Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Da Mr. Bounderby nicht Mrs. Grundy war, wer war er denn?

Nun, Mr. Bounderby war so nahe daran, Mr. Gradgrinds Busenfreund zu sein, wie ein Mann, allen Gefühls bar, sich in jener geistigen Verwandtschaft an einen Zweiten anzuschmiegen vermag, der allen Gefühles bar ist. So nahe, oder wenn der Leser es vorziehen sollte, so ferne stand ihm Mr. Bounderby.

Er war ein reicher Mann: Bankier, Kaufmann, Fabrikant und was nicht alles noch. Ein dicker, lärmender Mann mit glotzenden Blicken und einem ehernen Gelächter. Ein Mann aus einem rohen Stoff geschaffen, der ausgedehnt worden zu sein schien, um ihn so umfangreich zu machen. Ein Mann, dessen Kopf und Stirn aufgedunsen war, mit geschwollenen Adern an den Schläfen und einer Haut, die auf seinem Gesicht derartig ausgespannt war, daß es schien, als hielte sie seine Augen offen und als hebe sie seine Augenbrauen empor. Ein Mann mit dem vorwaltenden Anschein, als sei er wie ein Ballon aufgebläht und bereit, aufzufliegen. Ein Mann, der sich nie genug damit brüsten konnte, sich selbst aufgeschwungen zu haben. Ein Mann, der durch seine, wie ein metallenes Sprachrohr klingende Stimme fortwährend seine ehemalige Unwissenheit und Armut ausposaunte. Ein Mann, der ein Renommist der Demut war.

Um ein oder zwei Jahre jünger als sein ausgezeichnet praktischer Freund, sah Mr. Bounderby doch älter aus. Seinen siebenundvierzig oder achtundvierzig Jahren konnten die sieben oder acht noch hinzugefügt werden, ohne daß es jemanden überrascht hätte. Er hatte nicht viel Haare. Man mochte denken, er habe sie weggeschwatzt, und die übriggebliebenen, die sämtlich in Unordnung emporstanden, waren so unordentlich, weil sie durch seine aufgeblasene Ruhmredigkeit fortwährend hin und her getrieben wurden.

Mr. Bounderby stand also in dem förmlichen Gesellschaftszimmer von Stone Lodge auf dem Kaminteppich, wärmte sich am Feuer und erging sich in einigen Bemerkungen darüber, daß gerade sein Geburtstag sei. Er stand vor dem Feuer, teils weil der Frühlingsnachmittag, obgleich die Sonne schien, kühl war, teils weil das Gespenst von feuchtem Mörtel stets in dem Schatten von Stone Lodge spukte, und teils weil er auf diese Weise eine gebieterische Stellung einnahm, von wo aus er Mr. Gradgrind sich unterwerfen konnte.

»Kein Schuh bedeckte meinen Fuß. Was Strümpfe betrifft, so kannte ich dergleichen nicht einmal dem Namen nach. Die Tage brachte ich in einem Graben zu und die Nächte in einem Schweinestalle. Auf diese Weise feierte ich meinen zehnten Geburtstag. Nicht daß ein Graben mir etwas Neues wäre – denn in einem Graben wurde ich geboren.«

Mrs. Gradgrind war ein kleines, dünnes, weißes Bündel von Schals mit winzigen Äuglein und einer ungemeinen sowohl geistigen als körperlichen Schwäche. Sie schluckte andauernd Medizin, ohne daß dies eine Wirkung hervorbrachte, und sie wurde jedesmal, wenn Symptome eines neuen Auflebens sich bei ihr einstellten, unausbleiblich von einem wuchtigen Stück Tatsache, das auf sie niederstürzte, betäubt. Mrs. Gradgrind hoffte, daß der Graben trocken gewesen?

»Nein! So naß wie ein eingetunkter Bissen. Ein Fuß hoch Wasser darin«, sagte Mr. Bounderby.

»Genug um einem Kindchen eine Erkältung zuzuziehen«, bemerkte Mrs. Gradgrind.

»Eine Erkältung? Ich wurde mit einer Lungenentzündung geboren, und das war, wie ich glaube, die einzig mögliche Entzündung«, entgegnete Mr. Bounderby. »Jahrelang, Ma’am, war ich eines der elendesten, beklagenswertesten Kinder, die es je gegeben. Ich war so kränklich, daß ich fortwährend stöhnte und ächzte. Ich war so zerlumpt und schmutzig, daß Sie mich nicht mit einer Zange angefaßt hätten.«

Mrs. Gradgrind warf einen matten Blick auf die Zange, was bei ihrer Blödheit das geeignetste war, was sie tun konnte.

»Wie ich mich durchgewunden, das wüßte ich nicht zu sagen«, meinte Bounderby. »Ich glaube, mit meiner Entschlossenheit. Ich war in meinem nachherigen Leben ein entschlossener Charakter, und so war ich dazumal, wie ich glaube. Da bin ich nun, Mrs. Gradgrind, auf irgendeine Weise und habe niemandem als mir selbst dafür zu danken.«

Mrs. Gradgrind drückte schwach und zart die Hoffnung aus, daß seine Mutter –

»Meine Mutter? Durchgebrannt, Ma’am«, sagte Bounderby.

Mrs. Gradgrind stutzte wie gewöhnlich, brach zusammen und gab nach.

»Meine Mutter überließ mich meiner Großmutter«, sagte Bounderby, »und meiner schärfsten Erinnerung gemäß war meine Großmutter das boshafteste und schlechteste alte Weib, das je gelebt hat. Wenn ich zufällig ein Paar Schuhe erhielt, so war sie imstande, sie mir abzunehmen und für Getränke zu verkaufen. Ja, ich habe mit angesehen, wie diese Großmutter, im Bette liegend, vierzehn Gläser Branntwein vor dem Frühstück sich einverleibte.«

Mrs. Gradgrind, die matt lächelte und kein sonstiges Lebenszeichen von sich gab, sah aus (wie das bei ihr gewöhnlich der Fall war) wie ein leidlich ausgeführtes Transparent einer kleinen Frauenfigur, ohne daß man hinreichendes Licht dahinter angebrannt hatte.

»Sie hielt einen Krämerladen«, fuhr Bounderby fort, »und legte mich in eine Eierkiste. Das war die Wiege meiner Kindheit, eine alte Eierkiste. Sobald ich so groß war, um davonzulaufen, lief ich natürlich davon. Alsdann ward aus mir ein junger Vagabund. Statt daß ein altes Weib mich prügelte und verhungern ließ, ward ich jetzt von allen geprügelt und dem Hunger preisgegeben. Sie hatten recht; für sie war kein Grund vorhanden, anders zu verfahren. Ich war eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest. Ich weiß alles recht wohl.«

Sein Stolz, es zu einer Periode seines Lebens zu der großen gesellschaftlichen Auszeichnung gebracht zu haben, eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest zu sein, konnte nur durch eine dreimalige laute Wiederholung dieser Renommage befriedigt werden.

»Ich war, wie ich glaube, bestimmt, mich durchzuwinden, Mrs. Gradgrind. Ob ich dazu bestimmt war oder nicht, Ma’am, ich tat es. Ich wand mich durch, obgleich mir niemand an die Hand ging. – Vagabund, Laufjunge, wieder Vagabund, Arbeiter, Träger, Schreiber, erster Geschäftsführer, halber Kompagnon, Josiah Bounderby von Coketown. Das sind die Vorstufen meiner Laufbahn bis zum Gipfel. Josiah Bounderby von Coketown erlernte das ABC an den Aufschriften der Läden und erhielt erst die Fertigkeit, die Zeit auf einem Zifferblatte zu enträtseln, als er die Turmglocke der St.-Giles-Kirche in London unter der Leitung eines versoffenen Krüppels studierte. Das war ein überführter Dieb und ein unverbesserlicher Landstreicher. Erzählt Josiah Bounderby von Coketown von euren Kreisschulen und euren Musterschulen und euren Erziehungsanstalten und eurem ganzen Plunder von Schulen, und Josiah Bounderby von Coketown wird euch einfach sagen: Ganz recht, ganz schön – er hatte nicht diese günstigen Gelegenheiten – laßt uns aber Leute mit harten Köpfen und starken Fäusten haben – die Erziehung, die ihn emporgeschwungen, taugt nicht für einen jeden. Das weiß er recht gut – auf diese Art war nun aber seine Erziehung, und ihr könnt ihn dazu zwingen, kochendes Fett hinunterzuschlucken, aber ihr werdet ihn nie dazu bewegen, die Tatsachen aus seinem Leben zu verheimlichen.«

Erhitzt auf diesem Gipfel seiner Rede angekommen, hielt Josiah Bounderby von Coketown inne. Er hielt gerade inne, als sein ausgezeichnet praktischer Freund, noch immer von den beiden Verbrechern begleitet, ins Zimmer trat. Als sein ausgezeichnet praktischer Freund ihn erblickte, blieb er stehen und warf auf Luise einen vorwurfsvollen Blick, der einfach sagte: »Sieh hier deinen Bounderby!«

»Nun«, polterte Mr. Bounderby, »was gibt’s? Warum sieht der kleine Thomas so sauertöpfig drein?«

Er sprach von dem kleinen Thomas, sah aber dabei Luise an.

»Wir guckten in den Zirkus hinein«, murrte Luise hochmütig, ohne ihre Augen zu erheben, »und Vater erwischte uns.«

»Und, Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte pathetisch, »ich hätte meine Kinder ebensogern beim Lesen von Gedichten überraschen mögen.«

»Du lieber Himmel«, wimmerte Mrs. Gradgrind. »Wie konntet ihr nur, Luise und Thomas? Ich verwundere mich über euch. Ich gestehe offen, ihr könntet es einen bereuen lassen, überhaupt je Kinder gehabt zu haben. Ich habe große Lust zu sagen, ich wollte, ich hätte keine. Was ihr aber dann getan haben würdet, das möchte ich gern wissen.«

Diese triftigen Bemerkungen schienen auf Mr. Gradgrind keinen günstigen Eindruck zu machen. Er runzelte ungeduldig die Stirn.

»Als ob ihr bei der Migräne, an der mein Kopf jetzt leidet, die Muscheln, Mineralien und sonstigen Dinge, die für euch angeschafft wurden, nicht hättet anstatt der Zirkusse besichtigen können!« sagte Mrs. Gradgrind. »Ihr wißt so gut wie ich, daß Kinder keine Zirkuslehrer haben, oder Zirkusse in Kabinetts besitzen, oder über Zirkusse Lektionen anhören. Was könntet ihr also möglicherweise von den Zirkussen erfahren? Ihr habt sicherlich genug Beschäftigung, wenn euch darum zu tun wäre. Bei dem gegenwärtigen Zustand meines Kopfes könnte ich mich selbst der Namen von der Hälfte der Tatsachen nicht erinnern, die ihr euch zu merken habt.«

»Das ist es ja eben«, schmollte Luise.

»Sagt mir nicht, daß ist es ja eben; weil es dergleichen nicht sein kann«, sagte Mrs. Gradgrind. »Geht und treibt sogleich etwas Geographiologisches.« Mrs. Gradgrind war nicht gelehrter Natur und schickte ihre Kinder gewöhnlich mit diesem allgemeinen Befehle fort, um ihre Studien fortzusetzen.

Mrs. Gradgrinds Vorrat an Tatsachen befand sich wirklich im allgemeinen in einem jammervollen Zustand der Mangelhaftigkeit. Mr. Gradgrind war aber durch zwei Gründe bewogen worden, diese Dame zur ehelichen Würde zu erheben. Erstens gewährte sie als arithmetisches Problem die höchste Befriedigung, und zweitens war ihr jeder »Unsinn« fremd. Mit Unsinn bezeichnete er Phantasie; und es ist in der Tat wahrscheinlich, daß sie von jedem derartigen Makel ebenso frei war, als je ein menschliches Wesen, das nicht die höchste Stufe des Stumpfsinns erreicht hatte.

Der einfache Umstand, mit ihrem Mann und Mr. Bounderby sich allein zu befinden, war hinreichend, diese bewunderungswürdige Frau abermals zu betäuben, ohne daß sie mit einer andern Tatsache zusammengestoßen wäre. So starb sie abermals hin, und niemand bekümmerte sich um sie.

»Bounderby«, sagte Mr. Gradgrind, und rückte einen Stuhl an das Feuer, »Sie interessieren sich stets so sehr für meine Kinder – besonders für Luise – ich suche daher um gar keine Entschuldigung für meinen Ausspruch, daß diese Entdeckung mich tief kränkt. Ich habe mich (wie Sie wissen) der Ausbildung der Vernunft meiner Kinder systematisch gewidmet. Die Vernunft ist (wie Sie wissen) die einzige Naturgabe, die von der Erziehung ausgebildet werden sollte. Und doch dürfte folgendes aus dem heutigen unerwarteten Ereignis, so unbedeutend es an und für sich sein mag, deutlich werden: Es hat sich etwas in die Köpfe von Thomas und Luisen geschlichen, das bestimmt ist – oder vielmehr das es nicht ist – ja, ich wüßte mich nicht besser auszudrücken, als indem ich sage, das niemals bestimmt war, entwickelt zu werden und woran ihre Vernunft keinen Anteil hat.«2

»Es liegt gewiß nichts Vernünftiges darin, einen Haufen Vagabunden zu betrachten«, erwiderte Bounderby. – »Als ich selbst noch ein Vagabund war, wurde ich von niemandem mit Interesse betrachtet. Das weiß ich wohl.«

»Dann entsteht die Frage«, sagte der ausgezeichnet praktische Vater und heftete die Augen auf das Feuer, – »worin hat diese gemeine Neugier ihren Ursprung?«

»Ich will Ihnen sagen worin. In eitler Phantasie.«

»Ich will nicht hoffen«, sagte der ausgezeichnete Praktikus. »Ich muß indessen gestehen, daß diese Besorgnis mich auf dem Heimwege wirklich ergriffen.«

»In eitler Phantasie, Gradgrind«, wiederholte Bounderby. »Das ist höchst schädlich für jeden Menschen, und verflucht schädlich für ein Mädchen wie Luise. Ich würde Mrs. Gradgrind für meine derben Ausdrücke um Verzeihung bitten, wenn sie nicht wüßte, daß ich keine Bildung besitze. Wer bei mir Bildung erwartet, wird sich getäuscht finden. Ich habe keine gebildete Erziehung genossen.«

»Ob irgend«, sagte Mr. Gradgrind, mit den Händen in den Taschen und die höhlenartigen Augen auf das Feuer gerichtet, »ob irgendwer von den Lehrern oder der Dienerschaft ihnen etwas zugeflüstert hat? Ob Luise oder Thomas etwas gelesen haben mögen? Ob trotz aller Vorsichtsmaßregeln ein unnützes Märchenbuch seinen Weg ins Haus gefunden? Denn so etwas ist doch wahrlich gar seltsam und unbegreiflich bei Gemütern, die durch Regel und Norm von der Wiege auf praktisch ausgebildet wurden.«

»Halt!« rief Bounderby, der während der ganzen Zeit wie früher beim Feuer saß und auf demselben Stück Möbel in herzbrechender Demut zerflossen war. »Sie haben eines von den Kindern jener Landstreicher in der Schule?«

»Cecilie Jupe mit Namen!« sagte Mr. Gradgrind, seinen Freund einigermaßen betroffen anblickend.

»Nun halt!« rief Bounderby abermals. »Wie kam sie hierher?«

»Nun, Tatsache ist, daß ich das Mädchen gerade jetzt zum erstenmal gesehen. Sie kam eigens hierher mit der Bitte, aufgenommen zu werden, da sie nicht eigentlich zur Stadt gehört und – ja Sie haben recht, Bounderby, Sie haben recht.«

»Nun halt!« rief Bounderby nochmals. »Luise hat sie bei ihrer Ankunft gesehen?«

»Luise hat sie sicherlich gesehen; denn sie meldete mir noch das Gesuch. Aber Luise hat sie ohne Zweifel in Mrs. Gradgrinds Gegenwart gesehen.«

»Bitte, Mrs. Gradgrind«, sagte Bounderby, »was war vorgegangen?«

»Ach, ich arme Kranke!« erwiderte Mrs. Gradgrind. »Das Mädchen bedurfte der Schule und Mr. Gradgrind brauchte Mädchen für die Schule: da sagten Luise und Thomas beide, das Mädchen wünsche zu kommen und auch Mr. Gradgrind wolle, daß Mädchen kommen möchten. Wie war es da möglich, ihnen zu widersprechen, bei solchem Tatbestande?«

»Ich will Ihnen nun was sagen, Gradgrind«, rief Bounderby. »Jagen Sie das Mädchen geradezu aus der Schule und damit hat die Geschichte ein Ende.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

»Auf einmal abgetan!« sagte Bounderby, »war mein Wahlspruch von Kindheit auf. Als mir der Gedanke kam, von der Eierkiste und meiner Großmutter davonzulaufen, tat ich es auf der Stelle. Verfahren Sie ebenso. Probieren Sie es auf einmal.«

»Wollten Sie einen Gang machen?« fragte sein Freund. »Ich habe die Adresse des Vaters. Vielleicht hätten Sie nichts dagegen, mit mir nach der Stadt zu gehen.«

»Nicht das geringste«, sagte Mr. Bounderby, »da Sie es auf einmal abmachen wollen.«

Mr. Bounderby warf sich den Hut auf – er warf ihn immer auf, um sich als einen Mann darzustellen, der zu sehr damit beschäftigt war, sich emporzuschwingen, als daß er die Mode hätte studieren können, wie ein Hut aufzusetzen sei – und schlenderte, mit den Händen in der Tasche, in den Vorsaal.

»Ich trage nie Handschuhe«, pflegte er gewöhnlich zu sagen. »Ich hatte keine, als ich die Leiter emporklomm. Würde sonst nicht so hoch gestiegen sein.«

Als er, während Mr. Gradgrind hinaufging, um die Adresse des Vaters zu holen, einige Minuten in dem Vorsaal herumschlendernd zurückgeblieben war, öffnete er die Tür des Studierzimmers der Kinder. Er blickte in jenes helle, mit einer Fußbodendecke belegte Gemach, das ungeachtet seiner Bücher- und Schubladenschränke und seiner mannigfachen gelehrten und wissenschaftlichen Einrichtungen den heiteren Anblick einer Friseurstube gewährte. – Luise lehnte träge am Fenster und sah hinaus, ohne etwas zu sehen, während der kleine Thomas racheschnaubend beim Feuer stand. Adam Smith und Malthus,3 zwei jüngere Gradgrinds, waren bei einer Lektion aufgehoben, und die kleine Jane war, nachdem sie auf ihrem Gesicht vermittels Griffel und Tränen eine ziemliche Masse von feuchtem Pfeifenton fabriziert hatte, über einfachen Brüchen eingeschlafen.

»Ist schon abgemacht, Luise! Schon abgemacht, kleiner Thomas!« sagte Bounderby. »Ihr werdet es nicht wieder tun. Ich stehe gut dafür, daß Vater es vergessen wird. Nun, Luise, das ist einen Kuß wert, nicht wahr?«

»Sie können sich einen nehmen, Mr. Bounderby«, entgegnete Luise nach einer frostigen Pause, ging langsam durch das Zimmer und hob, während sie ihr Gesicht abwandte, ihre Wange zu ihm in unfreundlicher Weise empor.

»Immer mein Goldkindchen! Nicht wahr, das bist du doch, Luise?« sagte Mr. Bounderby. »Adjes, Luise!«

Er ging seines Weges, sie aber blieb an derselben Stelle stehen und rieb sich mit ihrem Taschentuche die Wange, die er geküßt hatte, bis sie feuerrot wurde. Fünf Minuten nachher tat sie noch immer dasselbe.

»Was treibst du denn, Luise?« warnte sie ihr Bruder in verdrießlichem Tone. »Du wirst dir ein Loch ins Gesicht reiben.«

»Du kannst die Stelle mit deinem Federmesser ausschneiden, Tom, wenn du willst. Es würde mich nicht weinen machen.«

  1. Malthus (1766-1834), Volkswirtschaftler, der die bekannten Theorien von der Überbevölkerung aufstellte.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Coketown, wohin die Herren Bounderby und Gradgrind sich jetzt begaben, war ein Triumph der Tatsächlichkeit. Es zeigte sich nicht mehr von Phantasie befleckt, als Mr. Gradgrind selbst. Laßt uns zuerst den Grundton zum Klingen bringen, Coketown, bevor wir in unserm Liede fortfahren.

Es war eine Stadt aus roten Ziegelsteinen, oder von Ziegelsteinen, die rot gewesen wären, wenn Rauch und Asche es gestattet hätten. So aber hatte die Stadt ein unnatürliches, schwarzrotes Aussehen, wie das gemalte Gesicht eines Wilden. Es war eine Stadt von Maschinen und hohen Rauchfängen, aus denen endlose Schlangen fort und fort emporwirbelten und niemals ein Ende nahmen. Dort befand sich auch ein schwarzer Kanal und ein Fluß, der mit einer übelriechenden Farbe purpurn dahinströmte.

Ungeheure Fabrikkasernen-Massen mit öden Fenstern ragten da. Den ganzen Tag hörte man Klirren und Beben. Einförmig fuhr der Stempel der Dampfmaschine auf und nieder, wie der Kopf eines Elefanten in melancholischem Wahnsinn. Diese Stadt enthielt große Straßen, die sich alle einander glichen, und viele kleine Straßen, die sich noch mehr glichen, bewohnt von Leuten, die sich ebenfalls gleich waren, die alle zu denselben Stunden ein- und ausgingen, mit demselben Tritt auf demselben Pflaster, um die nämliche Arbeit zu verrichten, bei denen jeder Tag dem von gestern und morgen gleichkam und jedes Jahr das Duplikat des vergangenen und des künftigen war.

Diese Eigenheiten von Coketown waren überhaupt von der Arbeit, durch die es lebte, unzertrennlich. In grellem Gegensatz dazu stehen jene Bequemlichkeiten des Lebens, die in der ganzen Welt beliebt sind, und die Annehmlichkeiten des Lebens, die an der Dame der Kultur und Gesellschaft, wir wollen gar nicht nachforschen, wieviel Anteil haben. Solch Wesen geselliger Lebensfreude könnte kaum ertragen, auch nur den Namen des erwähnten Ortes nennen zu hören. Der Rest der charakteristischen Eigenschaften war nicht sonderlich belangvoll; es waren folgende:

Man sah in Coketown nichts, was nicht streng arbeitsam war. Wenn die Bekenner einer Religion eine Kapelle daselbst bauten – wie die Bekenner von achtzehn Religionssekten es getan – so machten sie es zu einem frommen Parkhaus aus roten Ziegelsteinen, zuweilen mit einer Glocke (dies aber nur bei besondern Prachtexemplaren) in einem Vogelkäfig an der Spitze. Als einzige Ausnahme stand die neue Kirche da, ein mit Stuckarbeit versehenes Gebäude, mit einem vierkantigen Turm oberhalb des Tores. Dieser Turm endete in vier kurzen Zinnen, die wie geschmückte Stelzen aussahen. Alle öffentlichen Inschriften in der Stadt waren auf gleiche Weise mit harten Schriftzügen in Schwarz und Weiß ausgeführt. Das Gefängnis hätte das Krankenhaus und das Krankenhaus das Gefängnis abgeben können, das Rathaus hätte eins von beiden oder beides zugleich, oder sonst was immer sein können; und all das wegen der Ungereimtheit im Baustil.

Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen gaben sich in jedem wesentlichen Anblick der Stadt kund; und Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen in jedem nicht wesentlichen. Die Schule von M’Choakumchild war durchgehends Tatsache; die Zeichenschule war durchgehends Tatsache, und die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren lauter Tatsachen. Alles war auch Tatsache, von der Entbindungsanstalt bis zum Kirchhofe. Was man also nicht mit Zahlen beweisen und dartun konnte, daß es auf dem billigsten Markte zu kaufen und auf dem teuersten zu verkaufen war, das hatte keine Existenzberechtigung, das sollte niemals sein, bis zu aller Welt Ende, Amen.

Eine Stadt, die der Tatsächlichkeit so sehr geweiht und so siegreich in deren Aufrechterhaltung war, die gedieh natürlich in hohem Grade? – Nein, doch nicht, nicht besonders. Nicht? Du lieber Himmel!

Nein. Coketown ging aus seinen Schmelzöfen nicht in jeder Beziehung hervor wie Gold, das die Feuerprobe ausgehalten. Erstens waltete in dem Orte das verwirrende Geheimnis: Wer gehört zu den achtzehn Sekten? Mochte es tatsächlich Leute geben, die dazu gehörten – die Arbeiterklasse war jedenfalls nicht dabei. Es machte einen seltsamen Eindruck, wenn man am Sonntagmorgen durch die Straßen schritt. Dann sah man, wie wenige von diesen Leuten durch das barbarische Glockengeklimper, das Kranke und Nervenschwache zum Wahnsinn trieb, au»ihrem eigenen Viertel, aus ihrem eigenen engen Zimmer und von den Ecken ihrer eigenen Straße sich zum Gottesdienst gerufen fühlten. Da lungerten sie träge herum, glotzten auf den Kirchen- und Kapellengang hinüber, als auf ein Ding, mit dem sie durchaus nicht in Berührung standen.

Es war auch nicht der Fremde allein, der das wahrnahm. Es bestand nämlich eine einheimische Gesellschaft in Coketown selbst, dessen Mitglieder man bei jeder Session des Unterhauses mit Entrüstung um einen Parlamentsakt petitionieren hören konnte, damit man diese Leute mit Gewalt religiös machen könnte. Dann kam die Teetotal-Gesellschaft (einer Gesellschaft, die sich aller geistigen Getränke enthält), die sich darüber beschwerte, daß dieselben Leute sich betrinken könnten und durch tabellarische Übersichten zeigten, daß sie sich wirklich betranken. Sie bewiesen bei ihren Teesitzungen, daß keine Beweggründe, weder menschliche noch göttliche (ausgenommen ein Orden) sie dazu bewegen konnte, die Gewohnheit, sich zu betrinken, aufzugeben. Dann kam der Apotheker und Drogist mit andern tabellarischen Übersichten, durch die dargetan wurde, daß sie Opium nehmen würden, wenn sie sich nicht berauschten. Dann kam der erfahrungsreiche Kaplan des Gefängnisses, mit noch mehr tabellarischen Übersichten, die alle sonstigen tabellarischen Übersichten übertrafen. Darinnen zeigte er, daß dieselben Leute zu verrufenen, dem Auge der Welt versteckten Schlupfwinkeln ihre Zuflucht nähmen, wo sie gemeine Lieder hörten und unzüchtige Tänze sahen. Darinnen habe A. B., der nächstens seinen vierundzwanzigsten Geburtstag feiern würde, und der zu achtzehnmonatlicher, einsamer Haft verurteilt worden, sein Ruin begonnen. Das habe A. B. selbst gestanden, allerdings ohne besondere religiöse Ergriffenheit, und er sei der Überzeugung, daß er ohne solche Lasterlokale ein Musterbild der vorzüglichsten Moral geworden wäre.

Dann kamen zu dieser Reihe noch Mr. Gradgrind und Mr. Bounderby hinzu, die beide gerade Coketown durchschritten und beide ausgezeichnet praktisch waren. Sie konnten bei Gelegenheit noch mehr tabellarische Übersichten liefern, die sich auf ihre eigenen persönlichen Erfahrungen gründeten und mit Fällen, die sie sahen und kannten, belegt wurden. Aus diesen Erfahrungen ging natürlich klar hervor – kurz es war das einzig Klare in der Sache – daß eben diese Leute des arbeitenden Volkes insgesamt ein schlechtes Pack wären.

Was Sie, meine Herren, für diese Volksklasse tun würden, die betreffenden Kreise würden doch nie dafür dankbar sein, sie wären eben ein unruhiges Volk, meine Herren. Sie wüßten niemals, was ihnen eigentlich not tut. Sie müßten immer nur das Beste haben, frische Butter kaufen, auf Bohnenkaffe bestehen und nur das beste Fleisch genießen. Aber dabei wären sie doch immer und ewig unzufrieden und unlenksam.

Kurz, es war die Moral des Ammenmärchens.

Es war mal ’ne Alte, was mögt Ihr wohl denken?
Die hatte gelebt nur von Speis‘ und Getränken;
Nur Speis‘ und Getränke das hatt‘ sie zur Kost,
Doch nie war und nimmer die Alte bei Trost.

Ob wohl eine Ähnlichkeit zwischen dem Zustand der Bevölkerung von Coketown und dem der kleinen Gradgrinds obwaltete? Man braucht es wohl bei unserm nüchternen Verstand und bei unserer Zahlenkenntnis heutzutage uns nicht erst zu sagen, daß eins der Urelemente im Dasein der arbeitenden Klasse von Coketown mit Bedacht für viele Jahre unterdrückt wurde? – daß die belebende Freude der Phantasie in ihnen ruhte, daß sie gerne diese Phantasie gesund ausströmen und sich betätigen lassen wollten, statt sie krampfhafter Hysterie preiszugeben? Daß gerade in dem Verhältnis, wie man viel und einförmig arbeitete, das Verlangen nach einer farbig sinnhaften, körperlichen Erquickung rege ward: – Nach einer Erholung, die den Mut und gute Laune fördern sollte, um ihnen Luft zu machen – nach einem anerkannten Festtag, sei es auch nur für einen ehrsamen Tag bei einer rührigen Musikbande – nach einer einfachen Pastete, bei der selbst M’Choakumchild die Hand nicht im Spiel hatte. Solch Verlangen muß und wird Befriedigung erlangen, oder es wird unvermeidlich eine verkehrte Richtung annehmen, es sei denn, daß die Gesetze der Natur aufgehoben würden! –

»Jener Mensch hält sich in Pod’s End auf, und ich weiß nicht genau, wo Pod’s End ist«, sagte Mr. Gradgrind. »Wo ist es, Bounderby?«

Mr. Bounderby wußte, daß es irgendwo in dem untern Teile der Stadt liege; sonst hatte er keine Kenntnis davon. Sie standen daher eine Weile still und schauten sich um.

Währenddem kam gerade von der Straßenecke ein Mädchen mit raschen Schritten und furchtsamen Blicken herbeigelaufen, das von Mr. Gradgrind sogleich erkannt wurde.

»Hallo!« rief er. »Halt! Wohin gehst du? Halt!«

Mädchen Nummer Zwanzig blieb pochenden Herzens stehen und machte einen Knix.

»Was rennst du in den Straßen«, rief Mr. Gradgrind, »in dieser unschicklichen Weise umher?«

»Ich bin – ich bin verfolgt worden«, keuchte das Mädchen, »und ich wollte entwischen.«

»Verfolgt?« wiederholte Mr. Gradgrind. »Wer wird dich verfolgen?«

Die Frage ward durch den farblosen Knaben Bitzer rasch und unerwartet für sie beantwortet, indem er in solch‘ blinder Hast um die Ecke gelaufen kam und so wenig eine Hemmung auf dem Pflaster erwartete, daß er an Mr. Gradgrinds Weste anrannte und in die Straße zurückprallte.

»Was soll das heißen. Junge?« sagte Mr. Gradgrind. »Was treibst du? Wie wagst du es, gegen unsereinen in dieser Weise anzustoßen?«

Bitzer hob seine Mütze auf, die durch den Zusammenstoß auf die Erde geflogen war, trat zurück, fuhr mit den Knöcheln der Hand an die Stirn und gab als Entschuldigung an, daß dies ein Zufall sei.

»Hat dich dieser Knabe verfolgt, Jupe?« fragte Mr. Gradgrind.

»Ja, mein Herr«, sagte das Mädchen mit Sträuben.

»Nein, ich tat es nicht, mein Herr!« rief Bitzer. »Nicht ehe sie von mir weglief. Aber Kunstreiter scheren sich wenig um das, was sie sagen, mein Herr. Sie sind dafür berühmt. Du weißt, daß Kunstreiter dafür berühmt sind, sich nicht um das zu scheren, was sie sagen«, sagte er zu Cili gewendet. »Das ist so allgemein bekannt in der Stadt als – mit Erlaubnis, mein Herr – als die Multiplikationstabelle bei den Kunstreitern unbekannt ist.« Bitzer wollte Mr. Bounderby damit imponieren.

»Er erschreckte mich so sehr«, sagte das Mädchen, »mit den greulichen Fratzen, die er schnitt.«

»Oh«, rief Bitzer. »Oh! Bist nicht wie die andern? Bist nicht von den Kunstreitern? Ich habe sie nicht einmal angesehen, mein Herr. Ich fragte sie, ob sie morgen werde definieren können, was ein Pferd ist und bot mich an, es ihr nochmals zu sagen, und sie rannte davon und ich lief ihr nach, mein Herr, damit sie Bescheid wisse, wenn sie gefragt würde. Wenn du nicht zur Kunstreiterei gehörtest, so würdest du mit deiner Zunge nicht soviel Unheil anstiften.«

»Ihr Beruf scheint unter ihnen schon ziemlich bekannt zu sein«, bemerkte Mr. Bounderby. Sie werden es in einer Woche noch erleben, daß die ganze Schule scharenweise Zaungast sein wird.«

»Wahrlich, ich bin derselben Meinung«, entgegnete sein Freund. »Kehr‘ um, Bitzer, und pack‘ dich nach Hause. Jupe, bleib eine Weile hier. Laß mich noch einmal von dir hören, so davongerannt zu sein, Junge, und du wirst von mir durch den Schulmeister hören. Du verstehst, was ich meine. Marsch, fort!«

Der Knabe hielt in seinem raschen Blinzeln inne, fuhr abermals mit den Knöcheln der Hand an die Stirn, warf einen Blick auf Cili, drehte sich um und zog sich zurück.

»Nun, Mädchen«, jagte Mr. Gradgrind, »bringe mich und diesen Herrn zu deinem Vater. Wir wollen zu ihm gehen. Was hast du in der Flasche da?«

»Gin«, sagte Mr. Bounderby.

»Gott behüte, mein Herr! ’s ist Neunkraftöl.«4

»Was?« rief Mr. Bounderby.

»Neunkraftöl, mein Herr. Um Vater damit einzureiben.« Drauf Mr. Bounderby nach einem kurzen, lauten Gelächter: »Weshalb, zum Teufel, reibst du deinen Vater mit Neunkraftöl ein?«

»Unsere Leute gebrauchens immer, mein Herr, wenn sie sich in der Reitbahn beschädigen«, erwiderte das Mädchen, indem sie über ihre Achsel wegsah, um sich zu vergewissern, daß ihr Verfolger fort sei, »Sie beschädigen sich zuweilen sehr stark.«

»Geschieht ihnen recht«, sagte Mr. Bounderby, »da sie Müßiggänger sind.« Das Mädchen schaute ihm ins Gesicht mit einer Mischung von Staunen und Furcht.

»Beim heiligen Georg!« rief Mr. Bounderby, »als ich noch vier oder fünf Jahre jünger als du war, hatte ich ärgere Beulen aufzuweisen, als ein Zehn-, Zwanzig- oder Vierzigkraftöl hätte heilen können. Ich erhielt sie nicht durch Artistenkunststücke, sondern weil man mich tüchtig durchbläute. Für mich gab es kein Seiltanzen; ich tanzte auf dem bloßen Boden, wobei man mir mit dem Strick aufspielte.«

Mr. Gradgrind war, obgleich ziemlich hartherzig, durchaus nicht so roh wie Mr. Bounderby. Im ganzen betrachtet war seine Natur nicht herzlos. Sie hätte in der Tat sehr herzlich sein können, wenn er nur einmal ein einfaches Versehen in der Arithmetik begangen hätte, die ihm seit Jahren das Gleichgewicht hielt. Er sagte in einem, wie er meinte, beruhigenden Tone, während sie sich nach einer engen Straße zuwandten: »Das ist Pod’s End, Jupe, nicht wahr?«

»Das ist es, mein Herr – und mit Verlaub, mein Herr – das ist das Haus.«

Sie hielt in der Dämmerung vor der Tür eines armseligen, kleinen Wirtshauses, das von fahlen Lichtern erleuchtet war. Es sah so verstört und so jämmerlich aus, als ob es sich aus Mangel an Kunden selbst dem Trunk ergeben hätte, den Weg aller Trunkenbolde gegangen wäre und nun seinem Ende nahe sei.

»Brauchen nur an dem Schenktisch vorüber, mein Herr, und dann die Treppen hinauf. Bitte dann zu warten mit Verlaub, bis ich ein Licht bringe. Sollten Sie einen Hund hören, mein Herr, so wird es nur Merrylegs sein, der nur bellt.«

»Merrylegs und Neunkraftöl«, sagte Mr. Bounderby mit seinem metallenen Gelächter und trat zuletzt ein, »das klingt wunderhübsch für einen, der sich selbst aufgeschwungen!«

  1. nine oils, was eine Mixtur bedeutet, die aus neun Ölgattungen besteht. Sie wurde besonders in England gegen Beulen und Quetschungen benutzt, ist aber schon längst außer Gebrauch.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

Mr. Gradgrind schwebte von der Schule hochzufrieden nach Hause. Es war seine Schule, und er hatte sie zu einem Muster bestimmt. Er wollte aus jedem Kinde darin ein Muster machen – ganz wie die jungen Gradgrinds sämtlich Muster waren.

Es gab fünf junge Gradgrinds und jedes von ihnen war ein Muster. Sie waren von ihrem zartesten Alter an gehofmeistert worden: gehetzt wie junge Hasen. Beinahe seit sie allein laufen konnten, wurden sie angehalten, in die Schule zu laufen. Der erste Gegenstand, mit dem sie in Berührung kamen, oder von dem sie eine Erinnerung hegten, war eine große schwarze Tafel, woran ein garstiger Oger schreckliche weiße Figuren mit Kreide malte.

Nicht daß sie etwas von der Natur oder dem Namen Oger wußten. Bewahre die Tatsächlichkeit! Ich bediene mich nur des Ausdrucks, um ein Ungeheuer in einem pädagogischen Kastell zu bezeichnen, das mit einem, der Himmel weiß aus wie vielen Köpfen bestehenden Haupt die Jugend gefangennahm und sie bei den Haaren in die düsteren statistischen Höhlen schleppte.

Kein Junges von den Gradgrinds hat je ein Gesicht im Monde gesehen. Es war schon oben im Mond, ehe es noch deutlich sprechen konnte. Kein Junges von den Gradgrinds hat je das einfältige Reimgeklingel gelernt: O schimmre, schimmre kleiner Stern. Was du denn bist, wie wüßt‘ ich’s gern! es hat nie Bewunderung für diesen Gegenstand gehegt, da es schon mit fünf Jahren den großen Bären wie ein Professor Owen zergliedern und den Charles Wain wie ein Lokomotivführer treiben konnte. Kein Junges von Gradgrinds hat je eine Kuh auf dem Felde mit jener berühmten Kuh mit dem krummen Horn in Verbindung gebracht, die den Hund emporschleuderte, der die Katze erwürgte, die die Ratte tötete, die das Malz fraß, oder mit der noch berühmteren Kuh, die Tom Thumb verschlang. Es hatte nie von jenen Berühmtheiten vernommen und wurde mit der Kuh nur bekannt, als mit einem grasfressenden, wiederkäuenden, vierfüßigen Tier, das diverse Magen hatte.

Mr. Gradgrind lenkte seine Schritte seiner Wohnung der Tatsächlichkeit zu, die den Namen Stone Lodge (Steinhaus) führte. Er hatte sich der Wirklichkeit gemäß von seinem Großhandel mit Eisenwaren zurückgezogen, ehe er noch Stone Lodge baute und sah sich jetzt nach einer schicklichen Gelegenheit um, eine arithmetische Figur im Parlament auszumachen. Stone Lodge war in einem Marschlande innerhalb einer Meile oder zwei von einer großen Stadt gelegen, die in dem gegenwärtigen zuverlässigen Wegweiser den Namen Coketown (die Kohlenstadt) führt. Stone Lodge bildete eine ganz regelmäßige Figur auf der Fläche der Gegend. Kein einziger Gegenstand verdunkelte oder umschattete diese unnachgiebige Tatsache in der Landschaft. Ein großes vierkantiges Haus, dessen Hauptfenster von einem plumpen gewölbten Gang verdunkelt waren, wie die Augenbrauen seines Besitzers dessen Augen umdüsterten. Ein berechnetes, ausgeklügeltes, erwogenes und rekonstruiertes Haus war es. Sechs Fenster auf dieser Seite der Tür, sechs auf jener Seite; im ganzen zwölf auf diesem Flügel und im ganzen zwölf auf jenem Flügel; vierundzwanzig waren auf der Rückseite angebracht. Ein freier Rasenplatz und Garten samt einer jungen Allee, alles schnurgerade abgemessen, wie ein botanisches Register. Die Gasröhren und der Ventilator, die Abzugsgräben und die Wasserleitung, alles war von der vorzüglichsten Beschaffenheit. Eiserne Latten und Bindebalken, feuerfest von oben bis unten. Mechanische Hebemaschinen für die Hausmägde, mit ihren sämtlichen Bürsten und Besen – alles was das Herz begehren konnte.

Alles? Nun, ich nehme es an. Die kleinen Gradgrinds hatten auch Kabinette für verschiedene wissenschaftliche Fächer. Sie hatten ein kleines konchyliologisches Kabinett, ein kleines metallurgisches Kabinett und ein kleines mineralogisches Kabinett. Die Proben waren sämtlich geordnet und mit Zetteln versehen, und die Stücke Metall und Stein sahen aus, als ob sie von ihren verwandten Stoffen mit jenen erschrecklich harten Instrumenten – ihren eigenen Namen – abgelöst worden wären. Wenn nun, um die einfältige Legende von Peter Piper, der nie seinen Weg in ihre Kinderstube gefunden, zu umschreiben, die lüsternen jungen Gradgrinds nach mehr als alledem haschten, was war es, um Gottes Barmherzigkeit willen, wonach die lüsternen jungen Gradgrinds haschten!

Ihr Vater schritt in einer hoffnungsvollen, zufriedenen Gemütsstimmung aus. Er war nach seiner Weise ein zärtlicher Vater. Aber er würde sich wahrscheinlich (wenn er wie Cili Jupe um eine Definition befragt worden wäre) als einen »ausgezeichnet praktischen« Vater bezeichnet haben. Er setzte einen besonderen Stolz in die Redensart »ausgezeichnet praktisch«, was eine besondere Anwendung auf ihn zu haben schien. Was für Versammlungen jemals in Coketown abgehalten wurden und was deren Programm auch immer sein mochte, ganz gewiß ergriff bei einer solchen ein Coketowner die Gelegenheit, auf seinen ausgezeichnet praktischen Freund Gradgrind anzuspielen. Das fand immer den Beifall des ausgezeichnet praktischen Freundes. Er wußte, daß so etwas ihm gebührte; auch war ihm diese Gebühr angenehm.

Er hatte den neutralen Boden außerhalb des Weichbildes der Stadt erreicht, der weder Stadt noch Land war, und doch war eins von beiden beeinträchtigt, als der Klang von Musik an seine Ohren scholl. Die schmetternde und lärmende Bande, die zu der Kunstreitergesellschaft gehörte, und die seit einiger Zeit sich in dem hölzernen Pavillon daselbst niedergelassen hatte, war in vollem Zug. Eine Fahne, die von der Spitze des Tempels flatterte, verkündigte der Menschheit, daß es »Slearys Reitertruppe« sei, die auf ihren Beifall Anspruch erhebe.

Sleary selbst, eine derbe, moderne Statue, mit einer Geldbüchse am Ellbogen, in einer kirchlichen Nische von altertümlicher gotischer Bauart, nahm das Geld. Miß Josephine Sleary weihte damals, wie einige sehr lange und sehr schmale Streifen von Ankündigungszetteln anzeigten, die Belustigungen mit ihrem anmutigen Reiterkunststück des Tiroler Blumentanzes ein.

Unter den sonstigen angenehmen, aber stets höchst moralischen Wundern, die gesehen werden müssen, um geglaubt zu werden, sollte Signor Jupe an jenem Nachmittag »die ergötzlichen Fertigkeiten seines ausgezeichnet dressierten und sich produzierenden Hundes Merrylegs erläutern«. Er sollte ferner vorführen »sein Erstaunen erregendes Kunststück, 75 Zentner in hastiger Aufeinanderfolge rückwärts über den Kopf zu schleudern, und auf diese Weise einen Springbrunnen von festem Eisen inmitten der Luft zu bilden: ein Kunststück, das weder in diesem, noch in einem andern Lande je versucht worden, und das, nachdem es einen so entzückenden, stürmischen Beifall unter den begeisterten Massen hervorgerufen, dem Publikum nicht vorenthalten werden darf. Derselbe Signor Jupe sollte in häufigen Zwischenräumen »die verschiedenartigen Darstellungen mit seinen keuschen Shakespeareschen Stichelreden und Neckereien beleben«. Schließlich sollte er sie dadurch in Spannung versetzen, daß er in der »funkelnagelneuen und drolligen Hippokomedietta des Schneiders Reise nach Brentford, in seiner Lieblingsrolle des Mr. William Button von Tooly Street, erschien«.1

Thomas Gradgrind beachtete diese Trivialitäten, wie es sich von selbst versteht, nicht im geringsten, sondern ging vorüber, wie ein praktischer Mensch vorübergehen sollte, die lärmenden Insekten entweder von seinen Gedanken verscheuchend oder sie dem Zuchthaus überliefernd. Die Wendung der Straße führte ihn aber an der Rückwand der Bude vorüber, und an der Rückwand der Bude eine Menge von Kindern in einer Menge von merkwürdigen Verrenkungen beisammen und war bestrebt, die verborgenen Wunder des Platzes zu begaffen.

Das brachte ihn zum Stehen. »Nun sehe einer einmal diese Vagabunden«, sagte er, »wie sie das junge Pack aus einer Musterschule anlocken.«

Da ein Raum von niedergetretenem Gras und trockenem Schutt sich zwischen ihm und dem jungen Pack befand, so zog er seine Brille aus der Tasche, um nach einem Kinde zu sehen, das er bei Namen kannte und fortrufen könnte. Ein fast unglaubliches, obwohl deutlich wahrgenommenes Phänomen – was mußte er denn erblicken, als seine eigene bleichsüchtige Luise, die mit aller Gewalt durch ein Loch in einem Dielenbrett guckte, und seinen eigenen mathematischen Thomas, der sich auf dem Boden niederkauerte, um nur einen Huf von dem anmutigen Reiterkunststück des Tiroler Blumentanzes zu erhaschen!

Stumm vor Bestürzung schritt Mr. Gradgrind zu der Stelle, wo seine Familie sich so sehr entwürdigte, legte seine Hand auf jedes der sündigen Kinder und sagte: »Luise! Thomas!«

Beide erhoben sich, rot und außer Fassung. Luise blickte jedoch zu ihrem Vater mit mehr Kühnheit als Thomas empor. Thomas sah ihn in der Tat gar nicht an, sondern ließ sich ruhig wie eine Maschine nach Hause bringen.

»Im Namen des Erstaunens, des Müßiggangs und der Torheit«, sagte Mr. Gradgrind, indem er jedes mit einer Hand wegführte, »was macht ihr hier?«

»Wollten sehen, wie das Ding ausschaut«, erwiderte Luise kurz.

»Wie das Ding ausschaut?«

»Ja, mein Vater.«

In beiden war die Miene unterdrückter Hartnäckigkeit ausgeprägt, besonders aber in dem Mädchen. Trotzdem glühte da ein Leuchten im Auge und brach sich durch die Unzufriedenheit ihres Gesichtes Bahn, ein Leuchten, das keine Ruhe kannte, ein Feuer, das keinen Nahrungsstoff vorfand, eine verkommene Phantasie, die auf irgendeine Weise Leben in sich erhielt. Dies Feuer war es, das dem Leben in dieser Seele Glanz verlieh. Nicht den Glanz, der der fröhlichen Jugend so eigen, sondern den mit unsteten, heftigen und ungewissen Flammen, die etwas Schmerzliches in sich haben, ähnlich den Zuckungen eines blinden Gesichtes, das nach dem Wege umhertappt.

Sie war jetzt noch ein Kind von fünfzehn oder sechszehn Jahren, dürfte sich aber in kurzem plötzlich zur Jungfrau entfalten. Ihr Vater war dieser Meinung, als er sie anblickte. Sie war hübsch. Würde eigensinnig gewesen sein (dachte er in seiner ausgezeichnet praktischen Weise), wenn es die Erziehung nicht verhindert hätte.

»Thomas, obgleich die Tatsache vor mir liegt, kann ich es doch kaum glauben, daß du mit deiner Erziehung und deinen Hilfsmitteln, deine Schwester zu einem derartigen Schauplatz gebracht haben solltest.«

»Ich brachte ihn, Vater!« sagte Luise rasch. »Ich bat ihn mitzukommen.«

»Es tut mir leid, das zu hören. Es tut mir in der Tat sehr leid, das zu hören. Es macht Thomas darum nicht besser und macht dich nur schlechter, Luise.«

Sie blickte abermals zu ihrem Vater empor, aber keine Träne benetzte ihre Wangen.

»Du, Thomas, und du, denen der Kreis der Wissenschaften geöffnet ist, Thomas und du, die ihr sozusagen mit Tatsachen angefüllt seid, Thomas und du, die ihr zur mathematischen Genauigkeit erzogen wurdet, Thomas und du hier!« rief Mr. Gradgrind. »In dieser entwürdigenden Lage! Ich bin ganz bestürzt!«

»Ich habe es satt, Vater. Ich habe es seit langem satt gehabt«, sagte Luise.

»Satt gehabt? Was?« fragte der erstaunte Vater.

»Ich weiß nicht was – ich glaube all und jedes.«

»Sag mir keine Antwort mehr«, entgegnete Mr. Gradgrind. »Du bist kindisch. Ich will nichts mehr hören.«

Er sprach nicht wieder, bis sie ungefähr eine halbe Meile stillschweigend gegangen waren, als er auf einmal losbrach: »Was würden deine besten Freunde sagen, Luise? Legst du auf ihre gute Meinung keinen Wert? Was würde Mr. Bounderby sagen?«

Bei der Nennung dieses Namens warf seine Tochter einen verstohlenen Blick auf ihn, der wegen seiner heftigen und forschenden Beschaffenheit merkwürdig war. Er merkte nichts davon; denn ehe er sie anblickte, hatte sie ihre Augen wieder auf den Boden geheftet.

»Was«, wiederholte er gleich darauf, »was würde Mr. Bounderby sagen?«

Während des ganzen Weges nach Stone Lodge wiederholte er in Zwischenräumen, während er die beiden Verbrecher nach Hause führte:

»Was würde Mr. Bounderby sagen?«

Als ob Mr. Bounderby Mrs. Grundy gewesen wäre!

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Mr. James Harthouse verbrachte eine ganze Nacht und einen Tag in einem Zustande so großer Aufregung, daß die »Welt«, mit ihrem besten Glas im Auge, während dieser seiner Geistesabwesenheit schwerlich in ihm den Bruder Jem des ehrenwerten und witzigen Parlamentsmitgliedes erkannt haben würde. Er war wirklich aufgeregt. Er sprach verschiedene Male mit einem Nachdruck, der fast an den Ausdruck der gewöhnlichen Sterblichen grenzte. Er ging hin und her in einer unerklärlichen Weise, wie ein Mann, der von einem Gegenstande besessen ist. Er ritt wie ein Straßenräuber. Mit einem Worte, er war von den obwaltenden Umständen so gelangweilt, daß er vergaß, in der von den Autoritäten vorgeschriebenen Weise auf die Langeweile auszugehen.

Nachdem er sein Pferd durch das Unwetter nach Coketown gepeitscht, als wenn es ein Katzensprung wäre, brachte er die ganze Nacht wachend zu; von Zeit zu Zeit mit der größten Heftigkeit klingelnd, den Hotelportier, der Wache hielt, mit dem Verbrechen belastend, Briefe oder Bestellungen zurückzuhalten, die ohne Zweifel für ihn hinterlassen worden seien. Er müsse sie auf der Stelle haben. Da der Abend kam und der Morgen kam und der Tag kam und weder eine Botschaft noch einen Brief brachte, so begab er sich wieder nach dem Landhause. Hier war der Rapport: Mr. Bounderby verreist und Mrs. Bounderby in der Stadt. Sie sei vergangenen Abend plötzlich dahin abgereist. Man hatte dies erst durch einen Brief aus der Stadt erfahren, der besagte, daß sie in Bälde nicht zurückkehren werde.

Unter diesen Umständen blieb ihm nichts übrig, als ihr in die Stadt zu folgen. Er ging nach dem Haus in der Stadt. Mrs. Bounderby nicht da. Er sprach bei der Bank vor. Mrs. Bounderby nicht da und Mrs. Sparsit nicht da. Mrs. Sparsit nicht da? Wer konnte so ursprünglich zur äußersten Verzweiflung getrieben worden sein, daß er sich ausgerechnet die Gesellschaft dieses Drachen suchte?

»Nun, ich weiß es nicht«, sagte Tom, der seine eigenen Gründe hatte, sich hierüber unbehaglich zu fühlen. »Sie ist diesen Morgen bei Tagesanbruch irgendwohin aufgebrochen. Sie ist immer geheimnisvoll, ich hasse sie. Ja, ich hasse ebenfalls das bleiche Gesicht des Laufburschen. Der hat auch immer seine blinzelnden Augen auf einem braven Kerl.«

»Wo wart ihr gestern abend, Tom?«

»Wo war ich gestern abend!« antwortete Tom. »Sieh‘ doch, so habe ich es gern. Ich wartete auf Euch, Mr. Harthouse, bis es vom Himmel herabgoß, wie ich es nie zuvor habe herabgießen sehen. Wo war ich auch? Wo waret Ihr, wollt Ihr sagen?«

»Ich war verhindert zu kommen – abgehalten.«

»Abgehalten!« murrte Tom. »Zwei von uns waren abgehalten. Ich war durch Warten abgehalten, bis ich jeden Zug, ausgenommen die Postkutsche, verpaßt hatte. Es würde eine ganz ergötzliche Partie gewesen sein, mit der Postkutsche in einer solchen Nacht zurückzurumpeln und durch einen Sumpf heimzuwaten. Kurz, ich mußte in der Stadt schlafen.«

»Wo?«

»Wo? Nun, in meinem eigenen Bette bei Bounderbys.«

»Saht Ihr Eure Schwester?«

»Was zum Kuckuck!« antwortete Tom, mit starrer Verwunderung, »konnte ich meine Schwester sehen, wenn sie fünfzehn Meilen weit entfernt war?«

Mr. Harthouse verwünschte innerlich die raschen Antworten des jungen Herrn. Dann wand er sich von dieser Zusammenkunft so harmlos wie möglich los und überlegte zum hundertsten Male, was das alles bedeuten sollte? Es wurde ihm nur eins klar. Das war, daß sie entweder in der Stadt oder auswärts sich befinde, daß er entweder zu schnell mit ihr, der Unbegreiflichen, gewesen, oder sie den Mut verloren hatte, oder daß sie entdeckt, oder daß ein zur Zeit noch unbekanntes Unglück oder Mißverständnis passiert war, und daß er diesem Unglücke entgegengehen müsse, worin es auch bestehe. Das Hotel, in dem er bekanntlich lebte, seitdem er zu diesem Lande der Finsternis verurteilt, war der Pfahl, an den er sich gebunden fühlte. Im übrigen – was sein wird, wird sein.

Mag ich nun eine Forderung oder eine Bestellung, oder eine bußfertige Vorstellung, oder eine Tracht Prügel aus dem Stegreif mit meinem Freunde Bounderby in der Lancashirer Manier zu erwarten haben, was ja wahrscheinlich bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge eintreten dürfte: »Auf jeden Fall will ich erst einmal dinieren« sagte Mr. James Harthouse. »Bounderby wiegt schwerer als ich, und wenn etwas echt Britisches zwischen uns vorgefallen sein sollte, so wäre es gut, ein wenig vorbereitet zu sein.«

Darauf klingelte er, warf sich nachlässig auf ein Sofa, beorderte »ein Diner um sechs – mit einem Beefsteak dabei«, und brachte die Zwischenzeit so gut hin, wie er konnte. Das gelang ihm aber nicht sehr gut; denn er verblieb in der größten Ratlosigkeit, und als die Stunden vergingen und keine Art der Aufklärung sich zeigen wollte, so vermehrte sich seine Ratlosigkeit mit Zinseszinsen.

Aber er nahm die Angelegenheit so kühl wie nur immer möglich und amüsierte sich immer wieder bei der lustigen Idee des erwarteten Boxkampfes und des Trainings dazu. »Es würde nicht übel sein«, gähnte er in einem Augenblick, »dem Kellner fünf Schilling zu geben und mit ihm loszuboxen. Es kam ihm die Idee: »Oder ein Kerl von beiläufig über zwei Zentnern könne stundenweise gemietet werden.« Aber diese Scherze verrieten an diesem Nachmittag nichts, als seine Unruhe; und, um die Wahrheit zu sagen, er langweilte sich fürchterlich.

Es war unvermeidlich, selbst vor dem Essen, noch oft dem Muster des Fußteppichs nach zu lustwandeln, aus dem Fenster zu sehen, an der Tür nach Fußtritten zu horchen, und gelegentlich ziemlich heiß zu werden, wenn sich dem Zimmer Tritte näherten. Aber nach dem Essen, als der Tag sich im Zwielicht auflöste und das Zwielicht in Nacht und er noch immer keine Aufklärung erhielt, war es ihm, wie er sagte, zumute, wie bei einer Inquisition mit anschließender »sanfter« Tortur. Jedoch, immer treu seiner Überzeugung, daß Snobismus die wahrhafte vornehme Lebensart sei (das war die einzige Überzeugung, die er hatte) benutzte er diese Krisis als passende Gelegenheit, Licht und Zeitung zu bestellen.

Er hatte eine halbe Stunde lang vergebens sich abgemüht, diese Zeitung zu lesen, als der Kellner erschien und geheimnisvoll und entschuldigend zugleich, sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Man verlangt nach Ihnen, wenn Sie es erlauben.«

Eine vage Erinnerung, daß dies die gewöhnliche Formel sei, welche die Polizei gegen ihre unfreiwilligen Klienten anwendet, veranlaßte Mr. Harthouse, den Kellner trotzig entrüstet zu fragen, was zum Teufel er mit dem »verlangt« sagen wolle.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Eine junge Dame draußen wünscht Sie zu sprechen.«

»Draußen? Wo?«

»Hier vor der Tür, Sir.«

Mr. Harthouse wünschte den Kellner in aller Form zum Teufel, wohin er als Dummkopf erster Größe gehöre, und eilte dann auf den Gang. Hier stand ein junges Frauenzimmer, das er nie zuvor gesehen hatte. Einfach gekleidet, sehr ruhig, sehr hübsch. Als er sie in das Zimmer führte und einen Stuhl für sie hinstellte, bemerkte er beim Lichtschein, daß sie noch schöner war, als er anfangs gedacht. Ihre Erscheinung war unschuldig und jugendlich, und ihr Gesichtsausdruck außerordentlich angenehm. Sie zeigte keine Furcht vor ihm, noch die geringste Verwirrung; ihr Sinn schien ganz mit der Aufgabe ihres Besuches beschäftigt, und diese Aufgabe schien sie an die Stelle ihrer Person gesetzt zu haben.

»Ich spreche mit Mr. Harthouse?« sagte sie, als sie allein waren.

»Mit Mr. Harthouse. Und zwar«, fügte er innerlich hinzu, »reden Sie ihn an mit den vertrauensvollsten Augen, die ich je gesehen, und der schlichtesten und ruhigsten Stimme, die ich je gehört habe.«

»Wenn ich auch nicht weiß – und ich weiß es wirklich nicht, Sir –« sagte Cili, »was Sie Ihre Ehre als Gentleman in andern Fällen tun heißt«, das Blut stieg ihm ins Gesicht, als sie mit diesen Worten begann: »so bin ich doch überzeugt, daß ich darauf vertrauen kann, Sie werden meinen Besuch und was ich zu sagen habe, geheimhalten. Ich will mich darauf verlassen, wenn Sie mir sagen, daß ich Ihnen so weit vertrauen darf.«

»Sie dürfen es, ich versichere Sie.«

»Ich bin jung, wie Sie sehen; ich bin allein, wie Sie sehen. Ich komme zu Ihnen, Sir, ohne einen andern Rat oder eine andere Ermunterung als meine Hoffnung.«

Er dachte: »Aber das ist doch sehr stark«, als er dem momentan erhobenen Blick ihrer Augen folgte. Er meinte außerdem: »Das ist ein sehr seltsames Beginnen. Ich sehe nicht, wo das hinaus will.«

»Sie haben wohl schon erraten«, fuhr Cili fort, »von wem ich eben komme?«

»Während der letzten vierundzwanzig Stunden (die mir wie ebenso viele Jahre erschienen sind) habe ich mich in der größten Aufregung und Unruhe um eine Dame befunden. Die Hoffnung, die ich zu hegen wage, daß Sie von dieser Dame kommen, täuscht mich nicht, wie ich vertrauensvoll annehme.«

»Ich verließ sie vor einer Stunde.«

»In –?«

»In dem Haus ihres Vaters.«

Mr. Harthouses Gesicht verlängerte sich, trotz seines kühlen Wesens, und sein Erstaunen wuchs. »Dann sehe ich ganz gewiß nicht«, dachte er, »wohin das führen soll.«

»Vergangene Nacht eilte sie dorthin. Sie kam da in großer Aufregung an und war die ganze Nacht hindurch ohne Bewußtsein. Ich lebe in dem Haus ihres Vaters und war bei ihr. Sie können sich darauf verlassen, Sir, Sie werden sie nie wieder sehen, so lange Sie leben.«

Mr. Harthouse holte tief Atem. Wenn sich je ein junger Mann in der Lage befand, daß er nicht wußte, was er sagen sollte, so war dies ohne alle Frage bei ihm der Fall. Die kindliche Offenheit, mit der seine Besucherin sprach, ihre bescheidene Furchtlosigkeit, ihr ungekünsteltes Vertrauen, ihr gänzliches Selbstvergessen in ihrem ernsten, ruhigen Verhalten bei der Aufgabe, um derentwillen sie gekommen war; alles das, zusammengenommen mit ihrem Vertrauen auf sein leichthin gegebenes Versprechen – das ihn in seinem Innern beschämte – stellte sich ihm als etwas dar, worin er so unerfahren war, und woran seine gewöhnlichen Waffen so ohnmächtig abprallen mußten, daß er nicht ein Wort zu seiner Hilfe aufzubieten vermochte.

Endlich sagte er:

»Eine so überraschende Nachricht, so vertrauensvoll gegeben und von solchen Lippen, ist fürwahr im höchsten Grade entmutigend. Darf ich mich erkundigen, ob Sie von der fraglichen Dame beauftragt sind, mir diese Mitteilung in solchen hoffnungslosen Worten zu machen?«

»Ich habe keinen Auftrag von ihr.«

»Der Versinkende klammert sich an einen Strohhalm. Ohne Mißachtung Ihres Urteils und ohne Zweifel an Ihre Aufrichtigkeit bitte ich es zu entschuldigen, wenn ich mich zu der Ansicht neige, es sei noch Hoffnung vorhanden, daß ich nicht zu einer immerwährenden Verbannung vom Antlitz dieser Dame verurteilt bin.«

»Nicht die leiseste Hoffnung bleibt übrig. Der erste und hauptsächlichste Zweck meines Kommens, Sir, ist, Sie zu der Überzeugung zu bringen, es sei nicht mehr Hoffnung vorhanden, sie je wieder zu sprechen, als wenn sie im Augenblicke, wo sie gestern abend ins elterliche Haus trat, gestorben wäre.«

»Überzeugung? Aber wenn ich nun nicht kann – oder wenn ich bei der Schwachheit der menschlichen Natur halsstarrig bin – und nicht will?«

»Es ist dennoch wahr. Da ist keine Hoffnung.«

James Harthouse blickte sie an mit einem ungläubigen Lächeln um seine Lippen. Aber an ihrem durchdringenden Blicke wurde sein Lächeln zuschanden.

Er biß sich in die Lippen und nahm sich etwas Zeit zur Überlegung. »Gut, wenn es unglücklicherweise der Fall sein sollte«, sagte er, »daß ich zu einer so trostlosen Lage, wie diese Verbannung, gebracht bin, so werde ich die Dame nicht mit meiner Gegenwart behelligen. Aber sie sagten, Sie haben keine Vollmacht von ihr?«

»Ich habe einzig und allein die Vollmacht meiner Liebe für sie, und ihrer Liebe für mich. Ich habe keine andere Beglaubigung, als daß ich seit ihrer Heimkunft bei ihr gewesen, und daß sie mir ihr Vertrauen geschenkt hat. Ich habe keine andere Beglaubigung, als daß ich etwas von ihrem Charakter und von ihrer Ehe kenne. O! Mr. Harthouse, ich dächte, Sie könnten das auch zur Grundlage Ihrer Überzeugung machen!«

In der Höhle, wo sein Herz hätte sein sollen – in diesem Neste verdorbener Eier, wo die Vögel des Himmels hätten leben können, wenn sie nicht hinweggescheucht worden wären – wurde er von dem Stachel dieses Vorwurfes getroffen.

»Ich gehöre nicht zu der moralischen Menschensorte«, sagte er, »und ich habe niemals Anspruch auf derartige Eigenschaften gemacht. Ich bin so unmoralisch, wie es sich gehört. Wenn ich auf der andern Seite jedoch der Dame, die der Gegenstand unserer Unterhaltung ist, irgendwelche Unannehmlichkeiten bereitet oder sie unglücklicherweise kompromittiert, oder wenn ich mich selbst durch irgendeine Preisgabe von Gefühlen gegen sie vergangen habe, die nicht ganz vereinbar sind mit – in der Tat mit – dem häuslichen Herd. Oder wenn ich es zu benutzen suchte, daß ihr Vater eine Maschine, ihr Bruder ein Bengel und ihr Gatte ein Bär ist; so bitte ich mir die Versicherung zu gestatten, daß ich keine besonders üblen Absichten hatte, sondern von einer Stufe zur andern mit so unwiderstehlicher Leichtigkeit glitt, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte, das Sündenregister sei halb so lang, bis ich es durchzublättern begann. Wo ich denn finde«, schloß Mr. Harthouse, »daß es mehrere Bände stark ist.«

Obgleich er alles das in seiner frivolen Weise sagte, so war seine Art dabei diesmal doch bewußte Politur einer häßlichen Oberfläche. Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er mit mehr Unbefangenheit, jedoch mit Zügen von Unruhe und Mißvergnügen, die sich nicht ganz glätten lassen wollten, fort:

»Nach dem, was mir eben vorgestellt worden ist, in einer Weise, in die ich unmöglich Zweifel setzen kann – ich kenne kaum eine andere Quelle, von der ich es so bereitwillig angenommen hätte –, fühle ich mich verbunden. Ihnen, die Sie Ihrer Aussage nach mit dem Vertrauen beschenkt worden sind, folgendes zu sagen: Ich muß mich zu der Möglichkeit verstehen (so unerwartet sie auch kommt), die Dame nicht wieder zu sehen. Ich bin lediglich zu tadeln, daß ich die Sache habe so weit kommen lassen – und – und, ich kann nicht sagen«, fügte er mit einem pathetischen Redeschluß verlegen hinzu, »daß ich eine besondere Hoffnung darauf setze, jemals ein Kerl von der moralischen Sorte zu werden, oder daß ich überhaupt irgendwelchen Glauben an besagte moralische Sorte habe.«

Cilis Miene zeigte zur Genüge, daß sie mit ihrer Forderung an ihn noch nicht zu Ende sei.

»Sie sprachen«, resümierte er, als sie ihre Augen von neuem zu ihm aufschlug, »von Ihrem ersten Zweck. Darf ich annehmen, daß noch ein zweiter zu besprechen ist?«

»Ja.«

»Wollen Sie ihn mir bitte mitteilen?«

»Mr. Harthouse«, erwiderte Cili, mit einer Mischung von Güte und Festigkeit, vor der er ganz erlag, und mit einem einfachen Vertrauen in seine Verpflichtung, ihr Verlangen zu erfüllen, das ihn in einem eigentümlichen Nachteil hielt, »die einzige Genugtuung, die Ihnen zu geben übrigbleibt, ist, diesen Ort sofort und für immer zu verlassen. Ich habe die feste Überzeugung, daß Sie auf keine andere Weise das Unrecht und den Kummer, den Sie verursacht haben, mildern können. Ich habe die bestimmte Überzeugung, daß dies die einzige Möglichkeit, wieder gutzumachen, ist, die Sie noch haben. Ich sage nicht, daß es viel, oder daß es genug ist; aber es ist etwas und es ist notwendig. Ich bin durch nichts anderes zu dem Schritt ermächtigt, als was ich Ihnen schon angegeben habe. Niemand außer mir weiß darum, und so fordere ich Sie auf, noch diese Nacht von hier abzureisen, und zwar mit der Verpflichtung, nie wiederzukommen.«

Hätte sie ihn durch irgend etwas anderes als durch ihr schlichtes Vertrauen auf das Recht und die Wahrheit dessen, was sie sagte, zwingen wollen, hätte sie die geringste Unsicherheit oder Unentschlossenheit gezeigt, oder hätte sie in der besten Absicht einen Hintergedanken oder Vorwand beherbergt, hätte sie im mindesten das Lächerliche oder Erstaunliche der Lage, in die sie sich begeben, empfunden, oder wäre sie seinem etwaigen Widerspruch zugänglich gewesen – so hätte er sie darin schlagen können. Aber er würde ebenso leicht imstande gewesen sein, einen klaren Himmel zu verändern dadurch, daß er ihn erstaunt betrachtete, als hier einen Effekt zu machen.

»Aber kennen Sie«, fragte er ganz verzweifelt, »die Tragweite dessen, was Sie verlangen? Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß ich in einer öffentlichen Geschäftsangelegenheit hier bin, abgeschmackt genug an und für sich, aber auf die ich eingegangen bin und geschworen habe, und der man mich mit Leib und Seele ergeben glaubt? Sie wissen wahrscheinlich nichts davon, aber ich versichere Sie, daß es eine Tatsache ist.«

Er brachte keine Wirkung auf Cili hervor, Tatsache oder nicht Tatsache.

»Außerdem«, sagte Mr. Harthouse, indem er einmal oder zweimal im Zimmer auf und ab ging, »ist es so verteufelt absurd. Es würde einen Mann so lächerlich machen, nachdem er einmal für diese Kerls eingetreten ist, in solch unbegreiflicher Weise auszukneifen.«

»Es ist meine feste Überzeugung«, wiederholte Cili, »daß es die einzige Sühne ist, die noch in ihrer Macht liegt. Das ist meine feste Überzeugung, oder ich würde nicht hierhergekommen sein.«

Er blickte in ihr Gesicht und ging von neuem im Zimmer umher.

»Bei meiner Seele, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. So ungeheuer absurd.«

Es war jetzt an ihm die Reihe, sich Verschwiegenheit auszubedingen.

»Wenn ich imstande wäre, etwas so wahrhaft Lächerliches zu tun«, sagte er, indem er augenblicklich wieder stockte und sich gegen das Kamingesimse lehnte, »so könnte es nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dem ich vertrauen könnte, geschehen.«

»Ich werde Ihnen vertrauen Sir«, erwiderte Cili, »und Sie werden mir vertrauen.«

Als er sich an den Kamin anlehnte, erinnerte er sich an den Abend mit dem Bengel. Es war ganz dasselbe Kamingesimse, und es regte sich etwas in ihm, als wenn er diesen Abend der Bengel wäre. Er wußte nicht, wo aus noch ein.

»Meiner Ansicht nach hat sich noch nie ein Mann in einer so lächerlichen Lage befunden«, sagte er, bald zur Erde, bald in die Luft blickend, bald lachend, bald die Stirne runzelnd, bald auf, bald nieder gehend. »Aber ich sehe keinen Ausweg. Was geschehen soll, wird geschehen. Dieses wird allem Vermuten nach geschehen. Ich muß mich aufmachen, denke ich – kurz, ich verpflichte mich, es zu tun.«

Cili erhob sich. Sie war durch das Resultat nicht überrascht, »Aber ich darf Ihnen sagen«, fuhr Mr. James Harthouse fort, »daß ich zweifle, ob ein anderer Abgesandter oder Gesandtin sich mit demselben Erfolg an mich gewendet haben würde. Ich muß mich nicht nur als in eine sehr lächerliche Lage Versetzter betrachten, sondern als in allen Punkten geschlagen. Wollen Sie mir die Gunst gewähren, mich an den Namen meiner Feindin zu erinnern?«

»Meinen Namen?« sagte die Gesandtin.

»Der einzige Name, den ich möglicherweise diesen Abend zu kennen Verlangen tragen könnte.«

»Cili Jupe.«

»Verzeihung für meine Neugier zum Abschied. Und in Beziehung zu der Familie?«

»Ich bin nur ein armes Mädchen«, antwortete Cili. »Ich wurde von meinem Vater getrennt – er war nur ein Artist – und aus Mitleid von Mr. Gradgrind aufgenommen. Seitdem habe ich immer in dem Hause gelebt.«

Sie war verschwunden.

»Das war nötig, um die Niederlage vollständig zu machen«, sagte Mr. James Harthouse, mit resignierter Miene auf das Sofa sinkend, nachdem er eine Weile wie angewurzelt dagestanden. »Die Niederlage kann jetzt als vollständig angesehen werden. Nur ein armes Mädchen – nur ein Artist – nur James Harthouse zunichte gemacht – nur James Harthouse, eine große Pyramide von Bankerott.«

Die große Pyramide setzte sich’s in den Kopf, den Nil hinauf zu gehen. Er nahm augenblicklich eine Feder und schrieb folgendes Billett (in geeigneten Hieroglyphen) an seinen Bruder.

»Lieber Jack. Alles aus in Coketown. Herausgelangweilt aus dem Neste und auf Kamele ausgehend. Mit Liebe, Jem.«

Er zog die Klingel.

»Schickt meinen Diener her.«

»Ist zu Bette gegangen, Sir.«

»Laßt ihn aufstehen und einpacken.«

Er schrieb noch zwei Billetts. Eines an Mr. Bounderby, das ihm meldete, daß er von hier fortgereist sei und mitteilte, wo er in den nächsten vierzehn Tagen zu finden wäre. Das andere, ähnlichen Inhalts, an Mr. Gradgrind. Kaum war die Tinte auf den Adressen trocken, so hatte er die hohen Schornsteine von Coketown hinter sich und saß in einem Eisenbahnwagen, gedankenlos über die finstere Landschaft hinträumend.

Die moralische Menschensorte dürfte vielmehr annehmen, daß Mr. James Harthouse später einige erbauliche Betrachtungen an seinen schnellen Rückzug geknüpft hätte, als eine der wenigen Handlungen seines Lebens, die einer Buße gleich sahen, und als Denkzeichen für ihn, einer sehr schlimmen Katastrophe glücklich entronnen zu sein. Aber dem war durchaus nicht so. Ein geheimes Bewußtsein, Fiasko gemacht zu haben und lächerlich geworden zu sein, eine Furcht, was andere Gesinnungsgenossen, die für ähnliche Dinge einträten, zu seiner Aufführung sagen möchten, wenn sie ihnen bekannt würde – lasteten so auf ihm, daß er gerade diese Leistung, die doch bis jetzt seine beste gewesen sein mochte, um keinen Preis als seine Tat anerkennen wollte, und daß dies das einzige Blatt in seiner Lebensgeschichte war, dessen er sich aufrichtig schämte.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Mit einem entsetzlichen Schnupfen, mit einer Stimme, die es nur noch zum Wispern brachte, und in ihrem stattlichen Nasengestell durch immerwährendes Niesen so erschüttert, daß eine Explosion zu drohen schien – jagte die unermüdliche Mrs. Sparsit ihrem Patron nach, bis sie ihn in der Hauptstadt fand. Hier segelte sie gravitätisch auf ihn zu in seinem Hotel in St. James Street, zündete die brennbaren Stoffe, womit sie geladen war, an und schoß los. Nachdem sie nun mit unendlicher Befriedigung ihre Mission erfüllt hatte, fiel dieses hochherzige Weib in Ohnmacht auf Mr. Bounderbys Rockkragen.

Mr. Bounderbys erste Prozedur war, Mrs. Sparsit abzuschütteln und es ihr zu überlassen, auf dem Boden so viel Stufen des Leidens zu durchlaufen, wie sie Lust hatte. Darauf nahm er seine Zuflucht zu kräftigen Wiederbelebungsmitteln, drehte ihre Daumen, rieb ihre Hände, begoß ihr Gesicht reichlich mit Wasser und steckte ihr Salz in den Mund. Als diese Aufmerksamkeiten sie wieder zu sich gebracht hatten (und sie taten das eiligst), schaffte er sie gewaltsam in einen Schnellzug, ohne ihr eine weitere Erfrischung anzubieten, und brachte sie mehr tot als lebendig nach Coketown zurück.

Als klassische Ruine betrachtet bot Mrs. Sparsit am Ende ihrer Reise ein interessantes Schauspiel. Aber in jeder anderen Beziehung war der Belauf des Schadens, den sie letzte Zeit erlitten hatte, außerordentlich und stimmte ihre Ansprüche auf Bewunderung herab. Ohne alle Rücksicht auf die klägliche Beschaffenheit ihrer Kleidung und Körperkonstitution, und trotz ihres pathetischen Niesens wurde sie von Mr. Bounderby unmittelbar in eine Kutsche gepackt und nach Stone Lodge befördert.

»Nun, Tom Gradgrind«, platzte Bounderby bei später Nacht in das Zimmer seines Schwiegervaters: »hier ist eine Dame, hier – Mrs. Sparsit – Ihr kennt Mrs. Sparsit – die Euch etwas zu sagen hat, was Euch verstummen lassen wird.«

»Ihr habt meinen Brief nicht erhalten!« rief Mr. Gradgrind, von dem Auftritt überrascht.

»Euren Brief nicht erhalten, Sir!« schrie Bounderby. »Gegenwärtig ist keine Zeit für Briefe. Niemand soll Josiah Bounderby von Coketown bei der Gemütsverfassung, in der er sich jetzt befindet, von Briefen sprechen.«

»Bounderby«, sagte Mr. Gradgrind mit dem Tone milder Vorstellung. »Ich spreche von einem ganz speziellen Brief, den ich Euch wegen Luise geschrieben habe.«

»Tom Gradgrind«, erwiderte Bounderby, indem er mehrere Wale mit flacher Hand heftig auf den Tisch schlug! »ich spreche von einem ganz speziellen Boten, der wegen Luise zu mir gekommen ist. Mrs. Sparsit, Ma’am, tretet vor!«

Als die unglückliche Lady hierauf versuchte, ihr Zeugnis abzulegen, ohne eine Spur von Stimme und mit schmerzlichen Gebärden ihre entzündete Kehle bekundend, verschlimmerte sich ihr Zustand so sehr und ihre Gesichtsverdrehungen wurden so arg, daß Mr. Bounderby, unfähig es langer zu ertragen, sie am Arm faßte und schüttelte.

»Wenn Ihr es nicht herausbringen könnt, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby, »so laßt es mich herausbringen. Das ist keine Gelegenheit für eine Dame, mag sie auch noch so hohe Verbindungen haben, um gänzlich heiser zu sein und sich zu stellen, als schlinge sie Kieselsteine. Tom Gradgrind, Mrs. Sparsit befand sich zufälligerweise kürzlich in der Lage, eine Unterredung außer dem Hause zwischen Eurer Tochter und Eurem liebenswürdigen Gentleman-Freund, Mr. James Harthouse, mit anzuhören.«

»In der Tat?« sagte Mr. Gradgrind.

»Jawohl! In der Tat!« schrie Bounderby. »Und in dieser Unterredung –«

»Es ist nicht nötig, ihren Inhalt zu wiederholen, Bounderby. Ich weiß, was vorging.«

»So? Vielleicht«, sagte Bounderby und starrte verwundert auf seinen so ruhigen und gefaßten Schwiegervater, »vielleicht wißt Ihr auch, wo Eure Tochter sich im gegenwärtigen Augenblicke befindet?«

»Ohne Zweifel. Sie befindet sich hier.«

»Hier?«

»Mein lieber Bounderby, ich bitte Euch, diese lauten Ausbrüche zu mäßigen, unter allen Umständen. Luise ist hier. Sobald sie sich von der Zusammenkunft mit der Person, von der Ihr sprecht und die ich aufrichtig bedaure, bei Euch eingeführt zu haben, losmachen konnte, eilte Luise hierher, um Schutz zu suchen. Ich selbst war erst wenige Stunden zu Hause gewesen, als ich sie hier in diesem Zimmer empfing. Sie eilte mit dem Eisenbahnzuge zur Stadt, lief von der Stadt in dieses Haus während eines rasenden Unwetters – und erschien hier vor mir in einem Zustand der Verzweiflung. Wie sich von selbst versteht, ist sie seitdem hier geblieben. Laßt Euch aber inständig ersuchen, um Euret- und ihretwillen, ruhiger zu sein.«

Mr. Bounderby starrte einige Augenblicke schweigend vor sich hin, nach jeder Seite, nur nicht nach der, wo sich Mrs. Sparsit befand; und dann sich plötzlich zur Nichte Lady Scadgers wendend, sagte er zu dieser unglücklichen Frau:

»Nun, Madame! Wir würden uns glücklich schätzen, wenn Sie es passend finden sollten, uns eine kleine Entschuldigung darüber hören zu lassen, warum Sie eine expresse Reise über Land unternehmen und kein anderes Gepäck mit sich führen als ein Altweibermärchen, Madame!«

»Sir«, flüsterte Mrs. Sparsit, »meine Nerven sind gegenwärtig zu sehr angegriffen und meine Gesundheit ist gegenwärtig zu sehr zerrüttet, und zwar in Ihrem Dienst, um mir etwas anderes zu gestatten, als meine Zuflucht zu Tränen zu nehmen.«

Und so tat sie.

»Na schön, Madame«, sagte Bounderby, »ohne Ihnen eine Bemerkung machen zu wollen, die sich für eine Frau von guter Familie nicht schickt, möchte ich mir doch erlauben, darauf aufmerksam zu machen, daß es etwas anderes gibt, wozu Sie Ihre Zuflucht nehmen dürften, nämlich eine Kutsche. Und da die Kutsche, in der wir herkamen, noch vor der Tür steht, so werden Sie mir erlauben, Sie hinein zu geleiten, und dann scheren Sie sich heim in die Bank. Das beste, was Sie da tun können, wird sein, Ihre Füße in das heißeste Wasser zu stecken, das Sie aushalten können, ein Glas siedend heißen Rum mit Butter zu nehmen und dann zu Bette zu gehen.« Mit diesen Worten streckte Mr. Bounderby seine rechte Hand nach der weinenden Dame aus und eskortierte sie in das fragliche Fuhrwerk, während sie noch manche klägliche Schnupfenträne auf dem Wege vergoß. Er kehrte bald allein zurück.

»Nun, da Ihr mir mit Eurer Miene zu verstehen gegeben habt, Tom Gradgrind, daß Ihr mit mir zu sprechen wünscht«, nahm er wieder das Wort, »hier bin ich. Aber ich bin nicht in einer sehr angenehmen Stimmung, ich sage es Euch offen: denn ich finde keinen Geschmack an dieser Angelegenheit, so wie sie nun einmal liegt, und ich glaube nicht, daß ich zu jeder Zeit so pflichtschuldig und unterwürfig von Eurer Tochter behandelt worden bin, wie Josiah Bounderby von Coketown von seiner Frau behandelt werden sollte. Ihr habt Eure Meinung, ich darf es sagen, und ich habe die meinige, denk‘ ich. Wenn Ihr nun meint, mir heute abend etwas sagen zu wollen, das dieser klaren Bemerkung zuwider läuft, so hättet Ihr besser getan, es zu lassen.«

Hierbei muß bemerkt werden, daß Mr. Bounderby, da Mr. Gradgrind sehr sanft war, ganz besondere Mühe darauf verwandte, in allen Beziehungen hart zu erscheinen. Das war so seine liebenswürdige Natur.

»Mein teurer Bounderby«, begann Mr. Gradgrind seine Entgegnung.

»Halt, Ihr müßt mich entschuldigen, aber ich wünsche nicht zu teuer zu sein. Das ein für allemal. Wenn ich anfange, jemandem teuer zu sein, so finde ich gewöhnlich, daß es seine Absicht ist, mich über den Löffel zu barbieren. Ich spreche nicht höflich zu Euch, denn, damit Ihr es wißt, ich bin nicht höflich. Wenn Ihr Höflichkeit haben wollt, so wißt Ihr, wo sie zu suchen. Ihr habt Eure Gentleman-Freunde, und die werden Euch so viel von dem Artikel vorsetzen, wie Ihr wollt. Ich für meine Person führe ihn nicht.«

»Bounderby«, nahm Mr. Gradgrind eifrig das Wort, »wir alle sind dem Irrtum unterworfen –«

»Ich dachte, Ihr könntet nicht irren«, unterbrach ihn Bounderby.

»Vielleicht dachte ich so. Aber ich sage, wir alle sind dem Irrtum unterworfen –«

»Ich dachte, Ihr könntet nicht irren«, unterbrach ihn Bounderby.

»Vielleicht dachte ich so. Aber ich sage, wir alle sind dem Irrtum unterworfen; und ich würde erkenntlich und dankbar für Euer Zartgefühl sein, wenn Ihr mir diese Hinweise auf Harthouse ersparen wolltet. Ich werde diesen Namen im Laufe unserer Unterredung nicht nennen, als ob Ihr mit ihm vertraut gewesen und ihn ermuntert hättet. Sprecht also bitte nicht, als sei dies bei mir der Fall gewesen.«

»Sein Name ist nicht über meine Zunge gekommen!« sagte Bounderby.

»Gut, gut!« lenkte Mr. Gradgrind mit einer geduldigen, ja unterwürfigen Miene ein. Dann saß er eine kleine Weile in Nachdenken versunken. »Bounderby, ich habe Grund zu zweifeln, ob wir immer Luise ganz verstanden haben.«

»Wen meint Ihr mit dem Wir?«

»Laßt mich denn sagen: ich«, erwiderte er auf die plumpe Frage. »Ich trage Bedenken, ob ich Luise verstanden habe. Ich zweifle fast, ob ich in ihrer Erziehungsweise ganz recht gehabt.«

»Da trefft Ihr den richtigen Fleck«, nahm Bounderby das Wort. »Darin bin ich mit Euch einverstanden. Ihr habt es endlich gefunden, nicht wahr? Erziehung! Ich will Euch sagen, was Erziehung ist – Hals über Kopf zum Hause hinausgeworfen, und in allen Dingen, mit Ausnahme der Prügel, kurzgehalten werden: Das ist es, was ich Erziehung nenne.«

»Ich denke. Euer gesunder Verstand wird begreifen«, wandte Mr. Gradgrind in aller Bescheidenheit ein, »daß, was auch immer die Verdienste eines solchen Systems sein mögen, seine allgemeine Anwendung auf Mädchen doch schwierig sein dürfte.«

»Ich sehe das durchaus nicht, Sir«, erwiderte der halsstarrige Bounderby.

»Nun«, seufzte Gradgrind, »wir wollen nicht auf die Erörterung dieser Frage eingehen. Ich versichere Euch, daß ich keine Lust zu Streitigkeiten habe. Ich wünsche womöglich, das wieder gutzumachen, was versäumt ist, und ich hoffe. Ihr werdet mir mit gutem Willen beistehen, denn ich bin sehr niedergeschlagen gewesen.«

»Ich verstehe Euch noch nicht«, sagte Bounderby«, mit entschlossener Halsstarrigkeit, »und daher kann ich kein Versprechen geben.«

»Im Verlaufe weniger Stunden, mein lieber Bounderby«, fuhr Mr. Gradgrind in derselben gedrückten und persönlichen Weise fort, »glaube ich besser über Luises Charakter unterrichtet worden zu sein, als in Jahren vorher. Die Aufklärung ist mir schmerzlich aufgedrungen worden und die Entdeckung also nicht mein Verdienst. Ich glaube, e« sind – Bounderby, Ihr werdet erstaunt sein, mich das sagen zu hören – ich glaube, e« sind Fähigkeiten in Luise, die – die arg vernachlässigt und – und etwas verstört worden sind. Und – und ich möchte Euch meine Meinung ausdrücken, daß – daß wenn Ihr mich in dem rechtzeitigen Bemühen unterstützen wolltet, sie eine Zeitlang ihrer besseren Statur zu überlassen, und diese durch Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit zu ihrer eigenen Entfaltung zu ermuntern – so – so würde es für unser aller Glück besser sein. Luise«, sagte Mr. Gradgrind, indem er sein Gesicht mit seiner Hand bedeckte, »ist immer mein Lieblingskind gewesen.«

Der polternde Bounderby schwoll so rot an, als er diese Worte hörte, daß er einem Schlagflusse nahe zu sein schien und wahrscheinlich auch war. Obgleich er bis in die beiden Ohrspitzen karmoisinrot anlief, verschloß er doch seinen Unwillen und sagte:

»Ihr möchtet sie gern eine Zeitlang hier behalten?«

»Ich – ich hatte allerdings die Absicht, anzuraten, mein lieber Bounderby, daß Ihr Luise erlauben möchtet, zu einem Besuche hierzubleiben, wo sie dann von Cili (ich meine natürlich Cäcilie Jupe), die sie versteht und ihr Vertrauen genießt, gepflegt werden könnte.«

»Aus allem dem schließe ich, Tom Gradgrind«, sagte Bounderby, indem er mit den Händen in der Tasche aufstand, »daß Ihr der Meinung seid, es beständen zwischen Lu Bounderby und mir Unstimmigkeiten, wie man zu sagen pflegt.«

»Ich befürchte, es bestehen gegenwärtig allgemeine Unstimmigkeiten zwischen Luise und – und – und fast allen den Verhältnissen, in welche ich sie gebracht habe«, war des Vaters sorgenvolle Antwort.

»Gut, nun merkt auf, Tom Gradgrind«, sagte Bounderby mit rotem Kopf, indem er sich ihm gegenüberstellte mit weit ausgespreizten Beinen, seine Hände tiefer in den Taschen, und sein Haar einem Heufelde vergleichbar, in welchem der Wind seines Ärgers wühlte. »Ihr habt gesagt, was Ihr zu sagen habt: nun will ich dasselbe tun. Ich bin ein Coketowner Mann. Ich bin Josiah Bounderby von Coketown. Ich kenne die Bausteine dieser Stadt, und ich kenne die Werke dieser Stadt, und ich kenne die Kamine dieser Stadt, und ich kenne den Rauch dieser Stadt, und ich kenne die ›Hände‹ dieser Stadt. Ich kenne das alles sehr wohl. Das sind Wirklichkeiten. Wenn mir aber jemand von idealen Eigenschaften spricht, so sage ich ihm sofort, wer er auch sein mag, daß ich weiß, was er meint. Er meint Schildkrötensuppe und Wildbret mit einem goldenen Löffel, und in einer sechsspännigen Kutsche fahren. Das ist es, was Eure Tochter will. Da Ihr nun der Meinung seid, daß sie haben soll, was sie will, so empfehle ich Euch, es ihr zu verschaffen. Denn, Tom Gradgrind, von mir wird sie es nie erhalten.«

»Bounderby«, erwiderte Mr. Gradgrind, »nach meiner Einleitung hoffte ich, Ihr würdet einen andern Ton angenommen haben.«

»Wartet nur ein bißchen«, entgegnete Bounderby; »Ihr habt gesagt, was Ihr zu sagen habt, glaube ich. Ich ließ Euch aussprechen; hört mich auch gefälligst zu Ende. Macht nicht ebensolch einen Narren der Unredlichkeit aus Euch wie einen der Ungereimtheit, denn obgleich es mir leid tut, Tom Gradgrind auf seinen gegenwärtigen Standpunkt herabgesunken zu sehen, so sollte es mir doch doppelt leid tun, wenn er so tief fiele. Nun wohl. Ihr gebt mir zu verstehen, daß eine Unstimmigkeit der einen oder der andern Art zwischen mir und Eurer Tochter bestehe. Ich will Euch als Antwort darauf zu verstehen geben, daß ohne alle Frage eine Unstimmigkeit erster Größe hier obwaltet, und die ist in Summa, daß Eure Tochter die Verdienste ihres Gatten nicht geziemend kennt und die Ehre einer Verbindung mit ihm nicht zu würdigen versteht, wie sie es von Gott und Rechts wegen tun müßte. Das ist verständlich gesprochen, hoffe ich.«

»Bounderby«, versetzte Mr. Gradgrind mit Nachdruck, »das ist unvernünftig.«

»In der Tat?« sagte Bounderby. »Ich freue mich. Euch so sprechen zu hören. Denn wenn Tom Gradgrind mit seiner ungewöhnlichen Erleuchtung mir sagt, daß das, was ich spreche, unvernünftig sei, dann bin ich vollkommen davon überzeugt, daß es verteufelt vernünftig ist. Mit Eurer Erlaubnis fahre ich fort. Ihr kennt meine Herkunft und Ihr wißt, daß ich eine ziemliche Reihe meiner Lebensjahre keinen Schuhanzieher brauchte, weil ich keine Schuhe hatte. Jetzt, Ihr mögt das glauben oder nicht, wie es Euch gut dünkt, gibt es Ladys – geborene Ladys – aus Familien – Familien sage ich – die fast den Boden küssen möchten, auf dem ich stehe.«

Diese Worte warf er seinem Schwiegervater, wie eine Rakete, herausfordernd an den Kopf.

»Dagegen«, fuhr Bounderby fort, »ist Eure Tochter weit entfernt, eine geborene Lady zu sein, wie Ihr selbst recht gut wißt. Nicht als ob ich einen Deut auf solche Dinge gäbe. Ihr wißt sehr wohl, daß ich es nicht tue, aber es ist eine Tatsache, an der Ihr nicht« zu ändern vermögt. Warum sage ich das?«

»Nicht um mich zu schonen, fürchte ich«, bemerkte Mr. Gradgrind mit leiser Stimme.

»Hört mich zu Ende«, sagte Bounderby, »und wartet, bis Ihr wieder an die Reihe kommt. Ich sage das, weil hochgestellte Frauen mit Erstaunen das Benehmen Eurer Tochter bemerkt und ihre Gefühllosigkeit beobachtet haben. Sie haben sich gewundert, wie ich es dulden konnte, und ich wundere mich selbst und will es nicht dulden.«

»Bounderby«, erwiderte Mr. Gradgrind, »ich glaube, je weniger wir diesen Abend sprechen, desto besser wird es sein.«

»Im Gegenteil, Tom Gradgrind, je mehr wir diesen Abend sprechen, desto besser ist es. Da« ist meine Ansicht. Das heißt«, fügte er einlenkend hinzu, »bis ich alles gesagt habe, was ich zu sagen wünsche, und dann ist es mir gleichgültig, wie bald wir aufhören. Ich komme zu einer Frage, welche unsere Verhandlungen abkürzen dürfte. Was meint Ihr mit dem Vorschlag, den Ihr eben gemacht habt?«

»Was ich damit meine, Bounderby?«

»Mit Eurem Besuchsvorschlage«, sagte Bounderby mit einem schroffen Zurückwerfen seines Heufeldes.

»Ich meine, daß ich hoffe. Ihr werdet Euch freundschaftlich bewegen lassen, es so einzurichten, daß Ihr Luise eine Zeit der Ruhe und des Nachdenkens hier gestattet. Das könnte zu einer allmählichen Besserung der Verhältnisse in vielen Beziehungen führen.«

»Zu einem sanften Erholungsschlummer auf Euren Ideen von der Unstimmigkeit?« fiel Bounderby ein.

»Wenn Ihr es so auffaßt.«

»Was brachte Euch auf den Gedanken?« sagte Bounderby.

»Ich habe es schon gesagt, ich fürchte, Luise ist nicht verstanden worden. Ist es zu viel verlangt, daß Ihr, Bounderby, der Ihr so viel älter seid als sie, behilflich sein solltet, sie auf den richtigen Weg zu führen? Ihr habt die Sorge für sie auf Euch genommen; auf Glück und Unglück, denn– –«

Mr. Bounderby dürfte von der Wiederholung seiner eigenen Worte zu Stephan Blackpool sehr unangenehm berührt worden sein; aber er schnitt das Zitat mit einem ärgerlichen Ruck kurz ab.

»Laßt das!« sagte er, »ich verlange nicht, hierüber belehrt zu werden. Welche Sorge ich auf mich nahm, weiß ich selbst so gut wie Ihr. Was ich auf mich nahm, geht Euch nichts an, das ist meine Sache.«

»Ich wollte nur bemerken, daß wir alle mehr oder weniger gefehlt haben, Ihr eben nicht ausgenommen, Bounderby; und daß einige Nachgiebigkeit von Eurer Seite, angesichts der übernommenen Verantwortlichkeit, nicht nur ein Akt aufrichtiger Güte, sondern vielleicht auch eine Luisen schuldige Pflicht sein dürfte.«

»Ich denke anders darüber«, polterte Bounderby heraus; »und werde diesen Handel nach meiner eigenen Ansicht zu Ende bringen. Seht, ich wünsche mich nicht hierüber mit Euch zu zanken, Tom Gradgrind. Euch die Wahrheit zu sagen, glaube ich nicht, daß es sich mit meiner Ehre verträgt, über einen solchen Gegenstand zu zanken. Was Euren Gentleman-Freund betrifft, so mag er sich zum Teufel scheren, wohin es ihm gut dünkt. Wenn er mir je in den Weg kommt, so werde ich ihm meine Meinung sagen, kommt er mir nicht in den Weg, so werde ich es nicht tun, denn es würde in diesem Falle meiner unwürdig sein. Was Eure Tochter anbetrifft, die ich zu Lu Bounderby gemacht habe, jedoch vielleicht besser bei ihrem Namen Lu Gradgrind belassen hätte, so wisset: Wenn sie nicht morgen mittag zwölf Uhr nach Hause kommt, so nehme ich an, daß sie vorzieht, fortzubleiben, und werde ihr ihre Putzsachen usw. hierher schicken: Ihr aber werdet in Zukunft für sie zu sorgen haben. Was ich den Leuten im allgemeinen in betreff der Unstimmigkeit sagen werde, die mich zur Auflösung des ehelichen Verhältnisses bewogen hat, wird folgendes sein. Ich bin Josiah Bounderby und hatte meine Erziehung; sie ist die Tochter von Tom Gradgrind und hatte ihre Erziehung: und die zwei Pferde wollten nicht zusammengehen. Ich bin, glaube ich, sehr wohl als ein ziemlich ungewöhnlicher Mann bekannt: und die Mehrzahl wird leicht genug begreifen, daß es auch eine ziemlich außergewöhnliche Frau sein müßte, die bei dem langen Laufe Spur mit mir halten könnte.«

»Laßt Euch ernstlich ersuchen, Bounderby, die Sache noch einmal zu überlegen«, stellte ihm Gradgrind vor, »ehe Ihr einen solchen Entschluß faßt.«

»Mein Entschluß ist immer gefaßt«, sagte Bounderby, indem er seinen Hut aufsetzte, »und was ich auch tue, ich tue es sofort. Es müßte mich überraschen, daß Tom Gradgrind eine solche Bemerkung an Josiah Bounderby von Coketown richtet, nachdem er soviel von ihm kennt, wie er kennt, wenn mich von Tom Gradgrind noch etwas überraschen könnte, seitdem er sich an sentimentalem Humbug beteiligt. Ich habe Euch meinen Entscheid gegeben und habe nichts mehr zu sagen. Gute Nacht!«

Hiermit ging Mr. Bounderby nach seinem Hause in der Stadt und legte sich zu Bette. Am folgenden Tage, fünf Minuten nach zwölf Uhr, gab er Befehl, Mrs. Bounderbys Sachen sorgsam zu verpacken und in die Wohnung Tom Gradgrinds zu senden, ließ seinen Landsitz zum Privatverkauf ausschreiben und setzte sich wieder auf den Junggesellenfuß.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Die Räuberei in der Bank beschäftigte fortwährend in erster Linie die Aufmerksamkeit des Direktors. Er war ein gewichtiger Mann in prahlerischer Schaustellung seiner Geschäftsbereitschaft und Tätigkeit. Er war ein Mann, der es aus sich selber zu etwas gebracht hatte. Er war ein Wunder in der Geschäftswelt, das herrlicher als Venus, aus Schlamm anstatt aus dem Meere emporgestiegen ist, und er zeigte gern, wie wenig seine häuslichen Angelegenheiten imstande seien, seinen Geschäftseifer niederzuschlagen. Daher bewegte er sich gleich in den ersten Wochen seines wiederangenommenen Junggesellenstandes in seiner gewöhnlichen geräuschvollen Weise und erneuerte jeden Tag seine Nachforschungen betreffs des Diebstahls mit solchem Lärm, daß die Polizeibeamten, die diese Sache in Händen hatten, fast wünschten, sie wäre niemals begangen worden.

Auch waren sie ganz ratlos und weit ab von der Witterung. Obgleich sie sich seit Beginn der Angelegenheit so ruhig verhalten hatten, daß die meisten Leute wirklich glaubten, sie sei als hoffnungslos aufgegeben worden, so wollte sich doch kein neuer Indizienpunkt zeigen. Keine der beteiligten Personen verriet unzeitigen Mut oder tat einen kompromittierenden Schritt. Und was noch auffallender war, von Stephen Blackpool konnte keine Spur aufgefunden werden, und das geheimnisvolle alte Weib blieb ein Geheimnis.

Da die Dinge einen solchen Gang nahmen, und sich keine geheimen Merkmale, die zur Entdeckung hätten führen können, zeigen wollten, so war das Endresultat von Mr. Bounderbys Nachforschungen, daß er beschloß, einen kühnen Streich zu wagen. Er setzte eine Ankündigung auf, in dem er zwanzig Pfund Belohnung für die Ergreifung von Stephen Blackpool aussetzte, der der Teilnahme an dem Einbruch in der Coketowner Bank in der und der Nacht verdächtig sei. Er beschrieb besagten Stephen Blackpool nach Kleidung, Aussehen, mutmaßlicher Größe und Manieren so genau er konnte. Er erzählte, wie er die Stadt verlassen und nach welcher Richtung hin man ihn zuletzt habe gehen sehen. Das Ganze ließ er in großen schwarzen Lettern auf einem Riesenbogen drucken und sorgte dafür, daß die Wände in der Stille der Nacht damit beklebt wurden, so daß es der ganzen Bevölkerung mit einem Male in die Augen fallen mußte.

An diesem Morgen hatten die Fabrikglocken nötig, noch einmal so stark zu läuten, um die Arbeitergruppen zu zerstreuen, die mit Tagesanbruch rund um die Plakate versammelt standen und sie mit neugierigen Augen verschlangen. Nicht am wenigsten neugierig von den versammelten Augen waren die Augen derjenigen, die nicht zu lesen verstanden. Als diese Leute der gefälligen Stimme lauschten, die laut vorlas – es findet sich immer so jemand, der gern aus der Not hilft – starrten sie mit so unbestimmtem, ehrfurchtsvollem Respekt auf die Buchstaben, die so viel sagten, daß es ergötzlich gewesen wäre, wenn der Anblick der Unwissenheit solcher Leute je anders als bedrohlich und unheilvoll sein könnte. Manche Augen und Ohren wurden noch Stunden später von diesen Plakaten als Vision verfolgt, während die Spindeln schnurrten, die Webstühle rasselten und die Räder schwirrten: und als die »Hände« wieder auf die Straßen entlassen wurden, fanden sich immer noch so viel Leser, als zuvor.

Slackbridge, der Arbeiterdelegierte, hatte diesen Abend seine Zuhörer auch daraufhin anzureden: und Slackbridge hatte ein reine« Plakat vom Drucker erhalten und es in seiner Tasche mitgebracht. O! meine Freunde und lieben Landsleute, mit Füßen getretene Arbeiter von Coketown, o! meine lieben Brüder, Arbeitsgenossen, Mitbürger und Kollegen, was war das für eine Szene, als Slackbridge das entfaltete, was er das »verdammte Dokument« nannte, und es an die Gasflamme hielt zum Abscheu der Arbeitergemeinde! O, meine teuren Brüder, seht, wozu ein Verräter in dem Feldlager dieser großen Geister, die eingeschrieben sind auf der heiligen Rolle der Gerechtigkeit und Eintracht, wirklich fähig ist! O, meine niedergetretenen Freunde, mit dem drückenden Joch der Tyrannen auf eurem Nacken und von dem eisernen Fuße des Despotismus in den Staub der Erde getreten, wie erfreut würden eure Unterdrücker sein, euch alle Tage eures Lebens auf den Bäuchen kriechen zu sehen, wie die Schlange in dem Garten, – o, meine Brüder, und soll ich als Mann nicht auch hinzufügen: meine Schwestern, was sagt ihr nun von Stephen Blackpool, dem Manne mit einer leichten Senkung an der Schulter und ungefähr fünf Fuß sieben Zoll Größe, wie es in diesem entwürdigenden und widerlichen Dokument, auf diesem nichtswürdigen Zettel, diesem ehrlosen Plakat, diesem abscheulichen Anschlag geschrieben steht: und mit welcher Majestät der Anklage werdet ihr die Viper zerschmettern, die diese Schande und Schmach über den gottgleichen Stand bringen würde, der ihn glücklicherweise für immer aus seinen Reihen gestoßen hat! Ja, meine Kompatrioten, glücklicherweise für immer ausgestoßen und fortgeschickt! Denn ihr erinnert euch, wie er hier vor euch stand auf dieser Plattform: ihr erinnert euch, wie ich ihn, Auge gegen Auge und Fuß gegen Fuß, durch all seine verwickelten Krümmungen hin verfolgte: ihr erinnert euch, wie er sich klein machte und schlich und sich schmiegte und haarspaltete: bis ich ihn, ohne einen Schatten von Grund, an dem man sich halten konnte, ausstieß aus unserer Mitte, als Gegenstand für den unvergänglichen Finger des Spottes, auf ihn zu weisen, und für das rächende Feuer jedes freien und denkenden Geistes ihn zu versengen und zu verbrennen! Und jetzt, meine Freunde – meine arbeitenden Freunde, denn ich setze einen triumphierenden Stolz in diesen »Schandfleck« – meine Freunde, deren harte, aber ehrenvolle Betten auf Trübsal gemacht, und deren karge, aber unabhängige Töpfe auf Mühseligkeit gekocht sind: und nun sage ich, meine Freunde, wie hat sich diese feige Memme auf sich selbst berufen, jetzt, wo er die gleisnerische Maske von seinen Lastern gerissen, vor uns steht in all seiner ursprünglichen Häßlichkeit! Ein was? Ein Dieb! Ein Plünderer! Ein geächteter Flüchtling mit einem Preise auf seinen Kopf; eine Wunde und Eiterbeule auf dem edlen Charakter der Coketownschen Arbeiterverbündeten. Daher, meine zu einem heiligen Bunde verbündeten Brüder, einem Bunde, auf den eure Kinder und Kindeskinder noch ungeboren ihre kindlichen Hände und Siegel gedrückt haben, schlage ich vor im Namen des vereinigten, vollzähligen Gerichtshofes, der immer wachsam für eure Wohlfahrt, immer voll Eifer für euren Nutzen ist, daß diese Versammlung beschließe: daß, da Stephen Blackpool, Weber, von dem auf diesem Plakat die Rede ist, bereits feierlich von der Gemeinde der Coketowner ›Hände‹ verworfen worden, dieselbe frei ist von der Schande seiner Missetaten und nicht als Klasse für seine ehrlosen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann!«

So weit Slackbridge, knirschend und schwitzend ins Unglaubliche. Wenige rauhe Stimmen riefen: »Nein!« und ein oder zwei Dutzend stimmten mit »Hört! Hört!« einem Manne bei, der mit den Worten zur Vorsicht mahnte: »Slackbridge, Ihr verfahrt zu hitzig hierbei. Ihr geht zu weit!« Aber da« waren Pygmäen gegen eine Armee: die allgemeine Mehrheit der Versammlung unterzeichnete das Slackbridgesche Evangelium und brachte ihm ein dreifaches Hoch, als er sich, scheinbar außer Atem, zu ihnen niedersetzte.

Diese Männer und Frauen waren noch in den Straßen und gingen ruhig nach Hause, als Cili, die vor wenigen Minuten von Luise weggerufen worden war, zurückkehrte.

»Wer ist es?« fragte Luise.

»Es ist Mr. Bounderby«, sagte Cili, vor dem Namen zusammenschreckend, »und Euer Bruder, Mr. Tom, mit einer jungen Frau, die sich Rachael nennt und Euch zu kennen vorgibt.«

»Was wollen sie, liebe Cili?«

»Sie verlangen Euch zu sehen. Rachael hat geweint und scheint betrübt zu sein.«

»Vater«, sagte Luise, denn dieser war gegenwärtig, »ich kann aus einem selbstverständlichen Grunde nicht abschlagen, sie zu sehen. Sollen sie hereinkommen?«

Als sie eine bejahende Antwort erhielt, ging Cili hinaus, um sie zu holen. Sie kehrte im Augenblick mit ihnen zurück. Tom war der letzte und blieb in der dunkelsten Ecke des Zimmers bei der Tür stehen.

»Mrs. Bounderby«, sagte ihr Gatte, mit einer kühlen Verbeugung eintretend, »ich störe Sie doch hoffentlich nicht. Es ist eine unpassende Stunde, aber dieses junge Frauenzimmer hier hat Eröffnungen gemacht, die meinen Besuch nötig machen. Tom Gradgrind, da Euer Sohn, der junge Tom, aus irgendeinem eigensinnigen Grunde sich weigert, das Allergeringste betreffs dieser Eröffnungen auszusagen, weder Gutes noch Böses, so sehe ich mich genötigt, sie Eurer Tochter gegenüberzustellen.«

»Ihr habt mich schon einmal früher gesehen, junge Dame«, sagte Rachael, indem sie sich vor Luise stellte.

Tom hustete.

»Ihr habt mich schon einmal früher gesehen, junge Dame«, wiederholte Rachael, als sie ohne Antwort blieb.

Tom hustete wieder.

»So ist es.«

Rachael warf Mr. Bounderby einen stolzen Blick zu und fuhr fort: »Wollt Ihr mitteilen, junge Lady, wo und in welcher Gesellschaft das war?«

»Ich kam in das Haus, wo Stephen Blackpool wohnte, am Abend seiner Entlassung aus der Arbeit, und hier sah ich Euch. Er war auch da; und eine alte Frau, die nicht sprach und kaum zu sehen war, stand in einer dunklen Ecke. Mein Bruder war mit mir.«

»Warum konntet Ihr das nicht sagen, junger Tom?« fragte Bounderby.

»Ich versprach meiner Schwester, es nicht zu tun.« Dies wurde schnell von Luise bestätigt. »Und außerdem«, sagte der Bengel bitter, »erzählt sie ihre eigene Geschichte so außerordentlich gut und so ausführlich, daß es schade gewesen wäre, sie ihr aus dem Munde zu nehmen!«

»Saget gefälligst, Madame«, fuhr Rachael fort, »warum Ihr zu einer bösen Stunde an jenem Abend überhaupt zu Stephen kamt?«

»Ich fühlt« Mitleid mit ihm«, sagte Luise errötend, »und wünschte zu wissen, was er nun anzufangen gedenke, und wollte ihm meinen Beistand anbieten.«

»Danke schön, Madame«, sagte Bounderby. »Sehr geschmeichelt und verbunden!«

»Botet Ihr ihm«, fragte Rachael wieder, »eine Banknote an?«

»Ja: aber er schlug sie aus und wollte bloß zwei Pfund in Gold annehmen.«

Rachael warf Mr. Bounderby abermals einen bedeutungsvollen Blick zu.

»O, gewiß!« versetzte Bounderby. »Wenn Ihr die Frage stellt, ob Eure lächerliche und unglaubliche Erzählung wahr war oder nicht, so bin ich zu der Erklärung genötigt: Sie war es!«

»Junge Dame«, sagte Rachael, »Stephen Blackpool ist jetzt in öffentlichem, durch die ganze Stadt und wo sonst überall verbreitetem Druckanschlage als Dieb bezeichnet. Heute abend hat eine Versammlung stattgefunden, wo in derselben schimpflichen Weise von ihm gesprochen wurde. Stephen, der ehrenhafteste, treueste, beste Bursche!« Ihr Unwille versagte ihr die Worte und sie brach schluchzend ab.

»Ich bin sehr, sehr betrübt darüber«, sagte Luise.

»O! junge Dame, junge Dame«, erwiderte Rachael, »ich hoffe. Ihr seid es, aber ich weiß es nicht. Ich kann nicht sagen, was Ihr getan haben mögt! Euresgleichen kennt uns nicht, hat keine Teilnahme für uns, gehört nicht zu uns. Ich weiß nicht gewiß, warum Ihr an jenem Abend gekommen sein mögt. Ich kann nicht sagen, was für einen eigennützigen Zweck Ihr bei Eurem Besuche gehabt, da ich nicht vermuten kann, in welche traurige Lage Ihr den armen Knaben gestürzt. Damals sagte ich, Gott lohne Euch Euren Besuch, und ich sagte es von Herzen. Ihr schient so teilnehmend für ihn zu sein; aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll!«

Luise konnte sie wegen ihres ungerechten Argwohnes nicht tadeln, sie war so treu in ihrem Glauben an den Mann und so betrübt.

»Und wenn ich denke«, sagte Rachael unter Schluchzen, »wie der arme Junge dankbar war, da er Euch für so gütig hielt: wenn ich mich erinnere, wie er seine Hand über sein abgehärmtes Gesicht legte, die Tränen zu verdecken, die Ihr in seine Augen brachtet. – O, ich hoffe, daß Ihr über sein Unglück betrübt sein möget, und – daß Ihr keine schlimme Ursache dazu habt: aber ich weiß nicht, ich weiß nicht!«

»Ihr seid ein sauberes Stück«, brummte der Bube, indem er sich verdrießlich in seiner Ecke regte, »mit solchen kostbaren Beschuldigungen hierher zu kommen! Ihr solltet hinausgeworfen werden, da Ihr Euch so wenig zu benehmen wißt, und es würde Euch recht geschehen.«

Sie erwiderte nichts, und ihr leise« Schluchzen war der einzige Ton, der sich vernehmen ließ, bis Mr. Bounderby sprach:

»Kommt! Ihr wißt, was Ihr zu tun übernommen habt. Ihr hättet besser getan. Eure Ansicht hierüber mitzuteilen, als über jenen Gegenstand.«

»Wirklich, es tut mir leid«, entgegnete Rachael, ihre Augen trocknend, »wenn jemand hier mich so ansehen sollte: aber ich will nicht noch einmal so angesehen werden. Als ich gelesen hatte, Madame, was auf Stephen gedruckt ist, und was gerade soviel Wahrheit enthält, als wenn es auf Euch gedruckt wäre – ging ich direkt zur Bank, um zu erklären, daß ich Stephens Aufenthalt kenne, und das bestimmte Versprechen zu geben, daß er in zwei Tagen hier sein solle. Ich konnte damals Mr. Bounderby nicht sprechen, und Euer Bruder schickte mich weg; ich versuchte nun Euch zu finden, aber auch Ihr wäret nicht zu treffen, daher kehrte ich zu meiner Arbeit zurück. Sobald ich diesen Abend aus der Fabrik kam, beeilte ich mich zu hören, was man von Stephen spräche – denn ich weiß mit Stolz, er wird zurückkommen und seine Verleumder beschämen! – Darauf suchte ich wieder Mr. Bounderby auf, fand ihn und erzählte ihm alles haarklein, was ich wußte; er aber glaubte kein Wort von dem, was ich sagte, und brachte mich hierher.«

»Soweit ziemlich wahr«, stimmte Mr. Bounderby bei, mit den Händen m den Taschen und dem Hut auf dem Kopfe. »Aber ich kenne euch Art Leute nicht erst seit gestern, bitte ich zu bemerken, und ich weiß, daß ihr aus Mangel an Worten nie umkommen werdet. Nun, ich empfehle Euch jetzt, weniger zu sprechen, als zu handeln. Ihr habt übernommen, etwas zu tun: all meine Bemerkung hierauf ist gegenwärtig: tut es!«

»Ich habe an Stephen mit der Post, die diesen Nachmittag abgeht, geschrieben, wie ich ihm schon einmal geschrieben hatte, seitdem er abgereist ist«, sagte Rachael, »und er wird spätestens in zwei Tagen hier sein.«

»Dann will ich Euch etwas sagen. Ihr wißt vielleicht nicht«, erwiderte Mr. Bounderby, »daß man Euch selbst dann und wann beobachten läßt, da ihr als nicht ganz frei von dem Verdacht in dieser Angelegenheit angesehen wurdet, denn meistens beurteilt man die Leute nach dem Umgang, den sie pflegen. Da« Postbureau ist ebenso wenig vergessen worden. Was ich Euch nun sagen will, ist, daß kein Brief an Stephen Blackpool je aufgegeben worden ist. Daher überlasse ich Euch zu raten, was au« den Eurigen geworden ist. Vielleicht irrt Ihr Euch und habt niemals an ihn geschrieben.«

»Er war noch keine Woche von hier weg, Madame«, sagte Rachael, indem sie sich beschwörend an Luise wandte, »als er mir den einzigen Brief übersandte, den ich von ihm erhalten habe, und worin er sagte, daß er sich genötigt sehe, unter einem andern Namen Arbeit zu suchen.«

»O, bei St. Georg!« rief Bounderby, den Kopf schüttelnd und pfeifend, »er wechselt seinen Namen, so! Das ist ein schlimmer Fall für einen so fleckenlosen Burschen. Da« gilt, glaube ich, bei den Gerichtshöfen für ein wenig verdächtig, wenn ein Unschuldiger zufälligerweise mehrere Namen hat.«

»Was«, sagte Rachael, und wieder traten ihr Tränen in die Augen, »was um Gottes Barmherzigkeit willen blieb dem armen Jungen anders übrig. Die Meister gegen sich auf der einen Seite und die Arbeiter auf der andern, da er nur verlangte, in Frieden zu arbeiten und zu tun, was er für recht hielt. Kann ein Mann keine Seele und keine Überzeugung für sich allein haben? Muß er durch alles Unrecht mit dieser Seite, oder muß er durch alles Unrecht mit jener Seite gehen, oder sich wie ein Wild hetzen lassen?«

»Ja, ja, ich bemitleide ihn von ganzem Herzen«, erwiderte Luise: »und ich hoffe, daß er sich rechtfertigen wird.«

»Was das betrifft, so braucht Ihr nichts zu fürchten, junge Dame. Das tut er gewißlich!«

»Um so gewisser vermutlich«, warf Mr. Bounderby ein, »da Ihr zu sagen verweigert, wo er sich befindet. He?«

»Er soll durch keine Handlung von meiner Seite die unverdiente Schmach erdulden, zurückgebracht zu werden. Er soll auf eigenen Antrieb zurückkommen, um sich zu rechtfertigen, und alle diejenigen beschämen, die seinen guten Charakter verunglimpft haben, während er selbst zu seiner Verteidigung nicht zugegen war«, sagte Rachael, allem Mißtrauen trotzend, wie ein Felsen im Meere, »und er wird längstens in zwei Tagen hier sein.«

»Nein, noch mehr als dies«, setzte Mr. Bounderby hinzu, »wenn er an einem früheren Tage zu haben ist, so soll er noch eher Gelegenheit zu seiner Rechtfertigung finden. Was Euch betrifft, so habe ich nicht« gegen Euch.. Was Ihr mir gesagt habt, erweist sich als wahr, und ich habe Euch die Mittel verschafft, die Wahrheit zu beweisen, damit ist die Sache zu Ende. Ich wünsche euch allerseits gute Nacht. Ich muß mich ans Werk machen, um ein wenig weiter in dieser Sache zu sehen.«

Tom kam aus seiner Ecke, als Mr. Bounderby aufbrach, brach ebenfalls auf, hielt sich dicht hinter ihm und ging mit ihm hinweg. Der einzige Abschiedsgruß, zu dem er sich herabließ, war ein mürrisches »Gute Nacht, Vater!« Mit diesem kurzen Worte und einem finsteren Gesicht für seine Schwester, verließ er das Haus.

Seitdem sein Stammhalter in da« Haus getreten war, hatte Mr. Gradgrind kein Wort gesprochen. Er saß noch schweigend, als Luise in einem milden Tone sagte:

»Rachael, Ihr werdet eines Tages kein Mißtrauen in sich setzen, wenn Ihr mich besser kennt.«

»Es geht mir wider die Natur«, antwortete Rachael freundlicher, »jemandem zu mißtrauen: aber wenn man mir so sehr mißtraut, wenn man uns allen so sehr mißtraut – so kann ich eine gleiche Empfindung nicht ganz fernhalten. Ich bitte um Verzeihung, daß ich Euch Unrecht getan habe. Jetzt glaube ich nicht mehr, was ich sagte. Doch könnte ich wieder dahin kommen, es zu glauben, da man den armen Jungen so großes Unrecht tut.«

»Sagtet Ihr ihm in Eurem Briefe«, fragte Cili, »daß Verdacht auf ihn gefallen zu sein schien, weil er des Nachts bei der Bank gesehen worden sei? Er würde dann wissen, worüber er sich zu erklären hat, wenn er zurückkommt und vorbereitet sein.«

»Ja, Liebe«, antwortete sie: »aber ich kann nicht erraten, was ihn je dahin getrieben haben mag. Er pflegte nie dahin zu gehen. Das lag ganz außer seinem Wege. Sein Weg war derselbe wie meiner, und niemals dahinaus.«

Cili hatte schon neben ihr gestanden und fragte sie, wo sie wohne, und ob sie morgen abend kommen und sich nach Nachrichten von ihm erkundigen dürfe.

»Ich glaube nicht«, sagte Rachael, »daß er vor übermorgen hier sein kann.«

»Dann will ich auch am nächsten Abend kommen«, erwiderte Cili.

Als Rachael zugestimmt hatte und gegangen war, erhob Mr. Gradgrind seinen Kopf und sagte zu seiner Tochter:

»Luise, meine Teure, ich habe, soviel ich weiß, diesen Mann gesehen. Hältst du ihn für schuldig?«

»Ich glaube, ich habe ihn dafür gehalten, Vater, obgleich mit großem Widerstreben. Ich halte ihn nicht mehr dafür.«

»Das heißt, es gab eine Zeit, wo du dich selbst überredetest, es zu glauben, weil du wußtest, daß er verdächtig war. Sind seine Erscheinung und seine Manieren so ehrlich?«

»Sehr ehrlich.«

»Und ihr Vertrauen nicht zu erschüttern! Ich frage mich oft selbst«, sagte Mr. Gradgrind sinnend, »weiß der wirkliche Schuldige von diesen Anklagen? Wo ist er? Wer ist er?«

Sein Haar hatte seit kurzem begonnen, die Farbe zu ändern. Als er sich wieder so auf seine Hand stützte und grau und alt aussah, eilte Luise, Besorgnis und Teilnahme in ihren Zügen, voll Unruhe auf ihn zu und setzte sich dicht an seine Seite. Ihre Augen trafen zufällig in diesem Augenblick die Cilis. Cili fuhr errötend zusammen, und Luise legte ihren Finger an die Lippen.

Am nächsten Abend, als Cili heimkam und Luise erzählte, daß Stephen nicht gekommen sei, tat sie es flüsternd. Am darauffolgenden Abend, als sie mit derselben Nachricht nach Hause kam und hinzufügte, daß er nicht das geringste von sich habe hören lassen, sprach sie in demselben gedämpften, furchtsamen Tone. Von dem Augenblick an, wo sie diese Blicke gewechselt, erwähnten sie niemals seinen Namen oder irgend etwas, das mit ihm in Beziehung stand, laut; noch wurde jemals die Diebstahlsaffäre verfolgt, wenn Mr. Gradgrind davon sprach.

Die zwei ausbedungenen Tage verflossen, drei Tage und Nächte verflossen, und Stephen Blackpool erschien nicht, er blieb verschollen. Am vierten Tage kam Rachael, mit unerschütterlichem Vertrauen, jedoch in der Meinung, daß ihr Brief verunglückt sei, zur Bank und zeigte ihren von ihm erhaltenen Brief mit seiner Adresse in einer der vielen Arbeiterkolonien, die abseits von der Hauptstraße lag, sechzig Meilen weit. Boten wurden zu diesem Ort geschickt, und die ganze Stadt war erwartungsvoll, Stephen am folgenden Tage eingebracht zu sehen.

Während dieser ganzen Zeit folgte der Bengel Mr. Bounderby wie sein Schatten und nahm tätigen Anteil an allen Vorgängen. Er war sehr aufgeregt, schrecklich erhitzt, zerbiß seine Nägel bis ins Fleisch, sprach mit rauher, rasselnder Stimme und mit Lippen, die schwarz und verbrannt erschienen. Zur Stunde, wo der verdächtige Mann erwartet wurde, war der Bengel an der Station, Wetten anbietend, daß er vor Ankunft der Polizeiboten sich davongemacht haben und nicht erscheinen werde.

Der Bengel hatte recht, die Boten kehrten allein zurück, Rachaels Brief war abgegangen, Rachaels Brief war abgegeben, Stephen Blackpool hatte zur selben Stunde sich aus dem Staub gemacht; und keine Seele wußte mehr von ihm. Der einzige Zweifel in Coketown war, ob Rachael geschrieben hatte in gutem Glauben, daß er zurückkommen würde, oder ob sie ihm geraten, zu fliehen. In diesem Punkte waren die Meinungen geteilt.

Sechs Tage, sieben Tage, eine neue Woche. Der gemarterte Bengel trug einen totenbleichen Mut zur Schau und begann trotzig zu werden. »War der verdächtige Mensch der Dieb? Eine hübsche Frage! Wenn nicht, wo war der Mann, und warum kam er nicht zurück?«

Wo war der Mann und warum kam er nicht zurück? In der Stille der Nacht kehrte das Echo seiner eigenen Worte, die am Tage, der Himmel weiß, wie weit gerollt waren, wieder zu ihm zurück und weilten bei ihm bis zum Morgen.

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Tag und Nacht kamen, Tag und Nacht gingen. Kein Stephen Blackpool. Wo war der Mann und warum kam er nicht zurück?

Jeden Abend kam Cili zu Rachaels Wohnung und saß mit ihr in ihrem kleinen, reinlichen Zimmer. Den ganzen Tag mühte sich Rachael an ihrer Arbeit ab, wie sich dieser Schlag Leute abmühen muß, so groß ihr Kummer auch sein mag. Die Rauchschlangen waren gleichgültig dagegen, wer verloren oder gefunden wurde, wer einen guten oder schlimmen Ausgang nahm; die melancholisch tollen Elefanten verloren, gleich den Männern der »harten Tatsachen«, nichts von ihrer gesetzten Routine, was immer auch sich ereignen mochte. Tag und Nacht kamen, Tag und Nacht gingen. Die Einförmigkeit war ununterbrochen. Selbst Stephen Blackpools Verschwinden fiel der Alltäglichkeit anheim und wurde ein ebenso eintöniges Wunder wie irgendein Maschinenstück von Coketown.

»Ich zweifle«, sagte Rachael, »ob im ganzen noch zwanzig in der ganzen Stadt übrig sind, die an dem armen, lieben Jungen noch Glauben haben.«

Sie sagte das zu Cili, als sie in ihrer Wohnung beisammensaßen, die einzig von der Lampe an der Straßenecke beleuchtet wurde. Cili war hergekommen, als es schon dunkel war, um ihre Heimkehr von der Arbeit zu erwarten; und sie hatten seitdem am Fenster gesessen, wo Rachael sie gefunden, ohne ein helleres zu verlangen, um ihr kummervolles Gespräch zu bescheinen.

»Wenn es nicht aus Barmherzigkeit so gefügt wäre, daß ich mit Euch sprechen könnte«, fuhr Rachael fort, »so gibt es Zeiten, wo ich glaube, mein Verstand würde sich nicht unverwirrt gehalten haben. Aber ich erhalte Hoffnung und Stärke durch Euch; und Ihr glaubt, daß, obgleich der Anschein sich gegen ihn erheben mag, er unschuldig befunden werden wird?«

»Ich glaube so«, antwortete Cili, »von ganzem Herzen. Ich fühle so zuversichtlich, Rachael, daß das Vertrauen, das Ihr allen Entmutigungen zum Trotze auf das Eurige setzt, nicht falsch sein kann, daß ich nicht mehr an ihm zweifle, als wenn ich ihn durch die Erfahrung so vieler Jahre kennengelernt hätte, wie Ihr.«

»Und ich, meine Teure«, sagte Rachael mit zitternder Stimme, »habe ihn während aller dieser Zeit als so treu gegen alles Edle und Gute in seiner ruhigen Weise erkannt, daß, selbst wenn nie wieder etwas von ihm gehört und ich hundert Jahre alt werden sollte, ich mit meinem letzten Atemzuge erklären könnte: Gott kennt mein Herz, ich habe niemals aufgehört, Stephen Blackpool zu trauen!«

»In unserem Hause, Rachael, glaubt alles, daß er vom Verdachte freikommen werde, früher oder später.«

»Je mehr ich erkenne, daß man mir dort glaubt, meine Teure, und je dankbarer ich es empfinde, daß Ihr von dort herkommt, um mich zu trösten, mir Gesellschaft zu leisten und bei mir gesehen zu werden, während ich selbst noch nicht von allem Verdachte frei bin, desto mehr betrübt es mich, daß ich je diese mißtrauischen Worte zu der jungen Lady sprechen konnte. Und doch –«

»Ihr setzt kein Mißtrauen mehr in sie, Rachael?«

»Jetzt, wo Ihr uns einander nähergebracht habt, nein. Aber ich kann es nicht zu jeder Zeit aus meinem Sinne verbannen –«

Ihre Stimme sank so vollständig zu einem leisen und langsamen Insichhineinreden herab, daß Cili, die dicht neben ihr saß, mit Aufmerksamkeit horchen mußte.

»Ich kann es nicht zu jeder Zeit aus meinem Sinne verbannen, irgend jemanden in Verdacht zu haben. Ich kann mir nicht denken, wer es ist, ich kann mir nicht denken, wie und warum es geschehen sein mag, aber ich hege Verdacht, daß jemand Stephen aus dem Wege geräumt hat. Ich hege Verdacht, daß irgend jemand durch seine freiwillige Zurückkunft und dadurch, daß er sich vor ihnen allen als unschuldig erweisen werde, bloßgestellt würde und, um das zu verhüten, ihn aufgehalten und aus dem Wege geräumt hat.«

»Das ist ein schrecklicher Gedanke«, sagte Cili erbleichend.

»Es ist ein schrecklicher Gedanke, anzunehmen, daß er gemordet sein könnte.«

Cili schauderte und wurde noch bleicher.

»Wenn mir das in den Sinn kommt, Liebe«, sagte Rachael, »und es kommt manchmal, obgleich ich alles tue, um es mir fern zu halten, indem ich bis zu hohen Zahlen bei meiner Arbeit zähle und immer wieder und wieder Stücke hersage, die ich konnte, als ich Kind war, – so verfalle ich in eine so wilde, heiße Unruhe, daß ich trotz meiner Ermüdung meilenweit gehen möchte. Ich muß Herr darüber werden, ehe ich schlafen gehe. Laßt mich mit Euch nach Hause gehen.«

»Er könnte vielleicht auf der Rückreise krank geworden sein«, versetzte Cili, indem sie ihr schüchtern einen abgenutzten Hoffnungsbrosamen hinwarf; »und in diesem Falle gibt es viele Orte am Wege, wo er weilen könnte.«

»Aber er ist in keinem von allen. Er ist in allen gesucht und nicht gefunden worden.«

»Wahr«, mußte Cili widerstrebend zugestehen.

»Er konnte den Weg in zwei Tagen machen. Wenn er schlecht zu Fuß war und nicht gehen konnte, so habe ich ihm in dem Brief, den er erhielt, das Geld geschickt, um zu fahren, damit er sein eigenes nicht auszugeben brauche.«

»Laßt uns hoffen, daß der morgende Tag etwas Besseres bringen werde, Rachael. Kommt an die Luft!«

Ihre freundliche Hand legte Rachaels Schal über ihr glänzend schwarzes Haar zurecht in der gewöhnlichen Weise, wie sie ihn trug, und sie gingen hinaus. Da der Abend schön war, so standen kleine Arbeitergruppen hier und da an den Straßenecken; aber für den größten Teil derselben war es Abendessenzeit, und daher waren nur wenige Leute auf den Straßen.

»Ihr seid jetzt nicht so aufgeregt, Rachael, und Eure Hand ist kühler.«

»Es geht mir besser, Liebe, wenn ich nur gehen und ein wenig frische Luft schöpfen kann. Zur Zeit, wo ich es nicht kann, werde ich schwach und verwirrt.«

»Aber Ihr dürft nicht anfangen, schwach zu werden, denn man könnte Eurer einst bedürfen, um Stephen zur Seite zu stehen. Morgen ist Sonnabend. Wenn wir morgen nichts Neues hören, so laßt uns am Sonntagmorgen einen Spaziergang aufs Land machen und Euch für eine neue Woche stärken. Wollt Ihr?«

»Ja, Liebe.«

Sie befanden sich jetzt in der Straße, wo Mr. Bounderbys Haus stand. Der Weg zu Cilis Bestimmungsort führte sie an der Tür vorüber, und sie gingen gerade darauf los. Vor kurzem war ein Eisenbahnzug in Coketown angekommen, der eine Anzahl Fahrzeuge in Bewegung gesetzt und ein beträchtliches Geräusch über die Stadt verbreitet hatte. Verschiedene Kutschen rasselten vor ihnen und hinter ihnen, als sie sich Mr. Bounderbys Wohnung näherten; und eine von den letzteren fuhr mit solcher Plötzlichkeit vor, als beabsichtige sie das Haus umzufahren, so daß sie sich unwillkürlich umsahen. Das helle Gaslicht über Mr. Bounderbys Treppe zeigte ihnen Mrs. Sparsit in dem Wagen, in einem Übermaß von Aufregung, die sich anstrengte, den Schlag zu öffnen. Mrs. Sparsit, die sie in demselben Augenblick bemerkte, rief ihnen zu, stehenzubleiben.

»Das ist ein glücklicher Zufall«, schrie Mrs. Sparsit, als sie vom Kutscher herausgelassen worden war. »Das ist ein Wink der Vorsehung! Kommt heraus, Madame«, sagte sie darauf zu jemandem drinnen, »oder wir werden Euch herausziehen müssen!«

Hierauf stieg niemand anders als das geheimnisvolle alte Weib aus. Mrs. Sparsit hielt sie unablässig am Kragen fest.

»Rührt sie nicht an, kein Mensch!« rief Mrs. Sparsit mit großer Energie. »Laßt niemand ihr nahe kommen. Sie gehört mir. Kommt herein, Madame, oder wir werden Euch hereinziehen müssen!« sagte sie darauf, ihr früheres Befehlswort wiederholend.

Der Anblick einer Matrone von klassischer Haltung, welche ein altes Weib am Schöpfe gefaßt hält und sie in ein Wohnhaus schleppt, würde unter allen Umständen für alle echt englischen Pflastertreter, denen das Glück geworden, es zu sehen, eine hinreichende Versuchung gewesen sein, sich mit Gewalt einen Weg in dieses Wohnhaus zu bahnen und das Ende der Geschichte mit anzusehen. Aber wenn diese Erscheinung noch erhöht worden wäre durch das Offenkundige und doch Geheimnisvolle, das sich zur Zeit für die ganze Stadt an die Bankräuberei knüpfte, so würde es die Pflastertreter hineingezogen haben mit unwiderstehlicher Gewalt, selbst wenn zu erwarten gestanden hätte, daß die Decke über ihren Häuptern zusammenfalle. Demgemäß drängten sich die Zuschauer, welche sich zufällig vor dem Hause befanden und aus einigen fünfundzwanzig der flinksten Nachbarn bestanden, dicht hinter Cili und Rachael hinein, als diese hinter Mrs. Sparsit und ihrem Opfer eintraten, und die ganze Masse machte einen wüsten Einfall in Mr. Bounderbys Speisesaal; und ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren, stiegen die hinten stehenden Leute auf die Stühle, um besser über die vornstehenden hinwegsehen zu können.

»Ruft Mr. Bounderby herunter!« schrie Mrs. Sparsit. »Jungfer Rachael, wißt ihr, wer das ist?«

»Es ist Mrs. Pegler«, antwortete Rachael.

»Ich sollte denken, daß sie es ist!« rief Mrs. Sparsit frohlockend. »Holt Mr. Bounderby. Weg von hier, jedermann!« Hier murmelte die alte Mrs. Pegler, während sie sich verhüllte und der Beobachtung entzog, ein bittendes Wort. »Nichts davon«, rief Mrs. Sparsit laut, »ich habe Euch zwanzigmal auf dem Wege gesagt, daß ich Euch nicht lassen will, bis ich Euch ihm selbst überliefert habe.«

Jetzt erschien Mr. Bounderby, in Begleitung von Mr. Gradgrind und seinem Bengel, mit denen er droben eine Besprechung gehalten hatte. Mr. Bounderby sah mehr erstaunt als gastfreundlich aus, als er diese ungebetene Gesellschaft in seinem Speisezimmer zu Gesicht bekam.

»Wie, was ist da los!« rief er aus: »Mrs. Sparsit, Madame?«

»Sir«, erklärte die würdige Frau, »ich schätze mich glücklich, eine Person vorzuführen, die zu finden Sie großes Verlangen getragen haben. Ich wurde angefeuert von dem Wunsche, Ihrer Absicht zu Hülfe zu kommen, Sir. Mich leiteten die unvollkommenen Angaben über die Gegend, wo diese Person sich möglicherweise aufhalten könnte, wie sie von der jungen Rachael, die glücklicherweise hier ist, um die Identität zu beweisen, dargeboten wurden, und ich war so glücklich, meine Bemühungen von Erfolg gekrönt zu sehen und besagte Person mitzubringen, ich brauche nicht hinzuzufügen, ganz gegen ihren Willen. Es ist nicht ohne einige Beschwerlichkeit gewesen, daß ich es durchgesetzt habe; aber Beschwerlichkeit in Ihrem Dienste ist mir ein Vergnügen, und Hunger, Durst und Kälte eine wirkliche Befriedigung.«

Hier hielt Mrs. Sparsit inne, denn Mr. Bounderbys Gesicht zeigte eine außergewöhnliche Mischung von allen möglichen Farben und Äußerungen des Mißvergnügens, als sich die alte Mrs. Pegler seinem Blicke entschleierte.

»Wie, was meinen Sie damit?« lautete seine höchlich unerwartete Frage, in großem Zorne. »Ich frage Sie, was Sie damit meinen, Mrs. Sparsit, Madame?«

»Sir!« rief Mrs. Sparsit, mit einer Ohnmacht ringend.

»Warum, bekümmern Sie sich nicht um Ihre eigenen Angelegenheiten, Madame?« brüllte Bounderby. Wie erkühnen Sie sich, Ihre zudringliche Nase in meine Familienangelegenheiten zu stecken?« Diese Anspielung auf ihren bevorzugten Gesichtsteil überwältigte Mrs. Sparsit, sie fiel auf einen Stuhl nieder, als wenn sie erfroren wäre; und mit einem starren Blick auf Mr. Bounderby rieb sie langsam die Handschuhe gegeneinander, als wären sie auch erfroren.

»Mein teurer Josiah!« rief Mrs. Pegler zitternd. »Mein geliebtes Kind! Ich bin nicht zu tadeln. Es ist nicht meine Schuld, Josiah! Ich sagte dieser Lady wieder und wieder, daß ich wüßte, sie wäre im Begriff etwas zu tun, was dir nicht angenehm sein würde, aber sie wollte es so.«

»Warum ließt Ihr Euch von ihr herbringen? Konntet Ihr nicht ihr die Haube ein- oder einen Zahn ausschlagen, oder sie kratzen oder ihr etwas anderes antun?« fragte Bounderby.

»Mein einziges Kind! Sie drohte mir, daß ich, wenn ich ihr Widerstand leistete, von Schutzleuten hergebracht werden würde, und es sei besser, ruhig mitzukommen, als einen solchen Aufruhr in einem –« Mrs. Pegler blickte scheu aber stolz im Zimmer umher – »so feinen Hause, wie dieses zu erregen. Wahrlich, wahrlich, es ist nicht meine Schuld! Mein lieber, guter, stattlicher Junge! Ich habe immer ruhig und geheim gelebt, Josiah, mein Lieber. Ich habe nicht ein einziges Mal die Bedingung gebrochen. Ich habe nie gesagt, ich sei deine Mutter. Ich habe dich aus der Entfernung bewundert; und wenn ich zuweilen zur Stadt kam, in langen Zwischenräumen, um einen stolzen Blick auf dich zu tun, so habe ich es unerkannt getan, meine Seele, und bin wieder fortgegangen.«

Mr. Bounderby, seine Hände in den Taschen, ging in tödlicher Ungeduld an dem langen Speisetische auf und ab, während die Zuschauer gierig jede Silbe von Mrs. Peglers Rede verschlangen und mit jeder neuen Silbe größere Augen machten. Da Mr. Bounderby noch auf und ab ging, als Mrs. Pegler geendet hatte, so redete Mr. Gradgrind das angeschuldigte alte Weib an:

»Ich bin erstaunt, Madame«, bemerkte er streng, »daß Ihr in Euren alten Tagen noch die Stirne habt, auf Mr. Bounderby als Euren Sohn Anspruch zu machen, nachdem Ihr ihn so unnatürlich und unmenschlich behandelt habt.«

»Ich unnatürlich!« schrie die arme alte Mrs«. Pegler. »Ich unmenschlich gegen mein teures Kind?«

»Teuer!« wiederholte Mr. Gradgrind. »Ja teuer durch sein selbsterworbenes Vermögen, Madame, nehme ich mir die Freiheit zu sagen. Jedoch nicht sehr teuer, als Ihr ihn in seiner Kindheit verließet und der Roheit einer versoffenen Großmutter ausliefertet.«

»Ich meinen Josiah verlassen!« rief Mrs. Pegler aus, ihre Hände zusammenschlagend, »Nun, der Herr vergebe Euch Eure gottlosen Erfindungen und Eure Sünde gegen das Andenken meiner armen Mutter, welche in meinen Armen starb, ehe Josiah geboren ward. Möget Ihr Reue deshalb finden, Sir, und leben, um zur besseren Erkenntnis zu gelangen!«

Sie war so ernsthaft und empört, daß Mr. Gradgrind, von der Möglichkeit, die in ihm aufdämmerte, betroffen, in freundlicherem Tone weiter sagte:

»Ihr leugnet also, Madame, daß Ihr Euren Sohn in einer Gosse seinem Schicksal überließt?«

»Josiah in der Gosse!« rief Mrs. Pegler aus. »Nichts von der Art, Sir. Schämt Euch vor Euch selbst! Mein liebes Kind weiß und wird es Euch wissen lassen, daß, wenn er auch von geringen Eltern herkommt, er doch von Eltern herkommt, die ihn so sehr liebten, wie es die besten nur zu tun vermöchten. Sie hielten es nie für eine harte Entbehrung, sich einen Bissen abzuzwacken, damit er gut schreiben und rechnen lernen möchte; und ich habe seine Bücher noch zu Hause, die es beweisen. Wahrhaftig, ich habe sie!« sagte Mrs. Pegler mit unwilligem Stolze. Und mein lieber Knabe weiß und wird es Euch auch wissen lassen, Sir, daß nach seines geliebten Vaters Tode, als er acht Jahre alt war, seine Mutter sich ebenfalls ein bißchen absparen konnte, wie zu tun ihre Schuldigkeit und ihr Stolz und ihr Glück war, um ihm im Leben aufzuhelfen und Erziehung beizubringen. Und er war ein beharrlicher Junge, und ein gütiger Lehrer stand ihm zur Seite. So ging er schön seinen eigenen Weg vorwärts, bis er reich und glücklich wurde. Und ich will Euch wissen lassen, Sir – denn mein Sohn wird es nicht tun –, daß, obgleich seine Mutter nur einen kleinen Dorfladen unterhält, er sie nimmer vergaß, sondern mir eine Pension von dreißig Pfund jährlich aussetzte – mehr als ich nötig habe, denn ich lege davon auf die Seite. Er stellte nur die Bedingung, daß ich mich in stiller Zurückgezogenheit halten, nicht mit ihm großtun und ihn nicht in Verlegenheit bringen sollte. Und ich habe es nie getan, außer daß ich einmal des Jahrs nach ihm sah, ohne daß er es wußte. Und es ist recht«, sagte die arme alte Mrs. Pegler in ihrer liebevollen Verteidigung, »daß ich mich zurückhalten sollte. Ich habe gar keinen Zweifel, daß ich, wenn ich hier wäre, gar viel unpassende Dinge tun würde, und ich bin wohl zufrieden damit. Ich kann meinen Stolz auf meinen Josiah für mich behalten, und ich kann lieben um der Liebe selbst willen. Und ich schäme mich in Eure eigene Seele hinein, Sir«, sagte Mrs. Pegler am Ende, »für Eure Lügen und Verdächtigungen. Und ich stand hier nie zuvor, noch verlangte ich je hier zu stehen, da mein lieber Sohn nein sagte. Und ich würde auch jetzt nicht hier sein, wenn ich nicht hierher gebracht worden wäre. Und Pfui über Euch, o! ob der Schande, mich anzuklagen, meinem Sohne eine schlechte Mutter zu sein, während mein Sohn hier steht und es Euch so anders sagen könnte!«

Die Beistehenden, an und auf den Stühlen des Speisezimmers, erhoben ein Gemurmel der Teilnahme für Mrs. Pegler, und Mr. Gradgrind fühlte sich unschuldigerweise in eine sehr unangenehme Lage versetzt, als Mr. Bounderby, der unablässig auf und nieder gegangen, und jeden Augenblick dicker und dicker aufgeschwollen und röter und röter geworden war, plötzlich stehenblieb.

»Ich weiß nicht genau«, sagte er, »wie ich dazu komme, mit der Gegenwart der anwesenden Gesellschaft beehrt zu werden, aber ich will es unerörtert lassen. Wenn sie ganz zufriedengestellt sind, so wollen sie vielleicht so gut sein, sich zu verlieren. Oder mögen sie zufriedengestellt sein oder nicht, vielleicht wollen sie doch so gut sein, sich zu verlieren. Ich bin nicht verpflichtet, eine Vorlesung über meine Familienangelegenheiten zu halten, ich habe nicht übernommen, es zu tun, und bin nicht willens, es zu tun. Daher werden diejenigen, welche irgendwelche Auseinandersetzung über diesen Gegenstand erwarten, sich sehr getäuscht sehen, – namentlich Tom Gradgrind, und er kann dieses nicht zu früh erfahren. Was den Bankdiebstahl anbelangt, so ist hier ein Versehen gemacht, soweit es meine Mutter betrifft. Wenn hier nicht Überdienstfertigkeit stattgefunden hätte, so würde es nicht gemacht worden sein, und ich hasse Überdienstfertigkeit zu jeder Zeit, mit oder ohne Erfolg. Guten Abend!«

Obgleich Mr. Bounderby es in dieser Weise totzuschlagen suchte, indem er die Türe für den Abmarsch der Gesellschaft offenhielt, so war doch eine polternde Unsicherheit an ihm, die ihn zu gleicher Zeit sehr niedergeschlagen und über alle Maßen albern erscheinen ließ. Entlarvt als ein Mensch, der mit seiner Demut renommiert, der sein windiges Ansehen auf Lügen erbaut und in seiner Prahlerei die einfachste Wahrheit soweit von sich abgetan hatte, daß er den verächtlichen Anspruch erhob (es gibt keinen verächtlicheren), einen Stammbaum zu besitzen. Als die Leute an der Tür vorüberzogen, welche er hielt, wußte er, daß sie das Geschehene in der ganzen Stadt herumtragen und seinen Namen den vier Winden preisgeben würden. Er hätte nicht augenfälliger als ein geschorener und verlorener Aufschneider erscheinen können, und wenn er abgestutzte Ohren gehabt hätte. Selbst das unglückliche Frauenzimmer, Mrs. Sparsit, die vom Gipfel ihres Frohlockens in den Sumpf der Verzweiflung herabgestürzt war, befand sich nicht in einem so kläglichen Zustande, als jener gewichtige Mann und selbstgeschaffene Humbug, Josiah Bounderby von Coketown.

Als Rachael und Cili Mrs. Pegler, die für diese Nacht ein Bett im Hause ihres Sohnes erhalten sollte, verließen, gingen sie miteinander bis zum Tore von Stone Lodge und trennten sich hier. Mr. Gradgrind holte sie ein, ehe sie noch sehr weit gegangen waren, und sprach mit großem Interesse von Stephen Blackpool, für den seiner Meinung nach dieses wunderbare Aufhören des Verdachtes gegen Mrs. Pegler von guter Wirkung sein mußte.

Was den Bengel anbetraf, so hielt er sich während dieser ganzen Szene sowie bei allen früheren Gelegenheiten dicht hinter Bounderby. Er schien zu fühlen, daß, solange Bounderby keine Entdeckungen ohne sein Mitwissen machen konnte, er so ziemlich sicher war. Er besuchte nie seine Schwester; seitdem sie heimgekehrt war, hatte er sie nur einmal gesehen, an dem Abend, als er Bounderby auf den Fersen gefolgt war, wie schon erwähnt.

Es lagerte eine dunkle, unbestimmte Furcht auf dem Gemüte seiner Schwester, der sie nie Sprache verlieh, aber die den gottlosen und undankbaren Bengel mit einem geheimnisvollen Grauen umgab. Dieselbe dunkle Möglichkeit hatte sich auch in gleich gestaltloser Weise Cilis Geiste gerade an diesem Tage vorgestellt, als Rachael von jemandem sprach, der vielleicht durch Stephens Rückkunft hätte bloßgestellt werden können und ihn deshalb aus dem Wege geräumt habe. Luise hatte nie davon gesprochen, daß sie irgendwelchen Verdacht auf ihren Bruder in betreff des Diebstahls hege; sie und Cili hatten sich hierüber einander nicht anvertraut, ausgenommen in jenem Austausch von Blicken, als der Vater ahnungslos sein greises Haupt auf die Hand stützte; aber sie hatten sich verstanden, und sie wußten es beide.

Diese andere Befürchtung war so grauenhaft, daß sie jede von ihnen wie ein geisterhafter Schatten umschwebte; obgleich keine zu denken wagte, er sei ihr nahe, und noch weit weniger, daß er sich neben der andern befinde.

Und immer wuchs der künstliche Mut, den der Bengel gefaßt hatte. Wenn Stephen Blackpool der Dieb nicht war, laßt ihn sich doch zeigen. Warum tat er es nicht?

Eine andere Nacht. Wieder ein Tag und eine Nacht. Kein Stephen Blackpool. Wo war der Mann und warum kam er nicht zurück?

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Es war ein strahlender Herbstsonntag, klar und kühl, als Cili und Rachael früh am Morgen sich trafen, um einen Spaziergang aufs Land zu machen.

Da Coketown nicht nur sein eigenes Haupt, sondern auch das der Nachbarschaft mit Asche bestreute – nach Art jener frommen Menschen, die für ihre eigenen Sünden Buße tun, indem sie andere Leute in den Sack stecken – so pflegten diejenigen, die dann und wann nach einem Zug frischer Luft dürsteten (nicht gerade die schlimmste von den Eitelkeiten des menschlichen Lebens) erst einige Meilen weit auf der Eisenbahn zu fahren und dann ihren Spaziergang zu beginnen oder sich gemächlich im Freien zu lagern.

Cili und Rachael halfen sich aus dem Rauche durch das übliche Mittel und stiegen auf der Station, die auf halbem Wege zwischen der Stadt und Mr. Bounderbys Landsitz lag, aus.

Obgleich die grüne Landschaft hier und da mit Kohlenhaufen befleckt war, so war sie doch an andern Orten grün, und es waren Bäume zu sehen, und Lerchen sangen (obgleich es Sonntag war) und angenehme Düfte erfüllten die Luft, und alles war von einem glänzend blauen Himmel überwölbt. Nach einer Richtung hin zeigte sich Coketown wie ein schwarzer Nebel; nach einer andern begannen Hügel emporzusteigen; nach einer dritten machte sich eine leise Veränderung in der Beleuchtung des Horizontes bemerkbar, da wo er auf das ferne Meer schien. Unter ihren Füßen war das Gras frisch, schöne Schatten von Baumzweigen spielten auf ihm hin und her und sprenkelten es; die Laubhecken waren üppig; über alles verbreitete sich Friede. Grubenmaschinen und magere, alte Pferde, welche den Kreislauf ihrer täglichen Arbeit auf dem Felde unterbrochen hatten, waren gleichfalls ruhig; die Räder hatten für eine kurze Zeit aufgehört, sich zu drehen, und das große Erdrad schien sich ohne seine gewöhnlichen Stöße und lärmenden Töne umzuwälzen.

Sie wanderten weiter durch die Felder und die schattigen Heckenwege hinunter, zuweilen stiegen sie über die Reste eines Zaunes, so modrig, daß sie unter der Berührung ihres Fußes zusammenfielen, zuweilen kamen sie an mit Gras bewachsenen Trümmern von Ziegelsteinen und Balken vorbei, die die Stelle verlassener Werkstätten bezeichneten. Sie folgten Pfaden und Spuren, so unbedeutend sie auch sein mochten. Schlünde, wo das Gras dicht und hoch, und wo Brombeersträuche, Ampferkraut und ähnliche Vegetation verworren zusammengehäuft war, vermieden sie immer; denn man erzählte sich in dieser Gegend schreckliche Geschichtchen von alten Gruben, die unter solchen Kennzeichen verborgen lägen.

Die Sonne stand hoch, als sie sich zur Ruhe niedersetzten. Sie hatten seit lange keinen Menschen, weder nah noch fern, gesehen; und die Einsamkeit blieb ununterbrochen. »Es ist so still hier, Rachael, und der Weg ist so unbetreten, daß ich glaube, wir müssen die ersten sein, die den ganzen Sommer über hier gewesen sind.«

Als Cili das sagte, wurden ihre Augen von einem andern dieser verrotteten Gehegeüberbleibsel auf dem Felde angezogen. Sie stand auf, um es in Augenschein zu nehmen. »Ich weiß nicht, dies ist noch nicht lange abgebrochen worden. Das Holz ist ganz frisch, wo es gebrochen. Hier sind auch Fußtapfen. – O, Rachael!«

Sie lief zurück und fiel ihr um den Hals. Rachael war schon aufgesprungen.

»Was gibt’s?«

»Ich weiß nicht. Da liegt ein Hut im Grase.«

Sie gingen zusammen vorwärts. Rachael nahm ihn auf, am ganzen Leibe zitternd. Sie brach in eine Flut von Tränen und Wehklagen aus. »Stephen Blackpool« stand auf der Innenseite von seiner eigenen Hand geschrieben.

»O, der arme Junge, der arme Junge! Er ist also doch auf die Seite geschafft worden; er liegt ermordet hier!«

»Hat denn – hat der Hut eine Blutspur an sich?« stammelte Cili.

Sie fürchteten sich, darauf zu blicken; gleichwohl untersuchten sie ihn und fanden kein Merkmal von Gewalttätigkeit, weder auswendig noch inwendig. Er mußte hier einige Tage gelegen haben, denn Regen und Tau hatten ihn gehärtet, und der Abdruck seiner Form befand sich auf dem Grase, da, wo er gefallen war. Sie blickten angstvoll um sich, ohne sich von der Stelle zu rühren, aber sie konnten nichts weiter bemerken. »Rachael«, flüsterte Cili, »ich will allein ein wenig vorwärts gehen.«

Sie hatte ihre Hand losgemacht und war im Begriff, vorwärtszuschreiten, als Rachael sie mit beiden Armen umschloß und einen Schrei ausstieß, der weithin über das Feld ertönte. Gerade vor ihren Füßen war der Abgrund eines schwarzen, zerrissenen Schlundes, unter dichtem Grase verborgen. Sie sprangen zurück und fielen auf ihre Knie, indem jede ihr Gesicht auf der Schulter der andern verbarg.

»O, mein guter Gott, er liegt dort unten, dort unten!« Dies und ihre schrecklichen Schmerzensrufe waren fürs erste alles, was von Rachael herausgebracht werden konnte, trotz aller Tränen, Bitten, Vorstellungen und Versuche. Es war unmöglich, sie zu besänftigen, und dringend notwendig, sie zu halten, oder sie würde sich selbst in den Abgrund gestürzt haben.

»Rachael, liebe Rachael, gute Rachael, bei der Liebe des Himmels, nicht diese fürchterlichen Schreie! Denk an Stephen, denk an Stephen, denk an Stephen!«

Durch eine ernstliche Wiederholung dieser Beschwörung, die mit all der Verzweiflung eines solchen Augenblickes ausgesprochen wurde, brachte es Cili endlich dahin, daß sie schwieg und sie mit einem tränenlosen, versteinerten Gesichte anblickte.

»Rachael, Stephen kann noch leben. Du würdest ihn doch nicht einen Augenblick verstümmelt auf dem Grunde dieses fürchterlichen Ortes liegen lassen wollen, wenn du ihm Hilfe bringen könntest?«

»Nein, nein, nein!«

»Rühre dich nicht von der Stelle, ihm zu Liebe! Ich will gehen und horchen.«

Sie schauderte, sich der Grube zu nähern; aber sie kroch auf Händen und Knien auf sie zu und rief seinen Namen, so laut sie nur rufen konnte. Sie lauschte, aber kein Schall antwortete. Sie rief wieder und horchte wieder, und immer kein antwortender Ton. Sie tat das zwanzig-, dreißigmal. Sie nahm eine Erdscholle von dem aufgewühlten Boden, worüber er gestolpert war, und warf sie hinein. Sie konnte ihren Fall nicht hören.

Die weite Aussicht, noch vor wenigen Minuten so schön in ihrer Stille, erfüllte jetzt ihr mutiges Herz fast mit Verzweiflung, als sie sich erhob und nach allen Seiten blickte, ohne Hilfe zu sehen. »Rachael, wir dürfen keinen Augenblick verlieren. Wir müssen nach verschiedenen Richtungen gehen und Hilfe suchen. Du wirst den Weg gehen, den wir gekommen, und ich will auf dem Pfade vorwärts gehen. Erzähle jedermann, den du triffst, was sich ereignet hat, wer es auch sei. Denk an Stephen, denk an Stephen!«

Sie sah an Rachaels Gesicht, daß sie jetzt Vertrauen auf sie setzen konnte. Nachdem sie ihr eine Zeitlang nachgesehen, während sie so dahinlief und die Hände rang, wandte sie sich um und ging fort, um selbst nachzusuchen: sie hielt an der Hecke an, um hier ihren Schal zu befestigen, als einen Wegzeiger zu dem Platze, dann warf sie ihren Hut zur Seite und lief, wie sie nie zuvor gelaufen war.

Laufe, Cili, laufe, in des Himmels Namen! Halte nicht an, um Atem zu schöpfen. Lauf, lauf! Sich selbst zur Eile antreibend, indem sie sich solche Ermahnungen in ihren Gedanken gab, lief sie von Feld zu Feld, von Heckenweg zu Heckenweg, von Platz zu Platz, wie sie noch nie zuvor gelaufen war: bis sie zu einem Schuppen an einem Maschinenhause kam, in dessen Schatten zwei Männer lagen und auf Stroh schliefen.

Erst sie zu wecken, und dann ihnen zu erzählen, so verstört und atemlos wie sie war, was sie hierhergeführt, hatte seine Schwierigkeiten: aber kaum hatten sie verstanden, warum es sich handelte, als ihre Lebensgeister von gleichem Feuer ergriffen wurden, wie die ihrigen. Einer der Männer war in einem betrunkenen Dusel, aber als sein Kamerad ihm laut zuschrie, daß ein Mann in den »Alten Höllenschacht« gefallen sei, sprang er fort zu einem Pfuhle schmutzigen Wassers, steckte seinen Kopf hinein und kam nüchtern zurück.

Mit diesen zwei Männern lief sie zu einem andern eine halbe Meile weiter, und mit diesem noch zu einem andern, während die ersten wieder zu andern liefen. Dann wurde ein Pferd gefunden, und sie gab einem andern Mann den Auftrag, auf Leben und Tod zur Eisenbahn zu reiten und Luise eine Botschaft zu übermitteln, die sie schrieb und ihm einhändigte. Mittlerweile war die Bevölkerung eines ganzen Dorfes auf den Beinen, und Winden, Stricke, Stangen, Lichter, Laternen und alle notwendigen Sachen wurden schnell herbeigeschafft, um zu dem »Alten Höllenschacht« gebracht zu werden.

Es schienen ihr bereits Stunden verflossen zu sein, seitdem sie den unglücklichen Mann in dem Grabe liegend, worin er lebendig begraben worden war, verlassen hatte. Sie konnte nicht länger ertragen, von ihm entfernt zu bleiben – das schien ihr wie ein Imstichlassen – und sie eilte schnell zurück, von einem halben Dutzend Arbeiter begleitet, einschließlich des betrunkenen Mannes, den die Nachricht nüchtern gemacht hatte, und welcher der tüchtigste von allen war. Als sie zu dem »Alten Höllenschacht« kamen, fanden sie ihn so einsam, als sie ihn verlassen hatten. Die Leute riefen und horchten, wie sie getan hatte, untersuchten den Rand des Abgrundes, besprachen, wie es hätte gekommen sein können, und setzten sich dann nieder, um zu warten, bis die Werkzeuge, die sie brauchten, herankämen.

Jedes Schwirren der Insekten in der Luft, jede Bewegung der Blätter, jedes Geflüster unter diesen Männern machte Cili erzittern, denn sie hielt es für einen Schrei in der Tiefe der Grube. Aber der Wind blies lässig darüber hin und kein Ton drang zur Oberfläche, und sie saßen auf dem Grab, wartend und wartend. Nachdem sie eine Zeitlang so gewartet hatten, begannen herumstreifende Leute, welche von dem Unfall gehört hatten, heranzukommen, dann langte die wahre Hilfe der Werkzeuge an. Mitten unter ihnen kehrte Rachael zurück, und mit ihr kam ein Wundarzt mit Wein und Arzneien. Aber die Hoffnung unter den Leuten, daß der Mann noch am Leben gefunden werden könnte, war in der Tat sehr klein.

Da jetzt genug Leute da waren, um die Arbeit zu beginnen, so stellte sich der nüchtern gewordene Mann an die Spitze des Ganzen, oder wurde durch allgemeine Zustimmung dazu berufen, zog einen weiten Kreis um den »Alten Höllenschacht« und stellte Männer an, ihn zu hüten. Außer solchen Freiwilligen, die zur Hülfeleistung angenommen worden waren, wurde vorerst nur Cili und Rachael gestattet, sich in diesem Kreis aufzuhalten: aber im Verlaufe des Tage«, al« die Nachricht einen Extrazug von Coketown brachte, befanden sich auch Mr. Gradgrind und Luise und Mr. Bounderby und der Bengel da.

Die Sonne stand vier Stunden tiefer als zu der Zeit, wo sich Rachael und Cili zuerst in das Gras niedergesetzt hatten, ehe eine Maschine von Stangen und Stricken errichtet war, vermittels deren zwei Männer mit Sicherheit hinabsteigen konnten. Bei dem Bau dieser Maschine hatten sich Schwierigkeiten erhoben, so einfach sie auch war: man hatte gefunden, daß gewisse Erfordernisse mangelten, und Botschafter mußten hin und zurück geschickt werden. Es war fünf Uhr am Nachmittage dieses heitern Sonntags, ehe ein Licht hinuntergelassen werden konnte, um die Luft zu prüfen, während drei bis vier rauhe Gesichter dicht zusammengedrängt standen, um es aufmerksam zu beobachten, und die Männer an der Winde drehten, wie sie angewiesen wurden. Das Licht wurde wieder herausgebracht, noch schwach brennend, dann wurde etwa« Wasser hineingeschüttet. Hierauf wurde der Eimer angehakt, und der nüchtern gewordene Mann stieg in Begleitung eines anderen mit Lichtern hinein und gab das Kommando »Niedergelassen!«

Als das Seil auslief, fest gespannt und angezogen und die Winde knarrte, war kein Atem unter den ein- oder zweihundert männlichen und weiblichen Zuschauern, der so ging, wie er zu gehen gewohnt war. Das Signal wurde gegeben, und die Winde hielt an, ein ansehnliches Stück Tau war unbenutzt. Jetzt folgte dem Anscheine nach ein so langer Zwischenraum, während dessen die Männer an der Winde müßig standen, daß einige Weiber schrien, es habe sich ein zweites Unglück ereignet! Aber der Arzt, welcher die Uhr in der Hand hielt, erklärte, daß noch nicht fünf Minuten verflossen wären und forderte sie streng auf, sich still zu verhalten. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als die Winde sich umdrehte und von neuem arbeitete. Geübte Augen bemerkten, daß sie nicht so schwer ging, als wenn beide Arbeiter heraufkämen, und daß nur einer zurückkehrte. Das Seil kam an, fest und stramm, Ring auf Ring wurde um den Windebaum gewunden, und alle Augen waren auf die Grube gerichtet. Der ernüchterte Mann wurde herausgebracht und sprang lebhaft auf das Gras. Jetzt erhob sich ein allgemeiner Schrei: »Lebendig oder tot?« und dann tiefe, atemlose Stille.

Als er antwortete: »Lebendig!« erhob sich ein allgemeiner Ausruf der Freude, und manches Auge füllte sich mit Tränen.

»Aber er ist sehr schwer verletzt«, fügte er hinzu, sobald er sich wieder Gehör verschaffen konnte. »Wo ist der Doktor? Er ist so außerordentlich schwer verletzt, daß wir nicht wissen, wie wir ihn herausbringen sollen.«

Sie beratschlagten gemeinsam miteinander und blickten gespannt auf den Arzt, al« er einige Fragen tat und bei den erhaltenen Antworten seinen Kopf schüttelte. Die Sonne neigte sich jetzt, und die rote Beleuchtung des Abendhimmels fiel auf jedes Gesicht, so daß es genau in all seiner zweifelnden Spannung beobachtet werden konnte.

Da« Ergebnis der Beratung war, daß die Männer zur Winde zurückkehrten und der Grubenmann nochmals hinunterstieg und den Wein und einige Kleinigkeiten mit sich nahm. Dann kam der andere Mann herauf. Mittlerweile brachten einige Männer unter Anleitung des Wundarztes eine Hürde herbei, auf welche andere ein dickes Bett von mit Tüchern überdecktem losen Stroh machten! er selbst verfertigte sich einige Bandagen und Binden aus Schals und Taschentüchern. Als diese fertig waren, wurden sie dem Grubenmanne, der zuletzt heraufgekommen war, über den Arm gehängt, mit Anweisungen, wie er sie gebrauchen solle. Als er so dastand, von dem Lichte, das er bei sich führte, beleuchtet, während er seine kräftige Hand leicht auf einen der Pfähle stützte, bald in die Grube hinunterblickend, bald auf das Volk im Kreise umher, war er nicht die am wenigsten hervorragende Gestalt in der Szene. Es war jetzt finster, und man zündete Fackeln an.

Nach dem wenigen, was der Mann zu den Umstehenden sagte, und was schnell übel den ganzen Kreis hin wiederholt wurde, schien es, daß der verunglückte Mann auf einen Haufen zerkrümelten Schuttes gefallen war, mit dem die Grube halb verstopft war. Ferner war die Gewalt seines Falles durch Erdunebenheiten an der Seite gebrochen worden. Er lag auf seinem Rücken, den einen Arm gequetscht unter sich, und hatte seinem eigenen Glauben nach kaum sich geregt, seitdem er gefallen, außer daß er seine freie Hand zu einer Seitentasche geführt, worin er sich erinnerte, etwas Fleisch und Brot zu haben. Er verschluckte ein paar Krumen davon und tunkte damit ab und zu etwas Wasser auf. Er war geradenwegs von seiner Arbeit gegangen, sobald man an ihn geschrieben hatte, und war den ganzen Tag über marschiert: er befand sich gerade auf dem Wege zu Mr. Bounderbys Landsitz nach Einbruch der Dunkelheit, als er fiel. Er durchschritt diese gefährliche Gegend zu einer so gefährlichen Zeit, weil er unschuldig an dem war, was man ihm zur Last legte, und den nächsten Weg einschlagen wollte, auf dem er sich stellen konnte. Der »Alte Höllenschacht«, sagte der Grubenmann, mit einem Fluche auf ihn, hätte sich endlich seines bösen Namen« würdig gezeigt, denn obgleich Stephen setzt noch nicht sprechen könne, so glaubte er doch, man würde bald sehen, wie er ihn ums Leben gebracht.

Als alles bereit war, verschwand dieser Mann in der Grube. Er empfing noch die letzten hastigen Aufträge von seinen Kameraden und dem Arzte, nachdem die Winde schon begonnen hatte, ihn hinabzulassen. Das Tau lief aus wie zuvor, das Signal wurde gegeben wie zuvor, und die Winde hielt an. Kein Arbeiter zog jetzt seine Hand von ihr zurück. Jeder wartete, seine Hand am Griffe und seinen Körper zur Maschine niedergebeugt, bereit, umzuwinden und aufzuwinden. Endlich wurde das Zeichen gegeben, und der ganze Kreis neigte sich vorwärts.

Denn jetzt wand sich das Seil ein, wie es schien, aufs äußerste angespannt und stramm gezogen. Die Männer drehten mit Anstrengung, und die Winde ächzte. Es war fast unerträglich, auf das Seil zu blicken und zu denken, daß es reißen könnte. Aber Ring auf Ring schlang sich sicher um den Windebaum, und die Verbindungsketten erschienen, und endlich der Eimer mit den zwei Männern, die sich an den Seiten festhielten – ein Anblick, um den Kopf schwindeln zu machen und das Herz zu erdrücken –, und die Gestalt eines armen, zerschlagenen, menschlichen Wesens, sorgsam von ihnen unterstützt, umschlungen und angeknüpft.

Ein leises Gemurmel des Mitleids erhob sich rings aus dem Gedränge. Die Weiber weinten laut, als diese Gestalt, beinahe ohne Gestalt, ganz langsam von seiner eisernen Transportmaschine befreit und auf da« Strohbett gelegt wurde. Zuerst trat niemand als der Wundarzt heran. Er tat, was er konnte, bei seinem Niederlegen auf das Ruhebett, aber das beste, was er tun konnte, war ihn zuzudecken. Als er das sanft getan hatte, rief er Rachael und Cili herbei. Und jetzt sah man da« bleiche, abgehärmte, leidende Gesicht zum Himmel emporblicken, während die gebrochene rechte Hand bloß auf der Außenseite der Kleiderdecken lag, als wenn sie darauf wartete, von einer anderen Hand ergriffen zu werden.

Sie gaben ihm zu trinken, besprengten sein Gesicht mit Wasser und reichten ihm einige Tropfen zur Herzstärkung und etwas Wein. Obgleich er ganz bewegungslos dalag und zum Himmel blickte, lächelte er und sagte: »Rachael.«

Sie fiel nieder aufs Gras an seine Seite und beugte sich über ihn, bis sich ihre Augen zwischen den seinigen und dem Himmel befanden, denn er war nicht imstande, sie zu bewegen, um Rachael anzublicken.

»Rachael, meine Geliebte!«

Sie nahm seine Hand. Er lächelte wieder und sagte: »Laß sie nicht wieder los.«

»Du hast viele Schmerzen, mein einzig lieber Stephen?«

»Ich habe sie gehabt, aber jetzt nicht mehr. Ich habe sie gehabt – schrecklich und lang gelitten – aber es ist jetzt vorüber. Ah, Rachael, und alles ein trüber Schlamm! Ein trüber Schlamm, von Anfang bis zu Ende!«

Ein Schatten seines früheren Wesens schien zurückzukehren, als er diese Worte sprach.

»Ich bin in die Grube gefallen, Liebe, wie, nach den Erzählungen alter Leute, bereits Hunderte und Hunderte von Menschenleben – Väter, Söhne, Brüder, die Tausenden und Tausenden teuer waren, die sie vor Mangel und Hunger schützten. Ich bin in eine Grube gefallen, die mit Feuerdampf angefüllt war, schrecklicher als eine Schlacht. Ich habe in der öffentlichen Bittschrift gelesen, wie jedermann lesen konnte, von den Männern, die in den Gruben arbeiten. Darin flehten sie die Gesetzgeber um Christi willen an, ihre Arbeit nicht zum Mörder an ihnen werden zu lassen, sondern sie zu schonen für Weib und Kind, die sie ebensosehr lieben, wie vornehme Leute die ihren. Als die Grube in Betrieb war, tötete sie ohne Not: jetzt, wo sie verlassen ist, tötet sie auch ohne Not. Sieh, wie wir sterben ohne unser Verschulden, so oder so – in einem trüben Schlamme – alle Tage!«

Er sagte das matt, ohne den geringsten Zorn gegen irgendwen. Lediglich als Wahrheit.

»Du hast deine kleine Schwester nicht vergessen, Rachael. Du wirst sie nicht so leicht vergessen und mich, der ich ihr so nahe bin. Du weißt – arme, stille, liebe Dulderin – wie du für sie arbeitetest, während sie alle Tage lang in ihrem kleinen Stuhl an deinem Fenster saß. Sie starb, jung und ungestaltet, hinsiechend an krankhafter Luft, wie es doch nicht zu sein brauchte, und hinsiechend an den elenden Wohnungen des Arbeitervolkes. Ein schmutziger Schlamm! Alles ein schmutziger Schlamm!«

Luise näherte sich ihm; aber er konnte sie nicht sehen, da er mit seinem Antlitze gegen den nächtlichen Himmel gerichtet lag.

»Wenn nicht alle Dinge, die sich auf uns beziehen, Liebe, so finster und schmutzig wären, so hätte ich nicht brauchen hierherzukommen. Wenn wir uns nicht unter uns selbst im Schlamme bewegten, so würde ich nicht von meinen eigenen Webergenossen und Arbeiterbrüdern so mißverstanden worden sein. Wenn Mr. Bounderby mich jemals recht gekannt hätte – wenn er mich überhaupt gekannt hätte, so würde er sich niemals gegen mich erzürnt haben. Er hätte mich nicht in Verdacht haben können. Aber sieh nur dort, Rachael! Blicke nach oben hin!«

Indem sie seinen Augen folgte, bemerkte sie, daß er auf einen Stern blickte.

»Der hat auf mich geschienen«, sagte er ehrfurchtsvoll, »in meinen Leiden und meinem Elend da unten. Er hat in mein Herz geschienen. Ich habe auf ihn geblickt und habe an dich gedacht, Rachael, bis das Dunkel in meinem Geist sich zerstreute. Wenn manche sich die Mühe genommen hätten, mich besser zu verstehen, so würde ich mir auch die Mühe genommen haben, sie besser zu verstehen. Als ich deinen Brief erhielt, glaubte ich leicht, daß das, was die junge Lady mir sagte und tat, und was ihr Bruder mir sagte und tat, ein und dasselbe wäre, und daß eine böse Übereinkunft zwischen ihnen bestände. Als ich fiel, war ich sehr aufgebracht auf sie und ließ mich verleiten, so ungerecht gegen sie zu sein, wie andere gegen mich waren. Aber in unseren Urteilen wie in unseren Handlungen müssen wir duldsam und geduldig sein. Als ich in meiner Not und Trübsal so nach oben blickte und – der Stern über mir leuchtete – habe ich klarer gesehen und habe es zu meinem Sterbegebet gemacht, daß die ganze Welt nur näher zusammenrücken und ein besseres gegenseitiges Verständnis gewinnen möge, als es meinem armen schwachen Selbst vergönnt war.«

Als Luise hörte, was er sagte, beugte sie sich auf der andern Seite, Rachael gegenüber, auf ihn herunter, so daß er sie sehen konnte.

»Ihr habt gehört?« sagte er nach einem Schweigen von einigen Augenblicken. »Ich habe Euch nicht vergessen, Lady.«

»Ja, Stephen, ich habe Euch gehört; und Euer Gebet ist das meinige.« »Ihr habt einen Vater. Wollt Ihr einen Auftrag für ihn übernehmen?«

»Er ist hier«, sagte Luise mit Schrecken. »Soll ich ihn zu Euch bringen?«

»Bitte.«

Luise kehrte mit ihrem Vater zurück. Hand in Hand dastehend, blickten beide nieder auf das feierliche Gesicht.

»Sir, Ihr werdet mich rechtfertigen und meinen ehrlichen Namen bei allen Menschen wieder herstellen. Das überlasse ich Euch als mein Vermächtnis.«

Mr. Gradgrind war betroffen und fragte: »Wie?«

»Sir«, war die Antwort, »Euer Sohn wird Euch sagen, wie. Fragt ihn. Ich klage nicht an: ich lasse nichts hinter mir, nicht ein einziges Wort. Ich habe Euren Sohn gesehen und mit ihm gesprochen eines Nachts. Ich verlange nicht mehr von Euch, als daß Ihr mich rechtfertigt, – und ich habe das Vertrauen zu Euch, daß Ihr es tun werdet.«

Da die Träger nun bereit waren, ihn wegzuschaffen und der Arzt auf seine Entfernung drang, so schickten sich diejenigen, die Laternen und Fackeln hatten, an, sich vor der Tragbahre in Marsch zu setzen. Bevor sie erhoben wurde und während sie darüber übereinkamen, wie sie gehen sollten, sagte er zu Rachael, zum Stern hinaufblickend:

»So oft ich zu mir selbst kam und ihn auf mein Elend herniederscheinend fand, dachte ich, es wäre der Stern, der zu unseres Erlösers Heimat führte; ich glaube fast, es ist der Stern wirklich.«

Sie nahmen ihn jetzt auf, und er war innig erfreut, als er fand, daß sie im Begriff waren, ihn nach der Richtung hinzutragen, wohin der Stern ihn zu führen schien.

»Rachael, geliebtes Mädchen! Laß meine Hand nicht los. Wir wollen heute abend zusammengehen, meine Liebe.«

»Ich will deine Hand halten und an deiner Seite bleiben, den ganzen Weg über, Stephen.«

»Gott lohne es dir! Will jemand so gut sein, mein Gesicht zuzudecken?«

Sie trugen ihn sehr sanft über die Felder, die Zaunpfade herab durch die weite Landschaft. Rachael hielt immer seine Hand in ihrer. Selten unterbrach ein Flüstern das traurige Schweigen. Es war bald ein Leichenzug. Der Stern hatte ihm gezeigt, wo der Gott des Armen zu finden, und durch Erniedrigung, Not und Vergebung war er zur Ruhe seines Erlösers eingegangen.

Fünfunddreißigstes Kapitel.


Fünfunddreißigstes Kapitel.

Ehe der Kreis, der sich rings um den »Alten Höllenschacht« gebildet hatte, sich öffnete, war eine Gestalt aus ihm verschwunden. Mr. Bounderby und sein Schatten standen nicht bei Luise, welche ihren Vater am Arm hielt, sondern an einem entfernten Orte allein. Als Mr. Gradgrind zu der Bahre gerufen wurde, schlüpfte Cili, aufmerksam auf alles, was vorging, hinter diesen bösen Schatten – welch ein Blick wäre es gewesen auf das Entsetzen in seinem Gesicht, wenn hier Augen zu einem Anblick vorhanden gewesen wären, außer für einen – und flüsterte etwas in sein Ohr. Ohne seinen Kopf umzudrehen, sprach er einige Augenblicke mit ihr und verschwand. So war der Bengel aus dem Kreise fortgegangen, ehe die Leute aufbrachen.

Als der Vater nach Hause kam, schickte er in Mr. Bounderbys Wohnung und ließ seinen Sohn auffordern, sofort zu ihm zu kommen. Die Antwort war, Mr. Bounderby habe, da er ihn in dem Volksgedränge verloren und seitdem nichts von ihm gesehen, angenommen, daß er in Stone Lodge sei.

»Ich glaube, Vater«, sagte Luise, »er wird heute nacht nicht nach der Stadt zurückkommen.« Mr. Gradgrind wandte sich ab und sagte nichts mehr.

Am andern Morgen ging er selbst zur Bank hinunter, sobald sie geöffnet wurde. Als er den Platz seines Sohnes leer sah (anfänglich hatte er nicht den Mut, hineinzugehen), kehrte er die Straße entlang zurück, um Mr. Bounderby auf seinem Wege hierher zu treffen. Er sagte ihm dann, daß er aus Gründen, die er sehr bald auseinandersetzen würde, über die er jedoch jetzt nicht gefragt zu werden wünsche, es nötig gefunden habe, seinen Sohn für kurze Zeit wo anders zu beschäftigen. Auch sagte er, daß er beauftragt sei, das Andenken Stephen Blackpools von Verdacht zu reinigen und den Dieb anzugeben. Mr. Bounderby blieb ganz verwirrt auf der Straße stehen, nachdem ihn sein Schwiegervater verlassen hatte, aufschwellend wie eine ungeheure Seifenblase, jedoch ohne ihre Schönheit.

Mr. Gradgrind kehrte nach Hause zurück, verschloß sich in sein Zimmer und blieb dort den ganzen Tag über. Als Cili und Luise an seine Türe klopften, sagte er, ohne sie zu öffnen: »Jetzt nicht, meine Lieben, am Abend.« Als sie des Abend« wiederkamen, gab er zur Antwort: »Ich bin jetzt nicht fähig – morgen.« Er aß den ganzen Tag nichts und zündete kein Licht nach Dunkelwerden an; sie hörten ihn auf und ab gehen bis spät in die Nacht.

Aber am nächsten Morgen erschien er zur gewöhnlichen Zeit beim Frühstück und nahm seinen gewöhnlichen Platz am Tische ein. Er sah alt und gebeugt und ganz niedergedrückt aus; und doch erschien er als ein weiserer Mann und ein besserer Mann, als in den Tagen, wo er nichts in seinem Leben verlangte, als »Tatsachen«. Ehe er das Zimmer verließ, bestimmte er ihnen eine Zeit, wo sie zu ihm kommen sollten, und dann ging er, sein graues Haupt zu Boden gebeugt, hinweg.

»Lieber Vater«, sagte Luise, als sie zur bestimmten Zeit bei ihm eintraten. »Sie haben noch drei Kinder; es wird besser mit ihnen werden. Ich will mich noch bessern, mit Gottes Hilfe.«

Sie gab Cili die Hand, als wenn sie ausdrücken wollte: auch mit ihrer Hilfe.

»Dein unglücklicher Bruder«, sagte Mr. Gradgrind. »Glaubst du, daß er diesen Diebstahl geplant hatte, als er mit dir in das Haus ging?«

»Ich fürchte so, Vater. Ich weiß, er brauchte dringend Geld und hatte eine große Menge ausgegeben.«

»Da der arme Mann im Begriff war, die Stadt zu verlassen, kam es ihm in den verderbten Sinn, den Verdacht auf ihn zu wälzen?«

»Ich glaube, Vater, es muß ihm plötzlich eingefallen sein, während er dort saß. Denn ich bat ihn, mit mir hinzugehen. Der Besuch war nicht sein ursprünglicher Plan.«

»Er hatte eine Besprechung mit dem armen Manne. Nahm er ihn beiseite?«

»Er rief ihn aus dem Zimmer. Ich fragte ihn später, warum er das getan hätte, und er gab eine glaubwürdige Entschuldigung. Aber seit gestern abend, Vater, wenn ich die Umstände in diesem Lichte betrachte, fürchte ich, daß ich mir nur zu gut vorstellen kann, was zwischen ihnen verhandelt wurde.«

»Laß mich wissen«, sagte ihr Vater, »ob deine Ansichten deinen schuldigen Bruder in derselben schwarzen Gestalt erscheinen lassen, als meine.«

»Ich fürchte, Vater«, sagte Luise zögernd, »daß Stephen Blackpool irgendwelche Vorstellungen gemacht haben muß, vielleicht in meinem Namen, vielleicht in seinem eigenen, die ihn bewogen, in gutem, ehrlichem Glauben etwas zu tun, was er nie zuvor getan hatte, und sich an zwei oder drei Abenden in der Nähe der Bank aufzuhalten, ehe er die Stadt verließ.«

»Zu klar!« erwiderte ihr Vater. »Zu klar!«

Er verhüllte sein Gesicht und saß einige Augenblicke schweigend da. Dann faßte er sich wieder und sagte: »Und jetzt, wie kann er aufgefunden, wie kann er der Gerechtigkeit entzogen werden? Wie kann er in den wenigen Stunden, die ich vergehen lassen darf, ehe ich den wahren Sachverhalt veröffentliche, von uns gefunden werden und von uns allein? Zehntausend Pfund könnten dies nicht bewerkstelligen.«

»Cili hat es bewerkstelligt, Vater!«

Er wandte seine Augen nach dem Platze, wo sie stand wie eine gute Fee des Hauses, und sagte in einem Tone sanfter Dankbarkeit und gerührter Güte: »Immer du, mein Kind!«

»Wir hatten unsere Besorgnisse«, erklärte Cili auf Luise blickend, »schon vorgestern, und als ich sah, wie Sie an die Bahre gerufen wurden, und hörte, was vorging (denn ich stand während der ganzen Zeit dicht neben Rachael), so schlüpfte ich zu ihm, ohne von jemandem gesehen zu werden, und sagte ihm: ›Blickt nicht auf mich. Seht, wo Euer Vater ist. Flieht unverzüglich, um seinet- und um euretwillen‹. Er zitterte, ehe ich ihm diese Worte zuflüsterte, dann fuhr er zusammen und zitterte noch mehr und sagte: ›Wohin kann ich gehen? Ich habe sehr wenig Geld, und ich weiß nicht, wer mich verbergen wollte!‹ Ich dachte an meines Vaters alten Zirkus. Ich habe nicht vergessen, wo sich Mr. Sleary zu dieser Jahreszeit aufzuhalten pflegt, und las erst neulich von ihm in der Zeitung. Ich gab ihm daher den Rat, dahin zu eilen, seinen Namen zu nennen und Mr. Sleary zu bitten, bis ich käme. ›Vor morgen früh will ich bei ihm sein‹, sagte er. Und ich sah ihn unter dem Volke verschwinden.«

»Dem Himmel sei gedankt!« rief sein Vater aus. »Er mag noch ins Ausland entkommen sein.«

Das war um so mehr zu hoffen, als die Stadt, wohin ihn Cili gewiesen hatte, nur drei Stunden von Liverpool entfernt lag, von wo er schnell nach einem beliebigen Teil der Welt befördert werden konnte. Aber man mußte vorsichtig sein, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Die Gefahr, daß man ihn in Verdacht ziehen würde, wurde mit jedem Augenblicke größer. Niemand konnte ganz sicher sein, ob nicht Bounderby selbst, in einer lärmenden Laune öffentlichen Eifers, eine Römerrolle spielen werde. – So verabredete man, daß Luise und Cili allein sich auf Umwegen an den fraglichen Ort begeben, und der unglückliche Vater nach einer entgegengesetzten Richtung hin abreisen und auf einem andern und weiteren Wege zu demselben Ziele gelangen sollte. Es wurde ferner vereinbart, daß er nicht zu Mr. Sleary gehen sollte, damit seine Absichten kein Mißtrauen erregten oder die Nachricht von seiner Ankunft seinen Sohn von neuem zur Flucht veranlaßten. Es sollte Cili und Luise überlassen bleiben, die Verbindung herzustellen und den Urheber von soviel Kummer und Unglück von der Anwesenheit seines Vaters und von der Ursache ihres Kommens zu benachrichtigen. Als diese Anordnungen genau überlegt und von allen dreien hinlänglich begriffen worden waren, war es Zeit, ihre Ausführung zu beginnen. Früh am Nachmittag begab sich Mr. Gradgrind direkt von seinem Hause auf das Land, um an die Eisenbahnlinie zu kommen, mit der er reisen mußte; und am Abend machten sich die zwei Zurückgebliebenen in anderer Richtung auf den Weg, sehr ermutigt durch den Umstand, daß ihnen kein bekanntes Gesicht begegnete.

Die zwei reisten die ganze Nacht hindurch, ausgenommen, wenn sie für schlimme Minuten an Zweigstationen hielten mit unendlichen Treppen hinauf oder hinunter – worin die einzige Mannigfaltigkeit solcher Stationen beruhte. Früh am Morgen stiegen sie bei einem Sumpfe ans, eine oder zwei Meilen von der Stadt, die sie suchten.

Von diesem traurigen Platze wurden sie durch einen rohen, alten Postillion erlöst, der zufällig früh auf war und einen Einspänner hatte; so wurden sie durch all die Hintergäßchen, wo die Ferkel wohnten, geführt. Das war zwar kein glänzender oder sehr wohlriechender Zugang, jedoch, wie in solchen Fällen üblich, die gesetzliche Landstraße.

Das erste, was sie beim Eintritt in die Stadt sahen, war das Gerippe von Slearys Zirkus. Die Gesellschaft war in eine andere, über zwanzig Meilen entfernte Stadt gereist und hatte dort am vergangenen Abend ihre Vorstellungen eröffnet. Die Verbindung zwischen diesen beiden Plätzen wurde durch eine hügelige Zollstraße unterhalten, und das Reisen ging hier sehr langsam vonstatten. Obgleich sie nur in aller Eile ein wenig frühstückten und nicht rasteten (was unter so sorgenvollen Umständen ein vergeblicher Versuch gewesen sein würde), so war es doch Mittag, ehe sie die Zettel von Slearys Reitervorstellungen an Scheunen und Mauern angeschlagen fanden, und ein Uhr, als sie auf dem Marktplatz hielten.

Eine große Morgenvorstellung der Reiter, die gerade anfangen sollte, wurde eben von dem Ausrufer ausgeschellt, als sie ihren Fuß auf das Pflaster setzten. Cili riet, um Nachfragen und Aufsehen in der Stadt zu vermeiden, sich selbst am Eingang ein Billett zu nehmen. Wenn Mr. Sleary das Geld einnehme, so würde er sie gewiß erkennen und sich taktvoll benehmen. Wo nicht, so würde er sie gewiß drinnen bemerken, und im Bewußtsein dessen, was er mit dem Flüchtling vorgenommen, ebenfalls Vorsicht beobachten.

Daher erschienen sie mit klopfendem Herzen bei der wohlbekannten Bude. Die Fahne mit der Inschrift »Slearys Reiter-Akademie« war vorhanden, und die gotische Nische war vorhanden, aber Mr. Sleary war nicht vorhanden. Master Kidderminster war zu groß und bärtig geworden, als daß er auch von der schrankenlosesten Leichtgläubigkeit noch länger als Cupido hätte hingenommen werden können. Er hatte der unwiderstehlichen Gewalt der Umstände (und seines Bartes) nachgegeben und präsidierte in der Eigenschaft eines Mannes, der sich allgemein nützlich macht, bei dieser Gelegenheit der Kasse. Zugleich hatte er eine Trommel neben sich, der er seine müßigen Augenblicke und seine überflüssigen Kräfte widmete. Bei der außerordentlichen Schärfe, mit der er auf falsche Münze ausspähte, sah Mr. Kidderminster, wie man ihn nach seiner jetzigen Stellung nennen muß, nie etwas anderes als Geld. So kam Cili unerkannt an ihm vorüber, und sie traten ein.

Der Kaiser von Japan, auf einem treuen alten Schimmel, hübsch mit schwarzen Flecken bemalt, war gerade damit beschäftigt, fünf Waschbecken auf einmal zu drehen, wie das die Lieblingserholung dieser Monarchen ist. Cili, obgleich wohlvertraut mit seinem fürstlichen Stammbaum, kannte den gegenwärtigen Kaiser nicht persönlich, und seine Herrschaft war friedlich. Darauf wurde Miß Josephine Sleary mit ihrer berühmten »Equestrischen Tyroler Blumen-Tour« von einem neuen Clown (der humoristisch »Blumenkohl-Tour« sagte) angekündigt, und Mr. Sleary erschien, sie einführend.

Mr. Sleary hatte dem Clown kaum einen Schlag mit seiner langen Peitsche gegeben, und dieser nur geantwortet: »Wenn Ihr das noch einmal tut, so werde ich das Pferd auf Euch werfen!« als Cili von Vater und Tochter zugleich erkannt wurde. Aber sie spielten den Akt mit großer Selbstbeherrschung zu Ende; und Mr. Sleary legte, ausgenommen im ersten Augenblick, nicht mehr Ausdruck in sein bewegliches als in sein unbewegliches Auge. Die Vorstellung kam Luise und Cili ein wenig lang vor, besonders, als sie unterbrochen wurde, um dem Clown Gelegenheit zu gewähren, Mr. Sleary, der mit der größten Ruhe auf all seine Bemerkungen »Nicht möglich, Sir!« erwiderte und sein Auge auf das Haus gerichtet hielt), von zwei Beinen zu erzählen, die auf drei Beinen saßen und auf ein Bein schauten, als vier Beine hereinkamen und sich eines Beines bemächtigten, worauf zwei Beine aufsprangen, drei Beine ergriffen und sie nach vier Beinen warfen, die mit einem Bein davonliefen. Denn obgleich es eine geistreiche Allegorie auf einen Metzger, einen dreibeinigen Stuhl, einen Hund und ein Schöpfenbein war, so nahm diese Erzählung doch Zeit weg, und sie waren in großer Ungewißheit. Endlich jedoch machte die kleine schönhaarige Josephine ihre Verbeugung unter großem Beifall. Der Clown, der allein in der Bahn geblieben war, hatte sich gerade erwärmt und sagte: »Jetzt kommt die Reihe an mich!« als Cili sich an der Schulter berührt fühlte und herausgewinkt wurde.

Sie nahm Luise mit sich, und sie wurden von Mr. Sleary in einem sehr kleinen Privatzimmer empfangen mit Segeltuchwänden, Grasboden und hölzerner, ganz schiefer Decke, auf die das Logenpublikum seinen Beifall stampfte, als wenn es durchbrechen wollte. »Tetilia«, sagte Mr. Cleary, der Branntwein und Wasser zur Hand hatte, »et tut mir wohl, Euch tu tehen. Ihr wart immer ein Liebling von unt, und ich bin dicher, ihr habt unt deit der alten Teil nur Ehre gemacht. Ihr mütt untere Leute tehen, meine Liebe, bevor wir von Getäften tprechen, oder et wird ihnen dat Hert brechen, – vor allen den Frauen. Da it Jotephine, tie it mit E.W.B. Childerth verheiratet und hat einen Jungen, und obgleich er nur drei Jahre alt it, klettert er auf jedet Ponny, dat man ihm vorführt. Er führt den Namen: Dat kleine Wunder in Tuhlreiterei; und wenn Ihr von dem Knaben nicht bei Atley hören tolltet, so werdet Ihr von ihm in Parit hören. Und Ihr erinnert Euch an Kidderminter, von dem man glaubte, dat er tiemlich galant gegen Euch telbt war? Nun, der it auch verheiratet. Verheiratet mit einer Witwe. Alt genug, teine Mutter tu tein. Tie war Teiltänterin und jett it tie nicht – infolge ihret Fettet. Tie haben twei Kinder! to tind wir tark in der Feen-Branche und in Kindertubenterten. Wenn Ihr untere »Kinder im Wald« tähet, Vater und Mutter beide auf einem Pferd terbend, – ihr Onkel, tie in teine Hut nehmend, auf einem Pferde, – tie telbt beide Heidelbeeren tuchend auf einem Pferde, und der Robint herbeikommend und tie mit Blätter bedeckend, auf einem Pferde – Ihr würdet tagen, dat et dat vollkommente Ding tei, wat je Eure Augen getehen. Und Ihr erinnert Euch an Emma Gordon, meine Liebe, die fat Muttertelle an Euch vertrat? Gant gewit tut Ihr dat; et it unnötig tu fragen. Nun gut. Emma hat ihren Mann verloren. Er türtte in einem traurigen Rückenfall von einem Elefanten in einer Art von Pagodenvortellung alt Tultan von Indien, und er erholte tich nicht wieder; und tie hat tich tum tweiten Male verheiratet – verheiratet mit einem Kätekrämer, der gleich beim erten Anblick in Liebe tu ihr erglühte – und er it ein Knauter und auf dem Wege, reich tu werden.«

Diese verschiedenen Vorkommnisse wurden von Mr. Sleary, der sehr kurzatmig geworden, mit großer Herzlichkeit und in wunderbar kindlicher Weise erzählt. Man muß dabei bedenken, was für ein triefäugiger und bejahrter Grogveteran er war. Später brachte er Josephine herein und E.W.B. Childers (der bei Tageslicht ziemlich scharfe Linien um den Mund hatte) und »das kleine Wunder von Schulreiterei«, mit einem Worte die ganze Gesellschaft. Es waren erstaunliche Geschöpfe in Luisens Augen, so weiß und rot von Gesichtsfarbe, so spärlich bekleidet und mit so unverhüllten Beinen; aber es war sehr nett, sie um Cili geschart zu sehen, und sehr natürlich bei Cili, daß sie sich der Tränen nicht enthalten konnte.

»To! Jett hat Tetilia alle Kinder gekütt, und alle Frauen umarmt, und allen Männern der Reihe nach die Hände getüttelt, nun fort jeder von Euch, und klingelt tie Truppe tur tweiten Abteilung.«

Sobald sie gegangen waren, fuhr er in gedämpftem Tone fort. »Nun, Tetilia, ich will mich nicht in Geheimmitte eindrängen, aber ich vermute, dat ich diete Dame alt Mitt Tquire antutehen habe.«

»Es ist seine Schwester. Ja.«

»Und det andern Tochter. Dat it gerade, wat ich meine. Ich hoffe, Euch wohl tu tehen, Mitt. Und ich hoffe der Tquire befindet tich auch wohl.«

»Mein Vater wird bald hier sein«, sagte Luise, ängstlich bemüht, ihn zur Sache zu bringen. »Ist mein Bruder in Sicherheit?«

»Ticher und getund!« antwortete er. »Ich möchte Euch gerade bitten, einen Blick auf die Reitbahn tu werfen, hier durch. Tetilia, Ihr kennt die Kniffe, tucht Euch telbt ein Guckloch.«

Jeder von ihnen blickte durch eine Bretterritze.

»Dat it Jack, der Rietentöter, – ein Tück, dat tum komiten Kinderfache gehört«, sagte Sleary. »Dort it ein eigenet Haut für Jack, wie Ihr teht, um tich darin tu verrecken; da mein Clown mit einem Pfannendeckel und Brattpiet als Jacks Bertienter; hier der kleine Jack telbt in gläntender Rüttung; dort twei komite twarte Bertienten, tweimal to grot alt dat Haut, die beauftragt tind, tich daneben tutellen und et herein- und hinauttutragen; und der Riete (ein tehr teurer Korb) it noch nicht da. Nun, teht Ihr tie alle?«

»Ja«, sagten beide.

Blickt noch einmal hin«, sagte Sleary, »blickt noch einmal genau hin. Teht Ihr alle? Tehr gut. Nun, Mitt«, er schob ihnen eine Bank hin zum sitzen; »ich habe meine Antichten, und der Tquire, Euer Vater, hat tie teinigen. Ich verlange nicht tu witten, wat Euer Bruder begangen hat; et it better für mich, et nicht tu witten. Allet, wai ich tage, ist, der Tquire hat bei Tetilia getanden und ich will bei dem Tquire tehen. Euer Bruder it einer von den twarten Bertienten.«

Luise entfuhr ein Schrei, der teils Bekümmernis, teils Erleichterung verriet.

»Et it Tattache«, fuhr Sleary fort, »und obgleich Ihr ihn jett kennt, dürftet Ihr Euch ihm doch nicht tu erkennen geben. Latt den Tquire kommen. Ich werde Euren Bruder nach der Vortellung herkommen latten. Ich werde ihn nicht umkleiden und ebentowenig teine Malerei abwaten latten. Latt den Tquire nach der Vortellung herkommen oder kommt telbt her nach der Vortellung und Ihr tollt Euren Bruder finden und den ganten Raum für Euch haben, um mit ihm tu tprechen. Latt Euch tein Auttehen nicht tören, to lange er wohl verteckt it.«

Unter vielem Dank und mit erleichtertem Herzen empfahl sich darauf Luise, um Mr. Sleary nicht länger aufzuhalten. Sie ließ mit Augen voller Tränen Grüße für ihren Bruder zurück, und ging mit Cili bis zum Nachmittag fort.

Eine Stunde darauf langte Mr. Gradgrind an. Auch er war keinem begegnet, den er gekannt hätte; und war jetzt voller Hoffnung, seinen entehrten Sohn mit Slearys Hilfe in der Nacht nach Liverpool zu schaffen. Da ihn niemand von den dreien begleiten konnte, ohne ihn in jeder Verkleidung so gut wie kenntlich zu machen, so hielt er einen Brief bereit an einen Empfänger, dem er Vertrauen schenken konnte, und ersuchte ihn, den Überbringer um jeden Preis nach irgendeiner Küste von Nord- oder Südamerika einzuschiffen, oder nach einem andern entfernten Weltteil, wohin er am schnellsten und geheimsten befördert werden konnte. Nachdem dies geschehen war, gingen sie umher und warteten, bis der Zirkus ganz geräumt sein würde, nicht nur vom Publikum, sondern auch von der Gesellschaft und den Pferden. Nachdem sie den Zirkus eine lange Zeit beobachtet hatten, sahen sie Mr. Sleary einen Stuhl herausbringen und mit der Pfeife im Munde an der Seitentür sich niedersetzen, als wenn das sein Signal wäre, daß sie kommen könnten.

»Euer Diener, Tquire«, war seine vorsichtige Begrüßung als sie herzutraten. »Wenn Ihr meiner bedürft, to werdet Ihr mich hier finden. Ihr dürft Euch nicht daran toten, dat Euer Tohn eine komite Livree an hat.«

Sie traten alle drei ein, und Mr. Gradgrind setzte sich, in düsteres Sinnen verloren, auf den Stuhl, auf dem der Clown seine Vorstellung zu geben pflegte, mitten in der Bahn. Auf einer der hinteren Bänke, fern gerückt durch das gedämpfte Licht und die Abenteuerlichkeit des Ortes, saß der böse Bube, trotzig bis aufs äußerste, den er das Unglück hatte, seinen Sohn zu nennen.

Er war in einen abgeschmackten Rock gekleidet wie ein Kirchentürsteher,13 mit Aufschlägen und Lappen von unsäglicher Ausdehnung; in einer ungeheuren Weste, Kniehosen, Schnallenschuhen und aufgestutztem Narrenhute. Nichts saß ihm, alles war von grobem Stoffe, mottenzerfressen und voller Löcher. Er hatte Streifen in seinem schwarzen Gesichte, da wo Furcht und Hitze durch die schmierige Mischung gedrungen war, die es über und über besudelte.

Etwas so widerlich, verächtlich, lächerlich Schmachvolles, wie der Bengel in dieser komischen Livree war, würde Mr. Gradgrind bei einer andern Gelegenheit nie für möglich gehalten haben, eine so unleugbare und greifbare Tatsache es auch war. Und eins von seinen Musterkindern war so weit gekommen!

Anfangs wollte der Bengel nicht näher rücken, sondern bestand darauf, in seiner Zurückgezogenheit zu bleiben. Endlich gab er, wenn ein so mürrisch gemachtes Zugeständnis ein Nachgeben genannt werden kann, den Bitten Cilis nach – denn Luise verleugnete er gänzlich. Er kam Bank für Bank herunter, bis er in den Sägespänen stand, am Rande der Bahn, so weit als möglich von dem Platze, wo sein Vater saß.

»Wie wurde das ausgeführt?« fragte der Vater.

»Wie wurde was ausgeführt?« antwortete der Sohn mürrisch.

»Dieser Diebstahl«, sagte der Vater, indem er einen besonderen Nachdruck auf das Wort legte.

»Ich selbst machte den Schrank in der Nacht auf und schloß ihn wieder halb, ehe ich wegging. Ich hatte den Schlüssel, der gefunden wurde, lange vorher machen lassen. An dem Morgen warf ich ihn hin, damit man glauben sollte, er sei zum Diebstahl benutzt worden. Ich nahm das Geld nicht alles auf einmal. Ich gab vor, meinen Kassenüberschuß jede Nacht wegzulegen, tat es jedoch nicht. Nun wißt Ihr alles, was sich darauf bezieht.«

»Wenn ein Donnerschlag auf mich gefallen wäre«, sagte der Vater, »es würde mich weniger erschüttert haben, als dieses.«

»Ich sehe nicht ein, warum«, murrte der Sohn. So viele Leute sind in Vertrauensstellungen, so viele Leute unter den vielen werden unehrlich sein. Ich habe Euch zu hundert Malen davon sprechen hören, daß dies ein Gesetz sei. Wie kann ich für Gesetze verantwortlich sein? Ihr habt andere mit solchen Dingen getröstet, Vater. Tröstet Euch jetzt selbst!«

Der Vater vergrub sein Gesicht in den Händen, und der Sohn stand in seiner schimpflichen Seltsamkeit da und kaute Stroh; seine Hände glichen, da das Schwarze auf der Innenseite zum Teil abgerieben war, denen eines Affen. Der Abend brach herein; und von Zeit zu Zeit richtete er das Weiße seiner Augen rastlos und ungeduldig auf seinen Vater. Sie waren der einzige Teil seines Gesichts, der irgendwelches Leben oder irgendeinen Ausdruck zeigte; die Farbe lag zu dick darauf.

»Du mußt nach Liverpool geschafft und außer Landes geschickt werden.«

»Ich vermute so. Ich kann nirgends elender sein«, winselte der Bengel, »als ich hier gewesen bin, so weit ich zurückdenken kann. Das ist eins.«

Mr. Gradgrind ging zur Tür und kehrte mit Sleary zurück, dem er die Frage vorlegte: »Wie dies beklagenswerte Subjekt wegschaffen?«

»Freilich, ich habe daran gedacht, Tquire. Da it nicht viel Teit tu verlieren. To mütt Ihr ja oder nein tagen. Et it über twantig Meilen tur Eitenbahn. In einer halben Tunde kommt eine Kute, die geht tur Eitenbahn, um den Posttug tu treffen. Dieter Tug wird ihn ticher nach Liverpool bringen.«

»Aber betrachtet ihn«, stöhnte Mr. Gradgrind. »Wird eine Kutsche –«

»Ich meine nicht, dat er in dieter komiten Livree gehen toll«, sagte Sleary. »Tagt ein Wort und ich will mit Hilfe der Garderobe in fünf Minuten einen Jotkin aus ihm machen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Mr. Gradgrind.

»Ein Jotkin it ein Fuhrmann. Faßt schnell Euren Entschluß, Tquire. Da mut Bier her. Ich habe nie etwat gefunden, dat to tnell einen komiten Mohren reinigt, alt Bier.«

Mr. Gradgrind stimmte schnell zu. Mr. Sleary nahm eben so schnell aus einem Kasten einen Kittel, einen Filzhut und andere notwendige Kleidungsstücke; der Bengel wechselte schnell seine Kleider hinter einem Schirm von Wollzeug; Mr. Sleary brachte schnell Bier und wusch ihn wieder weiß.

»Jett«, sagte Sleary, »kommt tur Kute und tpringt hinten auf; ich werde mit Euch gehen und tie werden Euch für einen von meinen Leuten halten. Tagt Eurer Familie Lebewohl und macht et kurt!« Hiermit zog er sich zartfühlend zurück.

»Hier ist dein Brief«, sagte Mr. Gradgrind. »Alle notwendigen Mittel werden dir verabfolgt werden. Mache durch Reue und Besserung die gräßliche Tat wieder gut, die du begangen, und die traurigen Folgen, zu denen sie geführt hat. Gib mir deine Hand, mein armer Junge, und möge Gott dir vergeben, wie ich dir vergebe!«

Der Verbrecher wurde durch diese Worte und ihren bewegten Ton zu wenigen, verrinnenden Tränen gerührt. Aber als Luise ihre Arme öffnete, stieß er sie von neuem zurück.

»Nicht du. Ich will nichts mit dir zu tun haben.«

»O, Tom, Tom, sollen wir so enden, nach all meiner Liebe!«

»Nach all deiner Liebe!« antwortete er verstockt. »Schöne Liebe! die den alten Bounderby sich selbst überläßt, meinen besten Freund, Mr. Harthouse fortjagt, und gerade, während ich in der größten Gefahr schwebe, nach Hause geht. Schöne Liebe das! Mit jedem Wort in bezug auf unsern Besuch an dem bewußten Orte herauszurücken, während du wußtest, daß sich das Netz rings um mich zusammenzog. Schöne Liebe das! Du hast mich in aller Form aufgegeben. Du hast mich nie geliebt!«

»Macht et kurt!« rief Sleary an der Tür.

Sie eilten alle bestürzt heraus; Luise rief ihm nach, daß sie ihm vergebe und ihn noch immer liebe, daß er es eines Tages bereuen werde, sie so verlassen zu haben, und daß er sich mit Freuden an diese ihre letzten Worte erinnern würde, in weiter Ferne. Da lief jemand gegen sie an. Mr. Gradgrind und Cili, die beide vor ihm hergingen, während seine Schwester noch an seinen Schultern hing, hielten an und prallten zurück.

Denn es war Bitzer, außer Atem, seine dünnen Lippen auseinandergerissen, seine kleinen Nasenlöcher erweitert, seine weißen Augenwimpern zitternd, sein farbloses Gesicht noch farbloser als gewöhnlich. Als wenn er sich in eine weiße Hitze liefe, während sich andere Leute in Glut zu laufen pflegen. Da stand er, keuchend und schnaufend, als wenn er seit dem Abend nicht angehalten, bereits lange Zeit, nachdem er sie angerannt hatte.

»Es tut mir leid, daß ich Eure Pläne durchkreuze«, sagte Bitzer, den Kopf schüttelnd, »aber ich kann mich nicht durch Kunstreiter betrügen lassen. Ich muß den jungen Mr. Tom haben, er darf nicht von Kunstreitern weggeschafft werden; da steht er in einem Kittel und ich muß ihn haben!«

Am Rockkragen noch dazu, schien es. Denn so ergriff er Besitz von ihm.

Sechsunddreißigstes Kapitel.


Sechsunddreißigstes Kapitel.

Sie gingen in die Bude zurück und Sleary verschloß die Tür, um Eindringlinge abzuhalten. Bitzer stand, den gelähmten Verbrecher, noch immer am Kragen haltend, in der Bahn und blickte auf seinen alten Patron durch das Dunkel des Zwielichts.

»Bitzer«, sagte Mr. Gradgrind, niedergebrochen und mit kläglicher Unterwürfigkeit, »habt Ihr ein Herz?«

»Der Blutumlauf, Sir«, erwiderte Bitzer, über die Seltsamkeit der Frage lächelnd, »würde sich ohne ein solches nicht bewerkstelligen lassen. Niemand, Sir, der mit den Harveyschen Untersuchungen über den Blutumlauf vertraut ist, kann zweifeln, daß ich ein Herz habe.«

»Ist es irgendeiner Regung des Mitleids zugänglich?« rief Mr. Gradgrind.

»Es ist der Vernunft zugänglich, Sir«, erwiderte der vortreffliche junge Mann, »und nichts anderm.«

Sie standen sich gegenüber und sahen sich an, und Mr. Gradgrinds Gesicht war so bleich, wie das des Verfolgers.

»Was für einen Beweggrund – selbst was für einen vernünftigen Beweggrund – könnt Ihr haben, das Entkommen dieses unglücklichen Jünglings zu verhindern«, sagte Mr. Gradgrind, »und seinen beklagenswerten Vater zu Boden zu treten? Blickt auf seine Schwester hier. Habt Mitleid mit uns!«

»Sir«, antwortete Bitzer, in einer sehr geschäftsmäßigen und logischen Weise, »da Ihr mich fragt, was für einen vernünftigen Beweggrund ich habe, den jungen Mr. Tom nach Coketown zurückzubringen, so ist es nicht mehr als vernünftig, es Euch wissen zu lassen. Ich habe den jungen Mr. Tom vom ersten Augenblick an wegen dieses Bankdiebstahls beargwöhnt. Ich hatte mein Auge auf ihm schon vor dieser Zeit, denn ich kannte seine Schliche. Ich habe meine Beobachtungen für mich behalten, aber ich habe sie gemacht. Ich habe mir jetzt vollgültige Beweise gegen ihn verschafft, ganz abgesehen von seiner Flucht und seinem eigenen Bekenntnis, das ich gerade rechtzeitig mit anhören konnte. Ich hatte das Vergnügen, Euer Haus gestern morgen zu umlauern und Euch hierher zu folgen. Ich will den jungen Mr. Tom nach Coketown zurückbringen, um ihn Mr. Bounderby zu überliefern. Sir, ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Mr. Bounderby mich auf den Platz des jungen Mr. Tom befördern wird. Und ich wünsche seine Stellung zu haben, denn sie wird eine Beförderung für mich sein und mir gut tun.«

»Wenn dies ausschließlich eine Frage des persönlichen Interesses für Euch ist –« begann Mr. Gradgrind.

»Ich bitte um Verzeihung«, daß ich Euch unterbrechen muß, Sir«, fiel ihm Bitzer in die Rede; »aber es wird Euch gewiß nicht unbekannt sein, daß das ganze soziale System eine Frage des persönlichen Interesses ist. Woran Ihr Euch immer wenden müßt, das ist der persönliche Eigennutz. Das ist Euer einziger Halt. So sind wir nun einmal beschaffen. Ich wurde in diesem Katechismus erzogen, als ich noch sehr jung war, Sir, wie Euch bekannt ist.«

»Was für eine Summe«, sagte Mr. Gradgrind, »wollt Ihr gegen Eure gehoffte Beförderung gesetzt haben?«

»Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, Sir«, entgegnete Bitzer, »daß Ihr mir diesen Vorschlag macht; aber ich will gar keine Summe dagegen gesetzt haben. Da ich voraussah, daß Euer heller Kopf diese Alternative stellen würde, so habe ich diese Berechnungen in meinen Gedanken überschlagen, und finde, daß eine Untreue zu begehen, selbst um eine sehr hohe Summe nicht so sicher und vorteilhaft für mich sein würde, als meine besseren Aussichten bei der Bank.«

»Bitzer«, sagte Mr. Gradgrind, seine Hände ausstreckend, als wollte er sagen: Sieh, wie elend ich bin! »Bitzer, ich sehe nur noch eine Möglichkeit, Euren Sinn zu beugen. Ihr wart viele Jahre in meiner Schule. Entschließt Euch in dankbarer Erinnerung an die Mühe, die man dort auf Euch verwandt hat, von Eurem augenblicklichen Interesse abzusehen und meinen Sohn loszulassen. Ich bitte Euch inständig, ihm die Wohltat dieser dankbaren Erinnerung zu gewähren.«

»Ich wundere mich wirklich, Sir«, versetzte sein alter Schüler im Tone eines Beweisführers, »Euch in einer so unhaltbaren Stellung zu sehen. Mein Unterricht wurde bezahlt; er beruhte auf einem Handelskontrakt, und der Kontrakt war zu Ende, als ich die Schule verließ.«

Es war ein Hauptgrundsatz der Gradgrindschen Philosophie, daß alles zu bezahlen sei. Niemand war unter irgendwelchen Umständen verpflichtet, jemandem irgend etwas zu geben oder irgendwelche Hilfe zu leisten ohne Kaufpreis. Dankbarkeit mußte abgeschafft werden und die aus ihr entspringenden Tugenden mußten aufhören zu existieren. Jeder Zoll des menschlichen Daseins hatte ein auf dem Kassentische abgeschlossener und geregelter Vertrag zu sein. Und wenn wir über den Zahltisch nicht in den Himmel kommen konnten, dann war er kein nationalökonomischer Platz, und wir hatten nichts dort zu suchen.

»Ich leugne nicht«, fuhr Bitzer fort, »daß mein Unterricht billig war. Aber das paßt ja gerade gut, Sir. Ich bin um den billigsten Marktpreis geliefert worden, und habe mich um den teuersten zu verkaufen.«

Hier wurde er durch Luisens und Cilis Weinen etwas außer Fassung gebracht.

»Laßt das, wenn ich bitten darf«, sagte er, »das nützt nichts und stört nur. Ihr scheint zu glauben, ich hätte eine gewisse Feindseligkeit gegen den jungen Mr. Tom; aber ich habe gar keine. Ich beabsichtige nur, aus den erwähnten vernünftigen Gründen, ihn nach Coketown zurückzubringen. Wenn er Widerstand leisten sollte, so würde ich den Ruf erheben: Haltet den Dieb! Aber er wird keinen Widerstand leisten. Ihr könnt Euch darauf verlassen.«

Mr. Sleary, der mit offenem Munde und sein rollendes Auge so unbeweglich in seinen Kopf gezwängt, wie sein feststehendes, diesen Lehrsätzen in tiefer Aufmerksamkeit sein Ohr geliehen hatte, tat jetzt einen Schritt vorwärts.

»Tquire, Ihr wißt tehr wohl und Eure Tochter weit sehr wohl (better alt Ihr, weil ich et ihr getagt habe), dat et mir unbekannt war, wat Euer Tohn begangen, und dat ich et auch nicht tu wissen wünte – ich tagte, et wäre better, obgleich ich tu der Teit nur glaubte, et wäre eine Lumperei. Jedoch, da dieter junge Mann erklärt hat, bat et ein Bankdiebtahl it, so it dat eine tehr ernthafte Tache; viel tu ernthaft für mich, um diete Tache beitulegen, wie dieter junge Mann tich tehr pattend auttudrücken beliebt. Daher dürft Ihr mir et nicht übel nehmen, Tquire, wenn ich mich auf die Teite von dietem jungen Mann telle und tage, er hat recht und da it nicht tu helfen. Aber ich will Euch tagen, wat ich tun will, Tquire, ich will Euren Tohn und dieten jungen Mann tur Eitenbahn fahren und hier eine öffentliche Blottellung verhüten. Ich kann nicht versprechen, mehr tu tun, aber dat will ich tun.«

Neue Wehklagen von Luise und tiefere Betrübnis von seiten Mr. Gradgrinds folgten diesem Verrat ihres letzten Freundes. Aber Cili blickte mit großer Spannung auf ihn, auch mißverstand sie ihn nicht. Als sie alle im Begriff waren hinauszugehen, begünstigte er sie mit einem leichten Rollen seines beweglichen Auges, um ihr anzuzeigen, daß sie zurückbleiben sollte. Als er die Türe schloß, sagte er aufgeregt:

»Der Tquire tand Euch bei, Tetilia, und ich werde dem Tquire beitehen. Mehr alt dat. Diet it ein Prachttaugenicht‘ und gehört dem polternden Turken, den meine Leute fat aus dem Fenster warfen. Et wird eine fintere Nacht geben. Ich habe ein Pferd besorgt, dat allet tun wird, nur nicht tprechen; ich habe ein Pony in Bereittaft, dat fünftehn Meilen in einer Tunde macht, wenn et Childert lenkt, ich habe einen Hund, der teinen Mann vierundtwantig Tunden auf einem Platte hält. Wechtelt ein Wort mit dem jungen Tquire. Tagt ihm, wenn er tieht, dat unter Pferd tu tanten beginnt, so toll er tich nicht fürchten, umgeworfen tu werden, tondern tarf nach einem herankommenden Pony-Gig auttuen. Tagt ihm, wenn er dat Gig dicht hinter tich bemerkt, to toll er heruntertpringen, et werde ihn im Trab davonfahren. Wenn mein Hund dieten jungen Mann einen Fut aufheben lätt, to gebe ich ihm die Erlaubnit, tu gehen. Und wenn mein Pferd tich von dem Platte rührt, wo et tu tanzen anfängt, vor Morgen, – dann kenne ich it tlecht! Macht et kurt!«

Es wurde so kurz gemacht, daß innerhalb zehn Minuten Mr. Childers, der auf dem Marktplatze in einem Paar Pantoffeln herumschlenderte, seinen Wink hatte und Mr. Slearys Equipage bereit war. Es war ein schöner Anblick, den gelehrigen Hund um dieselbe herumbellen und Mr. Sleary ihn mit seinem einzigen brauchbaren Auge unterweisen zu sehen, daß Bitzer der Gegenstand seiner besonderen Aufmerksamkeit sein solle. Bald nach Dunkelwerden stiegen alle drei ein und fuhren ab. Der gelehrige Hund (ein furchteinflößendes Tier) verfolgte schon Bitzer mit seinen Augen und hielt sich neben dem Wagen hart an seiner Seite, damit er für ihn bereit sei, im Falle er die leiseste Neigung zum Aussteigen verraten sollte.

Die andern drei blieben im Wirtshaus die ganze Nacht hindurch in großer Unruhe auf. Um acht Uhr des Morgens erschien Mr. Sleary mit dem Hunde wieder; beide sehr frohen Mutes.

»Allet in Ordnung, Tquire!« rief Mr. Sleary, »Euer Tohn kann in dietem Augenblicke am Bord einet Tiffes tein. Childert nahm ihn anderthalb Tunden nach unterer Abfahrt am vergangenen Abend auf. Dat Pferd tantte die Polka, bit et ermüdet war (et würde gewallt haben, wenn et nicht im Getirr geweten wäre), dann gab ich ihm dat Wort und et begann behaglich tu tlafen. Alt dat Prachtexemplar vom jungen Taugenicht‘, tagte, er wolle tu Fut weiter gehen, hing tich der Hund an tein Halttuch mit allen vier Beinen in der Luft, tog ihn nieder und rollte ihm dat Unterte tu oben. To kam er turück in den Wagen und tat hier, bit ich dat Pferd umwandte, um halb tieben Uhr dieten Morgen.«

Mr. Gradgrind überschüttete ihn natürlich mit Danksagungen, und spielte so zart er konnte auf eine anständige Geldbelohnung an.

»Ich telbt verlange kein Geld, Tquire, aber Childert it Familienvater, und wenn Ihr ihm etwa eine Fünfpfundnote anbieten tolltet, to dürfte tie nicht turückgewieten werden. In gleicher Weite, wenn Ihr vielleicht willent wäret, ein Haltband für den Hund oder ein Glockentpiel für dat Pferd tu ertehen, to würde ich tehr erfreut tein, et antunehmen. Grog nehme ich immer.« Er hatte bereits ein Glas bestellt, und jetzt bestellte er ein anderes. »Wenn Ihr nicht glauben tolltet, er hiete ut weit gehen, eine kleine Tpende der Geselltaft tu machen, ungefähr drei Mark techtig auf den Kopf, Luce nicht gerechnet, to würde et tie glücklich machen.«

Mr. Gradgrind übernahm es sehr gern, alle diese kleinen Beweise seiner Dankbarkeit zu geben; obgleich er sagte, sie seien seiner Meinung nach viel zu gering für einen solchen Dienst.

»Tehr gut, Tquire; dann, wenn Ihr untere Vortellungen betuchen wollt, to oft Ihr könnt, to werdet Ihr die Rechnung mehr alt aufgeglichen haben. Nun, Tquire, wenn Eure Tochter mir erlauben will, ich möchte ein Wort in’t Geheim mit Euch tprechen.«

Luise und Cili zogen sich in ein anstoßendes Gemach zurück; Mr. Sleary, der seinen Grog stehend umrührte und trank, fuhr fort:

Tquire, ich brauche Euch nit erst tu tagen, dat Hunde wunderbare Tiere tind.«

»Ihr Instinkt«, sagte Mr. Gradgrind, »ist überraschend.

»Wie Ihr et auch heiten mögt – und ich bin froh, wenn ich weit, wie et heiten et it erstaunlich. Der Weg, auf dem ein Hund Euch finden will – in der Richtung wird er kommen!«

»Weil«, versetzte Mr. Gradgrind, »sein Geruch so fein ist.«

»Et würde mich glücklich machen, wenn ich wütte, wie ich et nennen tollte«, widerholte Sleary, sein Haupt schüttelnd, »aber, Tquire, ich habe Hunde mich finden getehen, auf eine Weite, die mich denken lätt, ob der Hund nicht tu einem andern Hunde gegangen und ihn gefragt hat: ›Kennt ihr nicht vielleicht eine Perton nament Tleary? Perton nament Tleary, im Kuntreiterberuf – untertetzter Mann – Tielauge?‹ Und dieter dürfte dann getagt haben: ›Nun, ich kann nicht tagen, dat ich ihn pertönlich kenne, aber ich kenne einen Hund, der, glaube ich wohl, mit ihm bekannt tein könnte.‹ Und dann mag dieter Hund noch einmal darüber nachgedacht und getagt haben: ›Tleary, Tleary! O ja, gant ticher! Ein Freund von mir erwähnte ihn einmal. Ich kann euch teine Adrette augenblicklich geben.‹ Weil ich vor dem Publikum tehe und to viel herumkomme, to begreift Ihr, Tquire, dat eine grote Tahl Hunde mit mir bekannt tein mut, die ich nicht kenne?«

Mr. Gradgrind schien durch diese Betrachtungen ganz verwirrt zu werden.

»Einmal«, sagte Sleary, nachdem er seine Lippen an den Grog gesetzt hatte, »waren wir in Chethter, et mag wohl ungefähr viertehn Monate her tein. Wir waren gerade im Begriff, an einem Morgen untere »Kinder im Walde« eintuüben, alt ein Hund durch dat Theatertor in untere Reitbahn hereinkam. Er hatte einen langen Weg turückgelegt und war in einer tehr üblen Verfattung, lahm und fat gant blind. Er ging rund herum tu unteren Kindern, von einem tum andern, alt wenn er ein Kind tuchte, dat er kannte; dann kam er tu mir, tellte tich hinten auf und mit den twei Vorderfüten in die Höhe, krank wie er war, und darauf wedelte er mit dem Twante und krepierte. Tquiere, dieter Hund war Merrylegt.«

»Cilis Vaters Hund?«

»Tetilias Vaters alter Hund. Nun, Tquiere, kann ich einen Eid darauf ablegen, wie ich den Hund kenne, dat jener Mann tot und begraben war – bevor der Hund tu mir zurückkam. Jotephine, Childert und ich betprachen et lange Teit, ob ich treiben tollte oder nicht. Aber wir kamen überein: Nein. Denn et gibt nicht‘ angenehmet tu berichten, warum alto ihren Tinn beunruhigen und tie unglücklich machen? Ob ihr Vater tie bötwillig verlier, oder ob er lieber tein Hert allein brechen latten, alt tie tugleich mit tich verderben wollte, wird nie bekannt werden, Tquire, bit – nein, bit wir witten, wie ein Hund unt autfindet.«

»Sie bewahrt die Flasche, nach der er sie ausgeschickt hatte, noch bis zu dieser Stunde; und sie wird an seine Liebe noch bis zum letzten Augenblick ihres Lebens glauben«, sagte Mr. Gradgrind.

»Dat teint einem twei Dinge tu beweiten, nicht wahr, Tquire?« sagte Mr. Sleary, während er nachdenklich auf den Grund seines Grogs blickte. »Dat eine it, dat et eine Liebe in der Welt gibt, die nicht durchweg im tieften Grunde Eigennutz, tondern etwat gant anderet it; dat andere, dat die eine Art Telbtberechnung oder Nichtberechnung kennt, die in gewitter Weite to twer tu beteichnen it, alt die Handlungtweite einet Hundet!«

Mr. Gradgrind blickte aus dem Fenster und gab keine Antwort, Mr. Sleary leerte sein Glas und rief die Damen zurück.

»Tetilie, meine Liebe, kütt mich und leb wohl! Mitt Tquire, tu tehen, wie Ihr tie alt eine Tweter behandelt und alt Tweter, der Ihr Vertrauen und Achtung von ganter Teele tenkt und noch mehr alt dat, it ein Anblick, der mir tehr wohl tut. Ich hoffe, Euer Bruder wird leben, um et better um Euch tu verdienen und Euch mehr Freude tu machen. Tquire, gebt mir Eure Hand tum erten und tum lettenmale. Ärgert Euch nicht über arme Vagabunden. Dat Volk mut amütiert werden. Nicht alle Leute können gelehrt und nicht alle können Arbeiter tein; untereint it nicht dafür gemacht. Ihr mütt unt haben, Tquire. Teil daher klug und freundlich tugleich, und macht dat bete aut unt, und nicht dat tlechtete!«

»Und ich würde nie tuvor geglaubt haben«, sagte Mr. Sleary, indem er seinen Kopf noch einmal zur Tür hereinstreckte, »dat ich to viel von einem Schwätzer hätte!«