Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Luise erwachte aus der Ohnmacht, und ihre Augen öffneten sich matt auf ihrem alten Bett daheim und in ihrem alten Zimmer. Es schien ihr anfangs, als wenn all die Ereignisse seit dem Tage, wo diese Gegenstände ihr vertraut waren, Schatten eines Traumes gewesen. Aber allmählich, als die Umgebung sich bestimmter vor ihren Augen gestaltete, traten auch die Ereignisse bestimmter vor ihren Sinn.

Sie vermochte kaum ihren Kopf vor Schmerz und Schwere zu bewegen: ihre Augen waren entzündet und wund, sie war sehr schwach. Eine auffallende Teilnahmslosigkeit hatte sich ihrer so vollständig bemächtigt, daß selbst die Anwesenheit ihrer kleinen Schwester im Zimmer eine Zeitlang ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich zog. Ja, als ihre Augen sich begegnet und ihre Schwester ans Bett getreten war, lag Luise noch mehrere Minuten lang im Schweigen, sah sie nur an und ließ es widerstandslos geschehen, daß diese schüchtern ihre Hand ergriff. Dann fragte sie:

»Wann bin ich in dies Zimmer gebracht worden?«

»Letzte Nacht, Luise.«

»Wer brachte mich hierher?«

»Cili, glaube ich.«

»Warum glaubst du das?«

»Weil ich sie diesen Morgen hier fand. Sie kam nicht an mein Bett, um mich zu wecken, wie sie immer tut, und ich machte mich deshalb auf, sie zu suchen. Sie war auch nicht in ihrem eigenen Zimmer, und ich mußte das ganze Haus durchsuchen, bis ich sie hier fand, um dich beschäftigt. Sie machte kalte Umschläge auf deinen Kopf. Willst du Vater sehen? Cili sagte, ich sollte es ihm mitteilen, wenn du erwachtest.«

»Wie du schön und gesund aussiehst, Jane!« sagte Luise, als sich ihre kleine Schwester, noch immer schüchtern, niederbeugte, um sie zu küssen.

»Wirklich? Es freut mich, daß du so denkst. Ich bin gewiß, daß es Cilis Werk ist.«

Der Arm, den Luise im Begriff war um ihren Nacken zu schlingen, zog sich zurück. »Du kannst es dem Vater sagen, wenn du willst.« Dann, sie noch einen Augenblick zurückhaltend, sagte sie: »Hast du mein Zimmer so freundlich eingerichtet, daß es fast wie ein Willkommengruß aussieht?«

»O nein, Luise, das war getan, ehe ich kam. Es war –«

Luise wandte sich auf ihrem Kissen um und hörte nicht weiter. Als sich ihre Schwester zurückgezogen hatte, drehte sie ihren Kopf wieder um und lag mit ihrem Gesicht gegen die Tür, bis diese sich öffnete und ihr Vater eintrat.

Er hatte ein verquältes und ängstliches Aussehen; und seine Hand, gewöhnlich so ruhig, zitterte in der ihren. Er setzte sich an ihr Bett, zärtlich fragend, wie sie sich befinde. Er schärfte ihr ein, sich ruhig zu verhalten, nachdem sie in vergangener Nacht so aufgeregt und dem Unwetter ausgesetzt gewesen sei. Er sprach in mildem und zitterndem Ton, ganz verschieden von seiner gewöhnlichen diktatorischen Weise: und oft war er verlegen um Worte.

»Meine liebe Luise. Meine arme Tochter!« Die Sprache ging ihm an dieser Stelle so vollständig aus, daß er ganz innehielt. Er versuchte von neuem.

»Mein unglückliches Kind.« Über diese Stelle war so schwierig hinwegzukommen, daß er nochmals begann.

»Es würde ein vergebliches Bemühen sein, Luise, wenn ich dir erzählen wollte, wie erschüttert ich war und noch bin durch das, was letzte Nacht auf mich eingestürmt ist. Der Boden, auf dem ich stand, hat zu wanken begonnen unter meinen Füßen. Die einzige Stütze, auf die ich mich lehnte, und die Stärke, die sie zu haben schien und ohne alle Frage noch zu haben scheint, ist in einem Augenblick gefallen. Ich bin betäubt von diesen Entdeckungen. Ich habe keine selbstischen Empfindungen bei dem, was ich sage, aber ich muß gestehen, daß der Schlag, der mich in vergangener Nacht betroffen hat, in der Tat sehr stark war.«

Sie konnte ihm zu alldem keinen Trost geben. Ihr ganzes Leben hatte auf dem Felsen Schiffbruch gelitten.

»Ich will nicht sagen, Luise, daß, wenn du dich mir bei einer passenden Gelegenheit früher entdeckt hättest, es besser für uns beide gewesen sein würde, besser für deine Ruhe und besser für die meine, denn ich fürchte, daß es nicht in mein Erziehungssystem gepaßt haben würde, ein derartiges Vertrauen zu ermuntern. Ich habe mein – mein System bei mir selbst geprüft und es streng durchgeführt: ich muß die Verantwortlichkeit seines Fehlschlages auf mich nehmen. Nur bitte ich dich zu glauben, mein vor allen geliebtes Kind, daß ich die Überzeugung hatte, recht zu handeln.«

Er sagte das im Ernste, und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er hatte diese Überzeugung wirklich. Indem er unergründliche Tiefen mit seinem kleinen, schlechten Metermaß ausrechnen wollte und über das Weltall mit seinem verrosteten Zirkel hintaumelte, glaubte er große Dinge zu tun. Soweit er sich in seinem beschränkten Gesichtskreis ergehen konnte, vernichtete er die Blüten der Existenz in aufrichtigerer Absicht, als viele von den blökenden Personen, mit denen er Umgang pflegte.

»Ich bin vollkommen von der Aufrichtigkeit deiner Worte überzeugt, Vater. Ich weiß, daß ich dein Lieblingskind gewesen bin. Ich weiß, du hattest die Absicht, mich glücklich zu machen. Ich habe dich nie getadelt und ich werde dies nie tun.«

Er faßte ihre ausgestreckte Hand und behielt sie in der seinen.

»Mein liebes Kind, ich habe die ganze Nacht an meinem Tisch gesessen, und die Dinge, die so schmerzvoll zwischen uns getreten sind, hin und her überlegt. Wenn ich deinen Charakter bedenke, daß das, was vor wenigen Stunden zu meiner Kenntnis gelangt, jahrelang in deiner Brust verschlossen gewesen ist; wenn ich bedenke, unter welchem unmittelbaren Druck es dir endlich herausgepreßt wurde, so komme ich zu dem Schlusse, daß ich nur Mißtrauen gegen mich selbst haben kann.«

Er hätte mehr sagen können, als er das jetzt auf ihn gewandte Gesicht sah. Er sagte es vielleicht in seinem Herzen still vor sich hin, als er mit sanfter Hand das wirre Haar von ihrer Stirne strich. Solche kleine Handlungen, bedeutungslos bei einem anderen Manne, waren sehr bezeichnend bei ihm; und seine Tochter nahm sie auf, als wären es Worte der Reue.

»Aber«, sagte Mr. Gradgrind langsam und stockend, mit dem traurigen Gefühle der Hilflosigkeit, wenn ich Grund sehe, mir für die Vergangenheit zu mißtrauen, Luise, so dürfte ich mir auch für die Gegenwart und Zukunft mißtrauen. Um offen mit dir zu sprechen, ich tue es wirklich. Ich bin weit entfernt, mir sicher zu sein, so verschieden ich auch noch gestern um diese Stunde darüber gedacht habe, daß ich dem Vertrauen verdiene. Ich weiß ja nicht, ob ich deinem Begehren, das du bei deiner Heimkehr ins Elternhaus an mich gestellt hast, entsprechen soll, ob ich den richtigen Instinkt habe – nehmen wir für den Augenblick eine derartige Eigenschaft an –, wie dir zu helfen und dich auf den rechten Weg zu bringen, mein Kind.«

Sie hatte sich auf dem Kissen umgewandt und lag mit dem Gesicht auf ihrem Arm, so daß er es nicht sehen konnte. All ihre Aufregung und Leidenschaft hatte sich gelegt; aber, obgleich besänftigt, hatte sie doch keine Tränen. Ihr Vater war in nichts so sehr verändert, als darin, daß er froh gewesen wäre, sie weinen zu sehen.

»Einige Menschen glauben«, fuhr er noch zögernd fort, »daß es eine Weisheit des Kopfes, und daß es eine Weisheit des Herzens gäbe. Ich habe nicht so gedacht; aber, wie gesagt, ich habe jetzt Mißtrauen gegen mich selbst. Ich nahm an, der Kopf reiche zu allen Dingen aus, er mag vielleicht nicht ausreichend sein. Wie kann ich diesen Morgen zu behaupten wagen, daß es so ist. Wenn die andere Art von Weisheit das sein sollte, was ich vernachlässigt habe, und der Instinkt, der vonnöten ist, dann Luise –«

Er brachte das sehr zweifelhaft vor, als wenn er halb unwillig wäre, es jetzt selbst einzugestehen. Sie gab ihm keine Antwort; während sie vor ihm auf ihrem Bette dalag, noch halb angekleidet, fast ganz so, wie er sie in vergangener Nacht auf dem Boden seines Zimmers liegen gesehen hatte.

»Luise«, und seine Hand ruhte wieder auf ihrem Haar, »ich bin in letzter Zeit oft abwesend gewesen, meine Liebe, und obgleich die Erziehung deiner Schwester gemäß dem – System verfolgt worden ist«, er schien immer mit großem Widerstreben auf dies Wort zurückzukommen, »so sind doch tägliche Berührungen mit gefühlsmäßigen Dingen, die sie von Kindheit an gehabt hat, nicht ohne Einfluß auf sie geblieben. Nun frage ich dich, in meiner Unwissenheit demütig, liebe Tochter, – denkst du, daß dies zum bessern ausgeschlagen sei?«

»Vater«, antwortete sie, ohne sich zu regen, »wenn in ihrer Brust irgendeine Harmonie geweckt worden ist, die in der meinigen verstummte, bis sie sich in Disharmonie auflöste, so mag sie dem Himmel dafür danken, ihren glücklicheren Lebensweg wandeln und es für ihren größten Segen halten, meinen Weg vermieden zu haben.«

»O! mein Kind, mein Kind!« rief er in trostlosem Schmerz aus, »ich bin ein unglücklicher Mann, daß ich dich so sehen muß. Was hilft es mir, daß du mir keine Vorwürfe machst, wenn ich mir selbst so bittere machen muß!« Er senkte sein Haupt und sprach leise zu ihr. »Luise, ich habe die Ahnung, daß bei lauterer Liebe und Dankbarkeit in diesem Hause sich allmählich eine Veränderung um mich würde geltend gemacht haben; daß das, was der Kopf versäumt und nicht zu tun vermochte, das Herz schweigend getan haben möchte. Ist das wahrscheinlich?«

Sie gab ihm keine Antwort.

»Ich bin nicht zu stolz, es zu glauben, Luise. Wie könnte ich so anmaßend sein, und du vor meinen Augen! Kann es so sein? Ist es so?«

Er richtete von neuem seinen Blick auf sie, wie sie so in sich versunken dalag, und ging still aus dem Zimmer. Er hatte sich noch nicht lange entfernt, als sie einen leichten Schritt an der Tür vernahm und bemerkte, daß jemand neben ihr stand.

Sie erhob den Kopf nicht. Ein unklarer Groll, daß sie in ihrem Leiden gesehen worden, und daß die unwillkommene Beobachtung, von der sie sich so schmerzlich berührt fühlte, zu ihrem Zwecke gelangen sollte, arbeitete in ihr wie ein krankhaftes Feuer. Alle in ihr verschlossenen Kräfte kamen zu einem zerstörenden Durchbruch. Die Luft, die der Erde heilsam sein, das Wasser, das ihr erfrischende und die Hitze, die ihr befruchtende Kraft geben sollen, zerfleischen sie, wenn diese Elemente zurückgedämmt werden. So eben jetzt in ihrer Brust; die stärksten Seelenkräfte, die sie besaß, solange gegen sich selbst gerichtet, verstockten sich und wurden gewalttätig gegen ein befreundetes Herz.

Es war gut, daß sie eine sanfte Hand auf ihrem Nacken fühlte, und daß sie merkte, man glaube sie eingeschlafen. Die teilnehmende Hand hatte nichts mit ihrem Verdruß zu schaffen. Laßt sie da liegen, die Hand, laßt sie liegen.

So blieb sie denn liegen, eine Menge freundlicherer Gedanken weckend; und Luise verhielt sich still. Als sie durch die Ruhe und das Bewußtsein einer so liebreichen Huld milder gestimmt wurde, fanden Tränen den Weg in ihre Augen. Ein Gesicht berührte das ihre, und sie ward inne, daß sich auf diesem Tränen befanden, und daß sie die Ursache dieser Tränen war.

Als Luise sich stellte, wie wenn sie erwache, und sich aufrecht setzte, zog sich Cili zurück und stand ruhig an der Seite des Bettes.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört. Ich habe Sie fragen wollen, ob ich bei Ihnen bleiben darf.«

»Warum willst du bei mir bleiben? Meine Schwester wird dich vermissen. Du bist ihr alles.«

»Bin ich wirklich?« erwiderte Cili, den Kopf schüttelnd. »Ich möchte gern Ihnen etwas sein, wenn ich dürfte.

»Was?« fragte Luise fast strenge.

»Das, was Ihnen am meisten not tut, wenn ich es vermöchte. Auf alle Fälle möchte ich mein Möglichstes versuchen. Wollen Sie es mir gestatten?«

»Mein Vater schickt dich her, mich darum zu fragen?«

»Ganz gewiß nicht«, antwortete Cili. »Er sagte mir, daß ich jetzt hereinkommen dürfte; aber diesen Morgen schickte er mich aus dem Zimmer – oder wenigstens –« sie stockte und schwieg.

»Was wenigstens?« sagte Luise, ihre forschenden Augen auf sie gelichtet.

»Ich hielt es selbst für das Beste, hinausgeschickt zu werden, denn ich war sehr zweifelhaft, ob Sie mich gern hier sehen würden.«

»Habe ich dich immer so sehr gehaßt?«

»Ich hoffe es nicht; denn ich habe Sie immer geliebt und immer gewünscht, daß Sie es erkennen möchten. Aber Sie nahmen ein etwas verändertes Benehmen gegen mich an, kurz ehe Sie das Elternhaus verließen. Sie wußten so viel und ich so wenig, und es war in vielen Beziehungen so natürlich, da Sie neuen Freunden entgegengingen, daß ich mich nicht darüber zu beklagen hatte und durchaus nicht verletzt fühlte.«

Sie wurde rot, als sie das bescheiden und hastig sagte. Luise verstand die liebevolle Schonung, und ihr Herz ward gerührt.

»Darf ich versuchen?« sagte Cili, so viel ermutigt, daß sie die Hand auf ihren Nacken legte, der sich unmerklich nach ihr hinneigte. Luise nahm die Hand, die sie im nächsten Augenblicke umschlungen haben würde, herunter, hielt sie in der ihrigen und antwortete:

»Vor allem, Cili, weißt du, was ich bin? Ich bin so stolz und verhärtet, so verwirrt und verstört, so verdrießlich und ungerecht gegen jedermann und gegen mich selbst, daß alles ungestüm, finster und böse in mir ist. Stößt dich das nicht zurück?«

»Nein!«

»Ich bin so unglücklich, und alles das, was mich hätte anders machen können, ist so vollständig verstört in mir, daß, wenn ich bis zu dieser Stunde meiner Vernunft beraubt gewesen wäre, und wenn ich anstatt so gelehrt zu sein wie du denkst, noch anfangen müßte die ersten Wahrheiten zu erlernen, ich einen Führer zum Frieden, zur Zufriedenheit, Ehre und all den Gütern, deren ich gänzlich bar bin, nicht dringender nötig hätte, als ich in meiner Armseligkeit wirklich habe. Stößt dich das nicht zurück?«

»Nein!«

In der Unschuld ihrer natürlichen Liebe und in der Fülle ihrer alten Anhänglichkeit leuchtete das einst verlassene Mädchen wie ein schönes Licht in das dunkle Leben der anderen hinein.

Luise erhob die eine Hand, ihren Nacken zu streicheln, und flocht sie dann in die andere. Sie fiel auf ihre Knie, und sich an des Artisten Kind hängend, blickte sie zu ihm auf, beinahe mit Verehrung.

»Vergib mir, habe Mitleid mit mir, hilf mir! Blicke teilnehmend auf meine große Not und laß mich meinen armen Kopf an ein liebendes Herz legen.«

»O! laß es hier ruhen!« rief Cili, »laß es hier ruhen, geliebte Freundin!«

Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Es dunkelte, als Stephen Mr. Bounderbys Haus verließ. Die Schatten der Nacht waren so dicht herabgesunken, daß Stephen nicht um sich blickte, während er die Tür zumachte, sondern sich gerade die Straße hinabschleppte. Nichts lag seinen Gedanken ferner als die sonderbare Alte, der er bei seinem früheren Besuche in demselben Hause begegnet war, als er einen wohlbekannten Schritt hinter sich hörte und sich umwendend diese in Rachaels Gesellschaft erblickte.

Er sah Rachael jetzt erst, da er sie vorher nur gehört hatte.

»Ach, meine gute Rachael! Liebe Frau, Sie mit ihr!«

»Jawohl, und nun seid Ihr sicherlich überrascht, und ich muß sagen, mit Recht«, entgegnete die Alte. »Hier bin ich wieder, wie Ihr seht.«

»Aber, wieso mit Rachael?« fragte Stephen. Er schloß sich ihnen an und ging, von einer zur andern blickend, zwischen beiden.

»Nun, ich traf dieses hübsche, gute Mädchen, als ich auf Euch gestoßen war«, sagte die Alte, in munterem Ton antwortend. »Meine Besuchszeit fällt dieses Jahr später als gewöhnlich, denn ich war von Atemnot geplagt und verschob daher die Reise, bis das Wetter gut und warm geworden. Aus demselben Grunde lege ich die Reise nicht an ein und demselben Tage zurück, sondern verteile sie auf zwei Tage, und übernachte heute im Kaffeehaus bei der Eisenbahn (ein hübsches, reinliches Haus das), und fahre morgen früh um sechs Uhr wieder mit dem Parlamentszug zurück. ›Nun, was hat das alles aber mit diesem guten Mädchen zu tun?‹ fragt Ihr. Das will ich Euch sagen. Ich habe gehört, daß sich Mr. Bounderby verheiratet hat. Ich las es in der Zeitung, wo es sich großartig ausnahm – oh, es nahm sich prachtvoll aus!« die Alte verweilte bei diesem Gedanken mit sonderbarer Begeisterung, »und ich möchte seine Frau sehen. Ich habe sie noch nie gesehen. Nun stellt Euch nur vor, seit heute mittag hat sie das Haus nicht verlassen. Um sie aber nicht zu leicht aufzugeben, wartete ich noch ein letztes Weilchen, als ich an diesem guten Mädchen zwei- oder dreimal vorüberging, und sie so freundlich ausschaute, so sprach ich sie an und wir kamen in eine Unterhaltung. Da habt Ihr’s nun!« sagte die Alte zu Stephen, »das übrige könnt Ihr selbst erraten, und wie ich glaube, um vieles rascher, als ich es sagen kann.«

Stephen mußte abermals einen instinktmäßigen Widerwillen gegen diese Frau überwinden, obgleich ihr Benehmen so anständig und einfach wie nur möglich war. Mit einem Wohlwollen, das ihm und, wie er wußte, auch Rachael so natürlich war, blieb er bei dem Gegenstand, der sie in ihrem Alter noch so interessierte.

»Nun, Frauchen«, sagte er, »ich habe die Dame gesehen, und sie ist ebenso jung als schön. Sie hat schöne, dunkle und verständige Augen und ein stilles Wesen, Rachael, wie ich nie etwas Ähnliches erblickt habe.«

»Jung und schön. Ja«, rief die Alte ganz entzückt. »So lieblich wie eine Rose. Und was für eine glückliche Frau!«

»Freilich, liebe Frau, ich vermute, sie ist es«, sagte Stephen, warf jedoch einen zweifelhaften Blick auf Rachael.

»Ihr vermutet, daß sie es sei? Sie muß es sein. Sie ist die Frau Eures Herrn«, versetzte die Alte.

Stephen nickte beistimmend. »Obwohl, was den Herrn anbelangt«, sagte er, einen flüchtigen Blick auf Rachael werfend, »mein Herr gewesen. Es ist aus zwischen mir und ihm.«

»Hast du die Arbeit bei ihm verlassen?« fragte Rachael besorgt und schnell.

»Nun, Rachael«, antwortete er, »ob ich die Arbeit verlasse oder ob die Arbeit mich verläßt, kommt auf eins heraus. Seine Arbeit und ich sind geschieden. Es ist auch gut so – besser noch – dachte ich, als daß du mit mir hättest gehen müssen. Es hätte mir nur Verdruß verursacht, wenn ich geblieben wäre. Vielleicht ist’s gar eine Wohltat für mich. Jedenfalls muß es geschehen. Ich muß nun Coketown den Rücken kehren und mein Glück suchen, Liebe, indem ich von vorne anfange.«

»Wohin willst du gehen, Stephen?«

»Ich weiß noch nicht heute nacht«, sagte er, indem er den Hut lüftete und sich das dünne Haar mit der flachen Hand glättete. »Aber ich gehe noch nicht heute nacht fort, Rachael, auch morgen nicht. Es ist nicht so leicht zu wissen, wohin ich mich wenden soll, doch werden mir schon gute Gedanken kommen.«

Auch hier kam ihm seine Natur, uneigennützig zu denken, wieder zu Hilfe. Bevor er noch Mr. Bounderbys Haustür zugemacht hatte, war ihm der Gedanke gekommen, daß es wenigstens für sie gut sei, wenn er nun gehen müsse, da sie dadurch der Möglichkeit entgehe, in seine Angelegenheit mit hineingezogen zu werden, bloß weil sie zu ihm hielt. Obwohl es ihm viel Schmerz verursachen mußte, sie zu verlassen, und obwohl er keinen Ort wußte, wohin seine Verfehmung ihn nicht verfolgen würde, so war es vielleicht gegen die Schwierigkeiten und Drangsale, die ihm bevorstanden, noch eine Erleichterung, die Leiden der verflossenen vier Tage aufgeben zu müssen.

Darum sagte er auch mit voller Wahrheit: »Es ist mir wohler dabei, Rachael, als ich gedacht hätte.« Sie mochte nicht seine Last schwerer machen. Sie antwortete mit ihrem trostreichen Lächeln, und die drei setzten ihren Weg fort.

Das Alter findet, besonders wenn e« sich bestrebt, selbstvertrauend und munter zu erscheinen, viel Rücksicht bei den Armen. Die alte Frau war so anständig und machte so wenig Umstände mit ihren Gebrechen, obwohl diese seit ihrer ersten Zusammenkunft mit Stephen sich noch vermehrt hatten, daß sie beide Interesse für sie faßten.

Sie war zu lebhaft, um zu dulden, daß sie ihretwegen langsamer gingen. Aber sie nahm es dankbar auf, daß man mit ihr sprach, und sie sprach selbst gern und ausführlich wie immer. Als die beiden nun ihr Stadtviertel erreichten, war die Alte munterer und lebhafter als je.

»Kommt mit in meine bescheidene Wohnung, Frau«, sagte Stephen, »und trinkt etwas Tee. Rachael wird auch kommen, und dann will ich Euch nach Eurem Reisehotel bringen. Es dürfte lange dauern, Rachael, eh ich wieder die Gelegenheit habe, in deiner Gesellschaft zu sein.«

Sie sagten zu, und alle drei begaben sich nach dem Hause, wo er wohnte. Als sie in die enge Straße kamen, warf Stephen einen flüchtigen Blick nach dem Fenster mit einer Angst, die seine trostlose Wohnung stets umschwebte. Es war jedoch offen, so wie er es verlassen hatte, und niemand befand sich daselbst. Der Dämon seines Lebens war seit einigen Monaten wieder verschwunden, und seitdem hatte er nichts von ihr vernommen. Das einzige Zeugnis von ihrer letzten Wiederkehr gaben die spärlicheren Möbel seines Zimmers und die grauer gewordenen Haare seines Kopfes.

Er zündete ein Licht an, machte ein Teebrett zurecht, holte warmes Wasser von unten und brachte von dem nächsten Kaufladen kleine Portionen Tee und Zucker, einen Laib Brot und etwas Butter. Das Brot war neubacken und krustig, die Butter frisch und der Zucker natürlich weiß – als Bestätigung der apodiktischen Behauptung der Coketowner Magnaten, daß »diese Leute wie die Prinzen leben«. Rachael bereitete den Tee (eine so große Gesellschaft machte das Borgen einer Tasse nötig) und der Gast genoß ihn mit vielem Vergnügen. Es war der erste Strahl gesellschaftlicher Freuden, der dem Wirt seit langer Zeit zuteil geworden. Auch er, vor dem die Welt wie eine weite Wüste dalag, erfreute sich des bescheidenen Mahles – wieder ein Beispiel zur Bekräftigung des Magnatenausspruches, daß es »diesen Leuten an aller und jeder Berechnung fehlt«.

»Ich hab‘ noch nicht daran gedacht, Mistreß«, sagte Stephen, »Euch nach Eurem Namen zu fragen.«

Die alte Frau stellte sich als »Mrs. Pegler« vor.

»Witwe vermutlich?« fragte Stephen.

»Oh, seit langen Jahren.« – Mrs. Peglers Mann (einer der besten, die es je gegeben) war, nach Mrs. Peglers Berechnung, schon tot, als Stephen geboren wurde.

»Das war auch ein schlimmes Schicksal, einen so guten Mann zu verlieren«, sagte Stephen. »Sind Kinder da?«

Mrs. Peglers Obertasse rasselte, wie sie diese in der Hand hielt, gegen die Untertasse und deutete auf ihre nervöse Aufregung. »Nein«, sagte sie. »Nicht jetzt, nicht jetzt.«

»Tot, Stephen«, deutete Rachael mit sanfter Stimme an.

»Es tut mir leid, daß ich davon gesprochen«, sagte Stephen. »Ich hätte daran denken sollen, daß ich eine wunde Stelle berühren würde. Ich – ich muß mich selbst tadeln.«

Während er sich entschuldigte, rasselte die Tasse der alten Frau immer mehr. »Ich hatte einen Sohn«, sagte sie mit seltsamer Betrübnis, die nicht den gewöhnlichen Schmerzäußerungen gleichkam, »dem es wohl, wunderbar wohlging. Aber, bitte, schweigen wir davon. Er ist –«, indem sie die Tasse niederstellte, machte sie eine Bewegung mit der Hand, wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, »tot«. Dann rief sie laut: »Ich habe ihn verloren!«

Stephen hatte sich noch nicht darüber beruhigt, der alten Frau Schmerz verursacht zu haben, als die Hauswirtin die enge Treppe heraufgestolpert kam, ihn an die Tür rief und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Mrs. Pegler war durchaus nicht taub, denn sie griff das Wort auf, so wie es ausgesprochen wurde.

»Bounderby«, rief sie mit gedämpfter Stimme, indem sie vom Tische aufsprang. »Oh, verbergt mich. Laßt mich um alle Welt nicht gesehen werden. Laßt ihn nicht herauf, bis ich fort bin. Bitte, bitte sehr!« Sie zitterte und war über die Maßen aufgeregt. Als Rachael sie zu beruhigen suchte, verbarg sie sich hinter dieser und schien nicht zu wissen, was sie anfangen sollte.

»Aber hört doch, liebe Frau, hört doch«, sagte Stephen erstaunt. »Es ist nicht Mr. Bounderby. Es ist seine Frau. Ihr werdet Euch doch vor ihr nicht fürchten. Ihr waret ja kaum vor einer Stunde noch ganz beglückt von ihr.«

»Seid Ihr aber gewiß, daß es die Lady und nicht der Herr ist?« fragte sie noch immer zitternd.

»Vollkommen gewiß.«

»Nun denn, bitte, sprecht nicht mit mir und nehmt auch keine Notiz von mir«, sagte die Alte. »Überlaßt mich ganz mir selbst in dieser Ecke.«

Stephen nickte zustimmend und sah Rachael fragend an. Aber auch sie konnte ihm keine Erklärung geben. Dann nahm er das Licht, ging hinunter und kehrte nach einigen Augenblicken, Luisen ins Zimmer leuchtend, wieder zurück. Der Bengel folgte ihr nach.

Rachael hatte sich erhoben und stand abseits mit ihrem Schal und Hut in der Hand, als Stephen, durch diesen Besuch höchst überrascht, das Licht auf den Tisch setzte. Dann stand er da, die Hände auf einem nahen Tische übereinandergelegt und harrte, was sie begehre.

Luise hatte zum erstenmal in ihrem Leben eine der Wohnungen der Coketowner Arbeiter besucht, und zum ersten Male in ihrem Leben erschienen ihr diese mit einer Art Individualität behaftet. Sie wußte von deren Existenz zu Hunderten und Tausenden. Sie wußte, welche Resultate eine gegebene Zahl derselben in einem bestimmten Zeiträume an Arbeitsmengen leisten würde. Sie wußte, wie diese in Massen, gleich Ameisen und Käfern, von oder zu ihren Nestern sich bewegten.

Etwas, das so und so viel Arbeit liefern muß und mit so und so viel bezahlt wird und dann endigt! etwas, das unfehlbar nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage reguliert werden muß – zugleich aber etwas, das stets gegen diese Gesetze verstößt und sich in Verlegenheiten stürzt; etwas, das ein bißchen hungert, wenn Weizen teuer ist und sich überißt, wenn Weizen wohlfeil ist: etwas das mit so viel Prozent sich vermehrt, und wieder so viel Prozent in Verbrechen und so viel Prozent an Verarmung und Verelendung abwirft: etwas, das ein Handelsartikel im großen ist, wodurch schon unermeßliche Reichtümer erworben wurden: etwas, das gelegentlich gleich der See steigt und viel Schaden und Nachteil (vorzüglich sich selbst) verursacht und darauf wieder fällt – das war alles, was sie über die Coketowner Arbeiter wußte. Sie hatte jedoch kaum mehr daran gedacht, diese Massenbegriffe in Einheiten aufzulösen, wie die See selbst in die Tropfen, aus denen sie zusammengesetzt ist, zu teilen.

Einige Augenblicke stand sie da und blickte sich im Zimmer um. Von den wenigen Stühlen, den wenigen Büchern, den billigen Kupferstichen und dem Bett warf sie einen flüchtigen Blick auf die beiden Frauen und auf Stephen.

»Ich kam, um Euch wegen des soeben Vorgefallenen zu sprechen. Ich möchte mich Euch gern nützlich erweisen, wenn Ihr nichts dagegen habt. Ist das Eure Frau?«

Rachael erhob ihre Augen, die genugsam die Frage verneinten, und ließ sie dann wieder sinken.

»Ich besinne mich«, sagte Luise, über den Mißgriff errötend, »ich besinne mich, von Eurem häuslichen Unglück sprechen gehört zu haben, obwohl ich damals den Einzelheiten keine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Es lag nicht in meiner Absicht, eine Frage zu stellen, die einem der Anwesenden Schmerz verursachen könnte. Sollte ich eine andere Frage tun, die das gleiche Resultat hervorbringen könnte, so bitte ich Euch, mir zu glauben, daß es nur aus Unwissenheit geschieht, wie ich mit Euch zu sprechen habe.«

So wie Stephen sich erst vor kurzem instinktmäßig an sie gewandt hatte, so wandte sie sich jetzt instinktmäßig an Rachael. Ihr Benehmen war kurz und abgebrochen und doch unsicher und furchtsam.

»Er hat Euch gesagt, was zwischen ihm und meinem Manne vorgegangen war. Ihr müßt wohl, wie ich glaube, seine erste Zuflucht sein?«

»Ich habe das Ende davon gehört, junge Dame«, sagte Rachael.

»Verstand ich recht, daß er, wenn er von einem Arbeitgeber zurückgewiesen ist, wahrscheinlich von allen zurückgewiesen werden dürfte? Ich glaube, er sagte das ungefähr?«

»Die Aussicht ist sehr gering, junge Dame, beinahe gleich Null für einen Mann, der einen schlechten Ruf unter ihnen erlangt hat.«

»Was muß ich unter dem Ausdruck »schlechten Ruf« verstehen?«

»Den Ruf, ein unruhiger Kopf zu sein.«

»Er ist also durch die Vorurteile seines eigenen Standes und durch die Vorurteile des andern auf gleiche Weise aufgeopfert worden? Sind diese beiden Stände in unserer Stadt so sehr geschieden, daß sich zwischen ihnen für einen redlichen Arbeiter kein Platz vorfindet?«

Rachael schüttelte stillschweigend mit dem Kopf.

»Er fiel«, sagte Luise, »bei seinen Arbeitsgenossen in Verdacht, weil er das Versprechen geleistet, ihnen nicht beizutreten. Ich glaube, er muß Euch das Versprechen gemacht haben. Darf ich fragen, warum das geschah?«

Rachael brach in Tränen aus. »Ich habe ihn nicht dazu gedrängt, den Armen. Ich bat ihn, zu seinem eigenen Besten alle Unannehmlichkeiten zu vermeiden und dachte wenig daran, daß er durch mich dazu kommen werde. Aber ich weiß, daß er eher hundertmal sterben würde, als daß er sein gegebenes Wort bräche. Dafür kenne ich ihn zu gut.«

Stephen hatte in seiner gewöhnlichen, nachdenklichen Stellung, mit der Hand am Kinn, in stiller Aufmerksamkeit dagestanden. Er sprach jetzt mit einer etwas minder ruhigen Stimme als gewöhnlich.

»Niemand außer mir kann wissen, welche Ehrfurcht, welche Liebe und Achtung ich für Rachael fühle – oder aus welcher Ursache das geschieht. Als ich jenes Versprechen leistete, hielt ich sie wirklich für den Schutzgeist meines Lebens. Es war ein feierliches Versprechen. Ich habe es geleistet für immer.«

Luise wandte sich mit dem Kopfe gegen ihn und neigte ihn mit einer Ehrerbietung, die neu an ihr war. Sie blickte von ihm auf Rachael, und ihre Züge nahmen einen milderen Ausdruck an.

»Was wollt Ihr beginnen?« fragte sie ihn. Ihre Stimme war ebenfalls milder geworden.

»Nun, Ma’am«, sagte Stephen, der gute Miene zum bösen Spiel machte, mit einem Lächeln, »wenn ich mit der Arbeit zu Ende bin, dann muß ich diesen Ort verlassen und es an einem andern versuchen. Glücklich oder unglücklich – der Mensch kann nichts tun, als versuchen. Man soll nichts lassen, ohne es versucht zu haben – außer das Sichniederlegen und Sterben.«

»Wie wollt Ihr reisen?«

»Zu Fuß, meine gute Lady, zu Fuß.«

Luise errötete, während eine Geldbörse in ihrer Hand sichtbar wurde. Das Rauschen einer Banknote ließ sich hören, während sie eine entfaltete und auf den Tisch legte.

»Wollt Ihr ihm sagen, Rachael – denn Ihr wißt, wie es ohne Beleidigung anzustellen sei – daß dies ihm ganz zu Gebote steht, um ihm die Reise zu erleichtern? Wollt Ihr ihn inständig bitten, es anzunehmen?«

»Ich kann es nicht, junge Frau«, antwortete sie, sich mit dem Kopfe abwendend. »Gott segne Sie, daß Sie mit so viel Güte an den armen Mann denken. Aber er muß sein Herz selber kennen und wissen, was demgemäß recht ist.«

Luise sah teils ungläubig, teils erschrocken und teils von schneller Sympathie ergriffen aus, als dieser Mann von so vieler Selbstbeherrschung, der so einfach und gesetzt während der kürzlichen Unterredung gewesen war, seine Fassung in einem Augenblick verlor, und nun mit der Hand vor dem Gesicht dastand. Sie streckte die ihrige aus, wie um ihn zu berühren – dann bezwang sie sich und blieb ruhig.

»Nein, selbst Rachael«, sagte er, als er wieder mit unbedecktem Gesicht dastand, »könnte ein so liebreiches Anerbieten nicht mit liebreicheren Worten machen. Um zu zeigen, daß ich kein Mann ohne Verstand und Dankbarkeit bin, will ich zwei Pfund nehmen. Ich will sie als Darlehen annehmen und sie wieder zurückbezahlen. Und die Arbeit soll mir die süßeste sein, die ich je verrichtet: denn sie soll mich in den Stand setzen, noch einmal meine ewige Dankbarkeit für Ihre heutige Tat zu erkennen zu geben.«

Sie mußte gern oder ungern die Banknote wieder zurücknehmen und die viel kleinere Summe, die er genannt hatte, an deren Stelle setzen. Stephen war weder höflich, noch hübsch, noch pathetischer Geste: und doch lag in der Art, wie er das Geld annahm und seinen Dank ohne viel Worte ausdrückte, eine Anmut, die Lord Chesterfield seinem Sohne in einem ganzen Jahrhundert nicht hätte beibringen können.10

Tom hatte, bis der Besuch in dieses Stadium getreten war, auf dem Bett gesessen: er schwang mit ziemlicher Gleichgültigkeit einen Fuß hin und her und lutschte an seinem Spazierstock. Als er seine Schwester zum Aufbrechen bereit sah, stand er ziemlich rasch auf und rief:

»Warte nur einen Augenblick, Lu. Ehe wir fortgehen, möchte ich ihn auf einen Moment sprechen. Es fällt mir gerade was ein. Wenn Ihr mit mir auf die Treppe hinausgehen wollt, Blackpool, so will ich’s Euch sagen. Wir brauchen kein Licht, Mann.« Tom war in merkwürdiger Ungeduld, als sich Stephen nach dem Speiseschrank hin wandte, um eines zu holen. »Man braucht kein Licht dazu.«

Stephen folgte ihm nach und Tom machte die Zimmertür zu und hielt das Schloß in der Hand.

»Hört einmal!« flüsterte er. »Ich glaube. Euch einen guten Dienst erweisen zu können. Fragt mich nicht, was es ist, weil vielleicht nichts daraus werden dürfte. Aber es schadet nichts, wenn ich’s versuche.« Sein Atem wehte, einer Feuerflamme gleich, Stephens Ohren an, so heiß war er.

»Es war unser Bürodiener auf der Bank, der Euch diesen Abend die Botschaft hinterbracht hatte«, sagte Tom. »Ich heiße ihn unsern Bürodiener, weil ich auch zur Bank gehöre.«

Stephen dachte: »Was für Eile er hat!« Tom sprach auch wirklich ganz konfus.

»Nun, laßt einmal hören«, fuhr Tom fort. »Wann ist Eure Arbeitszeit hier endgültig aus?«

»Heute ist Montag«, erwiderte Stephen nachdenkend. »Nun, Sir, Freitag oder Samstag ungefähr.«

»Freitag oder Samstag«, sagte Tom. »Nun seht einmal. Ich bin nicht gewiß, ob ich Euch den guten Dienst erweisen kann, den ich beabsichtige – wißt, das ist meine Schwester, die in Eurem Zimmer ist – aber ich dürfte imstande sein, es zu tun, und sollte ich es nicht sein, so ist doch kein Schaden dabei. Darum will ich Euch was sagen. Würdet Ihr unsern Bürodiener wiedererkennen?«

»Ganz gewiß«, sagte Stephen.

»Sehr gut«, versetzte Tom. »Wenn Ihr eines Abends, zwischen heute und Eurer Abreise zu arbeiten aufhört, dann wartet doch ungefähr ein Stündchen bei der Bank. Wollt Ihr das? Laßt keine Absicht merken, wenn er Euch dort warten sieht; denn ich werde ihn nicht beauftragen, mit Euch zu sprechen, außer ich kann Euch den Dienst erweisen, den ich beabsichtige. In diesem Falle würde er einen Zettel oder eine Botschaft für Euch haben, sonst nicht. Also gebt acht! Ihr habt mich doch richtig verstanden?«

Er hatte in der Dunkelheit einen Finger in das Knopfloch von Stephens Rock gezwängt und drehte in einer ungewöhnlichen Weise jenen Winkel des Kleidungsstückes zu einem Knäuel zusammen.

»Ich verstehe wohl, Sir«, sagte Stephen.

»Nun, seht einmal«, wiederholte Tom. »Seid gewiß, daß Ihr Euch nicht irrt und vergeßt nichts. Ich werde meiner Schwester im Nachhausegehen sagen, was ich beabsichtige, und ich weiß, sie wird es billigen. Nun, seht einmal, die Sache ist doch in Ordnung, nicht wahr? Ihr versteht alles davon? Sehr gut also. Komm fort, Lu!«

Er stieß die Tür auf, während er sie rief, kehrte jedoch nicht mehr ins Zimmer zurück und wartete auch nicht, bis man ihr die engen Treppen hinunterleuchtete. Er war schon unten, als sie herabstieg, und befand sich schon auf der Straße, ehe sie seinen Arm nehmen konnte.

Mrs. Pegler blieb in ihrem Winkel, bis das Geschwisterpaar fort war und Stephen mit dem Licht in der Hand zurückkam. Sie befand sich in einem Zustand unaussprechlicher Bewunderung für Mrs. Bounderby, und weinte wie eine höchst seltsame Alte, »weil sie so ein liebes Wesen sei«. Zugleich war sie aber in solcher Angst, daß der Gegenstand ihrer Bewunderung zurückkehren oder sonst jemand kommen könnte, daß es mit ihrer Fröhlichkeit für heute abend vorbei war. Es war auch spät für Leute, die früh aufstanden und hart arbeiteten. Die Gesellschaft brach daher auf, und Stephen und Rachael begleiteten ihre rätselhafte Bekanntschaft bis an die Tür des Passagierhotels, wo sie sich von ihr verabschiedeten.

Sie gingen zusammen bis zur Ecke der Straße zurück, in der Rachael wohnte, und je näher sie dieser kamen, desto schweigender wurden sie. Als sie zu der dunklen Straßenecke gelangten, wo ihre seltenen Zusammenkünfte gewöhnlich endeten, hielten sie, noch immer schweigend, inne, als ob beide sich scheuten zu sprechen.

»Ich werde versuchen, dich noch einmal zu sehen, Rachael, bevor ich gehe, wo nicht aber –«

»Du wirst das nicht tun, Stephen, ich weiß es. Es ist besser, wir entschließen uns, offen gegeneinander zu sein.«

»Du hast immer recht. Es ist kühner und besser. Ich dachte daran, Rachael, daß es besser ist, wenn man dich nicht mit mir sieht, meine Liebe, da es doch nur einen oder zwei Tage dauern wird. Es könnte dir nur, ohne irgendeinen Nutzen, Unannehmlichkeiten verursachen.«

»Deshalb hätte ich nichts dagegen, Stephen. Aber du kennst unsere frühere Übereinkunft. Und das ist die Ursache.«

»Gut, gut«, sagte er. »Es ist besser so, wie es auch immer sei.«

»Du wirst mir schreiben, Stephen, und mir alles mitteilen, was vorfällt?«

»Ja. Was kann ich aber nun mehr sagen, als: Gott sei mit dir, Gott segne dich, Gott belohne dich und vergelte dir’s!«

»Möge er auch dich segnen, Stephen, auf all deinen Wegen und dir endlich Frieden und Ruhe schenken!«

»Ich sagte dir, Liebste«, versetzte Stephen Blackpool, »an jenem Abend – daß ich nichts sagen oder denken wollte, was meinen Zorn reizte, ohne daß du zu meinem Besten im Geiste bei mir stehen würdest. Du stehst mir auch jetzt zur Seite. Du läßt es mich mit gelassenem Blick ansehen. Gott segne dich. Gute Nacht. Leb‘ wohl!«

Es war ein rascher Abschied auf der gewöhnlichen Straße, und doch blieb er für diese beiden gewöhnlichen Leute eine heilige Erinnerung. Ihr Staatsökonomen und Nützlichkeitstheoretiker, ihr Schulmeistergerippe, eleganten und abgenützten Ungläubigen, ihr Prediger so mancher armseligen Glaubensbekenntnisse, die Armen sind immer euch nahe! Pflegt in ihnen, während es noch Zeit ist, alle Gaben der Phantasie und des Herzens, um ihr Leben damit zu schmücken, das so sehr der Schönheit bedarf, oder die Wirklichkeit wird, in dem Augenblicke eures Triumphes – wo die Romantik aus ihrer Seele gänzlich verscheucht ist und sie kahler Existenz euch von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, einen wolfsartigen Charakter annehmen und euch ein Ende machen.

Stephen arbeitete den nächsten Tag und den folgenden, ohne von jemanden mit einem Wort erfreut zu werden. Er blieb wie früher in seinem Tun und Lassen von allen gemieden. Am Ende des zweiten Tages erblickte er Land, und am Ende des dritten stand sein Webstuhl leer.

An jedem der ersten zwei Abende hatte er länger als eine Stunde vor der Bank gewartet, aber nichts war vorgefallen, weder Gutes noch Schlimmes. Damit er jedoch nicht seinerseits nachlässig erscheine, entschloß er sich, in der dritten und letzten Nacht volle zwei Stunden zu warten.

Er sah die Dame, die einst den Haushalt von Mr. Bounderby besorgte, wie früher am Fenster des ersten Stockwerkes sitzen, und auch der Bürodiener befand sich dort, der zuweilen mit ihr sprach, zuweilen über das Firmenschild herabsah, wo »Bank« geschrieben stand, und zuweilen vor die Tür kam und sich auf die Stufen stellte, um frische Luft zu schöpfen. Als er zuerst herauskam, meinte Stephen, er suche ihn und ging nahe an ihm vorbei; der Bürodiener warf ihm aber nur einen blinzelnden Blick zu, sagte indessen nichts. Zwei Stunden wartend herumstreifen war nach der langen Tagesarbeit eine starke Anstrengung. Stephen setzte sich auf eine Haustürstufe, lehnte sich an die Mauer eines Schwibbogens, schlenderte hin und her, lauschte den Schlägen der Turmuhr, hielt inne und betrachtete die spielenden Kinder auf der Gasse. Es ist aber natürlich, daß jeder Wartende eine bestimmte Absicht hat, daß ein bloßer Faulenzer immer sonderbar aussieht und sich auch so fühlt. Als die erste Stunde um war, fing selbst Stephen an, von einem unbehaglichen Gefühl beschlichen zu werden, daß er für den Augenblick eine schimpfliche Rolle spiele.

Dann erschienen der Lampenanzünder und zwei sich verlängernde Lichtstreifen längs der ganzen Perspektive der Straße, bis sie sich in der Ferne vermengten und verloren. Mrs. Sparsit schloß das Fenster des ersten Stockwerkes, ließ die Jalousien herab und ging in das obere Stockwerk. Ein Licht folgte ihr gleich nach, indem es auf seinem Weg nach oben zuerst an dem fächerartigen Türfenster und an den beiden Treppenfenstern vorüberschwebte. Bald darauf geriet eine Ecke der Jalousie im zweiten Stockwerk in Bewegung, als ob Mrs. Sparsits Blick sich dahinter befände; ebenso die zweite Ecke, als ob das Auge des Bürodieners an dieser Stelle wäre. Dennoch erhielt Stephen keine Mitteilung. Um vieles erleichtert, als die zwei Stunden endlich vorüber waren, ging er, um die verlorene Zeit wieder einzuholen, raschen Schrittes nach Hause.

Er hatte nur noch von der Hauswirtin Abschied zu nehmen und sich dann auf das improvisierte Lager auf dem Boden niederzulegen; denn sein Bündel war für den folgenden Tag schon geschnürt und alles für seine Abreise vorbereitet. Er beabsichtigte, die Stadt frühzeitig zu verlassen – noch ehe die »Hände« sich in den Straßen zeigten.

Es war kaum Tagesanbruch, als er das Zimmer verließ, nachdem er einen Abschiedsblick um sich geworfen und traurig darüber nachdachte, ob er es je wiedersehen werde. Die Stadt lag so öde da, als ob deren Einwohner sie lieber verlassen hätten, als mit ihm Gemeinschaft zu pflegen. Alles hatte einen blaßtrüben Anstrich um diese Stunde. Selbst die aufgehende Sonne erschien blaß und öde am Himmel – wie ein trübes Meer.

Vorbei an dem Hause, wo Rachael wohnte, obgleich es nicht in seiner Wegrichtung lag – durch die ziegelroten Straßen – vorbei an den großen stillen Fabriken, die noch nicht erzitterten – vorbei an der Eisenbahn, wo die Signallichter in dem heller werdenden Tag erblichen – vorbei an der unordentlichen Umgebung der Eisenbahn, die halb niedergerissen und halb wieder aufgebaut war – vorbei an den zerstreuten, ziegelroten Landhäusern, wo das rauchgeschwärzte Immergrün mit schmutzigem Staub gesprenkelt war, gleich unsauberen Schnupfern – vorbei an kohlenbestaubten Wegen und einem großen Durcheinander von häßlichen Dingen – gelangte Stephen auf die Spitze eines Hügels, von wo aus er zurücksah.

Die Sonne ergoß ihren hellen Schimmer über die Stadt, und die Glocken läuteten zur Morgenarbeit. Noch brannte kein Herdfeuer, und den hohen Schornsteinen gehörte noch der Himmel, den sie bald genug bedeckten, wenn sie ihre giftigen Massen emporbliesen. Für eine halbe Stunde jedoch erglänzten die Fenster von manchen Häusern golden, Fenster, die den Coketownern durch rauchgeschwärztes Glas eine ständig verfinsterte Sonne zeigten.

Es ist so sonderbar, von den Kaminen zu den Vögeln zu gelangen – so sonderbar, den Straßenstaub anstatt der Kohlenschlacken unter den Füßen zu haben – so sonderbar, solange schon gelebt zu haben und doch an diesem Sommermorgen wie ein Schulknabe wieder zu beginnen! Mit diesen Betrachtungen im Kopf und mit dem Bündel unter dem Arm, wandte Stephen sein gedankenvolles Gesicht längs der Landstraße. Und die Bäume wölbten sich über ihm und flüsterten ihm zu, daß er ein treues, liebevolles Herz zurückgelassen.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Mr. James Harthouse widmete sich voller Hingebung seiner Partei und war bald bei ihr gut angeschrieben. Mit Hilfe von etwas vermehrtem Phrasengepäck für die politischen Kannegießer, von etwas vermehrter eleganter Lässigkeit gegen die allgemeine Gesellschaft und einem leidlichen Zurschautragen äußerer Ehrlichkeit bei innerer Unehrlichkeit – dieser höchst wirksamen und höchst begünstigten aller seinen Todsünden – wurde er bald als ein vielversprechender Mann betrachtet. Daß er nicht von Ernsthaftigkeit geplagt wurde, fiel nur als günstiger Umstand für ihn ins Gewicht; denn es ermöglichte ihm, sich unter die Herren der harten Tatsachen mit solchem Geschick zu mengen, als wäre er ein Eingeborener ihrer Sekte, und so konnte er dabei alle übrigen Sekten als bewußte Betrüger über Bord werfen.

»Lauter Leute, denen keiner von uns Glauben schenkt, meine teure Mrs. Bounderby, und die sich nicht einmal selbst Glauben schenken. Der einzige Unterschied, der zwischen uns und den Professoren der Tugendlehre, der Wohlfahrt und der Humanität – der Name tut nichts zur Sache – obwaltet, besteht darin, daß wir wohl wissen, alles ist Phrase, und es auch eingestehen, während sie es ebenfalls wissen, aber niemals das Geständnis davon ablegen wollen.«

Warum sollte ihr diese Lehre Ärgernis einflößen oder ihr als Abschreckungsmoment dienen? Solche Behauptungen waren den Grundsätzen ihres Vaters und ihrer ersten Erziehung recht verwandt, daß sie darob nicht zu erschrecken brauchte. Wo lag der Unterschied zwischen den beiden Schulen, da beide sie an die materielle Wirklichkeit schmiedeten und ihr für nichts sonst Glauben ließen? Was war in ihrer Seele für James Harthouse noch zu zerstören übriggeblieben, die Thomas Gradgrind im Zustand der Unschuld ehedem also großgezogen?

Diese Lage war aber um so schlimmer für sie, als in ihrem Geiste – in sie eingepflanzt, ehe ihr ausgezeichnet praktischer Vater ihn zu bilden begann – zwei Neigungen miteinander kämpften: ihre Ahnung von einer höheren und umfassenderen Menschlichkeit lag ständig im Kampf mit ihrer Skepsis und ihrem zweifelnden Groll. Mit Zweifeln, weil das Streben damit in ihrer Jugend erstickt worden. Mit grollenden Empfindungen, der Unbilden halber, die ihr zugefügt worden, als wären sie in der Tat Einflüsterungen der Wahrheit. Einer an Selbstunterdrückung seit langer Zeit gewöhnten Natur, die so zerrissen und mit sich selbst zerworfen war, erschien die Harthousische Philosophie als Trost und Rechtfertigung. Da doch alles hohl und wertlos war, so hatte sie nichts verloren und nichts aufgeopfert. ›Was liegt daran‹, sagte sie zu ihrem Vater, als er ihr ihren Gatten vorschlug. ›Was liegt daran‹, sagte sie noch immer. Mit »die Welt verachtender Bitterkeit« fragte sie sich selbst: ›Was ist überhaupt an allem gelegen‹, und blieb sie auf dem eingeschlagenen Wege.

Wohin? Schritt für Schritt, vorwärts und abwärts, einem Ziele zu, und doch so allmählich, daß sie selbst glaubte, still zu stehen. Was Harthouse anbelangt, so wußte er es weder, noch kümmerte er sich darum, wohin ihn seine Richtung führte. Vor ihm lag kein besonderer Entwurf, kein Plan; kein zielkräftig böses Tatverlangen störte ihn aus seiner Mattigkeit auf. Augenblicklich unterhielt und interessierte er sich gerade so viel, wie es für einen so feinen Gentleman schicklich war, vielleicht noch etwas mehr, als zu gestehen mit seinem Rufe sich vertragen hätte. Bald nach seiner Ankunft schrieb er einen lässigen Brief an seinen Bruder, das ehrenwerte und witzige Parlamentsmitglied, daß die Bounderby’s ihm »viel Spaß« machten, und ferner, daß Frau Bounderby, anstatt die Gorgone zu sein, die er vermutet hatte, jung und auffallend hübsch sei. Später schrieb er nicht mehr von ihnen, und widmete seine freie Zeit vorzüglich ihrem Hause. Er fand sich während seiner Streifereien und Besuche im Coketowner Distrikt sehr oft bei ihnen ein, wozu er von Mr. Bounderby aufgemuntert worden. Es lag ganz in Mr. Bounderbys Windmanier, vor seinen sämtlichen Bekannten damit zu prahlen, daß er sich um vornehme Leute durchaus nicht schere, daß aber, wenn seine Frau, Tom Gradgrind’s Tochter, es tue, sie in ihrem Kreise willkommen sei.

Mr. James Harthouse geriet auf den Gedanken, daß es für ihn einen neuen Reiz ausmachen müsse, wenn Luises Gesicht, das sich so schön für den Bengel veränderte, sich auch für ihn verändern würde.

Er war rasch genug im Beobachten, er besaß ein gutes Gedächtnis, und vergaß kein Wort von den Enthüllungen des Bruders. Er verwob die Worte mit allem, was er von der Schwester sah, und fing an, sie zu verstehen. Der bessere und tiefere Teil ihres Charakters lag wahrlich nicht im Bereich seiner Auffassung; denn die Naturen gleichen hierin dem Meer, in dessen Tiefen nur die Tiefe des Himmels sich abspiegelt – das übrige jedoch begann er bald mit dem Auge des Gelehrten zu lesen.

Mr. Bounderby hatte ein Haus mit Zubehör an Grund und Gelände in Besitz genommen, das ungefähr fünfzehn Meilen von der Stadt entfernt und in einer oder zwei Stunden von der nächsten Eisenbahnstation zu erreichen war. Die Eisenbahn rollte auf mehreren Schwibbogen über eine wüste Gegend hin, die von öden Kohlengruben unterminiert und des Nachts von Feuern und den dunklen Formen der Maschinen gefleckt war. Diese Gegend verlor nach Mr. Bounderby’s Ruhesitz hin allmählich an Härte und nahm daselbst einigermaßen den Schmelz einer Landschaft an, die zur Frühlingszeit golden von Heidekraut und schneeig von Hagedorn, und zur Sommerszeit zitternd von Blattlaub und deren Schatten erschien. Die Bank hatte auf dem so lieblich gelegenen Landsitz eine Hypothek gehabt, die von einem Coketowner Magnaten aufgenommen worden war. Dieser hatte sich entschlossen, einen rascheren Sprung als gewöhnlich zur Erwerbung eines enormen Vermögens zu machen und sich daher mit ungefähr zweimal hunderttausend Pfund verspekuliert. Dergleichen Fälle trugen sich zuweilen in den bestregulierten Familien von Coketown zu, obgleich die Bankrotteure in gar keiner Verbindung mit sonst liederlichen Gesellschaftsklassen standen.

Es gewährte Mr. Bounderby die höchste Befriedigung, sich auf diesem eingefriedeten, kleinen Grundbesitz häuslich einzurichten und daselbst in dem Blumengarten Kohl anzubauen. Es ergötzte ihn, inmitten der eleganten Möbel ein Barackenleben zu führen, und er übertäubte selbst die Gemälde mit seiner Herkunft. »Nun, Sir«, pflegte er zu einem Gaste zu sagen, »man sagte mir, daß Nickit, der frühere Eigentümer, siebenhundert Pfund für jenes Strandgemälde zahlte. Um aufrichtig zu sagen, so wird es schon viel sein, wenn ich in meinem ganzen Leben es siebenmal anblicke, was hundert Pfund für den Blick macht. Nein, Donnerwetter! Ich will nicht vergessen, daß ich Josiah Bounderby von Coketown bin! Jahrelang waren die einzigen Bilder, die ich besaß, oder die ich bekommen konnte, ohne sie stehlen zu müssen, in dem Bilde von dem Mann, der sich im glänzend gewichsten Stiefel spiegelt, und in den Etiketten von Stiefelwichs-Büchsen. Ich war froh, wenn ich solche Etiketten beim Schuhwichsen bekam und verkaufte sie dann mit Vergnügen für ein Viertelpency.«

Dann sprach er Mr. Harthouse in ähnlicher Weise an: »Harthouse, Sie haben da unten ein paar Pferde. Bringen Sie noch ein halbes Dutzend und es wird sich Platz für sie finden. Hier gibt es Stallungen für ein Dutzend Pferde, und wenn man Nickit nicht verleumdet hat, so hielt er diese runde Zahl. Ein rundes Dutzend, Sir. Als Knabe besuchte jener Mann die Westminster Schule. Ging als königlicher Stipendiat in die Westminster Schule, während ich hauptsächlich von Wildbretgedärmen lebte und in Marktkörben schlief. Nun, wenn ich ein Dutzend Pferde halten müßte – was ich aber nicht zu tun brauche, eins ist genug für mich – so könnte ich ihren Anblick in den Ställen hier nicht ertragen, ohne dabei denken zu müssen, was meine eigene Wohnung zu sein pflegte. Ich könnte sie nicht ansehen, ohne sie gleich ’nauszuschmeißen. Aber so ändern sich die Dinge. Sie sehen diesen Ort. Sie wissen, was für ein Ort es ist. Sie wissen wohl, daß es keinen vollkommeneren Ort von seinem Umfange in diesem Königreiche oder anderwärts gibt – Es ist mir auch einerlei wo – und hier befindet sich in seiner Mitte, wie die Made im Speck – Josiah Bounderby. Während Nickits (wie ein Mann, der gestern in mein Büro kam, mir berichtete), der in den lateinischen Stücken der Westminster Schule mitzuspielen pflegte, wobei ihn die Hauptautoritäten und der Adel unseres Landes solange beklatschten, bis sie schwarz im Gesichte wurden – in diesem Augenblicke halb blödsinnig ist – halb blödsinnig, Sir, und das im fünften Stock in einer düsteren, engen Gasse in Antwerpen!

Es war in den langen schwülen Sommertagen unter den Blätterschatten dieses Ruhesitzes, wo Mr. Harthouse seine Experimente mit dem Gesicht begann, dessen erster Anblick ihn so außerordentlich berührte und versuchte, ob es sich nicht für ihn verändern würde.

»Mrs. Bounderby, ich halte es für einen sehr glücklichen Zufall, daß ich Sie hier allein finde. Ich hege seit einiger Zeit den besonderen Wunsch, Sie zu sprechen.«

Es war nicht durch einen wunderbaren Zufall, daß er sie gefunden, da es um jene Tageszeit war, wo sie sich immer allein befand und dieser Platz ihren Lieblingsaufenthalt bildete. Es war eine Lichtung im dunklen Hain, wo einige gefällte Bäume umherlagen, und wo sie zu sitzen pflegte, um das abgefallene Laub vom vergangenen Jahre zu beobachten, sowie sie im elterlichen Hause die fallende Asche beobachtete.

Er setzte sich neben sie, indem er einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht warf.

»Ihr Bruder, mein junger Freund Tom –«

Ihre Züge klärten sich auf, und sie wandte sich gegen ihn mit einem teilnahmsvollen Blick. »Nie in meinem Leben«, dachte er, »sah ich etwas so Merkwürdiges und Einnehmendes als das Aufstrahlen jener Züge!« Sein Gesicht verriet seine Gedanken – vielleicht ohne ihn zu verraten, denn es mochte wohl auf diese Wirkung eingeschult gewesen sein.

»Verzeihen Sie. Der Ausdruck Ihrer schwesterlichen Teilnahme ist so schön – Tom sollte stolz darauf sein. – Ich weiß, dies ist nicht zu entschuldigen – aber ich kann nicht umhin, Sie zu bewundern –«

»Bei Ihrer Empfänglichkeit?« sagte sie ruhig.

»Nein, Mrs. Bounderby, Sie wissen, ich heuchle nicht vor Ihnen. Sie wissen, ich bin ein grobes Stück von Menschennatur, bereit, mich zu jeder Zeit für jede vernünftige Summe zu verkaufen, und durchaus jedes arkadischen Benehmens unfähig.«

»Sie wollten mir wohl von meinem Bruder etwas sagen«, entgegnete sie.

»Sie sind sehr streng gegen mich, und ich verdiene es. Ich bin ein so unwürdiger Hund, wie man nur einen finden kann, mit der Ausnahme, daß ich nicht falsch bin – durchaus nicht falsch. Aber Sie überraschten mich und entfernten mich von einem Gegenstand, der Ihren Bruder betrifft. Ich fühle Interesse für ihn.«

»Fühlen Sie überhaupt für etwas Interesse, Mr. Harthouse?« fragte sie halb ungläubig und halb dankbar.

»Hätten Sie mich das bei meinem ersten Besuche gefragt, so würde ich Nein geantwortet haben. – Jetzt aber muß ich – selbst auf die Gefahr hin, anspruchsvoll zu erscheinen, und gerechterweise Ihre Ungläubigkeit zu erwecken – Ja antworten.«

Sie machte eine leichte Bewegung, als ob sie zu sprechen versuchte, und die Stimme ihr versagte. Endlich sagte sie: »Mr. Harthouse, ich traue es Ihnen zu, sich für meinen Bruder zu interessieren.«

»Ich danke Ihnen. Ich glaube dies zu verdienen. Sie wissen, auf wie wenig Verdienste ich Anspruch machen kann. Diese will ich aber behaupten. Sie haben so viel für ihn getan. Sie haben ihn so lieb. Ihr ganzes Leben – Mrs. Bounderby legt eine so reizende Selbstvergessenheit seinethalben an den Tag – bitte abermals um Verzeihung, ich entferne mich zu sehr von dem Gegenstände. Ich interessiere mich um seinetwillen für ihn.« Sie hatte eben eine ganz leise Bewegung gemacht, als wollte sie sich rasch erheben, um sich zu entfernen. Er aber änderte in demselben Augenblick den Ton des Gesprächs, und sie blieb.

»Mrs. Bounderby«, fuhr er in einer leichteren Weise fort, wobei man ihm jedoch die Mühe anmerkte, die er sich gab, und die noch ausdrucksvoller als jene Taktik war, die er soeben fallen ließ, »es ist bei einem jungen Mann, von dem Alter Ihres Bruders, kein unverzeihliches Vergehen, unbesonnen, unbedachtsam und verschwenderisch zu sein: ja selbst ein wenig liederlich, wie man so sagt. Das ist doch bei ihm der Fall, nicht wahr? Ist er’s?«

»Ja.«

»Erlauben Sie mir offen zu reden. Glauben Sie, daß er überhaupt spielt?«

»Ich glaube, er pflegt zu wetten.«

Da Mr. Harthouse wartete, als ob dies nicht die ganze Antwort sei, fügte sie hinzu: »Ich weiß, er tut es.«

»Natürlich verliert er?«

»Ja.«

»Jedermann, der wettet, verliert. Darf ich auf die Wahrscheinlichkeit hindeuten, daß Sie ihn zu diesen Zwecken zuweilen mit Geld versehen?«

Sie saß mit niedergeschlagenen Augen da, erhob diese jetzt aber ein wenig forschend und beleidigt.

»Halten Sie meine Neugier nicht für zudringlich, meine teure Mrs. Bounderby. Ich meine, Tom müßte allmählich in Verlegenheit geraten, und ich möchte ihm aus der Tiefe meiner sündhaften Erfahrung eine helfende Hand entgegenstrecken. Muß ich abermals sagen, seinetwillen? Ist das notwendig?«

Sie schien eine Antwort zu suchen, konnte aber nichts hervorbringen.

»Um alles aufrichtig zu gestehen, was mir einfiel«, sagte James Harthouse, indem er abermals mit dem gleichen Anschein von Anstrengung in seine leichtere Weise überging, »so will ich Ihnen meine Zweifel mitteilen, daß er vielen Vorteil gehabt. Ob – entschuldigen Sie meine Geradheit – ob es wahrscheinlich ist, daß ein großes Vertrauen zwischen ihm und seinem höchst ehrenwerten Vater obwaltete.«

»Ich«, antwortete Luise errötend, »halte es nicht für wahrscheinlich.«

»Oder zwischen ihm – ich darf doch sicherlich Ihrem vollständigen Verständnis meiner Meinung vertrauen – und seinem hochgeschätzten Schwager?«

Sie errötete immer tiefer, und war glühend rot, als sie mit einer gedämpfteren Stimme antwortete: »Ich halte auch das nicht für wahrscheinlich.«

»Mrs. Bounderby«, sagte Harthouse nach kurzem Stillschweigen »darf ein besseres Vertrauen zwischen uns bestehen? Tom hat wohl eine beträchtliche Summe von Ihnen geliehen?«

»Sie werden wohl begreifen, Mr. Harthouse«, entgegnete sie nach einiger Unschlüssigkeit – sie war während des Gesprächs mehr oder weniger unsicher und verwirrt gewesen, hatte aber im ganzen ihre Selbstbeherrschung beibehalten – »Sie werden wohl begreifen, daß, wenn ich Ihnen sage, was Sie zu erfahren wünschen, dieses nicht auf dem Wege der Beschwerde oder des Bereuens geschieht. Ich würde mich nie über etwas beklagen, und was ich tat, das bereue ich nicht im geringsten.«

»So geistreich noch dazu«, dachte James Harthouse.

»Als ich heiratete, fand ich, daß mein Bruder eben damals schwer verschuldet war – schwer für ihn, meine ich, schwer genug, um mich zum Verkaufe einiger Schmucksachen zu zwingen. Das war für mich kein Opfer, ich verkaufte sie sehr gerne. Ich legte ihnen keinen Wert bei, sie waren ganz unnütz für mich.«

Entweder, sie sah es ihm am Gesichte an, daß er es wußte, oder sie fürchtete bloß in ihrem Gewissen, daß es ihm bekannt sei, sie habe von den Geschenken ihres Mannes gesprochen. Sie hielt inne und errötete abermals. Wenn er es nicht früher gewußt hätte, so würde es ihm nun klar geworden sein, selbst wenn er noch flacheren Geistes gewesen wäre, als er wirklich war.

»Inzwischen gab ich meinem Bruder zu verschiedenen Zeiten alles Geld, das ich entbehren konnte. Kurz, alles Geld, das ich besaß. Da ich Ihnen im Vertrauen auf das Interesse, das Sie für ihn äußern, volles Zutrauen schenke, so will ich es nicht halb tun. Seitdem Sie uns hier zu besuchen pflegen, brauchte er selbst die Summe von hundert Pfund. Ich bin nicht imstande gewesen, sie ihm zu geben. Ich fühlte mich unbehaglich wegen der Folgen seiner Verschuldung, ich habe diese Geheimnisse jedoch bis jetzt bewahrt, wo ich sie Ihrer Ehre anvertraue. Ich habe niemanden in mein Vertrauen eingeweiht, weil – Sie haben den Grund soeben angegeben.« – Hierauf brach sie rasch ab.

Er war ein gewandter Mann, nahm die Gelegenheit wahr und ergriff sie, ihr jetzt unter der leichten Verkleidung ihres Bruders ihr eigenes Bild vorzustellen.

»Mrs. Bounderby, obschon ich ein unwürdiger Mensch auf dieser irdischen Welt bin, so empfinde ich doch die aufrichtige Teilnahme – dessen versichere ich Sie – für Ihre Mitteilung. Ich kann unmöglich streng gegen Ihren Bruder urteilen. Ich begreife und teile die kluge Anschauung, mit der Sie seine Fehler betrachten. Bei allem möglichen Respekt, sowohl für Mr. Gradgrind als für Mr. Bounderby, glaube ich doch zu bemerken, daß seine Erziehung keine glückliche war. Zum Nachteil für die Gesellschaft erzogen, in der er eine Rolle zu spielen hat, stürzt er auf seine eigene Rechnung in diese Extreme aus entgegengesetzten Extremen, die man – ohne Zweifel mit den besten Absichten – seit langer Zeit ihm aufgedrungen. Mr. Bounderbys ausgezeichnet barsche, englische Geradheit, obwohl sie eine höchst anziehende Charakteristik gewährt, ist nicht geeignet – und darüber sind wir einverstanden – Vertrauen einzuflößen. Wenn ich wagen dürfte, zu bemerken, daß jener Mangel an Zartgefühl am wenigsten geeignet ist, einem verirrten Jüngling, einem schlechtverstandenen Charakter und übelgeleiteten Fähigkeiten Trost und Halt zu gewähren – so drücke ich ungefähr aus, was meine eigene Ansicht ist.«

Wie sie dasaß, gerade vor sich hinblickend, mitten durch das auf dem Grase spielende Licht in die Dunkelheit des Gehölzes hinein, nahm er in ihrem Gesicht die Wirkung seiner deutlich gesprochenen Worte und deren Anwendung auf ihre eigene Person wahr. »Man muß«, fuhr er fort, »jede Nachsicht walten lassen. Eines Fehlers muß ich jedoch Tom zeihen, den ich ihm nicht vergeben kann, und für welchen ich ihn schwer zur Rechenschaft ziehe.« – Luise sah ihn an und fragte, worin dieser Fehler bestünde?

»Vielleicht«, entgegnete er, »habe ich genug gesagt. Vielleicht wäre es im ganzen besser gewesen, wenn gar keine Anspielung darauf mir entwischt wäre.«

»Sie erschrecken mich, Mr. Harthouse, lassen Sie es mich wissen.«

»Um Sie von unnützer Furcht zu befreien – und da dieses Vertrauen hinsichtlich Ihres Bruders – das ich über alles in der Welt hochschätze, zwischen uns begründet werden – gehorche ich. Ich kann es ihm nicht vergeben, daß er nicht in jedem Worte, Blicke, in jeder Handlung seines Lebens sich empfänglicher für die Neigung seiner besten Freundin zeigt. Für die Ergebenheit seiner besten Freundin, für ihre Uneigennützigkeit, für ihre Aufopferung. Die Erkenntlichkeit, die er ihr, meiner Beobachtung gemäß, erweist, ist eine sehr armselige. Für das, was sie für ihn getan, sollte er ihr ewige Liebe und Dankbarkeit, nicht aber die üble Laune und Grillenhaftigkeit zuteil werden lassen. Ein so unbedachtsamer Mensch ich auch bin, so bin ich doch, Mrs. Bounderby, nicht so unempfindlich, daß ich diesen Fehler in Ihrem Bruder nicht beachten oder geneigt sein sollte, ihn als ein verzeihliches Unrecht anzusehen.«

Das Gehölz schwamm vor ihren Augen, die sich mit Tränen füllten. Sie entsprangen einer tiefen, lang verborgenen Quelle. Ihr Herz war vom stechenden Schmerz überfüllt, das keinen Trost in ihnen fand.

»Mit einem Worte, ich strebe hauptsächlich danach, Mrs. Bounderby, Ihren Bruder hierin zu bessern. Meine bessere Bekanntschaft mit seinen Verhältnissen, meine Leitung und meine Ratschläge, um ihn aus seinen Schwierigkeiten herauszuziehen – hoffentlich von einigem Wert, da dies alles von einem großzügigen Taugenichts kommt – wird mir einigen Einfluß über ihn verschaffen, und meinen ganzen Vorteil werde ich gewiß zu diesem Zweck benutzen. Ich habe genug gesagt und mehr als genug. Es scheint, ich wolle mich für einen guten Kerl ausgeben, da ich doch, bei meiner Ehre, nicht die geringste Absicht hege, dergleichen zu beteuern und offen erkläre, daß ich nichts dergleichen bin. Dort zwischen den Bäumen«, fügte er hinzu, nachdem er die Augen erhoben und um sich geblickt hatte; denn bis jetzt beobachtete er nur Luise, »ist Ihr Bruder selbst – der ohne Zweifel eben gekommen ist. Da er in dieser Richtung herzuschlendern scheint, so dürfte es wohl gut sein, ihm entgegenzugehen, um ihm in den Weg zu treten. Seit kurzem ist er still und düster geworden. Vielleicht ist sein brüderliches Gewissen erwacht, wenn es ein Ding wie ein Gewissen überhaupt gibt. Freilich, ich höre, bei meiner Ehre, ich höre zuviel davon, um daran zu glauben.« Er half ihr beim Aufstehen, worauf sie seinen Arm nahm und sie zusammen vorschritten, um ihrem Bruder zu begegnen. Dieser schlug trägerweise die Zweige, wie er so herschlenderte, oder blieb mißmutig stehen, um mit seinem Stock das Moos von den Bäumen zu reißen. Er schrak auf, als sie auf ihn zukamen, während er mit diesem Zeitvertreib beschäftigt war, und wechselte die Farbe.

»Hallo«, stammelte er, »ich wußte nicht, daß ihr da seid.«

»Tom«, sagte Mr. Harthouse, indem er die Hand auf seine Schulter legte und ihn herumzog, worauf sie alle drei dem Hause zugingen, »wessen Namen haben Sie in die Bäume geschnitten?«

»Wessen Namen?« erwiderte Tom. »Oh! Sie meinen was für einen Mädchennamen?«

»Sie haben das verdächtige Aussehen, den Namen eines holden Wesens in die Rinde geschnitten zu haben, Tom.«

»Schwerlich, Mr. Harthouse. Es sei denn, daß irgendein Engel mit einem namhaften Vermögen, das zu seiner eigenen Verfügung steht, mich auf einmal liebgewänne. Sie könnte auch ebenso häßlich wie reich sein, ohne meinen Verlust zu befürchten. Dann würde ich ihren Namen, so oft sie wollte, einschneiden.«

»Ich fürchte, Sie sind geldsüchtig, Tom.«

»Geldsüchtig?« erwiderte Tom, »wer ist nicht geldsüchtig? Fragen Sie meine Schwester.«

»Hast du einen Beweis, daß dies mein Fehler ist, Tom?« sagte Luise, die nichts weiter über seine Mißlaune und Bosheit äußerte.

»Du mußt am besten wissen, Lu, ob diese Anspielung auf dich paßt«, entgegnete ihr Bruder mürrisch, »wenn sie es tut, so kannst du sie hinnehmen.«

»Tom ist heute Menschenhasser, wie zuweilen alle Leute, wenn sie Sorgen haben«, sagte Mr. Harthouse. »Glauben Sie ihm nicht, Mrs. Bounderby, er weiß es viel besser. Ich werde einige von seinen Urteilen über Sie preisgeben, die er mir privatim mitgeteilt, wenn er nicht ein bißchen aufgeräumter wird.«

»Jedenfalls können Sie, Mr. Harthouse«, sagte Tom, indem er aus Respekt vor seinem Gönner milder ward, aber doch düster den Kopf schüttelte, »ihr nicht sagen, daß ich sie je deshalb gelobt, weil sie geldsüchtig ist. Ich mag sie des Gegenteils wegen gelobt haben, und ich würde es abermals tun, wenn ich guten Grund dazu hätte. Lassen wir aber das jetzt gut sein. Das ist für sie nicht sehr interessant, und mich ekelt die Sache an.«

Sie gingen dem Haus zu, wo Luise den Arm ihres Gastes losließ und hineintrat. Er stand da und betrachtete sie, als sie die Treppe hinaufging und im Dunkel der Tür verschwand. Dann legte er wieder die Hand auf die Schulter ihres Bruders und lud ihn mit einem vertraulichen Nicken zu einem Spaziergang in den Garten ein.

»Tom, mein lieber Junge, ich habe ein Wort mit Ihnen zu sprechen.«

Sie blieben in einer Wildnis von Rosen stehen – es machte einen Teil von Mr. Bounderby’s Demut aus, Nickits Rosen in vernachlässigtem Zustande zu halten, und Tom setzte sich auf eine Rasenbank, pflückte Knospen ab und zerriß sie in Stücke, während sein gewaltiger Schutzgeist über ihm mit einem Fuße auf der Rasenbank stand und sein Körper leicht auf dem Arm ruhte, der von dem gebogenen Knie gestützt war. Sie waren just von ihrem Fenster aus sichtbar; vielleicht wurden sie von ihr gesehen.

»Tom, was gibt es?«

»Oh, Mr. Harthouse«, sagte Tom stöhnend, »mir geht’s schlimm, und ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Mein guter Junge, so geht’s auch mir.«

»Ihnen?« entgegnete Tom. »Sie sind das leibhaftige Bild der Unabhängigkeit. Mr. Harthouse, ich befinde mich in einer schrecklichen Patsche. Sie haben keinen Begriff davon, in welche Lage ich mich gestürzt habe, – aus welcher Lage meine Schwester mich erretten könnte, wenn sie es nur tun wollte.«

Er fing jetzt an, die Rosenknospen zu zerbeißen, und er riß sie aus seinen Zähnen mit einer Hand, die wie die eines alten kranken Mannes zitterte. Nach einem scharf forschenden Blick auf ihn nahm sein Gesellschafter sein leichtestes Wesen an.

»Tom, Sie erwarten zu viel von Ihrer Schwester, Sie haben Geld von ihr erhalten, Sie Taugenichts, das wissen Sie wohl.«

»Gut, Mr. Harthouse, ich weiß es. Wo sollte ich es sonst hernehmen? Hier ist der alte Bounderby, der stets damit groß tut, daß er in meinem Alter mit zwei Pence monatlich, oder so etwas, gelebt hat. Da ist mein Vater, der, wie er’s so zu nennen beliebt, eine Linie zieht und mich mit Kopf und Fuß von Kindheit an daran bindet. Dort ist meine Mutter, die nie etwas besitzt, außer ihren Beschwerden. Was soll man nun tun, um Geld zu erlangen, und wo soll ich’s herkriegen, wenn nicht von meiner Schwester?«

Er weinte beinahe und warf die Knospen zu Dutzenden umher. Mr. Harthouse faßte ihn besänftigend bei seinem Rock.

»Aber, mein lieber Tom, wenn Ihre Schwester nichts mehr hat?«

»Nichts mehr hat, Mr. Harthouse? Ich sage ja nicht, daß sie welches hat. Ich dürfte wohl mehr brauchen, als sie wahrscheinlich besitzt. Aber dann sollte sie sich welches verschaffen. Sie könnte es sich verschaffen. Nach dem, was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, ist es ganz unnütz, aus diesen Dingen ein Geheimnis machen zu wollen. Sie wissen, daß sie den alten Bounderby nicht ihret- oder seinetwegen, sondern meinetwegen geheiratet hat. Warum bemüht sie sich also nicht, meinetwegen das aus ihm herauszukriegen, was ich brauche? Sie ist nicht genötigt, anzugeben, was sie damit anfangen will. Sie ist gescheit genug. Sie könnte es leicht durch Liebkosungen von ihm erlangen, wenn sie nur wollte. Warum aber will sie nicht, wenn ich ihr sage, wie wichtig es für mich ist? Aber nein. Da sitzt sie wie ein Stein in seiner Gesellschaft, anstatt sich liebenswürdig zu zeigen und es leicht zu bekommen. Ich weiß nicht, was Sie davon halten, ich meinerseits halte es für ein unnatürliches Benehmen.«

Ein kleiner Teich befand sich dicht bei der Rasenbank und Mr. Harthouse empfand große Lust, Thomas Gradgrind jun. hineinzuschleudern, ähnlich, wie die beleidigten Männer von Coketown gedroht hatten, ihr Eigentum in den atlantischen Ozean zu schleudern. Er behielt jedoch seine leichte Stimmung bei, und nichts Solideres flog über die steinerne Balustrade, als die aufgehäuften Rosenknospen, die jetzt auf der Oberfläche, eine kleine Insel bildend, umherschwammen.

»Mein lieber Tom«, sagte Harthouse, »lassen Sie mich versuchen. Ihr Bankier zu sein.«

»Um Gottes willen«, rief Tom plötzlich aus, »sprechen Sie nicht von Bankier.« Dabei sah er im Kontraste zu den Rosen sehr bleich aus. Äußerst bleich.

Mr. Harthouse konnte als ein wohlerzogener Mann, der an die beste Gesellschaft gewöhnt war, nicht überrascht werden – er hätte ebenso leicht in Rührung geraten können – er erhob jedoch um ein weniges die Augenlider, als wären sie durch eine leise Berührung der Überraschung gelüpft worden. Trotzdem war es ebenso den Vorschriften seiner Schule, wie den Dogmen der Gradgrinds-Erziehung zuwider, sich zu wundern.

»Wieviel brauchen Sie jetzt, Tom? Drei Ziffern? Heraus damit. Nennen Sie den Betrag.«

»Mr. Harthouse«, entgegnete Tom, der jetzt wirklich weinte, wobei seine Tränen viel besser waren als seine Schmähungen, wie kläglich er auch immer dabei aussah. »Es ist zu spät. Das Geld ist für mich jetzt ganz nutzlos. Ich hätte es früher haben müssen, wenn es mir nützen sollte. Aber ich bin Ihnen sehr verbunden. Sie sind ein treuer Freund.«

Ein treuer Freund! »Bengel! Bengel!« dachte Harthouse träge. »Was du für ein Esel bist!«

»Ich betrachte Ihr Anerbieten als einen großen Freundschaftsdienst«, sagte Tom, indem er seine Hand ergriff. »Als einen besonderen Freundschaftsdienst, Mr. Harthouse.«

»Gut«, entgegnete der andere, »vielleicht kann ich Ihnen bald später einmal von Nutzen sein. Und wenn Sie, mein guter Freund, Ihre verwünschten Verlegenheiten mir mitteilen wollen, sobald sie Ihnen zu dick kommen, so dürfte ich Ihnen einen besseren Ausweg zeigen, als Sie selbst finden können.«

»Danke«, sagte Tom, trübselig den Kopf schüttelnd und Rosenknospen kauend. »Ich wollte, ich hätte Sie früher gekannt, Mr. Harthouse.«

»Nun, sehen Sie«, sagte Mr. Harthouse schließlich, indem er einige Rosen als Beitrag zu der Insel fortschleuderte, die immer zu der Mauer trieb, als wollte sie sich dem festen Land verbinden, »jedermann ist in allem, was er tut, eigennützig, und ich bin gerade so wie meine übrigen Nebenmenschen. Ich bin verzweifelt darauf erpicht«, dabei war die Schlaffheit seiner Verzweiflung vollkommen tropisch, »daß Sie Ihr Betragen gegen Ihre Schwester gefälligst bessern. Daß Sie künftig ein liebevollerer und angenehmerer Bruder seien – was Ihre Schuldigkeit ist.«

»Ich werde es tun, Mr. Harthouse.«

»Nichts geht über das Heute. Fangen Sie sogleich an.«

»Das werde ich gewiß, und meine Schwester Lu soll es selbst bezeugen.«

»Da wir nun diesen Handel abgeschlossen haben, Tom«, sagte Harthouse, indem er ihm abermals auf die Schulter in einer Weise klopfte, die es ihm freistellte, daraus zu folgern – wie der arme Tropf es auch tat – daß diese Bedingung ihm aus bloßer anspruchsloser Gutmütigkeit auferlegt worden, um ihm das Gefühl seines zu Dank Verpflichtetseins zu mindern, »so wollen wir uns bis zur Tischzeit trennen.«

Als Tom vor Essenszeit erschien, riß er sich zusammen, obgleich sein Gemüt noch gedrückt genug war – er war auch erschienen, ehe Mr. Bounderby eintrat. »Ich habe es nicht böse gemeint, Lu«, sagte er, indem er ihr die Hand reichte und sie küßte. »Ich weiß, du hast mich lieb, und du weißt, daß ich auch dich lieb habe.

Nach diesem Vorgang schwebte auf Luises Gesicht diesen ganzen Tag ein Lächeln für einen andern. Ach, für einen andern!

»Um so weniger ist der Bengel das einzige Geschöpf, an dem sie Anteil nimmt«, dachte James Harthouse, indem er jetzt das Gegenteil von dem dachte, was er beim ersten Anblick ihres hübschen Gesichtes gedacht hatte. »Um so weniger! Um so weniger!«

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der nächste Morgen war zu schön zum Schlafen, und James Harthouse stand früh auf und saß in einem schönen Bogenfenster seines Ankleidezimmers, den feinen Tabak rauchend, der einen so wohltätigen Einfluß auf seinen jungen Freund gehabt. Im Sonnenlicht ruhend, umgeben von den Wohlgerüchen seiner morgenländischen Pfeife, deren träumerischer Rauch in der von den Düften des Sommers erfüllten milden Luft verschwand, berechnete er seinen Vorteil, wie ein ruhiger Gewinner seinen Gewinn berechnen dürfte. Er war in diesem Augenblick gar nicht gelangweilt und konnte dieser Berechnung seine ganze Aufmerksamkeit schenken.

Er hatte ein Vertrauensverhältnis mit ihr hergestellt, von dem ihr Gatte ausgeschlossen war. Er hatte ein Vertrauensverhältnis mit ihr hergestellt, das sich ganz auf ihre Gleichgültigkeit gegen ihren Gatten und auf den gegenwärtigen und zu allen Zeiten bestehenden Mangel irgendwelcher Seelenverwandtschaft zwischen den Ehegatten begründete. Er hatte ihr fein aber deutlich erklärt, daß er ihr Herz in seinen geheimsten Falten kenne; er hatte sich ihr durch ihre schwache Seite der Liebe zum Bruder so sehr genähert: er hatte sich mit diesem Gefühl verbunden; und die Schranke, hinter der sie lebte, war gefallen. Alles sehr seltsam, aber sehr befriedigend.

Und dennoch hatte er, selbst jetzt nicht, eine ernstlich schlechte Absicht. Es wäre besser für das Zeitalter, in dem er lebte, wenn im öffentlichen und im Privatleben, er und die Legion, deren einer er war, absichtlich schlecht wären, anstatt indifferent und ziellos. Es sind die treibenden Eisberge, die sich, je nach der Strömung, irgendwo ansetzen, an denen die Schiffe scheitern.

Wenn der Teufel gleich einem brüllenden Löwen umhergeht, so geht er in einer Gestalt um, durch die nur einige wenige Wilde und Jäger angezogen werden. Aber wenn er, nach der Mode geschmückt, gefirnist und poliert ist, wenn er ermüdet vom Laster und ermüdet von der Tugend, abgenützt selbst gegen Leiden und abgenützt selbst gegen Freuden ist, dann ist er, ob er sich mit dem Servieren von Spirituosen oder mit dem Anfachen von Spirituellem abgibt, der wahre Teufel.

So lehnte James Harthouse, indolent rauchend, in dem Fenster und berechnete die Schritte, die er auf dem Wege getan, auf dem er sich zufällig bewegte. Das Ende, wohin er führte, war ihm ziemlich klar, aber er beunruhigte sich durch keinerlei Berechnungen desselben. Was kommen mußte, würde kommen. Da er an diesem Tage einen ziemlich langen Ritt zu machen hatte, – es galt nämlich eine öffentliche Versammlung in einiger Entfernung mitzumachen, wobei sich eine ziemlich gute Gelegenheit darbot, sich den Gradgrind-Parteimännern zu zeigen – so kleidete er sich früh an und ging zum Frühstück hinab. Er war begierig zu sehen, ob nicht, seit dem vorhergehenden Abend, ein Rückfall bei ihr stattgefunden. – Nein. – Er fuhr fort, wo er aufgehört hatte. Sie hatte wieder einen Blick der Teilnahme für ihn.

Er kam über diesen Tag so sehr (oder so wenig) zu seiner Befriedigung weg, wie man es unter so ermüdenden Umständen erwarten konnte, und kam gegen sechs Uhr nach Hause geritten. Es war eine Strecke von etwa einer halben Meile zwischen dem Torweg und dem Haus, und er ritt langsamen Schrittes über den weichen Sand dahin, der einst Nickit gehörte, als Mr. Bounderby mit solcher Heftigkeit aus dem Gebüsch hervorbrach, daß sein Pferd scheu über den Weg sprang.

»Harthouse«, schrie Bounderby, »haben Sie gehört?«

»Gehört, was?« sagte Harthouse, sein Pferd beruhigend und innerlich Herrn Bounderby nicht mit den besten Wünschen beehrend. »So haben Sie nicht gehört?«

»Ich habe Sie gehört, und das Tier hat dies auch getan. Sonst habe ich nichts gehört.«

Mr. Bounderby, rot und erhitzt, pflanzte sich in der Mitte des Weges vor des Pferdes Kopf auf, um seine Bombe mit mehr Erfolg platzen zu lassen.

»Die Bank ist ausgeplündert.«

»Sie sprechen nicht im Ernst.«

»Vergangene Nacht ausgeplündert, Sir. In außerordentlicher Weise ausgeraubt. Mit einem falschen Schlüssel ausgeraubt.«

»Um viel?«

Mr. Bounderby schien bei seinem Wunsch, soviel wie möglich daraus zu machen, wirklich betrübt, zu einer Auskunft genötigt zu sein. »Nein, nicht um sehr viel. – Aber es hätte viel sein können.«

»Um wieviel?«

»O, was die Summe betrifft, – wenn Sie auf der Summe bestehen, so ist’s nicht mehr als hundertundfünfzig Pfund«, sagte Bounderby ungeduldig. »Aber es handelt sich nicht um die Summe, es handelt sich um das Faktum, um die Tatsache, daß die Bank ausgeraubt worden, das ist der wichtige Umstand. Ich bin erstaunt, daß Sie das nicht einsehen.«

»Mein lieber Bounderby«, sagte James, absteigend und den Zaum seinem Diener gebend, »ich sehe ein und bin so bestürzt, wie Sie es nur immer wünschen können, durch das, was ich hören muß. Trotzdem hoffe ich, daß Sie mir erlauben werden, Ihnen Glück zu wünschen, und ich tue es von ganzem Herzen, daß sie keinen größeren Verlust erlitten haben.«

»Danke«, sagte Bounderby kurz und unfreundlich. »Aber ich will Ihnen nur sagen, es hätten zwanzigtausend Pfund sein können.«

»Ich vermute, es hätte so sein können.«

»Vermuten es? Bei Gott, Sie mögen es vermuten. Zum Donnerwetter!« sagte Mr. Bounderby, mit ständigem drohendem Nicken und Schütteln seines Kopfes. »Man kann nicht wissen, was es hätte sein können, oder was es nicht hätte sein können, da es nur soviel war, weil die Kerle gestört wurden.«

Luise, Mrs. Sparsit und Bitzer waren währenddem hinzugekommen.

»Hier ist Tom Gradgrinds Tochter, sie weiß ziemlich gut, was es hätte sein können, wenn Sie es nicht wissen«, polterte Mr. Bounderby. »Sie sank um, Sir, wie von einer Kugel getroffen, als ich’s ihr sagte. Habe sie vorher nie so gesehen. Macht ihr Ehre unter den Umständen in meiner Meinung.«

Sie sah immer noch schwach und blaß aus. James Harthouse bat sie, seinen Arm zu nehmen, und fragte, als sie langsam weitergingen, wie der Diebstahl sich zugetragen.

»Nun, ich will es Ihnen erzählen«, sagte Mr. Bounderby, gereizt Mrs. Sparsit seinen Arm anbietend. »Wenn Sie nicht so außerordentlich auf die Summe versessen gewesen wären, so würde ich damit angefangen haben, es Ihnen vorhin zu erzählen. Sir kennen diese Lady (denn es ist eine Lady) Mrs. Sparsit?«

»Ich habe schon die Ehre gehabt.«

»Gut denn, und diesen jungen Mann, Bitzer, Sie sahen ihn bei der gleichen Gelegenheit?« Mr. Harthouse neigte sein Haupt bejahend, und Bitzer duckte seine Stirne.

»Gut denn, beide wohnen in der Bank. Sie wissen vielleicht, daß sie in der Bank wohnen? Also gut. Gestern nachmittag, beim Schluß der Geschäftsstunden, wurde alles wie gewöhnlich beiseite geschafft. In dem eisernen Gemach, vor dem dieser junge Bursche schläft, war – es ist einerlei, wieviel. In der kleinen Kasse, in des jungen Toms Kabinet, der Kasse, die für Kleinigkeiten benützt wird, waren hundert und einige fünfzig Pfund.«

»Hundertvierundfünfzig Pfund, sieben Schilling, ein Penny«, sagte Bitzer.

»Laß das gut sein«, entgegnete Bounderby, sich wie ein Rad zu ihm umdrehend, »lasse uns keine deiner Unterbrechungen hören. Es ist genug, bestohlen zu werden, während du schnarchst, weil du zu bequem bist, ohne daß man noch mit deinen vier Pfund, sieben Schilling und ein Pence behelligt wird. Ich schnarchte nicht, als ich in deinem Alter war, das kann ich dir sagen. Ich hatte nicht Lebensmittel genug, um zu schnarchen. Und ich sagte nicht vier, sieben, eins. Nicht daß ich’s wüßte!«

Bitzer duckte wieder seine Stirn in der kriechenden Art und schien augenblicklich von dem Beispiel, das Mr. Bounderby zuletzt von seiner moralischen Enthaltsamkeit angeführt, eine eindrückliche und niederdrückende Wirkung zu empfinden.

»Hundertfünfzig und einige Pfunde«, fuhr Bounderby fort. »Diese Summe schloß der junge Thomas in seine Kasse, keine sehr starke Kasse, aber das ist jetzt von keinem Belang. Alles befand sich in guter Ordnung. In der Nacht, während der Bursche schnarchte – Mrs. Sparsit, Ma’am, Sie sagen, Sie haben ihn schnarchen hören?«

»Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit, »ich kann nicht sagen, daß ich ihn gerade habe schnarchen hören, und vermag deshalb nicht diese Behauptung aufzustellen. Aber an Winterabenden, wenn er an seinem Tisch eingeschlafen war, habe ich es, was ich als engbrüstiges Atmen am liebsten bezeichnen möchte, bei ihm wahrgenommen. Ich habe ihn bei solchen Gelegenheiten Töne hervorbringen hören, ähnlich denen, die man manchmal bei holländischen Uhren vernimmt. – Nicht«, sagte Mrs. Sparsit, im stolzen Bewußtsein, ein wahrhaft getreues Zeugnis abzulegen, »als ob ich irgendeinen Tadel gegen seinen moralischen Charakter vorbringen wollte. Im Gegenteil. Ich habe Bitzer immer für einen jungen Mann von den biedersten Grundsätzen gehalten, und in dieser Weise bitte ich Sie mein Zeugnis aufzufassen.«

»Gut«, sagte der erbitterte Bounderby, »während er schnarchte oder erstickte, oder wie eine holländische Uhr schnarrte, oder das eine oder das andere tat, während er schlief, kamen irgendwie einige Kerle herbei – ob vorher im Hause versteckt oder nicht, wissen wir nicht – sie fielen über des jungen Toms Kasse her, erbrachen sie und entwendeten ihren Inhalt. Da sie hierbei gestört wurden, machten sie sich davon; sie gingen zur Haupttür hinaus, und verschlossen sie doppelt. Die Tür war nämlich doppelt verschlossen gewesen, und der Schlüssel unter Mrs. Sparsits Kissen. Also sie verschlossen mit einem falschen Schlüssel, der heute gegen zwölf Uhr in der Nähe der Bank auf der Straße gefunden worden. Kein Alarm findet statt, bis dieser Mensch, Bitzer, heute morgen aufsteht, um die Kontore für das Geschäft zu öffnen und in Ordnung zu bringen. Als er dabei nach Toms Kasse sah, fand er die Tür offen, das Schloß erbrochen und das Geld fort.«

»Wo ist Tom eigentlich?« fragte Harthouse, um sich schauend.

»Er hat der Polizei geholfen und ist länger in der Bank geblieben. Ich wollte, diese Kerle hätten versucht, mich zu berauben, als ich in seinem Alter war. Sie hätten dabei Verluste gehabt, und wenn sie auch nur achtzehn Pence für die Sache ausgelegt hätten. Das kann ich Sie versichern.«

»Hat man Verdacht auf jemanden?«

»Verdacht?« Ich sollte meinen, daß man Verdacht auf jemanden hat, zum Donnerwetter!« sagte Bounderby, Mrs. Sparsits Arm loslassend, um seinen erhitzten Kopf abzutrocknen. »Josiah Bounderby von Coketown wird nicht ausgeplündert, ohne daß man Verdacht auf jemanden hat. – Nein, danke Ihnen schönstens.«

»Dürfte Mr. Harthouse wohl fragen, wer verdächtig ist?«

»Nun«, sagte Bounderby stillstehend und sich so stellend, daß er sie alle sich gegenüber hatte, »es soll nirgends davon gesprochen werden, damit die in Frage stehenden Schurken (es ist eine ganze Bande) nicht gewarnt werden, auf ihrer Hut zu sein. So hören Sie dies im Vertrauen. Nun, warten Sie ein wenig.« Mr. Bounderby trocknete seinen Kopf von neuem. »Was würden Sie sagen, wenn es« – heftig losplatzend – »eine ›Hand‹ wäre?«

»Ich hoffe«, sagte Harthouse lässig, »nicht unser Freund Blackpot?«

»Sagen Sie Pool anstatt Pot«, erwiderte Bounderby, »und Sie haben den Mann.«

Luise äußerte leise einige Worte des Zweifels und des Erstaunens.

»O ja, ich weiß«, sagte Bounderby, augenblicklich den Ton auffangend. »Ich weiß, ich bin daran gewöhnt. Ich weiß alles darüber. Sie sind das schlaueste Volk von der Welt, diese Gesellen. Sie haben die Gabe der Rede, das haben sie. Sie wollen nur ihr Recht erklärt haben, das wollen sie. Aber ich will Ihnen etwa« sagen. Zeigen Sie mir eine unzufriedene ›Hand‹ und ich will Ihnen einen Mann zeigen, der zu allem erdenkbar Schlechtem fähig ist.«

Eine neue von den beliebten Fabeln über die Coketowner, die auszusprengen man sich einige Mühe genommen, und die bei einigen Personen wirklich Glauben fand.

»Aber ich kenne diese Gesellen«, sagte Bounderby, »ich kann in ihnen lesen, wie in Büchern, Mrs. Sparsit, Ma’am, ich berufe mich auf Sie. Welche Warnung gab ich diesem Gesellen, als er das erstemal seinen Fuß in das Haus setzte, und der ausgesprochene Grund seines Besuches war zu wissen, wie er die Religion niederschlagen und die bestehende Kirche über den Haufen werfen könne? Mrs. Sparsit, in bezug auf vornehme Verwandtschaft, stehen Sie auf einer Höhe mit der Aristokratie – sagte ich, oder sagte ich nicht zu diesen Gesellen, Ihr könnt die Wahrheit nicht vor mir verbergen. Ihr seid nicht von dem Schlage, den ich leiden mag! Ihr werdet zu nichts Gutem kommen?«

»Gewiß, Herr«, erwiderte Mrs. Sparsit, »das taten Sie. Sie gaben ihm diese Warnung in einer sehr eindringlichen Weise.«

»Als er Sie beleidigte, Ma’am«, sagte Bounderby, »als er Ihre Gefühle verletzte?«

»Ja, Herr«, erwiderte Mrs. Sparsit, mit einem demütigen Kopfschütteln, »er tat dies wirklich. Obgleich ich nicht sagen will, daß meine Gefühle in solchen Punkten vielleicht empfindlicher, törichter wären – wenn dieser Ausdruck vorgezogen werden sollte – als sie sonst sein würden – wenn ich mich stets in meiner gegenwärtigen Lage befunden hätte.«

Mr. Bounderby starrte Mr. Harthouse mit emporsprudelndem Stolz an, der so viel sagen wollte als: »Ich bin der Eigentümer dieser Frau, und mich dünkt, sie ist deiner Beachtung würdig«, worauf er wieder in dem Gespräch fortfuhr.

»Sie können sich wohl erinnern, Harthouse, was ich dem Mann sagte, als Sie ihn sahen. Ich machte mit ihm keine Umstände. Ich mache keine Geschichten mit diesen Leuten, ich kenne sie sehr gut, Sir. Drei Tage darauf riß er aus, ging fort. Niemand weiß wohin, wie es mein Mutter mit mir in der Kindheit machte, nur mit dem Unterschiede, daß er womöglich noch ein schlechteres Subjekt ist, als meine Mutter. Was tat er, ehe er fortging? Was sagen Sie dazu«. Mr. Bounderby, der den Hut in der Hand hielt, gab bei jedem kleinen Absätze seiner Worte einen Schlag auf den Deckel, als wäre derselbe ein Tambourin, »daß er – Nacht für Nacht – bei der Bank herumstreichend gesehen worden? – daß er dort – nach Dunkelwerden – umherschlich? – daß Mrs. Sparsit auf den Gedanken kam, daß er nichts Gutes im Sinne haben müsse – daß sie Bitzers Aufmerksamkeit auf ihn lenkte – daß sie beide Notiz von ihm nahmen – daß es sich heute auf Erkundigungen ergeben, er sei gleichfalls von der Nachbarschaft bemerkt worden?« – Nachdem Mr. Bounderby zu dieser Steigerung gelangt war, setzte er sich, gleich einem Tänzer des Orients, das Tambourin auf.

»Verdächtig«, sagte James Harthouse, »sicherlich.«

»Das will ich meinen, aber es sind noch mehrere von ihnen im Spiele. Auch eine alte Frau ist dabei. Man hört nie von diesen Dingen, bis das Unglück geschehen ist. Erst wenn das Pferd gestohlen worden, findet man allerhand Fehler an der Stalltür. Jetzt taucht ein altes Weib auf. Eine Alte, die zuweilen auf einem Besenstiel nach der Stadt geflogen zu sein scheint. Sie besichtigt die Bank während eines ganzen Tages, ehe der Kerl beginnt, und an dem Abend, wo man ihn sah, schleicht sie sich mit ihm davon, pflegt mit ihm Rat – wahrscheinlich um ihm zu berichten von dem, was sie beobachtet hat, die verdammte Alte.«

»An jenem Abend fand sich eine solche Person im Zimmer, und sie scheute sich, bemerkt zu werden«, dachte Luise.

»Das sind noch nicht alle, von denen wir wissen«, sagte Bounderby, den Kopf mehrere Male bedeutungsvoll schüttelnd. »Aber ich habe für jetzt genug gesagt. Haben Sie nur die Güte, die Sache geheim zu halten und sie vor niemandem zu erwähnen. Es mag noch einige Zeit dauern, aber wir werden sie schon kriegen. Man muß ihnen klugerweise erst freien Spielraum lassen, und dagegen ist nichts einzuwenden.«

»Sie werden natürlich nach der äußersten Strenge des Gesetze bestraft werden«, entgegnete James Harthouse, »und es geschieht ihnen schon recht. Kerle, die auf Bankraub ausgehen, müssen sich schon die Folgen gefallen lassen. Wenn es keine Folgen gäbe, so würden wir alle auf Bankraub ausgehen.« – Er hatte in sanfter Weise Luisen den Sonnenschirm aus der Hand genommen und öffnete ihn für sie. Sie ging unter seinem Schatten dahin, obgleich die Sonne auf dieser Seite nicht schien.

»Für den Augenblick, Lu Bounderby«, sagte ihr Mann, »muß Mrs. Sparsit gepflegt werden. Mrs. Sparsits Nerven sind durch diese Geschichte angegriffen worden, und sie wird sich hier einen oder zwei Tage aufhalten. Richte es ihr daher bequem ein.«

Danke Ihnen sehr, Sir«, bemerkte diese bescheidene Lady, »aber bitte, halten Sie meine Bequemlichkeit nicht der Beachtung wert. Für mich wird alles gut sein.«

Es ergab sich bald, daß wenn Mrs. Sparsit in diesem Hause unbequem wurde – so war es bloß deshalb, weil sie um sich selbst gänzlich unbekümmert war, und um andere sich so sehr bekümmerte, daß es lästig werden mußte. Als man sie auf ihr Zimmer führte, war sie über dessen Komfort so ergriffen, daß sie zu der Annahme berechtigte, sie hätte die Nacht über lieber im Waschhause auf der Rolle geschlafen. »Es ist wahr, daß die Powlers und Scadgers an Pracht gewohnt waren, – aber es ist meine Pflicht, mich zu erinnern«, pflegte sie gerne mit stolzer Anmut zu bemerken – besonders wenn jemand von der Dienerschaft gegenwärtig war – »daß ich nicht mehr bin, was ich gewesen. In der Tat«, sagte sie, »wenn ich ganz und gar die Erinnerung ausmerzen könnte, daß Mrs. Sparsit eine Powler war, oder daß ich selbst mit der Scadgers-Familie in Verwandtschaft stehe – oder wenn ich selbst dies Faktum zunichte machen und mich in eine Person von niedriger Herkunft und gewöhnlichen Verbindungen verwandeln könnte, so würde ich es gerne tun. Ich würde es unter den obwaltenden Umständen für recht halten, so zu handeln.« – Derselbe asketische Geisteszustand veranlaßte sie auch auf besonders lecker bereitete vornehme Gerichte und Wein bei Tisch zu verzichten, bis Mr. Bounderby ihr geradezu gebot, diese Dinge anzunehmen, wobei sie sagte: »Sie sind wirklich sehr gütig, Sir.« Dann gab sie den Entschluß auf, den sie formell und offiziell verkündigt hatte, auf einfaches Hammelfleisch warten zu wollen. Sie war ebenfalls voll Entschuldigungen, wenn sie Salz gerührt haben wollte, und da sie die angenehme Verpflichtung fühlte, Mr. Bounderbys Hymnus auf ihre Nervenschwäche in vollem Maße zu bestätigen, pflegte sie sich zuweilen in ihrem Stuhle zurückzulegen und im stillen zu weinen. Dabei konnte man eine höchst umfangreiche Träne, groß wie ein kristallener Ohrring, sehen, oder vielmehr man mußte den Tränentropfen sehen (denn sie bestand auf öffentliche Aufmerksamkeit), wie er ihre römische Nase hinabglitt.

Mrs. Sparsits Hauptstärke bestand jedoch in ihrem Entschluß, Mr. Bounderby zu bedauern. Es gab Momente, wo sie ihn betrachtete und zugleich den Kopf in einer Weise schüttelte, als wollte sie sagen: »Ach, armer Yorick!« Nachdem sie also ihre Rührung verraten hatte, zwang sie sich zu flüchtiger Heiterkeit, ward plötzlich munter und sagte: »Sie sind immer noch heiterer Laune, Sir, Gott sei Dank!« Sie schien es als wahren Segen zu betrachten, daß Mr. Bounderby so gelassen sein Joch ertrug. Eine Merkwürdigkeit, für die sie sich öfters entschuldigte, konnte sie außerordentlich schwer besiegen; sie hatte einen besonderen Hang, Mrs. Bounderby Miß Gradgrind zu heißen, und gab demselben während des Abends einige Dutzend Male nach.

Jedesmal, wenn ihr der Irrtum passierte, hüllte sie sich in bescheidene Verwirrung, – aber wirklich, sagte sie, es scheine ihr so natürlich, Miß Gradgrind zu sagen, während sie’s beinahe für unmöglich hielt, sich zu überreden, daß die junge Lady, die sie das Glück hatte von Kindheit an zu kennen, in der Tat und Wirklichkeit Mrs. Bounderby sei. Eine weitere Eigenheit in dieser merkwürdigen Sache war, daß es ihr, je mehr sie darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien, da ihre Verschiedenheiten, wie sie bemerkte, zu groß seien. –

Nach dem Essen stellte Mr. Bounderby im Gesellschaftszimmer über den Diebstahl eine gerichtliche Untersuchung an, verhörte die Zeugen, notierte ihre Aussagen, fand die verdächtigten Personen schuldig und verurteilte sie zur äußersten gesetzlichen Strafe. Nachdem dies vorüber war, wurde Bitzer in die Stadt geschickt, um Tom zu bestellen, er möge mit dem Postzug nach Hause kommen.

Als Lichter gebracht wurden, murmelte Mrs. Sparsit: »Seien Sie nicht niedergeschlagen, Sir! Gönnen Sie mir die Freude, Sie fröhlich zu sehen, wie ich es gewohnt bin.« Mr. Bounderby, auf den diese Trostworte derart wirkten, daß er in ochsige, abgeschmackte Sentimentalität verfiel – seufzte wie ein Seeungeheuer. – »Ich kann es nicht ertragen, Sie so zu sehen, Sir«, sagte Mrs. Sparsit, »versuchen Sie eine Partei Back-Gammon,11 Sir, wie Sie es zu tun pflegten, als ich noch die Ehre hatte, unter Ihrem Dache zu leben.«

»Ich habe seit jener Zeit kein Back-Gammon gespielt«, sagte Mr. Bounderby.

»Nicht, Sir?« sagte Mrs. Sparsit gütig, »ich weiß, daß Sie es nicht getan. Ich weiß, daß Miß Gradgrind für dieses Spiel kein Interesse hat. Ich werde mich aber glücklich schätzen, wenn Sie sich herbeilassen wollten.«

Sie spielten in der Nähe eines Fensters, das auf den Garten ging. Es war eine schöne Nacht – nicht mondhell, aber warm und duftig. Luise und Mr. Harthouse schlenderten in dem Garten, von wo man ihre Stimmen, jedoch nicht ihre Worte vernehmen konnte. Mrs. Sparsit strengte von ihrem Platze bei dem Back-Gammon-Brett aus dauernd die Augen an, um draußen die Schatten zu durchdringen.

»Was gibt’s, Ma’am?« fragte Mr. Bounderby. »Sie sehen doch wohl kein Feuer?«

»O, du lieber Himmel, nein! Sir!« entgegnete Mrs. Sparsit, »ich dachte bloß an den Tau.«

»Was geht Sie der Tau an, Ma’am?« fragte Mr. Bounderby.

»Es ist nicht meinetwegen«, entgegnete Mrs. Sparsit, »ich fürchte bloß, Miß Gradgrind werde sich erkälten.«

»Sie erkältet sich niemals«, sagte Mr. Bounderby.

»Wirklich, Sir?« fragte Mr«. Sparsit, und hatte darauf einen Anfall von Husten.

Als die Zeit zum Schlafengehen heranrückte, trank Mr. Bounderby ein Glas Wasser.

»O, Sir«, rief Mrs. Sparsit, »keinen warmen Sherry mit Zitronenschale und Muskatnuß?«

»Nun, ich bin jetzt aus der Gewohnheit herausgekommen, das vor dem Schlafengehen zu nehmen«, sagte Mr. Bounderby.

»Um so mehr ist es zu bedauern«, sagte Mrs. Sparsit. »Sie entwöhnen sich all‘ ihrer guten Gewohnheiten. Seien Sie nicht so asketisch, Sir! Wenn Miß Gradgrind es mir gestattet, will ich gern den Trank für Sie bereiten, wie ich es oft getan.«

Da Miß Gradgrind bereit war, Mrs. Sparsit gern alles zu gestatten, was sie nur tun wollte, so bereitete diese aufmerksame Lady das Getränk und reichte es Mr. Bounderby. »Das wird Ihnen gut bekommen, Sir. Es wird Ihnen das Herz erwärmen. E« ist gerade das, was Sie brauchen und nehmen sollen, Sir.«

Und als Mr. Bounderby sagte: »Ihre Gesundheit, Ma’am!« antwortete sie mit tiefem Gefühl: »Danke Ihnen, Sir! Ihnen ein gleiches und viel Glück!« Endlich wünschte sie ihm mit vielem Pathos gute Nacht. Und Mr. Bounderby ging zu Bett mit der benebelten Überzeugung, daß er in einer zarten Angelegenheit benachteiligt worden, obgleich er für sein Leben nicht hätte sagen können, um was es sich eigentlich handle.

Lange nachdem Luise sich entkleidet und niedergelegt hatte, wachte und wartete sie auf die Rückkehr ihres Bruders. Diese konnte erst, das wußte sie wohl, eine Stunde nach Mitternacht stattfinden – in der ländlichen Stille jedoch, die die Aufregung ihrer Gedanken durchaus nicht beruhigen konnte, schlich die Zeit langsam dahin. Als endlich die Dunkelheit und Stille stundenlang sich gegenseitig zu vergrößern schienen, hörte sie die Hausglocke. Es war ihr, als hätte sie es mit Vergnügen hören können, wenn diese bis Tagesanbruch fortschellte. Sie hörte aber auf, und das Erklingen des letzten Tones verbreitete sich schwach und weit in der Luft, worauf alles wieder totenstill ward.

Sie wartete nach ihrer Berechnung noch eine Viertelstunde. Dann erhob sie sich, warf ein weites Kleid um, verließ im Dunkeln ihr Zimmer und begab sich die Treppe hinauf zu dem ihres Bruders. Da die Tür des Zimmers zugemacht war, öffnete sie diese leise und sprach zu ihm, während sie sich seinem Bett mit geräuschlosem Schritt näherte.

Sie kniete neben dem Bett nieder, schlang den Arm um seinen Nacken und zog sein Gesicht an das ihrige. Sie wußte, er stellte sich bloß, als ob er schliefe, sagte aber nichts darüber.

Er fuhr bald darauf empor, als wäre er eben erwacht, fragte, wer es sei und was es gäbe?

»Tom, hast du mir etwas zu sagen? Wenn du mich je in deinem Leben lieb hattest und du etwas hast, das du vor allen übrigen verbirgst, so sage es mir.«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Lu. Du mußt geträumt haben.«

»Mein teurer Bruder!« Sie legte ihren Kopf auf sein Kopfkissen nieder, und ihr Haar wallte über ihn, als ob sie ihn vor allen andern verbergen wollte. »Hast du mir denn gar nichts zu sagen? Gibt es nichts, das du mir sagen könntest, wenn du wolltest? Du kannst mir nichts sagen, das mich gegen dich verändern könnte. O, Tom, sag‘ mir die Wahrheit!«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Lu!«

»Wie du, mein teurer Bruder, hier in der dunklen Nacht allein liegst, so wirst du einst irgendwo allein liegen, wo selbst ich, wenn ich noch am Leben sein sollte, dich werde verlassen haben. Wie ich hier bei dir bin, barfuß, entkleidet, unerkennbar in der Dunkelheit, so werde ich liegen müssen während der ganzen Nacht meiner Verwesung, bis ich zu Staub geworden. Im Namen jener Zeit, Tom, sage mir nun die Wahrheit!«

»Was willst du denn eigentlich wissen?«

»Du kannst gewiß sein«, – in der Gewalt der Liebe drückte sie ihn, einem Kinde gleich, an ihre Brust – »daß ich dir keinen Vorwurf machen werde. Du kannst gewiß sein, daß ich mitleidsvoll und treu gegen dich sein werde. Du kannst gewiß sein, daß ich dich um jeden Preis retten werde. O, Tom, hast du mir nichts zu sagen? Flüstere es ganz leis, sage bloß ›Ja‹, und ich werde dich verstehen.« Sie wandte ihr Ohr gegen seine Lippen, er aber verharrte in mürrischem Schweigen.

»Nicht ein Wort, Tom?«

»Wie kann ich ›Ja‹, oder wie kann ich ›Nein‹ sagen, wenn ich nicht weiß, was du meinst? Lu, du bist ein liebes, gutes Mädchen, und wie ich zu glauben anfange, eines besseren Bruders würdig. Ich habe aber nichts mehr zu sagen, geh‘ schlafen, geh‘ schlafen.«

»Du bist müde«, flüsterte sie gleich darauf, mehr in ihrer gewöhnlichen Weise.

»Ja, ich bin schrecklich müde.«

»Du hast heute so viel Unruh‘ und Mühe gehabt. Sind neue Entdeckungen gemacht worden?«

»Bloß die, von denen du schon gehört hast. Von – ihm.«

»Tom, hast du jemandem mitgeteilt, daß wir jene Leute besuchten, und daß wir die drei beisammensahen?«

»Nein. Hast du es mir nicht besonders aufgetragen, die Sache geheim zu halten, als du mich auffordertest, mit dir hinzugehen?«

»Ja.«

»Aber damals wußte ich nicht, was vorfallen würde.«

»Auch ich nicht. Wie könnt‘ ich auch?«

Er war mit dieser Antwort sehr rasch gegen sie.

»Sollte ich nach dem, was vorgefallen ist, sagen«, frug seine Schwester, die jetzt bei seinem Bette stand – sie hatte sich allmählich zurückgezogen und erhoben – »daß ich jenen Besuch machte, soll ich es sagen? muß ich es sagen?«

»Du lieber Himmel, Lu!« entgegnete ihr Bruder, »du bist nicht gewohnt, mich um Rat zu fragen. Sage, was dir beliebt. Wenn du es verschweigst, so will ich es auch verschweigen, wenn du es aufdeckst, so hat die Geschichte ein Ende.«

Es war für beide zu dunkel, das Gesicht des andern zu sehen. Jedes schien jedoch höchst aufmerksam zu sein und genau zu bedenken, was zu sprechen sei.

»Tom, glaubst du, daß der Mann, dem ich das Geld gab, bei diesem Verbrechen wirklich beteiligt ist?«

»Ich weiß nicht. Ich sehe es nicht ein, warum er es nicht sein sollte.«

»Er schien mir ein redlicher Mann.«

»Ein anderer mag dir ehrlos erscheinen, und ist es doch nicht.«

Eine Pause trat ein, denn er zögerte und hielt inne. »Kurz«, fuhr Tom fort, als ob er einen Entschluß gefaßt hätte, »wenn du darauf zurückkommst, so bin ich vielleicht durchaus nicht in seiner Gunst gestanden, weil ich ihn vor die Tür rief, um ihm zu sagen, daß er sich glücklich schätzen mag, zu einem solchen guten Fund durch meine Schwester gelangt zu sein, und ich hoffe, er werde einen guten Gebrauch davon machen. Du wirst dich erinnern, ob ich ihn hinausrief oder nicht. Ich will nichts gegen den Mann sagen – er mag nach dem, was ich von ihm weiß, ein ehrlicher Kerl sein: ich will hoffen, er ist es.«

»War er durch deine Worte beleidigt?«

»Nein. Er nahm sie ziemlich gut auf. Er war höflich genug. Wo bist du, Lu?« Er richtete sich im Bett empor und küßte sie. »Gute Nacht, meine Liebe, gute Nacht!«

»Du hast mir nichts mehr zu sagen?«

»Nein. Was sollte ich sagen? Du willst doch nicht, daß ich dir eine Lüge sage?«

»Ich wollte nicht, du tätest es diese Nacht, Tom, vor allen andern Nächten deines Leben«, deren du, wie ich hoffe, noch viele und glücklichere haben wirst.«

»Ich danke dir, meine gute Lu. Ich bin so müde, daß es mich wirklich wundern sollte, wenn ich nicht alles Mögliche sage, um nur schlafen zu können. Geh‘ schlafen, geh‘ schlafen!«

Indem er sie abermals küßte, drehte er sich um, zog sich die Decke über den Kopf und lag so still, als ob jene Zeit schon gekommen wäre, bei der sie ihn beschworen. Sie stand ein wenig bei dem Bett still, ehe sie sich langsam zurückzog. An der Tür verweilte sie, blickte still zurück, nachdem sie dieselbe geöffnet hatte, und frug ihn, ob er sie gerufen. Aber er lag still, und sie schloß sachte die Tür und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Der elende Junge blickte jetzt vorsichtig auf und sah, daß sie fort war, schlich aus dem Bett, schloß die Tür und warf sich wieder auf sein Lager, wobei er sich das Haar zerraufte, trotzig weinte, mit widerwilliger Liebe ihrer gedachte, sich selbst voll Haß aber unbußfertig verachtete, und ebenso haßerfüllt und zwecklos alles Gute in der ganzen Welt verachtete.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Indem sich Mrs. Sparsit ruhig verhielt, um die Spannkraft ihrer Nerven auf Mr. Bounderbys Ruhesitz wieder zu erlangen, paßte sie unter ihren Corolianischen Augenbrauen Tag und Nacht äußerst wachsam auf. Ihre Augen hätten wie ein Paar Leuchttürme an einer mit eisernen Reifen versehenen Küste, alle vorsichtigen Seeleute vor jenen kühnen Felsen ihrer römischen Nase und der düsteren und holperigen Region in ihrer Nachbarschaft warnen müssen, wenn ihr Benehmen nicht so sanft gewesen wäre. Man konnte schwerlich anderes glauben, als daß sie sich nur der Form wegen in der Nacht zurückzog, – so weit offen standen ihre klassischen Augen und so unmöglich schien es, daß ihre strenge Nase einem erschlaffenden Einfluß nachgeben könnte. Aber war doch ihre Weise zu sitzen, und ihre unbequemen, um nicht zu sagen kratzigen Handschuhe zu glätten, (sie waren nach dem kühlenden Prinzip eines Fleischschranks gebaut) oder mit ihrem Fuß in dem Steigbügel von Baumwollgarn hinzubaumeln – so vollkommen harmlos, daß die meisten Beobachter sie für eine Taube hätten halten müssen. Für eine Taube, die durch eine Laune der Natur in den irdischen Körper eines Vogels von dem Habichtschnabelgeschlecht verkörpert worden.

Ihre Art, im Haus umherzustreifen, war höchst sonderbar. Wie sie von Stockwerk zu Stockwerk geriet, war ein unlösbares Rätsel. Eine Lady, die an und für sich selbst so anständig und so vornehm war, konnte nicht in den Verdacht geraten, über die Geländer zu setzen oder diese hinunterzugleiten, und dennoch mußte ihre außerordentliche Leichtigkeit in ihren Bewegungen auf diese kühne Idee führen. Ein zweiter bemerkenswerter Umstand bei Mrs. Sparsit war, daß sie nie in übermäßiger Eile erschien, sie schoß mit vollkommener Geschwindigkeit vom Dache zur Halle, und war, sobald sie unten anlangte, dennoch im vollen Besitze ihres Atems und ihrer Würde. Auch hatte kein menschliches Auge sie große Schritte machen sehen.

Sie benahm sich sehr freundlich gegen Mr. Harthouse und hatte bald nach ihrer Ankunft ein angenehmes Gespräch mit ihm. Sie machte ihm eines Morgens vor dem Frühstück in dem Garten ihre Staatsaufwartung.

»Es scheint mir, als wäre es erst gestern gewesen, Sir«, sagte Mrs. Sparsit, »daß ich die Ehre hatte, Sie in der Bank zu empfangen. Damals wünschten Sie liebenswürdigerweise Mr. Bounderby’s Adresse zu erfahren.«

»Gewiß, ein Ereignis, das von mir im Verlauf der Zeiten nicht vergessen werden wird«, sagte Mr. Harthouse, indem er mit möglichster Lässigkeit den Kopf vor Mrs. Sparsit verneigte.

»Wir leben in einer sonderbaren Welt, Sir«, sagte Mr«. Sparsit.

»Durch eine Begegnung, auf die ich stolz bin, habe ich die Ehre gehabt, eine dem Sinn nach gleiche Beobachtung zu machen. Nur daß ich sie nicht, wie Sie, in so epigrammatischer Kürze ausdrücken kann.«

»In einer sonderbaren Welt, möchte ich sagen, Sir«, fuhr Mrs. Sparsit fort, nachdem sie für das Kompliment mit einer Neigung ihrer dunklen Augenbrauen gedankt, deren Ausdruck nicht ganz so mild war, wie ihre süßtönende Stimme. »Ich meine, eine sonderbare Welt hinsichtlich der Bekanntschaften, die wir zu einer Zeit mit Personen machen, die uns zu anderen Zeiten ganz unbekannt waren. Ich erinnere mich, Sir, daß Sie damals so weit gingen, zu gestehen, daß Sie vor Miß Gradgrind wirkliche Furcht hätten.«

»Ihr Gedächtnis erweist mir mehr Ehre, als mein unbedeutendes Wesen verdient. Ich machte von Ihren gefälligen Andeutungen Gebrauch, um meine Schüchternheit zu überwinden, und ich brauche nicht hinzuzufügen, daß Ihre Winke völlig richtig waren; Mrs. Sparsits Talent für – in der Tat für alles, was Genauigkeit bedarf, mit einer Kombination von Geistesstärke – und Familie – ist zu gewohnheitsmäßig entwickelt, um noch bezweifelt zu werden.«

Er war über diesem Kompliment beinahe eingeschlafen – so lange dauerte es, bis er sich durchwand; sein Geist war laß und abschweifend.

»Sie finden Miß Gradgrind – ich kann sie wirklich nicht Mrs. Bounderby nennen – das ist höchst dumm von mir – so jugendlich, wie ich sie beschrieben?« fragte Mrs. Sparsit in süßlichem Tone.

»Sie zeichneten ihr Porträt vollkommen«, sagte Mr. Harthouse, »stellten ihr leibhaftes Bild dar.«

»Sehr liebenswürdig, Sir?« fragte Mrs. Sparsit, indem sie ihre Handschuhe langsam umeinander drehte.

»Ganz außerordentlich.«

»Man meinte immer«, sagte Mrs. Sparsit, »daß es Miß Gradgrind an Lebhaftigkeit fehle – aber ich gestehe, es scheint mir, als hätte sie in dieser Hinsicht höchst bedeutende und auffallende Fortschritte gemacht. – Ja, und in der Tat, hier kommt Mr. Bounderby!« rief Mrs. Sparsit, indem sie mit dem Kopfe vielmals nickte, als ob sie über niemand anders gesprochen oder gedacht hätte.

»Wie geht es Ihnen heute morgen, Sir? Bitte, zeigen Sie sich uns fröhlich, Sir.«

Diese beharrlichen Besänftigungen seines Elends und Erleichterungen seiner Bürde, fingen nun an, die Wirkung zu haben, daß Mr. Bounderby milder als je gegen Mrs. Sparsit und härter als gewöhnlich gegen alle übrigen, von seiner Frau abwärts, war. Als daher Mrs. Sparsit mit erzwungener Gemütsruhe bemerkte: »Sie warten auf Ihr Frühstück, Sir, – ich glaube jedoch, daß Miß Gradgrind sich bald einfinden wird, um bei Tisch die Hausfrau zu stellen«, antwortete Mr. Bounderby: »Wenn ich warten wollte, bis meine Frau sich um mich bekümmerte, Ma’am, so wissen Sie recht gut, daß ich dann wohl bis zum jüngsten Tag warten müßte. Ich möchte Sie daher bitten, den Tee zu servieren.«

Mrs. Sparsit fügte sich und nahm ihre einstige Position bei Tische ein. Auch hierbei zeigte sich die treffliche Frau höchst sentimental. Sie war bei alledem so demütig, daß sie sich erhob, als Luise erschien, und dabei beteuerte, jetzt wirklich nicht mehr an jenem Platz sitzen zu können, so oft sie auch die Ehre gehabt habe, Mr. Bounderby’s Frühstück zu bereiten – ehe Miß Gradgrind – sie bitte um Verzeihung – sie wollte sagen: Mrs. Bounderby – sie hoffe, man werde sie entschuldigen, aber sie könne sich wirklich noch nicht darein finden – obwohl sie die Hoffnung hege, bald daran gewöhnt zu sein – ihre gegenwärtige Stellung eingenommen hatte. Es geschah bloß (bemerkte sie) weil Miß Gradgrind sich ein wenig verspätete, und Mr. Bounderbys Zeit so kostbar sei. Sie wisse es von früher, wie wesentlich es für ihn sei, pünktlich zu frühstücken. Da habe sie sich die Freiheit genommen, seinem Ersuchen zu willfahren; denn sein Wille wäre seit langem für sie Gesetz.

»Bleiben Sie nur, wo Sie sind, Ma’am«, sagte Mr. Bounderby; bleiben Sie nur, wo Sie sind. Ich glaube, Mrs. Bounderby wird sich freuen, der Mühe überhoben zu sein.«

»Sagen Sie das nicht, Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit beinahe mit Strenge, »denn das klingt sehr ungütig für Mrs. Bounderby; und ungütig sein, sieht Ihnen nicht gleich.«

»Sie können sich beruhigen, Ma’am. Du kannst es doch ruhig mit ansehen, nicht wahr, Lu?« sagte Mr. Bounderby in polternder Weise zu seiner Frau.

»Natürlich, die Sache hat keine Bedeutung, warum sollte sie für mich von Wichtigkeit sein?«

»Warum sollte sie überhaupt für jemand von Wichtigkeit sein, Mrs. Sparsit, Ma’am?« sagte Mr. Bounderby mit aufgeblasener Verachtung. »Sie legen diesen Dingen zu viel Wichtigkeit bei, Ma’am, zum Donnerwetter! Manche Ihrer Begriffe werden hier zurechtgewiesen werden. Sie sind noch altmodisch, Ma’am, Sie sind hinter der Zeit von Gradgrinds Kindern zurück.«

»Was fehlt Ihnen?« fragte Luise mit kaltblütigem Erstaunen. »Was hat Sie beleidigt?«

»Beleidigt?« wiederholte Bounderby. »Glauben Sie, wenn ich beleidigt worden wäre, ich würde dazu schweigen und nicht darauf dringen, daß es gutgemacht würde? Ich bin, wie ich glaube, ein gerader Mann, ich brauche nicht auf Nebenwegen zu schleichen.«

»Ich glaube, niemand ist je veranlaßt worden, Sie für zu schüchtern oder zu zartfühlend zu halten«, antwortete ihm Luise gefaßt. »Ich habe Ihnen nie diesen Vorwurf gemacht, weder als Kind, noch als Frau. Ich begreife nicht, was Sie haben wollen.«

»Haben?« erwiderte Mr. Bounderby, »nichts. Weißt du, Lu Bounderby, denn nicht recht gut, daß ich, Josiah Bounderby von Coketown, es sonst auch haben würde?«

Sie sah ihn, wie er auf den Tisch schlug und die Teetassen klirren machte, mit flammender Nöte im Gesichte an, die nach der Meinung von Mr. Harthouse eine neue Nuance seines Wesens war.

»Sie sind heute morgen unbegreiflich«, sagte Luise, »bitte bemühen Sie sich nicht weiter, sich zu erklären, ich bin nicht neugierig, Ihre Meinung zu wissen. Was ist daran gelegen?«

Es wurde über diesen Gegenstand nichts weiter gesprochen, und Mr. Harthouse unterhielt sich bald in lässiger Lustigkeit über gleichgültige Gegenstände. Von diesem Tage an wurden jedoch Luise und James Harthouse durch den Sparsit-Einfluß auf Mr. Bounderby enger aneinander geknüpft. Das verstärkte Luises gefährliche Entfremdung von ihrem Manne und das vertrauliche Verhältnis mit einem anderen gegen ihn. Sie war in dieses Verhältnis auf so seine Weise geraten, daß sie die Spuren, wie alles gekommen, trotz ihrer Versuche nicht aufzufinden vermochte. Ob sie es aber je versucht hatte oder nicht, lag in ihrem eigenen verschlossenen Herzen verborgen.

Mrs. Sparsit aber war von diesem Vorgang so sehr ergriffen, daß sie nach dem Frühstück Mr. Bounderby den Hut reichte und während ihres Alleinseins in der Halle ihm einen keuschen Kuß auf seine Hand drückte, indem sie murmelte: »Mein Wohltäter!« worauf sie sich von Schmerz überwältigt zurückzog. Dennoch bleibt nach dem Zeugnis dieser Geschichte folgendes eine unzweifelhafte Tatsache: fünf Minuten, nachdem er das Haus mit demselben Hut verlassen, schwang das Familienmitglied der Scadgers und Powlers den Handschuh ihrer rechten Hand gegen sein Porträt, schnitt eine verächtliche Grimasse gegen jenes Kunstwerk, und rief: »Geschieht dir schon recht, du Esel, und ich freue mich darüber!«

Mr. Bounderby war noch nicht lange fort, als Bitzer erschien. Bitzer war mit einem Sonderzug von Stone Lodge herabgekommen. Dieser Zug war pfeifend und rasselnd über die lange Schwibbogenlinie dahingefahren, die sich in jener wilden Gegend ehemaliger und jetziger Kohlengruben erhebt. Er brachte die eilige Botschaft für Luise, daß Mrs. Gradgrind sehr krank sei. Sie hatte sich, wie ihrer Tochter bekannt war, nie wohl befunden, seit den letzten Tagen jedoch hatte sie sehr abgenommen und war in der Nacht schwächer und schwächer geworden; jetzt war sie dem Tode so nahe, wie es ihre beschränkte Fähigkeit, in einem Zustand zu schweben, nur irgend gestattete, der den Schatten einer Absicht in sich schlösse, seiner ledig zu werden.

Begleitet von dem strohköpfigsten aller Laufburschen – einem geeigneten farblosen Portier an der Todespforte, wo Mrs. Gradgrind anklopfte – rasselte Luise nach Coketown, über die ehemaligen und jetzigen Kohlengruben hinweg, und wurde in den rauchgefüllten Rachen der Stadt hineingewirbelt. Sie überließ den Boten seinen eigenen Geschäften und fuhr ihrem elterlichen Hause zu.

Seit ihrer Verheiratung war sie selten dagewesen. Ihr Vater befand sich gewöhnlich bei seinem parlamentarischen Kehrichthaufen in London, sichtend und sichtend (ohne daß man ihn je viele kostbare Dinge aus dem Quarke herausfinden sah), und war sehr emsig in dem nationalen Schutt- und Müll-Abfuhrplatz beschäftigt. Ihre Mutter hätte es mehr als Störung betrachtet, wenn man sie besuchte, während sie auf dem Sofa ruhte. Als junge Person fühlte sich Luise ganz ungeschickt dazu; Cili hatte sich seit jener Nacht, wo des Landstreichers Kind die Augen zu Mr. Bounderbys künftiger Frau erhob, nie freundlich genähert. So hatte sie keine Veranlassung, zurückzugehen, und tat es auch selten.

Auch wurden keine schönen Eindrücke des Schauplatzes ihrer Kindheit in ihr rege, als sie sich jetzt dem Vaterhause näherte. Ihre Träume der Kindheit – ihre lustigen Märchen; ihre anmutigen, schönen, menschlichen, unmöglichen Freuden einer reichen Welt, an die einmal zu glauben so wohltuend ist, und so süß sich deren zu erinnern, wenn wir erwachsen sind! Denn dann wird die bescheidenste Erinnerung an jene Welt zur Stätte erbarmender Liebe im Herzen, wo Kinder eintreten dürfen, und mit ihren reinen Händen inmitten der steinigen Pfade dieses Lebens einen Garten pflegen; allwo, in vertrauensvoller Einfachheit, fern allem Welttreiben, sich öfter zu sonnen, für alle Adamskinder weit besser wäre – was wußte sie von alledem! Erinnerungen an eine Zeit, wo sie dem Wenigen, was sie wußte, auf dem Zauberpfade entgegengewandert war, auf dem Pfade des Lebens, das sie und Millionen unschuldiger Geschöpfe erhoffte. Jenes Kinderparadies, in dem man beim Erwachen des Verstandes im duftigen Licht der Phantasie zuerst den liebenden Gott sah, der sich vor anderen, gleich großen Gottheiten beugte: keinen grimmigen Götzen, grausam und kalt, der seine Opfer an Händen und Füßen fesselt und der als stumpfe dumpfe Masse geistlos ins Leere von so und soviel Pferdekräften umzurechnen ist – was für Teil hatte sie daran? – Ihre Erinnerungen an Elternhaus und Kindheit waren Erinnerungen an das Austrocknen jeder Quelle und jedes Brunnens in ihrem jungen Herzen, wie sie hervorströmten. Die goldenen Fluten befanden sich nicht dort. Sie flossen, um das Land fruchtbar zu machen, wo Trauben von Dornen und Feigen von Disteln eingesammelt werden.

Sie trat mit schwerem, verhärtetem Gram in das Hau und in das Zimmer ihrer Mutter. Seitdem sie das Elternhaus verlassen, hatte Cili neben der übrigen Familie gleichberechtigt gestanden. Cili saß neben ihrer Mutter, und ihre Schwester Jane, die jetzt zehn bis zwölf Jahre alt war, befand sich auch im Zimmer. Es kostete viel Mühe, ehe man es Mrs. Gradgrind begreiflich machen konnte, daß ihr ältestes Kind da sei. Sie sank zurück und stützte sich aus bloßer Gewohnheit auf ein Kissen, und das alles in ihrer frühern gewöhnlichen Stellung, die ein so hilfloses Geschöpf annehmen konnte. Sie hatte sich entschieden geweigert, sich zu Bett zu begeben, und zwar aus dem Grunde, daß, wenn sie es täte, die Sache kein Ende nehmen würde. Ihre schwache Stimme klang so entfernt aus ihrem Bündel Schals, und der Klang einer andern Stimme, die sie ansprach, schien so lange Zeit zu gebrauchen, bis sie an ihr Ohr gelangte, als hätte sie im Grund eines Brunnens gelegen.

Die arme Frau befand sich näher der Wahrheit als je, was viel heißen wollte. Als man ihr sagte, Mrs. Bounderby sei da, antwortete sie im Geiste des Widerspruchs, daß sie ihm nie diesen Namen gegeben, seit er Luise geheiratet; daß sie, unentschieden in der Wahl eines passenden Namens, ihn bloß J nannte; und daß sie jetzt von dieser Regel nicht abweichen könne, da sie keinen andern zur Verfügung habe. Luise hatte bei ihr einige Minuten gesessen und das Gesagte mehrfach wiederholt, ehe sie es klar begreifen konnte, wer es sei. Hierauf schien sie es auf einmal zu begreifen. »Gut denn, mein Kind«, sagte Mrs. Gradgrind, »ich hoffe, du bist ganz zufrieden. Dein Vater allein hat es getan. Er hat darauf bestanden. Er muß es wissen, warum.«

»Ich will von dir hören, Mutter, und nicht von mir.«

»Von mir willst du hören, mein Kind? das ist gewiß etwas Neues, wenn jemand von mir hören will; es geht mir durchaus nicht gut, Luise, sehr schwach und schwindelig.«

»Fühlst du Schmerz, liebe Mutter?«

»Ich glaube, es befindet sich ein Schmerz irgendwo im Zimmer«, sagte Mrs. Gradgrind, aber ich kann nicht behaupten, daß ich ihn habe.«

Nach diesen sonderbaren Worten lag sie einige Zeit still. Luise ergriff ihre Hand, konnte aber keinen Puls fühlen. Als sie die Mutter aber küßte, spürte sie einen leichten, dünnen Lebensfaden in unruhiger Bewegung.

»Du siehst deine Schwester sehr selten«, sagte Mrs. Gradgrind. »Sie wächst auf gleich dir, ich wünsche, daß du dich ihrer annimmst. Cili, bringe sie her.«

Sie ward herbeigeführt und stand da, ihre Schwester bei der Hand haltend. Luise hatte sie ihren Arm um Cilis Nacken schlingen gesehen, und sie fühlte den Unterschied dieser Annäherung.

»Siehst du die Ähnlichkeit, Luise?«

»Ja, Mutter, ich sollte denken, sie ist mir gleich, aber –«

»Nun? ich sage es ja immer, sagte Mrs. Gradgrind mit unerwarteter Raschheit. »Und das erinnert mich. – Ich habe etwas mit dir zu sprechen, mein Kind. Cili, mein gutes Mädchen, laß uns einen Augenblick allein.«

Luise hatte die Hand losgelassen, dachte, daß das Gesicht ihrer Schwester schöner und heiterer sei, als ihres je gewesen, – sah in diesem Gesicht nicht ohne ein aufkeimendes Gefühl der Bitterkeit selbst hier zu dieser Stunde etwas von Sanftheit des anderen Gesichtes in dem Zimmer, des Gesichtes mit den vertrauensvollen Augen, das durch das reiche dunkle Haar blässer erschien, als es durch Wachen und teilnehmenden Kummer geschah.

Mit ihrer Mutter allein gelassen, sah Luise, wie diese dalag, mit einer trüben Schläfrigkeit auf ihrem Gesicht, gleich jemandem, der widerstandslos auf einem weiten Wasser dahinschwimmt, damit zufrieden, den Strom hinuntergetragen zu werden. Sie führte den Schatten einer Hand abermals an ihre Lippen und weckte sie aus ihrer Ohnmacht.

»Du wolltest mit mir sprechen, Mutter.«

»Ei! Ja gewiß, mein Kind. Du weißt, dein Vater ist fast immer abwesend, und deshalb muß ich ihm darüber schreiben.«

»Worüber, Mutter? Beunruhige dich nicht; worüber denn?«

»Du wirst dich erinnern, mein Kind, daß, wenn ich irgend etwas über einen Gegenstand gesagt hatte, man mich nie damit gelten ließ, deshalb habe ich seit langer Zeit unterlassen, überhaupt etwas zu sagen.«

»Ich höre dich wohl, Mutter«, aber sie konnte nur dadurch, daß sie ihr Ohr neigte und gleichzeitig die Lippen betrachtete, wie sie sich bewegten, dergleichen schwache und abgebrochene Töne in zusammenhängende Verbindung bringen.

»Du hast sehr viel gelernt, Luise, und ebenso dein Bruder, allerhand Ologien,12 von morgens bis abends. Wenn es noch irgendeine Ologie gibt, die in diesem Haus nicht zersetzt worden ist, so kann ich nur davon sagen, ich hoffe, nie ihren Namen zu hören.«

»Ich kann dich hören, Mutter, wenn du nur Kraft hast, fortzufahren.« Das sagte sie, um sie vom Davonschwimmen abzuhalten.

»Aber es gibt etwas, durchaus keine Ologie – das dein Vater unterlassen oder vergessen hat, Luise. Ich weiß nicht, was es ist. Ich habe oft daran gedacht, wenn Cili neben mir dasaß, ich werde mich jetzt seines Namens nicht erinnern. Aber dein Vater kennt es, es macht mich unruhig, ich will ihm darüber schreiben, damit er um des Himmels willen ausfinde, was es ist. Gib mir eine Feder! Gib mir eine Feder!«

Selbst die Kraft der Unruhe war verschwunden, ausgenommen von dem armen Kopfe, der sich gerade von einer Seite auf die andere drehen konnte.

Sie bildete sich aber ein, daß ihre Bitte erfüllt worden, und daß die Feder, die sie nicht halten konnte, sich in ihrer Hand befinde. Es ist wenig daran gelegen, welche Gestalten wunderbaren Unsinns sie auf ihren Umschlagetüchern zu zeichnen begann. Die Hand hielt bald mitten in der Bewegung inne. Das Licht, das hinter dem schwachen Lampenschirm immer matt und dunkel gewesen, ging aus; und selbst Mrs. Gradgrind, die aus dem Schatten heraustrat, in dem der Mensch wandelt und vergebens sich abmüht, nahm die grauenhafte Feierlichkeit der Weisen und Patriarchen an.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Da Mrs. Sparsits Nerven nur sehr langsam ihre Spannkraft wiedererlangten, so blieb die würdige Frau mehrere Wochen auf Mr. Bounderbys Ruhesitz. Dort ergab sie sich, trotz ihrer Vorliebe für Einsamkeit, die auf dem schicklichen Bewußtsein ihres veränderten Standes beruhte, mit edler Stärke darein, sozusagen im Füllhorn des Überflusses zu leben und am Fett des Landes zu zehren. Während der ganzen Zeit dieser Zurückgezogenheit von der Bewachung der Bank, benahm sich Mrs. Sparsit als ein Muster von Standhaftigkeit, indem sie fortfuhr, Mr. Bounderby derart ins Gesicht zu bemitleiden, wie das nur selten einem Manne widerfährt, und zugleich sein Porträt »Esel« ins Gesicht zu heißen, mit der größten Bitterkeit und Verachtung.

Mr. Bounderby hatte es nun in sein explodierendes Wesen als Axiom aufgenommen, daß Mrs. Sparsit überlegen genug sei, um wahrzunehmen, wie er jenes allgemeine Kreuz in seiner Einsamkeit trage. Er hatte nur noch nicht herausgefunden, was er war. Ferner war ihm klar geworden, daß Luise sie nicht als ständigen Besuch haben möchte, wofern sich solcher Widerspruch überhaupt an sein, Bounderbys, Größe heranwagte; darum beschloß er erst recht, Mrs. Sparsit in seiner Umgebung zu behalten. Als daher ihre Nerven soweit gespannt waren, daß sie wieder Kalbsmilch in der Einsamkeit genießen konnte, sagte er zu ihr während des Mittagessens am Tage vor ihrer Abreise: »Ich will Ihnen was sagen, Ma’am. Sie müssen, solange es schönes Wetter gibt, am Samstag zu uns herkommen und bis Montag bleiben.« Worauf Mrs. Sparsit, in der Tat, obwohl nicht mohammedanischen Glaubens, erwiderte: »Hören ist gehorchen.«

Nun, Mrs. Sparsit war kein poetisches Weib, aber sie faßte doch eine Idee, die ins Reich allegorischer Phantasien gehörte. Sie beobachtete Luise sorgfältig und bewachte deren undurchdringliches Betragen beharrlich. Dadurch war ihre eigene Geistesschärfe gewetzt und geschliffen; sie hatte auf dem Weg der Inspiration sozusagen einen Schwung erhalten. Sie schuf also in ihrem Geist eine gewaltige Treppe, die in einen düstern Schlund von Schande und Verderben mündete; und diese Treppe sah sie von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde Luisen hinuntersteigen.

Es machte nun Mrs. Sparsits Lebensgeschäft aus, diese Treppe zu betrachten und Luise herabsteigen zu sehen; zuweilen langsam, zuweilen mehrere Staffeln mit einem Satze, zuweilen innehaltend, aber niemals umwendend. Wenn sie einmal umgewandt hätte, so würde Mrs. Sparsit aus Verdruß und Schmerz den Tod davon erlitten haben.

Sie war beharrlich heruntergestiegen, bis zu dem Tag, wo Mr. Bounderby die obenerwähnte wöchentliche Einladung ergehen ließ. Mrs. Sparsit war in guter Laune und geneigt, ein Gespräch anzuknüpfen.

»Nun bitte, Sir«, sagte sie, »wenn ich wagen darf, eine Frage über etwas zu stellen, über das Sie Stillschweigen beobachten – was wohl kühn von mir ist; denn ich weiß recht gut, daß Sie einen Grund haben für alles, was Sie tun – haben Sie hinsichtlich des Diebstahls Nachrichten erhalten?«

»Nein, Ma’am, nein, noch nicht! Unter den Umständen habe ich es noch nicht erwartet. Rom wurde nicht in einem Tag erbaut, Ma’am.«

»Sehr wahr, Sir«, sagte Mrs. Sparsit kopfschüttelnd.

»Auch in einer Woche nicht, Ma’am.«

»Nein, in der Tat nicht«, entgegnete Mrs. Sparsit mit einem Anstrich von Wehmut.

»Auf ähnliche Weise«, sagte Bounderby, »kann ich auch warten, wie Sie wissen. Wenn Romulus und Remus warten konnten, kann Josiah Bounderby auch warten. Sie waren indessen in ihrer Jugend besser daran als ich. Sie hatten eine Wölfin zur Amme, ich hatte bloß eine Wölfin zur Großmutter, sie gab mir keine Milch, Ma’am, sie gab mir Prügel. Sie war in dieser Beziehung eine vollständige Alderney.

»Ach!« seufzte Mrs. Sparsit und schauderte.

»Nein, Ma’am«, fuhr Mr. Bounderby fort, »ich habe nichts weiter darüber gehört. Man ist aber damit beschäftigt, und der junge Tom, der im Geschäft jetzt ziemlich fleißig arbeitet – was etwas Neues bei ihm ist, er hat nicht meine Schule durchgemacht – ist dabei tätig. Mein Bescheid ist, sich bei dieser Sache ruhig zu verhalten und ihr den Anschein der Vergessenheit zu geben. Alles, was man tun will, muß geheim geschehen, und nichts darf durch irgendein Zeichen verraten werden, sonst sammelt sich gleich ein halbes Hundert von diesem Gelichter und hilft jenem Kerl zu entwischen, daß man seiner nicht mehr habhaft werde. Man verhalte sich nur ruhig, und die Diebe werden nach und nach Vertrauen fassen, worauf wir sie schon kriegen werden.«

»Sehr klug, in der Tat, Sir«, sagte Mrs. Sparsit, »sehr interessant. Die alte Frau, deren Sie Erwähnung getan, Sir –«

»Die alte Frau, deren ich erwähnte, Ma’am«, sagte Bounderby, die Sache kurz abmachend, da nichts dabei aufzuschneiden war, »ist noch nicht eingefangen worden. Aber sie kann Gift darauf nehmen, daß es geschehen wird, wenn das ihre Lasterseele beruhigt. Unterdessen, Ma’am, bin ich der Meinung, wenn Sie mich überhaupt um meine Meinung fragen, daß es desto besser ist, je weniger man davon spricht.«

Am gleichen Abend sah Mrs. Sparsit von dem Fenster ihres Zimmers aus, als sie vom Einpacken ausruhte, auf ihre große Treppe und sah Luise immer abwärts steigen.

Sie saß neben Mr. Harthouse in einer Gartenlaube in leises Gespräch vertieft. Er lehnte sich über sie, wie sie zusammen flüsterten, und sein Gesicht berührte beinahe ihr Haar. »Warum nicht ganz!« sagte Mrs. Sparsit, indem sie ihre Falkenaugen aufs äußerste anstrengte. Mrs. Sparsit war zu entfernt, um ein Wort ihres Gesprächs zu vernehmen oder um auch nur zu wissen, daß sie leise sprachen, außer was sie nach dem Ausdruck ihrer Gebärden schloß; was sie aber sprachen, war folgendes:

»Sie erinnern sich des Mannes, Mr. Harthouse?«

»O, vollkommen!«

»Seines Gesichtes, seines Benehmens, und dessen, was er sagte?«

»Vollkommen! und er erschien mir auch als eine unendlich trübselige Person. Langweilig und prosaisch über die Maßen. Er war sehr gewandt darin, in der demütig-tugendhaften Schule der Beredsamkeit einem voranzuleuchten. Ich kann Sie indessen versichern, daß ich gleich damals dachte: mein lieber Mann, Sie übertreiben die Geschichte.«

»Es fiel mir sehr schwer, von jenem Manne schlecht zu denken.«

»Meine teure Luise – wie Tom sagt« – was er eigentlich nie tat – »Sie wissen doch selbst nichts Gutes von jenem Burschen?«

»Nein, gewiß nicht.«

»Auch nicht von einer anderen ähnlichen Person?«

»Wie vermöchte ich«, antwortete sie, mehr mit jenem sonstigen Ausdrucke, als er seit kurzem bei ihr bemerkt, »da ich überhaupt nichts von ihnen weiß, von Männern oder Frauen?«

»Meine teure Mrs. Bounderby! So gestatten Sie denn den untertänigen Vortrag ihres ergebenen Freundes entgegenzunehmen, der etwas von den verschiedenen Klassen seiner ausgezeichneten Nebenmenschen weiß – denn ausgezeichnet sind sie, daran zweifle ich nicht, trotz ähnlicher kleiner Schwächen, die darin bestehen, sich das anzueignen, was sie können. Jener Bursche macht Redensarten. Gut, das tun sie alle. Sein Gerede von sittlichen Grundsätzen verdient nur einen Augenblick Beachtung, sofern sie gerade ein sehr verdächtiger Umstand ist. Alle Heuchler bekennen sich zur Moralität, von dem Unterhaus bis zum Zuchthaus, ausgenommen Leute unseres Schlages. Es ist in der Tat jene Ausnahme, die unsere Leute so angenehm macht. Sie haben den Fall gesehen und gehört. Hier war ein gewöhnlicher Mann, der durch meinen geschätzten Freund Mr. Bounderby sehr scharf angefaßt worden war. Bounderby besitzt, wie wir wohl wissen, nicht jenes Zartgefühl, das eine so harte Hand milder machen könnte. Der gewöhnliche Mann war verletzt und verließ, zur Verzweiflung getrieben, murrend das Haus, begegnete jemanden, der ihm anbot, an diesem Bankraub aktienweise beteiligt zu sein. Er ging darauf ein, steckte etwas in die Tasche, wo früher sich nichts befand, und fühlte sein Gemüt dadurch höchst erleichtert. Er müßte in der Tat ein ungewöhnlicher, statt ein gewöhnlicher Mann gewesen sein, wenn er eine solche Gelegenheit nicht benutzt hätte. Oder er hätte es doch getan, wenn er nur die Geschicklichkeit dazu besessen. Ebenfalls wahrscheinlich.«

»Es dünkt mich, als wäre es schlecht von mir«, erwiderte Luise nach einer gedankenvollen Pause, »so schnell bereit zu sein, mit Ihnen übereinzustimmen und mein Gemüt durch Ihre Worte so erleichtert zu fühlen.«

»Ich sage nur, was vernunftgemäß ist; nichts Schlimmeres. Ich habe die Sache mehr als einmal mit meinem Freunde Tom besprochen – ich befinde mich natürlich immer auf vollkommen vertrautem Fuße mit Tom, und er ist ganz meiner Meinung, wie ich ganz der seinen bin. Wollen Sie einen Spaziergang machen?«

Sie schlenderten fort durch die schmalen Wege zwischen den Hecken, die jetzt in der Dämmerung undeutlich zu werden anfingen – sie stützte sich auf seinen Arm – und dachte wenig daran, wie sie immer hinab, hinab die Treppe von Mrs. Sparsit ging.

Tag und Nacht stand vor Mrs. Sparsit diese Treppe. Wenn Luise einmal am Boden angelangt und in dem Abgrund verschwunden war, so konnte sie auch über ihr zusammenstürzen; bis dahin jedoch mußte sie aufrechtstehen, als ein Gebäude vor Mrs. Sparsits Augen. Luise befand sich immer auf derselben. Sie glitt immer hinunter, hinunter, hinunter.

Mrs. Sparsit sah James Harthouse kommen und gehen; sie hörte von ihm hie und da; sie sah die Veränderungen des Gesichtes, das er studiert hatte; sie bemerkte ebenfalls mit peinlicher Genauigkeit, wie und wann es sich umwölkte, wie und wann es sich erheiterte; sie hielt ihre schwarzen Augen weit offen, ohne einen Zug der Teilnahme, ohne Aufregung, ganz in Interesse versunken, doch in das Interesse zuzusehen, wie jene, ohne von ihr aufgehalten zu werden, dem Abgrund jener neuen Riesentreppe immer näher kam. Bei aller Achtung vor Mr. Bounderby, der sich durch verschiedene Eigenschaften vor seinem Bilde so sehr auszeichnete, hatte Mrs. Sparsit nicht die geringste Absicht, das Herabsteigen zu hindern. Begierig, dieses vielmehr vollendet zu sehen, und doch geduldig, sah sie dem letzten Fall wie der Reife und Fülle der Ernte ihrer Hoffnungen erwartungsvoll entgegen. Und in Erwartung eingelullt, heftete sie den vorsichtigen Blick auf die Treppe, und sehr selten schwang sie nur leise den rechten Handschuh (mit der Faust in diesem) gegen die niedersteigende Gestalt.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Die Gestalt kam die große Treppe herab, Schritt für Schritt; und neigte sich fortwährend, gleich einer Last im tiefen Wasser, dem schwarzen Schlund im Abgrunde zu.

Mr. Gradgrind, von dem Hinscheiden seiner Frau in Kenntnis gesetzt, kam von London herüber und begrub sie in geschäftsmäßiger Weise. Mit Pünktlichkeit kehrte er dann wieder zum nationalen Aschenhaufen zurück und nahm das Sichten seines Quarkes wieder auf. Er begann wieder Sand in die Augen jener Leute zu streuen, die ihren eigenen Quark traten. Kurz, er lag wieder seinen parlamentarischen Pflichten ob.

Mrs. Sparsit hielt indessen rastlos Wache. Während der ganzen Woche von ihrer Treppe geschieden, durch die Länge des Eisenbahnweges, der Coketown von dem Landhause trennte, setzte sie dennoch ihre katzenartige Beobachtung Luises fort. Sie besorgte das durch deren Mann, durch deren Bruder, durch James Harthouse, durch die Adressen der Pakete und Briefe, durch alles Lebendige und Leblose, das sich irgend der Treppe näherte: »Ihr Fuß ruht auf der letzten Stufe, Mylady«, sagte Mrs. Sparsit, die herunterkommende Gestalt mit Beihilfe ihres drohenden Handschuhs begrüßend, »und all Ihre Kunst wird mich nicht täuschen!«

Sei es indessen Kunst oder Natur, der angeborene Grundzug von Luises Charakter, oder die Umstände, die diesem eingeimpft wurden – ihre besondere Verschlossenheit machte selbst den Scharfsinn einer Mrs. Sparsit zuschanden, während sie ihn herausforderte. Es gab Zeiten, wo Mr. James Harthouse an ihr irre ward. Es gab Zeiten, wo er in dem Gesicht nicht lesen konnte, das er so lange studiert hatte, und wo dieses alleinstehende Frauengeschöpf für ihn ein größeres Geheimnis war, als irgendein Weib in der Welt, das einen Kreis von schützenden Rittern um sich hat.

So verging die Zeit, bis es sich fügte, daß Mr. Bounderby, durch ein Geschäft, das seine Gegenwart anderwärts notwendig machte, für drei oder vier Tage abgerufen ward. Es war an einem Freitag, wo er dieses Mrs. Sparsit in der Bank mitteilte und hinzufügte:

»Sie werden morgen hinüberfahren, Ma’am, ganz wie sonst. Sie werden hinüberfahren, gerade als wenn ich da wäre. Das wird für Sie keinen Unterschied machen.«

»Bitte, Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit vorwurfsvoll, »darf ich Sie bitten, dergleichen nicht zu sagen. Ihre Abwesenheit wird für mich einen mächtigen Unterschied machen, Sir, wie Sie, glaube ich, recht wohl wissen.«

»Gut, Ma’am, dann müssen Sie sich in meiner Abwesenheit so gut behelfen, wie Sie können«, sagte Bounderby nicht ungehalten.

»Mr. Bounderby«, entgegnete sie, »Ihr Wille ist für mich Gesetz, Sir; sonst wäre ich geneigt, gegen Ihre freundlichen Befehle zu protestieren. Denn ich weiß nicht, ob es Miß Gradgrind so angenehm sei, mich zu empfangen, wie das bei Ihrer großmütigen Gastfreundschaft der Fall ist. Sprechen Sie jedoch nichts mehr darüber, Sir, ich werde auf Ihre Einladung gehen.«

»Nun, wenn ich Sie in mein Haus einlade, Ma’am«, sagte Bounderby, die Augen aufreißend, »so sollte ich meinen, daß keine andere Einladung mehr nötig ist.«

»Wahrlich nicht, Sir«, erwiderte Mrs. Sparsit. »Ich sollte meinen, nein. Sprechen Sie nicht mehr darüber, Sir. Ich wollte, Sir, ich könnte Sie wieder fröhlich sehen.«

»Was meinen Sie, Ma’am?« schnaubte Bounderby.

»Sir«, entgegnete Mrs. Sparsit, »es pflegte sonst eine Elastizität in Ihrem Wesen zu herrschen, die ich mit Betrübnis vermisse. Kopf hoch, Sir.«

Mr. Bounderby konnte vor dem Bann dieser wunderlichen Verschwörung, die von ihrem mitleidsvollen Blick unterstützt war, sich bloß in einer schwachen und lächerlichen Weise den Kopf kratzen, und später sich schon von weitem bemerklich machen, indem er den ganzen Morgen in seinen Geschäften polterte und rumorte.

»Bitzer«, sagte Mrs. Sparsit an jenem Nachmittag, als ihr Gönner die Reise antrat und die Bank geschlossen wurde, »bring‘ meine Empfehlungen dem jungen Mr. Thomas, und frage ihn, ob er heraufkommen könnte, um Lammsschnittchen mit Champignonsoße nebst einem Glas India-Ale zu genießen.« Der junge Mr. Thomas, der für so etwas immer zu haben war, sandte eine freundliche Antwort zurück und folgte ihr auf den Fersen. »Mr. Thomas«, sagte Mrs. Sparsit, »dieses einfache Mahl, so meinte ich, könnte Ihnen zusagen.«

»Danke, Mrs. Sparsit«, sagte der Bengel. Und fiel mürrischen Blickes darüber her.

»Wie geht es Mr. Harthouse, Mr. Tom?« fragte Mrs. Sparsit.

»O! dem geht’s gut!« sagte Tom.

»Wo mag er jetzt sein?« fragte Mrs. Sparsit in einer leichten Gesprächsweise, nachdem sie den Bengel in Gedanken zu allen Furien gewünscht hatte, weil er so unmitteilsam war.

»Er befindet sich auf der Jagd in Yorkshire«, sagte Tom. »Schickte gestern an Lu einen Korb, halb so groß wie eine Kirche.«

»Der liebe Mann!« sagte Mrs. Sparsit süß; »man möchte wetten, er ist ein guter Schütze.«

»Und ob!« sagte Tom.

Tom hatte sich längst nicht mehr dadurch ausgezeichnet, den Leuten gerade in die Augen zu sehen. Aber jetzt hatte diese Eigenart so zugenommen, daß er jemandem nicht drei Minuten hinter einander ins Gesicht sehen konnte. Mrs. Sparsit hatte demgemäß reiche Gelegenheit, seine Blicke zu beobachten, wenn sie sich dazu aufgelegt gefühlt hätte.

»Mr. Harthouse ist ein besonderer Liebling von mir«, sagte Mrs. Sparsit, »wie er es auch wahrlich bei den meisten Leuten ist. Dürfen wir hoffen, ihn bald wieder zu sehen, Mr. Tom?«

»Nun, ich erwarte ihn morgen wieder«, erwiderte der Bengel.

»Wie schön!« rief Mrs. Sparsit freudig.

»Ich soll ihn heute abend von der Bahn abholen«, sagte Tom, »und ich werde dann, denke ich, mit ihm essen. Er kommt eine Woche oder so was nicht zu Nickits hinunter, da er anderwärts beschäftigt ist. Wenigstens sagt er’s; ich würde mich aber nicht wundern, wenn er über den Sonntag hier bliebe und sich dorthin verliefe.«

»Das erinnert mich an was!« sagte Mrs. Sparsit. »Wollten Sie Ihrer Schwester eine Botschaft überbringen, Mr. Tom, wenn ich Sie darum bäte?«

»O ja, wenn sie nicht zu lang ist«, entgegnete der unwillige Bengel.

»Sie besteht bloß in meinem ehrerbietigen Gruß«, sagte Mrs. Sparsit, »und daß ich sie wahrscheinlich diese Woche mit meiner Gesellschaft nicht belästigen würde, da ich noch ein wenig nervös bin, und besser mit meinem armen Selbst allein bleibe.«

»O! wenn es nur das ist«, bemerkte Tom, »daran wäre nicht viel gelegen, selbst wenn ich’s vergessen sollte, denn Lu dürfte schwerlich an Sie denken, bis Sie vor ihr erscheinen.«

Nachdem er für das Genossene mit diesem angenehmen Kompliment gedankt hatte, verfiel er in ein mürrisches Stillschweigen, bis kein India-Ale mehr übrig war, worauf er sagte: »Nun, Mrs. Sparsit, ich muß fort«, und fortging.

Sonnabends, am nächsten Tage, saß Mrs. Sparsit die ganze Zeit über am Fenster und betrachtete die Kunden, die ein- und ausgingen. Sie beobachtete die Briefträger, überblickte den Handel und Wandel auf der Straße, überlegte viele Dinge in ihren Gedanken; vor allem aber richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Treppe.

Als der Abend kam, nahm sie Hut und Schal und ging ruhig aus, wobei sie ihre Gründe hatte, verstohlenerweise um den Bahnhof zu streichen, wo ein Passagier von Yorkshire ankommen sollte. Sie zog es vor, hinter Säulen und Ecken und von den Fenstern des Wartezimmers für Frauen aus Umschau zu halten, als sich frei in den Gängen zu zeigen.

Tom wartete und schlenderte umher, bis der erwartete Zug ankam. Er brachte keinen Mr. Harthouse. Tom wartete, bis die Menge sich zerstreute und der Lärm vorüber war. Dann wandte er sich zu den angeschlagenen Plänen der Züge und erkundigte sich bei den Gepäckträgern. Nachdem er dies getan, schlenderte er träge fort, hielt in der Straße inne, betrachtete dieselbe nach oben und unten, nahm den Hut ab und setzte ihn wieder auf, gähnte, reckte sich und stellte alle Symptome sterblicher Langeweile zur Schau, die man bei jemandem erwarten kann, der bis zur Ankunft des nächsten Zuges eine Stunde und vierzig Minuten harren muß.

»Das ist eine List, um ihn nicht als Augenzeuge zu haben«, sagte Mrs. Sparsit, indem sie von dem trüben Bureaufenster aufschoß, von wo sie ihn zuletzt bewacht hatte. »Harthouse ist jetzt bei seiner Schwester.«

Es war die Eingebung eines inspirierten Augenblickes, und sie eilte mit äußerster Schnelligkeit davon, die Eingebung ausführend. Der Bahnhof für das Landhaus befand sich am entgegengesetzten Ende der Stadt. Die Zeit war kurz, der Weg beschwerlich, allein sie bemächtigte sich rasch eines leeren Wagens, sprang rasch hinein, zahlte ihr Geld, ergriff ihr Billett und stürzte in den Zug, daß sie längs der Schwibbogen, die über das Land mit den ehemaligen und gegenwärtigen Kohlengruben sich aufspannten, so schnell weggeführt wurde, als ob sie in eine Wolke gehüllt und fortgewirbelt worden wäre. Während der ganzen Reise hatte Mrs. Sparsit ihre Treppe mit der herabsteigenden Gestalt unbeweglich in der Luft, obwohl nie zurückbleibend, deutlich vor den dunklen Augen ihres Geistes, wie sie die elektrischen Drähte, die am Himmel gleich den Linien auf Notenpapier sich dahinzogen, deutlich vor den dunklen Augen ihres Körpers hatte. Schon sehr nahe am Boden. Am Rande des Abgrundes.

Ein trüber Septemberabend sah bei einbrechender Nacht unter seinem sinkenden Augenlide Mrs. Sparsit aus ihrem Wagen gleiten, die hölzernen Stufen der kleinen Eisenbahnstation in eine steinige Straße hinuntergehen, von dieser in einen grünen Heckenweg sich begeben und daselbst unter Blättern und Zweigen verschwinden. Ein oder zwei verspätete Vögel, die schläfrig in ihren Nestern zirpten, und eine Fledermaus, die langsam auf sie zu und wieder zurückflog, und die Dunstwolke, die sich wie Samt anfühlte – das war alles, was Mrs. Sparsit hörte oder sah, bis sie sehr leise ein Gitter schloß.

Sie ging auf das Haus zu, sich immer im Gesträuch haltend, umkreiste es und lauschte zwischen den Blättern hindurch nach den niedrigen Fenstern. Die meisten derselben waren offen, wie gewöhnlich bei solchem warmen Wetter; es waren aber noch keine Lichter sichtbar, und es war alles still. Sie versuchte es mit dem Garten ohne besseren Erfolg. Sie dachte an das Gehölz und stahl sich dorthin, unbekümmert um das hohe Gras und die Sträucher, die Würmer, die nackten Gartenschnecken und all die kriechenden Geschöpfe. Mit den dunklen Augen und der Habichtsnase als Vorhut, arbeitete sich Mrs. Sparsit leise durch das dicke Unterholz. Sie war so erpicht auf ihre Beute, daß sie wahrscheinlich nichts weniger getan haben würde – wenn das Gehölz aus Nattern bestanden hätte.

Horch!

Die kleineren Vögel hätten aus ihren Nestern purzeln können, bezaubert von Mrs. Sparsits im Dunkeln schimmernden Augen, während diese Dame selbst stehenblieb und lauschte.

Leise Stimmen dicht in der Nähe. Seine Stimme und die ihre. Die Bestellung nach dem Bahnhof war also wirklich nur eine List, um den Bruder fern zu halten! Dort saßen sie, bei dem gefällten Baume.

Mrs. Sparsit schritt näher an sie heran, indem sie sich in das taubenetzte Gras niederbeugte. Dann richtete sie sich empor und stand hinter einem Baume, wie Robinson Crusoe in seinem Hinterhalte gegen die Wilden. Sie war ihnen jetzt so nahe, daß sie mit einem Sprung, und das nicht mit einem großen, die beiden hätte erreichen können. Er war heimlicherweise da und hatte sich nicht im Hause gezeigt. Er war zu Pferde gekommen und mußte die benachbarten Felder passiert haben; denn sein Pferd war auf der Wiesenseite der Hecke, nur einige Schritt entfernt, festgebunden.

»Mein liebstes Lieb«, sagte er, »was sollte ich machen?« War es für mich möglich, fernzubleiben, da ich dich allein wußte?«

»Du magst immerzu den Kopf hängen lassen, um dich anziehender zu machen – ich weiß nicht, was die Männer an dir sehen, wenn du ihn emporhältst«, dachte Mrs. Sparsit, »du denkst aber wenig daran, mein liebstes Lieb, welche Augen dich bewachen.«

Daß sie den Kopf hängen ließ, war gewiß. Sie drang in ihn, sich zu entfernen, sie befahl ihm, sich zu entfernen, aber sie wandte ihr Gesicht nicht gegen ihn und erhob es auch nicht. Dennoch war es merkwürdig, daß sie so ruhig saß, wie das liebenswürdige Weib im Hinterhalt sie zu jeder Zeit ihres Lebens hatte sitzen sehen. Ihre Hände ruhten ineinander, gleich den Händen einer Statue, und selbst ihre Redeweise war nicht hastig. »Mein liebes Kind«, sagte Harthouse; Mrs. Sparsit bemerkte mit Entzücken, daß er sie mit einem Arm umschlang, »willst du meine Gesellschaft nicht für kurze Weile erlauben?«

»Nicht hier.«

»Wo, Luise.«

»Nicht hier.«

»Aber wir haben so wenig Zeit für so vieles, und ich bin so weit hergekommen und bin zugleich so ergeben und verzweifelt. Es gab nie einen Sklaven, der zu gleicher Zeit so ergeben und von seiner Gebieterin so schlecht behandelt wurde. Es ist wahrhaft herzzerreißend, herbeigeeilt zu sein, um deinen sonnigen Gruß, der mir neues Leben gewährt, zu empfangen, und in deiner frostigen Weise aufgenommen zu werden.«

»Soll ich es abermals sagen, daß ich hier allein sein muß?«

»Aber wir müssen wieder zusammenkommen, meine liebe Luise. Wo sollen wir zusammenkommen?«

Sie fuhren beide empor. Die Lauscherin fuhr schuldbewußt ebenfalls empor; denn sie glaubte, es befinde sich noch jemand lauschend zwischen den Bäumen. Es war aber bloß der Regen, der in schweren Tropfen stark niederzuströmen begann.

»Soll ich in einigen Minuten nach dem Hause reiten, in der unschuldigen Voraussetzung, daß der Herr sich daselbst befinde und entzückt sein werde, mich zu empfangen?«

»Nein!«

Deine grausamen Befehle müssen blindlings befolgt werden, obgleich ich, wie ich glaube, der unglücklichste Mensch in der Welt bin, allen übrigen Frauen gegenüber unempfindlich gewesen zu sein, und endlich gedemütigt zu den Füßen der schönsten, anziehendsten und zugleich herrschsüchtigsten zu fallen. Meine teure Luise, ich kann es meinet- und deinetwillen nicht gestatten, daß du mit deiner Macht einen solchen Mißbrauch treibst.«

Mrs. Sparsit sah, wie er sie mit seinen Armen umschlang und zurückhielt. Sie hörte mit ihren gierigen Ohren, wie er ihr gestand, daß er sie liebte, und wie sie der Preis sei, für den er alles, was er besitze, mit glühender Leidenschaft aufs Spiel setzen würde. Alles, womit er sich kürzlich beschäftigt, stelle sich neben ihr als wertlos heraus – den Erfolg, der beinah in seiner Hand war, schleuderte er fort, da er im Vergleich mit ihr ein Nichts wäre. Aber er wollte dem Erfolg auf seiner Laufbahn weiter nachgehen, wenn er dadurch in ihrer Nähe bleiben könne. Er wolle auf ihn verzichten, wenn diese Laufbahn ihn von ihr entferne. Wenn sie mit ihm fliehe, wolle er fliehen. Er wolle völlig schweigen, wenn sie es ihm gebiete. Jedes Geschick, jedes Los solle ihm recht sein, wenn sie ihm nur angehören wolle. Ihm, dem Mann, der gesehen, wie verkannt sie sei, dem sie bei ihrer ersten Begegnung eine Bewunderung eingeflößt habe, wie er sich deren für unfähig hielt, dem sie ihr Vertrauen schenkte, der ihr ergeben sei und sie anbete – das alles und noch mehr prägte sich in Mrs. Sparsits Gedanken ein, während seiner Hast und der ihren, in dem Wirbel ihrer eigenen befriedigten Bosheit, in dem Schrecken entdeckt zu werden, bei dem rasch sich vergrößernden Getöse des Regens zwischen den Blättern und des heranziehenden Gewitters. Darauf eilte sie mit so großer Verwirrung und Unklarheit fort, daß sie, als er endlich über die Hecke klomm und sein Pferd wegführte, durchaus nicht gewiß war, wo und wann sie sich treffen sollten. Nur das hatte sie noch aufgeschnappt, daß sie bestimmt hatten, es solle noch in derselben Nacht geschehen.

Aber eine der beiden Gestalten blieb noch in der Dunkelheit vor ihr; und während sie deren Spuren folgte, mußte sie zurechtkommen. »O! mein liebstes Lieb!« dachte Mrs. Sparsit, »du denkst wohl wenig daran, wie gut beobachtet du bist!«

Mrs. Sparsit sah sie das Gehölz verlassen und in das Haus treten. Was sollte sie zunächst tun? Der Regen goß in Strömen. Mrs. Sparsits weiße Strümpfe spielten viele Farben, wobei die grüne vorherrschend war. In ihre Schuhe hatte sie Stachel bekommen. Raupen schlangen sich in selbstgewebten Hängematten von den Falten ihrer Kleider. Kleine Bäche strömten von ihrem Hute und von ihrer römischen Nase. In einem solchen Zustande befand sich Mrs. Sparsit verborgen in dem Dickicht, nachdenkend, was zu tun sei.

Sieh, Luise kommt aus dem Hause, in Hast eingehüllt und vermummt, sich wegstehlend. Sie läuft davon, sie stürzt von der letzten Stufe und wird von dem Abgrund verschlungen!

Gleichgültig gegen den Regen schlug sie mit raschem, entschlossenen Schritte einen Seitenweg ein, der mit dem Gebüsch in gleicher Richtung lief. Mrs. Sparsit folgte, nur in kurzer Entfernung, in dem Schatten der Bäume, denn es war nicht leicht, eine Gestalt im Gesicht zu behalten, die durch die schattenreiche Dunkelheit rasch dahineilte.

Als sie innehielt, um die Seitentür ohne Geräusch zu schließen, hielt auch Mrs. Sparsit inne; wie sie sich fortbewegte, bewegte sich auch Mrs. Sparsit fort. Sie schlug denselben Weg ein, auf dem Mrs. Sparsit gekommen war, verließ den grünen Heckenweg, ging über die steinige Straße und stieg die hölzernen Treppen zur Station hinauf. Mrs. Sparsit wußte, daß ein Zug nach Coketown augenblicklich ankommen mußte – sie wußte daher auch, daß Coketown ihr nächster Bestimmungsort sei.

Bei Mrs. Sparsits feuchtem und strömendem Zustande waren keine besonderen Vorsichtsmaßregeln nötig, um ihr gewöhnliches Aussehen zu verändern – sie blieb jedoch unter dem Schatten einer Mauer stehen, warf ihr Tuch in eine neue Form und band es um ihren Hut. Auf diese Weise verkappt, hatte sie keine Furcht, erkannt zu werden, als sie ihr auf den Stufen der Station nachfolgte und ihre Fahrkarte am Schalter bezahlte. Luise saß wartend in einer Ecke. Beide lauschten dem Donner, der laut dahinrollte, und dem Regen, der auf dem Dache plätscherte und auf die Brustwehren der Schwibbogen niederbrauste. Zwei bis drei Lampen waren von Wind und Regen ausgegangen, sie konnten daher beide vollkommen den Blitz wahrnehmen, wie er sich im Zickzack längs der eisernen Gleise hinschlängelte.

Ein plötzliches Zittern, das über die Eisenbahnstation kam, das sich bis zum Herzweh steigerte, kündete das Nahen des Zuges an. Feuer, Dampf, Rauch, rotes Licht, ein Zischen, ein Krachen, Schellen und ein greller Pfiff – Luise ward in einen Wagen geschoben, Mrs. Sparsit in einen andern, und die kleine Station war ein öder Fleck im Gewitter.

Mrs. Sparsit frohlockte, obgleich ihr die Zähne vor Nässe und Kälte im Munde klapperten. Die Gestalt war in den Abgrund hinabgesunken, und sie hatte das Gefühl, als bestatte sie den Leib. Konnte sie, die so tätig war, um den Leichenpomp herbeizuschaffen, weniger tun als frohlocken? Sie wird lange vor ihm in Coketown sein, so gut sein Pferd auch immer sein mag. Wo wird sie ihn erwarten? Und wohin werden sie zusammen gehen? Geduld! wir werden sehen.

Der fürchterliche Regen verursachte ein endloses Durcheinander, als der Zug an seinem Bestimmungsort hielt. Wasserrinnen und Brunnenröhren waren geplatzt, die Abteilungsgräben ausgetreten, und die Straßen standen unter Wasser. In dem ersten Augenblick des Aussteigens hatte Mrs. Sparsit ihre Augen auf die wartenden Kutschen geheftet, nach denen man sehr begehrte. »Sie wird in eine derselben steigen«, überlegte sie. »und wird davon sein, ehe ich in einer andern nachfolgen kann. Selbst auf die Gefahr hin überfahren zu werden, muß ich die Nummer sehen und den Befehl vernehmen, der dem Kutscher gegeben wird.«

Mrs. Sparsit hatte sich jedoch verrechnet. Luise bestieg keinen Wagen und war bereits fort. Die dunkelscharfen Augen, die auf den Waggon geheftet waren, in dem sie gereist war, fielen um einen Augenblick zu spät auf diesen. Da die Tür einige Minuten ungeöffnet blieb, ging Mrs. Sparsit an ihr vorüber und abermals vorüber, sah nichts, blickte hinein und fand das Abteil leer. Durch und durch naß, mit den Füßen klatschend und platschend in den Schuhen, wie sie sich bewegte, das klassische Gesicht von Regen triefend, mit einem Hut, der einer überreifen Feige gleichsah, an all ihren Kleidern ruiniert, mit feuchten Eindrücken jedes Knopfes, Bändchens und jeder Schnalle, die sie trug, auf ihren höchst vornehmen Rücken eingeprägt, mit einer kompakt-grünen Decke auf ihrem ganzen Äußern, wie man sie beim Zaune eines alten Parkes, an einem moderigen Wege bemerkt – war endlich Mrs. Sparsit nichts anderes übriggeblieben, als in bittere Tränen auszubrechen und auszurufen: »Ich hab‘ sie verloren!«

Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Die nationalen Gassenkehrer hatten sich – nachdem sie sich mit zahlreichen, geräuschvollen, kleinen Gefechten gegenseitig amüsiert – für jetzt zerstreut, und Mr. Gradgrind befand sich auf Ferien zu Hause.

Er saß in dem Zimmer mit der statistischen Totenuhr und schrieb; – ohne Zweifel, um irgend etwas zu demonstrieren – im allgemeinen, wahrscheinlich – daß der barmherzige Samariter ein schlechter Nationalökonom gewesen sei. Das Getöse des Regens störte ihn nicht viel. Es zog genugsam seine Aufmerksamkeit auf sich, um ihn zuweilen den Kopf erheben zu lassen, als wollte er gar gegen die Elemente auftreten. Wenn es sehr laut donnerte, warf er einen flüchtigen Blick auf Coketown, indem es ihm einfiel, daß manche hohe Schornsteine jetzt vom Blitz getroffen werden könnten.

Der Donner rollte in der Ferne, und der Regen strömte gleich einer Sündflut hernieder, als die Tür seines Zimmers aufging. Er blickte um die Lampe auf dem Tisch herum und sah mit Bestürzung seine älteste Tochter vor sich.

»Luise.«

»Vater, ich habe mit dir zu sprechen.«

»Was gibt es? Wie sonderbar du aussiehst! und, gerechter Gott!« rief Mr. Gradgrind, sich immer mehr wundernd, aus, »bist du hierher gekommen, in diesem Sturme?«

Sie tastete an ihr Gewand, als wüßte sie kaum davon.

»Ja.«

Sie nahm den Hut ab, ließ Mantel und Haube hinfallen, wohin sie wollten, und sah ihn an; mit verworrenem Haar, so bleich, so herausfordernd und verzweiflungsvoll, daß er vor ihr erschrak.

»Was gibt es? Ich beschwöre dich, Luise, sag‘ mir, was du hast!«

Sie sank vor ihm in einen Stuhl und legte ihre kalte Hand auf seinen Arm.

»Vater, du hast mich von der Wiege auf erzogen.«

»Ja, Luise.«

»Ich verfluche die Stunde, in der ich zu einem solchen Geschicke geboren wurde!«

Er sah sie mit Zweifeln und Schrecken an, indem er ratlos wiederholte: »Verfluchst die Stunde … verfluchst die Stunde . .?«

»Wie konntest du mir Leben geben und mich all‘ meiner unschätzbaren Dinge berauben, die es über den Zustand bewußten Todes hinausheben? Wo ist die anmutige Sicherheit meiner Seele? Wo sind die Gefühle meines Herzens? Was hast du getan, o Vater, was hast du getan mit dem Garten, der einst hier in dieser großen Wildnis blühen sollte?«

Sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust.

»Wenn er sich je hier befunden hätte, so würde mich selbst seine Asche noch von der Leere retten, in die mein Leben versinkt. Ich meinte das nicht sagen zu müssen, aber Vater, du erinnerst dich des letzten Gespräches, das wir hier zusammen hatten?«

Er war auf das eben Gehörte so unvorbereitet, daß er nur mit Mühe antwortete: »Ja, Luise.«

»Was jetzt über meine Lippen gekommen, würde ich dir damals schon gesagt haben, wenn du mir auch nur einen Schritt entgegengekommen wärest. Ich mache dir keine Vorwürfe, Vater. Was du nie in mir groß gezogen, das hast du in dir selbst nie groß gezogen. Aber, o! wenn du nur seit lange das Gegenteil getan – oder wenn du mich vernachlässigt hättest – was für ein besseres und glücklicheres Geschöpf wäre ich heute?«

Als er das, nach all‘ seiner Mühe, hören mußte, ließ er den Kopf in die Hände sinken und stöhnte laut auf.

»Vater, wenn du bei unserer letzten Zusammenkunft hier gewußt hättest, wovor ich eben Furcht empfand, während ich dagegen ankämpfte, so wie es von Kindheit an meine Aufgabe war, gegen jeden natürlichen Antrieb zu kämpfen, der in meinem Herzen rege geworden – wenn du gewußt hättest, daß meine Brust Gefühle, Neigungen und Schwächen barg, die durch zarte Pflege in Kraft verwandelt werden konnten, zum Trotze aller Berechnungen, die je von Menschen angestellt worden, und die ihrer Rechenkunst nicht bekannter sind, als ihre Schöpfer – würdest du mir den Mann gegeben haben, von dem ich jetzt gewiß weiß, daß ich ihn hasse?«

»Nein! Nein, mein armes Kind!« sagte er.

»Würdest du mich je zu der eisigen Kälte verbannt haben, die mich erhärtet und entstellt hat? Würdest du mich beraubt haben, zu niemandes Bereicherung, bloß zur Vergrößerung der Trostlosigkeit dieser Welt? Würdest du mir den geistig-seelischen Teil meines Lebens, den Frühling und Sommer meines Glaubens, meine Zuflucht vor Niedrigkeit und Schlechtigkeit in den wirklichen Dingen genommen haben? Würdest du mir die Schule vorenthalten haben, wo ich lernen sollte, demütiger und vertrauensvoller gegen meine Umwelt zu sein, und in meinem kleinen Kreise die Hoffnung zu hegen, sie besser zu machen?«

»O nein, nein, Luise!«

»Und dennoch, Vater, wenn ich stockblind gewesen wäre, wenn ich meinen Weg hätte tappend finden müssen und die Freiheit besessen hätte – da ich die äußere Form und die Oberfläche der Dinge kannte, meine Phantasie dabei als Richtschnur zu nehmen –, so würde ich jetzt um vieles weiser, glücklicher, liebevoller, unschuldiger und menschlicher in jeder Beziehung gewesen sein, als ich jetzt mit meinen Augen bin. Nun höre, was ich dir zu sagen habe.«

Er machte eine Bewegung, um sie mit seinem Arm zu unterstützen. Auch sie erhob sich, und so standen sie dicht nebeneinander. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter, und sie sah ihm fest in die Augen.

»Mit einem Hunger und Durst, Vater, die keinen Augenblick gestillt wurden – mit einem inbrünstigen Verlangen nach einer Region, wo Regeln, Zahlen und Definitionen nicht alles sind – bin ich aufgewachsen und habe mir meinen Lebenspfad Zoll für Zoll erkämpft.«

»Ich wußte nie, daß du unglücklich warst, mein Kind.«

»Vater, ich wußte es immer. In diesem Kampf ist mein besserer Engel beinahe zu einem Dämon gewaltsam erstarrt. Was ich gelernt habe, hat mir gegen alles, was ich nicht lernte, zweifelnde, ungläubige, verachtende und bedauernde Gefühle eingeflößt: und mein trübseliger Trost bestand in dem Gedanken, daß mein Leben bald dahinschwinden werde, und daß es nichts enthalte, das der Qual und Mühe eines Kampfes wert sei.«

»Und bist noch so jung, Luise!« sagte er klagend.

»Und bin so jung. In diesem Zustand, Vater – denn ich zeige dir ohne Furcht und Verzweiflung die verödete Beschaffenheit meines Gemüts, so wie ich es kenne – schlugst du mir meinen Mann vor. Ich behauptete nie dir oder ihm gegenüber, ihn zu lieben. Ich wußte es, und auch du, Vater, wußtest es, so gut wie er, daß ich es nie tat. Ich war nicht ganz ohne Interesse dabei, denn ich hegte die Hoffnung, Tom dadurch angenehme und nützliche Dienste leisten zu können. Ich unternahm diese wilde Flucht nach einem trügerischen Ziel, und habe es allmählich eingesehen, wie irrsinnig sie war. Tom war eben stets der Gegenstand des kleinen Lebensrestes meines Vermögens. Vielleicht liebte ich ihn deshalb so sehr, weil ich wußte, wie er zu bedauern sei. Jetzt ist wenig daran gelegen, ausgenommen, es könnte dich gegen seine Verirrungen milder stimmen.«

Ihr Vater schlang den Arm um sie. Sie aber legte die andere Hand auf seine Schulter und fuhr fort, ihm immer fest in das Gesicht sehend:

»Als ich unwiderruflich verheiratet war, erhob sich der alte Kampf in Empörung gegen das Bündnis, jetzt nur noch wilder gemacht durch alle jene Ursachen der Unvereinbarkeit zweier so verschiedener Naturen. Diese Differenz kann durch keine allgemeinen Gesetze für mich reguliert oder beseitigt werden, Vater, bis man dem Anatomiker derlei anzugeben vermag, wo er mit seinem Messer in die Geheimnisse meiner Seele stoßen kann.«

»Luise!« rief er, und rief es flehend; denn er erinnerte sich recht gut, was bei ihrer letzten Zusammenkunft hier vorgegangen war.

»Ich mache dir keine Vorwürfe, Vater, ich beklage mich nicht. Ich bin hier wegen einer andern Sache.«

»Was kann ich tun, mein Kind? Fordere von mir, was du willst.«

»Ich komme jetzt dazu. Vater, der Zufall ließ mich eine neue Bekanntschaft machen. Einen Mann lernte ich kennen, der für mich ganz neu ist und der die Welt kennt; fein, munter, lebhaft und ohne Ansprüche – der den geringen Wert von allen Dingen in einer Weise durchschaut, wie ich es kaum im stillen zu denken wagte. Er überzeugte mich fast im ersten Augenblick, obgleich es mir unbekannt ist, wie, davon, daß er mich verstehe und meine Gedanken lese. Ich konnte nicht finden, daß er schlechter sei als ich. Es schien eine nahe Verwandtschaft zwischen uns zu bestehen. Ich wunderte mich nur, daß er es der Mühe wert hielt – er, der sich um nichts kümmert –, sich ein wenig um mich zu kümmern.«

»Um dich, Luise?«

Ihr Vater hätte seine Last wohl instinktmäßig losgelassen, wenn er ihre Kräfte nicht schwinden gefühlt und ein wildes sich ausdehnendes Feuer in ihren Augen bemerkt hätte, die unverwandt auf ihn gerichtet waren.

»Ich sage nichts zu seiner Entschuldigung, daß er sich um mein Vertrauen bewarb. Es ist wenig daran gelegen, wie er es erlangte. Vater, er hat es erlangt. Was du von der Geschichte meiner Heirat weißt, das wußte er bald ebensogut.

Das Gesicht ihres Vaters war aschgrau, und er hielt sie in seinen beiden Armen.

»Ich habe nichts Schlimmes getan. Ich habe dich nicht entehrt. Wenn du mich aber fragst, ob ich ihn geliebt habe oder jetzt liebe, so muß ich dir einfach sagen, daß es wohl sein kann. Ich weiß es nicht.«

Sie zog ihre Hände rasch von seinen Schultern und preßte sie beide an ihr Herz. In ihrem Gesicht aber, das sich nicht mehr gleichsah, und in ihrer Gestalt, die emporgerichtet und entschlossen dastand, durch eine letzte Anstrengung das, was sie noch mitzuteilen hatte, zu vollenden, brachen die so lange unterdrückten Gefühle los.

»Heute abend war er, während der Abwesenheit meines Mannes, bei mir und erklärte mir seine Liebe. In diesem Augenblick erwartet er mich; denn ich konnte ihn durch kein anderes Mittel entfernen. Ich könnte nicht sagen, daß ich darüber betrübt oder verschämt bin – ich könnte nicht sagen, daß ich in meiner eigenen Achtung gesunken. Alles was ich sagen kann, ist, daß deine ganze Philosophie und all deine Lehren mich nicht retten werden. Nun, Vater, dahin hast du mich gebracht, rette du mich durch ein anderes Mittel.«

Er hielt seine Last noch zur rechten Zeit fest, um ihr Niedersinken zu verhindern. Sie rief jedoch mit fürchterlicher Stimme: »Ich sterbe, wenn du mich hältst! Laß mich zu Boden sinken!« So ließ er sie denn auf den Boden gleiten und sah den Stolz seines Herzens und den Triumph seines Systems wie eine leblose Masse zu seinen Füßen liegen.

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Die Partei der Gradgrinds bedurfte des Beistandes bei der Ermordung der Grazien. Sie gingen auf Rekrutierung aus, und wo konnten sie leichter Rekruten finden, als unter den seinen Gentlemen, die, da sie sich überzeugt, daß alles und jedes nichts wert sei, gleichfalls zu allem bereit sein würden?

Außerdem besaßen diese munteren Geister, die sich zu dieser erhabenen Höhe emporgeschwungen, für gar viele aus der Gradgrindischen Schule zu große Anziehungskraft. Sie waren für die feinen Gentlemen eingenommen; sie behaupteten, daß dies nicht der Fall sei, aber es war doch so. Sie erschöpften sich in Nachahmungen von ihnen; ihnen gleich gackerten sie im Sprechen, und mit einer schlaffen Manier kramten sie die winzigen schimmligen Portionen von Staatsökonomie aus, mit denen sie ihre Jünger erquickten. Eine so wunderbar bastardartige Rasse, wie die auf diese Weise erzeugte, war früher nie auf Erden gesehen worden.

Unter den feinen Gentlemen, die nicht förmlich zu der Gradgrindischen Schule gehörten, befand sich einer aus guter Familie und mit noch besserem Äußern, der einen glücklichen Anstrich von Humor besaß. Dieser Humor bewährte sich großartig im Unterhaus, als er dieses mit seiner Ansicht (und mit der des Direktoren-Ausschusses) über einen Eisenbahnunfall unterhielt, bei dem die umsichtigsten Beamten, die man jemals gekannt, angestellt von den edelsten Vorstehern, von denen man jemals gehört, unterstützt durch die kunstvollsten mechanischen Erfindungen, die je erdacht wurden und zwar auf der besten Bahn, die jemals gebaut worden, durch einen Zufall, ohne den das ganze System durchaus unvollständig gewesen wäre, fünf Personen töten und zweiunddreißig verwunden ließen. Unter den Getöteten befand sich eine Kuh, und unter den zerstreuten Gepäckstücken, die keinen Eigentümer hatten, war die Haube einer Witwe. Das ehrenwerte Mitglied hatte nun besagtes Unterhaus (das einen delikaten Sinn für Humor hat), indem er der Kuh die Haube aufsetzte, so amüsiert, daß er wegen einer ernsthaften Untersuchung des Coroners in Ungeduld geriet und die Eisenbahn unter Beifallsrufen und Gelächter ad acta legte.

Dieser Gentleman hatte nun einen jüngeren Bruder von noch besserem Äußeren als das seine war. Dieser hatte das Leben eines Cornets bei den Dragonern versucht und es langweilig gefunden. Darauf hatte er es in dem Gefolge eines englischen Ministers im Auslande versucht und es auch da langweilig gefunden. Hierauf war er nach Jerusalem getrollt und langweilte sich auch da wieder. Dann war er mit Jachtschiffen in der Welt umhergesegelt und fand sich überall gelangweilt. Zu diesem sagte nun das ehrenwerte und spaßhafte Mitglied eines Tages in brüderlicher Weise: »Jem, unter den Anhängern der trockenen Tatsachen bietet sich gute Aussicht, und sie brauchen Leute. Es wundert mich, daß du nicht unter sie gehst, um ihre Statistik zu studieren.«

Jem, der von der Neuheit der Idee ziemlich eingenommen war und der, weil er gar keine Abwechslung hatte, sich recht unglücklich fühlte, zeigte sich ebenso bereit, auf »Statistik auszugehen« wie auf irgend was anderes. Demnach ging er nun darauf aus.

Er machte sich mit einem oder zwei Blue Books auf die Reise, und sein Bruder sprengte es unter den Anhängern der trockenen Tatsachen aus und sagte: »Wenn ihr für irgendeinen Wahlkreis einen famosen Kerl auftreiben wollt, der euch eine verflucht gute Rede fabrizieren kann, so wendet euch an meinen Bruder Jem; denn er ist der Mann dazu.«

Nachdem man durch Volksversammlungen einigen Lärm geschlagen, erklärten sich Mr. Gradgrind und ein Rat von politischen Weisen für Jem; und es wurde beschlossen, ihn nach Coketown zu senden, damit er dort und in der Nachbarschaft bekannt werde. Daher kam der Brief, den Jem vorigen Abend Mrs. Sparsit gezeigt hatte und den Mr. Bounderby jetzt in der Hand hielt – mit der Überschrift: »An Josiah Bounderby, Esquire. Bankier.

Coketown. Betrifft besonders die Empfehlung von James Harthouse, Esquire. Thomas Gradgrind.«

»Eine Stunde nach dem Empfang dieser Botschaft und einer Karte von Mr. James Harthouse, setzte sich Mr. Bounderby den Hut auf und ging nach dem Hotel. Er fand dort Mr. James Harthouse in einem so trostlosen Gemütszustand zum Fenster hinaussehend, daß dieser schon halb bereit gewesen sein mußte, auf etwas anderes »auszugehen«.

»Mein Name, Sir«, sagte der Besucher, »ist Josiah Bounderby von Coketown.«

Mr. James Harthouse schätzte sich in der Tat sehr glücklich (obwohl er kaum danach aussah), ein Vergnügen zu haben, das er so lange erwartet hatte.

»Coketown, Sir«, sagte Bounderby, sich in seiner unbekümmerten Art einen Stuhl nehmend, »gehört nicht zu den Orten, an die Sie gewöhnt sein dürften. Ich will Ihnen daher, wenn Sie erlauben – oder ob Sie es erlauben oder nicht erlauben, denn ich bin ein Mann ohne Umstände – etwas darüber sagen, ehe wir weiterschreiten.«

Mr. Harthouse war entzückt.

»Seien Sie dessen nicht zu gewiß«, sagte Bounderby, »ich verspreche es Ihnen nicht. Vor allem betrachten Sie unsern Rauch. Der ist Speise und Trank für uns. Er ist das Gesündeste von der Welt in jeder Hinsicht, besonders aber für die Lungen. Wenn Sie zu denen gehören, die verlangen, daß wir ihn beseitigen sollen, so bin ich nicht Ihrer Meinung. Wir werden den Boden unserer Dampfkessel wegen all der Humanitätsduselei in Großbritannien und Irland nicht schneller vernichten, als es jetzt geschieht.«

Er wolle sich gleich völlig in die Arme der Partei werfen, erwiderte Mr. Harthouse. »Mr. Bounderby, ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich ganz und gar Ihrer Ansicht bin. Aus Überzeugung.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Bounderby. »Sie werden ohne Zweifel viel Geschwätz über das Arbeiten in unseren Fabriken gehört haben. Nicht wahr? Nun schön. Ich werde Ihnen das Tatsächliche darüber mitteilen. Es ist die beste Arbeit, die existiert, es ist die leichteste Arbeit, die existiert, und es ist die bestbezahlte Arbeit, die existiert. Was noch mehr ist, wir könnten die Fabriken in keinen bessern Zustand versetzen, es sei denn, daß wir den Fußboden mit türkischen Teppichen belegten. Das können wir aber nicht tun.«

»Sehr richtig, Mr. Bounderby.« »Und nun«, sagte Bounderby, »zu unseren Arbeiten. Es gibt keine ›Hand‹ in unserer Stadt, Sir, sei sie Mann, Weib oder Kind, die nicht einen letzten besonderen Lebenszweck sich setzte. Dieser Lebenszweck ist, Schildkrötensuppe und Wildbret mit goldenen Löffeln essen zu können. Nun werden sie es wohl nie erleben, – keiner von ihnen – daß sie Schildkrötensuppe und Wildbret mit goldenen Löffeln essen. Jetzt kennen Sie den Ort.«

Mr. Harthouse gestand, durch den gedrängt kurzen Auszug der ganzen Coketowner Frage, im höchsten Grade belehrt und erbaut zu sein.

»Nun, sehen Sie«, versetzte Mr. Bounderby, »es ziemt sich für meine Stellung, im vollsten Einverständnis mit einem Manne zu stehen, dessen Bekanntschaft ich mache, besonders, wenn es eine Persönlichkeit ist, die dem öffentlichen Leben angehört. Ich habe Ihnen nur noch eines mitzuteilen, Mr. Harthouse, bevor ich Ihnen die Versicherung gebe, mit welchem Vergnügen ich, unter Anwendung all meiner geringen Fähigkeiten, dem Empfehlungsschreiben meines Freundes Tom Gradgrind nachkommen werde. Sie sind ein Mann aus guter Familie. Lassen Sie sich keinen Augenblick durch den Glauben täuschen, daß ich ein Mann von guter Herkunft sei. Ich bin in der Gasse groß geworden und ein echtes Exemplar vom Janhagel.

Wenn irgend was Jems Interesse für Mr. Bounderby erhöhen konnte, so würde es gerade dieser Umstand gewesen sein. Wenigstens sagte er so.

»Nun denn«, sagte Bounderby, »jetzt können wir, auf gleichem Fuß stehend, uns die Hände schütteln. Ich sage auf gleichem Fuß. Ich weiß zwar, woher ich stamme und kenne genau die Tiefe des Pfuhls, aus dem ich mich emporgeschwungen habe, besser wie jeder andere. Aber darum bin ich doch voll ebensoviel Selbstbewußtsein, wie Sie selbst. Ich bin gerade so stolz wie Sie. Nachdem ich nun meine Unabhängigkeit in gehöriger Weise dargetan, so darf ich wohl zur Frage kommen: Wie befinden Sie sich? Ich hoffe recht wohl.«

»Besser als sonst«, gab ihm Mr. Harthouse zu verstehen, während sie sich die Hände schüttelten, »infolge der gesunden Luft von Coketown.«

Mr. Bounderby nahm die Antwort gnädig auf.

»Vielleicht wissen Sie«, sagte er, »oder vielleicht wissen Sie es nicht, daß ich Tom Gradgrinds Tochter geheiratet habe. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, als mit mir einen Gang zu machen, so würde es mich freuen, Sie Tom Gradgrinds Tochter vorzustellen.«

»Mr. Bounderby«, sagte Jem, »Sie kommen meinen aufrichtigen Wünschen zuvor.«

Sie gingen fort, ohne weiter das Gespräch fortzusetzen, und Mr. Bounderby steuerte mit seiner neuen Bekanntschaft, die gegen ihn so sehr abstach, dem ziegelroten Privatwohnsitz zu mit den schwarzen Außenschaltern, den grünen Läden und der schwarzen Straßentür oberhalb der zwei weißen Stufen. Im Empfangszimmer dieses Herrschafthauses trat ihnen das merkwürdigste Frauengeschöpf entgegen, das Mr. James Harthouse jemals gesehen. Sie erschien so gezwungen und doch so sorglos, so zurückhaltend und doch so aufmerksam – so kalt und stolz und doch so zart verschämt über ihres Manne« großprahlerische Demut – vor der sie zurückbebte, als wäre jede Probe davon ein Stich oder Schlag – daß es für ihn etwas ganz Neues war, sie zu betrachten. Ihr Gesicht war nicht weniger merkwürdig, als ihr Wesen. Ihre Züge waren schön; aber ihr natürliches Spiel war derart unterdrückt und abgeschlossen, daß es unmöglich schien, ihren ursprünglichen Ausdruck zu erraten. Ganz und gar gleichgültig, vollständig selbstsicher, niemals in Verlegenheit und doch niemals behaglich – mit ihrer Gestalt in der Gesellschaft anwesend, mit dem Geist jedoch offenbar abwesend – war es fruchtlos auf das Verständnis dieses Frauengeschöpfes schon jetzt »auszugehen«, denn sie machte allen Scharfsinn zu Schanden.

Von der Herrin des Hauses ließ der Gast den Blick auf das Haus selbst schweifen. Kein stilles Zeichen der Weiblichkeit war in dem Zimmer sichtbar. Keine anmutige kleine Verzierung, kein warmherziges, wenn auch noch so schlichtes, kleines Zeichen, verkündete hier den Einfluß einer Frau. Ohne Heiterkeit und unbehaglich, mit prahlerischem und mürrischem Pomp ausgeschmückt, glotzte das Zimmer, nicht durch die leiseste Spur einer weiblichen Hand gemildert und verschönt, die Anwesenden an. In derselben Weise, wie Mr. Bounderby seinen Standpunkt in der Mitte seiner Hausgötter einnahm, umgaben diese unnachgiebigen Gottheiten mit ihren Stellungen Mr. Bounderby, und sie waren einander würdig und paßten zusammen.

»Das ist«, sagte Bounderby »meine Frau, Mrs. Bounderby, Tom Gradgrinds älteste Tochter. Lu, Mr. James Harthouse. Mr. Harthouse hat sich der Parteifahne deines Vaters zugesellt. Wenn er echt in kurzem Tom Goadgrinds Kollege sein wird, so werden wir, wie ich glaube, von ihm wenigstens in Verbindung mit einer der benachbarten Städte hören. Sie sehen wohl, Mr. Harthouse, daß meine Frau die jüngere von uns beiden ist. Ich weiß nicht, was sie in mir gesehen haben mochte, als sie mich heiratete. Aber sie muß doch, wie ich vermute, etwas in mir gesehen haben, sonst hätte sie mich nicht geheiratet. Sie hat eine Menge Wissenschaften studiert, Sir, sowohl in politischer wie in sonstiger Beziehung. Wenn Sie etwas nachschlagen wollen, so würde ich in Verlegenheit sein, sollte ich Ihnen ein besseres Sachregister empfehlen, als Lu Bounderby ist.«

Einem angenehmeren lebenden Nachschlagewerk, einer Dame, von der man leichter etwas hätte lernen können, konnte Mr. Harthouse gar nicht anvertraut werden.

»Nur zu!« sagte Mr. Bounderby, »wenn Sie sich aufs Komplimentemachen verlegen, so werden Sie hier gut ankommen, denn Sie stoßen auf keine Konkurrenz. Es war nie meine Gewohnheit Komplimente zu studieren und ich verstehe auch nicht die Kunst, welche zu machen. Es ist Tatsache, daß ich sie verachte. Aber Ihre Erziehung war verschieden von der meinen – ich bin, weiß der Himmel, durch das Leben erzogen worden. Sie sind ein Gentleman, und ich behaupte nicht, ein solcher zu sein. Ich bin Josiah Bounderby von Coketown und das genügt mir. Obwohl ich mich zwar von Stand und Sitten nicht beeinflussen lasse, so mag das doch der Fall bei Lu Bounderby sein. Sie hatte nicht dieselben Vorteile wie ich – Sie werden es Nachteile nennen, ich aber nenne es Vorteile – Sie werden daher, wenn ich so sagen darf, Ihre Kräfte nicht verschwenden.«

»Mr. Bounderby«, sagte Jem, sich lächelnd an Luise wendend, »ist ein edles Roß, sozusagen in Naturzustand und ganz frei von dem Geschirr, in dem ich als konventioneller Gaul mich abarbeiten muß.«

»Sie hegen viel Achtung vor Mr. Bounderby«, erwiderte sie ruhig. »Es ist natürlich, daß Sie es tun.«

Als ein Gentleman, der so vieles in der Welt gesehen hatte, war er schmählich aus dem Sattel geschleudert und dachte: »Nun, wie soll ich das eigentlich nehmen?«

»Sie wollen sich dem Dienste Ihres Vaterlandes widmen, wie ich aus dem folgere, was Mr. Bounderby mir mitgeteilt hat. Sie haben sich entschlossen«, sagte Luise, die sich noch immer auf derselben Stelle befand, wo sie zuerst vor ihm stehen geblieben war – mit all dem sonderbaren Widerspruch ihrer Selbstbeherrschung und ihres offenbar unbehaglichen Zustandes – »der Nation einen Ausweg aus allen ihren Schwierigkeiten zu zeigen?«

»Mrs. Bounderby«, versetzte er lachend, »das denn doch nicht, bei meiner Ehre. Ich will Ihnen gegenüber nicht darauf Anspruch machen. Ich habe hier und da, dies- und jenseits etwas gesehen und ich habe gefunden, daß alles wertlos ist, wie jeder es gefunden, und wie manche es gestehen und andere es wieder nicht gestehen. Ich stehe ein für die Ansichten Ihres geschätzten Vaters – weil ich in der Tat keine andere Wahl habe und möchte sie, wie sonst irgend was, unterstützen.«

»Haben Sie denn keine eigene Meinung?« fragte Luise.

»Mir ist nicht einmal die leiseste Vorliebe übrig geblieben. Ich versichere Sie, daß ich keiner Ansicht, welche es auch je sein mag, die geringste Bedeutung beimesse. Das Ergebnis der verschiedenen langweiligen Lebensetappen, die ich durchlitten, ist die Überzeugung (es sei denn, daß das Wort Überzeugung zu bedeutend ist für das träge Gefühl, das ich für diesen Gegenstand empfinde), daß die eine Reihe von Ansichten gerade soviel Nutzen bringen wird, wie eine andere Reihe von Ansichten und just ebensoviel Nachteil, wie jede andere Reihe. Es gibt eine englische Familie mit einem ausgezeichneten italienischen Sinnspruch: ›Was sein wird, da wird sein!‹ Das ist die einzige gangbare Wahrheit.«

Dieses lasterhafte Bekenntnis seiner Ehrlichkeit in der Unehrlichkeit – ein Laster, das so gefährlich, so tödlich und so allgemein ist – schien, wie er bemerkte, einigermaßen einen günstigen Eindruck bei ihr hervorzubringen. Er verfolgte seinen Vorteil, indem er in der angenehmsten Weise, die ihm zur Verfügung stand, und der sie viel oder wenig Wert beilegen mochte, wie ihr beliebte, noch hinzufügte: »die Partei, die alles mit einem Schlage von Einheiten, Zehnern, Hunderten und Tausenden beweisen kann, diese scheint mir, Mrs. Bounderby, den meisten Spaß zu machen. Bei ihr dürfte man am ehesten sein Glück machen. Ich fühle mich so anhänglich an diese Partei, als ob ich an sie glaubte. Ich bin ganz bereit, für diese einzustehen, in demselben Umfange, als wenn ich an sie glaubte. Und was könnte ich möglicherweise denn mehr tun, wenn ich wirklich an sie glaubte?«

»Sie sind ein sonderbarer Politiker«, sagte Luise.

»Bitte um Verzeihung! Ich habe nicht einmal dieses Verdienst. Wir bilden, ich versichere Sie, Mrs. Bounderby, die größte Partei im Staate, sobald wir nur alle aus dem adoptierten Stande hervortreten und ohne Unterschied der äußeren Stellung geprüft und gemustert würden.«

Mr. Bounderby, der in Gefahr gewesen war vor Stillschweigen zu bersten, fiel hier mit dem Vorschlage ein, das Familiendiner auf halb sieben zu verschieben und mit Mr. James Harthouse in der Zwischenzeit eine Reihe von Besuchen bei den politischen und einflußreichen Persönlichkeiten von Coketown und Umgegend zu machen. Die Reihe von Besuchen ward erledigt; und Mr. James Harthouse kam vermittels eines bescheidenen Gebrauches der Studien, die er in den amtlichen Protokollen gemacht hatte, glücklich durch, mit Triumph, wenn auch mit einem starken Anflug von Langeweile.

Abends fand er den Mittagstisch für vier gedeckt, sie setzten sich aber nur zu drei an den Tisch. Das war eine passende Gelegenheit für Mr. Bounderby, um den Geschmack der geschmorten Aale zu besprechen, die er als achtjähriger Knabe in der Straße um einen halben Penny gekauft, und ebenso den des schlechten Wassers, das eigentlich zum Staublöschen verwendet wird, womit er die Mahlzeit hinuntergeschwemmt. Er unterhielt seinen Gast gleichfalls, während man Suppe und Fische genoß, mit der Berechnung, daß er (Bounderby) in seiner Jugend mindestens drei Pferde in der Gestalt von Fleisch und Blutwürsten gegessen.

Diese Erzählungen nahm Jem hier und da mit einem matten »Was Sie nicht sagen!« entgegen; und sie würden ihn wahrscheinlich zum Entschluß gebracht haben, den folgenden Morgen sich wieder nach Jerusalem aufzumachen, wenn er nicht um Luises willen so neugierig gewesen wäre.

»Gibt es denn nichts«, dachte er, indem er einen flüchtigen Blick auf sie warf, wie sie an der Spitze des Tisches so dasaß, wo ihre jugendliche Gestalt, die klein und schmächtig, aber äußerst anmutig war, ebenso hübsch sich ausnahm, als sie nicht am rechten Platz war, »gibt es denn nichts, das in dieses Gesicht Bewegung bringen könnte?«

Ja! Beim Jupiter, es gab so etwas, und hier stand es in unerwarteter Gestalt. Tom erschien. Sie veränderte sich, als die Tür aufging, und ließ ein strahlendes Lächeln sehen.

Ein schönes Lächeln. Mr. James Harthouse würde nicht so viel Wesens davon gemacht haben, wenn er sich nicht so sehr über ihr starres Gesicht gewundert hätte. Sie streckte ihre Hand aus – ein hübsches, zartes Händchen – und ihre Finger umschlossen die ihres Bruders, als wollte sie diese an ihre Lippen führen.

»Ei, ei«, dachte der Gast, »dieser Bengel ist das einzige Geschöpf, an dem ihr was gelegen ist. So, so!«

Der Bengel ward vorgestellt und nahm seinen Sitz ein. Die Benennung war nicht schmeichelhaft, aber nicht unverdient.

»Als ich in deinem Alter war, junger Mann«, sagte Bounderby, »war ich pünktlich, sonst bekam ich nichts zu essen.«

»Als Sie in meinem Alter waren«, versetzte Tom, »hatten Sie keine falsche Bilanz in Ordnung zu bringen und sich dann für das Diner anzuziehen.« »Sprechen wir denn von etwas anderm«, sagte Bounderby.

»Schön«, murrte Tom. »So fangen Sie nicht an.«

»Mrs. Bounderby«, sagte Harthouse, der den dumpfen Ton gleich ganz richtig auffaßte, wie er sich hören ließ, »das Gesicht Ihres Bruders ist mir wohlbekannt. Kann ich ihn im Ausland gesehen haben? Oder in irgendeiner öffentlichen Schule?«

»Nein«, antwortete sie mit vielem Interesse, »er ist noch nie im Ausland gewesen und ist hier zu Hause erzogen worden. Tom, Lieber, ich sage eben Mr. Harthouse, daß er dich nie im Ausland gesehen haben kann.«

»Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen, Sir«, sagte Tom.

Tom hatte wahrlich wenig Anziehendes an sich, um ihr Gesicht aufzuheitern. Er war ein mürrischer Junge und in seinem Benehmen selbst gegen sie unfreundlich, um so größer muß die Einsamkeit ihres Herzens und ihr Bedürfnis, es auf jemanden zu richten, gewesen sein.

»Um so vielmehr ist dieser Bengel das einzige Geschöpf, an dem ihr je was gelegen war«, dachte Mr. James Harthouse hin und her überlegend, »Um so vielmehr. Um so vielmehr!«

Der Bengel gab sich keine Mühe, gegen Mr. Bounderby sowohl in der Gegenwart seiner Schwester, als auch nachdem sie das Zimmer verlassen, seine Verachtung zu verbergen. So oft er Gelegenheit fand, schnitt er unbemerkt von diesem unabhängigen Mann saure Gesichter oder zwinkerte mit dem Auge.

Ohne auf diese telegraphischen Mitteilungen einzugehen, ermutigte ihn Mr. Harthouse im Verlaufe des Abends und offenbarte eine ungewöhnliche Vorliebe für ihn. Als er sich endlich erhob, um sich nach seinem Hotel zu begeben und einigen Zweifel ausdrückte, ob er des Nachts den Weg finden werde, bot der Bengel augenblicklich seine Dienste als Führer an und ging mit ihm fort, um ihn dahin zu begleiten.

Neunzehntes Kapitel.


Neunzehntes Kapitel.

Es war sehr merkwürdig, daß ein junger Mann, der nach einem konsequenten System unnatürlichen Zwanges erzogen worden, ein Heuchler geworden sein sollte; und doch war das unzweifelhaft bei Tom der Fall. Es war höchst sonderbar, daß ein junger Mann, der sich seiner eigenen Leitung nie auf fünf Minuten hintereinander überlassen war, unfähig sein sollte, sich selbst zu beherrschen. Aber so erging es Tom. Es war ganz und gar unerklärbar, daß ein junger Mann, dessen Phantasie schon in der Wiege erdrosselt worden, dennoch von ihrem Gespenste in der Form grob sinnlicher Leidenschaften heimgesucht werden sollte; aber ein solcher Mensch war ohne Zweifel Tom.

»Rauchen Sie?« fragte Mr. James Harthouse, als sie nach dem Hotel kamen.

»Das will ich meinen!« sagte Tom.

Er konnte nichts weniger tun, als Tom zu sich einladen, und Tom konnte nichts weniger tun, als diese Einladung annehmen. Teils durch ein kühles Getränk, das der Witterung angemessen aber nicht so schwach wie kühl war, und teils durch einen selteneren Tabak, als er in jenem Orte zu haben war, befand sich Tom bald in einem höchst freien und behaglichen Zustand an dem einen Ende des Sofas, und mehr als je geneigt, seinen neuen Freund am andern Ende zu bewundern.

Tom blies, nachdem er eine kleine Weile geraucht hatte, den Rauch beiseite und unterwarf seinen Freund einer genaueren Betrachtung. »Er scheint sich um seine Toilette nicht zu kümmern«, dachte Tom, »und doch, wie famos hat er sie aufgemacht. Was für ein eleganter Knabe er ist!«

Mr. James Harthouse, der Toms Blick zufällig auffing, bemerkte, daß er gar nichts trinke und füllte dessen Glas mit seiner eigenen lässigen Hand.

»Danke«, sagte Tom, »danke. Nun, ich hoffe, Mr. Harthouse, Sie haben heute Abend eine gehörige Dosis vom alten Bounderby genossen.« Tom sagte das, indem er ein Auge wieder schloß, und warf einen schlauen Blick über sein Glas nach seinem Gesellschafter.

»Ein sehr tüchtiger Mann, wahrhaftig«, versetzte Mr. Harthouse.

»Das ist Ihre Meinung, nicht wahr?« fragte Tom und kniff wieder das Auge zusammen.

Mr. James Harthouse lächelte. Er lehnte sich an das Kamingesims, rauchte und stand vor dem leeren Feuerplatze Tom gegenüber, so daß er auf diesen herabblickte. Dann bemerkte er: »Was für ein komischer Schwager Sie sind!«

»Ich glaube. Sie meinen wohl, was für ein komischer Schwager der alte Bounderby ist!«

»Sie sind boshaft, Tom«, warf Mr. James Harthouse ein.

Es lag so etwas Angenehmes darin, mit einer solchen Weste so intim zu sein, von einer solchen Stimme Tom genannt zu werden – und mit einem solchen Schnurrbart in so kurzer Zeit auf einem so vertrauten Fuße zu stehen, daß Tom mit sich selbst sehr zufrieden war.

»Oh, kümmern Sie sich nicht um die Bezeichnung des alten Bounderby«, sagte er, »wenn Sie das meinen. Ich habe ihn immer den alten Bounderby genannt, wenn ich von ihm sprach oder an ihn dachte. Ich werde jetzt des alten Bounderby wegen nicht anfangen, höflich zu werden. Das wäre etwas zu spät am Tage.«

»An mich brauchen Sie sich nicht zu kehren«, entgegnete James, »aber Sie sollen sich in Gegenwart seiner Frau in acht nehmen.«

»Seiner Frau?« rief Tom. »Meiner Schwester Lu? O, freilich!« Er lachte und nahm einen Schluck von dem kühlenden Getränk.

James Harthouse verharrte weiter in derselben lässigen Stellung auf dem gleichen Platze, rauchte die Zigarre in seiner eigenen leichten Manier und sah den Bengel vergnügt an, als ob er sich als eine Art angenehmen Dämon betrachtete, der nur über ihn zu schweben brauche, um ihm nötigenfalls seine ganze Seele aufzureißen. Es schien wirklich, als ob sich der Bengel seinem Einfluß füge. Er betrachtete seinen Gesellschafter schlau, er betrachtete ihn verwundernd, er betrachtete ihn dreist und legte ein Bein auf da« Sofa.

»Meine Schwester Lu?« sagte Tom. »Sie kümmerte sich nie um den alten Bounderby.«

»Das ist die vergangene Zeit, Tom«, versetzte Mr. James Harthouse, indem er die Asche der Zigarre mit dem kleinen Finger abstreifte. »Jetzt befinden wir uns aber in der gegenwärtigen Zeit.«

»Rückbezügliches Zeitwort: sich nicht kümmern. Anzeigende Art: Präsens. Erste Person, Singular: Ich kümmere mich nicht. Zweite Person, Singular: Du kümmerst dich nicht. Dritte Person, Singular: Sie kümmert sich nicht«, erwiderte Tom.

»Gut. Sehr geistreich«, sagte sein Freund, »obgleich Sie nicht dieser Meinung sind.«

»Aber es ist meine Meinung«, rief Tom. Bei meiner Ehre! Wie, Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Sie wirklich annehmen, meine Schwester Lu kümmere sich um den alten Bounderby?«

»Lieber Junge«, versetzte der andere, »was soll ich denn denken, wenn ich sehe, daß ein Ehepaar in Glück und Frieden zusammen lebt?«

Tom hatte mittlerweile beide Beine auf das Sofa gelegt. Wenn sein zweites Bein sich nicht schon daselbst befunden hätte, als er »lieber Junge« genannt worden, so würde er es bei diesem erhebenden Abschnitt de« Gespräches emporgezogen haben. Da er jedoch alsdann fühlte, daß er etwas tun müsse, streckte er sich noch besser aus, und während er sich mit der Rückseite des Kopfes an das Ende des Sofas lehnte und eine unendlich lässige Manier im Rauchen annahm, wandte er sich mit seinem gemeinen Gesicht und seinen nicht zu nüchternen Augen gegen das Gesicht, das auf ihn so nachlässig und doch so mächtig herabblickte.

»Sie kennen unsern alten Herrn, Mr. Harthouse«, sagte Tom, »und brauchen daher nicht überrascht zu sein, daß Lu den alten Bounderby geheiratet. Sie hatte nie einen Liebhaber, und unser alter Herr schlug den alten Bounderby vor, und sie nahm ihn.«

»Das ist außerordentlich gehorsam von Ihrer interessanten Schwester«, sagte Mr. James Harthouse.

»Ja, aber sie würde nicht so gehorsam gewesen sein und die Sache wäre nicht so leicht zustande gekommen«, versetzte der Bengel, »wenn es nicht meinetwegen geschehen wäre.«

Der Besucher zog bloß seine Augenbrauen in die Höhe; aber der Bengel sah sich genötigt fortzufahren.

»Ich beredete sie«, sagte er mit einer erbaulichen Überlegenheitsmiene. »Ich ward in die Bank des alten Bounderby gepflanzt (wo ich nie sein mochte), und ich wußte, daß ich daselbst in die Klemme geraten würde, wenn sie dem alten Bounderby einen Korb gäbe. Ich teilte ihr daher meine Wünsche mit und sie erfüllte sie. Sie würde alles mögliche für mich tun. Das war sehr spaßhaft von ihr, nicht wahr?«

»Es war charmant, Tom.«

»Nicht, daß es ganz und gar so wichtig für sie war, als für mich«, fuhr Tom gleichmütig fort, »denn meine Freiheit und meine Behaglichkeit und vielleicht gar mein Weiterkommen hingen davon ab, und sie hatte keinen Liebhaber. Zu Hause bleiben war wie im Gefängnis sein – besonders wenn ich fort war. Es war nicht dies, daß sie einen andern Liebhaber für den alten Bounderby aufgab. Es war aber immerhin hübsch von ihr.«

»Ganz herrlich. Und sie erträgt es so gelassen.«

»Oh«, versetzte Tom mit verächtlicher Schutzherrnmiene. »Sie ist ein richtiges Mädel. So ein Mädel kann überall fortkommen. Sie hat sich fürs Leben gebunden und ihr ist’s einerlei. Dieses Leben behagt ihr ebensogut wie jedes andere. Außerdem, obwohl Lu ein Mädel ist, so ist sie doch kein gewöhnliches Mädel. Sie kann sich in sich selbst verschließen und nachdenken – wie ich sie oft sitzen und das Feuer betrachten sah – eine volle Stunde.«

»Wirklich, wirklich? Sie findet Trost und Stärkung bei sich selber?« fragte Mr. Harthouse, ruhig fortrauchend.

»Nicht so viel wie Sie vermuten mögen«, entgegnete Tom, »denn unser alter Herr hat sie mit allerhand dürren Knochen und Sägespänen vollgepfropft. Da« ist so sein System.«

»Formte seine Tochter nach seinem eigenen Modell?« erläuterte Harthouse.

»Seine Tochter? Ach, und alle Welt sonst. Nun, er modellierte auch mich auf diese Weise«, sagte Tom.

»Unmöglich!«

»Doch, er tat es«, sagte Tom, kopfschüttelnd. »Glauben Sie mir, daß, als ich zuerst das väterliche Haus verließ und zu dem alten Bounderby kam, war ich so flach wie eine Bettflasche und wußte nicht mehr als eine Auster vom Leben.«

»Gehen Sie, Tom. Das kann ich gar nicht glauben. Sie scherzen.«

»Bei meiner Seele«, sagte der Bengel. »Ich rede ernsthaft, wirklich ernsthaft.« Er rauchte eine Weile mit großer Würde und Gelassenheit. Dann fügte er in äußerst gefälligem Ton hinzu: »aber ich habe seitdem was gelernt. Das bestreite ich nicht. Doch ich tat es allein und habe dem Herrn Papa nichts dafür zu danken.«

»Und Ihre intelligente Schwester?«

»Meine intelligente Schwester ist ungefähr noch auf demselben Standpunkt, wo sie früher stand. Sie pflegte sich zu beklagen, daß ihr dergleichen Vergnügungen mangeln, wie Mädchen sie gewöhnlich haben, und ich weiß wirklich nicht, wie sie darüber hinauskommen konnte. Aber ihr ists einerlei«, fügte er scharfsinnig hinzu, die Zigarre abklopfend. »Mädchen können überall auf irgendeine Weise ausdauern.«

»Als ich gestern abend in der Bank nach Mr. Bounderbys Adresse fragte, fand ich daselbst eine altmodische Dame, die viel Bewunderung für Ihre Schwester zu hegen scheint«, bemerkte Mr. James Harthouse und warf den letzten Rest der Zigarre fort, die er jetzt aufgeraucht hatte.

»Mutter Sparsit?« fragte Tom. »Was! Sie haben sie also schon gesehen?«

Sein Freund nickte bejahend. Tom nahm die Zigarre aus dem Mund, um das Auge (das ganz unlenksam geworden war) mit mehr Ausdruck zusammenzukneifen und mit dem Finger mehrere Male hintereinander sich auf die Nase klopfen zu können.

»Mutter Sparsit Gefühl für Lu ist, ich sollte meinen, mehr als Bewunderung«, sagte Tom. »Sagen Sie lieber Wohlwollen und Ergebung. Mutter Sparsit hatte nie nach Bounderby geangelt, als er noch Junggeselle war. Oh, nein!«

Die letzten Worte wurden von dem Bengel ausgesprochen, ehe ihn noch eine schwindlige Schläfrigkeit überfiel, der vollständige Vergessenheit nachfolgte. Aus diesem Zustand ward er durch den unangenehmen Traum geweckt, vermittels eines Stiefels aufgeschreckt zu werden, während eine Stimme rief: »Auf! Es ist spät! Wir müssen fort!«

»Gut«, sagte er, indem er von dem Sofa herunterkrabbelte. »Ich muß doch Abschied von Ihnen nehmen. Ich glaube wohl. Ihr Tabak ist sehr gut. Nur zu schwach ist er.«

»Ja, er ist zu schwach«, versetzte sein Gesellschafter.

»Er ist – ist lächerlich schwach«, sagte Tom. »Wo ist die Tür? Gute Nacht!«

Er hatte einen zweiten seltsamen Traum, von einem Kellner durch einen Nebel geführt zu werden, der, nachdem er ihm Mühe und Schwierigkeit in den Weg gelegt, sich in die Hauptstraße verwandelte, in der er jetzt allein stand. Er ging dann ziemlich leicht nach Hause, obwohl nicht ganz frei von dem Eindruck der Gegenwart und dem Einflüsse seines neuen Freundes – als ob er noch in derselben nachlässigen Stellung irgendwo in der Luft lehnte, ihn mit demselben Blick betrachtend.

Der Bengel ging nach Hause und legte sich schlafen. Wenn er irgendein Gefühl davon gehabt hätte, was er in jener Nacht angerichtet, und weniger Bengel und mehr Bruder gewesen wäre, so würde er sich plötzlich auf der Straße umgewandt haben, wäre zu dem übelriechenden Flusse, der schwarz gefärbt war, hinabgegangen, hätte sich daselbst für immer schlafen gelegt, und hätte sich den Kopf für alle Zeiten mit des Flusses schmutzigen Wellen bedeckt.