müssen blindlings befolgt werden, obgleich ich, wie ich glaube, der unglücklichste Mensch in der Welt bin, allen übrigen Frauen gegenüber unempfindlich gewesen zu sein, und endlich gedemütigt zu den Füßen der schönsten, anziehendsten und zugleich herrschsüchtigsten zu fallen. Meine teure Luise, ich kann es meinet- und deinetwillen nicht gestatten, daß du mit deiner Macht einen solchen Mißbrauch treibst.«

Mrs. Sparsit sah, wie er sie mit seinen Armen umschlang und zurückhielt. Sie hörte mit ihren gierigen Ohren, wie er ihr gestand, daß er sie liebte, und wie sie der Preis sei, für den er alles, was er besitze, mit glühender Leidenschaft aufs Spiel setzen würde. Alles, womit er sich kürzlich beschäftigt, stelle sich neben ihr als wertlos heraus – den Erfolg, der beinah in seiner Hand war, schleuderte er fort, da er im Vergleich mit ihr ein Nichts wäre. Aber er wollte dem Erfolg auf seiner Laufbahn weiter nachgehen, wenn er dadurch in ihrer Nähe bleiben könne. Er wolle auf ihn verzichten, wenn diese Laufbahn ihn von ihr entferne. Wenn sie mit ihm fliehe, wolle er fliehen. Er wolle völlig schweigen, wenn sie es ihm gebiete. Jedes Geschick, jedes Los solle ihm recht sein, wenn sie ihm nur angehören wolle. Ihm, dem Mann, der gesehen, wie verkannt sie sei, dem sie bei ihrer ersten Begegnung eine Bewunderung eingeflößt habe, wie er sich deren für unfähig hielt, dem sie ihr Vertrauen schenkte, der ihr ergeben sei und sie anbete – das alles und noch mehr prägte sich in Mrs. Sparsits Gedanken ein, während seiner Hast und der ihren, in dem Wirbel ihrer eigenen befriedigten Bosheit, in dem Schrecken entdeckt zu werden, bei dem rasch sich vergrößernden Getöse des Regens zwischen den Blättern und des heranziehenden Gewitters. Darauf eilte sie mit so großer Verwirrung und Unklarheit fort, daß sie, als er endlich über die Hecke klomm und sein Pferd wegführte, durchaus nicht gewiß war, wo und wann sie sich treffen sollten. Nur das hatte sie noch aufgeschnappt, daß sie bestimmt hatten, es solle noch in derselben Nacht geschehen.

Aber eine der beiden Gestalten blieb noch in der Dunkelheit vor ihr; und während sie deren Spuren folgte, mußte sie zurechtkommen. »O! mein liebstes Lieb!« dachte Mrs. Sparsit, »du denkst wohl wenig daran, wie gut beobachtet du bist!«

Mrs. Sparsit sah sie das Gehölz verlassen und in das Haus treten. Was sollte sie zunächst tun? Der Regen goß in Strömen. Mrs. Sparsits weiße Strümpfe spielten viele Farben, wobei die grüne vorherrschend war. In ihre Schuhe hatte sie Stachel bekommen. Raupen schlangen sich in selbstgewebten Hängematten von den Falten ihrer Kleider. Kleine Bäche strömten von ihrem Hute und von ihrer römischen Nase. In einem solchen Zustande befand sich Mrs. Sparsit verborgen in dem Dickicht, nachdenkend, was zu tun sei.

Sieh, Luise kommt aus dem Hause, in Hast eingehüllt und vermummt, sich wegstehlend. Sie läuft davon, sie stürzt von der letzten Stufe und wird von dem Abgrund verschlungen!

Gleichgültig gegen den Regen schlug sie mit raschem, entschlossenen Schritte einen Seitenweg ein, der mit dem Gebüsch in gleicher Richtung lief. Mrs. Sparsit folgte, nur in kurzer Entfernung, in dem Schatten der Bäume, denn es war nicht leicht, eine Gestalt im Gesicht zu behalten, die durch die schattenreiche Dunkelheit rasch dahineilte.

Als sie innehielt, um die Seitentür ohne Geräusch zu schließen, hielt auch Mrs. Sparsit inne; wie sie sich fortbewegte, bewegte sich auch Mrs. Sparsit fort. Sie schlug denselben Weg ein, auf dem Mrs. Sparsit gekommen war, verließ den grünen Heckenweg, ging über die steinige Straße und stieg die hölzernen Treppen zur Station hinauf. Mrs. Sparsit wußte, daß ein Zug nach Coketown augenblicklich ankommen mußte – sie wußte daher auch, daß Coketown ihr nächster Bestimmungsort sei.

Bei Mrs. Sparsits feuchtem und strömendem Zustande waren keine besonderen Vorsichtsmaßregeln nötig, um ihr gewöhnliches Aussehen zu verändern – sie blieb jedoch unter dem Schatten einer Mauer stehen, warf ihr Tuch in eine neue Form und band es um ihren Hut. Auf diese Weise verkappt, hatte sie keine Furcht, erkannt zu werden, als sie ihr auf den Stufen der Station nachfolgte und ihre Fahrkarte am Schalter bezahlte. Luise saß wartend in einer Ecke. Beide lauschten dem Donner, der laut dahinrollte, und dem Regen, der auf dem Dache plätscherte und auf die Brustwehren der Schwibbogen niederbrauste. Zwei bis drei Lampen waren von Wind und Regen ausgegangen, sie konnten daher beide vollkommen den Blitz wahrnehmen, wie er sich im Zickzack längs der eisernen Gleise hinschlängelte.

Ein plötzliches Zittern, das über die Eisenbahnstation kam, das sich bis zum Herzweh steigerte, kündete das Nahen des Zuges an. Feuer, Dampf, Rauch, rotes Licht, ein Zischen, ein Krachen, Schellen und ein greller Pfiff – Luise ward in einen Wagen geschoben, Mrs. Sparsit in einen andern, und die kleine Station war ein öder Fleck im Gewitter.

Mrs. Sparsit frohlockte, obgleich ihr die Zähne vor Nässe und Kälte im Munde klapperten. Die Gestalt war in den Abgrund hinabgesunken, und sie hatte das Gefühl, als bestatte sie den Leib. Konnte sie, die so tätig war, um den Leichenpomp herbeizuschaffen, weniger tun als frohlocken? Sie wird lange vor ihm in Coketown sein, so gut sein Pferd auch immer sein mag. Wo wird sie ihn erwarten? Und wohin werden sie zusammen gehen? Geduld! wir werden sehen.

Der fürchterliche Regen verursachte ein endloses Durcheinander, als der Zug an seinem Bestimmungsort hielt. Wasserrinnen und Brunnenröhren waren geplatzt, die Abteilungsgräben ausgetreten, und die Straßen standen unter Wasser. In dem ersten Augenblick des Aussteigens hatte Mrs. Sparsit ihre Augen auf die wartenden Kutschen geheftet, nach denen man sehr begehrte. »Sie wird in eine derselben steigen«, überlegte sie. »und wird davon sein, ehe ich in einer andern nachfolgen kann. Selbst auf die Gefahr hin überfahren zu werden, muß ich die Nummer sehen und den Befehl vernehmen, der dem Kutscher gegeben wird.«

Mrs. Sparsit hatte sich jedoch verrechnet. Luise bestieg keinen Wagen und war bereits fort. Die dunkelscharfen Augen, die auf den Waggon geheftet waren, in dem sie gereist war, fielen um einen Augenblick zu spät auf diesen. Da die Tür einige Minuten ungeöffnet blieb, ging Mrs. Sparsit an ihr vorüber und abermals vorüber, sah nichts, blickte hinein und fand das Abteil leer. Durch und durch naß, mit den Füßen klatschend und platschend in den Schuhen, wie sie sich bewegte, das klassische Gesicht von Regen triefend, mit einem Hut, der einer überreifen Feige gleichsah, an all ihren Kleidern ruiniert, mit feuchten Eindrücken jedes Knopfes, Bändchens und jeder Schnalle, die sie trug, auf ihren höchst vornehmen Rücken eingeprägt, mit einer kompakt-grünen Decke auf ihrem ganzen Äußern, wie man sie beim Zaune eines alten Parkes, an einem moderigen Wege bemerkt – war endlich Mrs. Sparsit nichts anderes übriggeblieben, als in bittere Tränen auszubrechen und auszurufen: »Ich hab‘ sie verloren!«

Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Die nationalen Gassenkehrer hatten sich – nachdem sie sich mit zahlreichen, geräuschvollen, kleinen Gefechten gegenseitig amüsiert – für jetzt zerstreut, und Mr. Gradgrind befand sich auf Ferien zu Hause.

Er saß in dem Zimmer mit der statistischen Totenuhr und schrieb; – ohne Zweifel, um irgend etwas zu demonstrieren – im allgemeinen, wahrscheinlich – daß der barmherzige Samariter ein schlechter Nationalökonom gewesen sei. Das Getöse des Regens störte ihn nicht viel. Es zog genugsam seine Aufmerksamkeit auf sich, um ihn zuweilen den Kopf erheben zu lassen, als wollte er gar gegen die Elemente auftreten. Wenn es sehr laut donnerte, warf er einen flüchtigen Blick auf Coketown, indem es ihm einfiel, daß manche hohe Schornsteine jetzt vom Blitz getroffen werden könnten.

Der Donner rollte in der Ferne, und der Regen strömte gleich einer Sündflut hernieder, als die Tür seines Zimmers aufging. Er blickte um die Lampe auf dem Tisch herum und sah mit Bestürzung seine älteste Tochter vor sich.

»Luise.«

»Vater, ich habe mit dir zu sprechen.«

»Was gibt es? Wie sonderbar du aussiehst! und, gerechter Gott!« rief Mr. Gradgrind, sich immer mehr wundernd, aus, »bist du hierher gekommen, in diesem Sturme?«

Sie tastete an ihr Gewand, als wüßte sie kaum davon.

»Ja.«

Sie nahm den Hut ab, ließ Mantel und Haube hinfallen, wohin sie wollten, und sah ihn an; mit verworrenem Haar, so bleich, so herausfordernd und verzweiflungsvoll, daß er vor ihr erschrak.

»Was gibt es? Ich beschwöre dich, Luise, sag‘ mir, was du hast!«

Sie sank vor ihm in einen Stuhl und legte ihre kalte Hand auf seinen Arm.

»Vater, du hast mich von der Wiege auf erzogen.«

»Ja, Luise.«

»Ich verfluche die Stunde, in der ich zu einem solchen Geschicke geboren wurde!«

Er sah sie mit Zweifeln und Schrecken an, indem er ratlos wiederholte: »Verfluchst die Stunde … verfluchst die Stunde . .?«

»Wie konntest du mir Leben geben und mich all‘ meiner unschätzbaren Dinge berauben, die es über den Zustand bewußten Todes hinausheben? Wo ist die anmutige Sicherheit meiner Seele? Wo sind die Gefühle meines Herzens? Was hast du getan, o Vater, was hast du getan mit dem Garten, der einst hier in dieser großen Wildnis blühen sollte?«

Sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust.

»Wenn er sich je hier befunden hätte, so würde mich selbst seine Asche noch von der Leere retten, in die mein Leben versinkt. Ich meinte das nicht sagen zu müssen, aber Vater, du erinnerst dich des letzten Gespräches, das wir hier zusammen hatten?«

Er war auf das eben Gehörte so unvorbereitet, daß er nur mit Mühe antwortete: »Ja, Luise.«

»Was jetzt über meine Lippen gekommen, würde ich dir damals schon gesagt haben, wenn du mir auch nur einen Schritt entgegengekommen wärest. Ich mache dir keine Vorwürfe, Vater. Was du nie in mir groß gezogen, das hast du in dir selbst nie groß gezogen. Aber, o! wenn du nur seit lange das Gegenteil getan – oder wenn du mich vernachlässigt hättest – was für ein besseres und glücklicheres Geschöpf wäre ich heute?«

Als er das, nach all‘ seiner Mühe, hören mußte, ließ er den Kopf in die Hände sinken und stöhnte laut auf.

»Vater, wenn du bei unserer letzten Zusammenkunft hier gewußt hättest, wovor ich eben Furcht empfand, während ich dagegen ankämpfte, so wie es von Kindheit an meine Aufgabe war, gegen jeden natürlichen Antrieb zu kämpfen, der in meinem Herzen rege geworden – wenn du gewußt hättest, daß meine Brust Gefühle, Neigungen und Schwächen barg, die durch zarte Pflege in Kraft verwandelt werden konnten, zum Trotze aller Berechnungen, die je von Menschen angestellt worden, und die ihrer Rechenkunst nicht bekannter sind, als ihre Schöpfer – würdest du mir den Mann gegeben haben, von dem ich jetzt gewiß weiß, daß ich ihn hasse?«

»Nein! Nein, mein armes Kind!« sagte er.

»Würdest du mich je zu der eisigen Kälte verbannt haben, die mich erhärtet und entstellt hat? Würdest du mich beraubt haben, zu niemandes Bereicherung, bloß zur Vergrößerung der Trostlosigkeit dieser Welt? Würdest du mir den geistig-seelischen Teil meines Lebens, den Frühling und Sommer meines Glaubens, meine Zuflucht vor Niedrigkeit und Schlechtigkeit in den wirklichen Dingen genommen haben? Würdest du mir die Schule vorenthalten haben, wo ich lernen sollte, demütiger und vertrauensvoller gegen meine Umwelt zu sein, und in meinem kleinen Kreise die Hoffnung zu hegen, sie besser zu machen?«

»O nein, nein, Luise!«

»Und dennoch, Vater, wenn ich stockblind gewesen wäre, wenn ich meinen Weg hätte tappend finden müssen und die Freiheit besessen hätte – da ich die äußere Form und die Oberfläche der Dinge kannte, meine Phantasie dabei als Richtschnur zu nehmen –, so würde ich jetzt um vieles weiser, glücklicher, liebevoller, unschuldiger und menschlicher in jeder Beziehung gewesen sein, als ich jetzt mit meinen Augen bin. Nun höre, was ich dir zu sagen habe.«

Er machte eine Bewegung, um sie mit seinem Arm zu unterstützen. Auch sie erhob sich, und so standen sie dicht nebeneinander. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter, und sie sah ihm fest in die Augen.

»Mit einem Hunger und Durst, Vater, die keinen Augenblick gestillt wurden – mit einem inbrünstigen Verlangen nach einer Region, wo Regeln, Zahlen und Definitionen nicht alles sind – bin ich aufgewachsen und habe mir meinen Lebenspfad Zoll für Zoll erkämpft.«

»Ich wußte nie, daß du unglücklich warst, mein Kind.«

»Vater, ich wußte es immer. In diesem Kampf ist mein besserer Engel beinahe zu einem Dämon gewaltsam erstarrt. Was ich gelernt habe, hat mir gegen alles, was ich nicht lernte, zweifelnde, ungläubige, verachtende und bedauernde Gefühle eingeflößt: und mein trübseliger Trost bestand in dem Gedanken, daß mein Leben bald dahinschwinden werde, und daß es nichts enthalte, das der Qual und Mühe eines Kampfes wert sei.«

»Und bist noch so jung, Luise!« sagte er klagend.

»Und bin so jung. In diesem Zustand, Vater – denn ich zeige dir ohne Furcht und Verzweiflung die verödete Beschaffenheit meines Gemüts, so wie ich es kenne – schlugst du mir meinen Mann vor. Ich behauptete nie dir oder ihm gegenüber, ihn zu lieben. Ich wußte es, und auch du, Vater, wußtest es, so gut wie er, daß ich es nie tat. Ich war nicht ganz ohne Interesse dabei, denn ich hegte die Hoffnung, Tom dadurch angenehme und nützliche Dienste leisten zu können. Ich unternahm diese wilde Flucht nach einem trügerischen Ziel, und habe es allmählich eingesehen, wie irrsinnig sie war. Tom war eben stets der Gegenstand des kleinen Lebensrestes meines Vermögens. Vielleicht liebte ich ihn deshalb so sehr, weil ich wußte, wie er zu bedauern sei. Jetzt ist wenig daran gelegen, ausgenommen, es könnte dich gegen seine Verirrungen milder stimmen.«

Ihr Vater schlang den Arm um sie. Sie aber legte die andere Hand auf seine Schulter und fuhr fort, ihm immer fest in das Gesicht sehend:

»Als ich unwiderruflich verheiratet war, erhob sich der alte Kampf in Empörung gegen das Bündnis, jetzt nur noch wilder gemacht durch alle jene Ursachen der Unvereinbarkeit zweier so verschiedener Naturen. Diese Differenz kann durch keine allgemeinen Gesetze für mich reguliert oder beseitigt werden, Vater, bis man dem Anatomiker derlei anzugeben vermag, wo er mit seinem Messer in die Geheimnisse meiner Seele stoßen kann.«

»Luise!« rief er, und rief es flehend; denn er erinnerte sich recht gut, was bei ihrer letzten Zusammenkunft hier vorgegangen war.

»Ich mache dir keine Vorwürfe, Vater, ich beklage mich nicht. Ich bin hier wegen einer andern Sache.«

»Was kann ich tun, mein Kind? Fordere von mir, was du willst.«

»Ich komme jetzt dazu. Vater, der Zufall ließ mich eine neue Bekanntschaft machen. Einen Mann lernte ich kennen, der für mich ganz neu ist und der die Welt kennt; fein, munter, lebhaft und ohne Ansprüche – der den geringen Wert von allen Dingen in einer Weise durchschaut, wie ich es kaum im stillen zu denken wagte. Er überzeugte mich fast im ersten Augenblick, obgleich es mir unbekannt ist, wie, davon, daß er mich verstehe und meine Gedanken lese. Ich konnte nicht finden, daß er schlechter sei als ich. Es schien eine nahe Verwandtschaft zwischen uns zu bestehen. Ich wunderte mich nur, daß er es der Mühe wert hielt – er, der sich um nichts kümmert –, sich ein wenig um mich zu kümmern.«

»Um dich, Luise?«

Ihr Vater hätte seine Last wohl instinktmäßig losgelassen, wenn er ihre Kräfte nicht schwinden gefühlt und ein wildes sich ausdehnendes Feuer in ihren Augen bemerkt hätte, die unverwandt auf ihn gerichtet waren.

»Ich sage nichts zu seiner Entschuldigung, daß er sich um mein Vertrauen bewarb. Es ist wenig daran gelegen, wie er es erlangte. Vater, er hat es erlangt. Was du von der Geschichte meiner Heirat weißt, das wußte er bald ebensogut.

Das Gesicht ihres Vaters war aschgrau, und er hielt sie in seinen beiden Armen.

»Ich habe nichts Schlimmes getan. Ich habe dich nicht entehrt. Wenn du mich aber fragst, ob ich ihn geliebt habe oder jetzt liebe, so muß ich dir einfach sagen, daß es wohl sein kann. Ich weiß es nicht.«

Sie zog ihre Hände rasch von seinen Schultern und preßte sie beide an ihr Herz. In ihrem Gesicht aber, das sich nicht mehr gleichsah, und in ihrer Gestalt, die emporgerichtet und entschlossen dastand, durch eine letzte Anstrengung das, was sie noch mitzuteilen hatte, zu vollenden, brachen die so lange unterdrückten Gefühle los.

»Heute abend war er, während der Abwesenheit meines Mannes, bei mir und erklärte mir seine Liebe. In diesem Augenblick erwartet er mich; denn ich konnte ihn durch kein anderes Mittel entfernen. Ich könnte nicht sagen, daß ich darüber betrübt oder verschämt bin – ich könnte nicht sagen, daß ich in meiner eigenen Achtung gesunken. Alles was ich sagen kann, ist, daß deine ganze Philosophie und all deine Lehren mich nicht retten werden. Nun, Vater, dahin hast du mich gebracht, rette du mich durch ein anderes Mittel.«

Er hielt seine Last noch zur rechten Zeit fest, um ihr Niedersinken zu verhindern. Sie rief jedoch mit fürchterlicher Stimme: »Ich sterbe, wenn du mich hältst! Laß mich zu Boden sinken!« So ließ er sie denn auf den Boden gleiten und sah den Stolz seines Herzens und den Triumph seines Systems wie eine leblose Masse zu seinen Füßen liegen.

Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Luise erwachte aus der Ohnmacht, und ihre Augen öffneten sich matt auf ihrem alten Bett daheim und in ihrem alten Zimmer. Es schien ihr anfangs, als wenn all die Ereignisse seit dem Tage, wo diese Gegenstände ihr vertraut waren, Schatten eines Traumes gewesen. Aber allmählich, als die Umgebung sich bestimmter vor ihren Augen gestaltete, traten auch die Ereignisse bestimmter vor ihren Sinn.

Sie vermochte kaum ihren Kopf vor Schmerz und Schwere zu bewegen: ihre Augen waren entzündet und wund, sie war sehr schwach. Eine auffallende Teilnahmslosigkeit hatte sich ihrer so vollständig bemächtigt, daß selbst die Anwesenheit ihrer kleinen Schwester im Zimmer eine Zeitlang ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich zog. Ja, als ihre Augen sich begegnet und ihre Schwester ans Bett getreten war, lag Luise noch mehrere Minuten lang im Schweigen, sah sie nur an und ließ es widerstandslos geschehen, daß diese schüchtern ihre Hand ergriff. Dann fragte sie:

»Wann bin ich in dies Zimmer gebracht worden?«

»Letzte Nacht, Luise.«

»Wer brachte mich hierher?«

»Cili, glaube ich.«

»Warum glaubst du das?«

»Weil ich sie diesen Morgen hier fand. Sie kam nicht an mein Bett, um mich zu wecken, wie sie immer tut, und ich machte mich deshalb auf, sie zu suchen. Sie war auch nicht in ihrem eigenen Zimmer, und ich mußte das ganze Haus durchsuchen, bis ich sie hier fand, um dich beschäftigt. Sie machte kalte Umschläge auf deinen Kopf. Willst du Vater sehen? Cili sagte, ich sollte es ihm mitteilen, wenn du erwachtest.«

»Wie du schön und gesund aussiehst, Jane!« sagte Luise, als sich ihre kleine Schwester, noch immer schüchtern, niederbeugte, um sie zu küssen.

»Wirklich? Es freut mich, daß du so denkst. Ich bin gewiß, daß es Cilis Werk ist.«

Der Arm, den Luise im Begriff war um ihren Nacken zu schlingen, zog sich zurück. »Du kannst es dem Vater sagen, wenn du willst.« Dann, sie noch einen Augenblick zurückhaltend, sagte sie: »Hast du mein Zimmer so freundlich eingerichtet, daß es fast wie ein Willkommengruß aussieht?«

»O nein, Luise, das war getan, ehe ich kam. Es war –«

Luise wandte sich auf ihrem Kissen um und hörte nicht weiter. Als sich ihre Schwester zurückgezogen hatte, drehte sie ihren Kopf wieder um und lag mit ihrem Gesicht gegen die Tür, bis diese sich öffnete und ihr Vater eintrat.

Er hatte ein verquältes und ängstliches Aussehen; und seine Hand, gewöhnlich so ruhig, zitterte in der ihren. Er setzte sich an ihr Bett, zärtlich fragend, wie sie sich befinde. Er schärfte ihr ein, sich ruhig zu verhalten, nachdem sie in vergangener Nacht so aufgeregt und dem Unwetter ausgesetzt gewesen sei. Er sprach in mildem und zitterndem Ton, ganz verschieden von seiner gewöhnlichen diktatorischen Weise: und oft war er verlegen um Worte.

»Meine liebe Luise. Meine arme Tochter!« Die Sprache ging ihm an dieser Stelle so vollständig aus, daß er ganz innehielt. Er versuchte von neuem.

»Mein unglückliches Kind.« Über diese Stelle war so schwierig hinwegzukommen, daß er nochmals begann.

»Es würde ein vergebliches Bemühen sein, Luise, wenn ich dir erzählen wollte, wie erschüttert ich war und noch bin durch das, was letzte Nacht auf mich eingestürmt ist. Der Boden, auf dem ich stand, hat zu wanken begonnen unter meinen Füßen. Die einzige Stütze, auf die ich mich lehnte, und die Stärke, die sie zu haben schien und ohne alle Frage noch zu haben scheint, ist in einem Augenblick gefallen. Ich bin betäubt von diesen Entdeckungen. Ich habe keine selbstischen Empfindungen bei dem, was ich sage, aber ich muß gestehen, daß der Schlag, der mich in vergangener Nacht betroffen hat, in der Tat sehr stark war.«

Sie konnte ihm zu alldem keinen Trost geben. Ihr ganzes Leben hatte auf dem Felsen Schiffbruch gelitten.

»Ich will nicht sagen, Luise, daß, wenn du dich mir bei einer passenden Gelegenheit früher entdeckt hättest, es besser für uns beide gewesen sein würde, besser für deine Ruhe und besser für die meine, denn ich fürchte, daß es nicht in mein Erziehungssystem gepaßt haben würde, ein derartiges Vertrauen zu ermuntern. Ich habe mein – mein System bei mir selbst geprüft und es streng durchgeführt: ich muß die Verantwortlichkeit seines Fehlschlages auf mich nehmen. Nur bitte ich dich zu glauben, mein vor allen geliebtes Kind, daß ich die Überzeugung hatte, recht zu handeln.«

Er sagte das im Ernste, und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er hatte diese Überzeugung wirklich. Indem er unergründliche Tiefen mit seinem kleinen, schlechten Metermaß ausrechnen wollte und über das Weltall mit seinem verrosteten Zirkel hintaumelte, glaubte er große Dinge zu tun. Soweit er sich in seinem beschränkten Gesichtskreis ergehen konnte, vernichtete er die Blüten der Existenz in aufrichtigerer Absicht, als viele von den blökenden Personen, mit denen er Umgang pflegte.

»Ich bin vollkommen von der Aufrichtigkeit deiner Worte überzeugt, Vater. Ich weiß, daß ich dein Lieblingskind gewesen bin. Ich weiß, du hattest die Absicht, mich glücklich zu machen. Ich habe dich nie getadelt und ich werde dies nie tun.«

Er faßte ihre ausgestreckte Hand und behielt sie in der seinen.

»Mein liebes Kind, ich habe die ganze Nacht an meinem Tisch gesessen, und die Dinge, die so schmerzvoll zwischen uns getreten sind, hin und her überlegt. Wenn ich deinen Charakter bedenke, daß das, was vor wenigen Stunden zu meiner Kenntnis gelangt, jahrelang in deiner Brust verschlossen gewesen ist; wenn ich bedenke, unter welchem unmittelbaren Druck es dir endlich herausgepreßt wurde, so komme ich zu dem Schlusse, daß ich nur Mißtrauen gegen mich selbst haben kann.«

Er hätte mehr sagen können, als er das jetzt auf ihn gewandte Gesicht sah. Er sagte es vielleicht in seinem Herzen still vor sich hin, als er mit sanfter Hand das wirre Haar von ihrer Stirne strich. Solche kleine Handlungen, bedeutungslos bei einem anderen Manne, waren sehr bezeichnend bei ihm; und seine Tochter nahm sie auf, als wären es Worte der Reue.

»Aber«, sagte Mr. Gradgrind langsam und stockend, mit dem traurigen Gefühle der Hilflosigkeit, wenn ich Grund sehe, mir für die Vergangenheit zu mißtrauen, Luise, so dürfte ich mir auch für die Gegenwart und Zukunft mißtrauen. Um offen mit dir zu sprechen, ich tue es wirklich. Ich bin weit entfernt, mir sicher zu sein, so verschieden ich auch noch gestern um diese Stunde darüber gedacht habe, daß ich dem Vertrauen verdiene. Ich weiß ja nicht, ob ich deinem Begehren, das du bei deiner Heimkehr ins Elternhaus an mich gestellt hast, entsprechen soll, ob ich den richtigen Instinkt habe – nehmen wir für den Augenblick eine derartige Eigenschaft an –, wie dir zu helfen und dich auf den rechten Weg zu bringen, mein Kind.«

Sie hatte sich auf dem Kissen umgewandt und lag mit dem Gesicht auf ihrem Arm, so daß er es nicht sehen konnte. All ihre Aufregung und Leidenschaft hatte sich gelegt; aber, obgleich besänftigt, hatte sie doch keine Tränen. Ihr Vater war in nichts so sehr verändert, als darin, daß er froh gewesen wäre, sie weinen zu sehen.

»Einige Menschen glauben«, fuhr er noch zögernd fort, »daß es eine Weisheit des Kopfes, und daß es eine Weisheit des Herzens gäbe. Ich habe nicht so gedacht; aber, wie gesagt, ich habe jetzt Mißtrauen gegen mich selbst. Ich nahm an, der Kopf reiche zu allen Dingen aus, er mag vielleicht nicht ausreichend sein. Wie kann ich diesen Morgen zu behaupten wagen, daß es so ist. Wenn die andere Art von Weisheit das sein sollte, was ich vernachlässigt habe, und der Instinkt, der vonnöten ist, dann Luise –«

Er brachte das sehr zweifelhaft vor, als wenn er halb unwillig wäre, es jetzt selbst einzugestehen. Sie gab ihm keine Antwort; während sie vor ihm auf ihrem Bette dalag, noch halb angekleidet, fast ganz so, wie er sie in vergangener Nacht auf dem Boden seines Zimmers liegen gesehen hatte.

»Luise«, und seine Hand ruhte wieder auf ihrem Haar, »ich bin in letzter Zeit oft abwesend gewesen, meine Liebe, und obgleich die Erziehung deiner Schwester gemäß dem – System verfolgt worden ist«, er schien immer mit großem Widerstreben auf dies Wort zurückzukommen, »so sind doch tägliche Berührungen mit gefühlsmäßigen Dingen, die sie von Kindheit an gehabt hat, nicht ohne Einfluß auf sie geblieben. Nun frage ich dich, in meiner Unwissenheit demütig, liebe Tochter, – denkst du, daß dies zum bessern ausgeschlagen sei?«

»Vater«, antwortete sie, ohne sich zu regen, »wenn in ihrer Brust irgendeine Harmonie geweckt worden ist, die in der meinigen verstummte, bis sie sich in Disharmonie auflöste, so mag sie dem Himmel dafür danken, ihren glücklicheren Lebensweg wandeln und es für ihren größten Segen halten, meinen Weg vermieden zu haben.«

»O! mein Kind, mein Kind!« rief er in trostlosem Schmerz aus, »ich bin ein unglücklicher Mann, daß ich dich so sehen muß. Was hilft es mir, daß du mir keine Vorwürfe machst, wenn ich mir selbst so bittere machen muß!« Er senkte sein Haupt und sprach leise zu ihr. »Luise, ich habe die Ahnung, daß bei lauterer Liebe und Dankbarkeit in diesem Hause sich allmählich eine Veränderung um mich würde geltend gemacht haben; daß das, was der Kopf versäumt und nicht zu tun vermochte, das Herz schweigend getan haben möchte. Ist das wahrscheinlich?«

Sie gab ihm keine Antwort.

»Ich bin nicht zu stolz, es zu glauben, Luise. Wie könnte ich so anmaßend sein, und du vor meinen Augen! Kann es so sein? Ist es so?«

Er richtete von neuem seinen Blick auf sie, wie sie so in sich versunken dalag, und ging still aus dem Zimmer. Er hatte sich noch nicht lange entfernt, als sie einen leichten Schritt an der Tür vernahm und bemerkte, daß jemand neben ihr stand.

Sie erhob den Kopf nicht. Ein unklarer Groll, daß sie in ihrem Leiden gesehen worden, und daß die unwillkommene Beobachtung, von der sie sich so schmerzlich berührt fühlte, zu ihrem Zwecke gelangen sollte, arbeitete in ihr wie ein krankhaftes Feuer. Alle in ihr verschlossenen Kräfte kamen zu einem zerstörenden Durchbruch. Die Luft, die der Erde heilsam sein, das Wasser, das ihr erfrischende und die Hitze, die ihr befruchtende Kraft geben sollen, zerfleischen sie, wenn diese Elemente zurückgedämmt werden. So eben jetzt in ihrer Brust; die stärksten Seelenkräfte, die sie besaß, solange gegen sich selbst gerichtet, verstockten sich und wurden gewalttätig gegen ein befreundetes Herz.

Es war gut, daß sie eine sanfte Hand auf ihrem Nacken fühlte, und daß sie merkte, man glaube sie eingeschlafen. Die teilnehmende Hand hatte nichts mit ihrem Verdruß zu schaffen. Laßt sie da liegen, die Hand, laßt sie liegen.

So blieb sie denn liegen, eine Menge freundlicherer Gedanken weckend; und Luise verhielt sich still. Als sie durch die Ruhe und das Bewußtsein einer so liebreichen Huld milder gestimmt wurde, fanden Tränen den Weg in ihre Augen. Ein Gesicht berührte das ihre, und sie ward inne, daß sich auf diesem Tränen befanden, und daß sie die Ursache dieser Tränen war.

Als Luise sich stellte, wie wenn sie erwache, und sich aufrecht setzte, zog sich Cili zurück und stand ruhig an der Seite des Bettes.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört. Ich habe Sie fragen wollen, ob ich bei Ihnen bleiben darf.«

»Warum willst du bei mir bleiben? Meine Schwester wird dich vermissen. Du bist ihr alles.«

»Bin ich wirklich?« erwiderte Cili, den Kopf schüttelnd. »Ich möchte gern Ihnen etwas sein, wenn ich dürfte.

»Was?« fragte Luise fast strenge.

»Das, was Ihnen am meisten not tut, wenn ich es vermöchte. Auf alle Fälle möchte ich mein Möglichstes versuchen. Wollen Sie es mir gestatten?«

»Mein Vater schickt dich her, mich darum zu fragen?«

»Ganz gewiß nicht«, antwortete Cili. »Er sagte mir, daß ich jetzt hereinkommen dürfte; aber diesen Morgen schickte er mich aus dem Zimmer – oder wenigstens –« sie stockte und schwieg.

»Was wenigstens?« sagte Luise, ihre forschenden Augen auf sie gelichtet.

»Ich hielt es selbst für das Beste, hinausgeschickt zu werden, denn ich war sehr zweifelhaft, ob Sie mich gern hier sehen würden.«

»Habe ich dich immer so sehr gehaßt?«

»Ich hoffe es nicht; denn ich habe Sie immer geliebt und immer gewünscht, daß Sie es erkennen möchten. Aber Sie nahmen ein etwas verändertes Benehmen gegen mich an, kurz ehe Sie das Elternhaus verließen. Sie wußten so viel und ich so wenig, und es war in vielen Beziehungen so natürlich, da Sie neuen Freunden entgegengingen, daß ich mich nicht darüber zu beklagen hatte und durchaus nicht verletzt fühlte.«

Sie wurde rot, als sie das bescheiden und hastig sagte. Luise verstand die liebevolle Schonung, und ihr Herz ward gerührt.

»Darf ich versuchen?« sagte Cili, so viel ermutigt, daß sie die Hand auf ihren Nacken legte, der sich unmerklich nach ihr hinneigte. Luise nahm die Hand, die sie im nächsten Augenblicke umschlungen haben würde, herunter, hielt sie in der ihrigen und antwortete:

»Vor allem, Cili, weißt du, was ich bin? Ich bin so stolz und verhärtet, so verwirrt und verstört, so verdrießlich und ungerecht gegen jedermann und gegen mich selbst, daß alles ungestüm, finster und böse in mir ist. Stößt dich das nicht zurück?«

»Nein!«

»Ich bin so unglücklich, und alles das, was mich hätte anders machen können, ist so vollständig verstört in mir, daß, wenn ich bis zu dieser Stunde meiner Vernunft beraubt gewesen wäre, und wenn ich anstatt so gelehrt zu sein wie du denkst, noch anfangen müßte die ersten Wahrheiten zu erlernen, ich einen Führer zum Frieden, zur Zufriedenheit, Ehre und all den Gütern, deren ich gänzlich bar bin, nicht dringender nötig hätte, als ich in meiner Armseligkeit wirklich habe. Stößt dich das nicht zurück?«

»Nein!«

In der Unschuld ihrer natürlichen Liebe und in der Fülle ihrer alten Anhänglichkeit leuchtete das einst verlassene Mädchen wie ein schönes Licht in das dunkle Leben der anderen hinein.

Luise erhob die eine Hand, ihren Nacken zu streicheln, und flocht sie dann in die andere. Sie fiel auf ihre Knie, und sich an des Artisten Kind hängend, blickte sie zu ihm auf, beinahe mit Verehrung.

»Vergib mir, habe Mitleid mit mir, hilf mir! Blicke teilnehmend auf meine große Not und laß mich meinen armen Kopf an ein liebendes Herz legen.«

»O! laß es hier ruhen!« rief Cili, »laß es hier ruhen, geliebte Freundin!«

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Thomas Gradgrind, mein Herr. Ein Mann der Wirklichkeit. Ein Mann der Tatsachen und Berechnungen. Ein Mann, der von dem Prinzip ausgeht, daß zwei und zwei vier sind und nicht mehr, und bei dem jedes Zureden, etwas mehr zu gestatten, vergebens ist. Thomas Gradgrind, mein Herr – Thomas schlechterdings – Thomas Gradgrind. Mit einem Lineal und einer Wage, samt der Multiplikationstafel in der Tasche, mein Herr, bereit, jedes Stück menschlicher Natur zu wägen und zu messen, und euch genau zu bestimmen, auf wieviel es sich beläuft. Das ist eine bloße Zahlenfrage, ein Gegenstand der einfachen Arithmetik. Ihr könnt die Hoffnung hegen, sonst etwas Unsinniges in den Kopf von George Gradgrind oder Augustus Gradgrind, oder John Gradgrind, oder Joseph Gradgrind (lauter angenommene, nicht existierende Personen) zu bringen, aber in den Kopf von Thomas Gradgrind – niemals, mein Herr!

Mit solchen Ausdrücken führte sich Mr. Gradgrind immer, entweder im Privatkreis seiner Bekanntschaften oder beim Publikum im allgemeinen, in Gedanken ein. Mit solchen Ausdrücken und nur »Knaben und Mädchen« anstatt »mein Herr« setzend, stellte jetzt Thomas Gradgrind mit Nachdruck diesen selben Thomas Gradgrind den kleinen vor ihm stehenden Krügen vor, die ganz und gar mit Tatsachen vollgefüllt werden sollen.

Als er aus dem früher erwähnten Kellergeschoß feurige Blicke auf sie schleuderte, glich er in der Tat einer Art Kanone, die bis zur Mündung mit Tatsachen gefüllt, bereit war, die Kleinen mit einem Schuß aus den Regionen der Kindheit hinauszufegen. Er hatte auch Ähnlichkeit mit einem galvanischen Apparat, der anstatt der zarten, jugendlichen Bilder, die verscheucht werden sollten, mit einem greulichen, mechanischen Ersatzmittel angefüllt war.

»Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte Mr. Gradgrind mit seinem plumpen Zeigefinger plump hindeutend. »Ich kenne dieses Mädchen nicht. Wer ist dieses Mädchen?«

»Cili Jupe, mein Herr«, setzte Nummer Zwanzig errötend, sich erhebend und knixend, auseinander.

»Cili ist kein Name«, sagte Mr. Gradgrind. »Nenne dich nicht Cili. Nenne dich Cecilie.«

»Vater nennt mich Cili, mein Herr«, erwiderte das junge Mädchen mit zitternder Stimme und mit einem zweiten Knix.

»Dann hat er kein Recht dazu«, sagte Mr. Gradgrind. »Sag ihm, Cecilie Jupe, daß er das nicht tun darf. Laß einmal sehen. Was ist dein Vater?«

»Er gehört zur Reitertruppe, wenn Sie erlauben, mein Herr.«

Mr. Gradgrind runzelte die Stirn und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung gegen den verwerflichen Beruf.

»Wir brauchen darüber hier nichts zu wissen. Du mußt uns darüber hier nichts sagen. Dein Vater reitet Pferde zu, nicht wahr?«

»Ja, zu dienen, mein Herr. Wenn welche zum Bereiten zu bekommen sind, so werden sie in der Reitbahn zugeritten, mein Herr.«

»Du mußt uns hier nichts über die Reitbahn erzählen. Gut also. Beschreibe deinen Vater als einen Bereiter. Er kuriert Pferde, wie ich voraussetze?«

»O ja, mein Herr.«

»Sehr gut nun. Er ist also ein Veterinär, ein Pferdearzt und Bereiter. Gib mir deine begriffliche Bestimmung vom Pferd.«

(Höchste Bestürzung von Cili Jupe über diese Frage.)

»Mädchen Nummer Zwanzig nicht imstande auseinanderzusetzen, was ein Pferd ist«, sagte Mr. Gradgrind zum allgemeinen Nutzen der sämtlichen kleinen Krüge. »Mädchen Nummer Zwanzig hat in bezug auf eines der gewöhnlichsten Tiere keine Tatsachen inne. Nun soll ein Knabe die begriffliche Bestimmung von einem Pferd geben. Bitzer, los!«

Der plumpe Finger geriet, hin- und herschweifend, plötzlich auf Bitzer. Vielleicht deshalb, weil er gerade von demselben Sonnenstrahl getroffen wurde, der durch eines der kahlen Fenster des ungewöhnlich weißgewaschenen Zimmers fiel und auf Cili seinen Schimmer warf. Die Knaben und Mädchen saßen nämlich in einem Raum mit schräg abfallendem Fußboden und waren voneinander durch einen schmalen Gang in der Mitte getrennt. Sie saßen in dichten Haufen. Cili aber, die sich an der Ecke einer Reihe an der sonnigen Seite befand, wurde von dem Anfange eines Sonnenstrahles getroffen. Von diesem Sonnenstrahl fing Bitzer, der sich an der Ecke auf der andern Seite einige Reihen weiter vorwärts befand, das Ende auf. Während jedoch das Mädchen so dunkeläugig und so dunkelhaarig war, daß sie eine tiefere und glänzendere Farbe durch den Sonnenschein erhielt, war der Knabe wieder so helläugig und lichthaarig, daß ganz dieselben Strahlen das bißchen aus ihm herauszuziehen schienen, was er an Farbe je besessen. Seine glanzlosen Augen würden kaum als solche gegolten haben, wenn die kurzen Enden von Augenwimpern ihre Form nicht dadurch hervorgehoben hätten, daß sie diese in einen unmittelbaren Kontrast mit noch etwas Blasserem, als sie selbst waren, gebracht hätten. Sein kurzgestutztes Haar konnte als eine bloße Fortsetzung der rötlichen Sommersprossen auf Stirn und Gesicht gelten. Seine Haut hatte, was die natürliche Farbe betraf, ein so ungesundes und mangelhaftes Aussehen, daß er den Anschein hatte, als würde er weiß bluten, wenn man ihn schnitte.

»Bitzer«, sagte Thomas Gradgrind, »deine begriffliche Bestimmung von einem Pferd.«

»Vierfüßig. Grasfressend. Vierzig Zähne, nämlich: vierundzwanzig Backenzähne, vier Augenzähne und zwölf Schneidezähne. Wirft im Frühling die Haut ab und in morastigen Gegenden auch die Hufe. Die Hufe sind hart, müssen jedoch mit Eisen beschlagen werden. Zeichen im Maule geben das Alter an.« Also (und noch viel mehr) sprach Bitzer.

»Nun, Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte Mr. Gradgrind, »weißt du, was ein Pferd ist.«

Sie knixte abermals und würde noch mehr errötet sein, wenn sie überhaupt noch mehr hätte erröten können, als sie es bisher getan hatte. Nachdem Bitzer auf Thomas Gradgrind mit beiden Augen zugleich rasch hingeblinzelt hatte und das Licht auf seinen zitternden Spitzen von Augenwimpern so auffing, daß sie wie Fühlhörner geschäftiger Insekten aussahen, fuhr er mit den Knöcheln an die sommersprossige Stirn und setzte sich wieder.

Der dritte Herr trat jetzt vorwärts. Er war ein tüchtiger Mann im Knuffen und Schlagen; ein Regierungsbeamter. Nach seiner Weise (und auch in der der meisten Leute) ein erklärter Boxer. Immerfort in Übung, immerfort mit einem Plane bei der Hand, die Kehle von aller Welt wie ein Arzneikügelchen abzuwürgen, posaunte er ständig vor den Schranken seines Bureaus aus, daß er bereit sei, es mit »ganz England« aufzunehmen. Um in der Phraseologie der Faust fortzufahren, besaß er ein eigenes Talent, überall mit jedermann anzubinden und sich als einen abscheulichen Kumpan zu bewähren. Er konnte irgendwo hinkommen und sofort jeden beliebigen Menschen eines mit der Rechten versetzen, mit der Linken nachholen, einhalten. Arme wechseln, sich stemmen und seinen Gegner (er schlug sich stets mit »ganz England«) bis zu dem Seitenring drängen und dann über ihn geschickt herfallen. Er war sicher, ihm das Lebenslicht auszublasen und seinen unglücklichen Gegenkämpfer für ewig taub zu machen. Er hatte auch von einer höheren Autorität den Auftrag, das große Bureau des tausendjährigen Reiches zu begründen, wenn solche Kommissare je einmal zur Herrschaft auf Erden gelangen sollten.

»Sehr gut«, sagte dieser Herr, munter lächelnd und die Arme kreuzend. »Das ist ein Pferd. Laßt mich euch nun die Frage vorlegen, Mädchen und Knaben, würdet Ihr ein Zimmer mit den bildlichen Darstellungen eines Pferdes tapezieren?«

Nach einer Pause rief die eine Hälfte der Kinder im Chor: »Ja, mein Herr!« worauf die andere Hälfte, die in dem Gesicht dieses Herrn las, daß Ja unrichtig war, im Chor ausrief: »Nein, mein Herr«, wie es bei solchen Prüfungen gewöhnlich geschieht.

»Versteht sich, nein. Warum aber?«

Eine Pause. Ein wohlbeleibter, bedachtsamer Knabe, der keuchend Atem holte, wagte die Antwort: weil er ein Zimmer gar nicht tapezieren, sondern malen lassen würde.

»Du mußt es tapezieren«, sagte der Herr ziemlich leidenschaftlich.

»Du mußt es tapezieren«, sagte Thomas Gradgrind, »ob du willst oder nicht. Sag uns nicht, du würdest es nicht tapezieren. Was meinst du. Junge?«

Nach einer zweiten und schrecklichen Pause begann der Herr abermals: »Ich will euch also erklären, warum ihr ein Zimmer nicht mit den bildlichen Darstellungen eines Pferdes tapezieren würdet. Sehet ihr je in Wirklichkeit Pferde auf den Seiten eines Zimmers hin und her gehen? Seht ihr das in der Tat?«

»Ja, mein Herr«, von der einen Hälfte und »Nein, mein Herr«, von der andern.

»Versteht sich, nein«, sagte der Herr mit einem unwilligen Blick auf die unrichtige Hälfte. »Nun, ihr werdet nie etwas sehen, was ihr nicht in der Tat sehet. Ihr werdet nirgends etwas haben, was ihr nicht in der Tat habt. Was man Geschmack nennt, ist nur eine andere Bezeichnung für Tatsache.«

Thomas Gradgrind nickte seine Beistimmung zu.

»Das ist ein neues Prinzip, eine Entdeckung, eine große Entdeckung«, sagte der Herr. »Nun werde ich euch nochmals auf die Probe stellen. Vorausgesetzt, ihr ließet ein Zimmer mit einem Teppich belegen. Würdet ihr einen Teppich wählen, auf dem sich bildliche Darstellungen von Blumen befinden?«

Da jetzt die allgemeine Überzeugung vorherrschte, daß »Nein, mein Herr«, bei diesem Herrn immer die richtige Antwort sei, so war der Chor von Nein sehr stark. Nur einige Nachzügler riefen Ja; unter diesen Cili Jupe.

»Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte der Herr in der ruhigen Würde seiner Weisheit lächelnd. Cili errötete und erhob sich.

»Also du würdest dein Zimmer oder das deines Mannes, wenn du schon erwachsen wärest und einen Mann hättest, mit einem Teppich belegen, auf dem Blumen abgebildet sind – würdest du da«?« rief der Herr, »Warum würdest du das?«

»Wenn Sie erlauben, mein Herr, ich habe Blumen sehr lieb«, antwortete das Mädchen.

»Und warum möchtest du also Tische und Stühle auf sie stellen und die Leute mit ihren schweren Stiefeln darauf herumtreten lassen?«

»Da« würde ihnen nichts schaden, mein Herr. Sie würden nicht zerdrückt werden und verwelken. Wenn Sie erlauben, mein Herr. Sie wären nur die Bilder von etwas recht Hübschem und Angenehmen, und ich würde mir einbilden –«

»Ei! Ei! Ei! Aber du darfst dir nichts einbilden«, rief der Herr, ganz stolz darauf, so glücklich zu diesem Punkt geraten zu sein. »Das ist’s ja gerade. Du darfst dir nie etwas einbilden.«

»Du darfst nie, Marie Jupe«, wiederholte Thomes Gradgrind feierlich, »dergleichen tun.«

»Tatsachen! Tatsachen! Tatsachen!« sagte der Herr, und »Tatsachen! Tatsachen! Tatsachen!« wiederholte Thomas Gradgrind.

»In allen Dingen müßt ihr«, sagte der Herr, »von Tatsachen geleitet und gelenkt werden. Wir hoffen, in kurzem einen Ausschuß der Tatsachen, zusammengesetzt aus Kommissaren der Tatsachen, zu haben, die das Volk zwingen werden, ein Volk der Tatsachen und nur der Tatsachen zu sein. Das Wort Einbildung müßt ihr ganz verbannen. Ihr habt nichts damit gemein. Ihr dürft in keinem Gegenstande, der zum Nutzen oder zur Zierde gereicht, etwas finden, das mit der Tatsächlichkeit im Widerspruch steht. Ihr geht in der Tat nicht auf Blumen: ihr dürft also auf Blumen in Teppichen nicht gehen. Ihr seht nirgends, daß ausländische Vögel und Schmetterlinge herbeifliegen, um sich auf eurem Geschirr niederzulassen; es kann euch daher nicht gestattet werden, ausländische Vögel und Schmetterlinge auf euer irdenes Geschirr zu malen. Ihr begegnet nie vierfüßigen Tieren, die auf den Wänden hin und her spazieren; ihr dürft also keine vierfüßigen Tiere auf den Wänden darstellen lassen. Zu all solchen Belangen«, fügte der Herr hinzu, »dürft ihr nur Vergleiche und Zusammenstellungen (in Grundfarben) mathematischer Figuren in Anwendung bringen, die einer Beweisführung fähig sind. Das ist die neue Entdeckung. Das ist Tatsache. Das ist Geschmack.«

Das Mädchen knixte und setzte sich. Sie war sehr jung und sah aus, als ob sie vor dem Prospekt der Tatsächlichkeit, den die Welt bot, erschrocken wäre.

»Nun, wenn Mr, M’Choakumchild«, sagte der Herr, »zu seiner ersten Lektion hier schreiten will, so werde ich mich glücklich schätzen, auf Ihr Ersuchen, Mr. Gradgrind, sein pädagogisches Verfahren zu beobachten.«

Mr. Gradgrind war sehr verbunden. »Mr. M’Choakumchild, wir warten nur auf Sie.«

So fing denn Mr. M’Choakumchild in seiner besten Weise an. Er und andere hundertundvierzig Schulmeister wurden vor kurzem zu gleicher Zeit, in derselben Faktorei und nach denselben Prinzipien wie ebenso viele Pianogestelle, gedrechselt. Er war durch eine zahllose Menge von Fächern gegangen und hatte ganze Bände von kopfzerbrechenden Fragen beantwortet. Orthographie, Etymologie, Syntax und Prosodie, Biographie, Astronomie, Geographie und allgemeine Kosmographie, die Wissenschaften der zusammengesetzten Proportionen, Algebra, Landmessen und Nivellieren, Gesang und Zeichnen nach Modellen, das alles saß ihm sozusagen fest bis in die Spitzen seiner erstarrten zehn Finger. Er hatte sich den steinigen Pfad in die Liste B. des hochehrwürdigen geheimen Rates Ihrer Majestät gebahnt, und hatte die Blüte in den höheren Zweigen der Mathematik und Naturwissenschaft und im Deutschen, Französischen, Lateinischen und Griechischen davongetragen. Er wußte alles hinsichtlich der natürlichen Ländergrenzen der ganzen Welt (was immer sie sein mögen); er wußte alle Geschichten aller Völker, und alle Namen aller Berge und Flüsse, und alle Erzeugnisse, Sitten und Gebräuche aller Länder und all ihre Grenzen und Lagen auf den zweiunddreißig Punkten des Kompasses. Ach, ziemlich überladen, Mr. M’Choakumchild! Wenn er nur etwas weniger gelernt hätte, wie unendlich besser hätte er weit mehr beibringen können!

Er machte sich in der Vorbereitungslektion an die Arbeit, wie ungefähr Morgiana in den »Vierzig Dieben«, indem er nacheinander in all die Gefäße blickte, die vor ihm geordnet standen, um zu sehen, was sie enthalten. Sage doch, guter M’Choakumchild: glaubst du, wenn du von deinem quellenden Vorrat jeden Krug bis an den Rand füllen wirst, imstande zu sein, dem Wegelagerer Phantasie, der darinnen lauert, für immer den Garaus zu machen, oder ihn nur zu verstümmeln und zu verrenken?

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

»Oh, meine Freunde, ihr mit Füßen getretenen Arbeiter von Coketown! Oh, meine Freunde und Mitbürger, ihr Sklaven eines eisernen und zermalmenden Despotismus! Oh, meine Freunde und Leidensgenossen und Arbeitsgenossen und Mitgenossen! Ich sage euch, daß die Stunde geschlagen, wo wir uns zu einer festen Macht vereinigen müssen, um die Unterdrücker zu Staub zu zerreiben, die sich nur zu lange gemästet haben an der Ausbeutung unserer Familien, an dem Schweiß unserer Stirne, an der Arbeit unserer Hände, an der Kraft unserer Nerven, an der Mißachtung der gottgeborenen, glorreichen Rechte der Humanität und an der Unterdrückung der heiligen und ewigen Privilegien der Brüderlichkeit!«

»Gut!« »Hört, hört, hört!« »Hurra!« und ähnliche Ausrufe ertönten von vielen Stimmen aus der dichtgedrängten und zum Ersticken vollen Halle, in der der Redner – der sich auf einem Gerüst aufgepflanzt hatte – das soeben Mitgeteilte – und was er sonst noch an Schall und Rauch in sich hatte, von sich gab. Er hatte sich selbst in hitzigen Eifer hineindeklamiert und war ebenso heiser als erhitzt. Während die blendenden Gasflammen ihren Geruch ausströmten, brüllte er aus voller Kehle, ballte die Fäuste, runzelte die Stirn, knirschte mit den Zähnen, arbeitete mit den Armen und hatte sich nun dermaßen erschöpft, daß er nicht mehr weiter konnte und nach einem Glas Wasser rief.

Wie er so dastand und versuchte, das glühende Gesicht mit einem Trunk Wasser zu kühlen, fiel der Vergleich zwischen ihm, dem Redner, und der Menge aufmerksam ihm zugewandter Gesichter, sehr zu seinem Nachteil aus. Nach seiner augenfälligen Persönlichkeit zu urteilen, erhob er sich nur durch das Gerüst, auf dem er stand, ein wenig über die Masse empor. In vielen anderen Beziehungen stand er ihr wesentlich nach. Er war nicht so rechtlich, nicht so männlich und nicht so gutmütig. Er setzte Durchtriebenheit an die Stelle der Einfachheit, Leidenschaftlichkeit und ihres geraden gesunden Verstandes. Als schlechtgebauter, hochschulteriger Mann mit eingesunkenen Augenbrauen und mit Gesichtszügen, die gewöhnlich einen sauertöpfischen Ausdruck annahmen, bildete er selbst in seinem buntscheckigen Anzug einen ungünstigen Kontrast zu der großen Schar seiner Zuhörer in ihren einfachen Arbeiteranzügen.

Ist schon der Anblick jeder Versammlung seltsam, die sich dem Eindruck einer beliebten Person – Lord oder Unterhausmitglied – demütig unterwirft, eines Menschen, den Dreiviertel der Zuhörer durch kein menschliches Mittel aus dem Schlamm der Nichtigkeit zu ihrer eigenen geistigen Höhe erheben könnten, so war es unendlich seltsam, ja sogar unendlich rührend, diese Menge von ernsten Gestalten, deren Rechtlichkeit im allgemeinen von keinem kompetenten, vorurteilsfreien Beobachter bezweifelt werden konnte, durch einen solchen Führer aufgeregt zu sehen.

Gut! Hört, hört! Hurra! Die eifrige Spannung und Aufmerksamkeit, die sich auf jedem Antlitze kundgab, gewährte einen eindrucksvollen Anblick. Da gab sich keine Unachtsamkeit, keine Mattigkeit und keine eitle Neugier kund. Kein einziger Schatten der Gleichgültigkeit, der man in allen andern Versammlungen begegnete, war hier auch nur auf einen einzigen Augenblick sichtbar. Daß jedermann fühlte, wie seine Lage auf die eine oder andere Weise schlimmer sei, als sie sein sollte; daß jedermann es als seine ihm obliegende Pflicht betrachtete, sich mit den übrigen zu vereinigen, um Verbesserungen hervorzurufen; daß jedermann seine einzige Hoffnung in den Anschluß an seine Kameraden setzte, von denen er umgeben war, und daß die gesamte Menge in diesem Glauben, sei er begründet oder unbegründet (unglücklicherweise war er damals das letztere) in feierlichem, tiefem und aufrichtigem Ernst begriffen war – muß jedem, der das Vorhandene sehen mochte, ebenso deutlich sichtbar geworden sein, wie das kahle Balkenwerk des Daches und die geweißten Ziegelwände. Ein ähnlicher Beobachter konnte sich auch der inneren Überzeugung nicht erwehren, daß diese Männer selbst in ihren Irrtümern große Eigenschaften offenbarten, die dafür empfänglich waren, auf das beste und vorteilhafteste ausgebildet zu werden: und daß die Behauptung (auf prahlerische Axiome gegründet, wie sie immer auch zugestutzt und geformt sein mochten), daß sie ohne alle Ursache und bloß aus unvernünftigem Eigenwillen irre Wege einschlugen, der Behauptung gleich war, daß es Rauch ohne Feuer gebe, Tod ohne Geburt, Ernte ohne Saat, und daß alles und jedes aus nichts geschaffen werden könne.

Nachdem der Redner die Erfrischung genommen, wischte er sich die Stirn mit einem wulstartig-gefalteten Taschentuche mehrere Male von links nach rechts und konzentrierte seine erfrischten Lebenskräfte alle in ein Hohnlächeln der Verachtung und Bitterkeit.

»Aber, oh, meine Freunde und Brüder! Oh, Bürger und Briten, ihr mit Füßen getretenen Arbeiter von Coketown! Was sollen wir von jenem Manne sagen – von jenem Arbeiter – oh, daß ich gezwungen bin, diesen glorreichen Namen so sehr zu beschimpfen – der mit den Beschwerden und Unbilden, die ihr, der Kern und das Mark unseres Vaterlandes, zu erleiden habt, in praktischer Weise gar wohl vertraut ist und der euch mit einer edlen und majestätischen Einstimmigkeit, die Tyrannen erzittern machen wird, den Entschluß fassen hörte, für den Fond der Streikverbandkasse zu zeichnen und an allen Beschlüssen festzuhalten, die von jener Körperschaft zu eurem Wohle ausgehen mögen – was, frage ich euch, werdet ihr von dem Arbeiter – da ich ihn als solchen doch anerkennen muß – urteilen, der zu solcher Zeit seinen Posten verläßt und seine Fahne verkauft – der zu solcher Zeit zum Verräter, zum Feigling und zum Abtrünnigen wird – der nicht vor Schmach vergeht, euch das memmenhafte und entwürdigende Geständnis zu machen, daß er sich ferne halten will und nicht zu denen gehören mag, die sich zu dem heroischen Kampf für Freiheit und für Recht vereinigt haben?«

Die Versammlung war über diesen Punkt uneinig. Hier und da ertönte Gezisch und Murren; das allgemeine Ehrgefühl war jedoch zu stark, um einen Mann ungehört zu verdammen. »Wenn ihr nur Recht habt, Slackbridge.« »Laßt ihn hinaufsteigen.« »Laßt uns ihn hören.« Solche Ausrufe ließen sich von vielen Seiten vernehmen. Endlich rief eine starke Stimme aus: »Ist der Mann hier? Wenn der Mann hier ist, Slackbridge, so laßt uns ihn statt Euch hören.« Diese Worte fanden allgemeinen Beifall.

Slackbridge, der Redner, blickte mit trockenem Lächeln um sich, streckte die Hand (nach Art aller Slackbridge) der ganzen Länge des Armes nach aus, um die tobende See zu beruhigen, und wartete, bis tiefe Stille herrschte.

»Oh, meine Freunde und Mitbürger«, rief Slackbridge mit zornigem Kopfschütteln. »Ich wundere mich nicht, daß ihr, die zertretenen Kinder der Arbeit, die Existenz eines solchen Mannes mit ungläubigem Auge betrachtet, aber der, der seine Erstgeburt für ein Gericht Speisen verkaufte, existierte, und Judas Ischariot existierte, und Castlereagh8 existierte, und auch dieser Mann existiert!«

Ein kurzes Drängen und verworrenes Durcheinander, das in der Nähe der Rednerbühne entstanden war, endigte mit der Erscheinung des Mannes selbst an der Seite des Redners vor dem Gedränge. Sein Gesicht war blaß und zeigte Spuren von Aufregung – was sich besonders auf seinen Lippen kundgab; er stand jedoch ruhig da mit der linken Hand am Kinn und wartete, bis er Gehör erlangte. Es war ein Präsident da, den Geschäftsgang zu leiten, und dieser Beamte nahm jetzt die Sache selbst in die Hand.

»Meine Freunde!« rief er, »kraft meines Amtes als euer Präsident, fordere ich unsern Freund Slackbridge auf, der in dieser Angelegenheit sich zu sehr ereifert haben mag, seinen Platz wieder einzunehmen, während dieser Mann hier, Stephen Blackpool, das Wort erhält. Ihr kennt ihn schon lange durch sein Unglück und seinen guten Namen.«

Mit diesen Worten schüttelte ihm der Präsident herzlich die Hand und setzte sich wieder nieder. Slackbridge setzte sich ebenfalls, indem er sich die glühende Stirn abwischte – immer von links nach rechts und niemals umgekehrt.

»Meine Freunde«, begann Stephen inmitten einer Totenstille. »Ich habe gehört, was von mir gesagt worden ist, und wahrscheinlich werde ich nichts dazu noch davon tun. Aber ich möchte lieber, daß ihr die Wahrheit über mich von mir selbst hörtet, als von einem andern, obgleich ich nie vor so einer großen Menge sprechen konnte, ohne verwirrt und verlegen zu werden.«

Slackbridge schüttelte mit dem Kopf, als wollte er ihn in seiner Erbitterung abschütteln.

»Ich bin die einzige ›Hand‹ in Bounderbys Faktorei – von allen die hier versammelt sind – der mit den vorgeschlagenen Verhaltungsmaßregeln nicht übereinstimmt. Ich kann nicht mit ihnen übereinstimmen. Meine Freunde, ich zweifle daran, daß sie für euch vorteilhaft sind. Sie könnten euch vielmehr schädlich sein.«

Slackbridge lachte, schränkte die Arme ineinander und sah spöttisch drein.

»Aber das ist es nicht allein, warum ich mich ausschließe. Wenn das alles wäre, so würde ich mich den übrigen verbinden. Seht, ich habe meine Gründe – meine eigenen – die mich verhindern. Nicht bloß jetzt, sondern immer – immer – all mein Leben lang.«

Slackbridge fuhr auf und stellte sich neben ihn knirschend und wütend. »Oh, meine Freunde, habe ich euch nicht das alles gesagt? Oh, meine Mitbürger, habe ich euch nicht diese Warnung zugerufen? Und wie erscheint euch dieses verräterische Benehmen an einem Mann, von dem man weiß, daß ihn die Ungleichheit der Gesetze so schwer betroffen? Oh, ihr Engländer, ich frage euch, wie erscheint euch diese Verleitung bei einem Manne, der euresgleichen ist, und der seine Einwilligung gibt zu seinem Verderben und dem eurigen – zu dem eurer Kinder und Kindeskinder?«

Einiger Beifall ließ sich hören mit einigen Ausrufen: »Pfui, über diesen Kerl!« Die Mehrheit der Zuhörer war indessen ruhig. Sie betrachteten Stephens verstörtes Gesicht, das durch die natürliche Aufregung, die es kundgab, einen feierlicheren Anblick gewährte, und waren bei der Güte ihres Herzens mehr zum Mitleid als zur Entrüstung geneigt.

»Es ist das Geschäft dieses Abgeordneten, zu sprechen«, sagte Stephen, »er wird dafür bezahlt, und er versteht sein Handwerk. Dabei laßt ihn bleiben. Er soll sich nicht darum kümmern, was ich nicht dulden sollte. Das geht ihn nichts an. Das geht niemanden etwas an außer mich.«

Es herrschte ein gewisser Anstand, um nicht zu sagen Würde in diesen Worten, wodurch die Zuhörer noch stiller und aufmerksamer wurden. Die frühere starke Stimme rief aus: »Slackbridge, laß den Mann sprechen und halt‘ selbst das Maul!« worauf eine wunderbare Stille eintrat.

»Meine Brüder«, sagte Stephen, dessen leise Stimme deutlich vernommen ward, »und meine Arbeitsgenossen – denn das seid ihr für mich, obwohl, wie ich gut weiß, nicht für diesen Abgeordneten hier – ich habe euch bloß ein Wort zu sagen, und ich könnte euch nicht mehr sagen, wenn ich bis zum andern Morgen spräche. Ich weiß wohl, was mich erwartet. Ich weiß wohl, daß ihr alle entschlossen seid, nichts mehr mit einem Manne zu tun zu haben, der in dieser Angelegenheit nicht mit euch geht. Ich weiß wohl, daß, wenn ich auf der Gasse bettelnd verenden müßte, ihr es für recht halten würdet, an mir wie an einem Fremden und Ausländer vorüberzugehen. Nun, was mein Schicksal ist, damit muß ich zufrieden sein.«

»Stephen Blackpool«, sagte der Vorsitzende, indem er sich erhob, »überlege es dir noch einmal. Überlege es dir nochmals, mein Junge, ehe du von all deinen alten Freunden gemieden wirst.«

Ein allgemeines Murmeln gab sich zur Bekräftigung dessen kund, obgleich niemand ein Wort verlauten ließ. Alle Augen waren auf Stephens Gesicht geheftet. Wenn er einen Entschluß bereute, so würde er eine schwere Last von ihren Gemütern abwälzen. Er blickte um sich und wußte, daß dieses der Fall war. Nicht ein Funke von Zorn loderte in ihren Herzen, er kannte sie tiefer als ihre oberflächlichen Schwächen und Irrtümer reichten – wie niemand außer ihrem Arbeitsgenossen sie kennen konnte.

»Ich habe es mir überlegt, genau überlegt, Sir. Ich kann einfach nicht beitreten. Ich muß den Weg einschlagen, der vor mir liegt. Ich muß von euch allen hier Abschied nehmen.«

Er machte ihnen eine Art Reverenz, indem er die Arme emporhielt und verharrte einen Augenblick in dieser Stellung. Er sprach nicht wieder, bis sie ihm ein wenig zur Seite traten.

»Sehr viele freundliche Worte sind von manchen der Anwesenden mit mir gewechselt worden; sehr viele Gesichter sehe ich hier, die ich sah, als ich noch jung und heiterer war als jetzt. Ich habe, seitdem ich geboren, nie mit einem der Anwesenden einen Streit gehabt, und Gott weiß, ich habe auch jetzt keinen Streit durch meine Schuld. Ihr werdet mich Verräter und wer weiß wie noch schelten, ich meine Euch damit – sich an Slackbridge wendend – aber es ist leichter, jemanden schelten als beweisen. Und damit habe ich genug gesagt.«

Er war einen oder zwei Schritte vorgetreten, um die Tribüne zu verlassen, als er sich an etwas erinnerte, das er noch zu sagen hatte, und nochmals umkehrte.

»Vielleicht«, sagte er, und wandte sein gefurchtes Gesicht langsam im Halbkreis, um anzudeuten, daß er seine Worte an sämtliche Zuhörer, sowohl die nahen wie die fernen, persönlich richten wolle. »Vielleicht, wenn diese Frage abgetan und erörtert sein wird, daß ihr dann mit Arbeitniederlegung droht, wenn man mir erlaubt, unter euch weiter zu arbeiten. Ich hoffe, daß ich eher sterben werde, als daß diese Zeit wirklich kommt, und ich werde abgesondert unter euch arbeiten, bis das geschehen wird. Wirklich, ich muß das tun, meine Freunde; nicht euch zum Trotze, sondern um leben zu können. Ich habe nichts als meine Arbeit, wovon ich leben kann, und wohin kann ich mich noch wenden, ich, der ich hier in Coketown von Kindesbeinen an gearbeitet habe? – Ich beklage mich nicht darüber, daß ich so weit gebracht worden, daß ich verstoßen und verachtet bin für die Zukunft. Aber ich hoffe, man wird mich arbeiten lassen. Wenn ich überhaupt auf irgendein Recht Anspruch machen kann, so ist es eben darauf, meine ich.«

Kein Wort ließ sich vernehmen. Kein Laut ließ sich im ganzen Gebäude hören, nur das leise Rauschen der beiseite tretenden Leute, die in der Mitte des Saals einen Gang freimachten, um den Mann hindurchzulassen, dem sie die Kameradschaft aufgekündigt hatten. Ohne jemanden anzusehen, doch mit anspruchsvoller Festigkeit, verließ der alte Stephen, mit all seinem Kummer auf dem Herzen, den Schauplatz.

Hierauf schickte sich Slackbridge, der den oratorischen Arm während seines Hinausgehens ausgestreckt hielt, als wollte er mit unendlicher Sorgfalt und vermittels einer wunderbar moralischen Macht die heftigen Leidenschaften der Menge unterdrücken, wieder an, ihre Gemüter aufzurichten. – »Hatte nicht Brutus, der Römer, oh, meine britischen Mitbürger, seinen Sohn zum Tode verurteilt, und hatten nicht, oh, meine bald triumphierenden Freunde, spartanische Mütter ihre fliehenden Kinder den scharfen Schwertern des Feindes entgegengetrieben? – War es also nicht die heilige Pflicht der Männer von Coketown, mit den Vorfahren vor ihnen – mit der bewundernden Mitwelt im Verein mit ihnen – und mit der Nachwelt nach ihnen – war es nicht ihre heilige Pflicht, frage ich, die Verräter aus den Zelten zu treiben, die sie in einer heiligen und Gott wohlgefälligen Sache aufgerichtet hatten? Die Lüfte des Himmels antworteten: ›Ja‹, und trugen dieses Ja nach Osten, Westen, Süden und Norden. Und darum ein dreimaliges Hoch! für das vereinigte Arbeiter-Tribunal!«

Slackbridge machte den Chorführer und schlug den Takt. Die Menge mit skeptischen Mienen (mit dem Ausdruck der Gewissensunruhe) lebte bei dem Tone neu auf und stimmte ein. Das Privatgefühl muß der allgemeinen Sache weichen. Hurra! Das Dach zitterte noch von dem Beifallsgeschrei, als die Versammlung sich zerstreute.

Stephen Blackpool führte nun das einsamste Leben – das Leben der Einsamkeit unter einer vertrauten Menge. Der Fremde im Lande, der in zehntausend Gesichter starrt, um einen teilnehmenden Blick zu erhaschen und ihm niemals begegnet, ist im Vergleich mit ihm, der täglich an zehn abgewandten Gesichtern vorübergeht, die früher sämtlich das Antlitz so vieler Freunde waren, noch in erheiternder Gesellschaft. Diese Erfahrung sollte nun Stephen in jedem wachen Augenblick seines Lebens machen – bei der Arbeit, auf seinem Wege zu und von dieser, vor seiner Tür, an seinem Fenster – überall – In gemeinschaftlichem Einverständnis vermieden sie selbst die Seite der Straße, die er gewöhnlich einschlug, und von sämtlichen Arbeitern ging er allein auf dieser.

Er war viele Jahre lang ein ruhiger, stiller Mann gewesen, hatte sich nur wenig zu andern gesellt und war an die Gesellschaft seiner eigenen Gedanken gewöhnt. Er hatte früher nie gewußt, wie stark das Bedürfnis seines Herzens nach einem Zunicken, einem Blick oder Wort war, und ebenso wußte er nicht, wie unendlich groß der Trost war, den er durch solche unbedeutenden Dinge tropfenweise einschlürfte. Es fiel ihm selbst schwerer, als er es für möglich hielt, das Verlassensein von seinen Gefährten in seinem Bewußtsein von einem grundlosen Gefühl der Schande und des Schimpfes zu trennen.

Die ersten vier Tage seiner Leidenszeit waren so lang und düster, daß er selbst vor dem, was ihm bevorstand, zu erschrecken begann. Nicht nur, daß er während der ganzen Zeit nichts von Rachael sah; er vermied auch jede Gelegenheit, sie zu sehen. Obgleich er zwar wußte, daß das Verbot sich noch nicht auf die Arbeiterinnen der Fabriken erstreckte, so merkte er doch, daß einige von ihnen, mit denen er bekannt war, nun ganz verändert gegen ihn waren. Er fürchtete nun, bei andern die gleiche Erfahrung zu machen. Er bebte vor dem Gedanken zurück, daß selbst Rachael von den übrigen gemieden werden würde, wenn man sie in seiner Gesellschaft sähe. So brachte er denn vier Tage ganz allein zu und hatte mit niemanden ein Wort gesprochen, als er eines Abends beim Nachhausegehen von der Arbeit von einem jungen Manne mit äußerst heller Gesichtsfarbe in der Straße angesprochen wurde.

»Ihr heißt Blackpool, nicht wahr?« sagte der junge Mann.

Stephen errötete darüber, daß er sich plötzlich mit dem Hute in der Hand sah, und zwar aus Dankbarkeit wegen der Anrede, oder weil sie so unerwartet geschah, oder aus beiden Gründen zugleich. Er stellte sich, als ob er das Futter in Ordnung brächte und sagte: »Ja.«

»Ihr seid der Arbeiter, den man nach Coventry9 geschickt hat, nicht wahr?« sagte Bitzer, denn dieser war der erwähnte junge Mann mit heller Gesichtsfarbe.

Stephen bejahte abermals.

»Dann geht nur gefälligst gleich hin!« sagte Bitzer. »Ihr werdet erwartet und braucht dem Diener bloß zu sagen, daß Ihr es seid. Ich gehöre zur Bank. Wenn Ihr nun ohne mich geradeswegs hinaufgeht (ich bin geschickt worden, um Euch zu holen), so erspart Ihr mir einen Gang.«

Stephen, dessen Weg in der entgegengesetzten Richtung lag, wandte sich um und begab sich, seiner Pflicht gemäß, in das rote Backsteinschloß des Riesen Bounderby.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

»Nun, Stephen«, rief Bounderby in seiner aufgeblasenen Weise, »was für Dinge hör‘ ich? Was haben diese Pestbeulen der Erde denn mit Euch gemacht? Kommt herein und sprecht.«

Damit ward er in das Empfangszimmer geladen. Ein Teetisch war gedeckt, und Mr. Bounderbys junge Frau sowie ihr junger Bruder und ein großer Gentleman aus London waren noch zugegen. Stephen machte ihnen seine Verbeugung, schloß die Tür und blieb mit dem Hut in der Hand in deren Nähe stehen.

»Das ist der Mann, von dem ich Ihnen gesprochen habe, Harthouse«, sagte Mr. Bounderby. Der Gentleman, an den er sich wandte und der mit Mrs. Bounderby in einem Gespräch begriffen auf dem Sofa saß, stand auf und sagte in lässigem Tone: »Oh, wirklich?« Dabei schlenderte er nach dem Kamin, bei dem Mr. Bounderby stand.

»Nun«, sagte Bounderby, »sprecht nur gerade heraus!«

Nach den vier verlebten Tagen klang diese Ansprache rauh und unwirsch an Stephens Ohr. Abgesehen davon, daß sie in brutaler Weise sein verwundetes Gemüt berührte, schien sie anzunehmen, daß er wirklich der selbstsüchtige Abtrünnige sei, den man ihn gescholten.

»Was ist es, Sir«, sagte Stephen, »was Sie von mir wünschen?«

»Nun, ich habe es Euch gesagt«, erwiderte Bounderby. »Sprecht heraus wie ein Mann, da Ihr doch ein Mann seid und erzählt uns von Euch und dieser Arbeiterverbindung.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Stephen Blackpool. »Ich habe darüber nichts mitzuteilen.«

Mr. Bounderby, der stets mehr oder weniger einem Winde glich, fing, da ihm hier etwas im Wege stand, sogleich an, dieses Etwas anzuhauchen.

»Nun, sehen Sie einmal, Harthouse«, rief er, »hier ist ein Muster von diesen Leuten. Als der Mann schon früher einmal hier war, warnte ich ihn vor den unheilbringenden Fremden, die stets geschäftig sind – und die man hängen sollte, wo man sie nur findet – und ich sagte diesem Mann, daß er einen falschen Weg einschlägt. Können Sie nun glauben, daß er, obgleich seine Kameraden ihn in dieser Weise gebrandmarkt haben, ihnen noch immer so sklavisch unterworfen ist, daß er sich scheut, den Mund über sie aufzutun?«

»Ich sagte, daß ich nichts mitzuteilen habe, Sir; nicht, daß ich mich fürchtete, den Mund aufzutun.«

»Das sagtet Ihr. Ah, ich weiß, was Ihr sagtet; und seht, was noch mehr ist, ich weiß, was Ihr denkt. Zum Donnerwetter! Was man sagt und was man denkt, ist nicht immer ein und dasselbe. Oft ganz verschiedene Dinge. Sagt uns lieber gleich heraus, daß jener Kerl, der Slackbridge, nicht in der Stadt ist, um das Volk zur Meuterei aufzuhetzen, und daß er nicht ein regelrecht qualifizierter Volksführer ist – das heißt ein ganz verfluchter Schurke! Sagt das lieber gleich heraus; Ihr könnt mich nicht täuschen. Das wollt Ihr uns sagen. Warum tut Ihr es nicht?«

»Es tut mir ebenso leid wie Ihnen, wenn die Führer des Volkes schlecht sind«, sagte Stephen kopfschüttelnd. »Man nimmt die, die sich anbieten. Vielleicht ist es nicht das geringste Unglück, daß das Volk keine besseren Führer haben kann.«

Der Wind fing an, noch heftiger zu hauchen.

»Nun, Sie werden denken, das klingt recht hübsch, Harthouse«, sagte Mr. Bounderby. »Sie werden denken, das ist ziemlich stark. Sie werden sagen, bei meiner Seele, das ist eine nette Kostprobe davon, womit meine Freunde zu tun haben. Aber das ist noch nichts, Sir! Hören Sie mich einmal an diesen Mann eine Frage stellen. Bitte sehr, Mr. Blackpool« – der Wind sprang jetzt äußerst heftig auf – »darf ich mir die Freiheit nehmen, Sie zu fragen, wie es kommt, daß Sie sich weigerten, an diesem Bündnis teilzunehmen?«

»Wie es kommt?«

»Jaja!« sagte Mr. Bounderby, mit den Daumen in den Ärmeln seines Rockes, den Kopf zurückgeworfen und mit den Augen der gegenüberliegenden Wand vertraulich zublinzelnd, »wie es kommt?«

»Ich möchte es lieber nicht berühren; da Sie aber einmal die Frage an mich stellen, und ich nicht unhöflich sein will, so werde ich antworten. Ich habe ein Versprechen gegeben.«

»Nicht mir, wie Ihr wissen werdet«, sagte Bounderby. (Stürmisches Wetter mit trügerischer Stille jetzt vorherrschend.)

»O nein, Sir. Nicht Ihnen.«

»Was mich betrifft, so hat die Rücksicht auf mich dabei nicht das mindeste zu tun«, sagte Bounderby, immer noch vertraulich der Wand sich zukehrend. »Wenn Josiah Bounderby von Coketown bloß im Spiele gewesen wäre, so würdet Ihr beigetreten sein und Euch kein Gewissen daraus gemacht haben?«

»Jawohl, Sir. Das ist richtig.«

»Obwohl er weiß«, sagte Mr. Bounderby, jetzt in einen Sturm ausbrechend, »daß sie eine Bande von Spitzbuben und Rebellen sind, für die Deportation noch zu gut ist. Nun, Mr. Harthouse, Sie sind ein wenig in der Welt herumgekommen. Sind Sie jemals einem Manne wie diesem in unserm gesegneten Lande begegnet?« Mr. Bounderby wies hier auf ihn mit zornigem Finger.

»Nein, Ma’am«, sagte Stephen Blackpool, gegen solche Worte lebhaft protestierend, und richtete seine Worte instinktmäßig an Luise, auf deren Züge er einen raschen Blick geworfen. »Keine Rebellen und auch keine Spitzbuben. Nichts dergleichen, Ma’am, nichts dergleichen. Meine Kameraden haben mir, meinem Wissen und Gefühle nach, Ma’am, nichts Gutes erwiesen. Aber es gibt kein Dutzend Männer unter ihnen, Ma’am – ein Dutzend? nicht sechs gibt es unter ihnen, die nicht glauben, daß sie selbst und die übrigen ihre Schuldigkeit getan. Gott bewahre, daß ich, der ich mein ganzes Leben lang diese Männer aus Erfahrung kenne – ich, der ich mit ihnen gegessen und getrunken habe, mich mit ihnen plagte und sie liebte – mich weigern sollte, mit ihnen für die Wahrheit einzustehen, mögen sie mir auch getan haben, was sie wollen!«

Er sprach mit dem rauhen Ernst seines Standes und Charakters – der vielleicht durch das stolze Bewußtsein erhöht, daß er seiner eigenen Klasse treu geblieben war, trotzdem sie ihm mißtraut hatten. Er vergaß jedoch keinen Augenblick, wo er war und erhob nicht einmal die Stimme. »Nein, Ma’am, nein. Sie sind einander treu, sind sich gut und ergeben bis zum Tode. Man sei arm, krank oder mit Kummer beladen unter ihnen – aus einer der vielen Ursachen, die den Gram zur Pforte des Armen führen – und sie begegnen einem liebevoll, freundlich, teilnehmend und christlich. Dessen können Sie gewiß sein, Ma’am. Sie würden sich eher in Stücke reißen lassen, als daß sie anders sein möchten.«

»Kurz«, sagte Mr. Bounderby, »bloß weil sie so voll guter Eigenschaften sind, haben sie Euch aufs Trockene gesetzt. Erzählt nun vollends, weil Ihr gerade im Zuge seid. Heraus damit!«

»Wie es kommt, Ma’am«, sagte Stephen, dem Luises Gesicht wie eine natürliche Zufluchtsstätte erschien, »daß gerade das, was das Beste an unsern Leuten ist, stets zu unserm Unglück und zu unserer Verwirrung ausschlägt, das kann ich nicht sagen. Aber es ist einmal so. Ich weiß das so gewiß, wie ich weiß, daß über mir, hinter dem Rauche, der Himmel ist. Wir sind auch geduldig und wollen im allgemeinen nur das Rechte tun. Und ich kann nicht glauben, daß der Fehler nur auf unserer Seite liegt.«

»Nun, mein Freund«, sagte Mr. Bounderby, den er, obgleich es ganz absichtslos geschah, durch nichts mehr hätte aufbringen können, als dadurch, daß er sich an eine andere Person wandte. »Wenn Ihr mir für eine halbe Minute Eure Aufmerksamkeit gönnen wollt, so würde ich gerne ein oder zwei Worte mit Euch sprechen. Ihr sagtet eben, daß Ihr uns über diese ganze Angelegenheit nichts mitzuteilen hättet. Seid Ihr dessen ganz gewiß? sprecht, ehe wir weiter fortfahren.«

»Sir, ich bin dessen gewiß.«

»Hier ist ein Herr aus London«, Mr. Bounderby machte eine Bewegung mit dem Rücken der Hand und deutete mit dem Daumen auf Mr. James Harthouse, »ein Parlamentsmitglied. Ich möchte, daß er ein kurzes Zwiegespräch zwischen Euch und mir anhört, statt bloß den Inhalt an sich – denn ich weiß im voraus nur zu wohl, was es sein wird. Niemand weiß es besser als ich, das merkt Euch wohl – anstatt daß er es von mir auf Treu und Glauben hinnehmen muß.«

Stephen verneigte sich gegen den Herrn aus London und zeigte mehr Verwirrung als gewöhnlich. Er wandte die Augen unwillkürlich nach der früheren Zufluchtsstätte; aber ein ausdrucksvoller kurzer Blick von dieser Seite hieß ihn, seine Augen auf Mr. Bounderbys Gesicht zu richten.

»Nun, worüber beklagt Ihr Euch?« fragte Mr. Bounderby.

»Ich bin nicht hierher gekommen«, erinnerte ihn Stephen, »mich zu beklagen. Ich kam, weil man nach mir geschickt hat.«

»Worüber«, wiederholte Mr. Bounderby, indem er die Arme kreuzte, beklagt ihr Leute euch im allgemeinen?«

Stephen betrachtete ihn eine Weile mit einiger Unentschlossenheit; dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Sir, ich mochte mich niemals darüber auslassen, obwohl ich mein Teil mitgelitten habe. Wir stecken in der Tat in tiefer Wirrnis, Sir. Blickt in der Stadt umher – so reich sie auch ist – und betrachtet die Zahl der Leute, die nur dazu geboren scheinen, um zu weben und Wolle zu krempeln, und die das Leben, alle in gleicher Weise, fristen – von ihrer Wiege bis zu ihrem Grab. Seht doch, wie wir leben, wo wir leben und in welcher Anzahl, unter welchen Aussichten und mit welcher Gleichförmigkeit! Seht nur, wie die Maschinen immerfort arbeiten, und wie sie uns doch nie einem fernen Gegenstande näher bringen – außer stets dem Tode. Seht nur, wie ihr uns beurteilt und über uns schreibt und sprecht und unsertwegen eure Deputationen zum Staatssekretär schickt, und wie ihr stets Recht habt und wir stets Unrecht, und wie wir keinen Funken Verstand in uns haben, seitdem wir geboren wurden. Seht nur, wie das zugenommen hat, Sir, stärker und stärker, immer weiter und weiter und immer schwerer und schwerer, von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation. Wer kann das alles betrachten, Sir, und einem Manne kühn sagen, daß es kein trauriger Zustand ist?«

»Ohne Zweifel«, sagte Mr. Bounderby. »Vielleicht wollt Ihr nun dem Herrn mitteilen, wie man aus diesem traurigen Zustand (wie Ihr es zu nennen beliebt) herauskommen kann?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Das kann man von mir nicht erwarten. Es ist nicht meine Aufgabe, die Sache in Ordnung zu bringen, Sir. Das kommt denen zu, die über mir stehen und über allen andern von uns. Weshalb haben sie die Sache übernommen, Sir, wenn nicht, um sie in Ordnung zu bringen?«

»Ich will Euch ein Mittel sagen, das auf jeden Fall hilft«, versetzte Mr. Bounderby. »Wir wollen an einem halben Dutzend Slackbridges ein Exempel statuieren. Wir werden diese Lumpenkerle wegen Hochverrat verklagen und sie in die Strafkolonien transportieren lassen.«

Stephen schüttelte ernst den Kopf.

»Sagt mir nicht, Mann, daß wir es nicht tun werden«, sagte Mr. Bounderby, in einen Orkan ausbrechend, »denn ich sage Euch, daß wir es tun werden.«

»Sir«, entgegnete Stephen mit dem ruhigen Vertrauen vollkommener Sicherheit, »wenn Sie hundert Slackbridges nehmen – alle die existieren, und ihre Anzahl noch zehnfach vergrößert gedacht – und Sie diese in einzelne Säcke nähen und sie in den tiefsten Ozean versenken würden, der vor der Erschaffung des festen Landes vorhanden war, so würde der traurige Zustand doch bleiben wie er ist. Unheilbringende Fremde«, fügte Stephen mit einem unruhigen Lächeln hinzu, »wann hätten wir wohl, soweit unsere Erinnerung reicht, von diesen unheilbringenden Fremden nicht gehört! Aber nicht durch sie sind die Unruhen hervorgerufen worden, und nicht durch sie haben sie begonnen. Ich habe keine Vorliebe für sie – ich habe keinen Grund, ihnen gewogen zu sein – aber es ist unnütz und hoffnungslos, davon zu träumen, sie ihrem Gewerbe zu entreißen, anstatt das Gewerbe ihnen zu entreißen. Alles, was in diesem Zimmer um mich ist, war hier, bevor ich kam und wird hier sein, wenn ich fort bin. Nehmen Sie jene Standuhr und versenden Sie sie nach den Norfolkinseln, so wird die Zeit doch wie früher ihren Lauf fortsetzen. So ist es aufs Haar mit den Slackbridges.«

Ein schneller Blick nach seiner früheren Zufluchtsstätte ließ ihn bemerken, wie Luise ihre Augen warnend nach der Tür bewegte. Er trat zurück und legte die Hand auf das Schloß. Aber er hatte nicht nach seinem eigenen Wunsch und Willen gesprochen, und er fühlte in seinem Innern, daß es eine edle Vergeltung für die jüngst empfangene ungerechte Behandlung sei, denen, die ihn zurückgestoßen, bis zuletzt treu zu bleiben. Er blieb, um zu vollenden, was ihm noch am Herzen lag.

»Sir, bei meinen geringen Kenntnissen und meiner schlichten Weise kann ich dem Herrn nicht sagen, wodurch das alles gebessert werden kann – obgleich manche Arbeiter aus unserer Stadt, die mir überlegen sind, es tun könnten – aber ich bin imstande, ihm zu sagen, wodurch es nicht geschehen kann. Die Hand der Gewalt wird es niemals tun können. Sieg und Triumph werden es niemals zustande bringen. Das Übereinkommen, der einen Partei unnatürlicherweise für immer und ewig Recht zu geben, und der andern Partei unnatürlicherweise für immer und ewig Unrecht, wird es nie und nimmer zustande bringen. Auch damit wird man nichts ausrichten, daß man sie sich allein überläßt. Laßt Tausende über Tausende allein – und die gleiche Lebensweise führen und in denselben Schlamm versinken, und diese Tausende werden immer für sich stehen und ihr für euch, und es wird eine dunkle, undurchdringliche Nacht zwischen euch bleiben, die gerade eine so lange oder kurze Zeit währt, wie dergleichen Elend dauern kann. Auch dadurch, daß man sich den Leuten nicht nähert – mit Güte, Geduld und Freundlichkeit – die gewohnt sind, sich in ihrem Unglück so eng aneinander anzuschließen, und sich in ihrem Ungemach gegenseitig so liebgewinnen – wie, nach meiner bescheidenen Meinung, der Herr auf all seinen Reisen keine Leute sah, von denen sie übertroffen würden – auch dadurch wird man nichts ausrichten, bis die Sonne sich in Eis verwandeln würde. Und schließlich dadurch, daß man sie als eine gewisse Kraft abschätzt, und sie so reguliert, als wären sie bloß Zahlen in einer Summe oder bloße Maschinen – ohne Lust und Liebe, ohne Erinnerungen und Neigungen, ohne Seelen, die erschlaffen und in Hoffnung aufleben können – dadurch, daß man, wenn alles ruhig ist, mit ihnen verfährt, als gehörten sie nicht zur Menschheit, und wenn es wieder unruhig wird, ihnen den Mangel an menschlichen Gefühlen in ihrem Betragen gegen euch vorwirft – dadurch wird niemals was ausgerichtet werden, Sir, bis einmal Gottes Werk zugrunde geht!«

Stephen stand mit der offenen Tür in der Hand und wartete, um zu erfahren, ob man noch etwas von ihm zu wissen verlangte.

»Bleibt nur noch einen Augenblick«, sagte Mr. Bounderby, außerordentlich rot im Gesicht. »Ich sagte Euch, als Ihr jüngst mit einer Beschwerde hier waret, daß Ihr Euch lieber die Sache aus dem Kopfe schlagen möchtet. Und ich sagte Euch auch, daß ich die Aussicht auf den goldenen Löffel wohl gemerkt habe.«

»Ich habe nicht danach gestrebt, Sir; dessen kann ich Sie versichern.«

»Nun ist es mir klar«, sagte Mr. Bounderby, »daß Ihr zu jenen sauberen Kunden gehört, die stets eine Beschwerde haben. Und Ihr treibt Euch damit herum, sie zu verbreiten und Lärm zu schlagen. Das ist das Geschäft Eures Lebens, mein Freund.«

Stephen schüttelte den Kopf, als wollte er stillschweigend dagegen protestieren, da er in der Tat einen andern Lebensruf hatte.

»Ihr seid ein solcher Zänker und Stänker«, sagte Mr. Bounderby, »und ein so nichtsnutziger Bursche, daß selbst Euer Verein, dessen Mitglieder Euch am besten kennen werden, mit Euch nichts zu tun haben will. Ich dachte nie daran, daß jene Burschen in etwas recht haben könnten, aber ich will Euch etwas sagen! der Neuigkeit wegen gehe ich jetzt insofern mit ihnen, daß auch ich mit Euch nichts mehr zu tun haben will.«

Stephen heftete die Augen rasch auf sein Gesicht.

»Ihr könnt die Arbeit vollenden, an der Ihr gerade seid«, sagte Mr. Bounderby mit einem bedeutsamen Kopfnicken, »und dann anderswo hingehen.«

»Sir, Sie wissen recht gut,«, sagte Stephen mit Nachdruck, »daß, wenn ich nicht bei Ihnen Arbeit bekomme, mir sonst keine gegeben wird.«

Die Antwort lautete: »Was ich weiß, das weiß ich, und Ihr wißt, was Ihr wißt. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Stephen warf wieder einen Blick auf Luise, ihre Augen waren jedoch nicht mehr auf die seinen gerichtet. Er entfernte sich daher mit einem Seufzer und rief mit stockendem Atem: »Der Himmel steh uns allen bei in dieser Welt!«

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Die Partei der Gradgrinds bedurfte des Beistandes bei der Ermordung der Grazien. Sie gingen auf Rekrutierung aus, und wo konnten sie leichter Rekruten finden, als unter den seinen Gentlemen, die, da sie sich überzeugt, daß alles und jedes nichts wert sei, gleichfalls zu allem bereit sein würden?

Außerdem besaßen diese munteren Geister, die sich zu dieser erhabenen Höhe emporgeschwungen, für gar viele aus der Gradgrindischen Schule zu große Anziehungskraft. Sie waren für die feinen Gentlemen eingenommen; sie behaupteten, daß dies nicht der Fall sei, aber es war doch so. Sie erschöpften sich in Nachahmungen von ihnen; ihnen gleich gackerten sie im Sprechen, und mit einer schlaffen Manier kramten sie die winzigen schimmligen Portionen von Staatsökonomie aus, mit denen sie ihre Jünger erquickten. Eine so wunderbar bastardartige Rasse, wie die auf diese Weise erzeugte, war früher nie auf Erden gesehen worden.

Unter den feinen Gentlemen, die nicht förmlich zu der Gradgrindischen Schule gehörten, befand sich einer aus guter Familie und mit noch besserem Äußern, der einen glücklichen Anstrich von Humor besaß. Dieser Humor bewährte sich großartig im Unterhaus, als er dieses mit seiner Ansicht (und mit der des Direktoren-Ausschusses) über einen Eisenbahnunfall unterhielt, bei dem die umsichtigsten Beamten, die man jemals gekannt, angestellt von den edelsten Vorstehern, von denen man jemals gehört, unterstützt durch die kunstvollsten mechanischen Erfindungen, die je erdacht wurden und zwar auf der besten Bahn, die jemals gebaut worden, durch einen Zufall, ohne den das ganze System durchaus unvollständig gewesen wäre, fünf Personen töten und zweiunddreißig verwunden ließen. Unter den Getöteten befand sich eine Kuh, und unter den zerstreuten Gepäckstücken, die keinen Eigentümer hatten, war die Haube einer Witwe. Das ehrenwerte Mitglied hatte nun besagtes Unterhaus (das einen delikaten Sinn für Humor hat), indem er der Kuh die Haube aufsetzte, so amüsiert, daß er wegen einer ernsthaften Untersuchung des Coroners in Ungeduld geriet und die Eisenbahn unter Beifallsrufen und Gelächter ad acta legte.

Dieser Gentleman hatte nun einen jüngeren Bruder von noch besserem Äußeren als das seine war. Dieser hatte das Leben eines Cornets bei den Dragonern versucht und es langweilig gefunden. Darauf hatte er es in dem Gefolge eines englischen Ministers im Auslande versucht und es auch da langweilig gefunden. Hierauf war er nach Jerusalem getrollt und langweilte sich auch da wieder. Dann war er mit Jachtschiffen in der Welt umhergesegelt und fand sich überall gelangweilt. Zu diesem sagte nun das ehrenwerte und spaßhafte Mitglied eines Tages in brüderlicher Weise: »Jem, unter den Anhängern der trockenen Tatsachen bietet sich gute Aussicht, und sie brauchen Leute. Es wundert mich, daß du nicht unter sie gehst, um ihre Statistik zu studieren.«

Jem, der von der Neuheit der Idee ziemlich eingenommen war und der, weil er gar keine Abwechslung hatte, sich recht unglücklich fühlte, zeigte sich ebenso bereit, auf »Statistik auszugehen« wie auf irgend was anderes. Demnach ging er nun darauf aus.

Er machte sich mit einem oder zwei Blue Books auf die Reise, und sein Bruder sprengte es unter den Anhängern der trockenen Tatsachen aus und sagte: »Wenn ihr für irgendeinen Wahlkreis einen famosen Kerl auftreiben wollt, der euch eine verflucht gute Rede fabrizieren kann, so wendet euch an meinen Bruder Jem; denn er ist der Mann dazu.«

Nachdem man durch Volksversammlungen einigen Lärm geschlagen, erklärten sich Mr. Gradgrind und ein Rat von politischen Weisen für Jem; und es wurde beschlossen, ihn nach Coketown zu senden, damit er dort und in der Nachbarschaft bekannt werde. Daher kam der Brief, den Jem vorigen Abend Mrs. Sparsit gezeigt hatte und den Mr. Bounderby jetzt in der Hand hielt – mit der Überschrift: »An Josiah Bounderby, Esquire. Bankier.

Coketown. Betrifft besonders die Empfehlung von James Harthouse, Esquire. Thomas Gradgrind.«

»Eine Stunde nach dem Empfang dieser Botschaft und einer Karte von Mr. James Harthouse, setzte sich Mr. Bounderby den Hut auf und ging nach dem Hotel. Er fand dort Mr. James Harthouse in einem so trostlosen Gemütszustand zum Fenster hinaussehend, daß dieser schon halb bereit gewesen sein mußte, auf etwas anderes »auszugehen«.

»Mein Name, Sir«, sagte der Besucher, »ist Josiah Bounderby von Coketown.«

Mr. James Harthouse schätzte sich in der Tat sehr glücklich (obwohl er kaum danach aussah), ein Vergnügen zu haben, das er so lange erwartet hatte.

»Coketown, Sir«, sagte Bounderby, sich in seiner unbekümmerten Art einen Stuhl nehmend, »gehört nicht zu den Orten, an die Sie gewöhnt sein dürften. Ich will Ihnen daher, wenn Sie erlauben – oder ob Sie es erlauben oder nicht erlauben, denn ich bin ein Mann ohne Umstände – etwas darüber sagen, ehe wir weiterschreiten.«

Mr. Harthouse war entzückt.

»Seien Sie dessen nicht zu gewiß«, sagte Bounderby, »ich verspreche es Ihnen nicht. Vor allem betrachten Sie unsern Rauch. Der ist Speise und Trank für uns. Er ist das Gesündeste von der Welt in jeder Hinsicht, besonders aber für die Lungen. Wenn Sie zu denen gehören, die verlangen, daß wir ihn beseitigen sollen, so bin ich nicht Ihrer Meinung. Wir werden den Boden unserer Dampfkessel wegen all der Humanitätsduselei in Großbritannien und Irland nicht schneller vernichten, als es jetzt geschieht.«

Er wolle sich gleich völlig in die Arme der Partei werfen, erwiderte Mr. Harthouse. »Mr. Bounderby, ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich ganz und gar Ihrer Ansicht bin. Aus Überzeugung.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Bounderby. »Sie werden ohne Zweifel viel Geschwätz über das Arbeiten in unseren Fabriken gehört haben. Nicht wahr? Nun schön. Ich werde Ihnen das Tatsächliche darüber mitteilen. Es ist die beste Arbeit, die existiert, es ist die leichteste Arbeit, die existiert, und es ist die bestbezahlte Arbeit, die existiert. Was noch mehr ist, wir könnten die Fabriken in keinen bessern Zustand versetzen, es sei denn, daß wir den Fußboden mit türkischen Teppichen belegten. Das können wir aber nicht tun.«

»Sehr richtig, Mr. Bounderby.« »Und nun«, sagte Bounderby, »zu unseren Arbeiten. Es gibt keine ›Hand‹ in unserer Stadt, Sir, sei sie Mann, Weib oder Kind, die nicht einen letzten besonderen Lebenszweck sich setzte. Dieser Lebenszweck ist, Schildkrötensuppe und Wildbret mit goldenen Löffeln essen zu können. Nun werden sie es wohl nie erleben, – keiner von ihnen – daß sie Schildkrötensuppe und Wildbret mit goldenen Löffeln essen. Jetzt kennen Sie den Ort.«

Mr. Harthouse gestand, durch den gedrängt kurzen Auszug der ganzen Coketowner Frage, im höchsten Grade belehrt und erbaut zu sein.

»Nun, sehen Sie«, versetzte Mr. Bounderby, »es ziemt sich für meine Stellung, im vollsten Einverständnis mit einem Manne zu stehen, dessen Bekanntschaft ich mache, besonders, wenn es eine Persönlichkeit ist, die dem öffentlichen Leben angehört. Ich habe Ihnen nur noch eines mitzuteilen, Mr. Harthouse, bevor ich Ihnen die Versicherung gebe, mit welchem Vergnügen ich, unter Anwendung all meiner geringen Fähigkeiten, dem Empfehlungsschreiben meines Freundes Tom Gradgrind nachkommen werde. Sie sind ein Mann aus guter Familie. Lassen Sie sich keinen Augenblick durch den Glauben täuschen, daß ich ein Mann von guter Herkunft sei. Ich bin in der Gasse groß geworden und ein echtes Exemplar vom Janhagel.

Wenn irgend was Jems Interesse für Mr. Bounderby erhöhen konnte, so würde es gerade dieser Umstand gewesen sein. Wenigstens sagte er so.

»Nun denn«, sagte Bounderby, »jetzt können wir, auf gleichem Fuß stehend, uns die Hände schütteln. Ich sage auf gleichem Fuß. Ich weiß zwar, woher ich stamme und kenne genau die Tiefe des Pfuhls, aus dem ich mich emporgeschwungen habe, besser wie jeder andere. Aber darum bin ich doch voll ebensoviel Selbstbewußtsein, wie Sie selbst. Ich bin gerade so stolz wie Sie. Nachdem ich nun meine Unabhängigkeit in gehöriger Weise dargetan, so darf ich wohl zur Frage kommen: Wie befinden Sie sich? Ich hoffe recht wohl.«

»Besser als sonst«, gab ihm Mr. Harthouse zu verstehen, während sie sich die Hände schüttelten, »infolge der gesunden Luft von Coketown.«

Mr. Bounderby nahm die Antwort gnädig auf.

»Vielleicht wissen Sie«, sagte er, »oder vielleicht wissen Sie es nicht, daß ich Tom Gradgrinds Tochter geheiratet habe. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, als mit mir einen Gang zu machen, so würde es mich freuen, Sie Tom Gradgrinds Tochter vorzustellen.«

»Mr. Bounderby«, sagte Jem, »Sie kommen meinen aufrichtigen Wünschen zuvor.«

Sie gingen fort, ohne weiter das Gespräch fortzusetzen, und Mr. Bounderby steuerte mit seiner neuen Bekanntschaft, die gegen ihn so sehr abstach, dem ziegelroten Privatwohnsitz zu mit den schwarzen Außenschaltern, den grünen Läden und der schwarzen Straßentür oberhalb der zwei weißen Stufen. Im Empfangszimmer dieses Herrschafthauses trat ihnen das merkwürdigste Frauengeschöpf entgegen, das Mr. James Harthouse jemals gesehen. Sie erschien so gezwungen und doch so sorglos, so zurückhaltend und doch so aufmerksam – so kalt und stolz und doch so zart verschämt über ihres Manne« großprahlerische Demut – vor der sie zurückbebte, als wäre jede Probe davon ein Stich oder Schlag – daß es für ihn etwas ganz Neues war, sie zu betrachten. Ihr Gesicht war nicht weniger merkwürdig, als ihr Wesen. Ihre Züge waren schön; aber ihr natürliches Spiel war derart unterdrückt und abgeschlossen, daß es unmöglich schien, ihren ursprünglichen Ausdruck zu erraten. Ganz und gar gleichgültig, vollständig selbstsicher, niemals in Verlegenheit und doch niemals behaglich – mit ihrer Gestalt in der Gesellschaft anwesend, mit dem Geist jedoch offenbar abwesend – war es fruchtlos auf das Verständnis dieses Frauengeschöpfes schon jetzt »auszugehen«, denn sie machte allen Scharfsinn zu Schanden.

Von der Herrin des Hauses ließ der Gast den Blick auf das Haus selbst schweifen. Kein stilles Zeichen der Weiblichkeit war in dem Zimmer sichtbar. Keine anmutige kleine Verzierung, kein warmherziges, wenn auch noch so schlichtes, kleines Zeichen, verkündete hier den Einfluß einer Frau. Ohne Heiterkeit und unbehaglich, mit prahlerischem und mürrischem Pomp ausgeschmückt, glotzte das Zimmer, nicht durch die leiseste Spur einer weiblichen Hand gemildert und verschönt, die Anwesenden an. In derselben Weise, wie Mr. Bounderby seinen Standpunkt in der Mitte seiner Hausgötter einnahm, umgaben diese unnachgiebigen Gottheiten mit ihren Stellungen Mr. Bounderby, und sie waren einander würdig und paßten zusammen.

»Das ist«, sagte Bounderby »meine Frau, Mrs. Bounderby, Tom Gradgrinds älteste Tochter. Lu, Mr. James Harthouse. Mr. Harthouse hat sich der Parteifahne deines Vaters zugesellt. Wenn er echt in kurzem Tom Goadgrinds Kollege sein wird, so werden wir, wie ich glaube, von ihm wenigstens in Verbindung mit einer der benachbarten Städte hören. Sie sehen wohl, Mr. Harthouse, daß meine Frau die jüngere von uns beiden ist. Ich weiß nicht, was sie in mir gesehen haben mochte, als sie mich heiratete. Aber sie muß doch, wie ich vermute, etwas in mir gesehen haben, sonst hätte sie mich nicht geheiratet. Sie hat eine Menge Wissenschaften studiert, Sir, sowohl in politischer wie in sonstiger Beziehung. Wenn Sie etwas nachschlagen wollen, so würde ich in Verlegenheit sein, sollte ich Ihnen ein besseres Sachregister empfehlen, als Lu Bounderby ist.«

Einem angenehmeren lebenden Nachschlagewerk, einer Dame, von der man leichter etwas hätte lernen können, konnte Mr. Harthouse gar nicht anvertraut werden.

»Nur zu!« sagte Mr. Bounderby, »wenn Sie sich aufs Komplimentemachen verlegen, so werden Sie hier gut ankommen, denn Sie stoßen auf keine Konkurrenz. Es war nie meine Gewohnheit Komplimente zu studieren und ich verstehe auch nicht die Kunst, welche zu machen. Es ist Tatsache, daß ich sie verachte. Aber Ihre Erziehung war verschieden von der meinen – ich bin, weiß der Himmel, durch das Leben erzogen worden. Sie sind ein Gentleman, und ich behaupte nicht, ein solcher zu sein. Ich bin Josiah Bounderby von Coketown und das genügt mir. Obwohl ich mich zwar von Stand und Sitten nicht beeinflussen lasse, so mag das doch der Fall bei Lu Bounderby sein. Sie hatte nicht dieselben Vorteile wie ich – Sie werden es Nachteile nennen, ich aber nenne es Vorteile – Sie werden daher, wenn ich so sagen darf, Ihre Kräfte nicht verschwenden.«

»Mr. Bounderby«, sagte Jem, sich lächelnd an Luise wendend, »ist ein edles Roß, sozusagen in Naturzustand und ganz frei von dem Geschirr, in dem ich als konventioneller Gaul mich abarbeiten muß.«

»Sie hegen viel Achtung vor Mr. Bounderby«, erwiderte sie ruhig. »Es ist natürlich, daß Sie es tun.«

Als ein Gentleman, der so vieles in der Welt gesehen hatte, war er schmählich aus dem Sattel geschleudert und dachte: »Nun, wie soll ich das eigentlich nehmen?«

»Sie wollen sich dem Dienste Ihres Vaterlandes widmen, wie ich aus dem folgere, was Mr. Bounderby mir mitgeteilt hat. Sie haben sich entschlossen«, sagte Luise, die sich noch immer auf derselben Stelle befand, wo sie zuerst vor ihm stehen geblieben war – mit all dem sonderbaren Widerspruch ihrer Selbstbeherrschung und ihres offenbar unbehaglichen Zustandes – »der Nation einen Ausweg aus allen ihren Schwierigkeiten zu zeigen?«

»Mrs. Bounderby«, versetzte er lachend, »das denn doch nicht, bei meiner Ehre. Ich will Ihnen gegenüber nicht darauf Anspruch machen. Ich habe hier und da, dies- und jenseits etwas gesehen und ich habe gefunden, daß alles wertlos ist, wie jeder es gefunden, und wie manche es gestehen und andere es wieder nicht gestehen. Ich stehe ein für die Ansichten Ihres geschätzten Vaters – weil ich in der Tat keine andere Wahl habe und möchte sie, wie sonst irgend was, unterstützen.«

»Haben Sie denn keine eigene Meinung?« fragte Luise.

»Mir ist nicht einmal die leiseste Vorliebe übrig geblieben. Ich versichere Sie, daß ich keiner Ansicht, welche es auch je sein mag, die geringste Bedeutung beimesse. Das Ergebnis der verschiedenen langweiligen Lebensetappen, die ich durchlitten, ist die Überzeugung (es sei denn, daß das Wort Überzeugung zu bedeutend ist für das träge Gefühl, das ich für diesen Gegenstand empfinde), daß die eine Reihe von Ansichten gerade soviel Nutzen bringen wird, wie eine andere Reihe von Ansichten und just ebensoviel Nachteil, wie jede andere Reihe. Es gibt eine englische Familie mit einem ausgezeichneten italienischen Sinnspruch: ›Was sein wird, da wird sein!‹ Das ist die einzige gangbare Wahrheit.«

Dieses lasterhafte Bekenntnis seiner Ehrlichkeit in der Unehrlichkeit – ein Laster, das so gefährlich, so tödlich und so allgemein ist – schien, wie er bemerkte, einigermaßen einen günstigen Eindruck bei ihr hervorzubringen. Er verfolgte seinen Vorteil, indem er in der angenehmsten Weise, die ihm zur Verfügung stand, und der sie viel oder wenig Wert beilegen mochte, wie ihr beliebte, noch hinzufügte: »die Partei, die alles mit einem Schlage von Einheiten, Zehnern, Hunderten und Tausenden beweisen kann, diese scheint mir, Mrs. Bounderby, den meisten Spaß zu machen. Bei ihr dürfte man am ehesten sein Glück machen. Ich fühle mich so anhänglich an diese Partei, als ob ich an sie glaubte. Ich bin ganz bereit, für diese einzustehen, in demselben Umfange, als wenn ich an sie glaubte. Und was könnte ich möglicherweise denn mehr tun, wenn ich wirklich an sie glaubte?«

»Sie sind ein sonderbarer Politiker«, sagte Luise.

»Bitte um Verzeihung! Ich habe nicht einmal dieses Verdienst. Wir bilden, ich versichere Sie, Mrs. Bounderby, die größte Partei im Staate, sobald wir nur alle aus dem adoptierten Stande hervortreten und ohne Unterschied der äußeren Stellung geprüft und gemustert würden.«

Mr. Bounderby, der in Gefahr gewesen war vor Stillschweigen zu bersten, fiel hier mit dem Vorschlage ein, das Familiendiner auf halb sieben zu verschieben und mit Mr. James Harthouse in der Zwischenzeit eine Reihe von Besuchen bei den politischen und einflußreichen Persönlichkeiten von Coketown und Umgegend zu machen. Die Reihe von Besuchen ward erledigt; und Mr. James Harthouse kam vermittels eines bescheidenen Gebrauches der Studien, die er in den amtlichen Protokollen gemacht hatte, glücklich durch, mit Triumph, wenn auch mit einem starken Anflug von Langeweile.

Abends fand er den Mittagstisch für vier gedeckt, sie setzten sich aber nur zu drei an den Tisch. Das war eine passende Gelegenheit für Mr. Bounderby, um den Geschmack der geschmorten Aale zu besprechen, die er als achtjähriger Knabe in der Straße um einen halben Penny gekauft, und ebenso den des schlechten Wassers, das eigentlich zum Staublöschen verwendet wird, womit er die Mahlzeit hinuntergeschwemmt. Er unterhielt seinen Gast gleichfalls, während man Suppe und Fische genoß, mit der Berechnung, daß er (Bounderby) in seiner Jugend mindestens drei Pferde in der Gestalt von Fleisch und Blutwürsten gegessen.

Diese Erzählungen nahm Jem hier und da mit einem matten »Was Sie nicht sagen!« entgegen; und sie würden ihn wahrscheinlich zum Entschluß gebracht haben, den folgenden Morgen sich wieder nach Jerusalem aufzumachen, wenn er nicht um Luises willen so neugierig gewesen wäre.

»Gibt es denn nichts«, dachte er, indem er einen flüchtigen Blick auf sie warf, wie sie an der Spitze des Tisches so dasaß, wo ihre jugendliche Gestalt, die klein und schmächtig, aber äußerst anmutig war, ebenso hübsch sich ausnahm, als sie nicht am rechten Platz war, »gibt es denn nichts, das in dieses Gesicht Bewegung bringen könnte?«

Ja! Beim Jupiter, es gab so etwas, und hier stand es in unerwarteter Gestalt. Tom erschien. Sie veränderte sich, als die Tür aufging, und ließ ein strahlendes Lächeln sehen.

Ein schönes Lächeln. Mr. James Harthouse würde nicht so viel Wesens davon gemacht haben, wenn er sich nicht so sehr über ihr starres Gesicht gewundert hätte. Sie streckte ihre Hand aus – ein hübsches, zartes Händchen – und ihre Finger umschlossen die ihres Bruders, als wollte sie diese an ihre Lippen führen.

»Ei, ei«, dachte der Gast, »dieser Bengel ist das einzige Geschöpf, an dem ihr was gelegen ist. So, so!«

Der Bengel ward vorgestellt und nahm seinen Sitz ein. Die Benennung war nicht schmeichelhaft, aber nicht unverdient.

»Als ich in deinem Alter war, junger Mann«, sagte Bounderby, »war ich pünktlich, sonst bekam ich nichts zu essen.«

»Als Sie in meinem Alter waren«, versetzte Tom, »hatten Sie keine falsche Bilanz in Ordnung zu bringen und sich dann für das Diner anzuziehen.« »Sprechen wir denn von etwas anderm«, sagte Bounderby.

»Schön«, murrte Tom. »So fangen Sie nicht an.«

»Mrs. Bounderby«, sagte Harthouse, der den dumpfen Ton gleich ganz richtig auffaßte, wie er sich hören ließ, »das Gesicht Ihres Bruders ist mir wohlbekannt. Kann ich ihn im Ausland gesehen haben? Oder in irgendeiner öffentlichen Schule?«

»Nein«, antwortete sie mit vielem Interesse, »er ist noch nie im Ausland gewesen und ist hier zu Hause erzogen worden. Tom, Lieber, ich sage eben Mr. Harthouse, daß er dich nie im Ausland gesehen haben kann.«

»Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen, Sir«, sagte Tom.

Tom hatte wahrlich wenig Anziehendes an sich, um ihr Gesicht aufzuheitern. Er war ein mürrischer Junge und in seinem Benehmen selbst gegen sie unfreundlich, um so größer muß die Einsamkeit ihres Herzens und ihr Bedürfnis, es auf jemanden zu richten, gewesen sein.

»Um so vielmehr ist dieser Bengel das einzige Geschöpf, an dem ihr je was gelegen war«, dachte Mr. James Harthouse hin und her überlegend, »Um so vielmehr. Um so vielmehr!«

Der Bengel gab sich keine Mühe, gegen Mr. Bounderby sowohl in der Gegenwart seiner Schwester, als auch nachdem sie das Zimmer verlassen, seine Verachtung zu verbergen. So oft er Gelegenheit fand, schnitt er unbemerkt von diesem unabhängigen Mann saure Gesichter oder zwinkerte mit dem Auge.

Ohne auf diese telegraphischen Mitteilungen einzugehen, ermutigte ihn Mr. Harthouse im Verlaufe des Abends und offenbarte eine ungewöhnliche Vorliebe für ihn. Als er sich endlich erhob, um sich nach seinem Hotel zu begeben und einigen Zweifel ausdrückte, ob er des Nachts den Weg finden werde, bot der Bengel augenblicklich seine Dienste als Führer an und ging mit ihm fort, um ihn dahin zu begleiten.

Neunzehntes Kapitel.


Neunzehntes Kapitel.

Es war sehr merkwürdig, daß ein junger Mann, der nach einem konsequenten System unnatürlichen Zwanges erzogen worden, ein Heuchler geworden sein sollte; und doch war das unzweifelhaft bei Tom der Fall. Es war höchst sonderbar, daß ein junger Mann, der sich seiner eigenen Leitung nie auf fünf Minuten hintereinander überlassen war, unfähig sein sollte, sich selbst zu beherrschen. Aber so erging es Tom. Es war ganz und gar unerklärbar, daß ein junger Mann, dessen Phantasie schon in der Wiege erdrosselt worden, dennoch von ihrem Gespenste in der Form grob sinnlicher Leidenschaften heimgesucht werden sollte; aber ein solcher Mensch war ohne Zweifel Tom.

»Rauchen Sie?« fragte Mr. James Harthouse, als sie nach dem Hotel kamen.

»Das will ich meinen!« sagte Tom.

Er konnte nichts weniger tun, als Tom zu sich einladen, und Tom konnte nichts weniger tun, als diese Einladung annehmen. Teils durch ein kühles Getränk, das der Witterung angemessen aber nicht so schwach wie kühl war, und teils durch einen selteneren Tabak, als er in jenem Orte zu haben war, befand sich Tom bald in einem höchst freien und behaglichen Zustand an dem einen Ende des Sofas, und mehr als je geneigt, seinen neuen Freund am andern Ende zu bewundern.

Tom blies, nachdem er eine kleine Weile geraucht hatte, den Rauch beiseite und unterwarf seinen Freund einer genaueren Betrachtung. »Er scheint sich um seine Toilette nicht zu kümmern«, dachte Tom, »und doch, wie famos hat er sie aufgemacht. Was für ein eleganter Knabe er ist!«

Mr. James Harthouse, der Toms Blick zufällig auffing, bemerkte, daß er gar nichts trinke und füllte dessen Glas mit seiner eigenen lässigen Hand.

»Danke«, sagte Tom, »danke. Nun, ich hoffe, Mr. Harthouse, Sie haben heute Abend eine gehörige Dosis vom alten Bounderby genossen.« Tom sagte das, indem er ein Auge wieder schloß, und warf einen schlauen Blick über sein Glas nach seinem Gesellschafter.

»Ein sehr tüchtiger Mann, wahrhaftig«, versetzte Mr. Harthouse.

»Das ist Ihre Meinung, nicht wahr?« fragte Tom und kniff wieder das Auge zusammen.

Mr. James Harthouse lächelte. Er lehnte sich an das Kamingesims, rauchte und stand vor dem leeren Feuerplatze Tom gegenüber, so daß er auf diesen herabblickte. Dann bemerkte er: »Was für ein komischer Schwager Sie sind!«

»Ich glaube. Sie meinen wohl, was für ein komischer Schwager der alte Bounderby ist!«

»Sie sind boshaft, Tom«, warf Mr. James Harthouse ein.

Es lag so etwas Angenehmes darin, mit einer solchen Weste so intim zu sein, von einer solchen Stimme Tom genannt zu werden – und mit einem solchen Schnurrbart in so kurzer Zeit auf einem so vertrauten Fuße zu stehen, daß Tom mit sich selbst sehr zufrieden war.

»Oh, kümmern Sie sich nicht um die Bezeichnung des alten Bounderby«, sagte er, »wenn Sie das meinen. Ich habe ihn immer den alten Bounderby genannt, wenn ich von ihm sprach oder an ihn dachte. Ich werde jetzt des alten Bounderby wegen nicht anfangen, höflich zu werden. Das wäre etwas zu spät am Tage.«

»An mich brauchen Sie sich nicht zu kehren«, entgegnete James, »aber Sie sollen sich in Gegenwart seiner Frau in acht nehmen.«

»Seiner Frau?« rief Tom. »Meiner Schwester Lu? O, freilich!« Er lachte und nahm einen Schluck von dem kühlenden Getränk.

James Harthouse verharrte weiter in derselben lässigen Stellung auf dem gleichen Platze, rauchte die Zigarre in seiner eigenen leichten Manier und sah den Bengel vergnügt an, als ob er sich als eine Art angenehmen Dämon betrachtete, der nur über ihn zu schweben brauche, um ihm nötigenfalls seine ganze Seele aufzureißen. Es schien wirklich, als ob sich der Bengel seinem Einfluß füge. Er betrachtete seinen Gesellschafter schlau, er betrachtete ihn verwundernd, er betrachtete ihn dreist und legte ein Bein auf da« Sofa.

»Meine Schwester Lu?« sagte Tom. »Sie kümmerte sich nie um den alten Bounderby.«

»Das ist die vergangene Zeit, Tom«, versetzte Mr. James Harthouse, indem er die Asche der Zigarre mit dem kleinen Finger abstreifte. »Jetzt befinden wir uns aber in der gegenwärtigen Zeit.«

»Rückbezügliches Zeitwort: sich nicht kümmern. Anzeigende Art: Präsens. Erste Person, Singular: Ich kümmere mich nicht. Zweite Person, Singular: Du kümmerst dich nicht. Dritte Person, Singular: Sie kümmert sich nicht«, erwiderte Tom.

»Gut. Sehr geistreich«, sagte sein Freund, »obgleich Sie nicht dieser Meinung sind.«

»Aber es ist meine Meinung«, rief Tom. Bei meiner Ehre! Wie, Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Sie wirklich annehmen, meine Schwester Lu kümmere sich um den alten Bounderby?«

»Lieber Junge«, versetzte der andere, »was soll ich denn denken, wenn ich sehe, daß ein Ehepaar in Glück und Frieden zusammen lebt?«

Tom hatte mittlerweile beide Beine auf das Sofa gelegt. Wenn sein zweites Bein sich nicht schon daselbst befunden hätte, als er »lieber Junge« genannt worden, so würde er es bei diesem erhebenden Abschnitt de« Gespräches emporgezogen haben. Da er jedoch alsdann fühlte, daß er etwas tun müsse, streckte er sich noch besser aus, und während er sich mit der Rückseite des Kopfes an das Ende des Sofas lehnte und eine unendlich lässige Manier im Rauchen annahm, wandte er sich mit seinem gemeinen Gesicht und seinen nicht zu nüchternen Augen gegen das Gesicht, das auf ihn so nachlässig und doch so mächtig herabblickte.

»Sie kennen unsern alten Herrn, Mr. Harthouse«, sagte Tom, »und brauchen daher nicht überrascht zu sein, daß Lu den alten Bounderby geheiratet. Sie hatte nie einen Liebhaber, und unser alter Herr schlug den alten Bounderby vor, und sie nahm ihn.«

»Das ist außerordentlich gehorsam von Ihrer interessanten Schwester«, sagte Mr. James Harthouse.

»Ja, aber sie würde nicht so gehorsam gewesen sein und die Sache wäre nicht so leicht zustande gekommen«, versetzte der Bengel, »wenn es nicht meinetwegen geschehen wäre.«

Der Besucher zog bloß seine Augenbrauen in die Höhe; aber der Bengel sah sich genötigt fortzufahren.

»Ich beredete sie«, sagte er mit einer erbaulichen Überlegenheitsmiene. »Ich ward in die Bank des alten Bounderby gepflanzt (wo ich nie sein mochte), und ich wußte, daß ich daselbst in die Klemme geraten würde, wenn sie dem alten Bounderby einen Korb gäbe. Ich teilte ihr daher meine Wünsche mit und sie erfüllte sie. Sie würde alles mögliche für mich tun. Das war sehr spaßhaft von ihr, nicht wahr?«

»Es war charmant, Tom.«

»Nicht, daß es ganz und gar so wichtig für sie war, als für mich«, fuhr Tom gleichmütig fort, »denn meine Freiheit und meine Behaglichkeit und vielleicht gar mein Weiterkommen hingen davon ab, und sie hatte keinen Liebhaber. Zu Hause bleiben war wie im Gefängnis sein – besonders wenn ich fort war. Es war nicht dies, daß sie einen andern Liebhaber für den alten Bounderby aufgab. Es war aber immerhin hübsch von ihr.«

»Ganz herrlich. Und sie erträgt es so gelassen.«

»Oh«, versetzte Tom mit verächtlicher Schutzherrnmiene. »Sie ist ein richtiges Mädel. So ein Mädel kann überall fortkommen. Sie hat sich fürs Leben gebunden und ihr ist’s einerlei. Dieses Leben behagt ihr ebensogut wie jedes andere. Außerdem, obwohl Lu ein Mädel ist, so ist sie doch kein gewöhnliches Mädel. Sie kann sich in sich selbst verschließen und nachdenken – wie ich sie oft sitzen und das Feuer betrachten sah – eine volle Stunde.«

»Wirklich, wirklich? Sie findet Trost und Stärkung bei sich selber?« fragte Mr. Harthouse, ruhig fortrauchend.

»Nicht so viel wie Sie vermuten mögen«, entgegnete Tom, »denn unser alter Herr hat sie mit allerhand dürren Knochen und Sägespänen vollgepfropft. Da« ist so sein System.«

»Formte seine Tochter nach seinem eigenen Modell?« erläuterte Harthouse.

»Seine Tochter? Ach, und alle Welt sonst. Nun, er modellierte auch mich auf diese Weise«, sagte Tom.

»Unmöglich!«

»Doch, er tat es«, sagte Tom, kopfschüttelnd. »Glauben Sie mir, daß, als ich zuerst das väterliche Haus verließ und zu dem alten Bounderby kam, war ich so flach wie eine Bettflasche und wußte nicht mehr als eine Auster vom Leben.«

»Gehen Sie, Tom. Das kann ich gar nicht glauben. Sie scherzen.«

»Bei meiner Seele«, sagte der Bengel. »Ich rede ernsthaft, wirklich ernsthaft.« Er rauchte eine Weile mit großer Würde und Gelassenheit. Dann fügte er in äußerst gefälligem Ton hinzu: »aber ich habe seitdem was gelernt. Das bestreite ich nicht. Doch ich tat es allein und habe dem Herrn Papa nichts dafür zu danken.«

»Und Ihre intelligente Schwester?«

»Meine intelligente Schwester ist ungefähr noch auf demselben Standpunkt, wo sie früher stand. Sie pflegte sich zu beklagen, daß ihr dergleichen Vergnügungen mangeln, wie Mädchen sie gewöhnlich haben, und ich weiß wirklich nicht, wie sie darüber hinauskommen konnte. Aber ihr ists einerlei«, fügte er scharfsinnig hinzu, die Zigarre abklopfend. »Mädchen können überall auf irgendeine Weise ausdauern.«

»Als ich gestern abend in der Bank nach Mr. Bounderbys Adresse fragte, fand ich daselbst eine altmodische Dame, die viel Bewunderung für Ihre Schwester zu hegen scheint«, bemerkte Mr. James Harthouse und warf den letzten Rest der Zigarre fort, die er jetzt aufgeraucht hatte.

»Mutter Sparsit?« fragte Tom. »Was! Sie haben sie also schon gesehen?«

Sein Freund nickte bejahend. Tom nahm die Zigarre aus dem Mund, um das Auge (das ganz unlenksam geworden war) mit mehr Ausdruck zusammenzukneifen und mit dem Finger mehrere Male hintereinander sich auf die Nase klopfen zu können.

»Mutter Sparsit Gefühl für Lu ist, ich sollte meinen, mehr als Bewunderung«, sagte Tom. »Sagen Sie lieber Wohlwollen und Ergebung. Mutter Sparsit hatte nie nach Bounderby geangelt, als er noch Junggeselle war. Oh, nein!«

Die letzten Worte wurden von dem Bengel ausgesprochen, ehe ihn noch eine schwindlige Schläfrigkeit überfiel, der vollständige Vergessenheit nachfolgte. Aus diesem Zustand ward er durch den unangenehmen Traum geweckt, vermittels eines Stiefels aufgeschreckt zu werden, während eine Stimme rief: »Auf! Es ist spät! Wir müssen fort!«

»Gut«, sagte er, indem er von dem Sofa herunterkrabbelte. »Ich muß doch Abschied von Ihnen nehmen. Ich glaube wohl. Ihr Tabak ist sehr gut. Nur zu schwach ist er.«

»Ja, er ist zu schwach«, versetzte sein Gesellschafter.

»Er ist – ist lächerlich schwach«, sagte Tom. »Wo ist die Tür? Gute Nacht!«

Er hatte einen zweiten seltsamen Traum, von einem Kellner durch einen Nebel geführt zu werden, der, nachdem er ihm Mühe und Schwierigkeit in den Weg gelegt, sich in die Hauptstraße verwandelte, in der er jetzt allein stand. Er ging dann ziemlich leicht nach Hause, obwohl nicht ganz frei von dem Eindruck der Gegenwart und dem Einflüsse seines neuen Freundes – als ob er noch in derselben nachlässigen Stellung irgendwo in der Luft lehnte, ihn mit demselben Blick betrachtend.

Der Bengel ging nach Hause und legte sich schlafen. Wenn er irgendein Gefühl davon gehabt hätte, was er in jener Nacht angerichtet, und weniger Bengel und mehr Bruder gewesen wäre, so würde er sich plötzlich auf der Straße umgewandt haben, wäre zu dem übelriechenden Flusse, der schwarz gefärbt war, hinabgegangen, hätte sich daselbst für immer schlafen gelegt, und hätte sich den Kopf für alle Zeiten mit des Flusses schmutzigen Wellen bedeckt.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Ein schwacher Lichtschimmer erhellte das Fenster, vor dem die schwarze Leiter schon oft aufgerichtet worden, um das, was einer sich abmühenden Frau und einer Brut hungriger Kinder in dieser Welt am kostbarsten war, darauf heruntergleiten zu lassen. Stephen ward nun bei seinen sonstigen Gedanken auch auf die ernsthafte Betrachtung geleitet, daß von allen zufälligen Ereignissen des irdischen Daseins keines mit so ungleicher Hand ausgeteilt werde, wie der Tod. Die Ungleichheit der Geburt schien ihm nichts dagegen. Denn angenommen, daß das Kind eines Königs und das eines Webers in dieser Nacht im gleichen Augenblick geboren wurden, was war diese Verschiedenartigkeit gegen den Tod eines menschlichen Wesens, das einem zweiten nützlich oder teuer war, wahrend dieses verworfene Weib am Leben blieb!

Von der Außenfront seiner Wohnung trat er düster gestimmt in das Innere derselben, mit angehaltenem Atem und leisen Schritten. Er näherte sich seiner Tür, öffnete sie und trat also ins Zimmer.

Ruhe und Friede herrschten dort. Rachael befand sich da, auf dem Bettrand sitzend.

Sie wandte ihren Kopf, und der Schimmer ihres Gesichtes fiel leuchtend in die Mitternächtigkeit seines Gemüts. Sie saß am Bette bei seiner Frau, wachend und pflegend. Das heißt, er sah jemanden daselbst liegen und er wußte zu gut, daß sie es sein müsse, Rachael hatte jedoch einen Vorhang angebracht, um sie vor seinen Blicken zu verbergen. Ihre elenden Kleidungsstücke waren beseitigt und einige von Rachael lagen an deren Stelle. Alles war an seinem Platz und in Ordnung, wie er es immer gehabt. Das kleine Feuer war sauber geschürt und der Herd frisch gefegt. Es schien ihm, als sähe er all das in Rachaels Gesicht und sah sonst auf nichts. Während er es so betrachtete, verschwand es durch die Tränen der Rührung, die sein Auge erfüllten, vor seinem Blick. – Aber das geschah nicht eher, als bis er gesehen hatte, wie ernsthaft sie ihn anschaute, und wie selbst ihre Augen mit Tränen gefüllt waren.

Sie wandte sich abermals gegen das Bett und sprach, nachdem sie sich gerne überzeugt hatte, daß dort alles ruhig war, mit einer leisen, gelassenen und heiteren Stimme:

»Ich bin froh, daß du endlich nach Hause gekommen bist, Stephen. Du kommst sehr spät.«

»Ich bin auf und ab gegangen.«

»Ich dachte es mir. Aber dazu ist die Nacht zu schlimm. Der Regen ist sehr stark und der Wind weht heftig.«

»Der Wind? Wohl wahr. Er wehte stark. Horch auf das Donnern im Kamin und auf das tobende Gepolter. Bei einem solchen Winde draußen gewesen zu sein und nicht gewußt zu haben, daß er wehte!«

»Ich bin heute schon einmal dagewesen, Stephen. Die Hausfrau holte mich um die Mittagsstunde. ›Jemand ist hier‹, sagte sie, ›der Pflege braucht‹ Und wahrlich, sie hatte recht. Sie phantasiert und ist bewußtlos, Stephen. Auch verwundet und voller Beulen.«

Er ging sacht zu einem Stuhl und setzte sich nieder, indem er den Kopf vor ihr senkte.

»Ich kam um das Wenige zu tun, was in meiner Macht steht, Stephen. Erstens weil wir als Mädchen zusammen arbeiteten, und weil du ihr den Hof machtest und sie heiratetest, als sie meine Freundin war –«

Er stützte die furchenreiche Stirn auf die Hand und stöhnte leise.

»Und dann weil ich dein Herz kenne und es ganz gewiß weiß, daß es zu barmherzig ist, um sie sterben, oder aus Mangel an Hilfe sie auch nur leiden zu lassen. Du kennst wohl den Spruch: ›Der ohne Sünde unter Euch ist, werfe den ersten Stein auf sie.‹ Gar viele haben das getan. Du aber bist nicht der Mann, den letzten Stein auf sie zu werfen, wenn sie so tief gesunken.«

»O Rachael, Rachael!«

»Du hast grausam gelitten, der Himmel belohne dich dafür«, sagte sie in mitleidsvollem Tone. »Ich bin deine arme Freundin mit ganzem Herzen und ganzer Seele.«

Die Wunden, von denen sie gesprochen hatte, schienen am Halse der Trinkerin zu sein. Sie verband sie jetzt, ohne sie seinen Blicken bloßzustellen. Sie tauchte ein Stück Linnen in ein Becken, worin sie etwas Flüssiges aus einer Flasche gegossen hatte und legte es sanft auf die wunde Stelle. Der dreibeinige Tisch war in die Nähe des Bettes gezogen worden und auf ihm befanden sich zwei Flaschen. Die mit der Flüssigkeit war die eine.

Sie stand nicht so weit von ihm entfernt, daß Stephen, der Rachaels Bewegungen mit den Blicken gefolgt war, nicht hätte lesen können, was mit großen Buchstaben darauf gedruckt war.

Totenbleich wandte er sich ab und ein plötzliches Grauen schien ihn zu überkommen.

»Ich will hierbleiben«, sagte Rachael, indem sie ihren Platz wieder ruhig einnahm, »bis die Uhr drei schlagen wird. Um drei muß es wieder vorgenommen werden, dann kann man sie bis zum Morgen allein lassen.«

»Aber deine Ruhe für morgen, Rachael?«

»Ich habe vergangene Nacht gut geschlafen. Ich kann viele Nächte durchwachen, wenn es sein muß. Du aber hast jetzt Ruhe nötig – so bleich und müde. Versuche es doch, in dem Stuhle hier zu schlafen, während ich wache. Du hast die vorige Nacht nicht geschlafen, das kann ich mir wohl denken. Die Arbeit morgen wird dir schwerer fallen als mir.«

Er vernahm das Donnern und Toben von draußen, und es schien ihm, als ob seine frühere düstere Kümmernis ihn wieder übermannen wollte. Sie hatte sie ausgetrieben, sie wird sie wohl auch ferne halten; er hegte das Vertrauen zu ihr, daß sie ihn vor sich selbst schützen werde.

»Sie kennt mich nicht; sie murmelt nur so schläfrig und stiert umher. Ich habe einige Male ihr zugeredet, aber sie achtete nicht darauf. Es ist auch gut so. Wenn sie wieder zur Besinnung kommt, so werde ich getan haben, was ich konnte, sie aber wird darum nicht besser sein.«

»Wie lang dürfte sie in diesem Zustand bleiben, Rachael?«

»Der Doktor sagte, sie könnte wohl morgen zur Besinnung kommen.«

Seine Augen fielen abermals auf die Flasche, wobei ihn ein Schaudern überkam, das alle seine Glieder erbeben machte. Sie glaubte, er zittere vor Kälte. »Nein«, sagte er, »es war nicht das. Ich habe einen Schreck bekommen.«

»Einen Schreck?«

»Ja doch! Ja doch! als ich hereintrat. Als ich herumging. Als ich nachdachte. Als ich–«

Es hatte ihn wieder erfaßt – und er erhob sich, indem er sich auf das Kamingesims stützte und das naßkalte Haar mit der Hand, die zitterte, als ob sie lahm wäre, beiseite strich.

»Stephen!«

Sie wollte sich ihm nähern, er streckte jedoch seine Hand aus, um sie zurückzuhalten.

»Nicht! Nicht doch, bitte! Nicht doch! Laß mich dich wieder am Bette sitzen sehen. Laß mich dich sehen, so gut und so vergebend. Laß mich dich sehen, wie ich dich bei meinem Hereintreten sah. Ich kann dich nie besser als so sehen. Niemals, niemals, niemals.«

Ihn befiel wieder ein heftiges Zittern und er sank dann in den Stuhl. Nach einiger Zeit ermannte er sich und, indem er den Ellbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand stützte, konnte er den Blick auf Rachael richten. Wie er sie durch den matten Lichtschimmer mit seinen feuchten Augen anblickte, sah sie aus, als schwebe ein Heiligenschein um ihr Haupt. Er hätte glauben mögen, das sei wirklich der Fall. Er glaubte es, als der Wind von außen die Fenster rüttelte, an der Tür unten rasselte und tobend und klagend um das Haus brauste.

»Wenn sie sich wieder erholt hat, Stephen, dann ist zu hoffen, daß sie dich wieder allein lassen und dir kein Leid mehr zufügen wird. Hoffen wir das wenigstens! Jetzt werde ich aber schweigen; denn ich will, daß du schläfst.«

Er schloß seine Augen, mehr aus Liebe zu ihr als um seinem müden Kopf Ruhe zu gönnen. Wie er jedoch dem Toben des Windes lauschte, hörte er nach und nach auf, ihn zu vernehmen. Das Dröhnen verwandelte sich in das Schnurren seines Webestuhles, oder selbst in die Stimmen, die er am Tage vernommen (die seine mit einbegriffen) die das wiederholten, was wirklich gesagt worden. Selbst dieses unvollkommene Bewußtsein verschwand endlich, und er träumte einen langen, verworrenen Traum.

Er meinte, daß er sich mit einer Person, die ihm schon seit langem teuer war – aber es war nicht Rachael, und das nahm ihn wunder selbst inmitten seines illusorischen Glücks –, in der Kirche befand, um getraut zu werden. Während die Trauung vollzogen wurde, und während er unter den Zeugen manche erkannte, die noch am Leben, und manche, von denen er wußte, daß sie schon tot waren, brach eine Finsternis herein, der ein schreckliches Licht folgte. Es ging aus von einer Zeile auf den Tafeln des Gesetzes, und die flammenden Worte erleuchteten das Gebäude. Diese Worte ertönten auch durch die Kirche, als ob die feurigen Buchstaben Stimmen besäßen. Hierauf veränderte sich die ganze Erscheinung ringsum, und nichts war von allem übrig geblieben, außer ihm und dem Geistlichen. Sie standen am hellen Tageslicht vor einer so ungeheuren Menge, daß er meinte, wenn sämtliche Bewohner dieser Welt in einen Raum hätten zusammengebracht werden können, so würden sie nicht zahlreicher erscheinen können. Sie verabscheuten ihn alle, und unter den Millionen, die ihn anstarrten, war nicht ein einziges freundliches oder mitleidvolles Auge für ihn. Er stand auf einem erhöhten Gerüste unter seinem eigenen Webestuhl und betrachtete die Gestalt, die der Webestuhl annahm. Er hörte die Leichenfeier ganz deutlich über sich abhalten und er wußte wohl, daß er sich da befinde, um hingerichtet zu werden. In einem Augenblick war das, worauf er gestanden hatte, unter ihm zusammengebrochen, und es war aus mit ihm.

Durch welches Wunder er zu seiner gewöhnlichen Lebensweise und zu den ihm bekannten Plätzen wieder zurückkehrte, das vermochte er nicht zu enträtseln. Er befand sich aber, der Himmel weiß wie, wieder an jenen Plätzen, aber mit dem Fluch beladen, weder in dieser noch in der andern Welt, durch alle undenkbaren Ewigkeiten hindurch, jemals Rachaels Gesicht wieder zu sehen oder ihre Stimme zu hören. Indem er unaufhörlich hin und her irrte, um ein unbekanntes Etwas aufzusuchen (er wußte bloß, daß er verdammt sei, es aufzusuchen), war er von einem namenlosen fürchterlichen Grauen, einer tödlichen Furcht vor einer gewissen Gestalt beherrscht, die alle Dinge annahmen. Was er immer betrachten mochte, verwandelte sich früher oder später in jene Gestalt. Sein jammervolles Dasein drehte sich einzig darum, zu verhindern, daß nicht jemand von den verschiedenen Leuten, die ihm begegneten, sie erkennen möchte. Vergebliche Mühe! Wenn er sie aus den Zimmern entfernte, wo sie sich befand, wenn er Kasten und Schränke verschloß, wo sie war, wenn er die Neugierigen von den Stellen entfernte, wo er sie verborgen wußte, und sie auf die Straße führte, so nahmen selbst die Schornsteine der Mühlwerke jene Gestalt an und rund um sie stand der Name gedruckt.

Der Wind blies abermals, der Regen schlug auf die Giebel der Häuser und die größeren Räume, die er durchstreift hatte, schrumpften zu den vier Wänden seines Zimmers zusammen. Mit der Ausnahme, daß das Feuer erloschen war, befand sich da alles wie vorher, als er seine Augen geschlossen hatte. Rachael schien auf dem Stuhl am Bette eingeschlummert zu sein. Sie saß in ihrem Schal eingehüllt vollkommen ruhig da. Der Tisch stand an derselben Stelle, dicht beim Bett, und darauf befand sich, mit seinen wirklichen Verhältnissen und in seinem wahren Äußern das, was er so oft geschaut.

Er meinte den Vorhang sich bewegen zu sehen. Er sah abermals hin und war jetzt gewiß, daß er sich bewege. Er nahm jetzt eine Hand wahr, die zum Vorschein kam und ein wenig herumtastete. Dann bewegte sich der Vorhang sichtbarer, das Weib im Bette schob ihn zurück und richtete sich empor. Mit ihren jammervollen Augen, die so graß und wild, so matt und weit offen waren, blickte sie im ganzen Zimmer umher, und streifte den Winkel, wo er auf einem Stuhle schlief. Ihr Blick kehrte wieder zu jenem Winkel und sie hielt die Hand vor die Augen, wie um sie zu beschatten, während sie nach dem Winkel sah. Sie schweiften abermals im Zimmer umher, bemerkten kaum Rachael und kehrten wieder zu jenem Winkel zurück. Er meinte, als sie diese wieder beschattete – nicht sowohl um auf ihn zu sehen, als um nach ihm zu sehen mit dem tierischen Instinkte, daß er da sei – daß keine einzige Spur von dem Weibe, das er vor achtzehn Jahren geheiratet hatte, in jenen wüsten Zügen oder in dem Geiste, der sich in ihnen kundgab, zurückgeblieben sei. Hätte er sie zu diesem Zustande nicht stufenweise heruntersinken gesehen, so würde er nie haben glauben mögen, daß sie die gleiche sei.

Während dieser ganzen Zeit war er bewegungs- und kraftlos und war nur imstande, sie zu bewachen.

Schläfrig hinbrütend oder mit ihrem trüben Hirn sich über nichts unterhaltend, saß sie eine kurze Weile und hielt die Hände an die Ohren. Alsbald jedoch begann sie wieder herumzustieren. Jetzt ruhten ihre Augen zum erstenmal auf dem Tisch, wo sich die Flaschen befanden. Flugs wandte sie ihre Augen mit herausforderndem Trotz, wie sie ihn vorige Nacht gehabt, zurück nach dem Winkel. Dann streckte sie sehr vorsichtig und sacht ihre schmierige Hand aus. Sie nahm einen Becher zu sich ins Bett und saß eine Weile nachdenkend da, welche von den beiden Flaschen sie wählen sollte. Endlich griff sie unsinnigerweise nach der Flasche, die schnellen und gewissen Tod in sich barg, und riß vor seinen Augen den Stöpsel mit den Zähnen heraus.

Traum oder Wirklichkeit, er war nicht der Stimme mächtig und besaß auch nicht Kraft genug, um sich zu bewegen. Wenn das Wirklichkeit ist und ihre bestimmte Zeit ist noch nicht da, wache, Rachael, wache!

Sie dachte auch daran. Sie blickte Rachael an und goß den Inhalt ganz sachte und höchst vorsichtig ein. Der Trank war an ihren Lippen. Einen Augenblick, und sie wäre rettungslos verloren gewesen, käme auch die ganze Welt mit all ihrer Macht herbei, um über sie zu wachen. In demselben Augenblicke fuhr Rachael mit einem unterdrückten Schrei empor. Die Kreatur rang, schlug sie und faßte sie bei den Haaren; Rachael hatte jedoch den Becher ihr entrissen.

Stephen rief von seinem Stuhle aus: »Rachael, wache oder träume ich in dieser schrecklichen Nacht?«

»Geht alles gut, Stephen. Ich selbst war eingeschlafen! Es ist gleich drei. St! Ich höre die Glocke.«

Der Wind brachte den Schall der Kirchenuhr ans Fenster. Sie horchten auf, und es schlug drei. Stephen blickte sie an, sah wie bleich sie war, bemerkte die Unordnung ihres Haars und die roten Fingerspuren auf ihrer Stirn und war nun gewiß, daß seine Gesicht- und Gehörsinne wach gewesen waren. Sie hielt noch immer den Becher in der Hand.

»Ich dachte, es müsse nah an drei sein«, sagte sie, indem sie den Becher in das Becken ruhig ausleerte und das Linnen wie früher wieder eintauchte. »Ich bin froh, daß ich geblieben bin. Wenn ich das aufgelegt habe, ist alles getan. Da – jetzt ist sie wieder ruhig. Die wenigen Tropfen im Becken will ich ausschütten, das ist zu schlechtes Zeug, um es so herumstehen zu lassen, wenn auch noch so wenig davon.« Während sie das sagte, ließ sie das Becken in die Asche beim Feuer abtropfen und zerbrach die Flasche am Herde.

Sie hatte dann nichts mehr zu tun, als sich in den Schal zu hüllen, ehe sie in Wind und Regen hinausging.

»Du wirst mich doch um diese Stunde mit dir gehen lassen, Rachael?«

»Nein, Stephen, es dauert nur eine Minute, und ich bin zu Hause.«

»Du fürchtest dich nicht«, sagte er mit leiser Stimme, als sie auf die Türe zugingen, »mich mit ihr allein zu lassen!«

Stephen riß sich vom Stuhl los: »Bin ich wach oder träume ich, Rachael, in dieser entsetzlichen Nacht?«

Wie sie ihn nun ansah und »Stephen« ausrief, sank er auf den schlichten, ärmlichen Treppen vor ihr auf die Knie nieder und drückte einen Zipfel ihres Schals an die Lippen.

»Du bist ein Engel. Gott mit dir! Gott mir dir!«

»Ich bin, wie ich dir gesagt habe, Stephen, deine arme Freundin. Engel sind nicht wie ich. Zwischen ihnen und einer sündigen Arbeiterin besteht ein tiefer Abgrund. Mein Schwesterlein ist unter ihnen, aber sie ist ganz gewandelt.«

Sie erhob ihre Augen für einen Moment, als sie diese Worte aussprach: dann senkte sie sie wieder mit ihrer ganzen Milde und Sanftheit auf sein Gesicht.

»Du hast mich vom Schlechten zum Guten geleitet. Du erregst in mir den demütig frommen Wunsch, dir mehr gleich zu werden und die Furcht, dich zu verlieren, wenn dieses Leben vorüber und die ganze Komödie dahin ist. Du bist ein Engel; es dürfte wohl sein, daß du meine Seele bei Lebzeiten gerettet hast.«

Sie blickte ihn an, wie er ihren Schal noch in der Hand hielt und zu ihren Füßen kniete. Der Verweis erstarb auf ihren Lippen, als sie das Zucken seiner Gesichtszüge wahrnahm.

»Ich kam verzweiflungsvoll nach Hause. Ich kam ohne Hoffnung nach Hause, und der Gedanke machte mich wie verrückt, daß, wenn ich eine Klage laut werden ließe, sie mich für eine unverständige »Hand« halten würden. Ich sagte dir, daß ich einen Schrecken gehabt hatte. Es war die Giftflasche auf dem Tisch. Ich habe nie einem lebendigen Geschöpf was zu Leide getan – da ich aber so rasch darauf stieß, dachte ich: Wer weiß, was ich mir selbst oder ihr oder uns beiden angetan hätte!«

Mit schreckensbleichem Gesicht legte sie ihm die Hände auf den Mund, um ihn davon abzuhalten, noch mehr zu sagen. Er nahm ihre Hände in seine freien Hände und hielt sie fest, indem er sich fortwährend an ihren Schal klammerte und hastig ausrief:

»Aber ich sah dich, Rachael, beim Bett sitzen. Ich habe dich während dieser ganzen Nacht gesehen. In meinem unruhigen Schlaf wußte ich auch noch, daß du da bist. Ich werde dich immer da sehen. Ich werde sie niemals sehen oder ihrer gedenken, ohne daß du an ihrer Seite sein wirst. Ich werde niemals etwas sehen, das mich zornig machen kann oder daran denken, ohne daß du, die du um so vieles besser bist als ich, danebenstehen wirst. Und nun will ich versuchen, der Zeit entgegenzusehen, und will auch versuchen, derzeit zu vertrauen, wo du und ich endlich weit dahin gehen werden, jenseits des tiefen Abgrunds, in das Land, wo dein Schwesterlein weilt.«

Er küßte abermals den Zipfel ihres Schals und ließ sie gehen. Sie wünschte ihm mit gebrochener Stimme gute Nacht und ging hinaus auf die Straße. Der Wind blies von der Seite, wo der Tag bald anbrechen sollte, und blies noch immer heftig. Er hatte den Himmel von Wolken freigefegt. Der Regen hatte sich erschöpft oder zog nach andern Orten, und die Sterne schienen hell. Er stand mit entblößtem Haupte auf der Straße und sah ihr nach, wie sie rasch verschwand. Wie die schimmernden Sterne sich verhielten zum trüben Licht im Fenster, so verhielt sich Rachael in der rauhen Phantasie dieses Mannes zu den gewöhnlichen Erfahrungen seines Lebens.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Die Zeit bewegte sich in Coketown wie dessen Maschinen: so viel Stoff verarbeitet, so viel Brennmaterial verbraucht, so viele Kräfte abgenützt und so viel Geld gemacht. Aber weniger unerbittlich als Eisen, Stahl und Messing machte sie ihre veränderlichen Jahreszeiten selbst in dieser Wildnis von Rauch und Ziegelsteinen geltend und brachte die einzige Abwechslung hervor, die jemals in der schrecklichen Einförmigkeit dieses Ortes stattgefunden.

»Luise«, sagte Mr. Gradgrind, »ist beinahe zur Jungfrau gereift.«

Die Zeit mit ihrer unzählbaren Pferdekraft arbeitete fort, unbekümmert darum, was jemand sagen mochte, und stellte den jungen Thomas jetzt um einen Fuß höher hin als damals, wo sein Vater zum letztenmal besondere Notiz von ihm genommen.

»Thomas«, sagte Mr. Gradgrind, »ist beinahe zum jungen Mann gereift.«

Die Zeit brachte unterdessen Thomas in dem Mühlwerke vorwärts, während sein Vater noch darüber nachdachte; und da stand er nun in einem langen Rock mit Schößen und in einem steifen Hemdkragen.

»Wahrhaftig«, sagte Mr. Gradgrind, »die Zeit ist nun da, wo Thomas zu Mr. Bounderby gehen sollte.«

Die Zeit hatte Thomas fest in ihrer Gewalt und versetzte ihn in Mr. Bounderbys Bank; sie machte ihn zu Mr. Bounderbys Hausgenossen, machte den Ankauf des ersten Rasiermessers für ihn erforderlich und übte ihn fleißig in seinen Berechnungen in bezug auf Nummer eins. Derselbe große Fabrikant, fortwährend mit einer unermeßlichen Mannigfaltigkeit von Arbeit in jedem Entwicklungszustande beschäftigt, brachte auch Cili in seinem Mühlwerke vorwärts und arbeitete sie wirklich zu einem ganz hübschen Artikel heraus.

»Ich befürchte, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind, »daß dein ferneres Verbleiben in der Schule keinen Zweck mehr hat.«

»Ich befürchte das ebenfalls, Sir«, antwortete Cili mit einem Knix.

»Ich kann es dir nicht verbergen, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind mit Stirnrunzeln, »daß ich mich in dem Resultat deiner Probezeit hier getäuscht sehe, sehr getäuscht sehe. Du hast unter Mr. und Mrs. M’Choakumchild bei weitem nicht den Grad von exaktem Wissen erlangt, den ich erwartete. Du bist äußerst unvollkommen in deinen Tatsachen. Deine Bekanntschaft mit Zahlen ist sehr beschränkt, du bist arg zurückgeblieben und weit vom Ziele.«

»Es tut mir leid, Sir«, antwortete sie, »aber ich weiß, es ist vollkommen richtig. Und doch habe ich mir große Mühe gegeben, Sir.«

»Ja«, sagte Mr. Gradgrind, »ich glaube, daß du dir große Mühe gegeben; ich habe dich beobachtet und finde in dieser Hinsicht nichts zu tadeln.«

»Ich danke, Sir. Manchmal dachte ich«, Cili sprach hier äußerst furchtsam, »daß ich mich vielleicht bemühte, zu viel zu lernen und daß, wenn ich um Erlaubnis gebeten hätte, ein bißchen weniger zu versuchen – dann dürfte ich wohl –«

»Nein, Jupe, nein«, sagte Mr. Gradgrind, das Haupt in seiner vollkommensten und höchst ausgezeichnet praktischen Weise schüttelnd. »Nein, den Weg, den du verfolgtest, hast du nach dem System verfolgt – nach dem System – und dazu läßt sich überhaupt weiter nichts bemerken. Ich kann bloß der Vermutung Raum geben, daß die Verhältnisse deines früheren Lebens für die Entwicklung deines Verstandes zu ungünstig waren, und daß wir zu spät angefangen haben. Jedenfalls bin ich in meinen Erwartungen getäuscht worden.«

»Ich wollte, ich wäre imstande gewesen, meine Dankbarkeit, mein Herr, besser zu bezeugen! Ihnen zu danken für Ihre Güte gegen ein armes, verlassenes Mädchen, das auf solcherlei keinen Anspruch hatte und für Ihren Schutz, den Sie mir gewährten.«

»Nun, weine bloß nicht«, sagte Mr. Gradgrind, »weine nicht. Ich beklage mich nicht über dich. Du bist ein liebevolles, ernstes, gutes Mädchen und – wir müssen uns damit zufrieden geben.«

»Danke, Sir, danke Ihnen sehr«, sagte Cili mit einem dankbaren Knix.

»Du bist für Mrs. Gradgrind von Nutzen, und im allgemeinen bist du auch der Familie dienlich gewesen. So sagte mir Luise, und ich habe es in der Tat selbst gemerkt. Ich hoffe daher«, sagte Mr. Gradgrind, »daß du dich in diesem Verhältnis wohl befindest.«

»Mir würde nichts zu wünschen übrig bleiben, Sir, wenn –« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Mr. Gradgrind, »du kommst immer wieder auf deinen Vater zurück. Ich hörte von Miß Luise, daß du jene Flasche noch immer aufbewahrst. Gut! Wenn deine Erziehung, in der Wissenschaft zu exakten Resultaten zu gelangen, erfolgreicher gewesen wäre, so würdest du in diesem Punkte vernünftiger gewesen sein. Ich will nichts mehr darüber sagen.«

Er hatte in der Tat Cili zu lieb, um sie geringzuschätzen. Im übrigen aber hatte er von ihren rechnerischen Fähigkeiten eine so geringe Meinung, daß er zu einem solchen Urteil kommen mußte. Auf die eine oder andere Weise faßte er die Idee, daß in diesem Mädchen ein Etwas vorhanden sei, das kaum durch tabellarische Formeln errechnet werden könnte. Ihre Definitionsfähigkeit konnte mit einer niedrigen Zahl, ihre mathematische Begabung mit Null bezeichnet werden. Trotzdem war er nicht gewiß, ob er imstande gewesen wäre, sie vollständig zu zensieren, wenn man an ihn die Forderung gestellt hätte, sie in einem Parlamentsberichte genau auseinanderzusetzen.

Der Prozeß der Zeit geht bei manchen Stufen der Produktion in der menschlichen Fabrik äußerst rasch vor sich. Der kleine Thomas und Cili, die sich eben auf dieser Stufe ihrer Ausbildung befanden, erlebten diese Veränderungen in einem oder zwei Jahren – während Mr. Gradgrind selbst in seiner Laufbahn stehen blieb und keine Veränderung erlitt.

Mit Ausnahme von einer einzigen, die nicht zu seinem notwendigen Prozesse in dem Mühlwerk gehörte.

Die Zeit drängte ihn in eine geräuschvolle und ziemlich schmutzige Maschine, in einen Winkel, und machte ihn zum Parlamentsmitglied für Coketown – zu einem der geachteten Mitglieder für Maß und Gewicht – zu einem der Repräsentanten für die Multiplikationstafel – zu einem der für alles übrige taub ehrenwerten Gentlemen, blind ehrenwerten Gentlemen, krumm ehrenwerten Gentlemen, tot ehrenwerten Gentlemen. Wozu lebten wir denn sonst in einem christlichen Lande, achtzehnhundert und so und so viel Jahre nach unserem Heiland!

Während dieser ganzen Zeit entwickelte sich Luise so still und verschlossen und hatte sich sehr der Beobachtung der funkensprühenden Asche ergeben, wie sie in der Dämmerung in den Kaminrost hinunterfiel und erlosch, daß sie von der Zeit, wo ihr Vater gesagt hatte, sie reife beinahe zur Jungfrau heran – was erst wie gestern schien – kaum seine Aufmerksamkeit wieder erregt hatte. Nun sah er sie auf einmal wirklich als vollendete Jungfrau vor sich.

»Eine ganze Jungfrau!« sagte Mr. Gradgrind nachsinnend. »Du lieber Himmel!«

Bald nach dieser Entdeckung ward er mehrere Tage hindurch nachdenklicher als gewöhnlich und schien von einem Gegenstande vollständig eingenommen zu sein. Eines Abends, als er eben im Begriffe war auszugehen und Luise vor seinem Weggehen gute Nacht sagen wollte – da er erst spät nach Hause kommen wollte und sie ihn nicht bis zum nächsten Morgen sehen würde –, hielt er sie in den Armen, beobachtete sie in seiner wohlwollendsten Weise und sagte:

»Meine liebe Luise, du bist eine Jungfrau.«

Sie antwortete mit dem alten, flüchtigen und forschenden Blick von jenem Abend, wo sie beim Zirkus getroffen ward: dann schlug sie die Augen nieder. »Ja, mein Vater.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Gradgrind, »ich muß mit dir allein und ernsthaft sprechen. Morgen nach dem Frühstück komm zu mir auf mein Zimmer. Willst du?«

»Ja, mein Vater.«

»Deine Hände sind ja so kalt, Luise. Bist du unwohl?« »Ganz wohl, mein Vater.«

»Und frohen Muts?«

Sie blickte ihn abermals an und lachte in ihrer eigentümlichen Weise. »Ich bin so frohen Mutes, mein Vater, wie ich es gewöhnlich bin und wie ich es gewöhnlich gewesen bin.«

»Das ist recht«, sagte Mr. Gradgrind, damit küßte er sie und ging fort.

Luise kehrte zu dem heiteren Gemach, das wie eine Friseurstube aussah, zurück und sann, indem sie den Ellbogen auf die Hand lehnte, den versprühenden Funken nach, die sich so rasch in Asche verwandelten.

»Bist du hier, Lu?« fragte ihr Bruder, indem er zur Tür hereinguckte. Er war nun ganz ein junger Herr nach der Mode, aber nicht ein ganz einnehmender.

»Lieber Tom«, antwortete sie, sich erhebend und ihn umarmend, »wie lange ist es her, seit du mich nicht gesehen hast!«

»Nun, ich bin in den Abenden anderweitig beschäftigt gewesen, Lu, und während des Tages werde ich von dem alten Bounderby ziemlich streng gehalten. Aber ich ziehe ihn mit dir auf, wenn er mir zu arg kommt, und so bewahren wir ein gutes Einvernehmen. Hör mal! Hat Vater dir heute oder gestern etwas Besonderes mitgeteilt, Lu?«

»Nein, Tom. Aber er sagte mir heute abend, daß er es morgen tun wolle.«

»Ah, das meine ich«, sagte Tom, und mit einem bedeutungsvollen Ausdruck: »Weißt du, wo er heute abend ist?«

»Nein.«

»Dann will ichs dir sagen. Er ist beim alten Bounderby. Sie plaudern regelmäßig zusammen, oben in der Bank. Warum in der Bank, fragst du? Nun, ich will dir auch das sagen. Um Mrs. Sparsits Ohren so fern wie möglich zu halten, glaube ich.«

Die Hand auf die Schulter ihres Bruders legend, stand Luise noch immer da und betrachtete das Feuer. Ihr Bruder sah ihr mit mehr Teilnahme als gewöhnlich ins Gesicht. Er legte seinen Arm um sie und zog sie freundlich an sich.

»Du hast mich recht lieb, Lu, nicht wahr?«

»Das ist wirklich der Fall, obgleich du eine so geraume Zeit dahingehen lassen konntest, ohne mich zu besuchen.«

»Nun gut, meine liebe Schwester«, sagte Tom, »wenn du so sprichst, so kommst du meinen Gedanken nahe. Wir könnten um so viel öfter beisammen sein – nicht wahr? Beinahe immer beisammen – nicht wahr? Es würde für mich von großem Nutzen sein, wenn du dich, ich weiß recht wohl zu was, entschließen würdest, Lu. Das wär was Herrliches für mich. Das wäre ganz prachtvoll.«

Ihre Nachdenklichkeit vereitelte all sein schlaues Forschen. Er konnte aus ihrem Gesicht nichts herauslesen. Er umarmte sie und küßte sie auf die Wangen. Sie erwiderte den Kuß, blickte aber immer ins Feuer.

»Hör mal, Lu! Ich dachte, es sei gut, hierher zu kommen und dir eben einen Wink zu geben von dem, was vorgeht. Ich nahm allerdings an, daß du es wahrscheinlich erraten würdest, selbst wenn du es nicht weißt. Ich kann nicht bleiben, weil ich heute abend mit einigen Kameraden zusammenkomme. Du wirst doch nicht vergessen, wie lieb du mich hast?«

»Nein, lieber Tom, ich werde es nicht vergessen.«

»Du bist ein famoses Mädchen«, sagte Tom.

Sie wünschte ihm herzlich gute Nacht und begleitete ihn bis zur Tür, von wo man die Lichter von Coketown sehen konnte, was der Entfernung einen dunklen Anstrich gab. Sie stand da, blickte diese unverwandt an und horchte auf seine davoneilenden Schritte. Sie waren rasch, als wären sie froh, sich von Stone Lodge zu entfernen – sie aber stand noch immer da, als er bereits fort und alles ruhig war.

Es schien als ob sie – zuerst aus dem Feuer an ihrem eigenen Herd und dann aus dem dichten, feurigen Nebel von draußen – herauszugrübeln versuchte, was für ein Gewebe der alte Zeitengott, dieser größte und von allen am längsten etablierte Weber, aus den Fäden weben würde, die er bereits für ein Frauengemüt gesponnen. Aber seine Faktorei ist ein geheimnisvoller Ort, sein Arbeiten geräuschlos und seine »Hände« sind stumm.