Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Thomas Gradgrind, mein Herr. Ein Mann der Wirklichkeit. Ein Mann der Tatsachen und Berechnungen. Ein Mann, der von dem Prinzip ausgeht, daß zwei und zwei vier sind und nicht mehr, und bei dem jedes Zureden, etwas mehr zu gestatten, vergebens ist. Thomas Gradgrind, mein Herr – Thomas schlechterdings – Thomas Gradgrind. Mit einem Lineal und einer Wage, samt der Multiplikationstafel in der Tasche, mein Herr, bereit, jedes Stück menschlicher Natur zu wägen und zu messen, und euch genau zu bestimmen, auf wieviel es sich beläuft. Das ist eine bloße Zahlenfrage, ein Gegenstand der einfachen Arithmetik. Ihr könnt die Hoffnung hegen, sonst etwas Unsinniges in den Kopf von George Gradgrind oder Augustus Gradgrind, oder John Gradgrind, oder Joseph Gradgrind (lauter angenommene, nicht existierende Personen) zu bringen, aber in den Kopf von Thomas Gradgrind – niemals, mein Herr!

Mit solchen Ausdrücken führte sich Mr. Gradgrind immer, entweder im Privatkreis seiner Bekanntschaften oder beim Publikum im allgemeinen, in Gedanken ein. Mit solchen Ausdrücken und nur »Knaben und Mädchen« anstatt »mein Herr« setzend, stellte jetzt Thomas Gradgrind mit Nachdruck diesen selben Thomas Gradgrind den kleinen vor ihm stehenden Krügen vor, die ganz und gar mit Tatsachen vollgefüllt werden sollen.

Als er aus dem früher erwähnten Kellergeschoß feurige Blicke auf sie schleuderte, glich er in der Tat einer Art Kanone, die bis zur Mündung mit Tatsachen gefüllt, bereit war, die Kleinen mit einem Schuß aus den Regionen der Kindheit hinauszufegen. Er hatte auch Ähnlichkeit mit einem galvanischen Apparat, der anstatt der zarten, jugendlichen Bilder, die verscheucht werden sollten, mit einem greulichen, mechanischen Ersatzmittel angefüllt war.

»Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte Mr. Gradgrind mit seinem plumpen Zeigefinger plump hindeutend. »Ich kenne dieses Mädchen nicht. Wer ist dieses Mädchen?«

»Cili Jupe, mein Herr«, setzte Nummer Zwanzig errötend, sich erhebend und knixend, auseinander.

»Cili ist kein Name«, sagte Mr. Gradgrind. »Nenne dich nicht Cili. Nenne dich Cecilie.«

»Vater nennt mich Cili, mein Herr«, erwiderte das junge Mädchen mit zitternder Stimme und mit einem zweiten Knix.

»Dann hat er kein Recht dazu«, sagte Mr. Gradgrind. »Sag ihm, Cecilie Jupe, daß er das nicht tun darf. Laß einmal sehen. Was ist dein Vater?«

»Er gehört zur Reitertruppe, wenn Sie erlauben, mein Herr.«

Mr. Gradgrind runzelte die Stirn und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung gegen den verwerflichen Beruf.

»Wir brauchen darüber hier nichts zu wissen. Du mußt uns darüber hier nichts sagen. Dein Vater reitet Pferde zu, nicht wahr?«

»Ja, zu dienen, mein Herr. Wenn welche zum Bereiten zu bekommen sind, so werden sie in der Reitbahn zugeritten, mein Herr.«

»Du mußt uns hier nichts über die Reitbahn erzählen. Gut also. Beschreibe deinen Vater als einen Bereiter. Er kuriert Pferde, wie ich voraussetze?«

»O ja, mein Herr.«

»Sehr gut nun. Er ist also ein Veterinär, ein Pferdearzt und Bereiter. Gib mir deine begriffliche Bestimmung vom Pferd.«

(Höchste Bestürzung von Cili Jupe über diese Frage.)

»Mädchen Nummer Zwanzig nicht imstande auseinanderzusetzen, was ein Pferd ist«, sagte Mr. Gradgrind zum allgemeinen Nutzen der sämtlichen kleinen Krüge. »Mädchen Nummer Zwanzig hat in bezug auf eines der gewöhnlichsten Tiere keine Tatsachen inne. Nun soll ein Knabe die begriffliche Bestimmung von einem Pferd geben. Bitzer, los!«

Der plumpe Finger geriet, hin- und herschweifend, plötzlich auf Bitzer. Vielleicht deshalb, weil er gerade von demselben Sonnenstrahl getroffen wurde, der durch eines der kahlen Fenster des ungewöhnlich weißgewaschenen Zimmers fiel und auf Cili seinen Schimmer warf. Die Knaben und Mädchen saßen nämlich in einem Raum mit schräg abfallendem Fußboden und waren voneinander durch einen schmalen Gang in der Mitte getrennt. Sie saßen in dichten Haufen. Cili aber, die sich an der Ecke einer Reihe an der sonnigen Seite befand, wurde von dem Anfange eines Sonnenstrahles getroffen. Von diesem Sonnenstrahl fing Bitzer, der sich an der Ecke auf der andern Seite einige Reihen weiter vorwärts befand, das Ende auf. Während jedoch das Mädchen so dunkeläugig und so dunkelhaarig war, daß sie eine tiefere und glänzendere Farbe durch den Sonnenschein erhielt, war der Knabe wieder so helläugig und lichthaarig, daß ganz dieselben Strahlen das bißchen aus ihm herauszuziehen schienen, was er an Farbe je besessen. Seine glanzlosen Augen würden kaum als solche gegolten haben, wenn die kurzen Enden von Augenwimpern ihre Form nicht dadurch hervorgehoben hätten, daß sie diese in einen unmittelbaren Kontrast mit noch etwas Blasserem, als sie selbst waren, gebracht hätten. Sein kurzgestutztes Haar konnte als eine bloße Fortsetzung der rötlichen Sommersprossen auf Stirn und Gesicht gelten. Seine Haut hatte, was die natürliche Farbe betraf, ein so ungesundes und mangelhaftes Aussehen, daß er den Anschein hatte, als würde er weiß bluten, wenn man ihn schnitte.

»Bitzer«, sagte Thomas Gradgrind, »deine begriffliche Bestimmung von einem Pferd.«

»Vierfüßig. Grasfressend. Vierzig Zähne, nämlich: vierundzwanzig Backenzähne, vier Augenzähne und zwölf Schneidezähne. Wirft im Frühling die Haut ab und in morastigen Gegenden auch die Hufe. Die Hufe sind hart, müssen jedoch mit Eisen beschlagen werden. Zeichen im Maule geben das Alter an.« Also (und noch viel mehr) sprach Bitzer.

»Nun, Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte Mr. Gradgrind, »weißt du, was ein Pferd ist.«

Sie knixte abermals und würde noch mehr errötet sein, wenn sie überhaupt noch mehr hätte erröten können, als sie es bisher getan hatte. Nachdem Bitzer auf Thomas Gradgrind mit beiden Augen zugleich rasch hingeblinzelt hatte und das Licht auf seinen zitternden Spitzen von Augenwimpern so auffing, daß sie wie Fühlhörner geschäftiger Insekten aussahen, fuhr er mit den Knöcheln an die sommersprossige Stirn und setzte sich wieder.

Der dritte Herr trat jetzt vorwärts. Er war ein tüchtiger Mann im Knuffen und Schlagen; ein Regierungsbeamter. Nach seiner Weise (und auch in der der meisten Leute) ein erklärter Boxer. Immerfort in Übung, immerfort mit einem Plane bei der Hand, die Kehle von aller Welt wie ein Arzneikügelchen abzuwürgen, posaunte er ständig vor den Schranken seines Bureaus aus, daß er bereit sei, es mit »ganz England« aufzunehmen. Um in der Phraseologie der Faust fortzufahren, besaß er ein eigenes Talent, überall mit jedermann anzubinden und sich als einen abscheulichen Kumpan zu bewähren. Er konnte irgendwo hinkommen und sofort jeden beliebigen Menschen eines mit der Rechten versetzen, mit der Linken nachholen, einhalten. Arme wechseln, sich stemmen und seinen Gegner (er schlug sich stets mit »ganz England«) bis zu dem Seitenring drängen und dann über ihn geschickt herfallen. Er war sicher, ihm das Lebenslicht auszublasen und seinen unglücklichen Gegenkämpfer für ewig taub zu machen. Er hatte auch von einer höheren Autorität den Auftrag, das große Bureau des tausendjährigen Reiches zu begründen, wenn solche Kommissare je einmal zur Herrschaft auf Erden gelangen sollten.

»Sehr gut«, sagte dieser Herr, munter lächelnd und die Arme kreuzend. »Das ist ein Pferd. Laßt mich euch nun die Frage vorlegen, Mädchen und Knaben, würdet Ihr ein Zimmer mit den bildlichen Darstellungen eines Pferdes tapezieren?«

Nach einer Pause rief die eine Hälfte der Kinder im Chor: »Ja, mein Herr!« worauf die andere Hälfte, die in dem Gesicht dieses Herrn las, daß Ja unrichtig war, im Chor ausrief: »Nein, mein Herr«, wie es bei solchen Prüfungen gewöhnlich geschieht.

»Versteht sich, nein. Warum aber?«

Eine Pause. Ein wohlbeleibter, bedachtsamer Knabe, der keuchend Atem holte, wagte die Antwort: weil er ein Zimmer gar nicht tapezieren, sondern malen lassen würde.

»Du mußt es tapezieren«, sagte der Herr ziemlich leidenschaftlich.

»Du mußt es tapezieren«, sagte Thomas Gradgrind, »ob du willst oder nicht. Sag uns nicht, du würdest es nicht tapezieren. Was meinst du. Junge?«

Nach einer zweiten und schrecklichen Pause begann der Herr abermals: »Ich will euch also erklären, warum ihr ein Zimmer nicht mit den bildlichen Darstellungen eines Pferdes tapezieren würdet. Sehet ihr je in Wirklichkeit Pferde auf den Seiten eines Zimmers hin und her gehen? Seht ihr das in der Tat?«

»Ja, mein Herr«, von der einen Hälfte und »Nein, mein Herr«, von der andern.

»Versteht sich, nein«, sagte der Herr mit einem unwilligen Blick auf die unrichtige Hälfte. »Nun, ihr werdet nie etwas sehen, was ihr nicht in der Tat sehet. Ihr werdet nirgends etwas haben, was ihr nicht in der Tat habt. Was man Geschmack nennt, ist nur eine andere Bezeichnung für Tatsache.«

Thomas Gradgrind nickte seine Beistimmung zu.

»Das ist ein neues Prinzip, eine Entdeckung, eine große Entdeckung«, sagte der Herr. »Nun werde ich euch nochmals auf die Probe stellen. Vorausgesetzt, ihr ließet ein Zimmer mit einem Teppich belegen. Würdet ihr einen Teppich wählen, auf dem sich bildliche Darstellungen von Blumen befinden?«

Da jetzt die allgemeine Überzeugung vorherrschte, daß »Nein, mein Herr«, bei diesem Herrn immer die richtige Antwort sei, so war der Chor von Nein sehr stark. Nur einige Nachzügler riefen Ja; unter diesen Cili Jupe.

»Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte der Herr in der ruhigen Würde seiner Weisheit lächelnd. Cili errötete und erhob sich.

»Also du würdest dein Zimmer oder das deines Mannes, wenn du schon erwachsen wärest und einen Mann hättest, mit einem Teppich belegen, auf dem Blumen abgebildet sind – würdest du da«?« rief der Herr, »Warum würdest du das?«

»Wenn Sie erlauben, mein Herr, ich habe Blumen sehr lieb«, antwortete das Mädchen.

»Und warum möchtest du also Tische und Stühle auf sie stellen und die Leute mit ihren schweren Stiefeln darauf herumtreten lassen?«

»Da« würde ihnen nichts schaden, mein Herr. Sie würden nicht zerdrückt werden und verwelken. Wenn Sie erlauben, mein Herr. Sie wären nur die Bilder von etwas recht Hübschem und Angenehmen, und ich würde mir einbilden –«

»Ei! Ei! Ei! Aber du darfst dir nichts einbilden«, rief der Herr, ganz stolz darauf, so glücklich zu diesem Punkt geraten zu sein. »Das ist’s ja gerade. Du darfst dir nie etwas einbilden.«

»Du darfst nie, Marie Jupe«, wiederholte Thomes Gradgrind feierlich, »dergleichen tun.«

»Tatsachen! Tatsachen! Tatsachen!« sagte der Herr, und »Tatsachen! Tatsachen! Tatsachen!« wiederholte Thomas Gradgrind.

»In allen Dingen müßt ihr«, sagte der Herr, »von Tatsachen geleitet und gelenkt werden. Wir hoffen, in kurzem einen Ausschuß der Tatsachen, zusammengesetzt aus Kommissaren der Tatsachen, zu haben, die das Volk zwingen werden, ein Volk der Tatsachen und nur der Tatsachen zu sein. Das Wort Einbildung müßt ihr ganz verbannen. Ihr habt nichts damit gemein. Ihr dürft in keinem Gegenstande, der zum Nutzen oder zur Zierde gereicht, etwas finden, das mit der Tatsächlichkeit im Widerspruch steht. Ihr geht in der Tat nicht auf Blumen: ihr dürft also auf Blumen in Teppichen nicht gehen. Ihr seht nirgends, daß ausländische Vögel und Schmetterlinge herbeifliegen, um sich auf eurem Geschirr niederzulassen; es kann euch daher nicht gestattet werden, ausländische Vögel und Schmetterlinge auf euer irdenes Geschirr zu malen. Ihr begegnet nie vierfüßigen Tieren, die auf den Wänden hin und her spazieren; ihr dürft also keine vierfüßigen Tiere auf den Wänden darstellen lassen. Zu all solchen Belangen«, fügte der Herr hinzu, »dürft ihr nur Vergleiche und Zusammenstellungen (in Grundfarben) mathematischer Figuren in Anwendung bringen, die einer Beweisführung fähig sind. Das ist die neue Entdeckung. Das ist Tatsache. Das ist Geschmack.«

Das Mädchen knixte und setzte sich. Sie war sehr jung und sah aus, als ob sie vor dem Prospekt der Tatsächlichkeit, den die Welt bot, erschrocken wäre.

»Nun, wenn Mr, M’Choakumchild«, sagte der Herr, »zu seiner ersten Lektion hier schreiten will, so werde ich mich glücklich schätzen, auf Ihr Ersuchen, Mr. Gradgrind, sein pädagogisches Verfahren zu beobachten.«

Mr. Gradgrind war sehr verbunden. »Mr. M’Choakumchild, wir warten nur auf Sie.«

So fing denn Mr. M’Choakumchild in seiner besten Weise an. Er und andere hundertundvierzig Schulmeister wurden vor kurzem zu gleicher Zeit, in derselben Faktorei und nach denselben Prinzipien wie ebenso viele Pianogestelle, gedrechselt. Er war durch eine zahllose Menge von Fächern gegangen und hatte ganze Bände von kopfzerbrechenden Fragen beantwortet. Orthographie, Etymologie, Syntax und Prosodie, Biographie, Astronomie, Geographie und allgemeine Kosmographie, die Wissenschaften der zusammengesetzten Proportionen, Algebra, Landmessen und Nivellieren, Gesang und Zeichnen nach Modellen, das alles saß ihm sozusagen fest bis in die Spitzen seiner erstarrten zehn Finger. Er hatte sich den steinigen Pfad in die Liste B. des hochehrwürdigen geheimen Rates Ihrer Majestät gebahnt, und hatte die Blüte in den höheren Zweigen der Mathematik und Naturwissenschaft und im Deutschen, Französischen, Lateinischen und Griechischen davongetragen. Er wußte alles hinsichtlich der natürlichen Ländergrenzen der ganzen Welt (was immer sie sein mögen); er wußte alle Geschichten aller Völker, und alle Namen aller Berge und Flüsse, und alle Erzeugnisse, Sitten und Gebräuche aller Länder und all ihre Grenzen und Lagen auf den zweiunddreißig Punkten des Kompasses. Ach, ziemlich überladen, Mr. M’Choakumchild! Wenn er nur etwas weniger gelernt hätte, wie unendlich besser hätte er weit mehr beibringen können!

Er machte sich in der Vorbereitungslektion an die Arbeit, wie ungefähr Morgiana in den »Vierzig Dieben«, indem er nacheinander in all die Gefäße blickte, die vor ihm geordnet standen, um zu sehen, was sie enthalten. Sage doch, guter M’Choakumchild: glaubst du, wenn du von deinem quellenden Vorrat jeden Krug bis an den Rand füllen wirst, imstande zu sein, dem Wegelagerer Phantasie, der darinnen lauert, für immer den Garaus zu machen, oder ihn nur zu verstümmeln und zu verrenken?

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

»Oh, meine Freunde, ihr mit Füßen getretenen Arbeiter von Coketown! Oh, meine Freunde und Mitbürger, ihr Sklaven eines eisernen und zermalmenden Despotismus! Oh, meine Freunde und Leidensgenossen und Arbeitsgenossen und Mitgenossen! Ich sage euch, daß die Stunde geschlagen, wo wir uns zu einer festen Macht vereinigen müssen, um die Unterdrücker zu Staub zu zerreiben, die sich nur zu lange gemästet haben an der Ausbeutung unserer Familien, an dem Schweiß unserer Stirne, an der Arbeit unserer Hände, an der Kraft unserer Nerven, an der Mißachtung der gottgeborenen, glorreichen Rechte der Humanität und an der Unterdrückung der heiligen und ewigen Privilegien der Brüderlichkeit!«

»Gut!« »Hört, hört, hört!« »Hurra!« und ähnliche Ausrufe ertönten von vielen Stimmen aus der dichtgedrängten und zum Ersticken vollen Halle, in der der Redner – der sich auf einem Gerüst aufgepflanzt hatte – das soeben Mitgeteilte – und was er sonst noch an Schall und Rauch in sich hatte, von sich gab. Er hatte sich selbst in hitzigen Eifer hineindeklamiert und war ebenso heiser als erhitzt. Während die blendenden Gasflammen ihren Geruch ausströmten, brüllte er aus voller Kehle, ballte die Fäuste, runzelte die Stirn, knirschte mit den Zähnen, arbeitete mit den Armen und hatte sich nun dermaßen erschöpft, daß er nicht mehr weiter konnte und nach einem Glas Wasser rief.

Wie er so dastand und versuchte, das glühende Gesicht mit einem Trunk Wasser zu kühlen, fiel der Vergleich zwischen ihm, dem Redner, und der Menge aufmerksam ihm zugewandter Gesichter, sehr zu seinem Nachteil aus. Nach seiner augenfälligen Persönlichkeit zu urteilen, erhob er sich nur durch das Gerüst, auf dem er stand, ein wenig über die Masse empor. In vielen anderen Beziehungen stand er ihr wesentlich nach. Er war nicht so rechtlich, nicht so männlich und nicht so gutmütig. Er setzte Durchtriebenheit an die Stelle der Einfachheit, Leidenschaftlichkeit und ihres geraden gesunden Verstandes. Als schlechtgebauter, hochschulteriger Mann mit eingesunkenen Augenbrauen und mit Gesichtszügen, die gewöhnlich einen sauertöpfischen Ausdruck annahmen, bildete er selbst in seinem buntscheckigen Anzug einen ungünstigen Kontrast zu der großen Schar seiner Zuhörer in ihren einfachen Arbeiteranzügen.

Ist schon der Anblick jeder Versammlung seltsam, die sich dem Eindruck einer beliebten Person – Lord oder Unterhausmitglied – demütig unterwirft, eines Menschen, den Dreiviertel der Zuhörer durch kein menschliches Mittel aus dem Schlamm der Nichtigkeit zu ihrer eigenen geistigen Höhe erheben könnten, so war es unendlich seltsam, ja sogar unendlich rührend, diese Menge von ernsten Gestalten, deren Rechtlichkeit im allgemeinen von keinem kompetenten, vorurteilsfreien Beobachter bezweifelt werden konnte, durch einen solchen Führer aufgeregt zu sehen.

Gut! Hört, hört! Hurra! Die eifrige Spannung und Aufmerksamkeit, die sich auf jedem Antlitze kundgab, gewährte einen eindrucksvollen Anblick. Da gab sich keine Unachtsamkeit, keine Mattigkeit und keine eitle Neugier kund. Kein einziger Schatten der Gleichgültigkeit, der man in allen andern Versammlungen begegnete, war hier auch nur auf einen einzigen Augenblick sichtbar. Daß jedermann fühlte, wie seine Lage auf die eine oder andere Weise schlimmer sei, als sie sein sollte; daß jedermann es als seine ihm obliegende Pflicht betrachtete, sich mit den übrigen zu vereinigen, um Verbesserungen hervorzurufen; daß jedermann seine einzige Hoffnung in den Anschluß an seine Kameraden setzte, von denen er umgeben war, und daß die gesamte Menge in diesem Glauben, sei er begründet oder unbegründet (unglücklicherweise war er damals das letztere) in feierlichem, tiefem und aufrichtigem Ernst begriffen war – muß jedem, der das Vorhandene sehen mochte, ebenso deutlich sichtbar geworden sein, wie das kahle Balkenwerk des Daches und die geweißten Ziegelwände. Ein ähnlicher Beobachter konnte sich auch der inneren Überzeugung nicht erwehren, daß diese Männer selbst in ihren Irrtümern große Eigenschaften offenbarten, die dafür empfänglich waren, auf das beste und vorteilhafteste ausgebildet zu werden: und daß die Behauptung (auf prahlerische Axiome gegründet, wie sie immer auch zugestutzt und geformt sein mochten), daß sie ohne alle Ursache und bloß aus unvernünftigem Eigenwillen irre Wege einschlugen, der Behauptung gleich war, daß es Rauch ohne Feuer gebe, Tod ohne Geburt, Ernte ohne Saat, und daß alles und jedes aus nichts geschaffen werden könne.

Nachdem der Redner die Erfrischung genommen, wischte er sich die Stirn mit einem wulstartig-gefalteten Taschentuche mehrere Male von links nach rechts und konzentrierte seine erfrischten Lebenskräfte alle in ein Hohnlächeln der Verachtung und Bitterkeit.

»Aber, oh, meine Freunde und Brüder! Oh, Bürger und Briten, ihr mit Füßen getretenen Arbeiter von Coketown! Was sollen wir von jenem Manne sagen – von jenem Arbeiter – oh, daß ich gezwungen bin, diesen glorreichen Namen so sehr zu beschimpfen – der mit den Beschwerden und Unbilden, die ihr, der Kern und das Mark unseres Vaterlandes, zu erleiden habt, in praktischer Weise gar wohl vertraut ist und der euch mit einer edlen und majestätischen Einstimmigkeit, die Tyrannen erzittern machen wird, den Entschluß fassen hörte, für den Fond der Streikverbandkasse zu zeichnen und an allen Beschlüssen festzuhalten, die von jener Körperschaft zu eurem Wohle ausgehen mögen – was, frage ich euch, werdet ihr von dem Arbeiter – da ich ihn als solchen doch anerkennen muß – urteilen, der zu solcher Zeit seinen Posten verläßt und seine Fahne verkauft – der zu solcher Zeit zum Verräter, zum Feigling und zum Abtrünnigen wird – der nicht vor Schmach vergeht, euch das memmenhafte und entwürdigende Geständnis zu machen, daß er sich ferne halten will und nicht zu denen gehören mag, die sich zu dem heroischen Kampf für Freiheit und für Recht vereinigt haben?«

Die Versammlung war über diesen Punkt uneinig. Hier und da ertönte Gezisch und Murren; das allgemeine Ehrgefühl war jedoch zu stark, um einen Mann ungehört zu verdammen. »Wenn ihr nur Recht habt, Slackbridge.« »Laßt ihn hinaufsteigen.« »Laßt uns ihn hören.« Solche Ausrufe ließen sich von vielen Seiten vernehmen. Endlich rief eine starke Stimme aus: »Ist der Mann hier? Wenn der Mann hier ist, Slackbridge, so laßt uns ihn statt Euch hören.« Diese Worte fanden allgemeinen Beifall.

Slackbridge, der Redner, blickte mit trockenem Lächeln um sich, streckte die Hand (nach Art aller Slackbridge) der ganzen Länge des Armes nach aus, um die tobende See zu beruhigen, und wartete, bis tiefe Stille herrschte.

»Oh, meine Freunde und Mitbürger«, rief Slackbridge mit zornigem Kopfschütteln. »Ich wundere mich nicht, daß ihr, die zertretenen Kinder der Arbeit, die Existenz eines solchen Mannes mit ungläubigem Auge betrachtet, aber der, der seine Erstgeburt für ein Gericht Speisen verkaufte, existierte, und Judas Ischariot existierte, und Castlereagh8 existierte, und auch dieser Mann existiert!«

Ein kurzes Drängen und verworrenes Durcheinander, das in der Nähe der Rednerbühne entstanden war, endigte mit der Erscheinung des Mannes selbst an der Seite des Redners vor dem Gedränge. Sein Gesicht war blaß und zeigte Spuren von Aufregung – was sich besonders auf seinen Lippen kundgab; er stand jedoch ruhig da mit der linken Hand am Kinn und wartete, bis er Gehör erlangte. Es war ein Präsident da, den Geschäftsgang zu leiten, und dieser Beamte nahm jetzt die Sache selbst in die Hand.

»Meine Freunde!« rief er, »kraft meines Amtes als euer Präsident, fordere ich unsern Freund Slackbridge auf, der in dieser Angelegenheit sich zu sehr ereifert haben mag, seinen Platz wieder einzunehmen, während dieser Mann hier, Stephen Blackpool, das Wort erhält. Ihr kennt ihn schon lange durch sein Unglück und seinen guten Namen.«

Mit diesen Worten schüttelte ihm der Präsident herzlich die Hand und setzte sich wieder nieder. Slackbridge setzte sich ebenfalls, indem er sich die glühende Stirn abwischte – immer von links nach rechts und niemals umgekehrt.

»Meine Freunde«, begann Stephen inmitten einer Totenstille. »Ich habe gehört, was von mir gesagt worden ist, und wahrscheinlich werde ich nichts dazu noch davon tun. Aber ich möchte lieber, daß ihr die Wahrheit über mich von mir selbst hörtet, als von einem andern, obgleich ich nie vor so einer großen Menge sprechen konnte, ohne verwirrt und verlegen zu werden.«

Slackbridge schüttelte mit dem Kopf, als wollte er ihn in seiner Erbitterung abschütteln.

»Ich bin die einzige ›Hand‹ in Bounderbys Faktorei – von allen die hier versammelt sind – der mit den vorgeschlagenen Verhaltungsmaßregeln nicht übereinstimmt. Ich kann nicht mit ihnen übereinstimmen. Meine Freunde, ich zweifle daran, daß sie für euch vorteilhaft sind. Sie könnten euch vielmehr schädlich sein.«

Slackbridge lachte, schränkte die Arme ineinander und sah spöttisch drein.

»Aber das ist es nicht allein, warum ich mich ausschließe. Wenn das alles wäre, so würde ich mich den übrigen verbinden. Seht, ich habe meine Gründe – meine eigenen – die mich verhindern. Nicht bloß jetzt, sondern immer – immer – all mein Leben lang.«

Slackbridge fuhr auf und stellte sich neben ihn knirschend und wütend. »Oh, meine Freunde, habe ich euch nicht das alles gesagt? Oh, meine Mitbürger, habe ich euch nicht diese Warnung zugerufen? Und wie erscheint euch dieses verräterische Benehmen an einem Mann, von dem man weiß, daß ihn die Ungleichheit der Gesetze so schwer betroffen? Oh, ihr Engländer, ich frage euch, wie erscheint euch diese Verleitung bei einem Manne, der euresgleichen ist, und der seine Einwilligung gibt zu seinem Verderben und dem eurigen – zu dem eurer Kinder und Kindeskinder?«

Einiger Beifall ließ sich hören mit einigen Ausrufen: »Pfui, über diesen Kerl!« Die Mehrheit der Zuhörer war indessen ruhig. Sie betrachteten Stephens verstörtes Gesicht, das durch die natürliche Aufregung, die es kundgab, einen feierlicheren Anblick gewährte, und waren bei der Güte ihres Herzens mehr zum Mitleid als zur Entrüstung geneigt.

»Es ist das Geschäft dieses Abgeordneten, zu sprechen«, sagte Stephen, »er wird dafür bezahlt, und er versteht sein Handwerk. Dabei laßt ihn bleiben. Er soll sich nicht darum kümmern, was ich nicht dulden sollte. Das geht ihn nichts an. Das geht niemanden etwas an außer mich.«

Es herrschte ein gewisser Anstand, um nicht zu sagen Würde in diesen Worten, wodurch die Zuhörer noch stiller und aufmerksamer wurden. Die frühere starke Stimme rief aus: »Slackbridge, laß den Mann sprechen und halt‘ selbst das Maul!« worauf eine wunderbare Stille eintrat.

»Meine Brüder«, sagte Stephen, dessen leise Stimme deutlich vernommen ward, »und meine Arbeitsgenossen – denn das seid ihr für mich, obwohl, wie ich gut weiß, nicht für diesen Abgeordneten hier – ich habe euch bloß ein Wort zu sagen, und ich könnte euch nicht mehr sagen, wenn ich bis zum andern Morgen spräche. Ich weiß wohl, was mich erwartet. Ich weiß wohl, daß ihr alle entschlossen seid, nichts mehr mit einem Manne zu tun zu haben, der in dieser Angelegenheit nicht mit euch geht. Ich weiß wohl, daß, wenn ich auf der Gasse bettelnd verenden müßte, ihr es für recht halten würdet, an mir wie an einem Fremden und Ausländer vorüberzugehen. Nun, was mein Schicksal ist, damit muß ich zufrieden sein.«

»Stephen Blackpool«, sagte der Vorsitzende, indem er sich erhob, »überlege es dir noch einmal. Überlege es dir nochmals, mein Junge, ehe du von all deinen alten Freunden gemieden wirst.«

Ein allgemeines Murmeln gab sich zur Bekräftigung dessen kund, obgleich niemand ein Wort verlauten ließ. Alle Augen waren auf Stephens Gesicht geheftet. Wenn er einen Entschluß bereute, so würde er eine schwere Last von ihren Gemütern abwälzen. Er blickte um sich und wußte, daß dieses der Fall war. Nicht ein Funke von Zorn loderte in ihren Herzen, er kannte sie tiefer als ihre oberflächlichen Schwächen und Irrtümer reichten – wie niemand außer ihrem Arbeitsgenossen sie kennen konnte.

»Ich habe es mir überlegt, genau überlegt, Sir. Ich kann einfach nicht beitreten. Ich muß den Weg einschlagen, der vor mir liegt. Ich muß von euch allen hier Abschied nehmen.«

Er machte ihnen eine Art Reverenz, indem er die Arme emporhielt und verharrte einen Augenblick in dieser Stellung. Er sprach nicht wieder, bis sie ihm ein wenig zur Seite traten.

»Sehr viele freundliche Worte sind von manchen der Anwesenden mit mir gewechselt worden; sehr viele Gesichter sehe ich hier, die ich sah, als ich noch jung und heiterer war als jetzt. Ich habe, seitdem ich geboren, nie mit einem der Anwesenden einen Streit gehabt, und Gott weiß, ich habe auch jetzt keinen Streit durch meine Schuld. Ihr werdet mich Verräter und wer weiß wie noch schelten, ich meine Euch damit – sich an Slackbridge wendend – aber es ist leichter, jemanden schelten als beweisen. Und damit habe ich genug gesagt.«

Er war einen oder zwei Schritte vorgetreten, um die Tribüne zu verlassen, als er sich an etwas erinnerte, das er noch zu sagen hatte, und nochmals umkehrte.

»Vielleicht«, sagte er, und wandte sein gefurchtes Gesicht langsam im Halbkreis, um anzudeuten, daß er seine Worte an sämtliche Zuhörer, sowohl die nahen wie die fernen, persönlich richten wolle. »Vielleicht, wenn diese Frage abgetan und erörtert sein wird, daß ihr dann mit Arbeitniederlegung droht, wenn man mir erlaubt, unter euch weiter zu arbeiten. Ich hoffe, daß ich eher sterben werde, als daß diese Zeit wirklich kommt, und ich werde abgesondert unter euch arbeiten, bis das geschehen wird. Wirklich, ich muß das tun, meine Freunde; nicht euch zum Trotze, sondern um leben zu können. Ich habe nichts als meine Arbeit, wovon ich leben kann, und wohin kann ich mich noch wenden, ich, der ich hier in Coketown von Kindesbeinen an gearbeitet habe? – Ich beklage mich nicht darüber, daß ich so weit gebracht worden, daß ich verstoßen und verachtet bin für die Zukunft. Aber ich hoffe, man wird mich arbeiten lassen. Wenn ich überhaupt auf irgendein Recht Anspruch machen kann, so ist es eben darauf, meine ich.«

Kein Wort ließ sich vernehmen. Kein Laut ließ sich im ganzen Gebäude hören, nur das leise Rauschen der beiseite tretenden Leute, die in der Mitte des Saals einen Gang freimachten, um den Mann hindurchzulassen, dem sie die Kameradschaft aufgekündigt hatten. Ohne jemanden anzusehen, doch mit anspruchsvoller Festigkeit, verließ der alte Stephen, mit all seinem Kummer auf dem Herzen, den Schauplatz.

Hierauf schickte sich Slackbridge, der den oratorischen Arm während seines Hinausgehens ausgestreckt hielt, als wollte er mit unendlicher Sorgfalt und vermittels einer wunderbar moralischen Macht die heftigen Leidenschaften der Menge unterdrücken, wieder an, ihre Gemüter aufzurichten. – »Hatte nicht Brutus, der Römer, oh, meine britischen Mitbürger, seinen Sohn zum Tode verurteilt, und hatten nicht, oh, meine bald triumphierenden Freunde, spartanische Mütter ihre fliehenden Kinder den scharfen Schwertern des Feindes entgegengetrieben? – War es also nicht die heilige Pflicht der Männer von Coketown, mit den Vorfahren vor ihnen – mit der bewundernden Mitwelt im Verein mit ihnen – und mit der Nachwelt nach ihnen – war es nicht ihre heilige Pflicht, frage ich, die Verräter aus den Zelten zu treiben, die sie in einer heiligen und Gott wohlgefälligen Sache aufgerichtet hatten? Die Lüfte des Himmels antworteten: ›Ja‹, und trugen dieses Ja nach Osten, Westen, Süden und Norden. Und darum ein dreimaliges Hoch! für das vereinigte Arbeiter-Tribunal!«

Slackbridge machte den Chorführer und schlug den Takt. Die Menge mit skeptischen Mienen (mit dem Ausdruck der Gewissensunruhe) lebte bei dem Tone neu auf und stimmte ein. Das Privatgefühl muß der allgemeinen Sache weichen. Hurra! Das Dach zitterte noch von dem Beifallsgeschrei, als die Versammlung sich zerstreute.

Stephen Blackpool führte nun das einsamste Leben – das Leben der Einsamkeit unter einer vertrauten Menge. Der Fremde im Lande, der in zehntausend Gesichter starrt, um einen teilnehmenden Blick zu erhaschen und ihm niemals begegnet, ist im Vergleich mit ihm, der täglich an zehn abgewandten Gesichtern vorübergeht, die früher sämtlich das Antlitz so vieler Freunde waren, noch in erheiternder Gesellschaft. Diese Erfahrung sollte nun Stephen in jedem wachen Augenblick seines Lebens machen – bei der Arbeit, auf seinem Wege zu und von dieser, vor seiner Tür, an seinem Fenster – überall – In gemeinschaftlichem Einverständnis vermieden sie selbst die Seite der Straße, die er gewöhnlich einschlug, und von sämtlichen Arbeitern ging er allein auf dieser.

Er war viele Jahre lang ein ruhiger, stiller Mann gewesen, hatte sich nur wenig zu andern gesellt und war an die Gesellschaft seiner eigenen Gedanken gewöhnt. Er hatte früher nie gewußt, wie stark das Bedürfnis seines Herzens nach einem Zunicken, einem Blick oder Wort war, und ebenso wußte er nicht, wie unendlich groß der Trost war, den er durch solche unbedeutenden Dinge tropfenweise einschlürfte. Es fiel ihm selbst schwerer, als er es für möglich hielt, das Verlassensein von seinen Gefährten in seinem Bewußtsein von einem grundlosen Gefühl der Schande und des Schimpfes zu trennen.

Die ersten vier Tage seiner Leidenszeit waren so lang und düster, daß er selbst vor dem, was ihm bevorstand, zu erschrecken begann. Nicht nur, daß er während der ganzen Zeit nichts von Rachael sah; er vermied auch jede Gelegenheit, sie zu sehen. Obgleich er zwar wußte, daß das Verbot sich noch nicht auf die Arbeiterinnen der Fabriken erstreckte, so merkte er doch, daß einige von ihnen, mit denen er bekannt war, nun ganz verändert gegen ihn waren. Er fürchtete nun, bei andern die gleiche Erfahrung zu machen. Er bebte vor dem Gedanken zurück, daß selbst Rachael von den übrigen gemieden werden würde, wenn man sie in seiner Gesellschaft sähe. So brachte er denn vier Tage ganz allein zu und hatte mit niemanden ein Wort gesprochen, als er eines Abends beim Nachhausegehen von der Arbeit von einem jungen Manne mit äußerst heller Gesichtsfarbe in der Straße angesprochen wurde.

»Ihr heißt Blackpool, nicht wahr?« sagte der junge Mann.

Stephen errötete darüber, daß er sich plötzlich mit dem Hute in der Hand sah, und zwar aus Dankbarkeit wegen der Anrede, oder weil sie so unerwartet geschah, oder aus beiden Gründen zugleich. Er stellte sich, als ob er das Futter in Ordnung brächte und sagte: »Ja.«

»Ihr seid der Arbeiter, den man nach Coventry9 geschickt hat, nicht wahr?« sagte Bitzer, denn dieser war der erwähnte junge Mann mit heller Gesichtsfarbe.

Stephen bejahte abermals.

»Dann geht nur gefälligst gleich hin!« sagte Bitzer. »Ihr werdet erwartet und braucht dem Diener bloß zu sagen, daß Ihr es seid. Ich gehöre zur Bank. Wenn Ihr nun ohne mich geradeswegs hinaufgeht (ich bin geschickt worden, um Euch zu holen), so erspart Ihr mir einen Gang.«

Stephen, dessen Weg in der entgegengesetzten Richtung lag, wandte sich um und begab sich, seiner Pflicht gemäß, in das rote Backsteinschloß des Riesen Bounderby.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

»Nun, Stephen«, rief Bounderby in seiner aufgeblasenen Weise, »was für Dinge hör‘ ich? Was haben diese Pestbeulen der Erde denn mit Euch gemacht? Kommt herein und sprecht.«

Damit ward er in das Empfangszimmer geladen. Ein Teetisch war gedeckt, und Mr. Bounderbys junge Frau sowie ihr junger Bruder und ein großer Gentleman aus London waren noch zugegen. Stephen machte ihnen seine Verbeugung, schloß die Tür und blieb mit dem Hut in der Hand in deren Nähe stehen.

»Das ist der Mann, von dem ich Ihnen gesprochen habe, Harthouse«, sagte Mr. Bounderby. Der Gentleman, an den er sich wandte und der mit Mrs. Bounderby in einem Gespräch begriffen auf dem Sofa saß, stand auf und sagte in lässigem Tone: »Oh, wirklich?« Dabei schlenderte er nach dem Kamin, bei dem Mr. Bounderby stand.

»Nun«, sagte Bounderby, »sprecht nur gerade heraus!«

Nach den vier verlebten Tagen klang diese Ansprache rauh und unwirsch an Stephens Ohr. Abgesehen davon, daß sie in brutaler Weise sein verwundetes Gemüt berührte, schien sie anzunehmen, daß er wirklich der selbstsüchtige Abtrünnige sei, den man ihn gescholten.

»Was ist es, Sir«, sagte Stephen, »was Sie von mir wünschen?«

»Nun, ich habe es Euch gesagt«, erwiderte Bounderby. »Sprecht heraus wie ein Mann, da Ihr doch ein Mann seid und erzählt uns von Euch und dieser Arbeiterverbindung.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Stephen Blackpool. »Ich habe darüber nichts mitzuteilen.«

Mr. Bounderby, der stets mehr oder weniger einem Winde glich, fing, da ihm hier etwas im Wege stand, sogleich an, dieses Etwas anzuhauchen.

»Nun, sehen Sie einmal, Harthouse«, rief er, »hier ist ein Muster von diesen Leuten. Als der Mann schon früher einmal hier war, warnte ich ihn vor den unheilbringenden Fremden, die stets geschäftig sind – und die man hängen sollte, wo man sie nur findet – und ich sagte diesem Mann, daß er einen falschen Weg einschlägt. Können Sie nun glauben, daß er, obgleich seine Kameraden ihn in dieser Weise gebrandmarkt haben, ihnen noch immer so sklavisch unterworfen ist, daß er sich scheut, den Mund über sie aufzutun?«

»Ich sagte, daß ich nichts mitzuteilen habe, Sir; nicht, daß ich mich fürchtete, den Mund aufzutun.«

»Das sagtet Ihr. Ah, ich weiß, was Ihr sagtet; und seht, was noch mehr ist, ich weiß, was Ihr denkt. Zum Donnerwetter! Was man sagt und was man denkt, ist nicht immer ein und dasselbe. Oft ganz verschiedene Dinge. Sagt uns lieber gleich heraus, daß jener Kerl, der Slackbridge, nicht in der Stadt ist, um das Volk zur Meuterei aufzuhetzen, und daß er nicht ein regelrecht qualifizierter Volksführer ist – das heißt ein ganz verfluchter Schurke! Sagt das lieber gleich heraus; Ihr könnt mich nicht täuschen. Das wollt Ihr uns sagen. Warum tut Ihr es nicht?«

»Es tut mir ebenso leid wie Ihnen, wenn die Führer des Volkes schlecht sind«, sagte Stephen kopfschüttelnd. »Man nimmt die, die sich anbieten. Vielleicht ist es nicht das geringste Unglück, daß das Volk keine besseren Führer haben kann.«

Der Wind fing an, noch heftiger zu hauchen.

»Nun, Sie werden denken, das klingt recht hübsch, Harthouse«, sagte Mr. Bounderby. »Sie werden denken, das ist ziemlich stark. Sie werden sagen, bei meiner Seele, das ist eine nette Kostprobe davon, womit meine Freunde zu tun haben. Aber das ist noch nichts, Sir! Hören Sie mich einmal an diesen Mann eine Frage stellen. Bitte sehr, Mr. Blackpool« – der Wind sprang jetzt äußerst heftig auf – »darf ich mir die Freiheit nehmen, Sie zu fragen, wie es kommt, daß Sie sich weigerten, an diesem Bündnis teilzunehmen?«

»Wie es kommt?«

»Jaja!« sagte Mr. Bounderby, mit den Daumen in den Ärmeln seines Rockes, den Kopf zurückgeworfen und mit den Augen der gegenüberliegenden Wand vertraulich zublinzelnd, »wie es kommt?«

»Ich möchte es lieber nicht berühren; da Sie aber einmal die Frage an mich stellen, und ich nicht unhöflich sein will, so werde ich antworten. Ich habe ein Versprechen gegeben.«

»Nicht mir, wie Ihr wissen werdet«, sagte Bounderby. (Stürmisches Wetter mit trügerischer Stille jetzt vorherrschend.)

»O nein, Sir. Nicht Ihnen.«

»Was mich betrifft, so hat die Rücksicht auf mich dabei nicht das mindeste zu tun«, sagte Bounderby, immer noch vertraulich der Wand sich zukehrend. »Wenn Josiah Bounderby von Coketown bloß im Spiele gewesen wäre, so würdet Ihr beigetreten sein und Euch kein Gewissen daraus gemacht haben?«

»Jawohl, Sir. Das ist richtig.«

»Obwohl er weiß«, sagte Mr. Bounderby, jetzt in einen Sturm ausbrechend, »daß sie eine Bande von Spitzbuben und Rebellen sind, für die Deportation noch zu gut ist. Nun, Mr. Harthouse, Sie sind ein wenig in der Welt herumgekommen. Sind Sie jemals einem Manne wie diesem in unserm gesegneten Lande begegnet?« Mr. Bounderby wies hier auf ihn mit zornigem Finger.

»Nein, Ma’am«, sagte Stephen Blackpool, gegen solche Worte lebhaft protestierend, und richtete seine Worte instinktmäßig an Luise, auf deren Züge er einen raschen Blick geworfen. »Keine Rebellen und auch keine Spitzbuben. Nichts dergleichen, Ma’am, nichts dergleichen. Meine Kameraden haben mir, meinem Wissen und Gefühle nach, Ma’am, nichts Gutes erwiesen. Aber es gibt kein Dutzend Männer unter ihnen, Ma’am – ein Dutzend? nicht sechs gibt es unter ihnen, die nicht glauben, daß sie selbst und die übrigen ihre Schuldigkeit getan. Gott bewahre, daß ich, der ich mein ganzes Leben lang diese Männer aus Erfahrung kenne – ich, der ich mit ihnen gegessen und getrunken habe, mich mit ihnen plagte und sie liebte – mich weigern sollte, mit ihnen für die Wahrheit einzustehen, mögen sie mir auch getan haben, was sie wollen!«

Er sprach mit dem rauhen Ernst seines Standes und Charakters – der vielleicht durch das stolze Bewußtsein erhöht, daß er seiner eigenen Klasse treu geblieben war, trotzdem sie ihm mißtraut hatten. Er vergaß jedoch keinen Augenblick, wo er war und erhob nicht einmal die Stimme. »Nein, Ma’am, nein. Sie sind einander treu, sind sich gut und ergeben bis zum Tode. Man sei arm, krank oder mit Kummer beladen unter ihnen – aus einer der vielen Ursachen, die den Gram zur Pforte des Armen führen – und sie begegnen einem liebevoll, freundlich, teilnehmend und christlich. Dessen können Sie gewiß sein, Ma’am. Sie würden sich eher in Stücke reißen lassen, als daß sie anders sein möchten.«

»Kurz«, sagte Mr. Bounderby, »bloß weil sie so voll guter Eigenschaften sind, haben sie Euch aufs Trockene gesetzt. Erzählt nun vollends, weil Ihr gerade im Zuge seid. Heraus damit!«

»Wie es kommt, Ma’am«, sagte Stephen, dem Luises Gesicht wie eine natürliche Zufluchtsstätte erschien, »daß gerade das, was das Beste an unsern Leuten ist, stets zu unserm Unglück und zu unserer Verwirrung ausschlägt, das kann ich nicht sagen. Aber es ist einmal so. Ich weiß das so gewiß, wie ich weiß, daß über mir, hinter dem Rauche, der Himmel ist. Wir sind auch geduldig und wollen im allgemeinen nur das Rechte tun. Und ich kann nicht glauben, daß der Fehler nur auf unserer Seite liegt.«

»Nun, mein Freund«, sagte Mr. Bounderby, den er, obgleich es ganz absichtslos geschah, durch nichts mehr hätte aufbringen können, als dadurch, daß er sich an eine andere Person wandte. »Wenn Ihr mir für eine halbe Minute Eure Aufmerksamkeit gönnen wollt, so würde ich gerne ein oder zwei Worte mit Euch sprechen. Ihr sagtet eben, daß Ihr uns über diese ganze Angelegenheit nichts mitzuteilen hättet. Seid Ihr dessen ganz gewiß? sprecht, ehe wir weiter fortfahren.«

»Sir, ich bin dessen gewiß.«

»Hier ist ein Herr aus London«, Mr. Bounderby machte eine Bewegung mit dem Rücken der Hand und deutete mit dem Daumen auf Mr. James Harthouse, »ein Parlamentsmitglied. Ich möchte, daß er ein kurzes Zwiegespräch zwischen Euch und mir anhört, statt bloß den Inhalt an sich – denn ich weiß im voraus nur zu wohl, was es sein wird. Niemand weiß es besser als ich, das merkt Euch wohl – anstatt daß er es von mir auf Treu und Glauben hinnehmen muß.«

Stephen verneigte sich gegen den Herrn aus London und zeigte mehr Verwirrung als gewöhnlich. Er wandte die Augen unwillkürlich nach der früheren Zufluchtsstätte; aber ein ausdrucksvoller kurzer Blick von dieser Seite hieß ihn, seine Augen auf Mr. Bounderbys Gesicht zu richten.

»Nun, worüber beklagt Ihr Euch?« fragte Mr. Bounderby.

»Ich bin nicht hierher gekommen«, erinnerte ihn Stephen, »mich zu beklagen. Ich kam, weil man nach mir geschickt hat.«

»Worüber«, wiederholte Mr. Bounderby, indem er die Arme kreuzte, beklagt ihr Leute euch im allgemeinen?«

Stephen betrachtete ihn eine Weile mit einiger Unentschlossenheit; dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Sir, ich mochte mich niemals darüber auslassen, obwohl ich mein Teil mitgelitten habe. Wir stecken in der Tat in tiefer Wirrnis, Sir. Blickt in der Stadt umher – so reich sie auch ist – und betrachtet die Zahl der Leute, die nur dazu geboren scheinen, um zu weben und Wolle zu krempeln, und die das Leben, alle in gleicher Weise, fristen – von ihrer Wiege bis zu ihrem Grab. Seht doch, wie wir leben, wo wir leben und in welcher Anzahl, unter welchen Aussichten und mit welcher Gleichförmigkeit! Seht nur, wie die Maschinen immerfort arbeiten, und wie sie uns doch nie einem fernen Gegenstande näher bringen – außer stets dem Tode. Seht nur, wie ihr uns beurteilt und über uns schreibt und sprecht und unsertwegen eure Deputationen zum Staatssekretär schickt, und wie ihr stets Recht habt und wir stets Unrecht, und wie wir keinen Funken Verstand in uns haben, seitdem wir geboren wurden. Seht nur, wie das zugenommen hat, Sir, stärker und stärker, immer weiter und weiter und immer schwerer und schwerer, von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation. Wer kann das alles betrachten, Sir, und einem Manne kühn sagen, daß es kein trauriger Zustand ist?«

»Ohne Zweifel«, sagte Mr. Bounderby. »Vielleicht wollt Ihr nun dem Herrn mitteilen, wie man aus diesem traurigen Zustand (wie Ihr es zu nennen beliebt) herauskommen kann?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Das kann man von mir nicht erwarten. Es ist nicht meine Aufgabe, die Sache in Ordnung zu bringen, Sir. Das kommt denen zu, die über mir stehen und über allen andern von uns. Weshalb haben sie die Sache übernommen, Sir, wenn nicht, um sie in Ordnung zu bringen?«

»Ich will Euch ein Mittel sagen, das auf jeden Fall hilft«, versetzte Mr. Bounderby. »Wir wollen an einem halben Dutzend Slackbridges ein Exempel statuieren. Wir werden diese Lumpenkerle wegen Hochverrat verklagen und sie in die Strafkolonien transportieren lassen.«

Stephen schüttelte ernst den Kopf.

»Sagt mir nicht, Mann, daß wir es nicht tun werden«, sagte Mr. Bounderby, in einen Orkan ausbrechend, »denn ich sage Euch, daß wir es tun werden.«

»Sir«, entgegnete Stephen mit dem ruhigen Vertrauen vollkommener Sicherheit, »wenn Sie hundert Slackbridges nehmen – alle die existieren, und ihre Anzahl noch zehnfach vergrößert gedacht – und Sie diese in einzelne Säcke nähen und sie in den tiefsten Ozean versenken würden, der vor der Erschaffung des festen Landes vorhanden war, so würde der traurige Zustand doch bleiben wie er ist. Unheilbringende Fremde«, fügte Stephen mit einem unruhigen Lächeln hinzu, »wann hätten wir wohl, soweit unsere Erinnerung reicht, von diesen unheilbringenden Fremden nicht gehört! Aber nicht durch sie sind die Unruhen hervorgerufen worden, und nicht durch sie haben sie begonnen. Ich habe keine Vorliebe für sie – ich habe keinen Grund, ihnen gewogen zu sein – aber es ist unnütz und hoffnungslos, davon zu träumen, sie ihrem Gewerbe zu entreißen, anstatt das Gewerbe ihnen zu entreißen. Alles, was in diesem Zimmer um mich ist, war hier, bevor ich kam und wird hier sein, wenn ich fort bin. Nehmen Sie jene Standuhr und versenden Sie sie nach den Norfolkinseln, so wird die Zeit doch wie früher ihren Lauf fortsetzen. So ist es aufs Haar mit den Slackbridges.«

Ein schneller Blick nach seiner früheren Zufluchtsstätte ließ ihn bemerken, wie Luise ihre Augen warnend nach der Tür bewegte. Er trat zurück und legte die Hand auf das Schloß. Aber er hatte nicht nach seinem eigenen Wunsch und Willen gesprochen, und er fühlte in seinem Innern, daß es eine edle Vergeltung für die jüngst empfangene ungerechte Behandlung sei, denen, die ihn zurückgestoßen, bis zuletzt treu zu bleiben. Er blieb, um zu vollenden, was ihm noch am Herzen lag.

»Sir, bei meinen geringen Kenntnissen und meiner schlichten Weise kann ich dem Herrn nicht sagen, wodurch das alles gebessert werden kann – obgleich manche Arbeiter aus unserer Stadt, die mir überlegen sind, es tun könnten – aber ich bin imstande, ihm zu sagen, wodurch es nicht geschehen kann. Die Hand der Gewalt wird es niemals tun können. Sieg und Triumph werden es niemals zustande bringen. Das Übereinkommen, der einen Partei unnatürlicherweise für immer und ewig Recht zu geben, und der andern Partei unnatürlicherweise für immer und ewig Unrecht, wird es nie und nimmer zustande bringen. Auch damit wird man nichts ausrichten, daß man sie sich allein überläßt. Laßt Tausende über Tausende allein – und die gleiche Lebensweise führen und in denselben Schlamm versinken, und diese Tausende werden immer für sich stehen und ihr für euch, und es wird eine dunkle, undurchdringliche Nacht zwischen euch bleiben, die gerade eine so lange oder kurze Zeit währt, wie dergleichen Elend dauern kann. Auch dadurch, daß man sich den Leuten nicht nähert – mit Güte, Geduld und Freundlichkeit – die gewohnt sind, sich in ihrem Unglück so eng aneinander anzuschließen, und sich in ihrem Ungemach gegenseitig so liebgewinnen – wie, nach meiner bescheidenen Meinung, der Herr auf all seinen Reisen keine Leute sah, von denen sie übertroffen würden – auch dadurch wird man nichts ausrichten, bis die Sonne sich in Eis verwandeln würde. Und schließlich dadurch, daß man sie als eine gewisse Kraft abschätzt, und sie so reguliert, als wären sie bloß Zahlen in einer Summe oder bloße Maschinen – ohne Lust und Liebe, ohne Erinnerungen und Neigungen, ohne Seelen, die erschlaffen und in Hoffnung aufleben können – dadurch, daß man, wenn alles ruhig ist, mit ihnen verfährt, als gehörten sie nicht zur Menschheit, und wenn es wieder unruhig wird, ihnen den Mangel an menschlichen Gefühlen in ihrem Betragen gegen euch vorwirft – dadurch wird niemals was ausgerichtet werden, Sir, bis einmal Gottes Werk zugrunde geht!«

Stephen stand mit der offenen Tür in der Hand und wartete, um zu erfahren, ob man noch etwas von ihm zu wissen verlangte.

»Bleibt nur noch einen Augenblick«, sagte Mr. Bounderby, außerordentlich rot im Gesicht. »Ich sagte Euch, als Ihr jüngst mit einer Beschwerde hier waret, daß Ihr Euch lieber die Sache aus dem Kopfe schlagen möchtet. Und ich sagte Euch auch, daß ich die Aussicht auf den goldenen Löffel wohl gemerkt habe.«

»Ich habe nicht danach gestrebt, Sir; dessen kann ich Sie versichern.«

»Nun ist es mir klar«, sagte Mr. Bounderby, »daß Ihr zu jenen sauberen Kunden gehört, die stets eine Beschwerde haben. Und Ihr treibt Euch damit herum, sie zu verbreiten und Lärm zu schlagen. Das ist das Geschäft Eures Lebens, mein Freund.«

Stephen schüttelte den Kopf, als wollte er stillschweigend dagegen protestieren, da er in der Tat einen andern Lebensruf hatte.

»Ihr seid ein solcher Zänker und Stänker«, sagte Mr. Bounderby, »und ein so nichtsnutziger Bursche, daß selbst Euer Verein, dessen Mitglieder Euch am besten kennen werden, mit Euch nichts zu tun haben will. Ich dachte nie daran, daß jene Burschen in etwas recht haben könnten, aber ich will Euch etwas sagen! der Neuigkeit wegen gehe ich jetzt insofern mit ihnen, daß auch ich mit Euch nichts mehr zu tun haben will.«

Stephen heftete die Augen rasch auf sein Gesicht.

»Ihr könnt die Arbeit vollenden, an der Ihr gerade seid«, sagte Mr. Bounderby mit einem bedeutsamen Kopfnicken, »und dann anderswo hingehen.«

»Sir, Sie wissen recht gut,«, sagte Stephen mit Nachdruck, »daß, wenn ich nicht bei Ihnen Arbeit bekomme, mir sonst keine gegeben wird.«

Die Antwort lautete: »Was ich weiß, das weiß ich, und Ihr wißt, was Ihr wißt. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Stephen warf wieder einen Blick auf Luise, ihre Augen waren jedoch nicht mehr auf die seinen gerichtet. Er entfernte sich daher mit einem Seufzer und rief mit stockendem Atem: »Der Himmel steh uns allen bei in dieser Welt!«

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Ein schwacher Lichtschimmer erhellte das Fenster, vor dem die schwarze Leiter schon oft aufgerichtet worden, um das, was einer sich abmühenden Frau und einer Brut hungriger Kinder in dieser Welt am kostbarsten war, darauf heruntergleiten zu lassen. Stephen ward nun bei seinen sonstigen Gedanken auch auf die ernsthafte Betrachtung geleitet, daß von allen zufälligen Ereignissen des irdischen Daseins keines mit so ungleicher Hand ausgeteilt werde, wie der Tod. Die Ungleichheit der Geburt schien ihm nichts dagegen. Denn angenommen, daß das Kind eines Königs und das eines Webers in dieser Nacht im gleichen Augenblick geboren wurden, was war diese Verschiedenartigkeit gegen den Tod eines menschlichen Wesens, das einem zweiten nützlich oder teuer war, wahrend dieses verworfene Weib am Leben blieb!

Von der Außenfront seiner Wohnung trat er düster gestimmt in das Innere derselben, mit angehaltenem Atem und leisen Schritten. Er näherte sich seiner Tür, öffnete sie und trat also ins Zimmer.

Ruhe und Friede herrschten dort. Rachael befand sich da, auf dem Bettrand sitzend.

Sie wandte ihren Kopf, und der Schimmer ihres Gesichtes fiel leuchtend in die Mitternächtigkeit seines Gemüts. Sie saß am Bette bei seiner Frau, wachend und pflegend. Das heißt, er sah jemanden daselbst liegen und er wußte zu gut, daß sie es sein müsse, Rachael hatte jedoch einen Vorhang angebracht, um sie vor seinen Blicken zu verbergen. Ihre elenden Kleidungsstücke waren beseitigt und einige von Rachael lagen an deren Stelle. Alles war an seinem Platz und in Ordnung, wie er es immer gehabt. Das kleine Feuer war sauber geschürt und der Herd frisch gefegt. Es schien ihm, als sähe er all das in Rachaels Gesicht und sah sonst auf nichts. Während er es so betrachtete, verschwand es durch die Tränen der Rührung, die sein Auge erfüllten, vor seinem Blick. – Aber das geschah nicht eher, als bis er gesehen hatte, wie ernsthaft sie ihn anschaute, und wie selbst ihre Augen mit Tränen gefüllt waren.

Sie wandte sich abermals gegen das Bett und sprach, nachdem sie sich gerne überzeugt hatte, daß dort alles ruhig war, mit einer leisen, gelassenen und heiteren Stimme:

»Ich bin froh, daß du endlich nach Hause gekommen bist, Stephen. Du kommst sehr spät.«

»Ich bin auf und ab gegangen.«

»Ich dachte es mir. Aber dazu ist die Nacht zu schlimm. Der Regen ist sehr stark und der Wind weht heftig.«

»Der Wind? Wohl wahr. Er wehte stark. Horch auf das Donnern im Kamin und auf das tobende Gepolter. Bei einem solchen Winde draußen gewesen zu sein und nicht gewußt zu haben, daß er wehte!«

»Ich bin heute schon einmal dagewesen, Stephen. Die Hausfrau holte mich um die Mittagsstunde. ›Jemand ist hier‹, sagte sie, ›der Pflege braucht‹ Und wahrlich, sie hatte recht. Sie phantasiert und ist bewußtlos, Stephen. Auch verwundet und voller Beulen.«

Er ging sacht zu einem Stuhl und setzte sich nieder, indem er den Kopf vor ihr senkte.

»Ich kam um das Wenige zu tun, was in meiner Macht steht, Stephen. Erstens weil wir als Mädchen zusammen arbeiteten, und weil du ihr den Hof machtest und sie heiratetest, als sie meine Freundin war –«

Er stützte die furchenreiche Stirn auf die Hand und stöhnte leise.

»Und dann weil ich dein Herz kenne und es ganz gewiß weiß, daß es zu barmherzig ist, um sie sterben, oder aus Mangel an Hilfe sie auch nur leiden zu lassen. Du kennst wohl den Spruch: ›Der ohne Sünde unter Euch ist, werfe den ersten Stein auf sie.‹ Gar viele haben das getan. Du aber bist nicht der Mann, den letzten Stein auf sie zu werfen, wenn sie so tief gesunken.«

»O Rachael, Rachael!«

»Du hast grausam gelitten, der Himmel belohne dich dafür«, sagte sie in mitleidsvollem Tone. »Ich bin deine arme Freundin mit ganzem Herzen und ganzer Seele.«

Die Wunden, von denen sie gesprochen hatte, schienen am Halse der Trinkerin zu sein. Sie verband sie jetzt, ohne sie seinen Blicken bloßzustellen. Sie tauchte ein Stück Linnen in ein Becken, worin sie etwas Flüssiges aus einer Flasche gegossen hatte und legte es sanft auf die wunde Stelle. Der dreibeinige Tisch war in die Nähe des Bettes gezogen worden und auf ihm befanden sich zwei Flaschen. Die mit der Flüssigkeit war die eine.

Sie stand nicht so weit von ihm entfernt, daß Stephen, der Rachaels Bewegungen mit den Blicken gefolgt war, nicht hätte lesen können, was mit großen Buchstaben darauf gedruckt war.

Totenbleich wandte er sich ab und ein plötzliches Grauen schien ihn zu überkommen.

»Ich will hierbleiben«, sagte Rachael, indem sie ihren Platz wieder ruhig einnahm, »bis die Uhr drei schlagen wird. Um drei muß es wieder vorgenommen werden, dann kann man sie bis zum Morgen allein lassen.«

»Aber deine Ruhe für morgen, Rachael?«

»Ich habe vergangene Nacht gut geschlafen. Ich kann viele Nächte durchwachen, wenn es sein muß. Du aber hast jetzt Ruhe nötig – so bleich und müde. Versuche es doch, in dem Stuhle hier zu schlafen, während ich wache. Du hast die vorige Nacht nicht geschlafen, das kann ich mir wohl denken. Die Arbeit morgen wird dir schwerer fallen als mir.«

Er vernahm das Donnern und Toben von draußen, und es schien ihm, als ob seine frühere düstere Kümmernis ihn wieder übermannen wollte. Sie hatte sie ausgetrieben, sie wird sie wohl auch ferne halten; er hegte das Vertrauen zu ihr, daß sie ihn vor sich selbst schützen werde.

»Sie kennt mich nicht; sie murmelt nur so schläfrig und stiert umher. Ich habe einige Male ihr zugeredet, aber sie achtete nicht darauf. Es ist auch gut so. Wenn sie wieder zur Besinnung kommt, so werde ich getan haben, was ich konnte, sie aber wird darum nicht besser sein.«

»Wie lang dürfte sie in diesem Zustand bleiben, Rachael?«

»Der Doktor sagte, sie könnte wohl morgen zur Besinnung kommen.«

Seine Augen fielen abermals auf die Flasche, wobei ihn ein Schaudern überkam, das alle seine Glieder erbeben machte. Sie glaubte, er zittere vor Kälte. »Nein«, sagte er, »es war nicht das. Ich habe einen Schreck bekommen.«

»Einen Schreck?«

»Ja doch! Ja doch! als ich hereintrat. Als ich herumging. Als ich nachdachte. Als ich–«

Es hatte ihn wieder erfaßt – und er erhob sich, indem er sich auf das Kamingesims stützte und das naßkalte Haar mit der Hand, die zitterte, als ob sie lahm wäre, beiseite strich.

»Stephen!«

Sie wollte sich ihm nähern, er streckte jedoch seine Hand aus, um sie zurückzuhalten.

»Nicht! Nicht doch, bitte! Nicht doch! Laß mich dich wieder am Bette sitzen sehen. Laß mich dich sehen, so gut und so vergebend. Laß mich dich sehen, wie ich dich bei meinem Hereintreten sah. Ich kann dich nie besser als so sehen. Niemals, niemals, niemals.«

Ihn befiel wieder ein heftiges Zittern und er sank dann in den Stuhl. Nach einiger Zeit ermannte er sich und, indem er den Ellbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand stützte, konnte er den Blick auf Rachael richten. Wie er sie durch den matten Lichtschimmer mit seinen feuchten Augen anblickte, sah sie aus, als schwebe ein Heiligenschein um ihr Haupt. Er hätte glauben mögen, das sei wirklich der Fall. Er glaubte es, als der Wind von außen die Fenster rüttelte, an der Tür unten rasselte und tobend und klagend um das Haus brauste.

»Wenn sie sich wieder erholt hat, Stephen, dann ist zu hoffen, daß sie dich wieder allein lassen und dir kein Leid mehr zufügen wird. Hoffen wir das wenigstens! Jetzt werde ich aber schweigen; denn ich will, daß du schläfst.«

Er schloß seine Augen, mehr aus Liebe zu ihr als um seinem müden Kopf Ruhe zu gönnen. Wie er jedoch dem Toben des Windes lauschte, hörte er nach und nach auf, ihn zu vernehmen. Das Dröhnen verwandelte sich in das Schnurren seines Webestuhles, oder selbst in die Stimmen, die er am Tage vernommen (die seine mit einbegriffen) die das wiederholten, was wirklich gesagt worden. Selbst dieses unvollkommene Bewußtsein verschwand endlich, und er träumte einen langen, verworrenen Traum.

Er meinte, daß er sich mit einer Person, die ihm schon seit langem teuer war – aber es war nicht Rachael, und das nahm ihn wunder selbst inmitten seines illusorischen Glücks –, in der Kirche befand, um getraut zu werden. Während die Trauung vollzogen wurde, und während er unter den Zeugen manche erkannte, die noch am Leben, und manche, von denen er wußte, daß sie schon tot waren, brach eine Finsternis herein, der ein schreckliches Licht folgte. Es ging aus von einer Zeile auf den Tafeln des Gesetzes, und die flammenden Worte erleuchteten das Gebäude. Diese Worte ertönten auch durch die Kirche, als ob die feurigen Buchstaben Stimmen besäßen. Hierauf veränderte sich die ganze Erscheinung ringsum, und nichts war von allem übrig geblieben, außer ihm und dem Geistlichen. Sie standen am hellen Tageslicht vor einer so ungeheuren Menge, daß er meinte, wenn sämtliche Bewohner dieser Welt in einen Raum hätten zusammengebracht werden können, so würden sie nicht zahlreicher erscheinen können. Sie verabscheuten ihn alle, und unter den Millionen, die ihn anstarrten, war nicht ein einziges freundliches oder mitleidvolles Auge für ihn. Er stand auf einem erhöhten Gerüste unter seinem eigenen Webestuhl und betrachtete die Gestalt, die der Webestuhl annahm. Er hörte die Leichenfeier ganz deutlich über sich abhalten und er wußte wohl, daß er sich da befinde, um hingerichtet zu werden. In einem Augenblick war das, worauf er gestanden hatte, unter ihm zusammengebrochen, und es war aus mit ihm.

Durch welches Wunder er zu seiner gewöhnlichen Lebensweise und zu den ihm bekannten Plätzen wieder zurückkehrte, das vermochte er nicht zu enträtseln. Er befand sich aber, der Himmel weiß wie, wieder an jenen Plätzen, aber mit dem Fluch beladen, weder in dieser noch in der andern Welt, durch alle undenkbaren Ewigkeiten hindurch, jemals Rachaels Gesicht wieder zu sehen oder ihre Stimme zu hören. Indem er unaufhörlich hin und her irrte, um ein unbekanntes Etwas aufzusuchen (er wußte bloß, daß er verdammt sei, es aufzusuchen), war er von einem namenlosen fürchterlichen Grauen, einer tödlichen Furcht vor einer gewissen Gestalt beherrscht, die alle Dinge annahmen. Was er immer betrachten mochte, verwandelte sich früher oder später in jene Gestalt. Sein jammervolles Dasein drehte sich einzig darum, zu verhindern, daß nicht jemand von den verschiedenen Leuten, die ihm begegneten, sie erkennen möchte. Vergebliche Mühe! Wenn er sie aus den Zimmern entfernte, wo sie sich befand, wenn er Kasten und Schränke verschloß, wo sie war, wenn er die Neugierigen von den Stellen entfernte, wo er sie verborgen wußte, und sie auf die Straße führte, so nahmen selbst die Schornsteine der Mühlwerke jene Gestalt an und rund um sie stand der Name gedruckt.

Der Wind blies abermals, der Regen schlug auf die Giebel der Häuser und die größeren Räume, die er durchstreift hatte, schrumpften zu den vier Wänden seines Zimmers zusammen. Mit der Ausnahme, daß das Feuer erloschen war, befand sich da alles wie vorher, als er seine Augen geschlossen hatte. Rachael schien auf dem Stuhl am Bette eingeschlummert zu sein. Sie saß in ihrem Schal eingehüllt vollkommen ruhig da. Der Tisch stand an derselben Stelle, dicht beim Bett, und darauf befand sich, mit seinen wirklichen Verhältnissen und in seinem wahren Äußern das, was er so oft geschaut.

Er meinte den Vorhang sich bewegen zu sehen. Er sah abermals hin und war jetzt gewiß, daß er sich bewege. Er nahm jetzt eine Hand wahr, die zum Vorschein kam und ein wenig herumtastete. Dann bewegte sich der Vorhang sichtbarer, das Weib im Bette schob ihn zurück und richtete sich empor. Mit ihren jammervollen Augen, die so graß und wild, so matt und weit offen waren, blickte sie im ganzen Zimmer umher, und streifte den Winkel, wo er auf einem Stuhle schlief. Ihr Blick kehrte wieder zu jenem Winkel und sie hielt die Hand vor die Augen, wie um sie zu beschatten, während sie nach dem Winkel sah. Sie schweiften abermals im Zimmer umher, bemerkten kaum Rachael und kehrten wieder zu jenem Winkel zurück. Er meinte, als sie diese wieder beschattete – nicht sowohl um auf ihn zu sehen, als um nach ihm zu sehen mit dem tierischen Instinkte, daß er da sei – daß keine einzige Spur von dem Weibe, das er vor achtzehn Jahren geheiratet hatte, in jenen wüsten Zügen oder in dem Geiste, der sich in ihnen kundgab, zurückgeblieben sei. Hätte er sie zu diesem Zustande nicht stufenweise heruntersinken gesehen, so würde er nie haben glauben mögen, daß sie die gleiche sei.

Während dieser ganzen Zeit war er bewegungs- und kraftlos und war nur imstande, sie zu bewachen.

Schläfrig hinbrütend oder mit ihrem trüben Hirn sich über nichts unterhaltend, saß sie eine kurze Weile und hielt die Hände an die Ohren. Alsbald jedoch begann sie wieder herumzustieren. Jetzt ruhten ihre Augen zum erstenmal auf dem Tisch, wo sich die Flaschen befanden. Flugs wandte sie ihre Augen mit herausforderndem Trotz, wie sie ihn vorige Nacht gehabt, zurück nach dem Winkel. Dann streckte sie sehr vorsichtig und sacht ihre schmierige Hand aus. Sie nahm einen Becher zu sich ins Bett und saß eine Weile nachdenkend da, welche von den beiden Flaschen sie wählen sollte. Endlich griff sie unsinnigerweise nach der Flasche, die schnellen und gewissen Tod in sich barg, und riß vor seinen Augen den Stöpsel mit den Zähnen heraus.

Traum oder Wirklichkeit, er war nicht der Stimme mächtig und besaß auch nicht Kraft genug, um sich zu bewegen. Wenn das Wirklichkeit ist und ihre bestimmte Zeit ist noch nicht da, wache, Rachael, wache!

Sie dachte auch daran. Sie blickte Rachael an und goß den Inhalt ganz sachte und höchst vorsichtig ein. Der Trank war an ihren Lippen. Einen Augenblick, und sie wäre rettungslos verloren gewesen, käme auch die ganze Welt mit all ihrer Macht herbei, um über sie zu wachen. In demselben Augenblicke fuhr Rachael mit einem unterdrückten Schrei empor. Die Kreatur rang, schlug sie und faßte sie bei den Haaren; Rachael hatte jedoch den Becher ihr entrissen.

Stephen rief von seinem Stuhle aus: »Rachael, wache oder träume ich in dieser schrecklichen Nacht?«

»Geht alles gut, Stephen. Ich selbst war eingeschlafen! Es ist gleich drei. St! Ich höre die Glocke.«

Der Wind brachte den Schall der Kirchenuhr ans Fenster. Sie horchten auf, und es schlug drei. Stephen blickte sie an, sah wie bleich sie war, bemerkte die Unordnung ihres Haars und die roten Fingerspuren auf ihrer Stirn und war nun gewiß, daß seine Gesicht- und Gehörsinne wach gewesen waren. Sie hielt noch immer den Becher in der Hand.

»Ich dachte, es müsse nah an drei sein«, sagte sie, indem sie den Becher in das Becken ruhig ausleerte und das Linnen wie früher wieder eintauchte. »Ich bin froh, daß ich geblieben bin. Wenn ich das aufgelegt habe, ist alles getan. Da – jetzt ist sie wieder ruhig. Die wenigen Tropfen im Becken will ich ausschütten, das ist zu schlechtes Zeug, um es so herumstehen zu lassen, wenn auch noch so wenig davon.« Während sie das sagte, ließ sie das Becken in die Asche beim Feuer abtropfen und zerbrach die Flasche am Herde.

Sie hatte dann nichts mehr zu tun, als sich in den Schal zu hüllen, ehe sie in Wind und Regen hinausging.

»Du wirst mich doch um diese Stunde mit dir gehen lassen, Rachael?«

»Nein, Stephen, es dauert nur eine Minute, und ich bin zu Hause.«

»Du fürchtest dich nicht«, sagte er mit leiser Stimme, als sie auf die Türe zugingen, »mich mit ihr allein zu lassen!«

Stephen riß sich vom Stuhl los: »Bin ich wach oder träume ich, Rachael, in dieser entsetzlichen Nacht?«

Wie sie ihn nun ansah und »Stephen« ausrief, sank er auf den schlichten, ärmlichen Treppen vor ihr auf die Knie nieder und drückte einen Zipfel ihres Schals an die Lippen.

»Du bist ein Engel. Gott mit dir! Gott mir dir!«

»Ich bin, wie ich dir gesagt habe, Stephen, deine arme Freundin. Engel sind nicht wie ich. Zwischen ihnen und einer sündigen Arbeiterin besteht ein tiefer Abgrund. Mein Schwesterlein ist unter ihnen, aber sie ist ganz gewandelt.«

Sie erhob ihre Augen für einen Moment, als sie diese Worte aussprach: dann senkte sie sie wieder mit ihrer ganzen Milde und Sanftheit auf sein Gesicht.

»Du hast mich vom Schlechten zum Guten geleitet. Du erregst in mir den demütig frommen Wunsch, dir mehr gleich zu werden und die Furcht, dich zu verlieren, wenn dieses Leben vorüber und die ganze Komödie dahin ist. Du bist ein Engel; es dürfte wohl sein, daß du meine Seele bei Lebzeiten gerettet hast.«

Sie blickte ihn an, wie er ihren Schal noch in der Hand hielt und zu ihren Füßen kniete. Der Verweis erstarb auf ihren Lippen, als sie das Zucken seiner Gesichtszüge wahrnahm.

»Ich kam verzweiflungsvoll nach Hause. Ich kam ohne Hoffnung nach Hause, und der Gedanke machte mich wie verrückt, daß, wenn ich eine Klage laut werden ließe, sie mich für eine unverständige »Hand« halten würden. Ich sagte dir, daß ich einen Schrecken gehabt hatte. Es war die Giftflasche auf dem Tisch. Ich habe nie einem lebendigen Geschöpf was zu Leide getan – da ich aber so rasch darauf stieß, dachte ich: Wer weiß, was ich mir selbst oder ihr oder uns beiden angetan hätte!«

Mit schreckensbleichem Gesicht legte sie ihm die Hände auf den Mund, um ihn davon abzuhalten, noch mehr zu sagen. Er nahm ihre Hände in seine freien Hände und hielt sie fest, indem er sich fortwährend an ihren Schal klammerte und hastig ausrief:

»Aber ich sah dich, Rachael, beim Bett sitzen. Ich habe dich während dieser ganzen Nacht gesehen. In meinem unruhigen Schlaf wußte ich auch noch, daß du da bist. Ich werde dich immer da sehen. Ich werde sie niemals sehen oder ihrer gedenken, ohne daß du an ihrer Seite sein wirst. Ich werde niemals etwas sehen, das mich zornig machen kann oder daran denken, ohne daß du, die du um so vieles besser bist als ich, danebenstehen wirst. Und nun will ich versuchen, der Zeit entgegenzusehen, und will auch versuchen, derzeit zu vertrauen, wo du und ich endlich weit dahin gehen werden, jenseits des tiefen Abgrunds, in das Land, wo dein Schwesterlein weilt.«

Er küßte abermals den Zipfel ihres Schals und ließ sie gehen. Sie wünschte ihm mit gebrochener Stimme gute Nacht und ging hinaus auf die Straße. Der Wind blies von der Seite, wo der Tag bald anbrechen sollte, und blies noch immer heftig. Er hatte den Himmel von Wolken freigefegt. Der Regen hatte sich erschöpft oder zog nach andern Orten, und die Sterne schienen hell. Er stand mit entblößtem Haupte auf der Straße und sah ihr nach, wie sie rasch verschwand. Wie die schimmernden Sterne sich verhielten zum trüben Licht im Fenster, so verhielt sich Rachael in der rauhen Phantasie dieses Mannes zu den gewöhnlichen Erfahrungen seines Lebens.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Die Zeit bewegte sich in Coketown wie dessen Maschinen: so viel Stoff verarbeitet, so viel Brennmaterial verbraucht, so viele Kräfte abgenützt und so viel Geld gemacht. Aber weniger unerbittlich als Eisen, Stahl und Messing machte sie ihre veränderlichen Jahreszeiten selbst in dieser Wildnis von Rauch und Ziegelsteinen geltend und brachte die einzige Abwechslung hervor, die jemals in der schrecklichen Einförmigkeit dieses Ortes stattgefunden.

»Luise«, sagte Mr. Gradgrind, »ist beinahe zur Jungfrau gereift.«

Die Zeit mit ihrer unzählbaren Pferdekraft arbeitete fort, unbekümmert darum, was jemand sagen mochte, und stellte den jungen Thomas jetzt um einen Fuß höher hin als damals, wo sein Vater zum letztenmal besondere Notiz von ihm genommen.

»Thomas«, sagte Mr. Gradgrind, »ist beinahe zum jungen Mann gereift.«

Die Zeit brachte unterdessen Thomas in dem Mühlwerke vorwärts, während sein Vater noch darüber nachdachte; und da stand er nun in einem langen Rock mit Schößen und in einem steifen Hemdkragen.

»Wahrhaftig«, sagte Mr. Gradgrind, »die Zeit ist nun da, wo Thomas zu Mr. Bounderby gehen sollte.«

Die Zeit hatte Thomas fest in ihrer Gewalt und versetzte ihn in Mr. Bounderbys Bank; sie machte ihn zu Mr. Bounderbys Hausgenossen, machte den Ankauf des ersten Rasiermessers für ihn erforderlich und übte ihn fleißig in seinen Berechnungen in bezug auf Nummer eins. Derselbe große Fabrikant, fortwährend mit einer unermeßlichen Mannigfaltigkeit von Arbeit in jedem Entwicklungszustande beschäftigt, brachte auch Cili in seinem Mühlwerke vorwärts und arbeitete sie wirklich zu einem ganz hübschen Artikel heraus.

»Ich befürchte, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind, »daß dein ferneres Verbleiben in der Schule keinen Zweck mehr hat.«

»Ich befürchte das ebenfalls, Sir«, antwortete Cili mit einem Knix.

»Ich kann es dir nicht verbergen, Jupe«, sagte Mr. Gradgrind mit Stirnrunzeln, »daß ich mich in dem Resultat deiner Probezeit hier getäuscht sehe, sehr getäuscht sehe. Du hast unter Mr. und Mrs. M’Choakumchild bei weitem nicht den Grad von exaktem Wissen erlangt, den ich erwartete. Du bist äußerst unvollkommen in deinen Tatsachen. Deine Bekanntschaft mit Zahlen ist sehr beschränkt, du bist arg zurückgeblieben und weit vom Ziele.«

»Es tut mir leid, Sir«, antwortete sie, »aber ich weiß, es ist vollkommen richtig. Und doch habe ich mir große Mühe gegeben, Sir.«

»Ja«, sagte Mr. Gradgrind, »ich glaube, daß du dir große Mühe gegeben; ich habe dich beobachtet und finde in dieser Hinsicht nichts zu tadeln.«

»Ich danke, Sir. Manchmal dachte ich«, Cili sprach hier äußerst furchtsam, »daß ich mich vielleicht bemühte, zu viel zu lernen und daß, wenn ich um Erlaubnis gebeten hätte, ein bißchen weniger zu versuchen – dann dürfte ich wohl –«

»Nein, Jupe, nein«, sagte Mr. Gradgrind, das Haupt in seiner vollkommensten und höchst ausgezeichnet praktischen Weise schüttelnd. »Nein, den Weg, den du verfolgtest, hast du nach dem System verfolgt – nach dem System – und dazu läßt sich überhaupt weiter nichts bemerken. Ich kann bloß der Vermutung Raum geben, daß die Verhältnisse deines früheren Lebens für die Entwicklung deines Verstandes zu ungünstig waren, und daß wir zu spät angefangen haben. Jedenfalls bin ich in meinen Erwartungen getäuscht worden.«

»Ich wollte, ich wäre imstande gewesen, meine Dankbarkeit, mein Herr, besser zu bezeugen! Ihnen zu danken für Ihre Güte gegen ein armes, verlassenes Mädchen, das auf solcherlei keinen Anspruch hatte und für Ihren Schutz, den Sie mir gewährten.«

»Nun, weine bloß nicht«, sagte Mr. Gradgrind, »weine nicht. Ich beklage mich nicht über dich. Du bist ein liebevolles, ernstes, gutes Mädchen und – wir müssen uns damit zufrieden geben.«

»Danke, Sir, danke Ihnen sehr«, sagte Cili mit einem dankbaren Knix.

»Du bist für Mrs. Gradgrind von Nutzen, und im allgemeinen bist du auch der Familie dienlich gewesen. So sagte mir Luise, und ich habe es in der Tat selbst gemerkt. Ich hoffe daher«, sagte Mr. Gradgrind, »daß du dich in diesem Verhältnis wohl befindest.«

»Mir würde nichts zu wünschen übrig bleiben, Sir, wenn –« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Mr. Gradgrind, »du kommst immer wieder auf deinen Vater zurück. Ich hörte von Miß Luise, daß du jene Flasche noch immer aufbewahrst. Gut! Wenn deine Erziehung, in der Wissenschaft zu exakten Resultaten zu gelangen, erfolgreicher gewesen wäre, so würdest du in diesem Punkte vernünftiger gewesen sein. Ich will nichts mehr darüber sagen.«

Er hatte in der Tat Cili zu lieb, um sie geringzuschätzen. Im übrigen aber hatte er von ihren rechnerischen Fähigkeiten eine so geringe Meinung, daß er zu einem solchen Urteil kommen mußte. Auf die eine oder andere Weise faßte er die Idee, daß in diesem Mädchen ein Etwas vorhanden sei, das kaum durch tabellarische Formeln errechnet werden könnte. Ihre Definitionsfähigkeit konnte mit einer niedrigen Zahl, ihre mathematische Begabung mit Null bezeichnet werden. Trotzdem war er nicht gewiß, ob er imstande gewesen wäre, sie vollständig zu zensieren, wenn man an ihn die Forderung gestellt hätte, sie in einem Parlamentsberichte genau auseinanderzusetzen.

Der Prozeß der Zeit geht bei manchen Stufen der Produktion in der menschlichen Fabrik äußerst rasch vor sich. Der kleine Thomas und Cili, die sich eben auf dieser Stufe ihrer Ausbildung befanden, erlebten diese Veränderungen in einem oder zwei Jahren – während Mr. Gradgrind selbst in seiner Laufbahn stehen blieb und keine Veränderung erlitt.

Mit Ausnahme von einer einzigen, die nicht zu seinem notwendigen Prozesse in dem Mühlwerk gehörte.

Die Zeit drängte ihn in eine geräuschvolle und ziemlich schmutzige Maschine, in einen Winkel, und machte ihn zum Parlamentsmitglied für Coketown – zu einem der geachteten Mitglieder für Maß und Gewicht – zu einem der Repräsentanten für die Multiplikationstafel – zu einem der für alles übrige taub ehrenwerten Gentlemen, blind ehrenwerten Gentlemen, krumm ehrenwerten Gentlemen, tot ehrenwerten Gentlemen. Wozu lebten wir denn sonst in einem christlichen Lande, achtzehnhundert und so und so viel Jahre nach unserem Heiland!

Während dieser ganzen Zeit entwickelte sich Luise so still und verschlossen und hatte sich sehr der Beobachtung der funkensprühenden Asche ergeben, wie sie in der Dämmerung in den Kaminrost hinunterfiel und erlosch, daß sie von der Zeit, wo ihr Vater gesagt hatte, sie reife beinahe zur Jungfrau heran – was erst wie gestern schien – kaum seine Aufmerksamkeit wieder erregt hatte. Nun sah er sie auf einmal wirklich als vollendete Jungfrau vor sich.

»Eine ganze Jungfrau!« sagte Mr. Gradgrind nachsinnend. »Du lieber Himmel!«

Bald nach dieser Entdeckung ward er mehrere Tage hindurch nachdenklicher als gewöhnlich und schien von einem Gegenstande vollständig eingenommen zu sein. Eines Abends, als er eben im Begriffe war auszugehen und Luise vor seinem Weggehen gute Nacht sagen wollte – da er erst spät nach Hause kommen wollte und sie ihn nicht bis zum nächsten Morgen sehen würde –, hielt er sie in den Armen, beobachtete sie in seiner wohlwollendsten Weise und sagte:

»Meine liebe Luise, du bist eine Jungfrau.«

Sie antwortete mit dem alten, flüchtigen und forschenden Blick von jenem Abend, wo sie beim Zirkus getroffen ward: dann schlug sie die Augen nieder. »Ja, mein Vater.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Gradgrind, »ich muß mit dir allein und ernsthaft sprechen. Morgen nach dem Frühstück komm zu mir auf mein Zimmer. Willst du?«

»Ja, mein Vater.«

»Deine Hände sind ja so kalt, Luise. Bist du unwohl?« »Ganz wohl, mein Vater.«

»Und frohen Muts?«

Sie blickte ihn abermals an und lachte in ihrer eigentümlichen Weise. »Ich bin so frohen Mutes, mein Vater, wie ich es gewöhnlich bin und wie ich es gewöhnlich gewesen bin.«

»Das ist recht«, sagte Mr. Gradgrind, damit küßte er sie und ging fort.

Luise kehrte zu dem heiteren Gemach, das wie eine Friseurstube aussah, zurück und sann, indem sie den Ellbogen auf die Hand lehnte, den versprühenden Funken nach, die sich so rasch in Asche verwandelten.

»Bist du hier, Lu?« fragte ihr Bruder, indem er zur Tür hereinguckte. Er war nun ganz ein junger Herr nach der Mode, aber nicht ein ganz einnehmender.

»Lieber Tom«, antwortete sie, sich erhebend und ihn umarmend, »wie lange ist es her, seit du mich nicht gesehen hast!«

»Nun, ich bin in den Abenden anderweitig beschäftigt gewesen, Lu, und während des Tages werde ich von dem alten Bounderby ziemlich streng gehalten. Aber ich ziehe ihn mit dir auf, wenn er mir zu arg kommt, und so bewahren wir ein gutes Einvernehmen. Hör mal! Hat Vater dir heute oder gestern etwas Besonderes mitgeteilt, Lu?«

»Nein, Tom. Aber er sagte mir heute abend, daß er es morgen tun wolle.«

»Ah, das meine ich«, sagte Tom, und mit einem bedeutungsvollen Ausdruck: »Weißt du, wo er heute abend ist?«

»Nein.«

»Dann will ichs dir sagen. Er ist beim alten Bounderby. Sie plaudern regelmäßig zusammen, oben in der Bank. Warum in der Bank, fragst du? Nun, ich will dir auch das sagen. Um Mrs. Sparsits Ohren so fern wie möglich zu halten, glaube ich.«

Die Hand auf die Schulter ihres Bruders legend, stand Luise noch immer da und betrachtete das Feuer. Ihr Bruder sah ihr mit mehr Teilnahme als gewöhnlich ins Gesicht. Er legte seinen Arm um sie und zog sie freundlich an sich.

»Du hast mich recht lieb, Lu, nicht wahr?«

»Das ist wirklich der Fall, obgleich du eine so geraume Zeit dahingehen lassen konntest, ohne mich zu besuchen.«

»Nun gut, meine liebe Schwester«, sagte Tom, »wenn du so sprichst, so kommst du meinen Gedanken nahe. Wir könnten um so viel öfter beisammen sein – nicht wahr? Beinahe immer beisammen – nicht wahr? Es würde für mich von großem Nutzen sein, wenn du dich, ich weiß recht wohl zu was, entschließen würdest, Lu. Das wär was Herrliches für mich. Das wäre ganz prachtvoll.«

Ihre Nachdenklichkeit vereitelte all sein schlaues Forschen. Er konnte aus ihrem Gesicht nichts herauslesen. Er umarmte sie und küßte sie auf die Wangen. Sie erwiderte den Kuß, blickte aber immer ins Feuer.

»Hör mal, Lu! Ich dachte, es sei gut, hierher zu kommen und dir eben einen Wink zu geben von dem, was vorgeht. Ich nahm allerdings an, daß du es wahrscheinlich erraten würdest, selbst wenn du es nicht weißt. Ich kann nicht bleiben, weil ich heute abend mit einigen Kameraden zusammenkomme. Du wirst doch nicht vergessen, wie lieb du mich hast?«

»Nein, lieber Tom, ich werde es nicht vergessen.«

»Du bist ein famoses Mädchen«, sagte Tom.

Sie wünschte ihm herzlich gute Nacht und begleitete ihn bis zur Tür, von wo man die Lichter von Coketown sehen konnte, was der Entfernung einen dunklen Anstrich gab. Sie stand da, blickte diese unverwandt an und horchte auf seine davoneilenden Schritte. Sie waren rasch, als wären sie froh, sich von Stone Lodge zu entfernen – sie aber stand noch immer da, als er bereits fort und alles ruhig war.

Es schien als ob sie – zuerst aus dem Feuer an ihrem eigenen Herd und dann aus dem dichten, feurigen Nebel von draußen – herauszugrübeln versuchte, was für ein Gewebe der alte Zeitengott, dieser größte und von allen am längsten etablierte Weber, aus den Fäden weben würde, die er bereits für ein Frauengemüt gesponnen. Aber seine Faktorei ist ein geheimnisvoller Ort, sein Arbeiten geräuschlos und seine »Hände« sind stumm.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Obgleich Mr. Gradgrind sich nicht wie Blaubart benahm, so war sein Zimmer doch ein vollständig blaues Gemach. Das kam von der großen Menge blauer Bücher, die dort aufgereiht waren. Was sie nur immer beweisen konnten – und sie beweisen ja alles, was man bewiesen haben will –, das bewiesen sie allda in einer Armee, die durch die Ankunft von neuen Rekruten fortwährend Verstärkung erhielt. In diesem Hexenmeisterraum wurden die kompliziertesten sozialen Fragen aufgeworfen, in exakte Summen ausgerechnet und endlich ins reine gebracht – wofern die, die es anging, nur zu deren Verständnis gebracht werden konnten. Wie ein Astronom, der in einer Sternwarte ohne Fenster, das Sternensystem einzig und allein durch Papier, Feder und Tinte regeln würde, so brauchte Mr. Gradgrind in seinem Observatorium (und es gibt gar viele, die diesem gleichen) auf die fruchtbaren Myriaden von menschlichen Wesen nicht erst einen Blick der Beobachtung zu werfen, sondern war imstande, ihre sämtlichen Schicksale auf einer Schiefertafel anzugeben und all ihre Tränen mit einem schmutzigen Stückchen Schwamm abzuwischen.

In diesem Observatorium nun – ein starres Zimmer mit einer grauenhaft-statistischen Uhr, die jede Sekunde mit einem Schlage verkündete, der wie das Pochen auf einem Sargdeckel klang – erschien Luise an dem bestimmten Morgen. Das Fenster sah nach Coketown. Als sie sich zu ihrem Vater an den Tisch setzte, fiel ihr Blick auf die hohen Rauchfänge und die langen Rauchschlangen, die in der trüben Entfernung düster zum Vorschein kamen.

»Meine liebe Luise«, sagte ihr Vater. »Ich bereitete dich gestern abend darauf vor, mir in dem Gespräche, das wir jetzt miteinander haben werden, ernste Aufmerksamkeit zu schenken. Du bist so wohl erzogen worden und du machst, was ich mit Vergnügen gestehe, der Erziehung, die dir zuteil geworden, so viel Ehre, daß ich in deinen Verstand viel Vertrauen setze. Du bist nicht reizbarer oder romantischer Natur. Du bist gewöhnt, alles von dem kräftigen und leidenschaftslosen Standpunkt der Vernunft und der Berechnung zu betrachten. Ich weiß, du wirst auch nur von diesem Standpunkt den Gegenstand betrachten, den ich dir mitteilen will.«

Er wartete, als hätte es ihn gefreut, wenn sie etwas sagte. Aber sie ließ sich kein Wort verlauten.

»Luise, meine Teure, du bist der Gegenstand eines Heiratsantrages, der mir gemacht worden.«

Er wartete abermals, und abermals antwortete sie mit keiner Silbe. Das überraschte ihn so sehr, daß er sich bewogen fühlte, mit sanfter Stimme zu wiederholen:

»Ein Heiratsantrag, mein teures Kind.«

Darauf antwortete sie ohne die geringste sichtbare Erregung:

»Ich höre, mein Vater. Seien Sie versichert, ich bin aufmerksam«.

»Nun gut«, sagte Mr. Gradgrind, nachdem er einen Augenblick ganz verdutzt dagestanden, »du bist selbst leidenschaftsloser als ich erwartete. Oder bist du vielleicht auf die Mitteilung, die ich dir machen will, nicht unvorbereitet?«

»Ich kann nichts darüber sagen, bis ich sie gehört habe. Vorbereitet oder unvorbereitet, ich will sie nun einmal ganz von Ihnen vernehmen. Ich wünsche, daß Sie mir Ihre Botschaft auseinandersetzen, mein Vater.«

Es klingt sonderbar, aber Mr. Gradgrind war in diesem Augenblick nicht in solcher Fassung wie seine Tochter. Er nahm ein Papiermesser in die Hand, drehte es herum, legte es nieder, hob es wieder auf und selbst dann mußte er, in der Betrachtung wie er fortfahren sollte, die Klinge beschauen.

»Was du da sagst, meine liebe Luise, ist ganz vernünftig. Ich habe es nun übernommen, dich davon in Kenntnis zu setzen, daß Mr. Bounderby mich davon benachrichtigte, daß er deine Fortschritte seit langem mit Vergnügen und besonderer Teilnahme beobachtet hat. Daher hat er schon längst die Hoffnung gehegt, daß die Zeit endlich heranrücken dürfte, wo er dir seine Hand anbieten könnte. Diese Zeit, der er so lange und wahrlich mit so viel Beharrlichkeit entgegengesehen, ist nun gekommen. Mr. Bounderby hat mir den Heiratsantrag mitgeteilt und hat mich dringend gebeten, ihn zu deinen Ohren zu bringen und seine Hoffnung auszudrücken, daß du ihn in freundliche Erwägung ziehen werdest.«

Stillschweigen lagerte sich zwischen sie. Die grauenhaft-statistische Wanduhr klang sehr hohl. Der ferne Rauch ward sehr schwarz und dicht.

»Mein Vater«, sagte Luise, »glauben Sie, daß ich Mr. Bounderby liebe?«

Mr. Gradgrind war durch diese unerwartete Frage ganz verblüfft.

»Aber, mein Kind«, entgegnete er. »Ich – kann – es wahrlich nicht auf mich nehmen, das zu behaupten.«

»Mein Vater«, fuhr Luise ganz in der früheren Stimme fort, »fordern Sie von mir, daß ich Mr. Bounderby liebe?«

»Nein, meine liebe Luise, nein. Ich fordere nichts.«

»Mein Vater«, beharrte Luise, »stellt Mr. Bounderby die Forderung an mich, daß ich ihn liebe?«

»Wirklich, meine Teure«, sagte Mr. Gradgrind, »deine Frage ist schwer zu beantworten.«

»Schwer zu beantworten. Ja oder nein, mein Vater?«

»Gewiß, mein Kind. Weil«, hier gab es etwas zu demonstrieren, was ihn wieder ins rechte Gleise brachte, »weil die Antwort, Luise, so wesentlich von dem Sinne abhängt, in dem wir einen Ausdruck gebrauchen. Nun ist Mr. Bounderby nicht so ungerecht gegen dich und auch nicht gegen sich selbst, daß er auf etwas Schwärmerisches, Phantastisches oder (ich bediene mich synonymer Ausdrücke) etwas Sentimentales Anspruch machte. Mr. Bounderby müßte dich wohl vergeblich unter seinen Augen haben aufwachsen sehen, wenn er geradezu vergessen könnte, was er deinem gesunden Menschenverstand, geschweige gar dem seinen, schuldig ist, und an dich in ähnlicher Absicht sich wenden wollte. Deshalb dürfte selbst der Ausdruck – ich mache dich bloß aufmerksam darauf, mein Kind – ein wenig übel angewandt sein.«

»Was würden Sie mir raten, Vater, an Stelle dieses Ausdrucks zu gebrauchen?«

»Nun, meine liebe Luise«, antwortete Mr. Gradgrind, diesmal mit voller Fassung. »Ich würde, da du mich einmal darum befragst, dir raten, diese Frage so zu betrachten, wie du gewohnt bist, es bei jeder andern Frage zu tun, sie nämlich als ein greifbares Faktum zu betrachten. Die Unwissenden und Leichtsinnigen mögen bei solchen Gegenständen von unnützen Gefühlsduseleien geplagt werden, und auch von ähnlichen Dingen, die gar keine Existenz – vom richtigen Standpunkte aus betrachtet, wirklich gar keine Existenz haben. Daß du die Sache aber besser verstehst, ist nicht einmal ein Kompliment für dich. Nun, was sind denn die Tatsachen in diesem Falle?

Du bist, wir wollen in runden Zahlen sprechen, zwanzig Jahre alt, Mr. Bounderby ist, wir wollen in runden Zahlen sprechen, fünfzig Jahre alt. Es waltet in bezug auf euer Alter einige Ungleichheit vor – aber in euren sonstigen Lebensverhältnissen jedoch ist gar keine vorhanden. Im Gegenteil, in alledem herrscht eine große Gleichförmigkeit. Dann entsteht die Frage: ist eine solche einzige Ungleichheit genügend, um sich als Schranke gegen diese Heirat zu erheben? Bei der Erwägung dieser Frage ist es nicht unwichtig, die Statistik der Heiraten in Berechnung zu ziehen, insofern sie uns in England und Wales bekannt geworden sind. Ich finde, wenn ich die Zahlen zu Rate ziehe, daß eine große Anzahl dieser Heiraten zwischen Parteien von ungleichem Alter geschlossen werden, und daß der ältere Teil bei diesen Parteien, in mehr als drei Viertel ähnlicher Fälle, der Bräutigam ist. Es verdient als merkwürdiger Beweis der Überlegenheit dieses Gesetzes besonders hervorgehoben zu werden, daß unter den Eingebornen in den Britischen Besitzungen beider Indien, wie auch in einem beträchtlichen Teil von China und unter den Kalmücken der Tartarei, nach den besten Berechnungen, die von Reisenden angestellt worden, die gleichen Resultate sich ergeben. Die Ungleichheit, deren ich Erwähnung getan, hört daher beinahe auf, Ungleichheit zu sein und (in der Wirklichkeit) verschwindet sie auch.«

»Was raten Sie mir«, fragte Luise, deren gefaßtes, zurückhaltendes Wesen nicht im geringsten durch diese erhebenden Resultate ergriffen wurde, »an Stelle des von mir verwandten Ausdrucks zu gebrauchen, an Stelle des übel angewandten Ausdrucks?«

»Luise«, entgegnete ihr Vater, »es scheint mir, daß nichts einfacher sein kann. Wenn du dich streng auf die Tatsache beschränkst, so lautet die Frage der Tatsache, die du dir zu stellen hast: ›Macht Mr. Bounderby mir einen Heiratsantrag?‹ Ja, er tut es. Die einzige Frage, die dann noch übrig bleibt ist: ›Soll ich ihn heiraten?‹ Ich glaube, nichts kann einfacher sein als das.«

»Soll ich ihn heiraten?« wiederholte Luise mit tiefem Nachsinnen.

»Ganz richtig. Es erfüllt mich, als deinen Vater, meine gute Luise, mit Befriedigung, wahrzunehmen, daß du bei der Erwägung dieser Frage nicht auf vorhergefaßte Meinungen oder Gewohnheiten zurückkommst, wie sie bei vielen jungen Frauenzimmern gefunden werden.«

»Nein, mein Vater«, entgegnete sie, »das tue ich nicht.«

»Ich überlasse nun die Sache deinem eigenen Urteil«, sagte Mr. Gradgrind, »den Fall habe ich einmal begrifflich umrissen, wie dergleichen Fälle unter praktischen Leuten gewöhnlich begrifflich umrissen werden. Ich habe ihn statuiert, wie der ähnliche Fall zwischen mir und deiner Mutter zu seiner Zeit statuiert worden. Das übrige fällt deiner Entscheidung anheim, meine gute Luise.«

Sie hatte von Anfang, den Blick starr auf ihn geheftet, dagesessen. Als er sich nun jetzt auf seinem Sitz zurücklehnte und die Augen seinerseits auf sie richtete, hätte er vielleicht einen schwankenden Moment bei ihr wahrnehmen können. Denn es trieb sie gewaltsam, sich an seine Brust zu werfen und die verschlossenen Geheimnisse ihres Herzens vor ihm auszuschütten. Um indessen dafür ein Auge zu haben, hätte er mit einem Satze die künstlichen Schranken überspringen müssen, die er seit Jahren zwischen sich und den subtilen Wesenheiten des Menschentums aufgerichtet hatte. Die Unwägbarkeiten aber werden stets der äußersten Gewandtheit der Algebra entwischen, selbst so lange, bis der Schall der letzten Trompete auch die Algebra in den Wind verwehen wird. Die Schranken waren für einen solchen Sprung zu viele und zu hohe. Er hatte kein Auge dafür. Er scheuchte sie mit seinem hartnäckigen, utilitarischen Tatsachengesicht wieder zurück. – Der Augenblick schoß in die grundlose Tiefe der Vergangenheit hinunter, um sich mit all den verlorenen guten Gelegenheiten zu mischen, die dort schon ertrunken waren.

Sie wandte ihre Augen von ihm ab und blickte so lange schweigend nach der Stadt hin, daß er endlich ausrief: »Willst du dir denn bei den Schornsteinen der Gebäude von Coketown Rat holen, Luise?«

»Ich sehe dort nicht«, als öden, einförmigen Rauch, dennoch kommt, wenn die Nacht herniedersinkt, Feuer zum Vorschein«, antwortete sie, sich rasch umdrehend.

»Freilich, das ist mir wohl bekannt, Luise. Ich sehe aber die Nutzanwendung deiner Bemerkung nicht ein.«

Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er sah es wirklich nicht ein.

Sie ging darüber mit einer leichten Handbewegung hinweg und sagte, indem sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn konzentrierte: »Mein Vater, ich habe oft daran gedacht, daß das Leben so kurz ist.«

Das gehörte so sehr in seinen Bereich, daß er einfiel:

»Ohne Zweifel ist es kurz, mein Kind, dennoch ist es bewiesen, daß die durchschnittliche Dauer des menschlichen Lebens in den letzten Jahren zugenommen hat. Die Berechnungen verschiedener Lebensversicherungsanstalten und Leibrenteninstitute haben mit anderen untrüglichen Berechnungen diese Tatsache bestätigt.«

»Ich spreche von meinem eigenen Leben, mein Vater.«

»O, wirklich?« rief Mr. Gradgrind. »Aber ich brauche doch nicht erst hervorzuheben, daß es denselben Gesetzen unterworfen ist, die das Menschenleben in Summa regieren.«

»Solange es währt, möchte ich das wenige vollbringen, wozu ich imstande und wofür ich geeignet bin. Was ist daran gelegen!«

Mr. Gradgrind war über die Bedeutung der letzten vier Worte in ziemlicher Verlegenheit und rief: »Wie, gelegen? Was, gelegen, mein Kind?«

»Mr. Bounderby«, fuhr sie in gesetzter, gerader Weise fort, »macht mir einen Heiratsantrag. Die Frage, die ich mir dabei zu stellen habe, ist die: ›Soll ich ihn heiraten?‹ Es ist doch so, Vater, nicht wahr? Sie sagten mir so, mein Vater? Nicht wahr?«

»Gewiß, mein Kind.«

»Also. Da Mr. Bounderby mich in dieser Weise nehmen mag, so bin ich bereit, auf sein Anerbieten einzugehen. Sagen Sie ihm, Vater, sobald es Ihnen gefällig ist, daß dies meine Anwort war. Wiederholen Sie dieselbe Wort für Wort, wenn Sie können. Ich wünsche nämlich, daß er genau weiß, was ich gesagt habe.«

»Es ist ganz recht, mein Kind«, antwortete ihr Vater beifällig, »pünktlich zu sein. Ich werde dein gerechtes Begehren erfüllen. Hast du noch einen Wunsch hinsichtlich der Zeit deiner Vermählung, mein Kind?«

»Keinen, mein Vater. Was ist daran gelegen!«

Mr. Gradgrind hatte seinen Stuhl näher zu ihr gerückt und ihre Hand gefaßt. Die Wiederholung dieser Worte schien ihm denn doch wie ein Mißklang an seine Ohren zu dringen. Er machte eine Pause, um sie zu betrachten und sagte, sie weiter bei den Händen haltend:

»Luise, ich hielt es nicht für wesentlich notwendig, an dich eine gewisse Frage zu richten, weil die Möglichkeit, die mit damit verbunden ist, zu weit hergeholt ist. Aber vielleicht sollte ich es dennoch tun. Du hast doch niemals insgeheim einen andern Antrag empfangen?«

»Mein Vater«, erwiderte sie beinahe zornig, »welch ein Antrag konnte mir denn gemacht werden? Wen habe ich gesehen? Wo bin ich gewesen? Was sind die Erfahrungen meines Herzens?«

»Meine gute Luise«, entgegnete ihr Vater ermutigt und zufriedengestellt, »du weisest mich ganz richtig zurecht. Ich wollte mich bloß meiner Pflicht entledigen.«

»Was weiß ich denn, Vater, von Geschmack und Neigung, von Sehnsucht und Herzensneigung? von all dem Teil meines Wesens, in dem dergleichen geringfügige Dinge genährt werden konnten? Welche Abschweifung hatte ich von zu demonstrierenden Problemen und greifbaren Realitäten?«

Indem sie dies sagte, schloß sie unbewußt die Hand, wie um einen festen Körper und öffnete sie dann langsam, als ob sie Staub und Asche losließe.

»Mein Kind«, stimmte ihr ausgezeichnet praktischer Vater bei, »vollkommen wahr, vollkommen wahr.«

»Nun, mein Vater«, fuhr sie fort, »was ist das für eine sonderbare Frage? Der Vorzug, den sich Kinder untereinander zu geben pflegen und von dem ich selbst gehört habe, hat in meiner Brust nie seinen unschuldigen Sitz aufgeschlagen. Sie sind so vorsichtig mit mir gewesen, daß ich nie das Herz eines Kindes besaß. Sie haben mich so wohl erzogen, daß ich niemals den Traum eines Kindes geträumt. Sie sind, mein Vater, von meiner Wiege bis zur gegenwärtigen Stunde so weise mit mir verfahren, daß ich niemals einen kindischen Gauben oder eine kindische Furcht empfand.«

Mr. Gradgrind war von seinem Erfolge und dem ihm also ausgestellten Zeugnisse ganz gerührt. »Meine gute Luise«, sagte er, »du vergiltst mir reichlich meine Sorgfalt. Küsse mich, meine geliebte Tochter!«

Demzufolge küßte ihn seine Tochter. Dann sagte er, indem er sie im Arm hielt:

»Ich kann dir die Versicherung geben, mein Lieblingskind, daß mich der wohlweisliche Entschluß, den du gefaßt hast, glücklich macht. Mr. Bounderby ist ein höchst merkwürdiger Mensch, und was man auch immer von einer Ungleichheit sagen mag, – wenn es überhaupt eine ist – die zwischen euch obwalten dürfte, das erhält durch die Bildung deines Geistes mehr als ein bloßes Gegengewicht. Es war immer mein Streben, dich so zu erziehen, daß du selbst in früher Jugend schon jedes Alter (wenn ich mich so ausdrücken darf) haben könntest. Gib mir noch einen Kuß, Luise. Nun laß uns zu deiner Mutter gehen.«

Demzufolge gingen sie hinunter ins Empfangzimmer, wo die geschätzte Dame mit dem einwandfrei nüchternen Menschenverstand wie gewöhnlich halb liegend dasaß, während Cili bei ihr mit einer Arbeit beschäftigt war. Sie gab einige schwache Zeichen des Auflebens von sich, als sie eintraten: und gleich darauf zeigte sich ihr mattes Transparent wieder in liegender Stellung.

»Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte, der auf die Ausführung dieser Heldentat mit Ungeduld gewartet hatte, »erlauben Sie mir, Ihnen Mrs. Bounderby vorzustellen.«

»Oh!« rief Mrs. Gradgrind. »Ihr habt also die Geschichte in Ordnung gebracht. Nun schön, ich hoffe nur, daß du bei guter Gesundheit bleiben wirst. Wenn nämlich dein Kopf so zu zerspringen anfängt, sobald du verheiratest bist, wie es bei mir der Fall war, so kann ich nicht denken, daß du zu beneiden bist. Natürlich glaubst du ja ohne Zweifel, daß du dies bist, wie es bei allen Mädchen zunächst der Glaube ist. Ich gratuliere dir indessen, mein Kind, und ich hoffe, daß du deine sämtlichen graphologischen Studien gut anwenden wirst – ja, das tue ich ganz gewiß. Ich muß dir einen Gratulationskuß geben, Luise, aber berühre nicht meine rechte Schulter: denn dort rieselt etwas den ganzen Tag herunter. Nun seht nur zu«, winselte Mrs. Gradgrind, indem sie ihre Schals nach der zärtlichen Zeremonie wieder zurechtlegte, »wie ich mich jetzt morgens, mittags und abends abquälen werde, um auszudenken, wie ich ihn nennen soll.«

»Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte feierlich, »was meinen Sie?«

»Wie ich ihn denn nennen soll, Mr. Gradgrind, wenn er einmal mit Luise verheiratet ist. Ich muß ihn doch irgendwie anreden. Es ist unmöglich«, sagte Mrs. Gradgrind mit einem aus Höflichkeit und Vorwurf gemischten Gefühl, »ihn immer anzusprechen, ohne ihm einen Namen zu geben. Ich kann ihn nicht Josiah heißen, denn dieser Name ist mir unerträglich. Sie selbst würden nichts von Joe hören wollen, das wissen Sie recht wohl. Oder soll ich meinen Schwiegersohn mit »Herr« anreden? Nicht eher, wie ich glaube, als bis die Zeit herangerückt ist, wo meine Verwandten auf mir, als einer unnützen Kranken mit Füßen herumtreten würden. Nun aber, wie soll ich ihn denn nennen?«

Da niemand zugegen war, der in dieser Bedrängnis ein Auskunftmittel dargeboten hätte, so schied Mrs. Gradgrind für jetzt aus diesem Leben, nachdem sie den folgenden Paragraphen zu den bereits mitgeteilten Bemerkungen hinzugefügt hatte:

»Was die Hochzeit angeht, so ist alles, was ich begehre, Luise – und ich begehre es mit einem Zittern in der Brust, das sich tatsächlich bis zu den Sohlen meiner Füße erstreckt – daß sie bald stattfinde, sonst weiß ich, wird das eines von den Dingen sein, die gar kein Ende nehmen wollen.«

Als Mrs. Bounderby von Mr. Gradgrind ihrer Mutter vorgestellt wurde, hatte Cili den Kopf umgewandt und blickte in Verwunderung, in Bedauern, in Kummer, in Zweifel und in einer Fülle von Empfindungen auf Luise. Luise hatte es gewußt und gesehen, ohne sie anzublicken! von diesem Augenblicke an war sie passiv, stolz und kalt – hielt sich fern von Cili – und war gegen sie wie verwandelt.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Als Mr. Bounderby die Kunde von seinem Glücke vernahm, bestand seine erste Verlegenheit in der Zwangslage, dieses Glück Mrs. Sparsit mitzuteilen. Er konnte mit sich selbst nicht darüber einig werden, wie das anzustellen sei, oder was die Folgen eines solchen Schrittes sein dürften. Ob sie sogleich mit Sack und Pack zu Lady Scodgers reisen, oder sich weigern würde, das Haus überhaupt zu verlassen, ob sie sich durch Klagen oder Schmähreden Luft machen, oder ob sie alles zerreißen oder selbst zerrissen sein würde, ob sie ihr Herz oder den Spiegel entzweischlagen würde – das konnte Mr. Bounderby durchaus nicht vorhersehen. Da es aber geschehen mußte, so blieb ihm keine andere Wahl übrig, als es zu wagen. Nachdem er es nun mit mehreren Briefen versucht hatte und sie ihm sämtlich mißlangen, entschloß er sich, mündlichen Vortrag zu halten.

Auf seinem Heimweg an dem Abend, den er zu diesem wichtigen Zweck angesetzt hatte, gebrauchte er die Vorsicht, sich in den Laden eines Apothekers zu begeben und eine Flasche der am allerstärksten riechenden Salzessenzen zu kaufen. »Beim Himmel«, sagte Mr. Bounderby, »wenn sie mir mit einer Ohnmacht kommt, werde ich ihr jedenfalls die Haut von der Nase abreiben.« Trotzdem er nun auf diese Weise gewaffnet war, trat er in sein eigenes Haus mit einer nichts weniger als mutigen Miene und erschien vor dem Gegenstande seiner bangen Besorgnisse wie ein Hund, der es sich bewußt war, direkt aus der Speisekammer zu kommen.

»Guten Abend, Mr. Bounderby.«

»Guten Abend, Ma’am, guten Abend.« Er schob seinen Stuhl vor, Mrs. Sparsit schob den ihrigen zurück, als wollte sie sagen: »Ihr Kamin, Sir. Ich räume es ungehindert ein. Sie können ihn ganz einnehmen, wenn Sie es für billig halten.«

»Wandern Sie doch nicht gleich ganz nach dem Nordpol, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby.

»Danke, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit, indem sie zu ihrer früheren Stellung, obgleich nur unbedeutend, vorrückte.

Mr. Bounderby saß da und betrachtete sie, wie sie in ein Stückchen Batist mit einer steifen, scharfen Schere zu einer unerforschlichen Verzierung Löcher ausschnitt. Diese Operation erinnerte, verbunden mit den buschigen Augenbrauen und der römischen Nase, lebhaft an einen Habicht, der sich über die Augen eines zähen Vögelchens hermacht. Sie war so emsig beschäftigt, daß mehrere Minuten verflossen, ehe sie von ihrer Arbeit aufblickte. Als das geschehen war, zog Mr. Bounderby ihre Aufmerksamkeit auf sich, indem er sich mit dem Kopfe vorbog.

»Mrs. Sparsit, Ma’am«, sagte Bounderby und steckte die Hände in die Tasche, sich mit der Rechten überzeugend, daß der Kork des Fläschchens zum Gebrauch bereit sei. »Ich habe es gar nicht nötig, Ihnen zu sagen, daß Sie nicht nur eine Lady von Geburt und Erziehung sind, sondern auch eine verdammt kluge Frau.«

»Sir«, erwidert die Lady, »es ist in der Tat nicht zum ersten Male, daß Sie mich mit ähnlichen Ausdrücken Ihrer guten Meinung beehren.«

»Mrs. Sparsit, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby. »Ich werde Sie in Erstaunen setzen.«

»Wirklich, Sir?« entgegnete Mrs. Sparsit fragend und mit der größtmöglichen Ruhe. Sie trug gewöhnlich Fausthandschuhe, und jetzt glättete sie diese, nachdem sie ihre Arbeit niedergelegt hatte.

»Ich bin auf dem Sprunge, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby, »Tom Gradgrinds Tochter zu heiraten.«

»Wirklich, Sir? Ich wünsche, daß Sie glücklich sein mögen, Sir.«

Sie sagte das mit so viel Herablassung und mit so großem Bedauern für ihn, daß Bounderby, der jetzt mehr außer Fassung gebracht wurde, als wenn sie ihr Arbeitskistchen an den Spiegel geschleudert hätte oder auf dem Kaminteppich in Ohnmacht gefallen wäre, die Salzessenz in der Tasche wieder fest zustöpselte und dachte: »Nun, hol‘ der Teufel dieses Weib, wer hätte je gedacht, daß sie es in dieser Weise aufnehmen würde!«

»Ich wünsche es von ganzem Herzen, Sir«, sagte Mrs. Sparsit in einer höchst vornehmen Weise – auf irgendeine Art schien sie in einem Augenblick sich das Recht erworben zu haben, ihn nachher fortwährend zu bedauern – »daß Sie in jeder Beziehung vollkommen glücklich sein mögen.«

»Nun gut, Ma’am«, entgegnete Mr. Bounderby mit einigermaßen empfindlichem Tone, den er unwillkürlich dämpfte. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich hoffe, ich werde es sein.«

»Meinen Sie, Sir?« fragte Mrs. Sparsit mit großer Freundlichkeit. »Aber natürlich, meinen Sie es – freilich meinen Sie es.«

Eine höchst verlegene Pause trat auf Mr. Bounderbys Seite ein. Mrs. Sparsit machte sich wieder emsig an die Arbeit und ließ gelegentlich ein leises Husten vernehmen, das wie der Husten der sich selbst bewußten Kraft und Nachsicht klang.

»Aber freilich, Ma’am«, nahm Mr. Bounderby wieder das Wort, »unter solchen Umständen dürfte es für eine Persönlichkeit, wie es die Ihrige ist, nicht angenehm sein, hier weiter zu bleiben, obschon Sie hier höchst willkommen sein werden.«

»O du lieber Himmel, nein! Ich könnte auf keinen Fall daran denken.« Mrs. Sparsit schüttelte noch immer den Kopf in einer höchst vornehmen Weise und veränderte ein wenig den leisen Husten – indem sie hustete, als ob ein prophetischer Geist über sie käme und der Ansicht wäre, es sei besser, ihn hinunter zu husten.

»Es ist indessen, Ma’am«, sagte Bounderby, »in dem Bankhaus eine Wohnung frei, wo eine Lady von Geburt und Erziehung als Hausdame eine vorzügliche Position hätte, und wenn die Bedingungen –«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Sie waren so gefällig, mir zu versprechen, daß Sie stets die Redensart jährliches Kompliment dafür anwenden wollen.«

»Gut, Ma’am, jährliches Kompliment. Wenn dasselbe jährliche Kompliment auch dort annehmbar ist, so sehe ich nicht ein, warum wir scheiden sollten, ausgenommen Sie tun es.«

»Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit, »der Antrag gleicht Ihnen vollkommen, und wenn die Position, die ich in dem Bankhause einnehmen soll, der Art ist, daß ich sie ausfüllen kann, ohne tiefer auf der gesellschaftlichen Stufenleiter herabzusteigen –«

»Aber, natürlich!« sagte Bounderby. »Sie werden doch nicht denken, daß ich sie einer Lady angeboten hätte, die sich in einer solchen Gesellschaft bewegte, wie das bei Ihnen der Fall war, wenn sie es nicht wäre. Nicht, daß mir an solcher Gesellschaft läge! Aber Ihnen liegt daran!«

»Mr. Bounderby, Sie sind äußerst rücksichtsvoll.«

»Sie werden Ihre eigenen Gemächer haben und Sie werden ihre eigenen Kohlen, Kerzen und alles übrige haben. Sie werden auch ihr eigenes Mädchen zur Bedienung haben, und Sie werden Ihren Hausmann zur Beschützung haben, ja, Sie werden sich so daselbst – ich bin so frei zu sagen: köstlich komfortabel befinden«, sagte Bounderby.

»Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit, »sagen Sie nichts weiter. Indem ich das mir anvertraute Pflegeamt hier aufgebe, werde ich doch von der Notwendigkeit nicht befreit sein, das Brot der Abhängigkeit zu essen.« Sie hätte wohl sagen mögen, das Zuckerbrot; denn dieser delikate Artikel war eine Lieblingsspeise von ihr, »und ich empfange es lieber aus Ihrer Hand als aus einer andern. Ich nehme daher Ihr Anerbieten, Sir, dankbar und mit vieler aufrichtiger Dankbarkeit für frühere Gunstbezeugungen an. Und ich wünsche, Sir«, sagte Mrs. Sparsit in einem nachdrucksvoll mitleidigen Ton, »ich wünsche es von Herzen, daß Miss Gradgrind all‘ das sein möge, was Sie erwarten und verdienen.«

Nichts vermochte Mrs. Sparsit von diesem Standpunkt mehr abzubringen. Vergebens gebärdete sich Bounderby geräuschvoll oder versuchte sanft in seiner gewöhnlichen polternden Weise sich auszudrücken. Mrs. Sparsit war entschlossen, ihn als ein Opfer zu bemitleiden. Sie war höflich, gefällig, munter, hoffnungsvoll. Je höflicher, gefälliger, munterer, hoffnungsvoller und überhaupt je bestimmter sie war, ein desto unglücklicheres Schlachtopfer war er. Sie hatte eine solche Zärtlichkeit für sein tragisches Geschick, daß sein volles rotes Gesicht gewöhnlich in kalten Schweiß ausbrach, sobald sie ihn anblickte.

Inzwischen ward festgesetzt, daß die Hochzeitsfeier in acht Wochen stattfinden sollte, und Mr. Bounderby begab sich jeden Abend als ein anerkannter Freier nach Stone Lodge. Die Liebe ward daselbst in der Gestalt von Armbandgeschenken betont und nahm bei allen Anlässen während des Brautstandes einen fabrikmäßigen Anstrich an. Kleider wurden gemacht, Schmucksachen wurden gemacht, Kuchen und Handschuhe wurden gemacht und ein ausgedehntes Warenlager von Tatsachen machte dem Eheschließungskontrakte alle Ehre. Die ganze Angelegenheit war eine Tatsache von Anfang bis zu Ende. Die Stunden schwanden nicht inmitten jener rosigen Ereignisse dahin, von denen törichte Poeten zu solchen Zeiten zu träumen pflegen. Auch gingen die Uhren um nichts schneller oder langsamer als zu den anderen Perioden. Der grauenhaft-statistische Zeitmesser in dem Gradgrindischen Observatorium schlug jeder Sekunde auf den Kopf, sobald sie geboren wurde und begrub sie mit der herkömmlichen Regelmäßigkeit.

So rückte dieser Tag heran, wie alle Tage den Leuten heranrücken, die sich bloß an die Vernunft halten, und als er da war, wurden in der Kirche »mit den Schnörkelbeinen« – dieser beliebt gewordenen Bauart – Josiah Bounderby Esquire von Coketown und Luise, die älteste Tochter von Thomas Gradgrind Esquire von Stone Lodge, M. P.) für den Flecken, miteinander vermählt. Und als sie in heiliger Ehe verbunden waren, begaben sie sich zum Frühstück nach dem vorerwähnten Stone Lodge.

Zur Feier des Tages war eine Gesellschaft versammelt, die genau wußte, woraus alles, was gegessen und getrunken wurde, zubereitet war, wie hoch sich Import und Export des betreffenden Artikels beliefen, ob das in fremden oder einheimischen Schiffen geschah, kurz, sie wußten über alles Bescheid. Von den Brautjungfern angefangen bis zu der kleinen Jane Gradgrind waren sie sämtlich, vom intellektuellen Standpunkte aus betrachtet, ganz geeignete Gehilfinnen für den Oberrechenmeister, und niemand von der Gesellschaft hatte etwas an sich, das über Tatsachenvernunft hinausragte.

Nach dem Frühstück redete sie der junge Ehemann in folgender Weise an:

»Ladies und Gentlemen! Ich bin Josiah Bounderby von Coketown. Da Sie mir und meiner Frau die Ehre antaten, auf unsere Gesundheit und unser Glück zu trinken, so muß ich wohl auf diese erwidern. Sie werden ja freilich, da Sie mich alle kennen und wissen, was ich bin und was mein Ursprung war, keine Rede von einem Manne erwarten, der, wenn er einen Postwagen sieht, sagt: ›das ist ein Postwagen‹, und wenn er eine Pumpe sieht, sagt: ›das ist eine Pumpe‹, und der nicht dahin gebracht werden kann, einen Postwagen eine Pumpe, und eine Pumpe einen Postwagen, oder eines von beiden einen Zahnstocher zu nennen. Wenn Sie gegenwärtig eine Rede wollen, nun, mein Freund und Schwiegervater, Tom Gradgrind, ist Parlamentsmitglied, und Sie wissen, wo eine gehörige Rede zu haben ist. Dazu bin ich nicht der Mann. Wenn ich jedoch ein wenig das Gefühl der Unabhängigkeit empfinde, da ich meinen Blick um diesen Tisch schweifen lasse und bedenke, wie wenig ich daran gedacht habe, Tom Gradgrinds Tochter zu heiraten, als ich ein zerlumpter Straßenjunge war, der sich das Gesicht nur an den Pumpen wusch, und das nicht öfter als einmal in vierzehn Tagen, so wird man mich hoffentlich entschuldigen. Demnach hoffe ich nun, daß Sie meinen Stolz auf meine Unabhängigkeit billigen werden; tun Sie es nicht, so kann ich nichts dafür. Ich fühle mich unabhängig. Nun habe ich erwähnt, und auch Sie haben dessen Erwähnung getan, daß ich heute mit Tom Gradgrinds Tochter vermählt worden. Es freut mich sehr, daß dies der Fall ist. Es war schon längst mein Wunsch, daß dies der Fall sein möge. Ich habe ihre Erziehung genau beobachtet und ich glaube, sie ist meiner würdig. Zu gleicher Zeit glaube ich – um Sie alle nicht zu täuschen – daß ich ihrer würdig bin. Demnach danke ich Ihnen in unser beider Namen gemeinschaftlich für die Güte, die Sie gegen uns an den Tag legten, und der beste Wunsch, den ich dem unverheirateten Teil dieser Gesellschaft geben kann, ist der: Ich wünsche, daß jeder Junggeselle eine solche Frau finden möge, wie ich sie gefunden. Und ich wünsche, daß jede Jungfer einen so guten Mann finden möge, wie meine Frau ihn bekommt.«

Kurz nach dieser Rede war dieses glückliche Paar – da sie eine Hochzeitsreise nach Lyon machten, damit Mr. Bounderby die Gelegenheit habe, sich zu überzeugen, wie es mit den »Händen« daselbst steht, und ob sie auch verlangen, mit goldenen Löffeln gespeist zu werden – zur Eisenbahn gefahren. Die Braut fand, als sie in den Reisekleidern hinabstieg, Tom – dessen Gesicht entweder von Aufregung oder von dem rebensaftigen Teile des Frühstücks gerötet war – wie er auf sie wartete.

»Was du doch für ein spaßiges Mädchen bist, daß du eine so vortreffliche Schwester gewesen, Lu«, lispelte Thomas.

Sie schmiegte sich an ihn an, wie sie sich an diesem Tage an ein weit besseres Wesen hätte anschmiegen sollen, und zum ersten Male war jetzt ihre steife Zurückhaltung erschüttert.

»Der alte Bounderby ist fix und fertig«, sagte Tom. »Es ist gerade Zeit, Adieu. Ich werde dich aufsuchen, wenn du zurückkommst. Hör‘ mal, meine gute Lu! Ist das jetzt nicht alles ganz außerordentlich nett?«

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Ein sonnengoldener Sommertag. Sogar in Coketown gab es dergleichen. Bei solcher Witterung von der Ferne betrachtet, lag Coketown in seinem eigenen Nebeldunste eingehüllt, den kein Sonnenstrahl durchbrach. Man wußte nur, daß sich die Stadt daselbst befindet, weil man gewiß war, daß ohne Stadt kein ähnlicher Schmutzflecken sich dem Anblick bieten konnte. Ein Qualm von Dunst und Rauch, der bald diese, bald jene Richtung nahm, bald zum Himmelsgewölbe sich emporschwang, bald düster längs der Erde hinkroch, je nachdem der Wind sich erhob, oder sich senkte, oder die Richtung veränderte – ein dichtes, unförmliches Gemisch mit plötzlich aufblitzenden Lichtstreifen, die nur dunkle Massen sichtbar werden ließen – und Coketown gab sich schon von der Ferne kund, obgleich kein einziger Ziegelstein zu sehen war.

Das Wunder bestand darin, daß Coketown überhaupt vorhanden war. Es war schon so oft zugrunde gerichtet worden, daß es Erstaunen erregen musste, wie es so viele schwere Unglücksfälle ertragen konnte. Es gab sicher nie so zarte Porzellanware wie die, aus der die Spinnfabrikanten von Coketown gemacht waren. Man mochte sie noch so vorsichtig anfassen, sie brachen mit einer Leichtigkeit in Stücke, daß man vermuten konnte, sie hätten vorher schon einen Sprung gehabt. Sie schwanden dahin, als man von ihnen verlangte, sie sollten die arbeitenden Kinder in die Schule schicken: sie schwanden dahin, als Inspektoren beauftragt wurden, ihre Arbeiten zu untersuchen; sie schwanden dahin, als solche Inspektoren es für zweifelhaft hielten, ob sie ein Recht hätten, mit ihren Maschinen ihre Arbeiter in Stücke reißen zu lassen; und sie schwanden vollends dahin, als man ihnen einen Wink gab, daß sie vielleicht nicht immer so viel Rauch zu machen brauchten. Außer Mr. Bounderbys goldenem Löffel, der in Coketown wie ein Evangelium galt, war noch ein anderes herrschendes Märchen daselbst populär. Dasselbe nahm die Gestalt einer Drohung an. Sobald nur ein Coketowner Fabrikherr sich übel behandelt glaubte, d. h. sobald man ihn nicht allein gewähren ließ, und der Vorschlag gemacht wurde, ihn für die Folgen seiner Handlungen verantwortlich zu machen – so trat er gewiß mit der schrecklichen Drohung hervor, »daß er lieber sein Vermögen in den Atlantischen Ozean schleudern wollte«. Das hatte den Minister des Innern bei verschiedenen Gelegenheiten in eine wahre Todesangst gejagt.

Die Coketowner waren jedoch am Ende so patriotisch, daß sie ihr Vermögen noch nie in den Atlantischen Ozean geschleudert hatten, ja sie waren freundlich genug, es ganz gehörig in Verwahrung zu nehmen. Dort lag nun dies Vermögen in den Nebeldunst eingehüllt, und es nahm zu und vermehrte sich.

Die Straßen waren an dem Sommertag heiß und staubig, und der Sonnenschein war so hell, daß er sogar durch den dicken Dunst, der Coketown einhüllte, und den man nicht anhaltend mit den Augen aushalten konnte, hindurchschien. Heizer tauchten aus den tiefen unterirdischen Gängen der Fabriköfen auf, setzten sich auf Stufen, Pfosten und Geländer, rieben ihre rußgeschwärzten Gesichter und betrachteten die Kohlen. Die ganze Stadt schien in Öl zu braten. Allenthalben war ein erstickender Dunst von heißem Öl. Die Dampfmaschinen glänzten davon. Die Anzüge der »Hände« waren damit beschmutzt; die Fabriken in ihren vielen Stockwerken flossen und troffen davon. Die Atmosphäre dieser Feenpaläste war wie der heiße Hauch des Wüstenwindes, und ihre Bewohner, vor Hitze schier vergehend, arbeiteten schlaff und träge in dieser Wüste. Aber kein Wechsel der Temperatur machte die melancholisch-wahnsinnigen Elefanten wahnsinniger oder vernünftiger. Ihre langweiligen Köpfe wackelten stets in demselben Grade auf und nieder, in heißem und kaltem, feuchtem und trockenem, schönem und häßlichem Wetter. Die abgemessene Bewegung ihrer Schatten an den Wänden war der Ersatz, den Coketown für den Schatten rauschender Wälder aufzuweisen hatte, während es anstatt des Gesummes der Sommerkäfer das ganze Jahr hindurch, von dem ersten Tagesgrauen des Montags bis zur Nacht des Sonnabends das Schnurren der Triebstangen und Räder bot.

Schläfrig schnurrten sie jenen ganzen Sommertag hindurch, den Wanderer nur noch schläfriger und heißer machend, wenn er an den tönenden Wänden der Fabriken vorüberging. Markisen und Sprengwasser kühlten die Hauptstraßen und die Geschäfte ein wenig. Aber die Fabrikgebäude und Höfe und Gassen wurden gebacken in grimmiger Hitze. Unten auf dem Fluße, der schwarz war von dem dicken Abfluß der Farbstoffe, steuerten einige Jungen von Coketown, die unbeschäftigt waren, – ein seltener Anblick in diesem Orte – ein altes Boot, das, wie es sich so dahinschleppte, eine trüb-schlammige Furche auf dem Wasser zog, während jeder Stoß der Ruder ekle Gerüche aufstörte. Aber der Sonnenschein selbst, obwohl so allgemein wohltuend, zeigte sich in Coketown ungnädiger als strenge Kälte und blickte selten eine Zeitlang anhaltend auf eine dieser eingepferchten Regionen, ohne mehr Tod als Leben zu erzeugen. So wird das Auge des Himmels selbst ein schlimmes Auge, wenn ungeschickte oder schmutzige Hände sich vor die Dinge legen, auf die es segnend blickt.

Mrs. Sparsit saß in ihrem Nachmittagszimmer in der Bank, an der schattigen Seite der sonnengeschmorten Straße. Die Geschäftsstunde war vorüber, und just zu jener Tageszeit pflegte sie bei warmem Wetter das Tagungszimmer, das sich über dem Direktorzimmer befand, mit ihrer lieblichen Gegenwart zu schmücken. Ihr Privatgemach war ein Stockwerk höher, und an dem Fenster dieses Beobachtungspostens saß sie jeden Morgen, bereit, Mr. Bounderby, der die Straße heraufkam, mit jenem, für ein Opfer angemessenen, faszinierenden Blick zu begrüßen. Er war bereits ein Jahr verheiratet, und Mrs. Sparsit hatte ihn noch keinen Augenblick von ihrem beharrlichen Bedauern erlöst.

Die Bank natürlich tat der gesunden Einförmigkeit der Stadt keine Gewalt an. Es war nur ein Haus aus roten Ziegeln mehr, mit schwarzen Läden und grünen Jalousien, einem schwarzen Eingangstor über zwei weißen Stufen, einem messingenen Schild an der Tür und einem Schlußpunkt von ehernem Türdrücker. Es war bedeutend größer als Mr. Bounderbys Haus, während andere Häuser wiederum um die Hälfte oder mehr kleiner waren. In allen übrigen Einzelheiten aber war es strikt nach der Regel.

Mrs. Sparsit war sich sehr wohl bewußt, daß ihre Erscheinung des Abends unter den Pulten und Schreibgeräten eine gewisse weibliche, um nicht zu sagen aristokratische Grazie über die Geschäftsstube verbreite. Wenn sie mit ihrem Nähzeug oder Netzrahmen am Fenster saß, beschlich sie stets eine Art selbstgefälligen Gefühls, daß sie durch ihre ladyartige Haltung das rohgeschäftliche Aussehen des Orts etwas verbessere. Erhoben von diesem Eindruck ihrer interessanten Persönlichkeit betrachtete sich Mrs. Sparsit gewissermaßen als die Fee der Bank. Die Stadtleute dagegen, wenn sie vorbeipassierend Mrs. Sparsit so dasitzen sahen, erblickten in ihr den Drachen der Bank, der die Schätze der Anstalt bewachte.

Worin diese Schätze bestanden, das wußte Mrs. Sparsit ebensowenig wie es die Stadtleute wußten. Gold- und Silbermünzen, kostbare Papiere, Geheimnisse, deren Enthüllung ungeahntes Verderben über ungeahnte Persönlichkeiten bringen konnte (doch gewöhnlich Leute, die sie nicht leiden konnte). Das waren die Hauptpartien in ihrem Idealkontobuch.

Im übrigen wußte sie, daß sie nach den Geschäftsstunden über das ganze geschäftliche Mobiliar und über ein wohlverwahrtes Zimmer mit drei Schlössern, vor dessen Tür der Laufbursche jede Nacht auf einem Rollbett, das mit dem Hahnenschrei verschwand, seinen Kopf legte, mit Allgewalt herrschte. Ferner herrschte sie als allgebietende Dame über gewisse Räume in dem unterirdischen Geschoß, scharf verwahrt vor jeder Verbindung mit der räuberischen Welt. Außerdem über Überreste der laufenden Tagesarbeit, bestehend aus Tintenklecksen, abgenutzten Federn, Oblaten-Fragmenten und Papierfetzen, die in so kleine Stücke zerrissen waren, daß es Mrs. Sparsit niemals gelingen wollte, etwas Interessantes daraus zu entziffern. Endlich war sie Hüterin einer kleinen Rüstkammer von Säbeln und Revolvern, die drohend über einem der Kontorkamine hingen, und über jenes altehrwürdige Herkommen, das sich niemals vom Geschäftslokal trennen läßt, wofern dieses überhaupt auf den Anstrich von Reichtum Anspruch macht: über eine Reihe von Feuereimern – Gefäße, die aber gar nicht für eventuelles Löschen da hingen, sondern nur deshalb, weil sie einen imponierenden Eindruck auf die meisten Besucher machten, einen Eindruck, der fast dem der Gold- und Silberbarren gleichkam.

Eine taube Dienstmagd und der Laufbursche vollendeten Mrs. Sparsits Herrschaftsbereich. Von der tauben Dienstmagd murmelte man, daß sie wohlhabend sei, und ein Gerücht war schon seit Jahren in den niederen Klassen von Coketown umgegangen, daß sie gewiß einmal in der Nacht nach Bankschluß ihres Geldes wegen würde ermordet werden.

Man betrachtete sie in der Tat schon längst als pflichtschuldigst dem Tode verfallen; allein sie bewahrte Leben und Stellung mit einer übel angebrachten Zähigkeit, die viel Anstoß und Ärgernis erregte.

Mrs. Sparsits Tee war soeben für sie auf ein zierliches Tischchen gesetzt; dieses ward mit seinen drei Beinen herein- und aufgestellt, wenn das Geschäft beendigt war, und geriet in die Gesellschaft des düstern, lederbeschlagenen, langen Speisetisches, der die Mitte des Zimmers einnahm. Der Bürodiener setzte das Teegeschirr darauf, seine Stirn zum Zeichen der Huldigung tief duckend.

»Danke, Bitzer«, sagte Mr«. Sparsit.

»Danke Ihnen«, erwiderte der Bürodiener. Er war in der Tat wie zum Bürodiener geschaffen, so federleicht und leichtfüßig, wie in den Tagen, da er blinzelnd für das Mädchen Nummer Zwanzig ein Pferd definierte.

»Alles verschlossen, Bitzer?« fragte Mrs. Sparsit.

»Alles verschlossen, Ma’am.«

»Und was«, fragte Mrs. Sparsit, ihren Tee einschenkend, »gibt es heute neues? Etwas von Belang?«

»In der Tat, Ma’am, nichts Besonderes das ich wüßte. Unsere Leute sind ein böses Pack, Ma’am; aber das ist zum Unglück keine Neuigkeit.«

»Was treibt denn das unruhige Gesindel wieder?« fragte Mrs. Sparsit.

»Sie treiben es nur so fort in der alten Weise, Ma’am. Vereinigen sich, verbinden sich, verpflichten sich, es miteinander zu halten.«

»Es ist sehr zu bedauern«, sagte Mrs. Sparsit, und ihre gewaltige Strenge ließ ihre Nase nur noch römischer und ihre Brauen noch pompöser erscheinen, »es ist sehr zu bedauern, daß der Verein der Fabrikherren nur irgend solche Klassenverschwörungen gestattet.«

»Ja, Ma’am«, sagte Bitzer.

»Da sie doch selbst verbunden sind, so sollten sie einer wie alle sich darauf steifen, keinen Mann in Arbeit zu nehmen, der mit einem andern verbündet ist«, sagte Mrs. Sparsit.

»Das haben sie getan, Ma’am«, entgegnete Bitzer, »aber – das Unternehmen ist ihnen ins Wasser gefallen, Ma’am.«

»Ich behaupte nicht, etwas von diesen Dingen zu verstehen«, sagte Mrs. Sparsit mit Würde, »da mein Lebenslos eigentlich in einer ganz andern Sphäre gelegen war und Mr. Sparsit als eine Powler außerhalb des Bereiches solcher Bagatellen gestellt war. Ich weiß nur, daß man dieses Volk unterkriegen muß, und daß es hohe Zeit ist, daß es geschehe, ein für allemal.«

»Ja, Ma’am«, erwiderte Bitzer mit großer Respektbezeigung für Mrs. Sparsits orakelmäßige Autorität. »Sie hätten es nicht klarer ausdrücken können, sicherlich nicht, Ma’am.«

Da dies seine gewöhnliche Zeit war, wo er mit Mrs. Sparsit ein bißchen vertraulich schwatzte und er einen Blick von ihr auffing, aus dem hervorging, daß sie ihm eine Frage vorlegen wollte, so stellte er sich, als brächte er die Lineale, Tintenfäßer und so weiter in Ordnung, während unsere Lady sich mit ihrem Tee beschäftigte und durch das Fenster flüchtige Blicke auf die Straße warf.

»War heute viel zu tun?« fragte Mrs. Sparsit.

»Nicht besonders, Mylady. Ungefähr ein Durchschnittstag.«

Zuweilen sagte er Mylady, den Titel für adlige Damen, an Stelle von Ma’am, was eine unwillkürliche Anerkennung von Mrs. Sparsits persönlicher Würde und ihrer Ansprüche auf Ehrerbietung sein sollte.

»Die Kommis«, sagte Mrs. Sparsit, indem sie von dem linken Handschuh ein unmerkliches Butterbrotkrümchen abbürstete, »sind natürlich zuverlässig, pünktlich und fleißig?«

»Ja, Ma’am, so ziemlich, Ma’am. Mit der gewöhnlichen Ausnahme.«

Er bekleidete das ehrenhafte Amt eines allgemeinen Spions und Angebers in dem Etablissement. Für diesen freiwilligen Dienst erhielt er zu Weihnachten außer seinem gewöhnlichen Wochengehalt noch ein Geschenk. Er war zu einem äußerst helldenkenden, vorsichtigen und klugen jungen Mann herangewachsen, der sicher war, in der Welt sein Glück zu machen. Sein Verstand war so exakt reguliert, daß er weder Neigungen noch Leidenschaften hegte. All sein Tun und Lassen war das Resultat der klarsten und kältesten Berechnung. Mit Recht bemerkte daher Mrs. Sparsit von ihm, daß sie nie einen jungen Mann gekannt, der seinen Grundsätzen so treu geblieben wie er. Als er sich beim Tod seines Vaters vergewissert hatte, daß seine Mutter in Coketown heimatberechtigt sei, machte der ausgezeichnete junge Ökonom dieses Recht für sie mit standhafter Anhänglichkeit an dem Motiv der Rechtslage geltend: er brachte sie ins Armenhaus. Es muß noch erwähnt werden, daß er ihr jährlich ein halbes Pfund Tee gestattete, was eine Schwäche von ihm war: erstens, weil alle Gaben unvermeidlich dahin locken, den Empfänger an die Erhaltung von Almosen zu gewöhnen; zweitens, weil seine einzige vernünftige Berührung mit der Ware eigentlich darin hätte bestehen sollen, sie so billig wie möglich zu kaufen und so teuer wie möglich zu verkaufen. Denn es ist von Philosophen klar dargetan worden, daß darin die ganze Pflicht des Menschen begriffen sei – nicht ein Teil der menschlichen Pflicht, sondern die ganze.

»So ziemlich, Ma’am. Mit der gewöhnlichen Ausnahme, Ma’am«, antwortete Bitzer.

»A – ch!« sagte Mrs. Sparsit, indem sie den Kopf über der Teetasse schüttelte und einen langen Schluck nahm.

»Mr. Thomas, Ma’am. Ich habe einigen Verdacht gegen Mr. Thomas, Ma’am. Seine Manieren gefallen mir durchaus nicht.«

»Bitzer«, sagte Mrs. Sparsit mit vielem Nachdruck, »erinnerst du dich, daß ich dir zu dieser Persönlichkeit etwas sagte?«

»Ich bitte um Verzeihung, Ma’am. Es ist vollkommen richtig, daß Sie sich gegen die Erwähnung von Namen erklärten, und es ist auch stets das beste, niemanden beim Namen zu nennen.«

»Erinnere dich gefälligst, daß ich hier ein Amt bekleide«, sagte Mrs. Sparsit in ihrer gebieterischen Vornehmheit. »Ich versehe hier ein Vertrauensamt, Bitzer, im Auftrage von Mr. Bounderby. Wie unwahrscheinlich wir beide, Mr. Bounderby und ich es vor Jahren würde gedacht haben, daß er je mein Gönner sein sollte, indem er mir ein jährliches Kompliment macht, so muß ich ihn doch als solchen betrachten. Von Mr. Bounderby habe ich jede denkbare Anerkennung meiner gesellschaftlichen Stellung und jede Rücksicht auf meine Familienabstammung erfahren, die ich möglicherweise erwarten konnte. Noch mehr, weit mehr. Ich muß daher gegen meinen Gönner gewissenhaft treu sein. Und ich glaube nicht und mag nicht glauben und kann nicht glauben«, sagte Mrs. Sparsit mit einem sehr ausgedehnten Warenvorrat von Ehre und Moralität, »daß ich gewissenhaft treu sein würde, wenn ich es gestattete, daß man unter diesem Dache Namen nennte, die unglücklicherweise, höchst unglücklicherweise – daran ist kein Zweifel – mit dem seinen in Verbindung stehen.«

Bitzer duckte sich abermals und bat abermals um Verzeihung.

»Nein, Bitzer«, fuhr Mrs. Sparsit fort, »sage ein Individuum und ich will dich anhören; sagst du Mr. Thomas, so mußt du mich entschuldigen.«

»Mit der gewöhnlichen Ausnahme, Ma’am«, sagte Bitzer, der es wieder gutmachen wollte, »eines Individuums.«

»A – ch!« Mrs. Sparsit wiederholte den Ausruf, das Kopfschütteln über der Teetasse und den langen Schluck, um das Gespräch wieder bei dem Punkt anzuknüpfen, wo es unterbrochen worden war.

»Ein Individuum, Ma’am«, sagte Bitzer, »das niemals das gewesen ist, was es sein sollte, seitdem es sich an diesem Platz befindet. Er ist ein liederlicher, verschwenderischer Bursche. Er ist das Salz nicht wert, das er genießt. Er würde es nicht bekommen, Ma’am, wenn er nicht einen Freund und Verwandten bei Hofe hätte.«

»A – ch!« sagte Mrs. Sparsit mit einem abermaligen melancholischen Kopfschütteln.

»Ich will nur hoffen«, fuhr Bitzer fort, »daß die ihm befreundete und verwandte Person ihn nicht mit Mitteln versieht, es so fortzutreiben. Sonst wissen wir wohl, Ma’am, ans welcher Tasche das Geld kommt.«

»A – ch!« seufzte Mrs. Sparsit abermals, mit einem abermaligen Kopfschütteln.

»Er ist zu bedauern. Die letzte Person, auf die ich anspielte, ist zu bedauern, Ma’am«, sagte Bitzer.

»Ja, Bitzer«, sagte Mrs. Sparsit. »Ich habe immer diese Verblendung bedauert – immer.«

»Was dieses Individuum betrifft«, sagte Bitzer, der die Stimme senkte und näher trat, »so ist es so unbedachtsam, wie nur irgendwer unserer Stadtbewohner. Und Sie wissen, Ma’am, wie groß die Unbedachtsamkeit hier ist. Niemand brauchte es besser zu wissen, als eine Lady von Ihrer hohen Stellung es weiß.«

»Sie täten wohl daran«, versetzte Mrs. Sparsit, »sich ein Beispiel an dir zu nehmen, Bitzer.«

»Danke sehr, Ma’am. Da Sie sich aber auf mich beziehen, so betrachten Sie mich einmal. Ich habe schon etwas beiseite gelegt, Ma’am. Jenes Geschenk, das ich zu Weihnachten erhalte, berühre ich nie. Ich verbrauche nicht einmal meinen ganzen Lohn, obgleich er nicht hoch ist, Ma’am. Warum können sie es nicht machen wie ich, Ma’am? Was der eine kann, das kann der andere doch auch.«

Das gehörte ebenfalls zu den Dogmen von Coketown. Jeder dortige Kapitalist, der sich durch sechs Pence sechzigtausend Pfund erworben, wunderte sich stets darüber, daß die nächsten sechzigtausend »Hände« nicht ebenfalls sechzigtausend Pfund durch sechs Pence sich erwarben, und warf es jedem von ihnen mehr oder minder vor, daß sie solche Kleinigkeit nicht fertigbrächten. Was ich getan, das kannst du auch tun. Warum gehst du also nicht hin und tust es?

»Was ihre Bedürfnisse für Erholungen betrifft, Ma’am«, sagte Bitzer, »so ist es dummes Zeug und Unsinn. Ich brauche keine Erholungen. Ich hatte sie nie nötig und werde sie nie nötig haben: ich mag sie nicht. Was ihre enge Vereinigung betrifft – so gibt es ohne Zweifel viele unter ihnen, die hier und da durch gegenseitiges Bewachen und Angeben eine Kleinigkeit, sei es an Geld oder Wohlwollen, sich erwerben könnten, wodurch sie ihre Lage verbessern würden. Warum also verbessern sie diese nicht, Ma’am? Es ist das Streben jedes vernünftigen Geschöpfes, und sie behaupten doch, auch ihre Lage verbessern zu wollen.«

»Jawohl, sie behaupten es allerdings«, sagte Mrs. Sparsit.

»Wahrlich, wir müssen fort und fort das Geschwätz über ihre Weiber und Kinder hören, bis es schließlich ganz ekelhaft wird«, sagte Bitzer. »Nun, betrachten Sie mich einmal, Ma’am! Ich brauche weder Weib noch Kind. Warum denn diese?«

»Weil sie unbedachtsam sind«, sagte Mrs. Sparsit.

»Jawohl, Ma’am«, versetzte Bitzer. »Da steckt eigentlich der Haken. Wenn sie bedachtsamer und weniger verderbt wären, Ma’am, was würden sie tun? Sie würden sagen: ›Solange mein Hut meine ganze Familie bedeckt‹ oder ›solange meine Haube meine ganze Familie bedeckt‹ – je nachdem der Fall wäre, Ma’am – ›so brauche ich nur einen zu ernähren, und das ist die Person, die ich am liebsten ernähre‹.«

»Ganz gewiß«, stimmte Mrs. Sparsit bei, indem sie ein Stück Milchbrot aß.

»Danke sehr, Ma’am«, sagte Bitzer, abermals sich duckend als Erkenntlichkeit für die Gunst der Teilnahme an Mrs. Sparsits feiner Unterhaltung. »Wünschten Sie vielleicht noch etwas heißes Wasser oder kann ich Ihnen sonst etwas holen?«

»Nichts für den Augenblick, Bitzer.«

»Sehr verbunden, Ma’am. Ich würde Sie nicht gern bei Ihrem Essen stören, Ma’am, besonders beim Tee nicht, da ich Ihre Vorliebe für diesen kenne«, sagte Bitzer, indem er sich ein wenig emporschraubte, um von der Stelle, wo er sich befand, nach der Straße zu sehen – »aber da unten hat ein Herr ungefähr eine Minute heraufgesehen, Ma’am, und er ging dann über die Straße, als wollte er anklopfen. Das ist sein Klopfen an die Tür – ohne Zweifel, Ma’am.«

Er ging zum Fenster, und nachdem er hinausgesehen und den Kopf wieder zurückgezogen, bestätigte er es mit den Worten: »Ja, Ma’am. Wollen Sie, daß ich den Herrn hereinführe?«

»Ich weiß nicht, wer es sein kann«, sagte Mrs. Sparsit, indem sie sich den Mund abwischte und die Handschuhe in Ordnung brachte.

»Augenscheinlich ein Fremder, Ma’am.«

»Welcher Fremde um diese Abendstunde etwas in der Bank hier zu tun haben kann, wenn er nicht wegen eines Geschäftes kommt, wofür es schon zu spät ist, das wüßte ich wahrlich nicht«, sagte Mrs. Sparsit, »aber ich habe in diesem Etablissement von Mr. Bounderby ein Vertrauensamt übernommen und ich will mich ihm nicht entziehen. Wenn es zu meiner Pflicht gehört, ihn zu sehen, so will ich ihn sehen. Handle, wie du es für gut hältst, Bitzer.«

Der Besucher wiederholte hier, völlig unbekannt mit der großmütigen Äußerung von Mrs. Sparsit, das Klopfen an der Tür so laut, daß der Bürodiener hinuntereilte, um diese zu öffnen; Mrs. Sparsit gebrauchte unterdessen die Vorsicht, das Tischchen mit all seinem Zubehör darauf in einen Speiseschrank zu verbergen und brach dann nach dem oberen Stockwerk auf, um, falls notwendig, mit größerer Würde aufzutreten.

»Wenn’s beliebt, Ma’am, der Herr wünscht Sie zu sprechen«, sagte Bitzer, durch Mrs. Sparsits Schlüsselloch guckend. Mrs. Sparsit, die den Augenblick benutzt hatte, um ihre Haube zurechtzusetzen, begab sich mit ihrem klassischen Antlitz wieder nach dem unteren Stockwerk und trat in den Sitzungsraum wie eine römische Matrone, die sich außerhalb des Stadtgebietes begab, um mit einem General zu unterhandeln, der mit einem Einfall gedroht hat.

Der Besucher, der zum Fenster hingeschlendert war und gerade sich damit beschäftigte, nachlässig hinauszugucken, blieb bei dem nachdrucksvollen Eintritt so unbewegt, wie es nur ein Mensch sein konnte. Er stand da und pfiff mit aller erdenklichen Gemütsruhe vor sich hin, den Hut noch immer auf dem Kopf. Er schien etwas erschöpft, was teils von der übermäßigen Hitze und teils von seiner persönlichen außerordentlichen Vornehmheit herrührte. Denn man konnte es ihm mit einem flüchtigen Blick gleich ansehen, daß er durch und durch ein Gentleman war, ganz nach dem Modell der Zeit geformt; der Welt überdrüssig und so wenig etwas glaubend wie Luzifer.

»Wie ich denke, Sir«, sprach Mrs. Sparsit, »wünschten Sie mich zu sprechen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, indem er sich umwandte und den Hut abnahm, »bitte, entschuldigen Sie mich.«

»Hm!« dachte Mrs. Sparsit, während sie eine stattliche Verbeugung machte, »fünfunddreißig, gut aussehend, gute Figur, gute Zähne, gute Stimme, gute Erziehung, gut gekleidet, dunkles Haar und kühne Augen.«

Das alles hatte Mrs. Sparsit in ihrer Frauenmanier – gleich dem Sultan, der seinen Kopf in einen Eimer Wasser getaucht – bloß beim Untertauchen und Emporkommen bemerkt.

»Bitte Platz zu nehmen, Sir«, sagte Mrs. Sparsit.

»Danke sehr. Erlauben Sie.« Er rückte einen Stuhl für sie herbei, blieb aber selbst nachlässig an den Tisch gelehnt stehen.

»Ich ließ meinen Diener bei der Eisenbahn, um mein Gepäck zu besorgen – ein langer Zug und kolossal voll der Gepäckwagen – und schlenderte fort, um mich ein wenig umzusehen. Ein höchst merkwürdiger Ort. Wollen Sie mir die Frage erlauben, ob er stets so schwarz aussieht wie heute?«

»Im allgemeinen noch schwärzer«, erwiderte Mrs. Sparsit in ihrer gesetzten Weise.

»Ist es möglich! Bitte um Entschuldigung, Sie sind doch kein hiesiges Stadtkind, wie ich vermute?«

»Nein, Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit. »Ich war einst so glücklich oder so unglücklich, je nachdem man es nehmen will, mich – ehe ich Witwe geworden – in einer ganz andern Sphäre zu bewegen. Mein Mann war ein Powler.«

»Bitte um Verzeihung, wirklich!« rief der Fremde. »War ein –?«

Mrs. Sparsit wiederholte: »Ein Powler«.

»So, er hieß Powler?« sagte der Fremde nach einigem Nachdenken. Mrs. Sparsit nickte beistimmend. Der Fremde schien noch ein wenig müder als zuvor.

»Sie müssen hier viel Langeweile haben?« sagte er als Schlußfolgerung auf das Gehörte.

»Ich bin die Sklavin der Verhältnisse, Sir«, sagte Mrs. Sparsit, »und ich habe mich schon längst der Macht gefügt, die mein Leben regiert.«

»Sehr philosophisch«, versetzte der Fremde, »und sehr exakt und lobenswürdig und –« es schien ihm nicht einmal der Mühe wert, den Satz zu vollenden, und spielte deshalb achtlos mit der Uhrkette.

»Darf ich mir die Frage erlauben, Sir«, sagte Mrs. Sparsit, »welchem Umstände ich die Gunst zuzuschreiben habe –«

»Sicherlich«, sagte der Fremde. »Bin sehr verbunden, für die Erinnerung. Ich bin der Überbringer eines Empfehlungsschreibens, an den Bankier Mr. Bounderby. Indem ich, während das Diner für mich in dem Hotel bereitet wird – durch diese furchtbar schwarze Stadt spazierte, fragte ich einen Kerl, dem ich begegnete – einer von den Arbeitern, der ein Schauerbad von etwas Schmierigem genommen zu haben schien, was, wie ich vermute, das Rohmaterial sein muß –«

Mrs. Sparsit nickte.

»– Unverarbeiteter Stoff sein muß – wo Mr. Bounderby wohne. Worauf er mich, wahrscheinlich durch das Wort Bankier irregeführt, zur Bank wies. Das Ergebnis ist nun, wie ich vermute, daß Mr. Bounderby, der Bankier, nicht in dem Hause wohnt, wo ich die Ehre habe, diese Erklärung zu geben?«

»Nein, Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit, »er wohnt nicht hier.«

»Danke sehr. Ich hatte nicht die Absicht, den Brief augenblicklich abzugeben, auch habe ich ihn jetzt nicht. Da ich aber zur Bank schlenderte, um die Zeit zu töten, und das Glück hatte am Fenster« – wohin er träge mit der Hand hinwinkte und sich dann leichthin verneigte – »eine Lady von höchst vornehmem und angenehmem Äußern zu bemerken, so dachte ich nichts besseres tun zu können, als mir die Freiheit zu nehmen, jene Lady zu fragen, wo Mr. Bounderby, der Bankier, eigentlich wohnt. Das erlaube ich mir demgemäß mit allen gehörigen Entschuldigungen zu tun.

Die Lässigkeit und Nonchalance seiner Manieren waren in Mrs. Sparsits Augen genugsam durch eine natürliche Galanterie gemildert, die auch ihr huldigte. So lehnte er jetzt an der Tischkante, neigte sich dabei zugleich aber zu ihr hin, als ob er in ihr einen Reiz anerkannte, der sie – in ihrer Weise – bezaubernd erscheinen ließ.

»Die Banken sind, wie ich weiß, stets mißtrauisch und müssen es auch offiziell sein«, sagte der Fremde, dessen leichte und glatte Redeweise zugleich angenehm war – und die weit mehr Humor und Gefühl vermuten ließ als sie wirklich enthielt. – »Ich erlaube mir daher zu bemerken, daß mein Brief – hier ist er – von dem Parlamentsmitgliede für diesen Ort – von Mr. Gradgrind – ist, dessen Bekanntschaft ich das Vergnügen hatte, in London zu machen.«

Mrs. Sparsit, die die Handschrift erkannte, beteuerte, daß solche Bestätigung durchaus nicht nötig sei und gab Mr. Bounderbys Adresse nebst allen noch erforderlichen Anweisungen und Aufschlüssen an.

»Tausend Dank«, sagte der Fremde. »Sie kennen natürlich den Bankier sehr gut?«

»Ja, Sir«, versetzte Mrs. Sparsit, »ich kenne ihn in meinem abhängigen Verhältnisse bereits zehn Jahre.«

»Eine ganze Ewigkeit! Ich glaube, er hat Gradgrinds Tochter geheiratet?«

»Ja«, sagte Mrs. Sparsit, plötzlich den Mund zusammen, pressend. »Er hatte diese – Ehre.«

»Die Dame ist ganz Wissenschaft, wie man mir sagt?«

»In der Tat, Sir« – rief Mrs. Sparsit. »Ist sie das?«

»Entschuldigen Sie meine unbescheidene Neugier«, fuhr der Fremde fort, indem er mit versöhnendem Blicke über Mrs. Sparsits Augenbrauen hinflatterte, »aber Sie kennen die Familie und kennen die Welt. Ich bin daran, die Bekanntschaften der Familie zu machen und dürfte mit ihr in lebhaften Verkehr kommen. Ist denn die Lady gar so alarmierend? Ihr Vater bringt sie in den Ruf so schrecklicher Hartköpfigkeit, daß ich vor Begierde brenne, sie kennenzulernen. Ist sie absolut unnahbar? Abstoßend und erstaunlich gescheit? Ich sehe aus Ihrem bedeutungsvollen Lächeln, daß Sie nicht diese Meinung teilen. Sie haben Balsam in mein besorgtes Gemüt gegossen. Nun zum Alter. Vierzig? Fünfunddreißig?«

Mrs. Sparsit lachte laut auf.

»Ein Backfisch«, sagte sie. »Bei ihrer Verheiratung war sie nicht ganz zwanzig.«

»Ich versichere Sie auf Ehre, Mrs. Powler«, versetzte der Fremde, sich vom Tische erhebend, »daß ich all mein Lebtag nicht so erstaunt gewesen bin.«

Das Gehörte schien in der Tat Eindruck auf ihn zu machen, soweit überhaupt solches bei ihm möglich war. Er sah Mrs. Sparsit eine Viertelminute starr an und schien während der ganzen Zeit ganz verdutzt zu sein.

»Ich versichere Sie, Mrs. Powler«, sagte er darauf sehr erschöpft, »daß die Manieren des Vaters mich auf eine grimmige und steinharte alte Dame vorbereiteten. Ich bin Ihnen für alles verbunden, daß Sie meinen groben Irrtum berichtigten. Bitte, entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit. Vielen Dank. Guten Tag.«

Unter Verbeugungen entfernte er sich und Mrs. Sparsit, die sich hinter einem Fenstervorhang verborgen, sah ihn, von allen Leuten draußen angestarrt, auf der schattigen Seite der Straße nachlässig hinschlendern.

»Was hältst du von dem Herrn, Bitzer?« fragte sie den Bureaudiener, als er abzuräumen kam.

»Gibt viel Geld für Kleider aus, Ma’am.«

»Man muß gestehen«, sagte Mrs. Sparsit, »daß sie sehr geschmackvoll sind.«

»Ja, Ma’am«, versetzte Bitzer, »wenn das allein das Geld wert ist.«

»Außerdem, Ma’am«, fuhr Bitzer fort, indem er den Tisch blank rieb, »sieht er mir aus, als ob er spielt.«

»Spielen ist unmoralisch«, sagte Mrs. Sparsit.

»Es ist zudem lächerlich, Ma’am«, sagte Bitzer, »weil die Chancen gegen die Spieler sind.«

Ob es die Hitze war, die Mrs. Sparsit am Arbeiten hinderte, oder ob sie nicht mehr im Zuge war, kurz, jenen Abend arbeitete sie nicht. Sie saß hinter dem Fenster, als die Sonne hinter dem Rauch unterging; sie saß da, als der Rauch glührot erschien, als er die Farbe verlor, als Dunkelheit langsam aus der Erde sich zu erheben schien und emporstieg, empor bis zu den Giebeln der Häuser, bis zum Kirchturm, bis zu den Spitzen der Fabrikrauchfänge und bis zum Himmel. Ohne Licht im Zimmer saß Mrs. Sparsit am Fenster, die Hände in den Schoß gelegt und wenig bekümmert um die Abendklänge, um das Geschrei der Kinder, das Bellen der Hunde, das Gepolter der Räder, die Stimmen und Schritte der Vorübergehenden, die schrillen Straßenausrufe, das Getön der Holzschuhe auf dem Pflaster, als deren Zeit kam, und um das Schließen der Ladentüren. Nicht eher, als bis der Bürodiener ankündigte, daß ihr Abendessen bereit sei, erwachte Mrs. Sparsit aus ihren Träumereien und beförderte ihre dichten schwarzen Augenbrauen – jetzt durch Nachsinnen so sehr in Falten gelegt, daß sie des Bügeleisens zu bedürfen schienen – nach dem obern Stockwerk.

»O du Narr!« sagte Mrs. Sparsit, als sie allein bei ihrem Essen saß. Wen sie eigentlich meinte, sagte sie nicht; sie konnte jedoch kaum das Süßbrot damit gemeint haben.

Einleitung.


Einleitung.

Den Roman »Schwere Zeiten« (Hard times) schrieb Dickens um 1853, zu einer Zeit, als er bereits auf der Höhe seines Ruhmes und seines meisterlichen Könnens stand. Warmherzige Menschlichkeit zu predigen und die Sprache des Gemütes und der Seele höher zu stellen als alle bloße kalte Verstandesweisheit, wird Dickens seit »Oliver Twist« nicht müde. »Schwere Zeiten« richtet sich vor allem gegen die trockene seelenlose Tatsachengelehrsamkeit. Man könnte als Motto über den Roman Goethes Worte aus der Schülerszene des »Faust« setzen:

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie
Und grün des Lebens goldner Baum.«

Insbesondere wandte sich Dickens gegen die Auswüchse der Manchester-Schule und ihrer Lehren vom rücksichtslosen wirtschaftlichen Egoismus. Er zeigt sich dabei diesmal weniger als Satiriker, sondern als der scharfe Beobachter und Menschenkenner. So malt er lebenswahr und ergreifend die Welt der Tatsachenmenschen und Verstandesegoisten: den brutalen, herzlosen Emporkömmling, den Fabrikanten Bounderby, der eitel, unbeherrscht und selbstsüchtig zum Tyrannen gegen die Arbeiter seiner Unternehmungen wird, und sein Gegenspiel Mr. Gradgrind; aber dieser Mann hat im Grunde ein menschlicher Empfindungen fähiges Herz. Er ist nur ein Opfer der zeitlichen Mode geworden, die mit Statistiken und Zahlen die Geheimnisse des Lebens glaubt meistern zu können, und die alle Phantasie und alles blühende Schöpfertum der Seele als ungehörig und belanglos ablehnt. So erzieht Gradgrind seine beiden Kinder Luise und Tom in dem erkältend nüchternen Sinn reiner Verstandesmechanik. Die Folge ist, daß er seiner Tochter alle Sicherheit und alles Glück ihrer Jugend zerstört, sein Sohn aber zum skrupellosen Verbrecher wird. Die feine, menschlich tiefe psychologische Entwicklung der dargestellten Menschen, ihres Wirkens und Leidens ist von Dickens mit unübertrefflicher Meisterschaft gegeben. Zuletzt offenbart sich darin Dickens schöner unbeirrter Glaube an die Weltgerechtigkeit, daß er zum Schluß die Sache des Guten siegen läßt. Die furchtbaren Folgen der verkehrten lebenstötenden Erziehung muß der alte Gradgrind unerbittlich auskosten, aber Reue und die Hoffnung, daß über die in schweren Zeiten geprüften und geläuterten Menschen eine bessere Zukunft heraufziehen möge, gibt dem Roman einen versöhnenden Ausklang. Erschütternd lebensecht ist daneben die Welt der gebundenen, in schwerem Werktagslos dahinlebenden Massen der trostlosen Fabrikstädte gesehen.

Hier erweist sich Dickens als ein Vorgänger Zolas und seiner großen sozialen Romane. Daneben sind dann einzelne Typen mit erfrischender Satire gezeichnet, so die vornehme Madame Sparsit, die den verarmten und entarteten Adel darstellt, der sich schmarotzend mit Emporkömmlingen vom Schlage Bounderbys und ähnlichen Industriellen verband. Sehr »interessant« (das Wort in seiner vollsten Bedeutung genommen) ist auch der Vertreter des Snobs, Mr. Harthouse, der amoralische Genußmensch, der das Leben in all seinen Gewöhnlichkeiten durchschaut, der an nichts als eben an diese Gewöhnlichkeit glaubt.

Was diesem Roman unvergängliche Frische verleiht, ist die lebendige Kraft, die noch immer von ihm ausströmt. Die Bounderbys und Gradgrinds wandeln noch immer unter uns. Und immer noch bemüht sich der technisierende nüchterne Verstand, allen Frühling des Herzens und der Phantasie totzuschlagen. Deshalb können die »Schweren Zeiten« auch unserer Generation als Mahnung zur Einkehr, zur Selbstbesinnung wärmstens empfohlen werden.

Bei der Textrevision bin ich von Dr. Eva Thaer freundlichst unterstützt worden.

P. Th. H.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

»Nun, was ich brauche, das sind Tatsachen. Bringen Sie diesen Knaben und Mädchen nichts als Tatsachen bei. Im Leben bedarf man nur der Tatsachen. Pflanzen Sie nichts anderes ein und entwurzeln Sie alles übrige. Den Geist vernunftbegabter Tiere können Sie nur durch Tatsachen bilden; nichts anderes wird ihnen je von Nutzen sein. Nach diesem Grundsatz erziehe ich meine eigenen Kinder und nach dem gleichen Grundsatz erziehe ich diese Kinder. Halten Sie sich an Tatsachen, mein Herr.«

Der Schauplatz bestand aus einem kahlen, schmucklosen und einförmigen Raum von Schulzimmer, und der plumpe Zeigefinger des Sprechers verlieh dessen Bemerkungen Nachdruck, indem er jeden Satz mit einer Linie am Ärmel des Schulmeisters unterstrich. Der Nachdruck wurde erhöht durch des Sprechers plumpe, mauerartige Stirn, die sich schwer über dessen Augenbrauen erhob. Seine Augen fanden gleichsam ein bequemes Kellergeschoß in zwei dunklen Höhlen, die von der Mauer beschattet wurden. Der Nachdruck wurde erhöht durch den Mund des Sprechers, der dünn, breit und scharf gezeichnet war. Der Nachdruck wurde erhöht durch die Stimme des Sprechers, die unbiegsam, trocken und herrisch klang. Der Nachdruck wurde erhöht durch das Haar des Sprechers, das sich borstenartig an den Enden seines kahlen Kopfes wie eine Pflanzschule von Tannen emporsträubte, um den Wind von dessen schimmernder Oberfläche abzuhalten. Diese war, der Kruste einer Rosinenpastete gleich, ganz mit Knoten bedeckt, als ob der Kopf kaum genug Lagerraum für die harten Tatsachen hätte, die in seinem Innern aufgespeichert lagen. Das stöckische Benehmen, der plumpe Rock, die plumpen Beine und die plumpen Schultern des Sprechers – ja, sein Halstuch sogar, das in seiner unbiegsamen Tatsächlichkeit so zusammengezogen war, um ihn bei der Kehle mit einem unnachgiebigen Griffe zu fassen – das alles erhöhte den Nachdruck.

»In diesem Leben haben wir nichts als Tatsachen nötig, mein Herr: nichts als Tatsachen.«

Der Sprecher und der Schulmeister samt der dritten erwachsenen Person, die zugegen war, alle zogen sich nunmehr etwas zurück und ließen ihre Augen über die geneigte Ebene kleiner Gefäße schweifen, die hier und da in Ordnung aufgepflanzt waren, bereit, mit richtig gemessenen Gallonen von Tatsachen vollgeschüttet zu werden, bis sie bis zum Rand gefüllt wären.