Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

In dem ein getreues Porträt von zwei ausgezeichneten Personen vorkommt; genaue Beschreibung eines öffentlichen Frühstücks in ihrem Hause und auf ihrem Grund und Boden; gleichzeitig Erneuerung einer alten Bekanntschaft, die zur Eröffnung eines neuen Kapitels führt.

Herrn Pickwicks Gewissen machte seinem Eigentümer mitunter Vorwürfe, daß er neuerdings seine Freunde im Pfauen vernachlässige. Am dritten Morgen nach der Wahl war er eben im Begriff, sie aufzusuchen, als ihm sein getreuer Diener eine Karte überbrachte, worauf zu lesen stand:

Mrs. Leo Hunter. Den. Eatanswill.

»Es wartet jemand«, sagte Sam lakonisch.

»Will mich jemand sprechen, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Er will durchaus Sie und begnügt sich mit keinem andern, wie des Teufels Privatsekretär sagte, als er den Doktor Faust holte«, war Herrn Wellers Antwort.

» Er? Ist’s ein Herr?« fragte Herr Pickwick.

»Er sieht wenigstens so aus, wenn er es auch nicht ist«, versetzte Herr Weller.

»Aber die Karte ist ja von einer Dame«, sagte Herr Pickwick.

»Und mir doch von einem Herrn gegeben«, bemerkte Sam; »er erwartet Sie im Salon und sagt, er wolle lieber den ganzen Tag warten, als Sie nicht sehen.«

Als Herr Pickwick diesen Entschluß hörte, begab er sich ins Besuchszimmer, wo ein würdevoll aussehender Mann saß, der bei seinem Eintritt aufstand und mit einer Miene tiefen Respekts sagte.

»Habe ich die Ehre mit Herrn Pickwick?«

»Bitte, hier steht er.«

»Gestatten Sie mir den Vorzug, mein Herr, Ihre Hand zu ergreifen – erlauben Sie mir, mein Herr, sie zu schütteln«, sagte der würdevoll aussehende Mann.

»Aber bitte«, entgegnete Herr Pickwick.

Der Fremde schüttelte die dargebotene Hand und fuhr dann fort:

»Wir haben von Ihrem Rufe gehört, mein Herr. Das Gerücht von Ihren antiquarischen Untersuchungen ist bis zu den Ohren der Madame Leo Hunter gedrungen – das heißt, meiner Frau, Sir – ich bin Leo Hunter.«

Der Fremde schwieg, als erwarte er, Herr Pickwick werde über diese Offenbarung entzückt sein; als er aber sah, daß dieser vollkommen ruhig blieb, fuhr er fort:

»Meine Frau, Sir – Madame Leo Hunter – setzt ihren Stolz darein, alle Personen, die durch ihre Werke und Talente berühmt geworden sind, unter die Zahl ihrer Bekannten zu rechnen. Erlauben Sie mir, mein Herr, den Namen Herrn Pickwicks und der übrigen Mitglieder des Klubs, der Ihnen seinen Namen verdankt, obenan auf die Liste zu setzen.«

»Ich werde mich außerordentlich glücklich schätzen, die Bekanntschaft einer solchen Dame zu machen, Sir«, versetzte Herr Pickwick.

»Sie sollen sie machen, Sir«, sagte der würdevoll aussehende Mann. »Morgen früh geben wir einer großen Anzahl von Personen, die sich durch ihre Werke und Talente berühmt gemacht haben, ein öffentliches Frühstück – eine fête champêtre. Madame Leo Hunter läßt Sie bitten, Sir, Sie morgen mit einem Besuch in Den zu beehren.«

»Mit großem Vergnügen«, versetzte Herr Pickwick.

»Madame Leo Hunter gibt oft solches Frühstück, mein Herr«, fuhr Pickwicks neuer Bekannter fort – »›Feste der Vernunft und Gastmähler der Seele‹, wie sich jemand in einem Sonett auf Madame Leo Hunters Frühstück mit ebensoviel Gefühl wie Originalität ausdrückte.«

»War er auch durch seine Werke und Talente berühmt?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, er war es, mein Herr«, versetzte der würdevoll aussehende Mann; »sämtliche Bekannte der Madame Leo Hunter sind berühmt; sie hält viel darauf, keine andere Bekanntschaften zu haben.«

»Ein sehr edler Ehrgeiz«, bemerkte Herr Pickwick.

»Wenn ich es der Madame Leo Hunter mitteile, daß diese Bemerkung von Ihren Lippen kam, so wird sie gewiß stolz darauf sein«, sagte der würdevoll aussehende Mann. »Sie haben einen Herrn in Ihrem Gefolge, der schon einige hübsche Gedichtchen gemacht hat, glaube ich, mein Herr?«

»Mein Freund Snodgraß hat viel Sinn für die Dichtkunst«, antwortete Herr Pickwick.

»Auch Madame Leo Hunter, mein Herr. Dichtkunst ist ihr das Höchste, Sir. Sie betet sie an; ich darf sagen, ihre ganze Seele ist davon durchflochten. Sie hat auch selbst einige herrliche Stücke gemacht, Sir. Vielleicht haben Sie schon von ihrer Ode an einen sterbenden Frosch gehört?«

»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sie setzen mich in Erstaunen, Sir«, sagte Herr Leo Hunter. »Die Ode machte ungeheure« Aufsehen. Sie war mit einem L. und acht Sternchen unterzeichnet und erschien ursprünglich in einem Damenmagazin. Der Anfang lautet:

»Kann ich ohne inn’res Leiden
Seh’n dich unter Grausamkeiten
Elend, jämmerlich verscheiden?
Nein, ich wein‘,
Sterbend Fröschlein!«

»Hübsch«, bemerkte Herr Pickwick.

»Schön«, sagte Herr Leo Hunter: »so schlicht.«

»Sehr«, bemerkte Herr Pickwick.

»Der nächste Vers ist noch rührender; wollen Sie ihn hören?«

»Wenn es Ihnen recht ist«, versetzte Herr Pickwick.

»Er lautet also«, sagte der Würdevolle immer würdevoller:

»Sprich, ob ruchlos wilde Knaben
Schreiend dich aus deinem Graben
Mit dem Hund vertrieben haben?
Pein, o Pein,
Sterbend Fröschlein!«

»Schön gesagt«, bemerkte Herr Pickwick.

»Jedes Wort, mein Herr, jedes Wort«, sagte Herr Leo Hunter. »Aber Sie sollten die Verse aus dem Munde der Madame Leo Hunter selbst hören. Sie kann ihnen erst den rechten Ausdruck geben, mein Herr. Sie wird sie morgen früh stilvoll deklamieren.«

»Im Charakter?«

»Als Minerva. Ach, ich vergaß es – man erscheint in Charaktermasken.«

»O Himmel«, sagte Herr Pickwick mit einem Blick auf sein Äußeres – »unmöglich.«

»Unmöglich? Nicht doch, mein Herr; es läßt sich ganz leicht machen«, rief Herr Leo Hunter. »Der Jude Salomo Lucas in der Hohen Straße hat Tausende von Maskenanzügen. Bedenken Sie, wie viele geeignete Charaktere Ihnen zur Auswahl gegeben sind. Plato, Zeno, Epikur, Pythagoras – lauter Stifter von Klubs.«

»Ich weiß das«, sagte Herr Pickwick, »aber da ich mich diesen großen Männern nicht an die Seite stellen kann, so darf ich mir auch nicht herausnehmen, in ihrer Tracht zu erscheinen.«

Der Würdevolle überlegte lange und tief; endlich sagte er:

»Wenn ich recht überlege, mein Herr, so weiß ich nicht, ob es Madame Leo Hunter nicht vielleicht größeres Vergnügen bereiten würde, wenn ihre Gäste einen Mann von Ihrer Berühmtheit lieber in seinem eigenen Kostüm als in einem angenommenen zu sehen bekäme. Ich erlaube mir, in Ihrem Falle eine Ausnahme zu gestatten, Sir – ja, und was Madame Leo Hunter betrifft, so bin ich überzeugt, daß sie mir diesen Schritt nicht verübeln wird.«

»Wenn das der Fall ist«, erwiderte Herr Pickwick, »werde ich mit Vergnügen erscheinen.«

»Doch ich nehme Ihnen Ihre Zeit, mein Herr«, sagte der Würdevolle, als fiele ihm das plötzlich ein. »Ich kenne den Wert der Zeit, Sir. Ich will Sie nicht abhalten. Ich werde also der Madame Leo Hunter sagen, daß sie Sie und Ihre vortrefflichen Freunde zuversichtlich erwarten dürfe? Guten Morgen, Sir; ich bin stolz darauf, einen so ausgezeichneten Mann kennengelernt zu haben – keinen Schritt, mein Herr; kein Wort.«

Und ohne Herrn Pickwick Zeit zu Vorstellungen und Einwendungen zu lassen, schritt Herr Leo Hunter würdevoll zur Tür hinaus.

Herr Pickwick setzte seinen Hut auf und begab sich in den Pfauen: aber Herr Winkle hatte bereit« die Kunde von dem morgigen Maskenball dorthin gebracht.

»Madame Pott kommt auch«, waren die ersten Worte, womit er seinen Lehrer begrüßte.

»Wirklich?« versetzte Herr Pickwick.

»Als Apollo«, bemerkte Herr Winkle. »Nur hat Pott etwas gegen die Tunika einzuwenden.«

»Er hat recht. Er hat ganz recht«, sagte Herr Pickwick mit Nachdruck.

»Ja; – deshalb wird sie in einem weißen Atlaskleid mit goldenem Flitterwerk erscheinen.«

»Wird man dann aber auch wissen, was sie vorstellt: wird man das?« fragte Herr Snodgraß.

»Natürlich«, versetzte Herr Winkle unwillig, »Man sieht ja ihre Leier, nicht wahr?«

»Wahrhaftig, daran dachte ich nicht«, sagte Herr Snodgraß.

»Ich werde als Bandit auftreten«, fiel Herr Tupman dazwischen.

»Was!« rief Herr Pickwick, plötzlich zurückbebend.

»Als Bandit«, wiederholte Herr Tupman mit sanfter Stimme.

»Sie wollen damit doch nicht sagen«, versetzte Herr Pickwick mit einem strengen Blick auf seinen Freund, »Sie wollen damit doch nicht sagen, Herr Tupman, daß Sie im Sinne haben, in einer grünen Samtjacke mit einem Zweizollschwanze aufzutreten?«

»Ich habe es im Sinne, Sir«, erwiderte Herr Tupman warm. »Und warum sollte ich nicht, Sir?«

»Aus dem einfachen Grunde, Sir«, antwortete Herr Pickwick, ordentlich gereizt – »weil Sie zu alt dazu sind.«

»Zu alt?« rief Tupman.

»Und wenn es noch eines weiteren Grundes bedarf, der es verbietet«, fuhr Herr Pickwick fort: »Sie sind zu dick, Sir.«

»Mein Herr«, sagte Herr Tupman mit puterrotem Gesicht, »das ist eine Beleidigung.«

»Mein Herr«, versetzte Herr Pickwick in demselben Tone, »ich beleidige Sie dadurch nicht halb so sehr, wie Sie mich beleidigen würden, wenn Sie in meiner Gegenwart mit einer grünen Jacke und einem Zweizollschwanze erschienen.«

»Sie sind ja ein netter Bursche, Sir«, sagte Herr Tupman.

»Der Titel kommt Ihnen zu!« entgegnete Herr Pickwick.

Herr Tupman trat einen oder zwei Schritte vorwärts und sah Herrn Pickwick mit wildem Blick an. Herr Pickwick erwiderte ihn und verstärkte ihn sogar noch mit seinen beiden Brillengläsern in einen Brennpunkt. Seine Züge sprachen eine kühne Herausforderung aus. Herr Snodgraß und Herr Winkle sahen versteinert einem solchen Auftritt zwischen zwei solchen Männern zu.

»Mein Herr«, sagte Tupman nach einer kurzen Pause in einem dumpfen, tiefen Tone«, »Sie mich alt genannt.«

»Das habe ich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Und dick.«

»Ich wiederhole das.«

»Und einen netten Burschen.«

»Der sind Sie.«

Es trat eine fürchterliche Pause ein.

»Meine Anhänglichkeit an Ihre Person, mein Herr«, sagte Herr Tupman mit einer Stimme, die von innerer Bewegung zitterte, während er zugleich seine Manschetten zurückschlug, »ist groß – sehr groß – aber an dieser Person muß ich augenblicklich Rache nehmen.«

»Nur zu, mein Herr«, erwiderte Herr Pickwick.

Durch den aufregenden Ton des Gesprächs gereizt, nahm der heroische Mann jetzt eine gebrochen-duldende Stellung an, die seine beiden Gefährten als eine Defensive ansahen.

»Was?« rief Snodgraß, plötzlich der Sprache, deren ihn sein grenzenloses Nerblüfftsein bis jetzt beraubt hatte, wieder mächtig werdend und trat, auf die Gefahr hin, von beiden Parteien Ohrfeigen zu bekommen, zwischen die Streitenden. »Was? Herr Pickwick, auf den die Augen der Welt gerichtet sind? Herr Tupman, auf den, wie auf uns alle, der Glanz seines unsterblichen Namens einen Widerschein warf? Schämen Sie sich, meine Herren; schämen Sie sich!«

Die ungewohnten Furchen, die die augenblickliche Leidenschaft auf Herrn Pickwicks klare und offene Stirn gezogen hatte, schwanden allmählich bei dieser Anrede seines jungen Freundes, wie Bleistiftlinien unter dem Radiergummi. Noch ehe Herr Snodgraß geendet hatte, hatte sein Gesicht wieder den gewohnten Ausdruck des Wohlwollens angenommen.

»Ich bin zu hitzig gewesen«, sagte Herr Pickwick: »allzu hitzig. Herr Tupman, Ihre Hand.«

Die Wolke verschwand von Herrn Tupmans Antlitz, als er mit Wärme die Hand seines Freundes ergriff.

»Auch ich war zu hitzig«, sagte er.

»Nein, nein«, unterbrach ihn Herr Pickwick; »Es war meine Schuld. Sie wollen die grüne Jacke tragen?«

»Nein, nein«, versetzte Herr Tupman.

»Wenn Sie mich verbinden wollen, so tun Sie es«, sagte Herr Pickwick.

»Wohlan, ich will«, antwortete Herr Tupman.

Es ward also beschlossen, daß Herr Tupman, Herr Winkle und Herr Snodgraß sämtlich in Charaktermasken erscheinen sollten. Auch Herr Pickwick ließ sich durch die Wärme seines Gefühls zur Einwilligung in eine Sache hinreißen, von der ihn sein besseres Urteil zurückgehalten hatte – einen schlagenderen Beweis seines liebenswürdigen Charakters würden wir wohl schwerlich haben geben können, und wenn auch alle Ereignisse, die in diesen Blattern erzählt werden, rein erdichtet wären.

Herr Leo Hunter hatte nicht zu viel von dem Vorrat des Herrn Salomon Lucas gesagt. Seine Garderobe war reichhaltig – sehr reichhaltig – freilich weder ganz klassisch, noch ganz neu. Auch war kein einziger von den Anzügen seines Magazins genau der Mode eines gewissen Zeitalters entsprechend, aber alles war mehr oder weniger reich an Flittern; und was kann hübscher sein, als Flitter? Man könnte mir entgegen halten, sie scheuen das Tageslicht, aber jedermann weiß, daß sie um so mehr beim Lampenschein schimmern. Wenn die Leute bei Tag Maskenbälle geben, und die Anzüge sich nicht so gut ausnehmen, als es bei Nacht der Fall wäre, so ist nichts klarer, als daß die Schuld lediglich an den Leuten liegt, und die Flitter nicht die mindeste Verantwortung haben. Also urteilte Herr Salomon Lucas, und veranlaßte durch seine überzeugenden Gründe die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß, sich Anzüge auszuwählen, wie sie sein Geschmack und seine Erfahrung für diese Gelegenheit besonders passend empfahl.

Aus dem »Stadtwappen« wurde zur Bequemlichkeit der Pickwickier ein Wagen gemietet, und für Herrn und Madame aus demselben Magazin eine Halbkutsche requiriert. Aus zartem Dankgefühl für die erhaltene Einladung hatte Herr Pott in der Eatanswill-Zeitung über die bevorstehende Festlichkeit bereits im bestimmtesten Tone versichert, man finde eine Fülle der abwechselndsten und bezauberndsten Genüsse – einen blendenden Glanz von Schönheit und Talent – eine großartige und verschwenderische Gastfreundschaft – vor allem aber eine Pracht, durch den auserlesensten Geschmack gemildert, und Reichtum, durch vollkommenes Ebenmaß und seinsten Ton verherrlicht. Gegen so etwas erscheine die fabelhafte Pracht morgenländischcr Feenreiche in ebenso dunklen und trüben Farben, wie der Geist der milzsüchtigen und unmännlichen Geschöpfe erscheinen müsse, die sich die Frechheit herausnähmen, die Veranstaltungen der tugendhaften und vortrefflichen Dame, auf deren Altar dieser demütige Zoll der Bewunderung geopfert werde, mit dem Geiste des Neides zu besudeln. Letzteres war eine beißende Ironie gegen die Unabhängigen, die, aus Ärger darüber, daß sie nicht geladen wurden, das ganze Fest vier Nummern hindurch herabzusetzen suchten, wobei sie den gröbsten Druck anwandten, und die Schimpfworte in Initialbuchstaben prangen ließen.

Der Morgen kam; es war ein entzückender Anblick, Herrn Tupman im Banditenkostüme zu sehen, mit eng anschließender Jacke, die wie ein Nadelkissen auf seinem Rücken und seinen Schultern saß. Der obere Teil seiner Beine war in Samthosen gehüllt, der untere war mit den verschlungenen Binden umflochten, worauf alle Banditen besonders viel halten. Es war ergötzlich, sein offenes und geistreiches Gesicht mit stattlichem Schnurr- und Backenbart, dem Kunsterzeugnisse der Korkmalerei, aus einem offenen Hemdkragen hervorschauen zu sehen. Seine zuckerhutförmige, mit Bändern und Farben aller Art geschmückte Kopfbedeckung mußte er auf den Knien halten, weil kein Wagen hoch genug gewesen wäre, um ihm Raum zwischen Kopf und Kutschendach zu gestatten. Ebenso lustig und angenehm war der Anblick des Herrn Snodgraß in blauem Atlaswams und Mantelkragen, weißen seidenen Strümpfen, Schuhen und griechischem Helm, einem Kostüm, von dem jeder weiß (und wenn auch nicht, doch wenigstens Salomon Lucas wußte), daß es die regelmäßige, authentische, alltägliche Tracht der Troubadoure von der frühesten Zeit an bis zu ihrem endlichen Verschwinden von der Oberfläche der Erde war. All das war entzückend, aber es war noch nichts gegen das Freudengeheul der Menge, als der Wagen abfuhr. Ihm folgte Herrn Potts Halbkutsche, die an Herrn Potts Haustür den großen Pott als russischen Justizbeamten mit einer furchtbaren Knute in der Hand, aufnahm – ein geschmackvoll gewähltes Sinnbild der großen und gewaltigen Macht der Eatanswill-Zeitung und der furchtbaren Art und Weise, womit er öffentliche Beleidigungen geißelte.

»Bravo!« riefen die Herren Tupman und Snodgraß au« dem Wagen, als sie die wandelnde Allegorie erblickten.

»Bravo!« ertönte die Stimme des Herrn Pickwick aus dem Wagen.

»Hurra – hoch, Pott!« schrie die Menge.

Unter diesen Begrüßungen stieg Herr Pott in die Halbkutsche mit jenem sanften, würdevollen Lächeln, das zur Genüge dartat, wie er seine Macht fühlte und sie anzuwenden wußte.

Hierauf trat Madame Pott aus dem Hause, die dem Apollo fabelhaft ähnlich ausgesehen hätte, wäre sie nicht mit einem Weiberrock angetan gewesen. Sie hing am Arme Herrn Winkles, der in seiner hellroten Jacke unmöglich für etwas anderes als für einen Weidmann genommen werden konnte, wenn ihm dieser Anzug nicht eine ebenso große Ähnlichkeit mit einem Postknecht gegeben hätte. Zuletzt erschien Herr Pickwick, dem die Jungen so laut wie irgend jemand applaudierten, wahrscheinlich weil seine Strümpfe und Gamaschen den Eindruck von Reliquien auf sie machten. Herr Weller (der beim Servieren behilflich sein mußte), saß auf dem Bock des Gefährts, in dem sein Gebieter saß, und beide Lokomotiven bewegten sich Herrn Leo Hunters Park zu. Männer, Weiber, Knaben und Mädchen, die sich versammelt hatten, die Gäste in ihren Maskenanzügen zu sehen, brüllten vor Vergnügen und Ausgelassenheit, als Herr Pickwick, den Banditen an dem einen und den Troubadour an dem andern Arme, feierlich dem Eingange zuschritt. Noch nie hatte man ein solches Hallo vernommen, wo Herr Tupman sich anstrengte, unter dem Parktore seinen Zuckerhut auf den Kopf zu befestigen.

Alle Anordnungen waren aufs entzückendste getroffen: die prophetischen Worte Potts über die Pracht der Feenreiche waren buchstäblich erfüllt, und die boshaften Verleumdungen der kriechenden Unabhängigen fanden volle Widerlegung durch die Wirklichkeit. Der Park war über fünfviertel Morgen groß, und war voll Menschen! Nie strahlte Schönheit, feiner Ton und Literatur in einem solchen Glanze. Da war die junge Dame, die die Poesie in der Eatanswill-Zeitung vertrat, in der Tracht einer Sultanin auf den Arm eines jungen Herrn gestützt, der dem Departement der Kritik vorstand und – die Stiefeln ausgenommen – sehr passend in die Uniform eines Feldmarschalls gekleidet war. Eine zahllose Menge Genies war anwesend, und jeder vernünftige Mensch würde es sich zur Ehre gerechnet haben, sie dort zu treffen. Aber was mehr als alles ist, es waren ein halbes Dutzend Löwen von London zugegen – Autoren, wirkliche Autoren, die ganze Vücher geschrieben und sie nachher dem Druck übergeben hatten – und hier seht ihr sie herumgehen gleich gewöhnlichen Menschen, lächelnd und unaufhörlich schwatzend – dazu noch eine ordentliche Portion Unsinn, ohne Zweifel in der wohlwollenden Absicht, sich den gemeinen Leuten um sie her verständlich zu machen. Überdies traf man dort eine Musikkapelle mit Papiermützen: vier sogenannte Alpensänger in der Tracht ihres Landes, und ein Dutzend gemietete Aufwärter, gleichfalls in dem Kostüme ihrer Gegend, das freilich etwas schmutzig war. Vor allem aber ragte Madame Leo Hunter als Minerva hervor, die Gesellschaft empfangend und bei dem Gedanken, so ausgezeichnete Leute um sich versammelt zu sehen, von Stolz und Freundlichkeit überfließend.

»Herr Pickwick, Madame«, sagte ein Diener, als sich der Genannte mit dem Hute in der Hand und dem Banditen und dem Troubadour an den Armen der Göttin des Tages näherte.

»Was – was?« rief Madame Leo Hunter mit erkünstelter Entzückung.

»Hier«, sagte Herr Pickwick.

»Ist’s möglich, daß ich wirklich das Glück habe, Herrn Pickwick in eigener Person vor mir zu sehen?« rief Madame Leo Hunter aus.

»Keinen andern, Madame«, versetzte Herr Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung. »Erlauben Sie mir, meine Freunde – Herrn Tupman – Herrn Winkle – Herrn Snodgraß – der Verfasserin des »sterbenden Fröschleins« vorzustellen.«

Sehr wenige Leute, wohl nur die, so selbst den Versuch gemacht haben, wissen, wie schwer es hält, in eng anliegenden Beinkleidern von grünem Samt, einer eng anliegenden Jacke und einem hohen Turm auf dem Kopfe sich zu verneigen. Wenige wissen, wie schwer es fällt, in blauen Atlashosen, weißen Seidenstrümpfen oder Kniehosen und Stulpenstiefeln, die für jemand anders gemacht und dem, der sie trägt, ohne die entfernteste Rücksicht auf die Dimensionen seines Körpers, auf den Leib gepreßt wurden – wenige, sage ich, wissen es, wie schwer es hält, unter solchen Verhältnissen Verbeugungen zu machen. Noch nie sah man solche Verdrehungen, wie Herrn Tupmans Knochengestell machte, um Geschmeidigkeit und Grazie an den Tag zu legen – noch nie sah man so sinnreiche Stellungen, wie seine Freunde in ihren Maskenanzügen annahmen.

»Herr Pickwick«, sagte Madame Leo Hunter, »ich nehme Ihnen das Versprechen ab, den ganzen Tag nicht von meiner Seite zu gehen. Es sind Hunderte von Personen hier, denen ich Sie durchaus vorstellen muß.«

»Sie sind sehr gütig, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Vorerst sehen Sie hier meine kleinen Mädchen; ich hätte sie beinahe vergessen«, sagte die Minerva, vergnügt auf ein paar völlig erwachsene junge Damen deutend, von denen die eine ungefähr zwanzig, die andre ein oder zwei Jahre älter sein mochte, und die beide sehr jugendlich gekleidet waren. Ab sie sich dadurch ein junges Aussehen geben oder ihre Mama jünger machen wollten, darüber spricht sich Herr Pickwick nicht bestimmt aus.

»Sie sind sehr schön«, bemerkte Herr Pickwick, als sich die Mädchen nach der Vorstellung wieder entfernten.

»Sie sehen ihrer Mutter von oben bis unten gleich, mein Herr«, sagte Herr Pott in majestätischem Ton.

»O, Sie Schelm«, rief Madame Leo Hunter, den Herausgeber scherzend mit ihrem Fächer auf die Schulter klopfend (Minerva mit einem Fächer!).

»Nun, nun, meine teuerste Madame Hunter«, verteidigte sich Herr Pott, der in Den gewöhnlich den Trompeter machte, »Sie wissen, daß vergangenes Jahr, als Ihr Porträt in der königlichen Akademie ausgestellt war, beim Anblick desselben alle Welt fragte, ob es Sie oder Ihre jüngste Tochter vorstellen sollte; denn Sie sahen einander so ähnlich, daß von einer Unterscheidung gar keine Rede sein konnte.«

»Gut, und wenn es auch der Fall war, was brauchen Sie es hier vor Fremden zu erzählen?« sagte Madame Leo Hunter, der, jetzt ruhigen Löwen der Eatanswill-Zeitung mit einem zweiten Schlag berührend.

»Graf, Graf«, rief jetzt Madame Leo Hunter einem stark bebarteten Individuum in fremder Uniform zu, das eben vorüberging.

»Ah! Sie wünschen mich zu sprech?« sagte der Graf, sich umwendend.

»Ich wünsche zwei sehr geistvolle Männer einander vorzustellen«, erwiderte Madame Leo Hunter. »Herr Pickwick, ich mache mir großes Vergnügen daraus, Sie dem Grafen Smorltork vorzustellen.« Dann flüsterte sie Herrn Pickwick schnell die Worte zu – »der berühmte Fremde – sammelt Material für sein großes Werk über England – hem! – Graf Smorltork, Herr Pickwick.«

Herr Pickwick begrüßte den Grafen mit der einem so großen Manne gebührenden Achtung, und der Graf zog ein Notizbuch hervor.

»Wie sagen Sie, Madame Hunt?« fragte der Graf die Grazie mit graziösem Lächeln. » Pig wig oder Big wig Pig, Schwein – wig, Perücke; Bigwig – große Perücke. –- Anspielung auf die große Perücke der Justizbeamten, insbesondere der Rechtsanwälte. – wie man die Rechtsgelehrten nennt? Richter – ah! ich seh, das ist’s. Big wig« –

Und der Graf war eben im Begriff, Herrn Pickwick als Rechtsanwalt in sein Notizbuch einzutragen, der seinen Namen, den er führte, dem Beruf verdankte, da unterbrach ihn Madame Leo Hunter in seinem Geschäft.

»Nein, nein, Graf«, bemerkte die Dame, »Pickwick.«

»Ah, ah, ich versteh«, versetzte der Graf, »Pihg Taufname, Wihg Familienname: schön, sehr schön. Pihg Wihg. Wie geht es Ihnen, Herr Wihg?«

»Sehr gut, ich danke Ihnen«, antwortete Herr Pickwick mit der ganzen Leutseligkeit, die man an ihm gewöhnt war. »Sind Sie schon lange in England?«

»Lange – sehr lange Zeit – vierzehn Tage – mehr noch.«

»Werden Sie lange bleiben?«

»Ein Woch noch.«

»Da werden Sie genug zu tun haben«, sagte Herr Pickwick lächelnd, »in dieser Zeit alles nötige Material zu sammeln.«

»Ist schon gesammelt«, erwiderte der Graf.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Sie sind hier«, fügte der Graf hinzu, mit der Hand an die Stirne greifend. »Großes Buch zu Hause – voll Notizen – Musik, Malerei, Wissenschaft, Poesie, Politik, alles.«

»Das Kapitel Politik, mein Herr«, bemerkte Herr Pickwick, »ist ein schwieriges Studium von unberechenbarem Umfang.«

»Ah«, sagte der Graf, das Notizbuch wieder hervorziehend, »sehr gut, schöne Wort, ein Kapitel damit zu beginn. Siebenundvierzigstes Kapitel. Politik. Das Kapitel Politik begreif ich sich –«

Und Herrn Pickwicks Bemerkung wanderte in Graf Smorltorks Notizbuch, mit Variationen und Zusätzen, wie sie dem Grafen seine üppige Phantasie eingab, oder seine unvollkommene Kenntnis der Sprache veranlaßte.

»Graf«, sagte Madame Leo Hunter.

»Madame Hunt«, antwortete der Graf.

»Dies ist Herr Snodgraß, Herrn Pickwicks Freund und ein Dichter.«

»Halt«, rief der Graf, sein Notizbuch abermals zückend. »Gegenstand. Dichtkunst – Kapitel, literarische Freunde – Name Snowgraß Der Graf verdreht den Namen: snow = Schnee, grass = Gras.: sehr schön. Snowgraß vorgestellt – großer Dichter, Freund Pihg – Wihgs – von Madame Hunt, Verfasserin eines andern schön Gedichts – wie heißt doch? – Fröschlein – sterbend Fröschlein – sehr schön – wirklich sehr schön.«

Und der Graf steckte sein Notizbuch ein und entfernte sich unter verschiedenen Bücklingen und Empfehlungen, höchlich vergnügt, seine Sammlung mit den wichtigsten Entdeckungen bereichert zu haben.

»Ein bewunderungswürdiger Mann, der Graf Smorltork«, bemerkte Madame Leo Hunter.

»Ein tiefer Philosoph«, sagte Pott.

»Ein heller Kopf, ein starker Geist«, fügte Herr Snodgraß hinzu.

Die Umstehenden stimmten in die Lobeserhebung des Grafen Smorltork ein, wiegten die Köpfe und riefen einmütig: »O gewiß!«

Da die Begeisterung für Graf Smorltork immer höher stieg, so würde vielleicht sein Lob bis ans Ende der Festlichkeit gesungen worden sein, hätten sich nicht die vier sogenannten Alpensänger, um malerisch auszusehen, vor einem kleinen Apfelbaum aufgestellt, und ihre Nationallieder abzusingen begonnen. Das war ein Unternehmen, das durchaus nicht mit Schwierigkeiten verbunden war, denn das ganze große Geheimnis schien darin zu bestehen, daß drei von den sogenannten Sängern grunzten, wahrend der vierte heulte.

Nachdem diese interessante Vorstellung mit dem lautesten Beifall der ganzen Gesellschaft beendet war, trat sofort ein Junge auf, der durch die Beine eines Stuhls schlüpfte, über ihn wegvoltigierte, unter ihm durchkroch, mit ihm niederfiel und überhaupt alles mit ihm anfing, nur das nicht, wozu ein Stuhl bestimmt ist. Nach diesen Kunstproduktionen machte er eine Krawatte aus seinen Beinen, schlang sie um seinen Hals herum und lieferte so praktisch den Beweis, daß es einem menschlichen Wesen durchaus leicht falle, sich einer vergrößerten Kröte gleichzumachen – lauter Großtaten, die die versammelten Zuschauer höchlich ergötzten und vergnügten. Hierauf ließ sich die Stimme der Madame Pott mit einem schwachen Gepiepe vernehmen. Die gebildete Betonungsweise machte daraus etwas wie Gesang, der übrigens durchaus klassisch war und ihrer Charaktermaske vollkommen entsprach, weil Apollo selbst ein Komponist war, und Komponisten gewöhnlich weder ihre eigenen noch fremde Musikstücke singen können. Danach deklamierte Madame Leo Hunter ihre weltberühmte Ode an ein sterbendes Fröschlein, worauf sie dieselbe zum zweiten Male vortrug und vielleicht noch zweimal vorgetragen haben würde, wenn nicht der größte Teil der Gäste, der daran dachte, daß es hohe Zeit sei, den Magen zu befriedigen, die Erklärung abgegeben hätte, es würde höchst unartig sein, die Güte der Madame Leo Hunter zu mißbrauchen. Deswegen wollten die besorgten und bescheidenen Freunde der Madame Leo Hunter, trotz ihrer vollkommenen Bereitwilligkeit, die Ode noch einmal vorzutragen, von keiner nochmaligen Wiederholung mehr hören.

Als der Speisesaal geöffnet wurde, drängte sich alles, was irgend dazu gehörte, mit aller zu Gebote stehenden Eilfertigkeit hinein: denn Madame Leo Hunter hatte die Gewohnheit, hundert Karten austeilen und fünfzig Gedecke legen zu lassen, oder mit andern Worten, nur die eigentlichen Löwen zu füttern und das kleinere Geschmeiß für sich selbst sorgen zu lassen.

»Wo ist Herr Pott?« fragte Madame Leo Hunter, als sie besagte Löwen um sich am Tische versammelte.

»Hier bin ich«, rief der Herausgeber, in dem entferntesten Ende des Saals von aller Hoffnung auf Speise abgeschnitten, wenn die Wirtin nicht für ihn sorgte.

»Wollen Sie nicht heraufkommen?«

»Oh, bitte, lassen Sie ihn«, sagte Madame Pott mit dem verbindlichsten Ton – »Sie geben sich sehr viel unnötige Mühe, Madame Hunter. Du bist dort ganz gut aufgehoben – nicht wahr, mein Lieber?«

»O gewiß, meine Liebe«, erwiderte der unglückliche Pott mit herbem Lächeln.

O Knute! Der nervige Arm, der sie mit gigantischer Wucht über öffentliche Charaktere schwang, war durch einen Blick der herrschsüchtigen Madame Pott gelähmt.

Madame Leo Hunter sah sich triumphierend um. Graf Smorltork war eifrig damit beschäftigt, die Gänge des Gastmahls zu notieren; Herr Tupman präsentierte einigen Löwinnen den Hummersalat mit einer Grazie, wie sie nie zuvor ein Bandit an den Tag gelegt hatte; Herr Snodgraß hatte den jungen Herrn ausgestochen, der den Stachel der Kritik für die Eatanswill-Zeitung führte und war in einer leidenschaftlichen Unterhaltung mit der jungen Dame begriffen, die die Poesie darstellte; und Herr Pickwick machte im allgemeinen den Angenehmen. Nichts schien zu fehlen, um den erlesenen Zirkel zu vervollständigen, als Herr Leo Hunter, der bei solchen Gelegenheiten seinen Platz an den Eingangstüren hatte und sich mit den minder wichtigen Leuten unterhielt, plötzlich ausrief:

»Meine Liebe, hier kommt Herr Charles Fitz-Marshall.«

»O mein Lieber«, erwiderte Madame Leo Hunter, »wie sehnsüchtig habe ich ihn erwartet. Bitte, mach‘ Platz, Herrn Fitz-Marshall durchzulassen. Sage Herrn Fitz-Marshall, mein Lieber, er soll doch sogleich zu mir kommen, um sich wegen seines späten Erscheinens ausschelten zu lassen.«

»Komme, teuerste Madame –« rief eine Stimme, »– so schnell ich kann – Menge Volks – der Saal ganz voll – harte Arbeit – sehr hart.«

Herr Pickwick ließ Messer und Gabel aus der Hand fallen und starrte über die Tafel Herrn Tupman an, der ebenfalls Messer und Gabel verloren hatte, und aussah, als wollte er sofort in den Boden sinken.

»Ah!« rief die Stimme, als ihr Eigentümer sich durch die letzten fünfundzwanzig Türken, Offiziere und Kavaliere Karls II., die zwischen ihm und der Tafel waren, Bahn brach, »ordentliche Plättrolle – nicht eine Falte an meinem Rock, nach all diesem Quetschen – hätte mein Weißzeug ungeplättet lassen können, – ha! ha! kein übler Gedanke, das – es am Körper mangeln zu lassen – harter Prozeß – sehr hart.«

Mit diesen abgebrochenen Worten bahnte sich ein junger Mann in der Uniform eines Marine-Offiziers den Weg zur Tafel und wies den erstaunten Pickwickiern die leibhafte Gestalt und Gesichtsbildung Herrn Alfred Jingles.

Der anstößige Patron hatte kaum Zeit, die dargebotene Hand der Madame Leo Hunter zu ergreifen, als seine Augen den grimmen Blicken des Herrn Pickwick begegneten.

»Ach, ach«, rief Herr Jingle, »– ganz vergessen – Postillion noch keine Befehle – gebe sie sogleich – in einer Minute wieder hier.«

»Der Diener oder Herr Hunter wird dies im Augenblick besorgen, Herr Fitz-Marshall«, sagte Madame Leo Hunter.

»Nein, nein – will’s selber tun – dauert nicht lange – im Nu wieder da«, erwiderte Jingle.

Mit diesen Worten verschwand er unter der Menge.

»Wollen Sie mir die Frage erlauben, Madame«, sagte der erregte Herr Pickwick, sich von seinem Sitze erhebend, »wer der junge Mann ist, und wo er sich aufhält?«

»Es ist ein Gentleman von Vermögen, Herr Pickwick«, antwortete Madame Leo Hunter, »und ich sehne mich sehr danach, ihn Ihnen vorzustellen. Der Graf wird darüber enzückt sein.«

»Ja, ja«, erwiderte Herr Pickwick hastig. »Sein Aufenthalt –«

»Ist gegenwärtig im Engel zu Bury.«

»Zu Bury?«

»Zu Bury St.Edmunds, wenige Meilen von hier. – Aber ich bitte Sie, Herr Pickwick, Sie werden uns doch nicht verlassen? Nein, gewiß, Sie können nicht daran denken – so früh.«

Aber lange, ehe Madame Leo Hunter zu sprechen aufgehört, hatte Herr Pickwick sich in’s Gedränge geworfen und den Garten erreicht, wo ihn bald darauf Herr Tupman traf, der seinem Freunde auf den Fersen gefolgt war.

»Es ist umsonst«, sagte Tupman. »Er ist fort.«

»Ich weiß es«, erwiderte Herr Pickwick; »aber ich will ihm folgen.«

»Ihm folgen? Wohin?« fragte Tupmann.

»Nach dem Bury in den Engel«, versetzte Herr Pickwick hastig. »Wissen wir, wen er dort betrügt? Er betrog einmal einen würdigen Mann, und wir waren die unschuldige Ursache. Er soll es nicht wieder tun, wenn ich es hindern kann; ich will ihn entlarven, Sam! Wo ist mein Diener?«

»Ah, sind Sie da, Sir?« rief Herr Weller, aus einem abgelegenen Winkel hervorkommend, wo er eben damit beschäftigt gewesen war, eine Madeiraflasche zu untersuchen, die er eine oder zwei Stunden vorher beim Frühstück weggekapert hatte. »Hier ist Ihr Diener, Sir, – stolz auf diesen Titel, wie das lebende Skelett sagte, als man es ums Geld sehen ließ.«

»Folgt mir augenblicklich«, sagte Herr Pickwick. »Tupman, wenn ich in Bury bin, können Sie dorthin kommen, sobald ich schreibe. Bis dahin leben Sie wohl.«

Vorstellungen waren fruchtlos. Herr Pickwick blieb unerschütterlich; sein Entschluß war gefaßt. Herr Tupman kehrte zur Gesellschaft zurück; und in einer Stunde hatte er alle Gedanken an Herrn Alfred Jingle oder Charles Fitz-Marshall in einer heitern Quadrille und einer Flasche Champagner erstickt.

Während dieser Zeit saßen Herr Pickwick und Sam Weller oben auf einer Postkutsche, von Minute zu Minute die Entfernung zwischen sich und der guten alten Stadt Bury Saint Edmunds Bury, Stadt nahe bei Manchester, malerisch auf einem Hügel am Irwell sich erhebend, nahe dabei das Dorf Summerseat, das in Dickens Roman. »Nicholas Nickleby« eine Rolle spielt. kürzer werden lassend.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Deutlicher Beweis für die Behauptung, daß die Bahn treuer Liebe keine Eisenbahn ist.

Die stille Abgeschiedenheit von Dingley Dell, die Anwesenheit so vieler Zierden des schönen Geschlechts, die sorgsame Pflege und Aufmerksamkeit, die sie an den Tag legten, war der Steigerung jener sanfteren Gefühle außerordentlich günstig, die die Natur tief in Herrn Tracy Tupmans Brust gesenkt hatte. Diese Gefühle schienen jetzt bestimmt, sich auf einen liebenswürdigen Gegenstand zu konzentrieren. Die jungen Damen waren hübsch, ihr Äußeres einnehmend, ihr Betragen tadellos. Aber in den Augen von Jungfer Tante lag eine Majestät, in ihrer Miene eine Würde, in ihrem Gang ein gewisses Noli me tangere, worauf jene bei ihrer Jugend keinen Anspruch machen konnten. Darin tat die Tante es jedem Frauenzimmer zuvor, das Tupman je gesehen hatte. Daß in dem Wesen beider etwas Verwandtes, in ihrem Gemüte etwas Übereinstimmendes, in ihrer Brust eine gewisse geheimnisvolle Sympathie lag, war klar.

Ihr Name war der erste Laut, der über Herrn Tupmans Lippen trat, als er blutend im Grase lag, und ihr krampfhaftes Lachen war der erste Ton, der zu seinen Ohren drang, als er nach Hause gebracht wurde.

Aber hatte ihre Aufregung den Grund in einer liebenswürdigen weiblichen Empfindsamkeit überhaupt, die bei jeder ähnlichen Gelegenheit zum Vorschein gekommen wäre? Oder war sie durch ein tieferes, zärtlicheres Gefühl hervorgerufen worden, das nur er allein unter allen Männern erwecken konnte? Das waren Zweifel, die sein Gehirn marterten, als er hilflos auf dem Sofa lag – Zweifel, die er auf einmal und für immer zu lösen beschloß.

Es war Abend. Isabella und Emilie hatten mit Herrn Trundle einen Spaziergang gemacht. Die taube alte Frau war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen: das Schnarchen des fetten Jungen drang dumpf und eintönig aus der entfernten Küche herüber. Die sorglosen Mägde lehnten am Hoftor und genossen die Süßigkeit des Feierabends, indem sie mit gewissen unbeholfenen Tieren spielten, die zum Haushalte gehörten. Da saß denn das interessante Pärchen, von niemand beachtet und auf nichts achtend, nur von sich selbst träumend: da saßen sie wie ein Paar sorgfältig zusammengelegte Handschuhe – ineinandergeschlungen.

»Ich habe meine Blumen vergessen«, bemerkte Jungfer Tante.

»So begießen wir sie«, sprach Herr Tupman mit schmeichelndem Tone.

»Sie würden sich in der Abendluft erkälten«, sagte Jungfer Tante zärtlich.

»Nein, nein«, erwiderte Herr Tupman aufstehend. »Es macht mir gar nichts. Ich will Sie begleiten.«

Die Dame legte schweigend die Schlinge zurecht, in der der linke Arm des junaen Mannes lag, ergriff seinen rechten und führte ihn in den Garten.

Am oberen Ende desselben war eine Laube von Geisblatt, Jasmin und Schlingpflanzen – einer von jenen Ruheplätzen, die empfindsame Seelen zur Bequemlichkeit der Spinnen errichten.

Jungfer Tante ergriff eine große Gießkanne, die in einem Winkel stand und war im Begriff, die Laube zu verlassen. Herr Tupman hielt sie zurück und zog sie auf einen Sitz neben sich nieder.

»Fräulein Wardle«, sagte er.

Jungfer Tante zitterte, daß einige Steinchen, die zufälligerweise den Weg in die Gießkanne gefunden hatten, klirrten wie eine Kinderklapper.

»Fräulein Wardle,« sagte Herr Tupman, »Sie sind ein Engel.«

»Herr Tupman«, rief Rachel aus, so rot wie die Gießkanne selbst.

»Wahrlich,« sagte der beredte Pickwickier, »ich fühle es nur zu sehr.«

»Alle Frauenzimmer sind Engel, wenn man die Männer so hört«, flüsterte die Dame in scherzhaftem Tone.

»Was wären Sie sonst, oder womit könnte ich Sie ohne Vermessenheit vergleichen?« versetzte Herr Tupman. »Wo sah man je ein Frauenzimmer, das Ihnen glich? Wo könnte ich sonst eine so seltene Vereinigung von geistigen Vorzügen und körperlicher Schönheit finden? Wo könnte ich sonst – – – O!«

Hier schwieg Herr Tupman und drückte die Hand, die auf dem Handgriff der glücklichen Gießkanne ruhte.

Die Dame wandte ihren Kopf auf die Seite und flüsterte sanft:

»Die Männer sind voll Lug und Trug.«

»Ja, sie sind es, sie sind es«, versicherte Herr Tupman; »aber nicht alle. Hier lebt wenigstens einer, der keinen Wankelmut kennt – einer, der sein ganzes Dasein Ihrem Glück opfern könnte – der nur in Ihren Blicken lebt – der nur in Ihrem Lächeln atmet – der die schwere Bürde des Lebens einzig und allein um Ihretwillen trägt.«

»Könnte man einen solchen Mann finden?« fragte die Dame.

»Nur könnte finden?« erwiderte der glühende Tupman. »Er ist gefunden. Er ist hier, Fräulein Wardle.«

Und ehe die Dame seine Absicht ahnte, lag er schon zu ihren Füßen auf den Knien. ,

»Stehen Sie auf, Herr Tupman«, sagte Rachel.

»Nimmermehr«, war die entschlossene Antwort. »O Rachel! sagen Sie, daß Sie mich lieben.«

»Herr Tupman,« bemerkte Jungfer Tante mit abgewandtem Gesicht – »ich kann kaum Worte finden: doch – doch – Sie sind mir nicht ganz gleichgültig.«

Herr Tupman hörte nicht so bald dieses Geständnis, als er sich ganz dem Drange seiner Begeisterung hingab und tat, was, soviel wir wissen (denn wir haben in diesem Punkte nicht viel Erfahrung), unter solchen Umständen jedermann tut. Er sprang auf, schlang seinen Arm um den Nacken der Jungfer Tante und preßte eine Menge Küsse auf ihre Lippen, die sie nach pflichtschuldigem Zieren und Sträuben so geduldig hinnahm, daß wir nicht angeben können, wie viele ihr Herr Tupman noch aufgedrückt haben würde, wäre die Dame nicht plötzlich erschreckt worden und voller Angst in die Worte ausgebrochen –

»Herr Tupman, wir werden beobachtet! Wir sind entdeckt!«

Herr Tupman sah sich um und gewahrte die tellergroßen Augen des fetten Jungen. Der Junge hatte dabei nicht im mindesten einen Gesichtszug, den auch nur ein noch so erfahrener Physiognomiker dem Erstaunen, der Neugierde oder irgendeiner bekannten Leidenschaft, die sonst die Brust der Vlcnschen bewegt, hatte zuschreiben können. Er glotzte völlig regungslos in die Laube. Herr Tupman betrachtete den fetten Jungen, und der fette Junge betrachtete Herrn Tupman, und je länger Herr Tupman dessen völlig ausdrucksloses Gesicht ansah, desto mehr überzeugte er sich, daß er entweder nicht wußte oder nicht verstand, was vorgegangen war. In dieser Voraussetzung fragte er mit festem Tone:

»Was suchst du hier?«

»Das Essen ist auf dem Tisch«, war die rasche Antwort.

»Bist du eben erst gekommen?« fragte Herr Tupman mit einem durchdringenden Blick.

»Soeben«, erwiderte der fette Junge.

Herr Tupmam sah ihn wieder scharf an, aber der Junge verzog keine Miene.

Herr Tupman nahm den Arm der Jungfer Tante und ging dem Hause zu; der fette Junge folgte.

»Er weiß nicht, was vorgefallen ist«, flüsterte er.

»Nichts?« fragte Jungfer Tante.

Sie hörten einen Ton hinter sich, wie von einem halbunterdrückten Lachen. Herr Tupman sah sich forschend um. Nein; der fette Junge konnte es nicht gewesen sein. In seinem ganzen Gesichte war keine Spur von Freude, und überhaupt kein anderer Ausdruck als der der Eßlust zu finden.

 

»Er muß geschlafen haben«, flüsterte Herr Tupman.

»Ich zweifle nicht im geringsten daran«, versetzte Jungfer Tante.

Beide lachten herzlich.

Aber Herr Tupman irrte sich. Der fette Junge hatte zum ersten Male nicht geschlafen. Er hatte gewacht – völlig gewacht und alles mit angesehen.

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß jemand eine allgemeine Unterhaltung anzuknüpfen gesucht hätte. Die alte Frau ging zu Bett; Isabelle Wardle widmete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich Herrn Trundle; Jungfer Tante hatte für niemand Augen, als für Herrn Tupman, und Emiliens Gedanken schienen in der Ferne zu verweilen – vielleicht bei dem abwesenden Snodgraß.

Elf Uhr – zwölf Uhr – ein Uhr hatte es geschlagen, und die Herren waren noch nicht zurück. Bestürzung und Unruhe war auf jedem Gesicht zu lesen. Sollten Sie vielleicht überfallen und ausgeplündert worden sein? Sollte man Leute mit Laternen aussenden und sie auf allen Wegen suchen lassen, die sie möglicherweise eingeschlagen haben konnten? Oder sollte man – – Horch! Sie sind’s. Was konnte sie solange aufhalten? Auch eine fremde Stimme! Wem konnte sie angehören? Sie eilten in die Küche, um nach den Ankömmlingen zu sehen, und überzeugten sich alsbald von dem wahren Stand der Dinge.

Herr Pickwick lehnte, die Hände in den Taschen und den Hut über das linke Auge gedrückt am Anrichttische, wackelte mit dem Kopf und griente unaufhörlich, ohne daß man irgendeinen Grund davon entdecken konnte. Der alte Herr Wardle hielt einen fremden Herrn bei der Hand, dem er mit flammendem Gesichte etwas von ewiger Freundschaft vorlallte. Herr Winkle hielt sich an der Wanduhr und rief mit matter Stimme auf jedes Mitglied der Familie, das heute Nacht vom Bettgehen sprechen würde, Feuer und Schwefel vom Himmel herab. Herr Snodgraß aber war auf einen Stuhl gesunken, mit dem Ausdruck des fürchterlichsten und hoffnungslosesten Elends, das sich die Phantasie eines Menschen vorstellen kann, in jedem Zuge seines verstörten Gesichts.

»Ist etwas vorgefallen?« fragten die drei Damen.

»Nichts ist vorgefallen«, versetzte Herr Pickwick. »Wir, hup – wir sind, hup – alles in Ordnung. – Ich sage, Wardle, es ist alles in Ordnung, nicht wahr?«

»Das will ich meinen«, sagte der lustige Hauswirt. »Meine Lieben, hier ist mein Freund, Herr Jingle – Herrn Pickwicks Freund, Herr Jingle ist gekommen – macht uns einen kleinen Besuch.«

»Ist Herrn Snodgraß etwas zugestoßen« fragte Emilie ängstlich.

»Nicht das mindeste, mein Fräulein«, erwiderte der Fremde. »Kricketschmaus – herrliche Gesellschaft – Kapitalsänger – alter Portwein – Rotwein – gut – sehr guter – Wein, mein Fräulein – Wein.«

»Es lag nicht am Weine«, lallte Herr Snodgraß mit gebrochener Stimme. »Der Lachs war schuld.« (Die Schuld liegt bei solchen Gelegenheiten nie am Wein, sondern immer an etwas anderem.)

»Wäre es nicht besser, Sie gingen zu Bett?« fragte Emilie. »Zwei von den Knechten können die Herren hinaufführen.«

»Ich gehe nicht zu Bett«, sagte Herr Winkle bestimmt.

»Kein Mensch auf der Welt soll mich führen«, erwiderte Herr Pickwick kühn, worauf er wieder ebenso gutmütig, wie zuvor, griente.

»Hurra!« rief Herr Winkle.

»Hurra!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend und auf den Boden schleudernd, worauf er seine Brille mit gleicher Wuppdizität mitten in die Küche warf. – Dann lachte er über dieses Vergnügen laut auf.

»Lassen Sie – uns, hup – noch – eine, hup – Flasche trinken«, äußerte Herr Winkle anfangs mit lauter, später mit immer schwächerer Stimme.

Sein Kopf sank auf die Brust. Er lallte noch etwas von seinem unabänderlichen Entschluß, nicht zu Bette zu gehen, und von blutiger Reue, den alten Tupman diesen Morgen nicht vollends »abgedeckt« zu haben, worauf er in einen festen Schlaf fiel. Von zwei jungen Burschen unter der persönlichen Oberaufsicht des fetten Jungen wurde er zu Bett gebracht. Bald darauf vertraute Herr Snodgraß seinen Leichnam der Sorge denselben Herrschaften an. Herr Pickwick nahm den dargebotenen Arm Herrn Tupmans und verschwand ganz in der Stille, stets mit demselben Lächeln auf den Lippen. Herr Wardle aber gab Herrn Trundle die Ehre, ihn die Treppe hinauf zu geleiten, und entfernte sich mit dem völlig vergeblichen Versuch, eine feierliche und würdevolle Miene anzunehmen, nachdem er zuvor von der ganzen Familie einen so zärtlichen Abschied genommen hatte, als ginge er jetzt unmittelbar dem Schafott entgegen.

»Was für ein fataler Auftritt!« sagte Jungfer Tante.

»Abscheulich!« stimmten die beiden jungen Damen bei.

»Schrecklich – schrecklich!« sagte Jingle mit ernster Miene. Er hatte aber auch anderthalb Flaschen mehr zu sich genommen, als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft. »Ein peinlicher Anblick – gewiß.«

»Ein artiger Mann!« flüsterte die Jungfer Tante Herrn Tupman zu.

»Sieht auch nicht übel aus!« flüsterte Emilie Wardle.

»O sicher«, bemerkte die Jungfer Tante.

Herr Tupman dachte an die Witwe zu Rochester, und sein Herz ward unruhig. Die halbstündige Unterhaltung, die jetzt folgte, war nicht geeignet, die Stimme seiner Besorgnis zu beschwichtigen. Der neue Ankömmling war sehr gesprächig, und die Menge seiner Anekdoten wurde nur durch die Überbietung an Höflichkeit übertroffen. Herr Tupman fühlte, daß er in dem gleichen Maße, in dem Jingles Popularität stieg, in den Schatten zurücktrat. Sein Lachen war gezwungen – seine Lustigkeit erheuchelt, und als er endlich seine schmerzenden Schläfe zwischen die Bettlaken steckte, wünschte er sich mit furchtbarer Lust, Jingles Kopf in diesem Augenblicke zwischen der Decke und der Matratze unter seinen Händen zu haben.

Der unverwüstliche Fremde stand des andern Tages zeitig auf und gab sich alle Mühen, während seine Gefährten die Folgen ihrer Schlemmerei noch im Bette verdämmerten, die Heiterkeit des Frühstücks durch seine Unterhaltung zu erhöhen. Es gelang ihm auch so vollkommen, daß sogar die taube alte Frau sich einige seiner besten Scherze durch ihr Hörrohr wiederholen ließ und gar herablassend gegen die Jungfer Tante bemerkte, er (Jingle) sei ein ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen durchaus beistimmten.

Es war die Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen in die Laube zu begeben, die dem Leser bereits durch Herrn Tupmans zärtliches Abenteuer bekannt ist. Zu diesem Ende mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Frau einen dicht anschließenden schwarzen Atlashut, einen warmen baumwollenen Schal und einen starken Stock mit einem großen Handgriff holen, und nachdem sie sich so behaglich eingehüllt und die eine Hand auf den Stock, die andere auf die Schulter des fetten Jungen gestützt hatte, begann sie mit Muße ihren Spaziergang nach der Laube, wo sie der fette Diener für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genusse frischer Luft verbunden sind, überließ. Nach Ablauf dieser Frist kam er sodann wieder, um die Mutter seines Gebieters ins Haus zurückzuführen.

Die alte Dame ging in diesen Dingen nicht von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander ohne ein Abweichen von der Regel geübt worden, so war sie nicht wenig überrascht, als sie bemerkte, daß der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich sorgfältig nach allen Richtungen umsah, und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.

Die alte Dame war furchtsam – wie es die meisten alten Damen sind – und so kam sie gleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schild, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft des Schweigens benommen hätte. Deshalb mußte sie sich begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herankam und mit einem – wie es ihr schien – drohenden Tone ins Ohr schrie:

»Madame!«

Nun fügte sich’s gerade, daß in demselben Augenblick Herr Jingle in dem Garten spazierenging und sich zur Zeit in der unmittelbaren Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – einmal, weil er nichts anderes zu tun hatte, dann weil seine Neugier kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt – er machte halt und horchte.

»Madame!« schrie der fette Junge.

»Ach, Joe,« sagte die zitternde alte Dame, »ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich stets aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten müssen und doch immer genug zu essen gehabt.«

Das war eine Berufung auf Joes empfindsamste Gemütsseite. Er schien gerührt und entgegnete mit Nachdruck:

»Ich verkenne das nicht.«

»Was kannst du aber weiter von mir wollen?« versetzte die alte Dame etwas ermutigt.

»Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich’s Ihnen sage«, erwiderte Joe.

Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankeserguß, und da die alte Dame die Art, wie ein solches Phänomen herbeigeführt werden könnte, nicht ganz begriff, so kehrten alle ihre Schrecken wieder.

»Was meinen Sie wohl, was ich gestern hier in dieser Laube gesehen habe?« sagte der Junge.

»Barmherziger Himmel! Was!« rief die alte Dame, beunruhigt durch die Wichtigtuerei in dem Benehmen des wohlbeleibten Burschen.

»Der fremde Herr – der mit dem zerschossenen Arm – hat geküßt und umarmt – –«

»Wen, Joe – wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?«

»Schlimmer als das!« brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.

»Wie, gar eine meiner Enkelinnen?«

»Noch schlimmer!«

»Noch schlimmer, Joe?« versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Non plus ultra männlicher Verwegenheit betrachtete. »Wer ist’s gewesen, Joe? Ich will es durchaus wissen.«

»Fräulein Rachel.«

»Was?« schrie die Dame in schrillem Tone. »Sprich lauter.«

»Fräulein Rachel«, schrie der fette Junge.

»Meine Tochter?«

Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine gedunsenen Backen wie Gallerte schwabbelten.

»Und sie ließ sich’s gefallen?« rief die alte Dame.

Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen, als er erwiderte:

»Ich sah es, wie sie ihn wieder küßte.«

Hätte Herr Jingle in diesem Augenblick den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, wahrnehmen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendig verraten haben würde. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm einige abgebrochene Sätze, als da waren: – »ohne meine Zustimmung!« – »noch zu meinen Lebzeiten« – »ich arme, unglückliche Frau« – »hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin« – und dergleichen, worauf er die Stiefelsohlen des fetten Jungen, der sich jetzt entfernte und die alte Dame allein ließ, im Sand knirschen hörte.

Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Herr Jingle schon in den ersten fünf Minuten seiner Ankunft zu Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, das Herz der Jungfer Tante ohne Verzug in Belagerungszustand zu versetzen. Er besaß Menschenkenntnis genug, um zu merken, daß sein dreistes Benehmen dem schönen Gegenstand seiner Wünsche keineswegs mißfiel. Er hegte die lebhafte Vermutung, daß sie auch in dem Besitze des wünschenswertesten aller Erfordernisse – nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andere Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und er entschloß sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding Henry Fielding, berühmter englischer Romandichter, der von 1707 bis 1754 lebte; Hauptwerk: »Tom Jones, oder die Geschichte eines Findlings«. sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, die der Fürst der Finsternis miteinander in Berührung bringe, um eine helle Lohe zu veranlassen. Herr Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern sind, was die Lunte für das Schießpulver, und so nahm er sich vor, die Wirkung einer Explosion ohne Zeitverlust zu versuchen.

Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schutze des vorerwähnten Gesträuchs dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen: denn eben verließ Herr Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Das Feld war also gesäubert.

Die Tür des Speisezimmers war halb offen. Er blickte hinein. Die Jungfer Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete – sie sah auf und lächelte. Zögern gehörte nicht zu Herrn Jingles Charakter. Er legte die Finger geheimnisvoll an seine Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

»Fräulein Wardle –« sagte Herr Jingle mit erkünsteltem Ernst – »entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien – alles entdeckt!«

»Sir!« entgegnete Jungfer Tante etwas überrascht über diese unerwartete Annäherung, und zweifelhaft, ob der Mann wohl auch bei Trost sei.

»Pst!« sagte Herr Jingle mit theatralischem Flüstern – »großer Junge – Knödelgcsicht – Pflugräderaugen – Spitzbube!«

Hier schüttelte er nachdrücklich den Kopf, während Jungfer Tante in innerer Beklemmung erzitterte.

»Es scheint, Sie spielen auf Joe an, Sir?« versetzte die Dame, indem sie sich zusammennahm, um gefaßt zu erscheinen.

»Ja, Fräulein – verdammter Joe! – Verräterischer Schlingel, Joe – schwatzte bei der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – derartiges – tja, Fräulein – wie?«

»Herr Jingle«, sagte die alte Jungfer, »wenn Sie hierher kommen, um mich zu beleidigen – – «

»Nicht doch – nicht im geringsten«, versetzte der nicht zu verblüffende Jingle. – »Hörte die Geschichte – kam her. Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung – will augenblicklich wieder gehen«.

Und er wandte sich um, als wollte er seine Drohung in Vollzug setzen.

»Aber was soll ich tun?« sagte die arme Jungfer in Tränen ausbrechend. »Mein Bruder wird rasen!«

»Läßt sich denken«, entgegnete Herr Jingle nach einer Pause – »wird wütend sein.«

»Ach, Herr Jingle, was kann ich sagen?« rief die Jungfer Tante in einem weiteren trostlosen Tränenstrom.

»Sagen? – Er hat geträumt«, versetzte Herr Jingle kaltblütig.

Ein Strahl der Hoffnung dämmerte in der Seele der armen Jungfer auf, als sie diesen Rat hörte. Herr Jingle nahm es in acht und verfolgte seinen Vorteil.

»Pah, pah! – Nichts leichter – verwünschter Blaustrumpf – liebenswürdige Dame – fetter Junge mit der Hundspeitsche traktiert – Ihnen geglaubt – alles vorbei – alles gut«.

Ob die Wahrscheinlichkeit eines Herauswindens aus dieser unzeitigen Entdeckung den Gefühlen der guten Jungfer so vergnüglich vorkam, oder ob das Prädikat »liebenswürdige Dame«, das ihr beigelegt wurde, das Bittere ihres Kummers milderte – wir wissen es nicht. Sie errötete und warf einen dankbaren Blick auf Herrn Jingle.

Der gewandte Gentleman seufzte tief auf, heftete ein paar Minuten seine Augen auf die Jungfer, sank dann ganz theatralisch zusammen und schlug die Blicke nieder.

»Sie scheinen unglücklich zu sein, Herr Jingle«, sagte die Dame mit teilnehmender Stimme. »Darf ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre gütige Vermittlung dadurch bezeugen, daß ich Sie nach dem Grunde Ihres Leidens frage, um ihn womöglich beseitigen zu können?«

»Ach!« rief Herr Jingle mit abermaliger Komödiengeberde – »beseitigen? – Mein Unglück beseitigen, wo Ihre Liebe einem Mann zugewandt ist, der einen solchen Segen gar nicht zu schätzen weiß? – einem Manne, der sich eben jetzt mit Absichten auf die Neigung der Nichte desselben Wesens trägt, das – doch nein, er ist mein Freund, und so will ich seine Mängel nicht enthüllen. Fräulein Wardle – leben Sie wohl!«

Bei dem Schlusse dieser Anrede, der zusammenhängendsten, die man je aus seinem Munde vernommen hatte, brachte Herr Jingle den mehrmals erwähnten Rest eines Schnupftuchs an die Augen und wandte sich gegen die Tür.

»Bleiben Sie, Herr Jingle!« rief die Jungfer Tante mit Nachdruck. »Sie haben eine Anspielung auf Herrn Tupman gemacht – erklären Sie sich näher.«

»Nie!« rief Jingle in dem Tone seines Gewerbes. »Nie!«

Und um zu zeigen, daß er nicht weiter gefragt zu werden wünschte, rückte er einen Stuhl dicht an die Seite der Jungfer Tante und setzte sich nieder.

»Herr Jingle,« sagte die Tante, »ich bitte, ich beschwöre Sie, wenn irgendein schreckliches Geheimnis mit Herrn Tupman in Verbindung steht, so lüften Sie den Schleier.«

»Kann ich,« versetzte Herr Jingle, die Augen auf Fräulein Wardles Antlitz heftend – »kann ich mit ansehen – ein so liebliches Wesen – geopfert auf dem Altare herzloser Habsucht?« Er schien einige Augenblicke mit verschiedenen widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen, und fuhr dann mit leiser, gedämpfter Stimme fort: »Tupman hat nichts als Ihr Geld im Auge.«

»Der Elende!« rief die Jungfer voller Entrüstung.

Herrn Jingles Zweifel waren gelöst: sie hatte Geld.

»Und was noch mehr ist,« fuhr Herr Jingle fort, »er liebt eine andere.«

»Eine andere?« entgegnete Fräulein Wardle. »Und wer wäre diese?«

»Kleines Mädchen – schwarze Augen – Nichte Emilie.«

Eine Pause.

Auf der ganzen Welt gab es niemand, gegen den Jungfer Tante eine tödlichere und tiefer gewurzelte Eifersucht nährte, als gerade diese Nichte. Ein Glutstrom schoß ihr über Gesicht und Nacken, sie wiegte den Kopf mit der Miene unaussprechlicher Verachtung hin und her. Endlich biß sie sich in die dünnen Lippen, warf sich in die Brust und begann:

»Es kann nicht sein. Ich mag es nicht glauben.«

»Sie beobachten«, meinte Jingle.

»Das will ich«, versetzte die Tante.

»Auf ihre Blicke acht haben –«

»Soll geschehen.«

»Sein Flüstern.«

»Ja.«

»Wird am Tisch neben ihr sitzen –«

»Das mag er.«

»Ihr Artigkeiten sagen –«

»Sei’s drum,«

»Ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit erweisen –«

»Meinetwegen.«

»Mit Ihnen brechen.«

»Mit mir brechen?«, rief die Jungfer Tante. »Er mit mir brechen? Gut! Recht so!«

Und sie zitterte in der Wut getäuschter Hoffnung.

»Wollen Sie sich überzeugen?« fragte Jingle.

»Ich will.«

»Ihm entschlossen entgegentreten?«

»Ja.«

»Nachher nicht wieder mit ihm anbinden?«

»Auf keinen Fall.«

»Die Bewerbungen eines andern annehmen?«

»Ja.«

»So tun Sie es.«

Herr Jingle fiel auf seine Knie nieder, verharrte fünf Minuten in dieser Stellung, und erhob sich wieder als der begünstigte Liebhaber der Jungfer Tante – für den Fall, daß sich Herrn Tupmans Treulosigkeit herausstellen sollte.

Die Schuldigkeit des Beweises haftete auf Herrn Alfred Jingle, und er entledigte sich ihrer noch am nämlichen Tage beim Diner. Jungfer Tante mochte kaum ihren Augen trauen. Herr Tracy Tupman saß an Emiliens Seite und liebäugelte, flüsterte und lächelte mit Herrn Snodgraß in die Wette. Kein Wort – nicht einen Blick hatte er für sie, die tags zuvor noch der Stolz seines Herzens war.

»Verwünschter Bube!« dachte der alte Herr Wardle, dem seine Mutter Joes Erzählung mitgeteilt hatte. »Verwünschter Bube! Er muß geschlafen und geträumt haben. Eitel Einbildung!«

»Der Verräter!« dachte die alte Jungfer ihrerseits. »Der gute Herr Jingle hat mich nicht hintergangen. O, wie hasse ich den Bösewicht!« –

Die folgende Unterhaltung aber wird dazu dienen, unsern Lesern die scheinbar unerklärliche Veränderung in Herrn Tracy Tupmans Benehmen zu enträtseln.

Es war Abend – Schauplatz der Garten. Auf einem Nebenwege ergingen sich zwei Gestalten – die eine ziemlich klein und beleibt, die andere hoch und hager. Sie waren Herr Tupman und Herr Jingle. Die kleinere begann das Gespräch.

»Nun, wie habe ich meine Rolle gespielt?«

»Vortrefflich – fabelhaft – hätt’s selbst nicht besser machen können – Sie müssen in dieser Weise fortfahren – morgen – jeden Abend – bis auf ein weiteres Zeichen.«

»Wünscht es Rachel noch immer?«

»Natürlich – tut’s freilich nicht gern – aber muß sein – Verdacht abwenden – fürchtet ihren Bruder – sagt, es lasse sich nicht ändern – nur noch einige Tage – bis die alten Leute verblendet sind – Ihrem Glücke dann die Krone aufsetzen.«

»Läßt sie mir sonst nichts sagen?«

»Versichert Liebe, – treue – unverbrüchliche Liebe. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Mein lieber Freund«, versetzte der nichts ahnende Tupman, glühend die Hand des vermeintlichen Freundes ergreifend, »versichern auch Sie Fräulein Rachel gleichfalls meiner wärmsten Liebe – sagen Sie ihr, wie schwer mir diese Verstellung wird – sagen Sie ihr alles, was sich in einem solchen Falle sagen läßt: aber fügen Sie auch bei, wie sehr ich die Notwendigkeit des Benehmens fühle, das sie mir diesen Morgen durch Sie anempfehlen ließ. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Weisheit verehre und ihre kluge Vorsicht bewundere.«

»Soll geschehen. Weiter nichts?«

»Nein; nur noch das, daß ich mich glühend nach dem Augenblick sehne, »wo ich sie die Meinige nennen und jede Maske ablegen kann.«

»Wird besorgt – wird besorgt. Noch etwas auf dem Herzen?«

»Ach, mein Freund,« sagte der arme Tupman, abermals die Hand seines Gefährten ergreifend, »empfangen Sie meinen wärmsten Dank für ihre uneigennützige Güte, und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit dem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Dienst vergelten?«

»Reden Sie nicht davon«, versetzte Herr Jingle.

Er hielt sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: »Übrigens, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblick zu besonderen Zwecken benötigt – zahle wieder in drei Tagen.«

»Aber mit Vergnügen«, versetzte Herr Tupman in der Überfülle seines Herzens. »Drei Tage sagen Sie?«

»Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.«

Herr Tupman zählte das Geld auf die Hand seines Gefährten, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Stück für Stück in seine Tasche gleiten.

»Vorsichtig«, sagte Herr Jingle – » ja keinen Blick.«

»Keine Silbe.«

»Nicht die leiseste.«

»Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas unartig gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.«

»Soll alles pünktlich geschehen«, sagte Herr Tupman laut.

»Ja, ja, tu es nur pünktlich!« dachte Herr Jingle; und sie traten ins Haus.

Die Szene des Nachmittags wurde am Abend wiederholt, und ein gleiches geschah an den drei nächstfolgenden Nachmittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Haltlosigkeit der Klage gegen Tupman überzeugt. Bei Herrn Tupman aber stand es ähnlich, da ihm Herr Jingle mitgeteilt hatte, seine Angelegenheit würde bald zur Entscheidung kommen. Herr Pickwick war ebenfalls heiter, weil er selten anders war. Nur von Snodgraß ließ sich das nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Herrn Tupman, während wieder die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Herr Jingle nebst Fräulein Tante – diese aus sehr erheblichen Gründen, die in einem andern Kapitel unserer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlossen.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Eine Entdeckung und eine Verfolgung.

Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren herangerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles verkündigte die Nähe des vergnüglichsten Zeitabschnitts im Verlauf des Tages.

»Wo ist Rachel?« fragte Herr Wardle.

»Ja, und wo Herr Jingle?« fügte Herr Pickwick bei.

»Ach du mein Himmel«, sagte der Hausherr, »es nimmt mich wunder, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Ich glaube, ich habe seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört. Liebe Emilie, klingle doch mal.«

Die Klingel wurde gezogen und der Junge trat ins Zimmer.

»Wo ist Fräulein Rachel?«

Er wußte nichts.

»Wo ist Herr Jingle?«

Er wußte es gleichfalls nicht.

Alle blickten sich überrascht an. Es war spät – bereits elf Uhr vorbei. Herr Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum und unterhielten sich von ihm. Ha, ha! Ein herrlicher Einfall – Kapitalspaß!

»Tut nichts – tut nichts«, sagte Herr Wardle nach einer kurzen Pause. »Ich wette, sie werden bald da sein. Mit dem Nachtessen warte ich nie auf jemand.«

»Treffliche Hausordnung, das«, bemerkte Herr Pickwick. »Bewunderungswürdig.«

»Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, meine Herren«, sagte der Hausherr.

»Wenn Sie erlauben«, versetzte Herr Pickwick.

Und die Gesellschaft ließ sich nieder.

Ein ungeheures Stück kalten Rinderbratens stand auf dem Tisch, und Herr Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er erhob eben die Gabel zu seinen Lippen und war im Begriffe, den Mund zu öffnen und den Brocken dem obern Ende seines Verdauungskanals anzuvertrauen, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton vieler Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Herr Wardle hielt gleichfalls inne, und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in dem Fleische stecken. Er sah Herrn Pickwick an, und Herr Pickwick blickte auf Herrn Wardle.

Schwere Fußtritte ließen sich von dem Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Herrn Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefeln gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.

»Was, zum Teufel, soll das heißen?« rief der Hausherr.

»Hat etwa der Küchenschornstein Feuer gefangen, Emma?« fragte die alte Dame.

»Ach Gott, ’s wird doch das nicht sein, Großmutter!« kreischten die jungen Damen.

»Was ist los?« rief der Hausherr.

Der Mann haschte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:

»Sie sind fort, Herr – auf und davon, Sir!«

Bei dieser Eröffnung sah man Herrn Tupman Messer und Gabel niederlegen und erblassen.

»Wer ist fort?« sagte Herr Wardle heftig.

»Herr Jingle und Fräulein Rachel – in einer Postkutsche – vom Blauen Löwen in Muggleton aus. Ich war dort – konnte sie aber nicht zurückhalten; und so lief ich, hast du was kannst du, um es hier mitzuteilen.«

»Und ich mußte die Kosten dazu herschießen!« rief Herr Tupman, ganz außer sich aufspringend. »Er hat zehn Pfund von mir mitgenommen! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir’s nicht gefallen! Ich will mein Recht haben, Pickwick! Ich will nicht ruhig zusehen, wenn ich um mein Eigentum geprellt werde!«

Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen rannte Herr Tupman wie toll im Zimmer umher.

»Gott behüte uns!« rief Herr Pickwick, die. außerordentlichen Gebärden seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. »Er ist übergeschnappt; was fangen wir an?«

»Was wir anfangen?« entgegnete der Hausherr, der bloß Pickwicks letzte Worte gehört hatte. »Spannt das Pferd in die Deichsel. Ich will im Löwen eine Postkutsche nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo –« rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen – »wo ist der heillose Kerl, der Joe?«

»Hier bin ich – aber kein heilloser Kerl«, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.

»Lassen Sie mich, Pickwick!« schrie Wardle, als er auf den unglücklichen Joe losstürzen wollte. »Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen, damit er mir eine falsche Witterung beibringe und mir mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman einen blauen Dunst vormache.« (Hier sank Herr Tupman auf seinen Stuhl zurück.) »Lassen Sie mich – ich muß ihm zu Leibe.«

»Ach, halten Sie ihn ja fest!« kreischten die Frauenzimmer, und aus ihrem Geschrei hörte man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraus.

»Weg da!« rief der alte Mann. »Zurück mit Ihren Händen, Herr Winkle! Lassen Sie mich los, Herr Pickwick!«

Es war erbaulich, in diesem Augenblicke des Tumults und der Verwirrung den ruhigen und philosophischen Ausdruck in Herrn Pickwicks Gesicht wahrzunehmen. Er stand da, allerdings etwas gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seine« korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, und verhütete so einen tätlichen Ausbruch von dessen leidenschaftlichem Zorn, während der fette Junge von sämtlichen Damen zur Tür hinausgeschoben und gezerrt wurde. Er hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß der Wagen bereit wäre.

»Lassen Sie ihn nicht allein fort!« riefen die Frauenzimmer. »Es gibt ein Unglück!«

»Ich will ihn begleiten«, sagte Herr Pickwick.

»Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick«, sagte Herr Wardle, seine Hand ergreifend. »Emma, gib Herrn Pickwick einen Schal um den Hals – rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. So kommen Sie – sind Sie fertig?«

Da Herr Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in einen großen Schal gehüllt, den Hut auf seinen Kopf gepflanzt und den Überrock über den Arm geworfen hatte, antwortete er mit Ja.

Sie sprangen in den Wagen. »Laß dem Pferd den Zügel, Tom«, sagte Herr Wardle: und fort ging’s über die schmalen Feldwege weg, holter, polter über die Wagengeleise und an den Knicks vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk möchte in Stücke fliegen.

»Haben sie einen starken Vorsprung?« rief Herr Wardle, als der Wagen vor dem blauen Löwen anlangte, um den sich, so spät es war, ein kleines Häufchen Neugieriger versammelt hatte.

»Nicht über drei Viertelstunden«, lautete die vielstimmige Antwort.

»Schnell eine Kutsche mit Vieren! – Heraus damit! Man kann den kleinen Wagen nachher ausspannen.«

»Nun, Jungen!« rief der Wirt: »eine Kutsche und vier Pferde! Hurtig – zeigt ein bißchen Leben!«

Die Stallknechte und Jungen eilten weg. Laternen huschten hin und her: Pferdehufe klapperten auf dem unebenen Hofpflaster, die Kutsche rumpelte aus dem Schuppen heraus, und alle« war voll Leben und Bewegung.

»Nun – wird’s noch diese Nacht?« rief Wardle ungeduldig.

»Kommt eben in den Hof, Sir«, versetzte der Stallknecht.

Und der Wagen kam – die Pferde wurden eingespannt – die Postillions sprangen hinzu – die Reisenden stiegen ein.

»Wohlgemerkt – die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein«, rief Herr Wardle.

»Fort!«

Die Jungen brauchten Peitsche und Sporn, die Kellner schrien, die Stallknechte fluchten, und dahin flog der Wagen in wütender Eile.

»Eigentümliche Lage«, dachte Herr Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen gewann. »Eigentümliche Lage für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfe Kutsche – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in einer Stunde – und nachts zwölf Uhr!« Die ersten drei oder vier Meilen verlautete kein Wort unter den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eigenen Gedanken zu schaffen hatte, um an den andern eine Bemerkung zu richten. Aber jetzt, da die warm gewordenen Pferde einmal im Zuge waren, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung aufgerüttelt, und er konnte nicht länger, ganz stumm da zu sitzen.

»Ich denke, wir werden sie sicher einholen«, begann er.

»Ich hoffe es«, versetzte sein Gefährte.

»Eine schöne Nacht«, sagte Herr Pickwick nach dem klaren Monde aufblickend.

»Um so schlimmer«, entgegnete Wardle, »denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil des Mondlichts, der uns fehlt, da der Mond keine Stunde mehr am Himmel stehen wird.«

»In der Dunkelheit wird’s freilich nicht mit der gleichen Geschwindigkeit fortgehen können – oder?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß nicht«, versetzte Herr Wardle trocken.

Herrn Pickwicks Aufregung begann sich ein wenig zu legen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren einer Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Endlich wurde er jedoch durch das laute Rufen des Postillions auf dem Leitgaule aus seinen Betrachtungen geweckt.

»Hallo! Hallo!« rief der erste Postillion.

»Hallo! Hallo!« wiederholte der zweite.

»Hallo! Hallo!« stimmte der alte Wardle lustig mit ein, indem er den Kopf und den halben Körper zum Fenster hinaussteckte.

»Hallo! Hallo!« schrie Herr Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum?

Und während dieses vierfachen »Hallos« machte der Wagen halt.

»Was gibt’s?« fragte Herr Pickwick.

»Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören«, versetzte der alte Wardle.

Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien verbracht wurden, trat ein alter Mann, nur in Hemd und Beinkleidern, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

»Wie lange ist’s, seit eine Postkutsche hier passierte?« fragte Herr Wardle.

»Wie lange?«

»Ja, wie lange?«

»Kann’s nicht genau sagen. Gar lange wird’s nicht sein, aber auch nicht gar kurz – just so zwischen drin, denke ich.«

»Es kam aber doch wirklich eine Kutsche vorbei.«

»O ja; ne Kutsche ist vorbeigekommen.«

»Aber seit wie lange, mein Freund«, mischte sich Herr Pickwick ein. »Vor einer Stunde vielleicht?«

»So was mag’s gewesen sein«, versetzte der Mann.

»Oder zwei Stunden? fragte der Postillion des hinteren Zugs.

»Könnten auch zwei Stunden sein«, entgegnete der alte Mann zweifelhaft.

»Fort, Jungen«, rief der Wardle ärgerlich: »haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf.«

»Dummkopf?« rief der alte Mann mit einem Grinsen, indem er den Balken halb vorschob und in die Mitte des Weges trat, um der Kutsche nachzusehen, die mit der zunehmenden Entfernung rasch den Blicken verschwand. »Lange kein solcher, als der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so klug fort, wie er hergekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seinen Goldfuchs nur halb so gut verdient, wie ich, so wirst du die andere Kutsche vor Michaelis nicht einholen, alter Fettbauch.«

Und weiter grinsend schloß der Mann den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

Inzwischen ging die Kutsche stets mit gleicher Geschwindigkeit weiter, bis sie am Ende der Station anlangte. Der Mond ging, wie Herr Wardle richtig bemerkt hatte, zeitig unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umzogen, sammelten sich bald zu einer einzigen dunklen Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden das rasche Annähern einer stürmischen Nacht zu verkündigen. Der Wind, der ihnen gerade entgegenblies, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den die Chaussee begrenzenden Bäumen. Herr Pickwick wickelte sich fester in seinen Überrock, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und verfiel in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als die Kutsche halt machte und der Ton der Stallklingel nebst dem lauten Ruf: »Rasch! Pferde vor!« erscholl.

Aber hier gab es wieder eine Zögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Stallknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und selbst als dieser gefunden war, verwechselten die Postillione die Pferdegeschirre, so daß das Geschäft der Zurichtung wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Herr Pickwick allein gewesen, diese vielen Hindernisse hätten jedem Weiterfahren auf einmal ein Ziel gesteckt! aber der alte Herr Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er ging bei allem so rührig an die Hand, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten erwarten ließ, zum Abfahren bereit stand.

Sie nahmen die Reise – allerdings nicht unter besonders günstigen Umständen – wieder auf. Die Station war fünfzehn Meilen lang, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die andere Station zu erreichen. Hier trafen sie jedoch auf einen Umstand, der alle ihre Hoffnungen wieder aufleben machte und ihren sinkenden Mut hob.

»Wann ist diese Nacht eine Kutsche angekommen?« rief der alte Wardle, aus seinem eigenen Wagen springend, und auf ein Fuhrwerk deutend, das, mit Kot bedeckt, auf dem Hof stand.

»Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir«, versetzte der Stallknecht, an den diese Frage gerichtet war.

»Ein Herr und eine Dame?« fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

»Ja, Sir.«

»Der Herr groß – dünn – lange Beine?«

»Ja, Sir.«

»Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?«

»Ja, Sir.«

»Beim Himmel, sie sind’s, Pickwick!« rief der alte Herr.

»Sie wären schon früher angelangt, wenn ihnen nicht ein Zugstrang zerrissen wäre«, sagte der Stallknecht.

»Sie sind’s«, rief Herr Wardle. »Gerechter Himmel, sie sind’s! Geschwind – eine Kutsche und vier Pferde! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem einen Goldfuchs, Jungens – rührt euch – tapfer – so; brave Burschen.«

Unter solchen Ermunterungen rannte der alte Herr geschäftig im Hofe hin und her. Er war in einer Aufregung, die sich sogar Herrn Pickwick mitteilte, so daß dieser Gentleman gleichfalls an dem Einschirren der Pferde mithalf und auf eine ganz wundersame Weise nach den Rossen und den Rädern sah, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigsten Aufbruch wesentlich zu fördern.

»Hinein – hinein!« rief der alte Wardle, indem er in den Wagen stieg, den Tritt nachzog und den Schlag schloß. »Kommen Sie – beeilen Sie sich.«

Und noch ehe Herr Pickwick wußte wie, fühlte er sich durch einen tüchtigen Ruck von seiten des alten Herrn und durch einen Nachschub des Stallknechts durch den andern Schlag in den Wagen gehoben. Dann ging es wieder weiter.

»So – jetzt sind wir wieder in Bewegung«, rief der alte Herr frohlockend.

Das war auch in der Tat der Fall, wie Herr Pickwick aus den häufigen Zusammenstößen mit der Kutschenwand und seinem Nachbar am besten empfand.

»Greifen Sie nach dem Halter«, sagte Herr Wardle, als ihm Herrn Pickwicks Kopf gegen die Rippen fuhr.

»Ich bin in meinem Leben nie so gerüttelt worden«, entgegnete Herr Pickwick.

»Macht nichts«, versetzte sein Gefährte: »wird bald vorüber sein. Halten Sie sich nur fest.«

Herr Pickwick drückte sich so fest er konnte in seine Ecke, und der Wagen rollte schneller als je dahin.

Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Herr Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinaus gesehen, plötzlich den von Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Hast ausrief:

»Dort sind sie!«

Herr Pickwick steckte den Kopf gleichfalls durch das Fenster. Ja, es war eine Kutsche mit vier Pferden, die in vollem Galopp in kurzer Entfernung vor ihnen dahinsprengte.

»Vorwärts! vorwärts!« schrie der alte Herr. »Zwei Goldfüchse für jeden. Jungen – holt sie ein – drauf – drauf!«

Die Pferde der ersten Kutsche jagten in höchster Eile davon, und Herrn Wardles jagten wütend hinterdrein.

»Ich sehe seinen Kopf«, rief der cholerische alte Herr; »ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.«

»Ich gleichfalls«, sagte Herr Pickwick. »Er ist’s!«

Herr Pickwick hatte sich nicht geirrt. Herrn Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Fenster der Kutsche zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes verrieten, daß er die Postillione antrieb, ihr Äußerstes zu tun.

Die Spannung war aufs höchste gesteigert. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes an ihnen vorbeizufliegen, so jagten die Rosse dahin. Sie waren hart an der ersten Kutsche und konnten Jingles Stimme selbst unter dem Rädergerassel die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Zorn und Wut. Er warf ihm »Schurken« und »Spitzbuben« zu Dutzenden nach und schüttelte die Faust nachdrücklich gegen den Gegenstand seiner Entrüstung. Aber Herr Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Beihilfe der Peitsche und des Sporns rascher anzogen und die Verfolger weit hinter sich ließen.

Herr Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Herr Wardle, von seinem Schreien erschöpft, das gleiche getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens gegen die Vorderseite geschleudert wurden. Ein dumpfer Ton – ein lautes Krachen – ein Rad flog ab, und die Kutsche schlug um.

Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Herr Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf seinen Beinen stand und sich aus den Schößen seines Überrocks auswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.

Der alte Herr Wardle stand ihm ohne Hut und mit zerrissenen Kleidern zur Seite, und die Bruchstücke des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillions, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, standen, beschmutzt und von dem scharfen Ritt erschöpft, bei ihren Pferden. Die andere Kutsche hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Schritten und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Postillione blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Herr Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, zeigte gleichfalls eine nicht unzufriedene Miene. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlicht des Morgens deutlich unterscheiden ließ.

»Holla!« rief der schamlose Jingle: »Jemand beschädigt? – Ältere Herren – nicht leicht – gefährliche Arbeit – wahrhaftig.«

»Sie sind ein Schurke!« brüllte Wardle.

»Ha! ha!« lachte Herr Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Winke und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche bei – »ich sage – sie ist ganz wohl – besten Gruß von ihr – bittet. Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt Tuppy grüßen – wollen Sie nicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungen«!«

Die Postillione nahmen wieder ihre frühere Haltung ein, und die Kutsche rasselte weiter, während Herr Jingle höhnend sein Taschentuch zum Fenster hinausflattern ließ.

Nichts von dem ganzen Abenteuer – nicht einmal der Umsturz des Wagens – war imstande gewesen, Herrn Pickwicks Gemütsruhe zu trüben. Aber die Bosheit dieses Menschen, der zuerst von seinem treuen Begleiter Geld borgte und dann dessen Namen schmählicher Weise zu »Tuppy« abkürzte, war mehr, als er ertragen konnte. Er holte tief Atem, wurde rot bis an seine Brille und sagte langsam und nachdrücklich:

»Wenn ich je wieder mit diesem Menschen zusammentreffe, so will ich –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn Herr Wardle; »das ist alles ganz recht. Aber während wir hier stehen und schwatzen, verschafft er sich eine Heiratserlaubnis und läßt sich in London trauen.«

Herr Pickwick hielt inne und stöpselte die Flasche, die er aus Wut entkorkt hatte, wieder zu.

»Wie weit ist’s bis zur nächsten Station?« fragte Herr Wardle einen der Postillione.

»Sechs Meilen – gelt Tom?«

»Etwas drüber.«

»Etwas über sechs Meilen, Sir.«

»Da ist nichts anderes zu machen, als zu Fuß hinzugehen, Pickwick«, sagte Herr Wardle.

»Freilich, ’s gibt keinen andern Ausweg«, versetzte dieser wahrhaft große Mann.

Sie sandten nun einen der Postjungen zu Pferd voraus, um einen neuen Wagen samt Pferden zu bestellen, und ließen den andern bei der zerbrochenen Kutsche zurück, während sie selbst sich mannhaft in Bewegung setzten, nachdem sie zuvor den Hals durch ihre Tücher geschützt und ihre Hüte niedergekrempt hatten, um sich so viel wie möglich gegen den Regen zu schützen, der jetzt nach kurzem Nachlassen wieder in Strömen zu fließen begann.

 

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Klärt alle etwa vorhandenen Zweifel über Herrn Jingles Uneigennützigkeit auf.

In London gibt es verschiedene alte Wirtshäuser, die in einer Zeit, wo die Postkutschen ihre Fahrten in einer ernsteren und feierlicheren Weise – als heutzutage, zurücklegten, die Hauptquatiere der berühmtesten Postwagen waren, obgleich sie jetzt zu wenig mehr, als zu Warte- und Einschreiblokalen für Frachtfuhrleute heruntergesunken sind. Der Leser würde sich umsonst unter den Goldenen Kreuzen, Ochsen und Löwen, die in Londons verbesserten Straßen die Gasthöfe zieren, nach einem dieser alten Hotels umsehen, sondern müßte dazu seinen Schritt nach den obskurieren Stadtteilen richten, wo er hin und wieder eines in einen düstern Winkel gedrückt antreffen könnte. Da bietet es mit einer Art finsterer Störrigkeit der Verschönerung der Umgebung Trotz.

In dem Borough Boroughs (deutsch mit unserm »Burg« identisch) waren in alter angelsächsischer Zeit feste Verteidigungsplätze; später bedeuteten sie Ortschaften mit dem Recht einer Gemeinde. stehen noch ungefähr ein halb Dutzend solcher Häuser, die ihre äußere Form unverändert beibehalten haben und ebenso gut der modernen Verschönerungssucht, als den Eingriffen des Spekulationsgeistes entgangen sind. Es sind große, geräumige, wunderliche alte Gebäude mit Galerien, Hausfluren und Treppen, weit und altväterisch genug, um Stoff zu hundert Gespenstergeschichten zu liefern, falls wir je in die traurige Notwendigkeit versetzt werden sollten, solche zu erfinden. Ja, es würde bis an der Zeiten Ende währen, wollte man die unzähligen und wahrhaftigen Legenden erschöpfen, die sich an die alte Londoner Brücke und ihre nächste Nachbarschaft auf der Surreyseite knüpfen.

Auf dem Hofe eines dieser Wirtshäuser, das kein geringeres Schildzeichen, als das des weißen Hirschen führte, war an demselben Morgen, der Herrn Pickwicks und Herrn Wardles Unglücksnacht folgte, ein Mann emsig mit Bürsten eines schmutzigen Stiefelpaares beschäftigt. Er trug eine grobe, gestreifte Weste mit schwarzen Kalikoärmeln und blauen Glasknöpfen, braune Kniehosen und desgleichen Gamaschen. Ein hellrotes Taschentuch war lose und ungezwungen um seinen Hals geknüpft, und ein alter weißer Hut saß nachlässig auf dem einen Ohr. Er hatte zwei Reihen Stiefel – die eine gereinigt, die andere noch schmutzig – vor sich, und bei jedem Zuwachs der gewichsten Reihe hielt er einen Augenblick inne, um das Ergebnis seiner Tätigkeit mit Behagen zu überschauen.

Im Hof zeigte sich nichts von dem rührigen, lärmenden Treiben, das die charakteristische Eigenschaft eines von vielen Fuhrwerken besuchten Gasthauses ist. Drei oder vier schwerfällige Frachtwagen waren bis an die Decke des die Hofmauer von einer Seite überragenden leichten Daches beladen und reichten wohl bis zu den Fenstern des zweiten Stocks eines gewöhnlichen Hauses. Sie standen ruhig unter ihren Schuppen, während ein weiterer Wagen, der wahrscheinlich an diesem Morgen abfahren wollte, in den freien Raum hinausgezogen war. Eine doppelte Reihe von Galerien mit plumpen, alten Geländern führte zu den Schlafzimmern und lief in der ganzen inneren Seite des Hauses herum. Eine gleichfalls doppelte Reihe von Klingeln, die mit den Schlafzimmern in Verbindung standen, hingen, durch einen kleinen Dachvorsprung gegen den Regen geschützt, über der Tür der Gaststube. Zwei oder drei Zweiradwagen und Kutschen hatten in den Schuppen ihr Unterkommen gefunden. Nur der schwere Huftritt eines Fuhrmannsgauls oder das Klirren einer Kette an dem hinteren Ende des Hofes verkündete hin und wieder einem Neugierigen, daß in jener Richtung der Stall läge. Fügen wir noch bei, daß einige Jungen in leinenen Kitteln auf dem schweren Gepäck, den Wollsäcken und andern Artikeln, die auf den Strohhaufen umherlagen, schliefen, so haben wir den Hof des Weißen Hirschen, High Street, Borough, wie er sich an diesem Morgen darstellte, so ausführlich wie möglich beschrieben.

Auf lautes Klingeln zeigte sich in der oberen Schlafzimmergalerie ein dralles Dienstmädchen, das an die Tür pochte, von innen einen Auftrag erhielt und über das Geländer rief:

»Sam!«

»Was ist?« versetzte der Mann mit dem weißen Hut.

»Nummer Zweiundzwanzig will seine Stiefel.«

»Frage Nummer Zweiundzwanzig, ob er sie gleich jetzt haben, oder ob er warten will, bis er sie kriegt«, war die Antwort.

»Ach, sei kein Narr, Sam«, entgegnete das Mädchen begütigend: »der Herr will die Stiefel jetzt.«

»Wenn ich auch ein Narr bin, mein Jüngferchen, so tanze ich doch nicht nach deiner Pfeife«, sagte der Stiefelputzer. »Sieh mal diese Stiefel an – elf Paar und ein Schuh, der der stelzbeinigen Nummer Sechs gehört. Die elf Paar Stiefel sind bis halb neun und der Schuh bis neun Uhr bestellt. Wer ist Nummer zweiundzwanzig, das er vor den andern etwas voraus haben will? Nein, nein: ’s muß alles der Reihe nach gehen, wie Henkersmeister Knüpfauf sagt, wenn er einen heißen Arbeitstag hat. Tut mir leid, Sir, daß Sie warten müssen: die Reihe wird aber bald an Sie kommen.«

Mit diesen Worten nahm der Mann mit dem weißen Hut wieder seine Arbeit auf und bürstete auf einen Stulpenstiefel mit erneuter Wucht los.

Abermals Klingeln, und die geschäftige alte Wirtin im Weißen Hirsch erschien auf der entgegengesetzten Galerie.

»Sam!« rief die Wirtin. »Wo ist der faule Schlingel – Sam! Da seid Ihr ja! Warum gebt Ihr keine Antwort?«

»Wäre nicht höflich, zu antworten, ehe Sie gesprochen haben«, entgegnete Sam grämlich.

»Da; putze geschwind diese Schuhe für Nummer Siebzehn und bring sie dann in das Zimmer Nummer Fünf im ersten Stock.«

Die Wirtin warf ein Paar Schuhe in den Hof und ging weiter.

»Nummer Fünf«, sagte Sam, als er die Schuhe aufhob, eln Stück Kreide aus seiner Tasche langte und das Merkzeichen ihrer Bestimmung auf die Sohlen schrieb. »Damenschuhe und ein Extrazimmer. Denke mir, die ist nicht mit dem Botenwagen angekommen.«

»Sie kam erst diesen Morgen«, rief das Mädchen, die noch immer auf dem Galeriegeländer lehnte, »mit einem Herrn in einer Mietkutsche, demselben, der jetzt seine Stiefel will. Mach doch rasch; weiter hast du nichts mit der Sache zu schaffen.«

»Warum sagtest du mir das nicht gleich?« versetzte Sam unwillig, indem er die fraglichen Stiefel aus dem übrigen Haufen herauslangte. »Konnte ich’s riechen, daß sie einem andern, als einem der gewöhnlichen Dreipfennigfuchser gehörten? Eigenes Zimmer und dazu eine Dame! Wenn er so etwas von einem hohen Tier ist, so trägt er doch des Tags einen Schilling ein, die sonstigen Aufträge abgerechnet.«

Angespornt durch diese begeisternde Aussicht bürstete Master Samuel so emsig drauf los, daß in ein paar Minuten Stiefel und Schuhe in einem Glanze dastanden, sogar das Herz des liebenswürdigen Herrn Warren mit Neid zu erfüllen (denn für den Weißen Hirsch lieferten Day und Martin den Wichsebedarf). Darauf verfügte sich der Stiefelputzer mit den Prachtproben seiner Kunst an die Tür von Nummer Fünf.

»Herein!« rief eine männliche Stimme auf Sams Klopfen.

Sam machte seinen besten Kratzfuß, als er einen Herrn und eine Dame beim Frühstück sitzen sah. Nachdem er diensteifrig die Stiefel des Herrn rechts und links, und die Schuhe der Dame rechts und links zu ihren Füßen niedergelegt hatte, zog er sich wieder zurück.

»Hausknecht!« sagte der Herr.

»Sir«, versetzte Sam, die Tür wieder schließend, während er die Hand auf der Klinke ruhen ließ.

»Wißt Ihr – nun, wie heißt’s doch gleich – Doktor Commons?«

»Ja, Sir.«

»Wo ist es?«

»Pauls Kirchhof, Sir; niederer Bogengang nach der Straße zu, ein Buchladen an der einen, ein Gasthof an der andern Seite, und in der Mitte zwei Türsteher als Lizenzagenten Agenten, die Heiratserlaubnis besorgten und zugleich den Heiratsvermittler spielten.«

»Lizenzagenten?« fragte der Herr.

»Lizenzagenten«, wiederholte Sam. »Zwei Kerle mit weißen Schürzen – greifen nach dem Hut, wenn man durchgeht – ›Lizenz, Sir, Lizenz?‹ Kurioser Leuteschlag – und ihre Herren auch – Anwälte von Old Bailey, Sir – fehlt nicht.«

»Und was wollen sie denn?«, fragte der Herr.

»Was sie wollen? Sie, Sir! Und das wäre erst noch nicht das schlimmste. Sie setzen allen Herren Dinge in den Kopf, von denen sie sich in ihrem Leben noch nichts träumen ließen. Mein Vater, Sir, ist ein Kutscher – war Witwer – ein dicker Mann – ungemein stark. Als seine Frau starb, hinterließ sie ihm vierhundert Pfund.

Er geht zu den Commons, den Anwalt aufzusuchen und das Geld einzustreichen – putzt sich heraus – Stulpenstiefel an – einen Strauß ins Knopfloch – breitkrempigen Hut auf – grünes Halstuch um – ganz wie so’n Kavalier. Geht durch den Bogengang, denkt an nichts, als wie er sein Geld anlegen will – kommt ein Agent auf ihn zu, langt an den Hut – ›Lizenz, Sir, Lizenz?‹ – ›Was ist das für ein Ding?‹ fragte mein Vater. – ›Lizenz, Sir!‹ – ›Nun, was soll’s mit der Lizenz da?‹ sagt mein Vater. – ›Heiratslizenz›, versetzte der Agent. – ›Hol‘ mich der Henker, wenn mir so was einfällt‹, sagt mein Vater. – ›Ich denken, Sie könnten eine brauchen‹ – sagt der Agent. Mein Vater macht halt und besinnt sich ein bißchen. – ›Nein‹, sagt er, ›geht zum Kuckuck, ich bin zu alt und noch obendrein zu dick dazu.‹ – ›Nicht im geringsten, Sir‹, sagt der Agent. – ›Das wäre der Teufel‹, sagt mein Vater.

– ›Können sich darauf verlassen‹, sagt der Agent: ›wir haben erst letzten Montag einen Herrn verheiratet, der zweimal so dick war wie Sie.‹ – ›Wie – ist das wirklich wahr?‹ sagte mein Vater. – ›Ganz bestimmt‹, sagte der Agent: ›Sie sind ein Schneider gegen ihn – hier herein, Sir, hier herein!‹

Und mein Vater läuft ihm richtig nach, wie ein zahmer Affe einem Leierkasten, in eine kleine Schreibstube, wo ein Kerl hinter besudeltem Papier und blechernen Kapseln sitzt und gewaltig beschäftigt tut. ›Bitte, nehmen Sie Platz, während ich die Urkunde ausfertige, Sir‹, sagt der Advokat. ›Danke, Sir‹, sagt mein Vater, setzt sich, reißt Mund und Augen auf und glotzt die Namen an den Kapseln an. – ›Wie ist Ihr Name?‹ fragte der Advokat. ›Tony Weller‹, sagt mein Vater. – ›Kirchspiel?‹ sagt der Advokat. – ›Belle Savage‹, sagt mein Vater; denn da pflegte er sein Fuhrwerk einzustellen. Was man mit einem Kirchspiel wollte, wußte er nicht. – ›Der Name des Frauenzimmers?‹ sagte der Advokat. Mein Vater ist wie aus den Wolken gefallen. ›Hol mich der Henker, wenn ich’s weiß‹, sagt er. – ›Wie, Sie wissen’s nicht?‹ sagt der Anwalt. ›So wenig wie Sie‹, sagt mein Vater: ›kann man ihn nicht nachher hineinschreiben?‹ – ›Unmöglich‹, sagt der Anwalt. – ›Auch recht‹, sagt mein Vater: ›so schreiben Sie Frau Clarke.‹ – ›Was weiter?‹, sagt der Advokat und tunkt seine Feder in die Tinte. – ›Susanna Clarke im Marquis von Granby zu Dorting‹, sagt mein Vater: ›sie wird mich nehmen, wenn ich sie darum angehe – Hab‘ zwar noch nichts davon zu ihr gesagt: aber ich weiß, sie nimmt mich.‹ Die Lizenz wird ausgestellt und sie nimmt ihn – und was noch mehr ist, sie hat ihn jetzt, und ich habe von den vierhundert Pfund nicht ein einziges zu sehen gekriegt. Doch bitte um Verzeihung, Sir«, fügte Sam zum Schlusse bei; »aber wenn ich auf diese verdrießliche Geschichte komme, so geht’s bei mir fort wie bei einem frischgeschmierten Karren.«

Sam harrte noch einen Augenblick, ob nichts weiteres gewünscht werde, und verließ, als das nicht der Fall war, das Zimmer.

»Halb zehn – gerade die rechte Zeit – brechen wir auf«, sagte der Gentleman, den wir dem Leser wohl kaum als Herrn Jingle vorzustellen brauchen.

»Zeit – wofür?« fragte die Jungfer Tante kokettierend.

»Lizenz, teuerster Engel – Meldung an den Geistlichen – Sie die Meinige nennen – morgen –« versetzte Herr Jingle, indem er der Jungfer Tante die Hand druckte.

»Die Lizenz?« sagte Rachel errötend.

»Die Lizenz«, wiederholte Herr Jingle. –

»Hopphopp – geschwinde die Lizenz,
Hopphopp – geschwind zurücke.«

»So eilen Sie doch nicht so«, sagte Fräulein Rachel.

»Eilen? – Stunden – Tage – Wochen – Monate – Jahre sind nichts, wenn wir vereinigt sind – können kommen dann – mit Wagen – Eisenbahn – tausend Pferdekräfte – ficht uns nimmer an.«

»Könnte – könnte unsere Trauung nicht heute noch vollzogen werden?« fragte Rachel.

»Unmöglich – kann nicht sein – Meldung an den Geistlichen – Lizenz heute – Trauung morgen.«

»Ich fürchte nur, mein Bruder könnte uns finden«, sagte Rachel.

»Finden? Pah – zu sehr durchgeschüttelt vom Wagensturz – zudem – außerordentliche Vorsicht – Postkutsche aufgegeben – zu Fuß gegangen – Mietkutsche genommen – in Borough Quartier gemacht – letzter Platz in der Welt, wo gesucht wird – ha! ha! – kapitaler Einfall das – wahrhaftig.«

»Aber bleiben Sie nicht lange aus«, sagte die alte Jungfer zärtlich, als Herr Jingle den zerknüllten Hut auf seinen Kopf pflanzte.

»Lange entfernt bleiben von Ihnen? – Grausame Zauberin!«

Und Herr Jingle hüpfte scherzhaft auf die alte Jungfer zu, drückte einen keuschen Kuß auf ihre Lippen und tänzelte aus dem Zimmer.

»Der liebe Mann!« rief Fräulein Rachel, als sich die Tür hinter ihm schloß.

»Verwünschte alte Schachtel!« sagte Herr Jingle, als er den Hausflur erreichte.

Es ist eine schmerzliche Aufgabe, Betrachtungen über die Treulosigkeit des menschlichen Geschlechts anzustellen. Wir unterlassen es daher, den Faden von Herrn Jingles Gedanken weiter zu verfolgen, die ihn auf seinem Wege zu Doktor Commons beschäftigten. Es reicht für den Zweck unserer Erzählung hin, wenn wir melden, daß unser Ehrenmann glücklich den Schlingen der beiden Drachen mit den weißen Schürzen, die den Eingang dieses Zauberschlosses hüteten, entging und wohlbehalten in dem Bureau des Generalvikars anlangte. Dort wurde ihm im Namen des Erzbischofs von Canterbury ein höchst schmeichelhaftes Dokument mit der Aufschrift: »Dem lieben und getreuen Alfred Jingle und der lieben getreuen Rachel Wardle unsern Gruß«, ausgefertigt. Er steckte das geheimnisvolle Pergament sorgfältig in seine Tasche und kehrte triumphierend nach Borough zurück.

Er war noch nicht in seinem Quartier angelangt, als drei Herren – zwei wohlbeleibte und ein magerer – in den Hof des Weißen Hirschen traten und sich daselbst umsahen, als suchten sie jemand, an den sie einige Fragen stellen konnten. Master Samuel Weller war gerade beschäftigt, ein Paar Stulpen, das Eigentum eines Pächters, der sich eben nach den Mühseligkeiten des Boroughmarktes bei einem kleinen Lunch Mahlzeit zwischen dem Frühstück und dem in England spät in den Nachmittag fallenden Mittagessen. an etlichen Pfunden kalten Rindfleisches und einigen Kannen Bier erlabte, blank zu reiben, als der magere Herr auf ihn zuging.

»Mein Freund«, begann der magere Herr.

»Das ist auch einer, der umsonst etwas will«, dachte Sam; »sonst würde er mich nicht seinen Freund nennen. – Was steht zu Diensten, Sir?« sagte er laut.

»Mein Freund«, versetzte der magere Herr mit einleitendem Räuspern – »logieren gegenwärtig viele Leute im Hause? Sehr geschäftig, wie ich sehe.«

Sam warf einen verstohlenen Blick auf den Frager. Es war ein kleiner, ausgetrockneter Mann mit einem dunklen, runzligen Gesicht und kleinen, unruhigen schwarzen Augen, die zu jeder Seite der kleinen inquisitorischen Nase hervorblinzelten, als ob sie fortwährend mit diesem Teile seines Antlitzes Verstecken spielten. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug Stiefel, so glänzend wie seine Augen, eine schmale, weiße Halsbinde und ein feines Hemd mit einem Brusteinsatz. Eine goldene Uhrkette mit Petschaften hing an seiner Weste, und in den Händen, die er beim Sprechen mit der Miene eines geübten Examinators unter die Frackschöße steckte, hielt er ein Paar schwarze Lederhandschuhe.

»Viel zu tun, wie ich sehe?« sagte der kleine Mann.

»O, ’s geht an, Sir«, versetzte Sam. »Wir machen nicht Bankrott, werden aber auch nicht reich. Wir essen unsern Schöpsenbraten ohne Kapern und kümmern uns wenig um Meerrettich, wenn wir Ochsenfleisch kriegen können.«

»Ah«, sagte der kleine Mann, »Ihr seid ein Durchtriebener, wie ich merke – nicht wahr?«

»Mein ältester Bruder war mit dieser Krankheit geplagt«, entgegnete Sam. »Vielleicht habe ich auch etwas davon aufgefangen, da wir miteinander in einem Bette zu schlafen pflegten.«

»Das ist ein wunderliches, altes Haus«, sagte der kleine Mann, sich umsehend.

»Hätten Sie uns nur durch ein Wort zu wissen getan, daß Sie kommen wollten, so würden wir es haben ausbessern lassen«, versetzte der unerschütterliche Sam.

 

Der kleine Mann schien etwas verblüfft über diese ausweichenden Antworten, und er besprach sich nun mit den beiden beleibten Herren. Dann holte sich der kleine Mann eine Prise Schnupftabak aus einer silbernen Dose und war augenscheinlich im Begriff, seine Fragen wieder aufzunehmen, als ihm einer der beleibten Herren, der in einem gutmütigen Gesicht eine Brille hatte und ein Paar schwarze Gamaschen trug, zuvor kam.

»Es handelt sich nämlich darum«, sagte der Herr mit dem gutmütigen Gesichte, »daß mein Freund hier (er deutete dabei auf den andern beleibten Herrn) Euch einen halben Goldfuchs geben will, wenn Ihr auf zwei oder drei Fragen genü –«

»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, unterbrach ihn der kleine Mann: »ich bitte, erlauben Sie mir, mein lieber Herr. Der erste Grundsatz in der Behandlung solcher Fälle besteht darin, daß man sich in keiner Weise darein mengt, wenn man die Sache einmal einem Geschäftsmann übertragen hat, da dieser mit Recht unbedingtes Vertrauen verlangen kann. In der Tat, Herr –« er wandte sich an den andern beleibten Gentleman und fügte bei, »– ich habe den Namen Ihres Freundes vergessen.«

»Pickwick«, sagte Herr Wardle, denn es war kein anderer als dieser Ehrenmann.

»Ah, Pickwick: richtig, Herr Pickwick. Mein lieber Herr, entschuldigen Sie – ich werde mich glücklich schätzen, Ihre Privatansichten als die eines Freundes des Hauses entgegenzunehmen. Aber Sie müssen einsehen, wie wenig sich die Einmengung eines derartigen Arguments, einer goldenen Schmeichelei, wie sie das Anbieten einer halben Guinee ist, mit meinen Grundsätzen verträgt. Gewiß, lieber Herr, gewiß!«

Und der kleine Mann nahm eine beweisende Prise Tabak, wozu er das Gesicht in ungemein gelehrte Falten legte.

»Ich wollte weiter nichts«, sagte Herr Pickwick, »als die höchst mißliebige Angelegenheit zu einem möglichst schleunigen Ende bringen.«

»Ganz recht – ganz recht«, sagte der kleine Mann.

»In dieser Absicht«, fuhr Herr Pickwick fort, »machte ich Gebrauch von einem Argumente, das mir meine Erfahrung als das förderlichste für alle Fälle bezeichnet.«

»Ja, ja«, sagte der kleine Mann: »sehr gut, sehr gut – in der Tat. Aber Sie hätten mir das mitteilen sollen. Ich bin überzeugt, mein lieber Herr, daß Sie über den Umfang des Vertrauens, den ein Geschäftsmann zu beanspruchen hat, nicht im unklaren sein können. Wenn über diesen Punkt eine Autorität nötig sein sollte, möchte ich Sie auf den wohlbekannten Fall von Barnwell Anspielung auf Lillos Schauspiel »Der Kaufmann von London«, in dem ein junger Kaufmann Georg Barnwell um eine Dirne zugrunde gerichtet war. Dieses Werk ist das Muster des bürgerlichen Trauerspiels geworden. Unter seinem Einfluß schrieb Lessing seine »Miß Sara Sampson«. und –«

»Was geht uns Georg Barnwell an«, fiel Sam ein, der diesem kurzen Zwiegespräch verwundert zugehört hatte. »Jedermann weiß, was das für ein Fall war, und es ist immer meine Ansicht gewesen, daß das junge Weibsbild den Strick eher verdiente als er. Doch das gehört nicht hierher. Sie wollen mich für einen halben Goldfuchs ausfragen. Gut, ich habe nichts dagegen – kann ich mehr tun, Sir? (Herr Pickwick lächelte.) Nun ist aber die zweite Frage, was zum Teufel Sie von mir wollen, wie der Mann sagte, als er den Geist sah Anspielung auf Shakespeares »Hamlet« – die Geister-Szene.

»Wir wünschen zu wissen –« sagte Herr Wardle.

»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, fiel der geschäftige kleine Mann ein.

Herr Wardle zuckte die Achseln und schwieg.

»Wir wünschen zu wissen«, sagte der kleine Mann feierlich, »und wir fragen deshalb gerade Euch, um im Hause keine Besorgnisse zu erregen – wir wünschen zu wissen, sage ich, wer gegenwärtig im Wirtshause logiert.«

»Wer im Hause logiert?« versetzte Sam, in dessen Geist sich die Bewohner stets in der Form des Artikels vergegenwärtigten, der seiner unmittelbaren Besorgung anheimgegeben war. »Da ist ein Stelzfuß in Nummer Sechs«, ein Paar hessische Stiefel in Nummer Dreizehn, zwei Paar Halbstiefel in dem Krämerstübchen, diese gelben Stulpen in dem Kämmerchen neben dem Schenktisch, und fünf weitere Stulpenstiefel in dem Gastzimmer.«

»Weiter nichts?« fragte der kleine Mann.

»Halt, einen Moment«, versetzte Sam, sich plötzlich entsinnend. »Ein Paar ziemlich abgetragene Wellingtonstiefel und ein Paar Damenschuhe in Nummer Fünf.«

»Was sind das für Schuhe?« fragte Wardle hastig, den Sams wunderliche Aufzählung der Wirtshausgäste ebensosehr, wie Herrn Pickwick verwirrt hatte.

»Machwerk aus der Provinz«, entgegnete Sam.

»Und der Name des Meisters?«

»Brown.«

»Woher?«

»Von Muggleton.«

»Sie sind’s!« rief Herr Wardle. »Beim Himmel, wir haben sie gefunden.«

»Pst!« sagte Sam. »Die Wellingtonstiefel sind zu Doktors Commons gegangen.«

»Unerhört«, sagte der kleine Mann.

»Ja, er holt eine Lizenz.«

»Wir kommen gerade noch zur rechten Zeit«, rief Herr Wardle. »Zeigt uns das Zimmer: wir dürfen keinen Augenblick verlieren.«

»Bitte, lieber Herr – bitte«, sagte der kleine Mann: »nur vorsichtig – vorsichtig.«

Er zog aus seiner Tasche eine rotseidene Börse, sah Sam fest an und zog ein Goldstück heraus.

Sam verzog sein Gesicht zu einem ausdrucksvollen Grinsen.

»Führt uns rasch nach dem Zimmer, aber ohne uns anzumelden, und das Goldstück ist Euer«, sagte der kleine Mann.

Sam warf die gelben Stulpen in eine Ecke und ging durch einen dunklen Gang und ein weites Treppenhaus voran. Am Ende des zweiten Ganges hielt er inne und streckte seine Hand aus.

»Hier«, flüsterte der Sachwalter, als er das Geld in die Hand ihres Führers legte.

Sam trat noch einige Schritte weiter vor, wobei ihm die beiden Freunde und ihr rechtskundiger Ratgeber folgten: dann blieb er an einer Tür stehen.

»Ist dies das Zimmer?« fragte der kleine Herr leise.

Sam nickte bejahend.

Der alte Wardle öffnete die Tür, und alle drei traten in demselben Augenblick ins Zimmer, als Herr Jingle, der eben zurückgekehrt war, der Jungfer Tante die Lizenz vorlegte.

Die Jungfer Tante stieß einen lauten Schrei aus, warf sich in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit ihren Händen. Herr Jingle knüllte die Lizenz zusammen und steckte sie in seine Rocktasche. Die unwillkommenen Gäste traten in die Mitte des Zimmers.

»Ha – Sie elender – heilloser Schurke!« rief Herr Wardle, fast atemlos vor Zorn.

»Lieber Herr – lieber Herr«, sagte der kleine Mann, seinen Hut auf den Tisch legend. »Bitte, bedenken Sie doch – bitte. Großer Skandal, Ehrenkränkung, Entschädigungsklage. Beruhigen Sie sich, lieber Herr, bitte –«

»Wie konnten Sie sich unterstehen, meine Schwester aus meinem Hause zu entführen?« fragte der alte Mann.

»Ja – ja – sehr gut«, sagte der kleine Gentleman. »Das können Sie fragen. Wie konnten Sie sich unterstehen, Sir? – Antwort, Sir.«

»Wer zum Teufel sind denn Sie?« fragte Herr Jingle mit einer Heftigkeit, daß der kleine Herr unwillkürlich um einige Schritte zurücktrat.

»Wer er ist. Sie Halunke«, rief Herr Wardle dazwischen. »Mein Rechtsbeistand ist er – Herr Perker von Grans Inn. Perker, ich will, daß dieser Kerl gerichtlich verfolgt – zur Strafe gezogen wird – ja, ich will – ich will – Gott verdamme mich – ich will den Elenden zugrunde richten. Und du«, fuhr Herr Wardle, sich plötzlich an seine Schwester wendend, fort, du, Rachel, was soll das heißen, daß du in einem Alter, wo du doch einmal hättest klug werden sollen, mit einem Landstreicher davonläufst, Schande über deine Familie bringst und dich selber unglücklich machst? Setze deinen Hut auf und komm mit. Geschwind eine Mietkutsche, und bringt die Rechnung dieser Dame, hört Ihr – hört Ihr?«

»Sofort Sir«, versetzte Sam, der Herrn Wardles ungestümem Klingeln voll Eile Folge geleistet hatte. Jedem mußte das als ein Wunder erscheinen, der nicht gerade wußte, daß Ehren-Sam während des ganzen Vorgangs vor der Tür gestanden und durch das Schlüsselloch zugesehen hatte.

»Nimm deinen Hut«, wiederholte Wardle.

»Wird nichts gereicht«, sagte Jingle. »Das Zimmer verlassen, Sir – nichts zu schaffen hier – Dame ist frei – kann nach Gutdünken handeln – über einundzwanzig Jahre.«

»Über einundzwanzig?« rief Herr Wardle verächtlich. »Jawohl – über einundvierzig.«

»Das bin ich nicht«, sagte die Jungfer Tante, deren Entrüstung über den Entschluß, in Ohnmacht zu fallen, die Oberhand gewann.

»Allerdings«, versetzte Herr Wardle. »Es fehlt keine Stunde zu den Fünfzig.«

Hier stieß Jungfer Tante einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sank besinnungslos zusammen.

»Ein Glas Wasser!« rief der menschenfreundliche Pickwick der Wirtin zu.

»Ein Glas Wasser?« sagte der leidenschaftliche Wardle. »Bringt einen Zuber und gießt ihn über sie. Es wird ihr gut bekommen, sie hat eine solche Abkühlung reichlich verdient.«

»Pfui – Sie Unmensch!« rief die empfindsame Wirtin, »Die arme Dame.«

Und mit noch einigen andern Ausrufen, als da waren: »Kommen Sie, meine Liebe – trinken Sie ein wenig – es wird Ihnen gut tun – nehmen Sie sich’s nicht so zu Gemüt – das ist die Liebe« und dergleichen, benetzte die Wirtin, von ihrem Dienstmädchen unterstützt, die Schläfen der ohnmächtigen Jungfer Tante mit Essig, rieb ihr die Hände, kitzelte ihr die Nase, löste ihr Korsett und wandte die sonstigen üblichen Belebungsmittel an, mit denen mitleidige Frauen Damen beizuspringen pflegen, die sich bemühen, in Krämpfe und Ohnmacht zu fallen.

»Die Kutsche ist bereit, Sir«, sagte Sam, sich in der Tür zeigend.

»So kommt!« rief Herr Wardle. »Ich will sie die Treppe hinuntertragen.«

Bei diesem Vorschlage erneuerten sich die Krämpfe mit verdoppelter Heftigkeit.

Die Wirtin war eben im Begriff, einen sehr heftigen Protest gegen dieses Verfahren einzulegen, und hatte sich auch bereits durch die unwillige Frage, ob sich Herr Wardle für den Herrn der Schöpfung halte, Luft gemacht, als Herr Jingle sich ins Mittel legte.

»Hausknecht«, sagte er, »holt einen Polizeibeamten herbei.«

»Halt! halt!« sagte der kleine Herr Perker. »Überlegen Sie, Sir – überlegen Sie.«

»Ich will nichts überlegen«, versetzte Herr Jingle. »Sie ist ihr eigener Herr – will sehen, wer sich untersteht, sie fortzunehmen – gegen ihren Willen.«

»Ich will nicht fort«, flüsterte die Jungfer Tante; »mit meinem Willen gewiß nicht.«

Hier trat ein schrecklicher Rückfall ihres Zustandes ein.

»Meine lieben Herren«, sagte der kleine Mann leise, indem er Herrn Wardle und Herrn Pickwick beiseite nahm: »meine lieben Herren, wir sind da in einer verdrießlichen Lage. Es ist allerdings ein Unglück – gewiß; ein Unglück, wie mir nie eins vorgekommen. Aber in der Tat, meine lieben Herren, wir haben durchaus kein Recht, den freien Willen dieser Dame zu beschränken. Ich habe Sie im voraus darauf aufmerksam gemacht, lieber Herr, daß wir uns auf einen Vergleich gefaßt machen müßten.«

Es trat eine kurze Pause ein.

»Und welche Art von Vergleich würden Sie vorschlagen?« fragte Herr Pickwick.

»Je nun, lieber Herr, unser Freund ist in einer unangenehmen – in einer sehr unangenehmen Lage. Wir dürfen zufrieden sein, wenn wir mit einem Geldopfer davonkommen,«

»Ich will lieber alles über mich ergehen lassen, als diese Schmach geduldig hinnehmen und meine Schwester, so sehr sie es auch durch ihre Torheit verdient, einem lebenslänglichem Unglück preisgeben«, sagte Herr Wardle.

»Nun, ich denke fast, daß es gehen wird«, entgegnete der geschäftige kleine Mann. »Herr Jingle, wollen Sie einen Augenblick mit uns ins nächste Zimmer treten?«

Herr Jingle ließ sich’s gefallen, und die vier begaben sich in ein leeres Zimmer.

»Nun, Sir«, sagte der kleine Mann, nachdem er sorgfältig die Tür geschlossen hatte, »es gibt da keinen andern Weg, die Angelegenheit zu bereinigen – treten Sie einen Augenblick hierher, Sir – hierher, ans Fenster, wo wir uns allein besprechen können, Sir – so, Sir – ich bitte, nehmen Sie Platz, Sir. Unter uns gesagt, lieber Herr, wir wissen, daß Sie mit dieser Dame nur um ihres Geldes willen davongegangen sind. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sir – runzeln Sie nicht die Stirn: wir sprechen ja unter uns, und unter dem wir verstehe ich nur Sie und mich. Wir sind beide Weltmänner und wissen recht wohl, daß dies bei unsern Freunden dort nicht der Fall ist – wie?«

Herrn Jingles Gesicht heiterte sich allmählich wieder auf, und etwas, das einem Blinzeln des Einverständnisses ähnlich sah, zuckte für einen Moment um sein linkes Auge.

»Sehr gut, sehr gut«, sagte der kleine Mann, als er den Eindruck, den er gemacht hatte, gewahrte. »Die Sache verhält sich indessen so, daß die Dame, ein paar hundert Pfund abgerechnet, vor dem Tode ihrer Mutter über wenig oder nichts zu verfügen hat, und diese ist noch eine sehr gesunde und rüstige Frau, mein lieber Herr.«

» Alt«, versetzte Herr Jingle kurz, aber mit nachdrücklicher Betonung.

»Nun ja«, sagte der Sachwalter mit einem leisen Husten. »Sie haben recht, lieber Herr, sie ist ziemlich alt. Aber sie stammt aus einer alten Familie, mein lieber Herr, alt in jedem Sinne des Worts. Der Gründer dieser Familie kam nach Kent, als Julius Cäsar in Britannien einfiel – und seitdem ist, mit Ausnahme eines einzigen, der unter einem der Heinriche enthauptet wurde, kein Glied dieser Familie vor dem fünfundachtzigsten Jahr gestorben. Die alte Dame ist jetzt dreiundsiebzig, lieber Herr.«

Der kleine Mann hielt inne und nahm eine Prise Tabak.

»Was weiter, lieber Herr? – Darf ich Ihnen keine Prise anbieten? Nicht? Ah, um so besser – kostspielige Angewohnheit. Nun, lieber Herr, Sie sind ein hübscher, junger Mann – ein Weltmann – könnten Ihr Glück machen, wenn Sie Vermögen hätten – nicht wahr?«

»Wozu das?« entgegnete Herr Jingle.

»Begreifen Sie mich nicht?«

»Nicht ganz.« ___

»Meinen Sie nicht – nun, lieber Herr, ich stelle es Ihnen nur anheim, aber meinen Sie nicht, daß fünfzig Pfund und die Freiheit besser wären, als Fräulein Wardle und ein langes Warten?«

»Geht nicht – nicht halb genug!« sagte Herr Jingle aufstehend.

»Besinnen Sie sich doch, mein lieber Herr«, wandte der kleine Sachwalter ein, indem er Jingle beim Rockknopf faßte, »’s ist eine schöne runde Summe – ein Mann wie Sie könnte sie in ganz kurzer Zeit verdreifachen. Mit fünfzig Pfund läßt sich was Schönes anfangen, lieber Herr.«

»Aber noch mehr mit hundertfünfzig«, entgegnete Herr Jingle kaltblütig.

»Nun, lieber Herr, wir wollen die Zeit nicht mit Strohdreschen verlieren«, nahm der kleine Mann wieder auf. »Sagen Sie – sagen Sie siebzig.«

»Reicht nicht«, versetzte Herr Jingle.

»Bleiben Sie doch, mein lieber Herr – bitte, eilen Sie nicht so sehr«, erwiderte der kleine Mann. »Achtzig? Kommen Sie – ich schreibe Ihnen auf der Stelle die Anweisung.«

»Ist nicht genug«, sagte Herr Jingle.

»Wohlan, lieber Herr«, entgegnete der kleine Mann, ihn noch immer zurückhaltend, »so sagen Sie mir geradezu, wieviel Sie haben wollen.«

»Kostspielige Angelegenheit«, versetzte Herr Jingle. »Geld aus meiner Tasche – Post, neun Pfund – Lizenz, drei – macht zwölf – Entschädigung hundert – hundertzwölf – Ehrenkränkung – Verlust der Dame –«

»Nun, nun, lieber Herr«, sagte der kleine Mann mit einem schlauen Blick, »die beiden letzten Punkte wollen wir aus dem Spiel lassen. Hundertzwölf – sagen Sie hundert.«

»Und zwanzig«, fügte Herr Jingle bei.

»Kommen Sie: ich will Ihnen die Anweisung schreiben«, entgegnete der kleine Mann, der sich in dieser Absicht an den Tisch setzte.

»Übermorgen zahlbar«, sagte der kleine Mann mit einem Blick auf Herrn Wardle; »und wir können inzwischen die Dame mitnehmen.«

Herr Wardle nickte verdrießlich seine Zustimmung.

»Hundert?« sagte der kleine Mann.

»Und zwanzig«, ergänzte Herr Jingle.

»Mein lieber Herr«, entgegnete der kleine Mann in einem Tone, der ihm die Sache richtig vorstellen sollte.

»Schreiben Sie«, fiel ihm Herr Wardle ins Wort, »daß wir den sauberen Zeisig loswerden.«

Der kleine Mann schrieb die Anweisung, und Herr Jingle steckte sie in seine Tasche.

»Aber jetzt verlassen Sie dieses Haus augenblicklich!« rief Herr Wardle auffahrend.

»Mein lieber Herr«, wandte der kleine Mann ein.

»Und merken Sie sich’s«, fuhr Herr Wardle fort, »daß mich nichts – nicht einmal die Rücksicht für die Ehre meiner Familie – veranlaßt haben würde, diesen Vergleich einzugehen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie mit dem Geld in der Tasche womöglich noch früher dem Teufel in den Rachen laufen werden, als es ohnedem der Fall wäre –«

»Mein lieber Herr«, suchte der kleine Mann aufs neue zu beschwichtigen.

»Beruhigen Sie sich, Perker«, versetzte Herr Wardle. »Verlassen Sie das Zimmer, Sir.«

»Soll augenblicklich geschehen«, erwiderte der unverschämte Komödiant. »Gott befohlen – Gott befohlen – Pickwick.«

Wenn ein leidenschaftsloser Zeuge zuletzt während der erwähnten Besprechung das Gesicht dieses ausgezeichneten Mannes hätte sehen können, den der Titel unseres Buches als den Haupthelden gegenwärtiger Blätter bezeichnet, so würde er sich wohl nicht wenig gewundert haben. Denn die Glut der Entrüstung, die aus den Augen des Ehrenmannes leuchtete, und die nicht zuletzt seine Brillengläser schmolz – ließ ihn geradezu majestätisch erscheinen in seinem Zorn. Seine Nasenlöcher zitterten und seine Fäuste ballten sich unwillkürlich, als er sich in der erwähnten Weise von dem Schurken begrüßen hörte. Aber er hielt wieder an sich – er rieb ihn nicht zu Staub.

»Da«, fuhr der verhärtete Bösewicht fort, indem er Herrn Pickwick die Lizenz vor die Füße warf: »Namen ändern lassen – alte Jungfer nach Haus nehmen – gut für Tuppy.«

Herr Pickwick war ein Philosoph; aber Philosophen sind im Grunde doch weiter nichts als geharnischte Menschen. Der Pfeil war gut gezielt und hatte durch den Panzer der Philosophie seinen Weg in das innerste Herz des Mannes gefunden. In der Überfülle seiner Wut schleuderte er Jingle das Tintenfaß nach und rannte wie toll hinter ihm her. Aber dieser war bereits verschwunden, und Herr Pickwick fand sich plötzlich von Sams Armen aufgehalten.

»Holla, Schreibgerät muß wohlfeil sein, wo Sie herkommen«, sagte der vortreffliche Stiefelgeneral. »Eine Tinte, die selber schreibt und überall ihre Zeichen an die Wand malt, alter Herr! Halten Sie – halten Sie, Sir! Was nützt es, einem Menschen mit so langen Beinen nachzurennen, der schon am andern Ende des Borough ist?«

Herrn Pickwicks Geist war – wie der aller wahrhaft großen Männer – jedem vernünftigen Grunde zugänglich. Er war ein rascher und tiefer Denker, und die Überlegung eines Augenblicks war genügend, ihn an die Machtlosigkeit seiner Wut zu erinnern. Sie dämpfte sich daher so schnell wieder, wie sie losgebrochen war. Er verschnaubte und warf wohlwollende Blicke auf seine Freunde.

Sollen wir den Leser mit den Wehklagen unterhalten, die nun folgten, als sich Fräulein Wardle von dem treulosen Jingle verlassen sah? Sollen wir einen Auszug aus Herrn Pickwicks meisterhafter Beschreibung dieser herzzerbrechenden Szene geben? Sein Tagebuch, mit Tränen teilnehmender Humanität bekleckst, liegt offen vor uns. Ein Wort, und es ist in den Händen des Druckers. – Doch nein! wir sind entschlossen. Fern sei es von uns, die Empfindungen unserer Leser mit der Schilderung eines so herben Schmerzes peinlich zu berühren.

Langsam und traurig kehrten andern Tags die beiden Freunde nebst der verlassenen Jungfrau mit der schwerfälligen Muggletoner Postkutsche nach Hause. Düster und trübe lagerte der schwarze Mantel einer Sommernacht auf den Fluren, als sie Dingley Dell erreichten und an dem Portale von Manor Farm aus dem Wagen stiegen.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Enthält eine weitere Reise und eine antiquarische Entdeckung; Herrn Pickwicks Entschluß, einer Parlamentswahl beizuwohnen; Manuskript des alten Geistlichen.

Eine Nacht der Ruhe in dem tiefen Schweigen von Dingley Dell und der Spaziergang einer Stunde in der duftigen erfrischenden Morgenluft reichten hin, bei Herrn Pickwick die Folgen der vorausgegangenen Körperermüdung und Gemütbedrückung zu verscheuchen. Dieser treffliche Mann war zwei ganze Tage von seinen Freunden und Jüngern getrennt gewesen, und es gehört keine gewöhnliche Phantasie dazu, den Grad der Freude und des Entzückens zu schildern, womit er Herrn Winkle und Herrn Snodgraß begrüßte, als er diesen Herren auf dem Heimwege von seinem frühen Spaziergange begegnete. Die Freude war gegenseitig, denn wer hätte Herrn Pickwicks strahlendes Gesicht sehen können, ohne an dem, was in seinem Innern vorging, teilzunehmen. Aber es schien doch auf den Zügen seiner Begleiter eine Wolke zu schweben, die dem großen Manne nicht entgehen konnte, und die er sich durchaus nicht zu enträtseln wußte. Es lag etwas Geheimnisvolles in ihrem Wesen, das ihn um so mehr beunruhigte, je ungewöhnlicher es war.

»Und was –« sagte Herr Pickwick, nachdem er seinen beiden Freunden die Hand gedrückt und sie sich gegenseitig aufs herzlichste bewillkommt hatten – »was macht Tupman?«

Herr Winkle, an den diese Frage vornehmlich gerichtet war, schwieg. Er wandte das Gesicht ab und schien von einer wehmütigen Erinnerung ergriffen zu werden.

»Snodgraß«, sagte Herr Pickwick ernst, »was macht unser Freund? Er ist doch nicht krank?«

»Nein«, versetzte Herr Snodgraß, und eine Träne zitterte an seiner gefühlvollen Wimper wie ein Regentropfen an einem Fensterrahmen. »Nein; er ist nicht krank.«

Herr Pickwick blieb stehen und sah abwechselnd bald den einen, bald den andern seiner Freunde an.

»Winkle – Snodgraß«, rief Herr Pickwick: »was soll das heißen? Wo ist unser Freund? Was ist vorgefallen? Sprecht – ich bitte – ich beschwöre – nein, ich befehle es euch – sprecht!« Es lag eine Feierlichkeit – eine Würde in Herrn Pickwick« Benehmen, denen sich nicht widerstehen ließ.

»Er ist fort«, sagte Herr Snodgraß.

»Fort?« rief Herr Pickwick; »fort?«

»Fort«, wiederholte Herr Snodgraß.

»Wo?« rief Herr Pickwick.

»Wir können nur Vermutungen aufstellen, die uns diese Zeilen an die Hand geben«, entgegnete Herr Snodgraß, indem er ein Schreiben aus seiner Tasche zog und es seinem Freunde überreichte. Gestern morgen, als ein Brief von Herrn Wardle mit der Meldung einlief, daß er am Abend seine Schwester zurückbringen würde, bemerkten wir, daß die Schwermut, die sich unseres Freundes tags zuror schon bemächtigt hatte, zunahm. Bald nachher verschwand er. Wir vermißten ihn den ganzen Tag über, und am Abend brachte uns der Stallknecht aus der Krone in Muggleton diesen Brief. Tupman hatte ihn am Morgen dort gelassen, mit der ausdrücklichen Einschärfung, ihn vor Abend nicht abzugeben.

Herr Pickwick öffnete den Brief. Es war die Handschrift seines Freundes und enthielt folgende Zeilen:

»Mein lieber Pickwick!

Sie, mein teurer Freund, sind außer dem Bereich vieler Gebrechlichkeiten und Schwächen, denen der gewöhnliche Mensch so gern anheimfällt. Sie wissen nicht, was es heißt, auf einmal von einem lieblichen, bezaubernden Wesen verlassen zu sein und das Opfer eines Elenden zu werden, der unter der Maske der Freundschaft die grinsende Fratze der Arglist verbarg. Ich hoffe auch, daß Sie es nie erfahren mögen.

Ein Brief unter der Adresse Lederne Flasche, Cobham in Kent‘ wird an mich gelangen – wenn ich noch am Leben bin. Ich fliehe den Anblick einer Welt, die mir verhaßt geworden ist. Sollte ich sie ganz und gar verlassen, so bemitleiden Sie mich, und vergeben Sie mir. Das Leben, mein lieber Pickwick, ist mir unerträglich geworden. Der Mut, der in der Seele flammt, ist des Lastträgers Tragriemen, an dem die schwere Bürde der Erdenmühen und Erdensorgen hängt – nehmen Sie ihn weg, so erdrückt uns das Gewicht. Teilen Sie dies Rachel mit – ach, dieser Name! –

Tracy Tupman.«

»Wir müssen auf der Stelle von Dingley Dell aufbrechen«, sagte Herr Pickwick, als er das Schreiben wieder zusammenlegte. »Es wäre nach dem, was vorgefallen, unter keinen Umständen für uns schicklich, länger hier zu bleiben. Wir haben die Verpflichtung, unserm Freunde zu folgen und ihn aufzusuchen.«

Mit diesen Worten ging er nach dem Hause voran.

Er tat daselbst unverzüglich sein Vorhaben kund und blieb, trotz der dringendsten Bitten, unerschütterlich. Geschäfte, sagte er, forderten seine unverzügliche Abreise.

Der alte Geistliche war zugegen.

»Wie, ist’s Ihnen wirklich Ernst, abzureisen?« sagte er, indem er Pickwick beiseite nahm.

Herr Pickwick wiederholte seine frühere Versicherung.

»So empfangen Sie hier ein kleines Manuskript«, fuhr der alte Herr fort, »von dem ich mir das Vergnügen versprach, es Ihnen selbst vorzulesen. Ich fand es unter den hinterlassenen Papieren eines Freundes von mir – eines Arztes an dem Irrenhaus unserer Grafschaft. Die Papiere wurden mir zum Verbrennen oder Aufbewahren, je nachdem ich es für gut fände, überantwortet. Ich kann kaum glauben, daß das Manuskript wirklich von einem Irren herrührt, obschon es keinesfalls die Handschrift meines Freundes ist. Mag es übrigens wirklich das Konzept eines Wahnsinnigen, oder den Rasereien irgendeines Unglücklichen nachgebildet sein, was mir wahrscheinlicher dünkt – lesen Sie es und urteilen Sie dann selbst.«

Herr Pickwick nahm das Manuskript und verabschiedete sich von dem wohlwollenden alten Herrn unter vielen Achtungs- und Freundschaftsversicherungen.

Schwerer wurde der Abschied von den Bewohnern Manor Farms, bei denen sie so viele Liebe und Gastfreundchaft genossen hatten. Herr Pickwick küßte die jungen Damen – wir hätten beinahe gesagt, als ob sie seine eigenen Töchter gewesen wären. Aber es schien diesem Gruße ein bißchen zu viel Feuer beigemischt zu sein, als daß dieser Vergleich ganz passend wäre. Er umarmte die Dame mit der Zärtlichkeit eines Sohnes und tätschelte die roten Wangen der Dienstmädchen in ziemlich patriarchalischer Weise, während er in die Hände einer jeden einige substantiellere Beweise seines Wohlwollens drückte. Noch herzlicher war der Abschied von ihrem wackeren alten Wirt und Herrn Trundle, und sie vermochten sich erst von den freundlichen Menschen loszureißen, als endlich nach vielem Rufen Herr Snodgraß aus einem dunklen Gange auftauchte, dem bald hernach Emilie mit nicht ganz so wie sonst leuchtenden Augen folgte.

Sie sahen oft nach Manor Farm zurück, als sie langsam weitergingen, und Herr Snodgraß warf manches Kußhändchen nach einem Gegenstand in die Luft, der ziemlich wie ein Damentaschentuch aussah und solange aus einem der oberen Fenster flatterte, bis sie in einen Feldweg einbogen und die Hecken das alte Haus verbargen. In Muggleton verschafften sie sich eine Mietkutsche nach Rochester.

Als sie an diesem Ort anlangten, hatte sich das Übermaß ihres Schmerzes soweit gelegt, daß sie ein ausgezeichnetes Mittagessen zu sich nehmen konnten. Sobald sie dann die nötigen Erkundigungen über den Weg eingeholt hatten, setzten sich die drei Freunde wieder in Bewegung, um eine Nachmittagsfußpartie nach Cobham Cobham ist eine kleine Ortschaft in der Grafschaft Kent mit einem Schloß, das durch seine Gemäldefammlung berühmt ist. Die Sammlung enthält Tizian, Rubens, van Dyk. Bei dem Schloß ist ein schöner Park. zu machen.

Es war ein köstlicher Spaziergang – ein angenehmer Juninachmittag, wobei sie der Weg durch einen dichten, schattigen Wald führte. Der kühle, leichte Wind säuselte sanft in dem reichen Blätterwerke, und die Vögel auf den Zweigen belebten die Landschaft durch ihre Lieder. Moos und Efeu bedeckten dicht die Rinde der alten Bäume, und das sanfte Grün des Rasens bekleidete den Grund wie ein seidener Teppich. Sie gelangten in einen offenen Park mit einer alten Halle in der malerischen und eigenartigen Bauart aus Elisabeths Zeiten. Auf jeder Seite zeigten sich lange Alleen aus stattlichen Eichen und Ulmen; große Rudel von Hochwild erquickten sich an dem frischen Grase. Hin und wieder lief ihnen ein aufgeschreckter Hase ebenso schnell über den Weg, wie die von den leichten Wolken geworfenen Schatten, einem Sommerlüftchen gleich, über ein sonnige Landschaft dahinfliegen.

»O wenn doch« – rief Herr Pickwick, sich in der Gegend umsehend – »wenn doch alle, die mit unserm Freunde das gleiche Leiden bedrückt, hierher kämen! Gewiß, die frühere Liebe zu der Welt müßte bald wieder zurückkehren.«

»Mir aus der Seele gesprochen«, sagte Herr Winkle.

»Und in der Tat«, fügte Herr Pickwick nach einer halben Stunde, als sie bei einem Dorfe angelangt waren, hinzu, »wenn man dabei bedenkt, daß ein Menschenhasser diesen Park geschaffen hat, so muß man sagen, daß das der schönste und lieblichste Aufenthalt ist, der mir je zu Gesicht kam.«

Auch damit waren Herr Winkle wie Herr Snodgraß einverstanden. Sie fragten nun nach der Ledernen Flasche und wurden an ein reinliches und bequemes Dorfwirtshaus gewiesen, in das die drei Reisenden traten und sich nach einem Herrn, Namens Tupman, erkundigten.

»Fuhre die Herren ins Gastzimmer, Tom«, sagte die Wirtin.

Ein stämmiger Bauernbursche öffnete an dem Ende des Hausflurs eine Tür, und die drei Freunde traten in ein langes niedriges Zimmer, in dem eine große Zahl von gepolsterten Sesseln mit hohen, wunderlich geschnitzten Lehnen stand. Eine Reihe alter Porträts und rauhkolorierter altertümlicher Bilder zierten die Wände. Am oberen Ende stand eine gedeckte Tafel mit gebratenem Geflügel, Schinken, Bier und dergleichen. Dahinter aber war Herr Tupman in einer Weise beschäftigt, die auf nichts weniger, als auf einen lebensüberdrüssigen Menschen schließen ließ.

Bei dem Eintritt seiner Freunde legte Herr Tupman Messer und Gabel nieder und trat ihnen mit einer Miene voll Trauer entgegen.

»Ich erwartete nicht, Sie hier zu sehen«, sagte er, Herrn Pickwicks Hand ergreifend. »Es ist zu gütig von Ihnen.«

»Ach«, sagte Herr Pickwick, indem er sich niedersetzte und den Schweiß, den ihm der Spaziergang verursacht, von der Stirn wischte. »Beenden Sie Ihr Mahl, und kommen Sie dann ein wenig mit mir ins Freie. Ich wünsche allein mit Ihnen zu sprechen.«

Herr Tupman tat, was von ihm verlangt wurde, und Herr Pickwick labte sich inzwischen an einer Kanne Bier. Die Mahlzeit wurde schleunigst beendet, und beide gingen miteinander hinaus.

Man sah sie ungefähr eine halbe Stunde in dem Kirchhof auf und ab spazieren, in der Herr Pickwick sich alle Mühe gab, den fürchterlichen Entschluß seines Freundes zu bekämpfen. Eine Wiederholung seiner Gründe wäre indessen ein fruchtloses Unterfangen: denn welche Sprache vermöchte Kraft und Ausdruck wiederzugeben, die das ganze Gebaren ihres Urhebers begleiteten? Ob Herr Tupman bereits seiner Einsamkeit müde war, oder ob er der eindringlichen Beredsamkeit seines Freundes nicht ganz widerstehen konnte – gleichviel, Tatsache ist, daß er nicht widerstand.

»Es kümmere ihn wenig«, sagte er, »wo er den Rest seines kummervollen Daseins hinschleppe! und da sein Freund einmal einen so großen Wert auf seine unbedeutende Begleitung lege, so wolle er sich’s ja gefallen lassen, ferner an seinen Abenteuern teilzunehmen.«

Herr Pickwick lächelte. Sie drückten sich die Hände und gingen zurück, um sich mit ihren Gefährten zu vereinen.

In diesem Augenblick machte Herr Pickwick jene unsterbliche Entdeckung, die der Stolz und der Ruhm seiner Freunde war und die Altertumsforscher aller Länder mit dem giftigsten Neide erfüllte. Sie waren an der Tür ihres Gasthauses vorbeigekommen und ein wenig ins Dorf hinuntergegangen, ehe sie sich der Stelle entsinnen konnten, wo es wirklich stand. Als sie wieder umkehrten, fiel Herrn Pickwicks Blick auf einen kleinen zerbrochenen Stein vor der Tür eines Bauernhauses, der halb in der Erde steckte. Er blieb stehen.

»Das ist doch sonderbar«, sagte Herr Pickwick.

»Was ist sonderbar?« fragte Herr Tupman, der jeden Gegenstand in seiner Nähe anschaute, nur den rechten nicht. »Gott behüte uns, was gibt’s denn?«

Es handelt sich nämlich um den Aufschrei eines nicht zu bewältigendcn Erstaunens, dadurch veranlaßt, daß Herr Pickwick, ganz begeistert von seiner Entdeckung, vor dem kleinen Steine auf die Knie niederfiel und mit seinem Taschentuche den Schmutz davon abzuwischen begann.

»Da ist eine Inschrift«, sagte Herr Pickwick.

»Ist’s möglich?« versetzte Herr Tupman.

»Ich kann es erkennen«, – fuhr Herr Pickwick fort, indem er aus Leibeskräften rieb und mit der höchsten Spannung durch seine Brille sah – »ich kann es erkennen – ein Kreuz und ein B, und dann ein T, Das ist wichtig«, fügte Herr Pickwick aufspringend hinzu. »Es ist irgendeine sehr alte Inschrift, vielleicht schon älter als die alten Armenhäuser dieses Orts. Sie darf nicht verlorengehen.«

Er klopfte an die Tür des Bauernhauses. Der Besitzer öffnete.

»Wißt Ihr mir nicht anzugeben, wie dieser Stein hierher kam, mein Freund?« fragte der wohlwollende Herr Pickwick.

»Nein, Sir«, antwortete der Bauer höflich; »er liegt schon hier, viel früher, als ich oder einer von uns geboren wurde.«

Herr Pickwick warf einen triumphierenden Blick auf seine Gefährten.

»Ihr – Ihr – legt vermutlich keinen besonderen Wert darauf«, sagte Herr Pickwick, zitternd vor innerer Beklemmung, »Würdet Ihr ihn nicht verkaufen?«

»Uh, wer würde ihn wohl kaufen?« fragte der Mann mit einem Ausdruck in seinem Gesicht, der wahrscheinlich sehr pfiffig sein sollte,

»Mit einem Wort, ich gebe Euch zehn Schillinge dafür, wenn Ihr ihn für mich ausgraben wollt«, entgegnete Herr Pickwick.

Man kann sich das Erstaunen des ganzen Dorfes vorstellen, als Herr Pickwick den Stein, der mit einem einzigen Spatenriß dem Grunde entnommen war, unter nicht geringer körperlicher Anstrengung eigenhändig nach dem Wirtshaus trug, und denselben, nachdem er ihn zuvor sorgfältig gewaschen, auf den Tisch legte.

Das Frohlocken und die Freude der Pickwickier kannte keine Grenzen; als endlich ihre Geduld und ihre Emsigkeit im Waschen und Abkratzen von günstigem Erfolg gekrönt wurde. Der Stein war uneben und zerbrochen, die Buchstaben standen schief und unregelmäßig. Trotzdem ließ sich das folgende Bruchstück einer Inschrift deutlich entziffern.


BILST
VM
PSSEI
NGRE
N.Z.
EICH
EN.

Herrn Pickwicks Augen leuchteten vor Entzücken, als er sich niedersetzte und den aufgefundenen Schatz von allen Seiten betrachtete. Er hatte das höchste Ziel seines Ehrgeizes erreicht. In einer wegen der Überreste aus früheren Jahrhunderten berühmten Grafschaft, in einem Dorfe, in dem sich gegenwärtig noch einige Denkwürdigkeiten älterer Zeiten vorfanden, hatte er – er, der Präsident des Pickwick-Klubs – eine seltsame und merkwürdige Inschrift von unzweifelhaft altem Ursprunge entdeckt, die der Beobachtung so vieler gelehrten Forscher vor ihm entgangen war. Er konnte kaum dem Zeugnis seiner Sinne trauen.

»Das – das« – sagte er – »gibt den Ausschlag. Wir kehren morgen nach London zurück.«

»Morgen?« riefen seine verwunderten Begleiter.

»Ja, morgen«, sagte Herr Pickwick. »Dieser Schatz muß rasch nach einem Orte gebracht werden, wo er mit Muße gründlich untersucht und gehörig verstanden werden kann. Auch habe ich noch einen andern Grund für diesen Schritt. In einigen Tagen findet eine Parlamentswahl in dem Flecken Eatonswill statt, in dem Herr Perker, ein Gentleman, den ich kürzlich kennenlernte, als Agent für einen der Kandidaten auftreten wird. Wir wollen Zeugen sein, und eine Szene, die für jeden Engländer von so hoher Wichtigkeit ist, aufs sorgfältigste beobachten.«

»Ja, das wollen wir«, stimmten die drei Freunde sehr lebhaft bei.

Herr Pickwick sah umher. Die Wärme und Anhänglichkeit seiner Jünger entzündete eine begeisterte Glut in seinem Innern. Er war ihr Führer und fühlte es.

»Wir wollen dieses glückliche Zusammentreffen durch einen guten Schluck feiern«, sagte er.

Der Vorschlag wurde, wie die früheren, mit einstimmigem Beifall aufgenommen. Nachdem Herr Pickwick den wichtigen Stein in einem von der Wirtin erkauften Bretterkistchen verpackt hatte, setzte er sich oben an dem Tische in einen Armstuhl. Sie verbrachten den Abend in heiterem Genusse und froher Unterhaltung.

Es war elf Uhr vorbei – eine späte Stunde für das kleine Dorf Cobham – als sich Herr Pickwick nach dem Schlafgemache begab, das für ihn bereitet war. Er öffnete das mit einem Gitter verwahrte Fenster, stellte das Licht auf den Tisch und erging sich in einer Reihe von Betrachtungen über die sich so rasch folgenden Ereignisse der letzten zwei Tage.

Ort und Stunde waren fürs Nachdenken gleich günstig, und Herr Pickwick wurde erst daraus geweckt, als die Turmuhr zwölf schlug. Der erste Glockenton drang feierlich an sein Ohr, sobald aber der letzte ausgeklungen hatte, wurde ihm die tiefe Stille unerträglich – es war ihm fast, als hätte er einen Freund verloren. Er fühlte sich angegriffen und aufgeregt, entkleidete sich rasch, stellte das Licht auf den Kamin und ging zu Bett.

Jeder hat wohl schon den unbehaglichen Zustand erfahren, in dem das Gefühl körperlicher Ermattung vergebens gegen die Schlaflosigkeit ankämpft. Auch bei Herrn Pickwick war dies gegenwärtig der Fall. Er warf sich von einer Seite auf die andere, und schloß beharrlich die Augen, als wolle er dadurch den Schlummer locken; aber vergeblich. Lag nun der Grund in der ungewohnten Anstrengung des Tages, in dem genossenen Grog oder in dem fremden Bette – wie dem auch sein mag, seine Gedanken kehrten ohne Unterlaß zu den grausigen alten Bildern in der Gaststube und zu den alten Erzählungen zurück, wozu diese im Laufe des Abends Anlaß gegeben hatten. Nachdem er sich in dieser Weise eine Stunde ruhelos umhergeworfen hatte, kam er zu der unbehaglichen Überzeugung, daß er vergeblich einzuschlafen versuchte, weshalb er aufstand und sich teilweise ankleidete. »Alles«, dachte er, »ist besser, als daliegen in Phantasien allerschrecklichster Art.« Er sah zum Fenster hinaus – es war sehr dunkel. Er ging im Zimmer auf und ab – und fühlte sich höchst einsam.

Er war etliche Male vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster spaziert, als ihm zum ersten Male das Manuskript des alten Geistlichen wieder ins Gedächtnis kam. Ein guter Einfall! Bot es wenig Interesse, so mochte es ihn vielleicht in Schlaf wiegen. Er holte es daher aus seiner Rocktasche, rückte einen kleinen Tisch an die Seite seines Bettes, schneuzte das Licht, setzte seine Brille auf, und begann zu lesen. Es war eine wunderliche Handschrift – die Blätter bekleckst und beschmutzt. Auch der Titel hatte etwas Unheimliches, und Herr Pickwick konnte nicht umhin, ängstliche Blicke im Zimmer umherzuwerfen. Nach einiger Überlegung fühlte er jedoch die Albernheit, solchen Gefühlen Raum zu geben; er putzte das Licht abermals und las, wie folgt:

»Manuskript eines Irren.

Ja! – eines Irren! Wie mir dieses Wort vor vielen Jahren ins Herz geschnitten hätte! Wie es das Entsetzen, das mich zuweilen anzuwandeln pflegte, geweckt und das Blut glühend und zischend durch meine Adern gejagt haben würde, bis der kalte Tau der Angst in großen Tropfen auf meiner Haut gestanden und meine Knie vor Furcht eingeknickt wären! Aber jetzt liebe ich es. Es ist ein schönes Wort. Zeigt mir den Monarchen, dessen finsteres Zürnen je so gefürchtet worden wäre, wie der starre Blick des Wahnsinns – dessen Stricke und Beile nur halb so sicher wären, wie der Griff eines Tollen. Ha! ha! Es ist etwas Großes, wahnsinnig zu sein – angesehen zu werden wie ein wilder Löwe durch die Stäbe des Eisengitters – die lange stille Nacht durch zu heulen und mit den Zähnen zu knirschen und lustig mit den Ketten darein zu klirren – und dann, im Entzücken über diese köstliche Musik, sich im Stroh zu wälzen und zu wühlen. Es lebe das Tollhaus! O, es ist ein herrlicher Aufenthalt!

Ich erinnere mich der Zeit, wo mich der Gedanke, wahnsinnig zu sein, mit einem solchen Entsetzen erfüllte, daß ich oft, wenn ich aus dem Schlafe ausfuhr, auf die Knie niederfiel und brünstig zu Gott flehte, er möchte mich mit dem Fluche meiner Familie verschonen. Daß ich den Anblick der Heiterkeit und des Glückes floh, um mich an einsamen Orten zu verbergen, und manche schleppende Stunde damit zubrachte, die Fortschritte des Fiebers zu beobachten, das mein Gehirn verzehrte. Ich wußte, daß der Wahnsinn meinem Blute beigemischt war und in dem Mark meiner Knochen steckte; daß zwar eine Generation von dieser Pest bewahrt geblieben, aber daß ich der erste sei, bei dem sie wieder ins Leben treten würde. Ich wußte, daß es so sein mußte, daß es immer so gewesen und daß es immer so sein würde; und wenn ich mich in einem vollen Saale in irgendeine dunkle Ecke zurückzog und die Leute flüstern, sich zuwinken und die Augen nach mir richten sah, so wußte ich, daß sie von dem zum Wahnsinn Verdammten sprachen, und schlich hinweg, um in der Einsamkeit meinen Träumereien nachzuhängen.

So währte es Jahre – lange, lange Jahre. Die Nächte hier sind hin und wieder auch lang – sehr lang; aber sie sind nichts gegen die qualvollen, ruhelosen Nächte und schrecklichen Träume, die mich damals heimsuchten. Ein Schauder überläuft mich, wenn ich nur daran denke. Große, düstere Gestalten mit tückischen, höhnenden Gesichtern drückten sich in die Ecken meines Schlafgemachs, und beugten sich des Nachts über mein Bett, um mich wahnsinnig zu machen. Sie erzählten mir in leisem Flüstern, der Boden des alten Hauses, in dem der Vater meines Vaters starb, sei von seinem Blute befleckt, das er in tollem Wahnsinne selber vergoß. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es schrie in meinem Kopfe, bis das Zimmer widerdröhnte, daß zwar eine Generation vor ihm vor Wahnsinn bewahrt geblieben, daß aber sein Großvater Jahre lang an die Erde gefesselt gewesen wäre, damit er sich nicht selbst in Stücke risse. Ich wußte, daß sie mir die Wahrheit sagten – ich wußte es nur zu gut. Ich hatte es Jahre lang vorher schon herausgefunden, obgleich man es mir zu verbergen suchte. Ha, ha! Ich war ihnen zu schlau, obgleich sie mich für toll hielten.

Endlich kam der Wahnsinn zum Ausbruch, und nun nahm es mich wunder, wie ich mich je davor hatte fürchten können. Ich konnte jetzt unter die Leute gehen und mit ihnen lachen und schreien, so gut wie einer. Ich wußte, daß ich wahnsinnig war, aber sie hatten nicht die mindeste Ahnung davon. Wie entzückt war ich in meinem Innern über den Streich, den ich ihnen jetzt spielte – ihnen, die früher auf mich deuteten und nach mir blinzelten, als ich noch nicht toll war, sondern nur in der Furcht lebte, ich könnte es eines Tages werden! Und wie jauchzte ich vor Freude, wenn ich allein war und dachte, wie gut ich mein Geheimnis zu wahren wußte, und wie rasch meine Freunde von mir weichen würden, wenn sie die Wahrheit erführen. Ich hätte vor Lust laut aufschreien mögen, wenn ein lärmender Zechgenosse allein mit mir speiste und ich mir das Leichengesicht und die behenden Beine des Mannes vorstellte, wenn er gewußt hätte, daß der liebe Freund, der neben ihm saß und sein Messer schärfte, ein Toller wäre, der die Macht und halb auch den Willen hätte, das gefährliche Werkzeug in sein Herz zu stoßen. O, es war ein lustiges Leben!

Reichtümer flossen mir zu. Schätze ergossen sich in meine Kassen und ich schwelgte in Vergnügen, deren Genuß durch das Bewußtsein von meinem wohlverborgenen Geheimnis tausendfältigen Wert für mich bekam. Ich erbte weitläufige Besitzungen. Das Gesetz – sogar das adlerscharfe Gesetz ließ sich täuschen und spielte umstrittene Tausende in die Hand eines Wahnsinnigen. Wo war der Verstand der scharfsichtigen, sogenannten vernünftigen Leute? Wo die Gewandtheit der Rechtsgelehrten, die sonst so leicht Nichtigkeitsgründe aufzufinden wissen? Die Schlauheit des Tollen hatte sie alle überlistet.

Ich hatte Geld. Nie machte man mir den Hof! Ach verschwendete es. Nie wurde ich gepriesen! Wie sich jene drei stolzen, hochmütigen Brüder vor mir demütigten! Und auch der alte, grauköpfige Vater – welche Achtung – welche Ehrerbietigkeit – welche aufopfernde Freundschaft! – ja, er betete mich an. Der alte Mann hatte eine Tochter, die jungen Männer eine Schwester, und alle fünf waren arm. Ich war reich, und als ich das Mädchen heiratete, sah ich in dem triumphierenden Lächeln, das auf den Gesichtern ihrer dürftigen Verwandten spielte, daß sie sich über das Gelingen ihres wohlangelegten Planes und der schönen Beute freuten. Es war an mir, zu lächeln. Zu lächeln? Nein, laut hinaus zu brüllen, die Haare zu raufen und auf der Erde zu kugeln vor lauter Entzücken. Sie ließen sich’s nicht träumen, die Tochter und Schwester an einen Wahnsinnigen verkuppelt zu haben.

Doch halt! Wenn sie es auch gewußt hätten, würden sie das Mädchen geschont haben? Das Glück einer Schwester gegen das Gold ihres Gatten – ist es mehr, als die leichteste Feder, die ich in die Luft blasen kann, im Vergleich zu der glänzenden Kette, die meinen Körper schmückt?

In einem Punkte wurde ich übrigens trotz meiner Schlauheit getäuscht. Wäre ich nicht wahnsinnig gewesen – denn obgleich die Tollen sonst gescheit genug sind, so stellt sich doch hin und wieder eine Verwirrung bei ihnen ein – so würde ich doch gewußt haben, daß das Mädchen weit lieber kalt und steif in einem bleiernen Sarge, denn als beneidete Braut in meinen Prunkgemächern wäre. Ich würde gewußt haben, daß ihr Herz einem schwarzäugigen Jungen gehörte, dessen Namen ich einmal in dem Flüstern ihres unruhigen Schlafes nennen hörte, wobei sie zugleich Andeutungen fallen ließ, sie sei mir geopfert worden, um den alten, weißköpfigen Mann und die hochmütigen Brüder der Armut zu entreißen.

Ich kann mich mancher Gestalten und Gesichter nicht mehr recht erinnern, aber ich weiß, daß das Mädchen schön war. Ich weiß das ganz gewiß; denn in hellen Mondnächten, wenn ich aus dem Schlafe aufschreckte, sehe ich still und regungslos in einem Winkel dieser Zelle eine leichte, welke Gestalt mit langen, schwarzen, über die Schultern fallenden Locken stehen, die sich von keinem irdischen Winde bewegen – die Augen starr auf mich geheftet, ohne je damit zu zucken oder sie zu schließen. Pst! das Blut strömt mir eiskalt zum Herzen, während ich dies niederschreibe. Es ist ihre Gestalt; das Gesicht ist sehr blaß und die Augen glänzen wie Glas? aber ich kenne sie wohl. Diese Gestalt bewegt sich nie, Verzicht nie die Stirn und den Mund, wie es die andern tun, die bisweilen diesen Ort erfüllen. Aber sie ist mir sogar noch schrecklicher, als die Gespenster, die mich vor Jahren zum Wahnsinn verlockten – sie kommt eben aus dem Grabe und hat ganz das Aussehen einer Leiche.

Fast ein Jahr lang sah ich dieses Gesicht immer blasser werden. Fast ein Jahr lang sah ich Tränen über die trauervollen Wangen rinnen, ohne daß ich den Grund kannte. Aber endlich kam ich doch darauf. Man konnte es mir nicht länger verbergen. Sie hatte mich nie geliebt, und ich glaubte auch nie, daß sie mich liebte. Sie verachtete meinen Reichtum und haßte den Glanz, der sie umgab; – das hatte ich nicht erwartet. Sie liebte einen andern. An eine solche Möglichkeit hatte ich nie gedacht. Seltsame Gefühle bemächtigten sich meiner, und irgendeine geheimnisvolle Macht flüsterte mir Gedanken zu, die in meinem Hirne wirbelten und tobten. Sie haßte ich nicht, wohl aber den Menschen, um den sie immer weinte. Ich beklagte – ja, ich beklagte – das elende Leben, zu dem sie von ihren kalten und selbstsüchtigen Verwandten verdammt worden war. Ich wußte, daß sie nicht lange leben konnte; aber der Gedanke, sie möchte vor ihrem Tode einem unglücklichen Geschöpf das Leben geben, das die Bestimmung trüge, den Wahnsinn auf seine Kinder wieder fortzupflanzen, gab den Ausschlag. Ich faßte den Entschluß, sie zu ermorden.

Viele Wochen lang trug ich mich mit dem Gedanken, sie zu vergiften, dann, sie zu ertränken und dann, sie zu verbrennen. Ein herrliches Schauspiel – das große Haus in Flammen, in denen das Weib des Wahnsinnigen zu Asche brannte. Dann auch noch der Spaß, eine große Belohnung für die Entdeckung des Täters auszusetzen und einen vernünftigen Menschen für eine Tat, die er nie beging, im Winde baumeln zu sehen – und all das durch die Schlauheit eines Wahnsinnigen! Ich dachte oft an diesen Plan, aber endlich gab ich ihn wieder auf. O, welch eine Lust ist es, Tag für Tag Rasiermesser zu schärfen, die Schärfe der Schneide zu befühlen und an das Klaffen zu denken, das ein Schnitt mit diesem dünnen, glänzenden Stahl hervorbringen würde!

Endlich flüsterten mir die Geister, die mich früher so oft besucht hatten, ins Ohr, die Zeit wäre gekommen und drückten mir dabei das offene Rasiermesser in die Hand. Ich faßte es mit festem Griff, stand leise von dem Bett auf und beugte mich über mein schlafendes Weib. Ihr Gesicht war mit den Händen bedeckt. Ich entfernte sie sacht, und sie sanken auf ihre Brust. Sie hatte geweint, denn ihre Wangen trugen noch die feuchten Spuren von Tränen. Ihr Gesicht war sanft und ruhig, und in dem Augenblicke, als ich sie betrachtete, überflog ein leichtes Lächeln ihre blassen Züge. Ich legte leise meine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr auf – aber nur ob eines vorübergehenden Traumgesichts. Ich beugte mich abermals über sie. Sie schrie auf und erwachte.

Eine einzige Bewegung meiner Hand würde für immer jeden Laut aus ihrer Kehle erstickt haben. Aber ich war erschreckt und trat zurück. Ihre Augen waren fest auf die meinen geheftet. Ich weiß nicht, wie es zuging, aber sie schüchterten mich ein und lähmten meinen Mut. Sie erhob sich aus dem Bett und richtete unverwandt ihre Blicke auf mich. Ich zitterte; das Rasiermesser war in meiner Hand, aber ich konnte nicht von der Stelle. Sie ging auf die Tür zu. Als sie in deren Nähe kam, drehte sie sich um, und wandte die Augenvoon meinem Gesicht ab. Der Zauber war zerstört. Ich sprang auf sie zu und umfaßte ihren Arm. Schrei folgte auf Schrei, und sie sank zur Erde.

Jetzt hätte ich sie, ohne Widerstreben ermorden können, aber der Lärm hatte alles im Hause auf die Beine gebracht. Ich hörte Fußtritte auf den Treppen, brachte das Rasiermesser wieder an seinen Ort, öffnete die Tür und rief laut nach Hilfe.

Man kam, hob sie auf und legte sie wieder auf ihr Bett. So lag sie einige Stunden besinnungslos da; aber mit Leben und Sprache kehrte die Vernunft nicht mehr wieder; sie tobte in wilden und wütenden Delirien.

Man rief Ärzte herbei – große und berühmte Männer, die in prächtigen Equipagen, mit wunderschönen Pferden und prunkenden Livreedienern vorführen. Sie kamen wochenlang kaum von ihrem Bett. Endlich hielten sie eine Beratung und unterhielten sich mit leisen und feierlichen Stimmen in einem Nebenzimmer miteinander. Einer, der berühmteste von ihnen, nahm mich dann bei Seite, bat mich, ich solle mich auf das Schlimmste gefaßt machen, und erklärte mir – mir, dem Wahnsinnigen – daß mein Weib wahnsinnig sei. Er stand mit mir an einem offenen Fenster, blickte mir ins Gesicht, und seine Hand ruhte dabei auf meinem Arm. Mit einem Ruck hätte ich ihn auf die Straße hinunterschleudern können. Es wäre ein köstlicher Spaß gewesen, wenn ich es getan hätte; aber mein Geheimnis stand auf dem Spiele – und so ließ ich ihn gehen. Ein paar Tage hernach sagten sie mir, ich müßte meine Frau aufs strengste beaufsichtigen lassen und ihr einen Wärter an die Seite geben. – Ich! – Ich ging ins Freie, wo mich niemand hören konnte, und lachte, daß die Luft von meinem Jauchzen widertönte.

Sie starb des andern Tages. Der weißköpfige alte Mann folgte ihr zum Grabe, und die stolzen Brüder ließen eine Träne auf die starre Leiche der Unglücklichen fallen, deren Leiden sie, als sie noch lebte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit angesehen hatten. All das war Nahrung für meine innere Lust, und ich lachte beim Heimfahren von dem Leichenbegängnis hinter dem weißen Taschentuch, das ich vor mein Gesicht hielt, daß mir die Tränen ins Auge traten.

Aber obgleich ich meinen Plan durchgeführt und sie unter die Erde gebracht hatte, so war ich doch unruhig und verstört. Ich fühlte, daß mein Geheimnis nicht lange mehr verborgen bleiben konnte. Ich vermochte nicht die wilde Lust und Freude, die in meinem Innern kochte, zu verbergen; ich mußte ihr, wenn ich allein zu Hause war, durch Hüpfen, Tanzen, Zusammenschlagen der Hände und lautes Hinausbrüllen Luft machen. Ging ich aus und sah ich eine geschäftige Menge durch die Straßen oder nach dem Theater eilen, oder hörte ich Musik und bemerkte ich Tanzende, so fühlte ich eine so tobende Lust, daß ich in die Häuser hätte brechen, den Leuten Glied für Glied vom Leibe reißen und laut aufheulen mögen in tollem Entzücken. Aber ich knirschte mit den Zähnen, stampfte mit den Füßen auf die Erde, und grub meine scharfen Nägel in meine Hände. Ich hielt mich gewaltsam zurück, und noch ahnte kein Mensch, daß ich wahnsinnig sei.

Ich erinnere mich noch – obgleich das unter die letzten Dinge gehört, deren ich mich noch entsinnen kann; denn von nun an vermische ich die Wirklichkeit mit meinen Träumen, und da ich so viel zu tun habe, daß ich mit der größten Eile nicht fertig zu werden vermag, so gebricht es mir an Zeit, beide aus der wunderlichen Verwirrung, in der sie vor mir auftauchen, zu trennen – ich erinnere mich noch, wie ich endlich meinen Zustand kundwerden ließ. Ha! ha! Es ist mir, als sähe ich noch die entsetzten Blicke, als fühlte ich noch die Leichtigkeit, womit ich sie von mir schleuderte, ihnen die geballten Fäuste in die aschfahlen Gesichter schlug, und dann auf den Flügeln des Windes dahineilte, die schreiende und tobende Menge weiter hinter mir zurücklassend. Die Kraft eines Riesen kehrte in meine Muskeln zurück, wenn ich nur daran denke. Da – seht, wie diese Eisenstange sich unter meinem wütenden Griff biegt. Ich könnte sie zerbrechen wie einen dürren Ast, wenn nur nicht die langen Gänge mit den vielen Türen wären – ich glaube nicht, daß ich mich zurechtfinden könnte – und wenn auch, ich weiß recht wohl, daß unten eiserne Tore sind, die man immer verriegelt und verschlossen hält. Sie wissen, mit was für einem schlauen Tollen sie es zu tun haben, und sie sind stolz darauf, mich hier zu haben, um mich zeigen zu können.

Laßt mich sehen, – ja; ich hatte einen Ausgang gemacht. Es war spät in der Nacht, als ich nach Hause kam, und ich traf den hochmütigsten der drei hochmütigen Brüder, der auf mich wartete – eines eiligen Geschäfts wegen, wie er sagte. Ich exinnere mich noch recht gut. Ich haßte diesen Menschen mit dem ganzen Hasse des Wahnsinns. Oft genug hatte es mir schon in den Fingern gejuckt, ihn zu zerreißen. Man sagte mir, daß er da wäre. Ich eilte rasch die Treppe hinauf. Er hatte mir etwa« mitzuteilen. Ich entließ die Dienerschaft. Es war spät und wir befanden uns allein – zum erstenmal.

Ich hielt anfangs meine Augen sorgsam von ihm angewandt; denn ich wußte, wovon er keine Ahnung hatte – ja, ich freute mich der Überzeugung, daß die Glut des Wahnsinns wie strahlendes Feuer aus meinen Blicken leuchtete. Wir saßen einige Minuten schweigend da. Endlich fing er an zu sprechen. Meine Ausschweifungen und die sonderbaren Reden so bald nach dem Tode seiner Schwester wären eine Kränkung ihres Andenkens. Wenn er das mit vielen Umständen, die anfangs seiner Beobachtung entgangen, zusammenhalte, so müsse er glauben, daß ich sie nicht gut behandelt hätte. Er wollte wissen, ob seine Annahme, ich beabsichtige einen Schatten auf ihr Andenken zu werfen und ihre Familie zu kränken, richtig sei. Er sei es der Uniform, die er trage, schuldig, diese Erklärung zu fordern.

Dieser Mensch hatte ein Offizierspatent bei der Armee – ein Patent, das mit meinem Gelde und mit dem Elend seiner Schwester erkauft war. Er war der Rädelsführer des Komplotts, das mich verstricken und ihm Griffe in meine Kassen erlauben sollte. Er war das Hauptwerkzeug gewesen, womit man die Schwester zwang, mich zu heiraten, obgleich er wußte, daß ihr Herz jenem Knaben mit der Kinderstimme gehörte. Seiner Uniform schuldig! Der Livree seiner Schande! Ich wandte meine Augen nach ihm – ich konnte nicht anders – aber ich sprach kein Wort. Ich sah die plötzliche Veränderung, die unter dem Glutstrahl meiner Blicke in ihm vorging. Er war ein kühner Mann, aber die Farbe wich aus seinem Gesicht – er rückte den Stuhl zurück. Ich rückte mit dem meinigen nach, und als ich lachte – ich war damals sehr lustig –, sah ich, daß er schauderte. Ich fühlte, wie der Wahnsinn in mir aufbrauste. Er fürchtete sich vor mir.

›Sie haben Ihre Schwester sehr geliebt, als sie noch am Leben war‹ – sagte ich – ›o gewiß, sehr geliebt!‹

Er sah unruhig im Zimmer umher, und ich gewahrte, wie seine Hand die Lehne seines Stuhles ergriff; aber er antwortete nicht.

›Ha, elender Bube‹, sagte ich; ›ich weiß alles; ich bin dem höllischen Komplott, das Ihr gegen mich geschmiedet, auf die Spur gekommen und weiß, daß ihr Herz an einem andern hing, ehe Ihr sie zwangt, mein Weib zu werden. Ich weiß es – ich weiß es.‹

Er sprang von seinem Stuhle auf, schwang denselben in der Luft und rief mir zu, zurückzutreten – denn ich war ihm, während ich sprach, immer näher gerückt.

Ich schrie eher, als ich sprach, denn ich fühlte ungestüme Leidenschaft durch meine Adern wirbeln, und die alten Geister flüsterten mir mit höhnendem Grinsen zu, ich solle ihm das Herz aus dem Leibe reißen.

›Gott verdamme dich‹, rief ich auffahrend und auf ihn losstürzend; ›ich habe sie getötet. Ich bin ein Wahnsinniger. Nieder mit dir! Blut – Blut muß ich sehen.‹

Ich warf den Stuhl, den er in seinem Entsetzen nach mir schleuderte, mit einem Schlage bei Seite, rückte ihm auf den Leib, und wir beide stürzten mit einem dumpfen Krachen zur Erde.

Ein herrlicher Kampf – denn er war ein großer starker Mann, der sich um sein Leben wehrte und ich ein Toller, der mit der Kraft des Wahnsinns rang und nach seinem Blute dürstete.

Ich kannte keine Kraft, die der meinen widerstehen konnte – und ich hatte recht. Abermals recht, obgleich ich wahnsinnig war! Sein Kämpfen wurde immer schwächer. Ich kniete auf seine Brust und umkrallte seine Rechte mit ehernen Griffen. Sein Gesicht wurde purpurrot, seine Augen sprangen aus dem Kopfe hervor, und er schien mich mit der hervortretenden Zunge zu verhöhnen. Ich drückte immer fester.

Die Tür flog plötzlich geräuschvoll auf, und eine Menge Volks drang herein, das sich gegenseitig zurief, den Wahnsinnigen zu ergreifen.

Mein Geheimnis war verraten, und mein Kampf galt jetzt nur noch meiner Freiheit. Ich war, ehe mich noch eine Hand berührte, wieder auf den Beinen, stürzte mich auf die Angreifenden und bahnte mir mit so kräftigen Armen, als hätte ich ein Beil in der Hand, mit dem ich alles niederschmetterte, einen Weg. Ich erreichte die Tür, schwang mich über das Treppengeländer und befand mich im Nu auf der Straße.

Ich eilte immer gerade aus, aber niemand wagte es, mich anzuhalten. Ich hörte den Ton von Fußtritten hinter mir und verdoppelte meine Hast. Die Tritte der Verfolger ließen sich immer schwächer und schwächer vernehmen und erstorben endlich ganz und gar. Aber immer noch jagte ich weiter über Sumpfgründe und Gräben, über Hecken und Zäune unter wildem Jubelgeschrei, und die wunderlichen Wesen, die mich von allen Seiten umgaben, stimmten darin überein, daß die ganze Luft von dem Geheule erfüllt war. Ich wurde von den Armen der Dämonen getragen, die im Winde dahinfegten und alle Hindernisse vor sich niederwarfen; das Getümmel und die Eile, womit sie mich fortzogen, machten mich schwindlig, bis sie mich endlich gewaltsam abschleuderten und ich mit einem schweren Falle auf die Erde stürzte. Als ich wieder erwachte, fand ich mich hier – hier in dieser lustigen Zelle, wo mich die Sonne selten besucht, deren Strahlen nur dazu dienen, mir die dunklen Schatten, die mich umringen, und die stumme Gestalt in ihrem Winkel zu zeigen. Wenn ich wachend daliege, so höre ich bisweilen wunderliche Rufe, die aus fernen Teilen dieses großen Gebäudes zu mir dringen. Was sie zu bedeuten haben, weiß ich nicht; aber sie kommen nie von der bleichen Gestalt, die ihrer nicht einmal achtet. Von den ersten Schatten des Abends bis zum frühsten Licht des Morgens steht sie regungslos an demselben Platz, horcht auf die Musik meiner Eisenkette und sieht zu, wie ich in meinem Strohlager wühle.«

 

Am Schlüsse dieses Manuskripts stand, von einer andern Hand geschrieben, folgende Note:

»Der Unglückliche, dessen Zustand in den vorstehenden Zeilen geschildert ist, bietet ein trauriges Beispiel von den verderblichen Folgen schlechter Erziehung und so lange fortgesetzter Ausschweifungen, bis sich ihre Folgen nicht mehr gutmachen ließen. Das wüste Leben seiner jüngeren Jahre hatte Fieber und Raserei erzeugt. In dieser bemächtigte sich seiner die wunderliche Vorstellung, daß der Wahnsinn in seiner Familie erblich sei – eine Vorstellung, die sich auf eine wohlbekannte pathologische Theorie gründete: sie wird teils von den Ärzten scharf bestritten, teils mit Nachdruck festgehalten. Das veranlaßte einen Trübsinn, der nach und nach in entschiedenen tobsüchtigen Wahnsinn überging. Es ist aller Grund zum Glauben vorhanden, daß die mitgeteilten Tatsachen, freilich in ihrer Darstellung durch eine kranke Phantasie verdreht, wirklich stattgefunden hatten, und wenn man die Verirrungen seiner Jugend kennt, so muß man sich nur wundern, daß seine Leidenschaften, sobald sie einmal des Zügels der Vernunft entbehrten, ihn nicht zu noch schrecklicheren Taten verleitet haben.«

Herrn Pickwicks Licht war ganz heruntergebrannt, als er mit dem Lesen des Manuskripts fertig war, und als das Licht plötzlich ohne ein vorangehendes warnendes Flackern auslöschte, schrak er in seinem aufgeregten Zustande lebhaft zusammen. Er warf hastig die Kleidungsstücke, die er beim Aufstehen angezogen, wieder ab, sah sich furchtsam im Gemache um, hüllte sich rasch in die Bettücher und verfiel bald darauf in tiefen Schlaf.

Der Morgen war schon weit vorgerückt, und die Sonne schien herrlich in sein Schlafgemach, als er erwachte. Die Beklemmung der letzten Nacht war mit den dunklen Schatten, die das Land umfingen, gewichen, und er fühlte in seinem Innern die Leichtigkeit und Heiterkeit des Morgens. Nach einem kräftigen Frühstück machten sich die vier Reisenden nebst einem Manne, der den Stein in dem Bretterkistchen trug, nach Gravesend auf den Weg. Sie erreichten diese Stadt gegen ein Uhr (ihr Gepäck hatten sie bereits von Rochester aus nach London zurückschicken lassen), und da sie glücklicherweise auf einem Postwagen noch Außensitze fanden, so langten sie gesund und heiter noch denselben Abend in ihrer Heimat an.

Die nächsten drei oder vier Tage verbrachten sie mit Vorbereitungen für ihren Besuch in dem Wahlflecken Eatanswill. Da jedoch der Bericht über alles, was auf dieses wichtige Unternehmen Bezug hat, ein gesondertes Kapitel fordert, so begnügen wir uns, in den Schlußzeilen des gegenwärtigen, die weitere Geschichte der antiquarischen Entdeckung in aller Kürze mitzuteilen.

Aus den Klubverhandlungen erhellt, daß Herr Pickwick in einer den Abend nach seiner Rückkehr abgehaltenen Generalversammlung eine Vorlesung über seinen Fund hielt, in der er viele scharfsinnige und gelehrte Vermutungen über die Bedeutung der Inschrift preisgab. Es wird darin auch mitgeteilt, daß ein geschickter Künstler eine getreue Zeichnung der Merkwürdigkeit angefertigt und diese lithographiert hatte, um Abdrücke davon der königlichen Altertumsforschergesellschaft und andern gelehrten Korporationen zu übersenden. Dieser Schritt setzte viele neidische und eifersüchtige Federn in Bewegung, wie denn auch Herr Pickwick selbst eine Broschüre erscheinen ließ, in der er auf sechsundvierzig engbedruckten Seiten siebenundzwanzig verschiedene Erklärungen der Inschrift veröffentlichte. Eine weitere Folge war, daß drei alte Herren ihre erstgeborenen Söhne mit dem Pflichtteil von einem Schilling testamentarisch bedachten, weil sie sich unterfangen hatten, den antiquarischen Wert der Entdeckung in Zweifel zu ziehen – daß ein enthusiastischer Altertumsfreund aus Verzweiflung, weil er den Sinn der Inschrift nicht zu ergründen vermochte, sich selbst entleibte – daß Herr Pickwick zum Ehrenmitglied von siebzehn einheimischen und fremden Gesellschaften ernannt wurde – und schließlich, daß keine dieser siebzehn Gesellschaften etwas aus der rätselhaften Schrift zu machen wußte, und daher alle darüber einstimmten, daß der Fund ein höchst außerordentlicher wäre.

Nur Herr Blotton – möge dieser Name der ewigen Verachtung aller Verehrer des Geheimnisvollen und Erhabenen anheimfallen – wir sagen, nur Herr Blotton unterfing sich, mit der Zweifelsucht und Sophistik gemeiner Seelen einen Erklärungsversuch geltend zu machen, der eben so schimpflich wie lächerlich war. Herr Blotton hatte nämlich, erfüllt von dem niedrigen Wunsche, den Glanz des unsterblichen Namens »Pickwick« zu besudeln, in Person eine Reise nach Cobham gemacht, und erlaubte sich nun nach seiner Rückkehr in einer Rede an den Klub die sarkastische Bemerkung, daß er den Mann, von dem der Stein gekauft wurde, gesprochen und daß dieser allerdings über das Alter des Steins keine Auskunft zu geben gewußt, wohl aber das Alter der Inschrift feierlich in Abrede gestellt hätte. Diese wäre nichts mehr und nichts minder als eine Arbeit, die er selbst in müßiger Stunde ausgeführt und die bloß » Bill Stump sein Grenzzeichen« bedeuten solle, wobei sich der gute Stump mehr an den Klang der Worte, als an die strengen Regeln der Orthographie gehalten hätte.

Der Pickwick-Klub nahm, wie sich von einem so erleuchteten Institut erwarten läßt, diese Erklärung mit der gebührenden Verachtung auf, schloß den übelwollenden und anmaßenden Herrn Blotton aus dem Klubverbande aus und stiftete Herrn Pickwick eine goldene Brille zum Beweise seines Vertrauens und zur Anerkennung für seine Verdienste. Herr Pickwick ließ sich dagegen malen und das Porträt – das er, wie wir nebenbei bemerken müssen, nicht zerstört zu sehen wünschte, wenn er einige Jahre älter geworden – im Versammlungszimmer aufhängen.

Herr Blotton war zwar ausgestoßen, aber nicht besiegt. Er schrieb gleichfalls eine Broschüre, widmete sie den siebzehn gelehrten Gesellschaften, wiederholte darin die bereits gemeldeten Angaben, und ließ nicht undeutlich merken, daß er die besagten siebzehn Korporationen für nichts mehr und nichts weniger als für eben so viele »Narrenverbände« halte. Dadurch wurde natürlich die gerechte Entrüstung dieser siebzehn Gesellschaften geweckt, und es erschienen mehrere neue Flugschriften. Die fremden gelehrten Gesellschaften korrespondierten mit den einheimischen! die einheimischen übersetzten die Flugschriften der fremden ins Englische, die Fremden die Flugschriften der einheimischen in alle nur erdenklichen Sprachen, und so begann der berühmte wissenschaftliche Streit, der in aller Welt unter dem Namen »Pickwickfehde« so berühmt geworden ist.

Der nichtswürdige Versuch, Herrn Pickwicks Ruhm zu schmälern, fiel indessen auf das Haupt seines boshaften Urhebers zurück. Die siebzehn gelehrten Gesellschaften erklärten den anmaßenden Blotton für einen unwissenden Ränkespinner und schickten fleißiger als je Abhandlungen in die Welt. Und bis auf diesen Tag ist der Stein ein unlesbares Denkmal von Herrn Pickwicks Größe und ein unvergängliches Siegeszeichen über die Kleinlichkeit seiner Feinde.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Enthält einen bedeutungsvollen Vorfall, der sowohl in Herrn Pickwicks Leben, als in dessen Geschichte Epoche macht.

Herrn Pickwicks Zimmer in der Goßwellstraße, obschon von beschränktem Räume, gewährte doch eine sehr nette, bequeme und für einen Mann von seinem Genie und Beobachtungsgeist ganz besonders geeignete Wohnung. Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, sein Schlafzimmer im zweiten, und beide lagen nach vorn hinaus, so daß Herr Pickwick, sowohl von seinem Schreibtisch im Wohnzimmer, als von seinem Ankleidespiegel im Schlafgemach aus gute Gelegenheit hatte, die menschliche Natur in allen ihren unzähligen Phasen an einem Platze zu beobachten, der ihm fortwährend ein buntes Volksleben vor die Augen führte. Seine Hauswirtin, Frau Bardell, die trostlose Hinterbliebene eines Zolleinnehmers, war eine resolute Frau von lebhaftem Temperament und angenehmem Äußern. Dabei war sie mit einem natürlichen Kochgenie begabt, das sie durch Studium und langjährige Praxis bis zu einer außerordentlichen Höhe ausgebildet hatte. In ihrem Hause gab es weder Kinder, noch Dienstboten, noch Federvieh. Seine einzigen Insassen waren, außer Herrn Pickwick, ein großer Mann und ein kleiner Knabe, der erstere ein Untermieter, der zweite ein Sprößling der Frau Bardell. Der große Mann war immer abends Punkt zehn Uhr zu Hause und pferchte sich zu dieser Stunde regelmäßig in die Grenzen einer zwerghaften französischen Bettstelle im hintern Zimmer zusammen. Die kindischen Spiele und gymnastischen Übungen des jungen Herrn Bardell aber waren ausschließlich auf die Plätze vor den Türen der Nachbarn und die Rinnsteine vor dem Hause beschränkt. Reinlichkeit und Stille herrschten in dem Bau, darinnen Herrn Pickwicks Wille als Gesetz galt.

Jedermann, der den geschilderten häuslichen Zustand und die bewundernswürdige Selbstbeherrschung Herrn Pickwicks gekannt hätte, würde sein Benehmen an dem Morgen vor dem zur Reise nach Eatanswill bestimmten Tage höchst mysteriös und sonderbar gefunden haben. Er ging mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, schaute alle drei Minuten einmal unruhig zum Fenster hinaus, sah fortwährend nach der Uhr, und ließ noch viele andere, bei ihm selten vorkommende Zeichen von Ungeduld wahrnehmen. Offenbar lag ihm etwas sehr Wichtiges im Sinne, doch was dieses Etwas sein möchte, vermochte selbst Frau Bardell nicht zn ergründen.

»Frau Bardell«, hob Herr Pickwick endlich an, als diese liebenswürdige Frau endlich mit ihrem ausdauernden Staubabwischen fast zu Ende gekommen war.

»Sir«, sagte Frau Bardell.

»Ihr kleiner Knabe bleibt sehr lange aus.«

»Ei, es ist aber auch ein ziemlich weiter Weg nach dem Borough, Sir«, entgegnete Frau Bardell.

»Da haben Sie freilich recht«, versetzte Herr Pickwick, versank abermals in Stillschweigen, und Frau Bardell fuhr mit dem Staubabwischen fort.

»Frau Bardell«, begann Herr Pickwick nach einigen Minuten von neuem.

»Sir«, sagte Frau Bardell, wie zuvor.

»Glauben Sie wohl, daß es bedeutend mehr kostet, zwei Personen zu unterhalten, als eine einzige?« fragte Herr Pickwick.

»Mein Gott, Herr Pickwick«, rief Frau Bardell aus, bis an den Rand ihrer Haube errötend, weil sie in den Augen ihres Mietsherrn ein heiratslustiges Blinzeln zu bemerken glaubte; »mein Gott, Herr Pickwick, was ist das für eine Frage?«

»Glauben Sie es wirklich?« fragte Herr Pickwick weiter.

»Tja, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, mit ihrem Staubbesen seine auf dem Tische ruhenden Ellenbogen fast berührend, »das kommt ganz darauf an, ob es eine haushälterische und verständige Person ist, Sir.«

»Da haben Sie recht«, versetzte Herr Pickwick; »doch ich denke, daß die Person, die ich im Auge habe (bei diesen Worten fixierte er Frau Bardell sehr scharf) jene Eigenschaften, und noch überdies eine beträchtliche Weltkenntnis und viel Klugheit besitzt, Frau Bardell, was mir wesentliche Vorteile bringen dürfte.«

»Ach du mein Himmel, Herr Pickwick!« rief Frau Bardell aus, und errötete abermals bis an den Rand ihrer Haube.

»Ich bin wirklich davon überzeugt«, sagte Herr Pickwick, lebhafter werdend, wie es gewöhnlich bei ihm der Fall war, wenn er von einem ihn interessierenden Gegenstande sprach; »ich bin wirklich davon überzeugt, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Frau Bardell, ich habe bereits meinen festen Entschluß gefaßt.«

»Ach, du meine Güte, Sir!« rief Frau Bardell.

»Sie werden es allerdings auffallend finden«, fuhr der liebenswürdige Herr Pickwick fort, indem er dabei seine Hausgenossin mit freundlichem Lächeln anblickte, »daß ich Sie über diese Angelegenheit gar nicht zu Rate gezogen, und nicht eher etwas davon erwähnt habe, als in dieser Stunde, wo ich Ihren kleinen Knaben ausgeschickt – hihi, was sagen Sie?«

Frau Bardell konnte nur durch einen Blick antworten. Sie hatte Herrn Pickwick längst im stillen verehrt, und jetzt sah sie sich mit einem Male auf den Gipfel eines Glücks gehoben, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Herr Pickwick stand im Begriff, ihr einen Antrag zu machen – ein überlegter Plan! –, ja, nur deshalb hatte er ihren Knaben fortgeschickt – wie herrlich war das ausgedacht, und wie klug ausgeführt!

»Nun«, fragte Herr Pickwick, »was meinen Sie?«

»Ach, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, vor innerer Bewegung zitternd, »Sie sind gar zu gütig, Sir.«

»Meinen Sie nicht, daß ich Ihnen ein gutes Teil Mühe dadurch ersparen würde?« fragte Herr Pickwick weiter.

»O, aus der Mühe mache ich mir gar nichts, Sir«, erwiderte Frau Bardell: »und ich will mich gern, um nur Sie zufrieden zu sehen, einer noch größeren als je unterziehen. Ach, es ist unaussprechlich viel Güte von Ihnen, Herr Pickwick, daß Sie auf meine verlassene Lage soviel Rücksicht nehmen!«

»Ich versichere Sie«, versetzte Herr Pickwick, »daran habe ich noch nicht einmal gedacht. Doch Sie werden, wenn ich in der Stadt bin, immer jemand haben, der bei Ihnen bleibt.«

»O Gott, ich werde eine sehr glückliche Frau sein«, sagte Frau Bardell.

»Und Ihr kleiner Knabe« – sagte Herr Pickwick.

»Der Himmel segne ihn!« unterbrach ihn Frau Bardell mit einem mütterlichen Seufzer.

»Auch er wird einen Gefährten haben, und zwar einen recht aufgeweckten, der ihn, ich will darauf wetten, in einer Woche mehr Schelmenstreiche lehren wird, als er sonst wohl in einem Jahre lernen würde.«

Herr Pickwick begleitete diese Worte mit einem gutmütigen Lächeln.

»O Sie lieber –«

Herr Pickwick stutzte.

»O Sie lieber, guter, herrlicher Mann!« rief Brau Bardell aus, sprang von ihrem Stuhle auf und schlang ohne weitere Umstände unter einem Katarakt von Tränen und einem Chor von Seufzern ihre Arme um Herrn Pickwicks Nacken.

»Gerechter Gott!« schrie Herr Pickwick, ganz außer sich: »Frau Bardell, gute Frau – du meine Güte! – welche Situation! – ich bitte, bedenken Sie doch – Frau Bardell – ich beschwöre Sie um alle» in der Welt – wenn jemand käme –«

»D, mag kommen, wer will!« rief Frau Bardell, in ihrer Liebesekstase ihn noch fester umschlingend: »ich lasse nicht von Ihnen – o Sie lieber, Sie teurer Mann!«

»Barmherziger Gott!« ächzte Herr Pickwick, indem er aus allen Kräften rang, sich von ihr loszumachen: »ich höre jemand auf der Treppe kommen. O, ich bitte Sie um Himmels willen, liebe Frau, seien Sie doch nur vernünftig!«

Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben fruchtlos, denn Frau Bardell war in Pickwicks Armen in Ohnmacht gefallen, und ehe er Zeit gewinnen konnte, sie auf einen Stuhl niederzusetzen, trat Master Bardell in das Zimmer, gefolgt von Herrn Tupman, Herrn Winkle und Herrn Snodgraß.

Herr Pickwick war wie vom Donner gerührt. Seine liebliche Bürde in den Armen haltend, stand er bestürzt und regungslos da, und starrte seine Freunde an, ohne sie zu begrüßen, ja ohne auch nur den geringsten Versuch zu machen, ihnen eine Erklärung darüber zu geben. Seine Freunde machten große Augen, und Master Bardell glotzte alle zusammen an.

Da« Erstaunen der Pickwickier und die Verwirrung Herrn Pickwicks waren so überwältigend, daß wahrscheinlich sämtliche

 

Personen bis zum Wiedererwachen der Lebensgeister unserer guten Frau Bardell in ihren Stellungen verharrt sein würden, wenn sich nicht die kindliche Zärtlichkeit des Sprößlings der Ohnmächtigen auf eine höchst rührende Weise Luft gemacht hätte. Er war anfangs, in einem Korduroyanzug mit großen Metallknöpfen, erstaunt und ungewiß an der Tür stehengeblieben; aber schließlich kam er auf den Gedanken, daß Herr Pickwick seiner Mutter ein Leid angetan haben möchte; er erhob daher ein jämmerliches Geschrei, stürzte auf den unsterblichen Mann los und begann dessen Rücken und Beine mit Stößen und Knüffen so empfindlich zu bearbeiten, als es die Kraft seines kleinen Armes und das Ungestüm seiner Aufregung zuließ.

»Wehren Sie doch dem kleinen Schlingel!« rief der geängstigte Herr Pickwick; »er ist ja ganz des Teufels!«

»Was gibt es denn hier?« fragten die drei Pickwickier wie aus einem Munde.

»Ich weiß es nicht«, versetzte Herr Pickwick verdrießlich. »Schaffen Sie mir nur den Knaben vom Halse – (Herr Winkle zog den schreienden und um sich schlagenden interessanten Knaben in den entferntesten Winkel des Zimmers) – und helfen Sie mir die Frau die Treppe hinunterführen.«

»Ah, ich fühle mich wieder besser«, begann Frau Bardell mit schwacher Stimme.

»Erlauben Sie mir, Sie hinunter zu begleiten«, sagte der stets galante Herr Tupman.

»Ich nehme es mit Dank an, Sir – ich nehme es mit Dank an«, rief Frau Bardell in hysterischer Aufregung.

Und so wurde sie denn von Herrn Tupman die Treppe hinuntergeführt, während ihr das zärtliche Söhnlein folgte.

»Ich kann nicht begreifen«, sagte Herr Pickwick, als sein Freund zurückkehrte, »was dieser Frau eigentlich zugestoßen ist. Ich hatte ihr bloß meine Absicht angekündigt, einen männlichen Dienstboten anzunehmen, als sie in eine wahre Verzückung geriet und endlich in Ohnmacht fiel. Ein höchst merkwürdiger Fall!«

»Höchst merkwürdig!« riefen die drei Freunde aus.

»Sie versetzte mich in der Tat in eine ganz sonderbare Lage«, fuhr Herr Pickwick fort.

»Ganz sonderbar!« wiederholten seine Gefährten, ein wenig hustend und sich gegenseitig merkwürdige Blicke zuwerfend, die Herrn Pickwick nicht entgingen. Sie hatten ihn offenbar im Verdacht.

»Es wartet ein Mann auf dem Gange«, bemerkte Herr Tupman.

»Ohne Zweifel der Diener, an den ich dachte«, sagte Herr Pickwick. »Ich schickte diesen Morgen nach ihm. Haben Sie doch die Güte, ihn hereinzurufen, lieber Snodgraß.«

Herr Snodgraß tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf stellte sich Herr Samuel Weller vor.

»Ich denke, Ihr erinnert Euch meiner«, redete ihn Herr Pickwick an.

»Sollt’s meinen«, erwiderte Sam mit pfiffigem Blinzeln. »Ein wunderlicher Auftritt – aber er hat Ihnen doch allen ein Schnippchen geschlagen; fort war er, ehe einer in seine Tabaksdose greifen kann – was?«

»Lassen wir das jetzt«, fiel Herr Pickwick eilig ein; »ich wollte von etwas anderm mit Euch reden. Setzt Euch.«

»Danke Sir«, sagte Sam, und setzte sich, ohne sich weiter nötigen zu lassen, nachdem er seinen alten weißen Hut auf einen außen vor der Tür stehenden Tisch gelegt hatte. »Er sieht nicht zum besten aus«, bemerkte er, »sitzt aber erstaunlich gut und war ein sehr hübscher Deckel, ehe sich die Krempe lostrennte: er ist aber so leichter, das ist ein Vorteil – und dann läßt jedes Loch Luft herein, das ist der zweite – ein gesunder Abkühlungsapparat.«

Nach dieser Erörterung lächelte Herr Weller die versammelten Pickwickier freundlich an.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick; »doch jetzt zur Sache, weswegen ich Euch habe rufen lassen.«

»Sehr wohl, Sir«, unterbrach ihn Sam: »nur heraus damit, wie der Vater zu dem Kinde sagte, als es einen Pfennig verschluckt hatte.«

»Vor allen Dingen möchte ich wissen«, fuhr Herr Pickwick fort, »ob Ihr aus irgendeinem Grunde mit Eurer gegenwärtigen Lage unzufrieden seid.«

»Bevor ich auf diese Frage antworte«, versetzte Sam, »möchte ich gern wissen, ob Sie mir etwa zu einer bessern verhelfen wollen?«

Ein Strahl gütigen Wohlwollens glänzte auf Herrn Pickwicks Angesicht, als er sagte:

»Ich habe unter Umständen vor, Euch selbst in Dienst zu nehmen.«

»Ach was?« sagte Sam.

Herr Pickwick nickte bejahend.

»Lohn?« sagte Sam.

»Zwölf Pfund jährlich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Kleidung?«

»Zwei Anzüge.«

»Arbeit?«

»Ihr wartet mir auf und begleitet mich und diese Herren hier auf Reisen.«

»Also runter mit dem Bedientenbuch«, sagte Sam mit Nachdruck: »ich bin an einen einzelnen Herrn vermietet und mit den Bedingungen einverstanden.«

»Ihr nehmt also die Stelle an?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß«, erwiderte Sam: »wenn mir die Livree nur halb so gut paßt wie die Stelle, so wird’s schon gehen.«

»Ohne Zweifel werdet Ihr ein Zeugnis beibringen können?« fragte Herr Pickwick.

»Wenden Sie sich deshalb an die Wirtin vom Weißen Hirsch«, versetzte Sam.

»Könntet Ihr noch heute abend den Dienst antreten?«

»Augenblicks stecke ich mich in Ihre Livree, wenn sie zur Hand ist«, entgegnete Sam äußerst vergnügt.

»Sprecht heute abend um acht Uhr vor«, sagte Herr Pickwick, »und wenn meine Erkundigungen nach Wunsch ausfallen, werde ich für eine Livree sogleich Sorge tragen.«

Mit Ausnahme eines einzigen liebenswürdigen Fehltritts, an dem ein Hausmädchen gleichen Anteil hatte, war der Bericht über Herrn Wellers Betragen so rein von jedem Makel, daß Herr Pickwick sich völlig beruhigt fühlte und noch am selben Abend den Vertrag mit dem neuen Diener schloß. Mit der Raschheit und Energie, die nicht nur die öffentlichen, sondern auch die Privathandlungen dieses außerordentlichen Mannes kennzeichneten, führte er den Diener in eins der Konfektionsgeschäfte, wo alte und neue Herrenanzüge vorrätig sind und man der lästigen und unbequemen Formalität des Maßnehmens überhoben ist. Noch vor Einbruch der Nacht war Sam Weller mit einem grauen Rocke mit P.-C.-Knöpfen, einem schwarzen Hut mit einer Kokarde, einer fleischfarbenen, gestreiften Weste, lichten Beinkleidern und Gamaschen und mehreren andern Erfordernissen, deren Aufzählung den Leser belästigen könnte, ausstaffiert.

»Ich bin doch neugierig«, sagte unser plötzlich also verwandeltes Individuum, als es am nächsten Morgen den Außensitz der Eatanswiller Postkutsche eingenommen hatte, »ob ich einen Diener, einen Stallknecht, einen Hegereiter oder einen Portier vorstellen soll. Ich sehe wie eine Art Ragout von alledem ans. Doch, was macht das! Komme ich ja auf diese Weise zu einer Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles ganz prächtig zusagt. Ich bleibe daher dabei: die Pickwickier sollen leben.«

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Nachrichten über Eatanswill – über den Stand der dortigen Parteien – und über die Wahl eines Parlaments-Mitglieds für diesen alten, loyalen und patriotischen Flecken.

Wir wollen offen gestehen, daß wir bis zu der Zeit, wo wir uns zuerst in die Masse der Papiere des Pickwick-Klubs versenkten, noch nie etwas von Eatanswill gehört hatten; auch wollen wir mit gleicher Freimütigkeit bekennen, daß wir bis auf den heutigen Tag vergeblich den Beweisen für die wirkliche Existenz einer Ortschaft dieses Namens nachgeforscht haben. In jede von Herrn Pickwicks Aufzeichnungen und Angaben das größte Vertrauen setzend, und uns nicht erkühnend, unsere eigenen Gedanken den gedachten Notizen des großen Mannes entgegenzustellen, haben wir jede Autorität zu Rate gezogen, die wir für den fraglichen Gegenstand überhaupt auftreiben konnten. Wir haben jeden Namen in den Listen A und B durchgegangen, ohne dem von Eatanswill zu begegnen: wir haben mit der größten Sorgfalt jeden Winkel auf den Spezialkarten unserer Grafschaften geprüft, und unsere Untersuchung hatte dasselbe Resultat.

Wir glauben daher annehmen zu dürfen, daß Herr Pickwick, aus einer ängstlichen Besorgnis, um nirgends Anstoß zu geben, und aus jenem Zartgefühl, das ihm nach dem Zeugnis aller, die ihn kennen, in so hohem Grade eigen ist, absichtlich einen fingierten für den wirklichen Namen der Stadt eingesetzt hat, in der er seine Beobachtungen anstellte. Wir werden in dieser Vermutung durch einen an sich geringfügigen und unbedeutenden, aber aus unserm Gesichtspunkt Beachtung verdienenden Umstand bestärkt. In Herrn Pickwicks Tagebuch steht nämlich die Tatsache aufgezeichnet, daß er sich mit seinen Gefährten auf der Post habe einschreiben lassen, um mit dem Norwicher Norwich, (heute) Großstadt und Grafschaft im östlichen England. Wagen abzufahren. Diese Notiz ist jedoch später wieder ausgestrichen, als wenn er die Absicht gehabt hätte, sogar die Richtung zu verheimlichen, in der jener Waldflecken gelegen ist. Wir wollen daher keine weiteren Vermutungen über diesen Punkt wagen, sondern lieber mit unserer Erzählung fortfahren, uns mit dem reichen Material begnügend, das uns die Charaktere derselben an die Hand geben.

Die Leute in Eatanswill hatten, wie die Bewohner so mancher andern Städte, eine gar hohe Meinung von ihrer Bedeutsamkeit, und jedermann daselbst, ein großes Gewicht auf sein Beispiel legend, hielt sich für verpflichtet, mit Leib und Seele einer der beiden großen, das Städtchen spaltenden Parteien – den Blauen und den Gelben – beizutreten. Die Blauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie den Gelben entgegentreten konnten, sowie dagegen die Gelben jede Gelegenheit ergriffen, mit den Blauen Händel anzufangen. Die Folge davon war, daß es jedesmal zu Skandalszenen kam, wenn die Gelben und Blauen auf dem Rathaus, dem Markte oder bei Versammlungen auf öffentlichen Plätzen zusammentrafen. Bei diesem Mangel an Harmonie wurde jede Angelegenheit in Eatanswill zur Parteifrage. Wenn die Gelben den Vorschlag machten, den Marktplatz mit neuen Laternen zu versehen, so zettelten die Blauen öffentliche Versammlungen an und brachen den Stab über den wahnsinnigen Plan. Wenn die Blauen einen neuen Brunnen in der Hauptstraße anlegen wollten, so schrien die Gelben, einer für alle und alle für einen über Verrücktheit. Es gab blaue Läden und gelbe Läden, blaue Wirtshäuser und gelbe Wirtshäuser: – es gab sogar einen blauen Flügel und einen gelben Flügel in den Kirchen.

Natürlich war es ein wesentliches und notwendiges Erfordernis, daß jede dieser gewaltigen Parteien ihr besonderes Organ hatte: darum tauchten in der Stadt zwei neue Blätter auf – die Eatanswill-Zeitung und der Eatanswill-Unabhängige; die erstere vertrat die Grundsätze der Blauen, die letztere trug entschieden Gelb als Grundfarbe. Beides waren ausgezeichnete Blätter. Welche vorzügliche leitende Artikel, welche mutigen Angriffe! – »Unsere unwürdige Nebenbuhlerin, die Zeitung« – »das gemeine und niederträchtige Journal, der Unabhängige« – »das erbärmliche Lügenblatt, der Unabhängige« – »die schändliche Verläumderin, die Zeitung« – diese und andere kühne Ausfälle waren in jeder Nummer zu Dutzenden anzutreffen und riefen bei der einen Hälfte der Bevölkerung die ungemessenste Freude, bei der andern die höchste Erbitterung hervor.

Herr Pickwick hatte vermöge seines gewohnten Scharfsinns und Sehergeistes einen besonders günstigen Moment zu seiner Reise in den Flecken gewählt. Nie war eine solche Spannung vorgekommen. Der ehrenwerte Samuel Slumkey von Slumkey Hall war der blaue Kandidat, und Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, wurde von seinen Freunden dazu ausersehen, das Interesse der Gelben zu vertreten. Die Zeitung stellte den Wählern von Eatanswill vor, daß nicht nur die Augen Englands, sondern der ganzen zivilisierten Welt auf sie gerichtet seien; und der Unabhängige verlangte in gebieterischem Tone zu wissen, ob die Bürger von Eatanswill wirklich die großen Männer wären, für die sie von jeher gehalten worden seien, oder elende, sklavische Werkzeuge, die weder den Namen Engländer noch die Segnungen der Freiheit verdienten. Noch nie zuvor war die Stadt in eine solche Aufregung versetzt worden.

Es war abends spät, als Herr Pickwick und seine Freunde in Begleitung ihres dienstbaren Geistes Sam von dem Dache der Eatanswiller Postkutsche herabstiegen. Große blaue Seidenfahnen flatterten an den Wänden des Gasthauses zum Stadtwappen, und an jedem Fenster waren ungeheure Papierbogen angeklebt, worauf mit gigantischen Buchstaben geschrieben stand, daß hier das Komitee des ehrenwerten Samuel Slumkey täglich seine Sitzungen halte. Ein Menge Gaffer war auf der Straße versammelt und betrachtete einen Mann auf dem Balkon, der sich zugunsten des Herrn Slumkey heiser schrie und bereits ein kirschrotes Gesicht hatte; doch die Kraft und Stärke seiner Beweisgründe wurde von dem beständigen Gerassel einer großen Trommel, die das Komitee des Herrn Fizkins an der Straßenecke aufgestellt hatte, einigermaßen geschwächt. An seiner Seite stand ein geschäftiges Männchen, das von Zeit zu Zeit den Hut abnahm und die Menge zu dem Beifallstumult aufforderte, der dann auch mit der größten Begeisterung erscholl. Als der kirschrote Herr sich röter als jemals geschrien hatte, schien er seinen Zweck ebensogut erreicht zu haben, als hätte ihn jedermann verstanden.

Die Pickwickier waren kaum abgestiegen, als sie von einer Gesellschaft der »Redlichen und Unabhängigen« umringt wurden, die sie alsbald mit dreimaligem donnernden Freudengeschrei empfingen, in das sofort die ganze Menge, denn für die Menge ist es nicht immer nötig zu wissen, wem ihr Freudengeschrei gilt, mit furchtbarem Triumphgebrüll einstimmte, das sogar den Kirschroten auf dem Balkon zum Schweigen brachte.

»Hurra!« schrie die Menge zum Schluß.

»Noch ein Hurra«, kreischte der Kleine auf dem Balkon, und wieder brüllte die Menge, als wären ihre Lungen von Gußeisen mit Stahlfedern.

»Slumkey für immer!« schrien die Redlichen und Unabhängigen.

»Slumkey für immer!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend.

»Nicht Fizkin«, schrie der Haufe.

»In keinem Falle«, rief Herr Pickwick.

»Hurra!«

Und es erfolgte ein abermaliges Gebrüll, wie von einer ganzen Menagerie, wenn der Elefant die Glocke zur kalten Küche gezogen hat.

»Wer ist Slumkey?« flüsterte Tupman.

»Weiß nicht«, versetzte Herr Pickwick ebenso leise. »Pst! stellen Sie keine Fragen. Es ist immer das beste, bei solchen Gelegenheiten zu tun, was der große Haufe tut.«

»Aber gesetzt, es sind zwei Haufen«, warf Herr Snodgraß dazwischen.

»Dann hält man sich an den größten«, entgegnete Herr Pickwick.

Ganze Bände hätten nicht mehr sagen können.

Sie traten ins Haus. Die Menge bildete Spalier und brüllte. Der erste Gegenstand, nach dem sie sich erkundigten, war ein Nachtlager.

»Können wir hier Betten haben?« fragte Herr Pickwick den Kellner.

»Weiß nicht, mein Herr«, versetzte der junge Mann; »fürchte, es ist alles besetzt, Herr – will nachfragen, Herr.«

Er entfernte sich, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fragte, ob die Herren »Blaue« wären.

Da weder Herr Pickwick, noch seine Gefährten ein besonderes Interesse an dem einen oder dem andern Kandidaten nahmen, so war die Frage etwas schwer zu beantworten. Bei dieser Alternative erinnerte sich Herr Pickwick seines neuen Freundes, Herrn Perker.

»Kennen Sie einen Herrn, Namens Perker?« fragte Herr Pickwick.

»Ohne Zweifel, mein Herr; Agent des ehrenwerten Herrn Samuel Slumkey.«

»Ein Blauer, denke ich?«

»O ja, mein Herr.«

»Dann sind wir auch Blaue«, sagte Herr Pickwick; aber da er bemerkte, daß der junge Mann bei dieser Erklärung der Anhängerschaft etwas unschlüssig aussah, so gab er ihm seine Karte und ersuchte ihn, wenn Herr Perker gerade im Hause sein sollte, alsbald diesem vorgestellt zu werden.

Der Kellner entfernte sich und kehrte im Augenblick wieder mit der Einladung zurück, Herr Pickwick möchte folgen. Er führte ihn in ein großes Zimmer im ersten Stock, wo Herr Perker an einem langen Tische saß, der mit Büchern und Papieren bedeckt war.

»Ah – ah, mein lieber Herr«, sagte der kleine Mann, ihm entgegentretend: »sehr glücklich, Sie zu sehen, mein lieber Herr, sehr glücklich. Bitte, nehmen Sie Platz. So haben Sie also Ihren Plan ausgeführt? Sie sind hierher gekommen, um einer Wahl beizuwohnen – nicht wahr?«

Herr Pickwick bejahte.

»Ein großer Kampf, mein lieber Herr«, sagte der Kleine.

»Ich bin entzückt, dies zu hören«, versetzte Herr Pickwick, seine Hände reibend; »mir ist nichts lieber, als fester Patriotismus, auf welcher Seite er auch sein mag – und so ist es also ein heißer Kampf?«

»O ja«, antwortete der Kleine, »sehr heiß, in der Tat. Wir haben alle Gasthäuser für unsere Partei in Beschlag genommen und unsern Gegnern nichts als die Bierschenken gelassen – ein vorzüglicher Staatsstreich, mein lieber Herr, nicht wahr?«

Und der Kleine lächelte selbstgefällig und nahm eine tüchtige Prise.

»Und wie wird wohl das Ergebnis des Kampfes sein?« fragte Herr Pickwick.

»Noch zweifelhaft, mein lieber Herr; ziemlich zweifelhaft bis jetzt«, antwortete der Kleine. »Fizkins Leute haben dreiundreißig Wähler im Weißen Hirsch in den Wagenschuppen gesperrt.«

»In den Wagenschuppen!« fragte Herr Pickwick, über diesen Staatsstreich gewaltig erstaunt.

»Sie haben sie dort eingesperrt, bis sie dieselben nötig haben«, fuhr der Kleine fort. »Der Zweck ist, wie Sie sehen, daß wir ihnen nicht beikommen sollen; und selbst wenn wir es könnten, würde es nichts helfen, denn ste haben sie absichtlich betrunken gemacht. Ein gescheiter Bursche, Fizkins Agent – sehr gescheit in der Tat.«

Herr Pickwick starrte dem Sprecher ins Gesicht und sagte nichts.

»Und doch haben wir Hoffnung«, setzte Herr Perker seine Mitteilungen fort, indem er seine Stimme bis zum Geflüster dämpfte. »Wir hatten eine kleine Teegesellschaft hier, gestern abend – fünfundvierzig Frauen, lieber Herr – und gaben jeder einen grünen Sonnenschirm zum Andenken, als sie nach Hause gingen.«

»Einen Sonnenschirm?« fragte Herr Pickwick.

»Tatsache, mein lieber Herr, Tatsache. Fünfundvierzig grüne Sonnenschirme zu sieben Schillingen und sechs Penre das Stück. Alle Frauen lieben den Putz – außerordentlich, die Wirkung dieser Sonnenschirme. Sicherten uns ihre Männer alle, und die Hälfte ihrer Brüder – Strümpfe, Flanell und all das Zeug ist Larifari. Meine Idee, mein Teuerster, ganz meine Idee. Hagel, Regen oder Sonnenschein, Sie können keine zwanzig Schritte auf der Straße gehen, ohne wenigstens einem halben Dutzend grüner Sonnenschirme zu begegnen.«

Hier brach der Mann in eine Art krampfhaften Gelächters aus, das durch den Eintritt eines Dritten unterbrochen wurde.

Es war eine kleine, schmale Figur mit rotem Haar, das hin und wieder lichte Stellen zeigte, und mit einem Gesicht, in dem sich feierliche Wichtigkeit neben unergründlicher Gelehrsamkeit ausdrückte. Er trug einen langen, braunen Oberrock, eine schwarze Tuchweste und modefarbene Beinkleider. Ein Monokel hing an seiner Brust, und auf seinem Kopfe saß ein niederer Hut mit breiter Krempe. Der neue Ankömmling wurde Herrn Pickwick als Herr Pott, Herausgeber der Eatanswill-Zeitung vorgestellt. Nach einigen wenigen einleitenden Bemerkungen wandte sich Herr Pott an Herrn Pickwick und fragte in feierlichem Tone:

»Dieser Kampf erregt großes Interesse in der Hauptstadt, mein Herr?«

»Ich glaube, ja«, antwortete Herr Pickwick.

»Ich habe Grund, zu vermuten«, sagte Herr Pott, und sah Herrn Pickwick auf seine Zustimmung hin an – »ich habe Grund, zu vermuten, daß mein Artikel im letzten Sonnabendblatt einiges dazu beigetragen hat.«

»Ohne Zweifel«, bestätigte der Kleine.

»Die Presse ist doch ein mächtiger Hebel«, meinte Pott.

Herr Pickwick gab seine vollste Zustimmung zu dieser Bemerkung.

»Aber ick schmeichle mir, mein Herr«, sagte Pott, »daß ich die ungeheure Gewalt, die mir anvertraut ist, nie mißbraucht habe. Ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich das edle Werkzeug, das in meine Hände gelegt ist, nie gegen den heiligen Schoß des Privatlebens oder den zarten Hauch des persönlichen Rufes gekehrt habe – ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich meine Kräfte, so schwach sie auch sein mögen – und sie sind schwach, wie ich wohl weiß – dem Streben geweiht habe – einen Vertreter der Prinzipien des – welche – sind –«

Hier schien den Herausgeber der Eatanswill-Zeitung ein Räuspern anzuwandeln, und Herr Pickwick kam ihm zu Hilfe und sagte:

»Gewiß.«

»Und was, mein Herr«, sagte Pott – »wie, mein Herr – erlauben Sie mir die Frage an Sie, als einen unparteiischen Mann – wie ist die öffentliche Meinung in London über meinen Kampf mit dem Unabhängigen?«

»Sehr aufgeregt ist alles, da ist kein Zweifel«, erwiderte Herr Perker mit einem Blick voll Schlauheit, der wahrscheinlich bloß zufällig war.

»Der Kampf«, versetzte Pott, »soll solange dauern, wie ich Kraft und Leben habe und das bißchen Talent, mit dem ich begabt bin, mir innewohnt. Von diesem Kampfe, und mag er die Gemüter noch so sehr aufregen und die Geister in Bewegung setzen, daß sie die gewöhnlichen Geschäfte des alltäglichen Lebens darüber versäumen – von diesem Kampfe sage ich, will ich nicht ablassen, bis ich meinen Fuß auf den Unabhängigen von Eatanswill gesetzt habe. Die Bevölkerung von London und die Bevölkerung unseres Vaterlandes soll wissen, daß sie auf mich rechnen kann – daß ich sie nicht verlassen werde, daß ich entschlossen bin, ihre Sache zu verfechten bis ans Ende.«

»Ihre Denkungsart ist edel, mein Herr«, sagte Herr Pickwick, und schüttelte dem edelmütigen Pott die Hand.

»Sie sind, wie ich bemerke, mein Herr, ein Mann von Einsicht und Kopf«, bemerkte Herr Pott, beinahe atemlos durch die Heftigkeit, womit er seinen Patriotismus auskramte. »Ich bin sehr erfreut, die Bekanntschaft eines Mannes, wie Sie, zu machen,«

»Und ich«, erwiderte Herr Pickwick, »fühle mich hochgeehrt durch die gute Meinung, die Sie von mir hegen. Erlauben Sie mir, mein Hcrr, Ihnen meine Reisegefährten vorzustellen, die die übrigen Mitglieder des Klubs bilden, den ich – mit Stolz sage ich es – gegründet habe.«

»Es wird mir ein außerordentliches Vergnügen sein«, antwortete Herr Pott.

Herr Pickwick verließ das Zimmer, holte seine drei Freunde und stellte sie in der gebührenden Form dem Herausgeber der Eatanswill-Zeitung vor.

»Nun, mein lieber Pott«, fragte der kleine Herr Perker, »nun lst die Frage, was machen wir mit unsern Freunden.«

»Wir können, denke ich, hier im Hause unterkommen«, meinte Herr Pickwick.

»Nicht ein elendes Bett mehr, lieber Herr, nicht ein Bett mehr frei.

»Sehr ärgerlich«, murrte Herr Pickwick.

»Außerordentlich«, bemerkten seine Reisegefährten.

»Mir fällt etwa» dazu ein«, vermittelte Herr Pott, »etwas, das zum Zweck führen dürfte. Es sind noch zwei Betten im Pfauen, und ich darf kühn behaupten, was Frau Pott betrifft, so wird es sie außerordentlich freuen, Herrn Pickwick und einen seiner Freunde bei sich zu bewirten, wenn die beiden andern Herren und ihre Niener sich, so gut es geht, im Pfauen behclfen wollen.«

Nachdem Herr Pott seine Einladung mehrmals wiederholt und Herr Pickwick sich wiederholt mit der Erklärung gesträubt hatte, er könne sich nicht entschließen, Herrn Potts liebenswürdige Ehehälfte zu belästigen oder zu stören, ward man sich darüber klar, daß dies der einzig mögliche Ausweg sei. Und so wurde er denn begangen.

Nach der gemeinschaftlichen Tafel im Stadtwappen schieden die Freunde. Herr Tupman und Herr Snodgraß verfügten sich in den Pfauen, und Herr Pickwick und Herr Winkle begaben sich in die Wohnung des Herrn Pott, nachdem sie zuvor ausgemacht hatten, sich am nächsten Morgen wieder im Stadtwappen zu versammeln und den Zug des ehrenwerten Samuel Slumkey auf den Wahlplatz zu begleiten.

Herrn Potts Familie bestand aus ihm und seiner Ehehälfte. Alle Männer, die ihr Genius auf eine große Höhe in der Welt gestellt hat, haben gewöhnlich irgendeine kleine Schwäche an sich, die durch den Gegensatz zu ihrem öffentlichen Charakter noch mehr hervorgehoben wird. Hatte Herr Pott eine Schwäche an sich, so war es vielleicht die, daß er zu sehr unter dem Pantoffel stand. Wir fühlen uns nicht berechtigt, irgendeinen besonderen Nachdruck auf diese Tatsache zu legen, weil bei der gegenwärtigen Gelegenheit Herr Pott sein ganzes einnehmendes Wesen aufbieten mußte, um die beiden Herren bei sich einzuführen.

»Meine Liebe«, sagte Herr Pott, »Herr Pickwick – Herr Pickwick aus London.«

Madame Pott empfing den väterlichen Handdruck mit bezaubernder Anmut, und Herr Winkle, der noch gar nicht vorgestellt worden war, machte in einem dunklen Winkel Kratzfuß auf Kratzfuß, der nicht beachtet wurde.

»Mein lieber Pott«, sagte Madame Pott.

»Mein Leben«, sagte Herr Pott.

»Bitte, stelle den andern Herrn vor.«

»Bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Herr Pott. »Erlauben Sie – Madame Pott, Herr – Herr –«

»Winkle«, ergänzte Herr Pickwick.

»Winkle«, wiederholte Herr Pott, und die Zeremonie der Einführung war vorüber.

»Wir müssen sehr um Entschuldigung bitten, Madame«, bemerkte Herr Pickwick, »daß wir schon nach einer so kurzen Bekanntschaft eine solche Störung in ihrem Hauswesen veranlassen.«

»Sprechen Sie nicht davon, meine Herren, bitte«, versetzte die weibliche Hälfte der Pottschen Familie. »Es ist ein hoher Genuß für mich, ich versichere Sie, wenn ich nur wieder neue Gesichter sehe. Ich lebe so von einem Tag zum andern, von einer Woche zur andern in dieser Dunkelheit, und niemand besucht mich.«

»Niemand, meine Liebe?« rief Pott in schalkhaftem Tone,

»Niemand, als du entgegnete Madame Pott heftig.

»Sie müssen wissen, Herr Pickwick«, erläuterte der Wirt die Klage seiner Frau, »wir sind von einer Menge Genüssen und Vergnügungen ausgeschlossen, an denen wir unter andern Verhältnissen teilnehmen könnten. Meine öffentliche Stellung als Herausgeber der Eatanswill-Zeitung, der Ruf, in dem dieses Blatt in der ganzen Gegend steht, mein bewegtes Treiben im Strudel der Politik –«

»Mein lieber Pott«, unterbrach ihn Madame.

»Mein Leben« – wollte der Herausgeber fortfahren.

»Es wäre mir angenehm, mein Leben, wenn du versuchen wolltest, ein Thema zur Sprache zu bringen, an dem diese Herren sich auch vernünftig beteiligen können.«

»Aber meine Liebe«, sagte Herr Pott mit großer Bescheidenheit, »Herr Pickwick nimmt Anteil daran.«

»Gut für ihn, wenn er kann«, versetzte Madame Pott mit Nachdruck. »Ich wenigstens habe deine Politik für mein Leben satt, und die Zänkereien mit dem Unabhängigen und was dergleichen Unsinn mehr ist, widern mich an. Ich begreife nicht, Pott, wie du nur deine Albernheit so auskramen magst.«

»Aber, meine Liebe« – sagte Herr Pott.

»Pah! Unsinn, sprich mir nichts mehr davon«, unterbrach ihn Madame Pott. »Spielen Sie Ecarté>, mein Herr?«

»Ich wäre unendlich glücklich, es unter Ihrer Anweisung zu lernen«, erwiderte Herr Winkle.

»Gut; stell dieses Tischchen in das Fenster, und laß mich nichts mehr von deiner langweiligen Politik hören.«

»Hannchen«, rief Herr Pott dem Mädchen zu, das die Lichter brachte, »geh hinunter in mein Studierzimmer und hole mir den Jahrgang von 1828 der Zeitung. Ich will Ihnen vorlesen –« fuhr der Herausgeber fort, sich an Herrn Pickwick wendend, »ich will Ihnen einige von meinen Leitartikeln vorlesen, die ich damals über den Narreneinfall der Gelben, einen neuen Zollgeldeinnehmer an unserm Schlagbaum anzustellen, schrieb; ich denke, sie werden Ihnen gefallen.«

»Ich höre mit Vergnügen zu«, sagte Herr Pickwick.

Der Jahrgang kam, der Herausgeber setzte sich, und Herr Pickwick nahm an seiner Seite Platz.

Wir haben das Tagebuch Herrn Pickwicks vergebens durchblättert, in der Hoffnung, einen Auszug aus jenem schönen Aufsatze zu finden. Wir haben allen Grund, zu glauben, daß er von dem Feuer und der Frische der Darstellung ganz bezaubert wurde, und Herr Winkle erinnerte sich auch wirklich des Umstandes, daß Herrn Pickwicks Augen während der ganzen Dauer der Vorlesung wahrscheinlich im Übereifer des Genusses geschlossen waren.

Die Ankündigung, daß das Essen bereit sei, machte dem Ecarté sowohl, als der Wiederholung der Schönheiten der Eatanswill- Zeitung ein Ende. Madame Pott war lauter Entzücken und hatte ihre rosenfarbenste Laune. Herr Winkle hatte schon bedeutende Fortschritte in ihrer guten Meinung gemacht, und sie trug kein Bedenken, ihm im Vertrauen die Mitteilung zu machen, daß Herr Pickwick »ein köstlicher Alter« sei, ein Ausdruck, der einen Grad von Familiarität verriet, den sich nur wenige von denjenigen erlaubt haben würden, die mit dem Riesengeiste des Mannes näher bekannt waren. Nichtsdestoweniger haben wir es aufgezeichnet, um dadurch zugleich einen rührenden und überzeugenden Beweis zu geben, wie sehr er bei jeder Klasse der Gesellschaft in Achtung stand, und wie leicht es ihm war, sich Herzen und Gefühle zu öffnen.

Es war spät in der Nacht – lange nachdem sich Herr Tupman und Herr Snodgraß im hintersten Winkel des Pfauen dem Schlafe überlassen hatten – als sich die beiden Freunde zur Ruhe begaben. Die Sinne Herrn Winkles wurden bald vom Schlafe umfangen, aber seine Gefühle waren entzündet und seine Bewunderung erregt worden; und noch manche Stunden, nachdem der Schlaf ihn von der Außenwelt abgeschlossen hatte, schwebten das Angesicht und die Gestalt der reizenden Madame Pott seiner glühenden Einbildungskraft immer wieder vor.

Das Getöse und der Lärm, der am folgenden Morgen gehört wurde, waren ausreichend, um jeden Gedanken, der nicht unmittelbar mit der bevorstehenden Wahl in Verbindung stand, dem verzücktesten Träumer aus dem Kopfe zu treiben. Das Rasseln der Trommeln, das Blasen der Hörner und Trompeten, das Schreien der Menschen und das Trappeln der Pferde hallte vom ersten Anbruch des Tages wieder und wieder durch die Straßen; und ein Gelegenheitsgefecht zwischen den Plänklern beider Parteien belebte die Vorbereitungen und brachte zugleich eine angenehme Abwechslung in das Ganze.

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick, als sein Diener in das Schlafzimmer trat, wie er eben seine Toilette vollendete. »Heute ist alles auf den Beinen, denke ich?«

»Regelrechtes Wettrennen, Herr«, antwortete Herr Weller; »unsere Leute halten heute Versammlung drunten im Stadtwappen, und haben sich bereits heiser gejohlt.«

»Ja«, fragte Herr Pickwick, »sie scheinen ihrer Partei ergeben, was Sam?«

»Mein Lebtag sah ich keine solche Ergebenheit.«

»Fabelhaft, nicht wahr?« fragte Herr Pickwick.

»Unerhört«, erwiderte Sam. »Nie sah ich Leute so viel essen und trinken. Nimmt mich wunder, daß sie’s nur ertragen können.«

»Das ist eine zur Unzeit angebrachte Güte von der hiesigen Honoratiorenschaft«, versetzte Herr Pickwick.

»Sehr möglich«, erwiderte Sam kurz.

»Wackere, muntere, herzhafte Gesellen scheinen es zu sein«, bemerkte Herr Pickwick, aus dem Fenster sehend.

»Sehr munter«, erwiderte Sam; »ich und die zwei Kellner im Pfauen hatten die Unabhängigenschaft, die gestern dort zu Nacht speiste, unter der Pumpe.«

»Die Unabhängigenwähler unter der Pumpe?« rief Herr Pickwick.

»Ja«, antwortete sein Bedienter. »Jeder schlief, wo er gefallen war; wir zogen sie diesen Morgen aus dem Dreck, einen nach dem andern, und stellten sie unter den Pumpbrunnen – alle in schönster Ordnung. Das Komitee zahlte den Streich mit einem Schilling für das Stück.«

»Ist es möglich?« rief der erstaunte Herr Pickwick.

»Gott behüte uns, Sir«, sagte Sam, »wo sind denn Sie getauft worden, daß Sie sich so darüber wundern? Das ist noch nichts – ganz und gar nichts.«

»Nichts?« fragte Herr Pickwick.

»Noch gar nichts«, antwortete der Bediente. »Den Abend vor der letzten Wahl bestach die Gegenpartei das Schenkmädchen in dem Stadtwappen, einen Hokuspokus mit dem Branntwein zu machen, den sie den vierzehn noch nicht eingeschriebenen Wählern reichte, die über Nacht im Hause waren.«

»Was verstehst du unter dem Hokuspokus mit dem Branntwein?« fragte Herr Pickwick.

»Sie tat ein Schlaftränkchen drein«, versetzte Sam. »Hol‘ mich der Kuckuck, wenn sie nicht alle wie die Ratten schliefen, bis die Wahl schon zwölf Stunden vorüber war. Man machte den Versuch, einen davon auf einen Schubkarren zu nehmen und ins Wahllokal zu bringen – aber er war nicht imstande, zu stimmen, und so mußte er wieder in sein Bett zurückgebracht werden.«

»Seltsame Kniffe das«, sagte Herr Pickwick, halb zu sich selbst, halb zu Sam.

»Nicht halb so seltsam, Sir, als der wunderbare Streich, der einmal zu einer Wahlzeit hier in dem nämlichen Orte meinem eigenen Vater begegnete«, versetzte Sam.

»Was war das?« fragte Herr Pickwick.

»Nun, er führte einmal jemand her«, fing Sam an; »die Wahlzeit war vor der Tür, und er wurde von der einen Partei bestellt, Wahlmänner von London abzuholen. Den Abend vorher läßt ihn das Komitee der andern Partei in der Stille rufen, und er geht mit dem Boten, der ihn in eine große Stube führt –- vollgepfropft mit Herren, Haufen von Papier, Tinte, Federn und dergleichen.

›Ah, Herr Weller‹, sagt der Herr auf dem Stuhl, ›freut mich, Sie zu sehen, mein Herr; wie geht’s Ihnen.‹ – ›Sehr wohl, danke Ihnen, Sir‹, sagt mein Vater; ›hoffe, Sie sind auch wohlauf‹, sagt er. – ›Ziemlich wohl, danke Ihnen‹, sagte der Herr; ›setzen Sie sich, Herr Weller – bitte, setzen Sie sich.‹ – Mein Vater setzt sich, und er und der Herr sahen einander scharf ins Gesicht. ›Kennen Sie mich nicht mehr?‹ fragt der Herr. – ›Nicht daß ich wüßte‹, antwortet mein Vater. – ›Oh, aber ich kenne Sie‹, sagt der Herr; ›kannte Sie schon, als Sie noch ganz klein waren‹, sagt er. – ›Möglich, ich kenne Sie nicht‹, sagt mein Vater. – ›Das ist sehr seltsam‹, sagt der Herr. – ›Sehr‹, sagt mein Vater. – ›Sie müssen ein kurzes Gedächtnis haben‹, sagt der Herr. – ›O ja, ein ganz kurzes‹, sagt mein Vater. – ›Ich glaube es‹, sagt der Herr. – Dann schenkten sie ihm ein Glas Wein ein, unterhalten sich mit ihm über sein Fuhrwerk, machen ihn ganz guter Laune, und drücken ihm zuletzt eine Zwanzigpfundnote in die Hand. –›’s ist ein schlechter Weg nach London‹, sagt der Herr. – »Stellenweise sehr schlecht‹, sagt mein Vater. – ›Besonders am Kanal, glaube ich‹, sagt der Herr. – ›Schmutzig genug wenigstens‹, sagt mein Vater. –›Nun, Herr Weller‹, sagt der Herr, ›ich weiß. Sie führen eine gute Peitsche und können mit Ihren Rossen anfangen, was Sie wollen. Wir halten große Stücke auf Sie, Herr Weller, und wenn Ihnen auf Ihrer Fahrt mit den Wahlmännern ein kleiner Unfall zustoßen sollte, wenn Sie dieselben zum Beispiel in den Kanal würfen, ohne daß einer dabei zu Schaden käme, so soll dieses Geld ihr Eigentum sein‹, sagt er. – ›Meine Herren, Sie sind sehr gütig‹, sagt mein Vater, ›und ich will mit einem zweiten Glas Wein Ihre Gesundheit trinken‹, sagt er, und tut es auch, knöpft dann das Geld in seine Tasche und macht seinen Kratzfuß. – Sie werden es kaum glauben«, fuhr Sam mit der größten Leichtfertigkeit fort, »daß, als er des andern Tags mit den Wählern herunter kam, der Wagen umpurzelte und die Passagiere samt und sonders in den Kanal fielen.«

»Sie kamen aber doch wieder heraus?« fragte Herr Pickwick hastig.

»Nun«, versetzte San, gedehnt, »ich glaube, ein alter Herr ist vermißt worden: ich weiß, sein Hut kam wieder zum Vorschein, aber ich bin nicht überzeugt, ob sein Kopf dabei war oder nicht. Aber was mich bei diesem außerordentlichen und wunderbaren Zufall am meisten wundert, ist, daß der Herr sagte, mein Vater werde am selbigen Platz am selben Tag umwerfen.«

»Es ist ohne Zweifel ein ganz außerordentlicher Zufall«, sagte Herr Pickwick. »Aber, bürste meinen Hut aus, Sam, denn ich höre Herrn Winkle zum Frühstück rufen.«

Mit diesen Worten ging Herr Pickwick in« Wohnzimmer hinab, wo er das Frühstück aufgestellt und die Familie bereits versammelt fand. Das Mahl wurde hastig verschlungen; der Hut eines jeden von den Herren war mit einem ungeheuren blauen Bande geziert, das von den schönen Händen der Madame Pott selbst herumgeschlungen worden war. Da es Herr Winkle übernommen hatte, die Dame auf den Giebel eines Hauses zu führen, das in der unmittelbaren Nähe des Wahllokals stand, so begaben sich Herr Pickwick und Herr Pott allein nach dem Stadtwappen, wo ein Mitglied des Slumkey-Komitees von einem Hinterfenster aus eine Rede an sechs kleine Jungen und ein Mädchen hielt, die er bei jedem neuen Satze mit dem imponierenden Titel: »Männer von Eatanswill« anredete, worüber die sechs Jungen jedesmal ein ungeheures Jubelgeschrei erhoben.

Der Hofraum verriet unzweideutige Merkmale oon Glanz und Stärke der Blauen von Eatanswill. Ein regelrechtes Heer von Trägern blauer Fahnen war aufgestellt, die zum Teil mit einer, zum Teil mit zwei Stangen, und alle mit angemessenen Inschriften !n vier Fuß hohen und verhältnismäßig breiten Buchstaben prangten. Auch war ein großes Orchester aus Trompetern, Fagotisten und Trommlern zu sehen, vier Mann hoch aufgestellt, die ihr Geld wert waren, besonders die Trommelschläger, sehr handfeste Männer. Ferner Konstablerkorps Konstabler, eine Art Schutzpolizei, Sicherheitsbeamte von verschiedenen Rangordnungen. Als Amtszeichen tragen sie mit dem königlichen Wappen versehene Stäbe. mit blauen Stäben, zwanzig Komiteemitglieder mit blauen Schärpen und eine Menge Wahlmänner mit blauen Kokarden, zu Roß und zu Fuß; ein offener Wagen mit vier Pferden für den ehrenwerten Samuel Slumkey und vier Zweispänner für seine Freunde und Gönner.

Die Fahnen flatterten, das Musikkorps spielte auf, die Konstabler fluchten, die zwanzig Komiteemitglieder plapperten, die Menge brüllte, die Pferde bäumten sich und die Postknechte schwitzten. Jeder und jedes in der ganzen Versammlung waren insbesondere zu Nutz, Frommen, Ehren und Ruhm des ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall, eines der Bewerber um die Vertretung des Fleckens Eatanswill im Hause der Gemeinen des vereinigten Königreichs, anwesend.

Laut und lang war das Jubelgeschrei und gewaltig das Rauschen einer der blauen Fahnen mit der Inschrift: »Freiheit der Presse«, als das rothaarige Haupt des Herrn Pott an einem der Fenster der unten stehenden Menge sichtbar wurde; und überwältigend war der Enthusiasmus, als der ehrenwerte Samuel Slumkey selbst in Stulpenstiefeln und mit einer blauen Halsbinde sich zeigte, besagten Pott an der Hand faßte und durch melodramatische Pantomimen seine überschwenglichen Verbindlichkeiten der Eatanswill-Zeitung gegenüber vor der Menge bekundete.

»Ist alles bereit?« fragte der ehrenwerte Samuel Slumkey Herrn Perker.

»Alles, mein lieber Herr«, war die Antwort des kleinen Mannes.

»Es wurde, hoffe ich, nichts versäumt?« sagte der ehrenwerte Samuel Slumkey.

»Nichts ist vergessen worden, lieber Herr, durchaus nichts. Am Hoftor stehen zwanzig frischgewaschene Männer für Sie, um ihnen die Hand zu schütteln; und sechs Kinder sind bereits auf den Armen ihrer Mütter, um sie auf die Wangen tätscheln und nach ihrem Alter fragen zu können; geben Sie sich besonders mit den Kindern ab, lieber Herr – so etwas hat immer große Wirkung.«

»Ich will daran denken«, sagte der ehrenwerte Samuel Slumkey.

»Und, vielleicht, lieber Herr« – meinte das besorgte Männchen – »vielleicht, wenn Sie könnten – ich sage nicht, daß es unerläßlich sei – aber wenn Sie sich entschließen könnten, eines von ihnen zu küssen, es würde einen sehr starken Eindruck auf die Menge machen.«

»Würde es nicht ebensoviel Wirkung tun, wenn es der täte, der mich vorschlägt, oder der, der den Vorschlag unterstützt?« fragte der ehrenwerte Samuel Slumkey.

»Nein, ich zweifle beinahe«, versetzte der Agent; »wenn Sie es selbst übernehmen würden, lieber Herr, ich meine fast, das würde auf Ihre Popularität einen äußerst günstigen Einfluß haben.«

»Gut«, erwiderte der ehrenwerte Samuel Slumkey im Tone der Resignation. »Dann muß ich es eben selbst tun; was liegt im Grunde daran?«

»Ordnet den Zug!« riefen die zwanzig Komiteemitglieder.

Unter dem Jubelgeschrei der versammelten Menge traten das Musikkorps und die Konstabler, das Komitee und die Wahlmänner, die Berittenen und die Wagen in Reih und Glied – jeder von den Zweispännern mit soviel Herren vollgepfropft, als aufrecht darin Platz hatten; und der für Herrn Perker bestimmte war mit Herrn Pickwick, Herrn Tupman, Herrn Snodgraß und ungefähr einem halben Dutzend Komiteemitgliedern vollgestopft.

Es war ein Augenblick ungeheurer Spannung, als der Zug auf den ehrenwerten Samuel Slumkey wartete. Plötzlich erscholl ein gewaltiges Jubelgeschrei.

»Er kommt«, rief der kleine Herr Perker mit einer Aufregung, die um so größer war, als der Zug nicht sehen konnte, was vorging.

Ein zweites, weit stärkeres Jubelgeschrei.

»Er hat den Männern die Hände geschüttelt«, rief der kleine Agent.

Ein dritter, noch weit intensiverer Jubel.

»Er hat die Kleinen getätschelt«, sagte Herr Perker vor Freude zitternd.

Ein Gebrüll, das die Lüfte erbeben ließ.

»Er hat eins von ihnen geküßt«, schrie das entzückte Männchen.

Ein zweites Gebrüll.

»Er hat ein anderes geküßt«, kreischte der Aufgeregte.

Ein drittes Gebrüll.

»Er küßt sie alle!« schrie der Begeisterte.

Und die Wolken donnerten von dem betäubenden Jubelgeschrei der Menge, der Zug setzte sich in Bewegung.

Wie er sich aber nun eigentlich mit dem zweiten Zuge verwickelte, und wie er sich aus der darauf folgenden Verwirrung wieder herausarbeitete, ist mehr, als wir zu beschreiben vermögen; denn Herrn Pickwick wurde gleich anfangs von einer gelben Fahnenstange der Hut bis ans Kinn über das Gesicht geschlagen. Als er wieder einen Blick auf seine Umgebung gewinnen konnte, sah er sich, wie er erzählt, mitten in einer ungeheuren Staubwolke, von grimmigen, wilden Gesichtern und tüchtig arbeitenden Fäusten umringt. Er wurde von einer unsichtbaren Gewalt ans dem Wagen gerissen und persönlich in den Kampf verwickelt, aber mit wem oder wie, oder wo, das ist er nicht imstande, zu bestimmen. Dann fühlte er sich von der andrängenden Menge auf eine hölzerne Treppe hinaufgeschoben, und als er seinen Hut frei machte, sah er sich von seinen Freunden umgeben und stand ganz vorn auf der linken Seite des Wahlgerüsts. Die rechte war von den Gelben eingenommen und das Zentrum für den Bürgermeister und seine Beamten bestimmt. Einer der letzteren, der wohlbeleibte Ausrufer von Eatanswill, gebot mit einer ungeheuren Glocke Schweigen. Dann verbeugten sich Herr Horatio Fizkin und der ehrenwerte Samuel Slumkey, beide die Hand an der linken Brust, mit äußerster Leutseligkeit gegen die brausende See von Köpfen, die vor dem Gerüst wogte und mit Schreien, Jauchzen, Jubeln und Brüllen ein Getöse hervorbrachte, das einem Erdbeben Ehre gemacht hätte.

»Dort ist Winkle«, sagte Herr Tupman, seinen Freund an den Ellbogen stoßend.

»Wo?« fragte Herr Pickwick, seine Brille hervorziehend, die er glücklicherweise bis jetzt in der Tasche behalten hatte.

»Dort«, antwortete Herr Tupman, »auf jenem Dachgiebel.«

Und wirklich saß er in der bleiernen Traufrinne eines Ziegeldaches ganz behaglich auf einem Stuhle neben Madame Pott. Sie winkten zum Zeichen der Erkennung mit ihren Taschentüchern, und Herr Pickwick warf der Dame zur Erwiderung des Kompliments eine Kußhand zu.

Die Feierlichkeit hatte noch nicht begonnen, und da eine untätige Menge immer zu Späßen aufgelegt ist, so war diese höchst unschuldige Handlung hinreichend, ihre Spottlust zu wecken.

»He, du alter, schlechter Kerl«, rief eine Stimme, »schielst du noch nach Dirnen?«

»So ein grauer Sünder!« rief eine andere.

»Setzt seine Brille auf, um nach einer verheirateten Frau zu schielen«, sagte eine dritte.

»Wie er ihr zuwinkt mit seinem alten, verzwickten Auge«, rief eine vierte.

»Gib auf deine Frau acht, Pott«, kreischte eine fünfte – und dann erhob sich ein schallendes Gelächter.

Da diese Spottrcden von hämischen Vergleichen zwischen Herrn Pickwick und einem alten Bock und andern Witzeleien der Art begleitet waren, und überdies noch die Ehre einer unschuldigen Dame antasteten, kannte Herrn Pickwicks Zorn keine Grenzen. Da aber im nämlichen Augenblick Schweigen geboten wurde, begnügte er sich damit, auf die Menge einen Blick voll Mitleid über ihren beschränkten Verstand zu werfen, worauf sie ein noch brüllenderes Gelächter aufschlug, als je vorher.

»Stille!« riefen die Beisitzer des Bürgermeisters.

»Whiffin, gebietet Stille«, sagte der Bürgermeister mit einer Würde, wie sie seine hohe Stellung erforderte.

Auf diesen Befehl hin gab der Ausrufer ein zweites Konzert mit seiner Glocke, worauf ein Mann in der Menge ausrief: »Semmeln!« und ein neues Gelächter war die Folge.

»Meine Herren«, rief der Bürgermeister so laut, wie es nur immer die Kraft seiner Stimme gestattete. »Meine Herren, Brüder, Wahlmänner des Fleckens Eatanswill, wir sind heute hier versammelt, um einen Repräsentanten an die Stelle unseres letzteren –«

Hier wurde der Bürgermeister durch eine Stimme in der Menge unterbrochen:

»Glück dem Bürgermeister, und möge er nie den Nagel und die Drahtpfanne verlassen, wodurch er sein Geld erworben hat!«

Diese Anspielung auf das Gewerbe des Redners wurde mit ungeheurem Beifallsgeschrei aufgenommen, das unter Begleitung der Glockenmusik des öffentlichen Ausrufers den übrigen Teil seiner Rede, mit Ausnahme des Schlußsatzes, unverständlich machte. Darin nämlich dankte er der Versammlung für die stille Aufmerksamkcit, womit sie ihn von Anfang bis zu Ende angehört hätte – eine Dankbezeugung, die ein zweites Jubelgeschrei hervorrief, das ungefähr eine Viertelstunde dauerte.

Darnach bat ein großer, hagerer Mann mit einer sehr steifen weißen Halsbinde – nachdem er wiederholt von der Menge aufgefordert worden war, »einen Knaben nach Hause zu schicken und anzufragen, ob er seinen Stimmzettel nicht unter dem Kopfkissen habe liegen lassen« – die Versammlung um die Erlaubnis, eine taugliche und geeignete Person zu nennen, die ihre Interessen im Parlament vertreten könnte. Und als er Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, genannt hatte, erhoben die Fizkinisten ein beifälliges und die Slumkeyisten ein mißbilligendes Geschrei. Das hielt solange an und war so laut, daß er und sein Beistand, statt zu sprechen, ebensogut lustige Lieder hätten singen können, ohne daß dadurch irgendwer klüger geworden wäre.

Nachdem die Freunde Horatio Fizkins Esq. ihren Triumph gefeiert hatten, trat ein galliges Männchen mit einem rötlichgelben Gesicht auf, um eine andere taugliche und geeignete Person vorzuschlagen, die die Wahlbürger von Eatanswill im Parlament vertreten könnte. Ohne Zweifel würde der Rötlichgelbe trefflich davongekommen sein, wäre er nicht zu gallsüchtig gewesen, um nicht der Menge eine willkommene Zielscheibe des Witzes zu werden. Aber nachdem er einige Sätze voll blumenreicher Beredsamkeit vorgebracht hatte, klagte der Rötlichgelbe die von der Menge an, die ihn unterbrochen hatten. Er ging dann nach diesem fruchtlosen Bemühen zu Drohungen gegen die Herren auf der Wahlbühne über. Ein Aufruhr entstand, der ihn in die Notwendigkeit versetzte, seine Gefühle nur noch in einer ernsten Gebärdensprache auszudrücken. Darauf überließ er die Rednerbühne seinem Beistand, der eine Rede von halbstündiger Dauer vom Papier herunterlas und sich auf keine Weise hätte stören lassen. Denn er hatte sie obendrein der Eatanswill-Zeitung eingesandt, in der sie Wort für Wort abgedruckt war.

Dann trat Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, bei Eatanswill, in höchsteigener Person auf, um die Wahlversammlung anzureden. Aber er hatte kaum zu sprechen begonnen, als die Musikbande, die von dem ehrenwerten Samuel Slumkey aufgestellt war, mit einer Heftigkeit einfiel, gegen die ihre Leistungen am Morgen nur Kinderspiel waren. Zur Vergeltung fing die Partei der Gelben an, die Köpfe und Schultern der Blauen zu bearbeiten. Darauf machten die Blauen den Versuch, sich von der unangenehmen Nachbarschaft der Gelben zu befreien. Nun folgte eine Rauferei, ein Knuffen und Puffen, das wir ebensowenig billigen können, als es der Bürgermeister konnte. Dieser entsandte zwölf Mann von seinen Konstablern mit dem strikten Befehl, die Rädelsführer zu greifen, deren Anzahl sich ungefähr auf zweihundertfünfzig belaufen haben mag.

Diese Auftritte versetzten Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, und seine Freunde in Zorn und Wut, bis zuletzt Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, um die Erlaubnis bat, seinen Gegner, den ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall, zu fragen, ob diese Musikbande mit seiner Bewilligung spiele, eine Frage, deren Beantwortung der ehrenwerte Samuel Slumkey von sich ablehnte. Darauf wies Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, dem ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall die Faust, und der ehrenwerte Samuel Slumkey, dadurch gereizt, forderte den Horatio Fizkin, Esq., zum Kampf auf Leben und Tod heraus.

Nach solcher Verletzung aller bekannten Gesetze und Regeln befahl der Bürgermeister ein neues Glockenkonzert und erklärte, er werde sowohl Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, als auch den ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall vor sich rufen lassen, um den Frieden zu beschwören. Auf diese furchtbare Drohung legten sich die Beistände der beiden Kandidaten ins Mittel, und nachdem sich die Anhänger einer jeden der zwei Parteien drei Viertelstunden lang gegenseitig herumgezankt hatten, neigte Horatio Fizkin Esq. seinen Hut gegen den ehrenwerten Samuel Slumkey, und der ehrenwerte Samuel Slumkey den seinen gegen Horatio Fizkin Esq. Das klingende Spiel hörte auf. Die Menge war zum Teil beruhigt, und Horatio Fizkin Esq. konnte nun fortfahren.

Die Reden der beiden Kandidaten, so verschieden sie in jeder Rücksicht waren, ließen den großen Vorzügen und Verdiensten der Wahlbürger von Eatanswill volle Gerechtigkeit widerfahren. Jeder sprach sich dahin aus, daß die Welt noch nie freiere, aufgeklärtere, patriotischere, hochherzigere, uneigennützigere Männer gesehen habe, als die wären, die für ihn zu stimmen versprochen hätten. Jeder deutete dunkel darauf hin, daß die Wahlmänner auf der entgegengesetzten Partei an gewissen Schwächen leiden, die sie unfähig machen, die wichtigen Pflichten zu erfüllen, die ihnen obliegen. Fizkin drückte seine Bereitwilligkeit aus, alles zu tun, was man von ihm begehre; Slumkey seinen Entschluß, nichts zu unterlassen, was man von ihm verlange. Beide sagten, der Handel, die Industrie und der Wohlstand von Eatanswill lägen ihnen mehr am Herzen, als alles andere auf der Welt; und jeder meinte, mit Zuversicht behaupten zu dürfen, daß er der Held des Tages werden würde.

Darauf wurde durch Handaufheben abgestimmt. Der Bürgermeister erklärte sich für den ehrenwerten Samuel Slumkey von Slumkey Hall. Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge, verlangte Stimmenzählung, und Stimmenzählung wurde angeordnet. Dann wurde dem Bürgermeister eine Dankadresse übermittelt für sein würdiges Benehmen auf dem Sitze des Präsidenten. Der Bürgermeister dankte ergebenst für diesen Beweis der Zufriedenheit, während er im stillen wünschte, einen Sitz für sein würdiges Benehmen gehabt zu haben (denn er hatte während der ganzen Dauer der Feierlichkeit gestanden).

Die Züge reihten sich wieder aneinander, die Wagen arbeiteten sich langsam durch das Gedränge, und das Volk ging fluchend und jauchzend auseinander, je nachdem es seine Gefühle oder seine Laune mit sich brachten.

Während der ganzen Zeit der Stimmenzählung war die Stadt in fieberhafter Aufregung. Alles wurde auf dem liberalsten und nobelsten Fuße betrieben. – Steuerbare Artikel waren in allen Wirtshäusern außerordentlich wohlfeil, und Sänften paradierten in allen Straßen zur Bequemlichkeit der Wahlmänner, die von einem vorübergehenden Schwindel befallen wurden: eine Epidemie, die während des Parteikrieges unter der sämtlichen stimmfähigen Bürgerschaft in einem höchst beunruhigenden Grade herrschte. Unter ihrem Wirken konnte es geschehen, daß davon angesteckt viele Mitglieder besinnungslos auf dem Pflaster anzutreffen waren. Eine kleine Anzahl von Wahlmännern hielt seine Stimme bis auf den letzten Tag zurück. Das waren berechnende und nachdenkende Personen, die sich noch von keiner Partei durch die vorgebrachten Argumente hatten bestechen lassen, obschon sie mit jeder häufig Konferenzen hielten. Eine Stunde vor dem Abschlusse der Zählung bat Herr Perker um die Ehre einer geheimen Unterredung mit diesen einsichtsvollen, diesen hochherzigen, diesen patriotischen Männern. Es wurde ihm willfahrt. Seine Argumente waren kurz aber überzeugend. Sie gingen miteinander in den Stimmensaal; und als sie ihre Namen eingetragen hatten, wurde auch der ehrenwerte Samuel Slumkey von Slumkey Hall als Parlamentsmitglied eingetragen.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Enthält eine kurze Schilderung der Gesellschaft im Pfauen und eine Erzählung von einem Krämer.

Es ist angenehm, von den Wirren und Kämpfen der Politik zu der friedlichen Ruhe des Privatlebens zurückzukehren. Obgleich eigentlich kein erklärter Anhänger der einen oder andern Partei, war Herr Pickwick doch von der Begeisterung des Herrn Pott so weit angesteckt, daß er seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Vorgängen widmete, von denen das vorhergehende Kapitel eine Schilderung gibt, die aus seinem eigenen Gedenkbuche entlehnt ist. Auch Winkle ging indessen nicht müßig, sondern verwandte seine ganze Zeit auf angenehme Spaziergänge und Ausflüge in die Umgegend mit Madame Pott, die sich dabei einmal von dem langweiligen Einerlei erholte, über das sie ständig klagte.

Während sich auf diese Art die beiden Herren im Hause des Journalisten völlig heimisch gemacht hatten, waren die Herren Tupman und Snodgraß großenteils auf ihre eigenen Hilfsquellen der Unterhaltung beschränkt. Ziemlich unbekümmert um öffentliche Angelegenheiten, vertrieben sie sich die Zeit mit Ergötzlichkeiten, wie sie der Pfau darbot, und das waren eine Art Kegelbillard im ersten Stockwerk und eine abgelegene Kugelbahn im Hinterhofe. In die Raffinements dieser beiden Erholungsspiele, die weit tiefer liegen, als man gewöhnlich glaubt, wurden sie nach und nach durch Herrn Weller eingeweiht, der ein vollendeter Kenner solcher Zeitvertreibe war. Wenn sie also auch in hohem Grade den Genuß der Gesellschaft des Herrn Pickwicks entbehrten, so besaßen sie doch Mittel und Wege, die Zeit und ihre Länge sich angenehm zu verkürzen.

Abends bot der Pfau Reize, die unsere beiden Freunde so sehr anzogen, daß sie sogar den Einladungen des geistreichen, wenn auch nicht sehr poetischen Herrn Pott widerstanden. Abends war nämlich das Gastzimmer der Versammlungsort eines geselligen Kreises, dessen Eigenheiten und besondere Art Herr Tupman mit dem größten Vergnügen beobachtete, und dessen Gespräche und Handlungen Herr Snodgraß aufzuzeichnen pflegte.

Die meisten Leute wissen, was man gewöhnlich unter einem Gastzimmer versteht. Das des Pfauen zeichnete sich in materieller Hinsicht nicht vor den andern gemeinhin aus. Es war nämlich ein großes, kahl aussehendes Zimmer, dessen Einrichtung ohne Zweifel ein bißchen mehr vorstellte, als sie noch neu war: ein großer Tisch in der Mitte, eine Menge Tischchen in den Ecken, ein bedeutender Vorrat verschieden geformter Stühle und ein alter türkischer Teppich, dessen Dimensionen zu der Größe des Zimmers ungefähr dasselbe Verhältnis hatten, wie etwa ein Damentaschentuch zum Fußboden eines Schilderhäuschen. Die Wände waren mit einer oder zwei großen Landkarten verziert, und in einer Ecke hingen an einer langen Reihe von großen hölzernen Nägeln verschiedene regengewohnte grobe Überröcke mit doppelten Kragen. Auf dem Kamingesimse fand man ein hölzernes Tintenzeug mit einem Federstümpfchcn und einer halben Oblate, ein Reisehandbuch und einen Wegweiser, eine Geschichte der Grafschaft ohne Einband und die sterblichen Überreste einer Forelle in einem gläsernen Sarge. Die Atmosphäre war mit Tabaksdampf durchsetzt, der dem ganzen Zimmer und besonders den staubigen roten Fenstervorhängen seine Rauchfarbe mitgeteilt hatte. Auf dem Schenktische standen oder lagen in reizvoller Unordnung eine Menge verschiedenartiger Geräte, von denen einige sehr schmutzige Fischsoßefläschchen, ein paar Reitgerten, zwei bis drei Fuhrmannspeitschen und eben so viele Reisemäntel, ein Besteckbehälter und der Senftopf am meisten in die Augen fielen.

Hier saßen am Abend nach dem Schlusse der Wahl Herr Tupmann und Herr Snodgraß neben einigen andern jeweiligen Bewohnern des Hauses, rauchend und trinkend.

»Ja, liebe Leute«, sagte eine wohlgenährte, gesund aussehende Persönlichkeit von Vierzig, mit nur einem Auge – einem sehr hellen, schwarzen Auge, das mit einem schelmischen Ausdruck von guter Laune und Aufgeräumtheit blinzelte; »unserm edlen Selbst, liebe Leute! Das ist immer mein Toast, den ich der Gesellschaft vorschlage; auf Mariens Wohl trinke ich für mich allein. He, Marie!«

»Geht Eurer Wege, Spötter«, sagte das Schenkmädchen, wiewohl offenbar durch das Kompliment nicht aufgebracht.

»Spring‘ nicht davon, Marie«, sagte der Schwarzäugige.

»Laßt mich im Frieden, Ausgeschämter«, versetzte die junge Dame.

»Denke nicht dran«, versetzte der Einäugige, dem Mädchen nachrufend, das eben das Zimmer verließ. »Ich komme bald nach, Marie.«

Hier winkte er, mit einem für ihn durchaus nicht schwierigen Prozeß, der Gesellschaft mit einem Auge zu, woran eine ältliche Persönlichkeit mit einem schmutziggelben Gesicht und einer Tonpfeife ein ausnehmendes Wohlgefallen fand.

»Merkwürdige Geschöpfe, die Weiber«, sagte der mit dem Negergesicht nach einer Pause.

»O! haben nicht Unrecht«, bestätigte ein Mann mit einem kupferroten Gesicht hinter einer Zigarre.

Nach diesem philosophischen Aphorismus entstand eine zweite Pause.

»Aber es gibt noch seltsamere Dinge in der Welt als die Weiber, denke ich«, bemerkte der Mann mit dem schwarzen Auge, eine große holländische Pfeife mit sehr geräumigem Kopfe langsam füllend.

»Sind sie verheiratet?« fragte das Negergesicht.

»Kann mich damit nicht rühmen.«

»Dacht mir’s doch.«

Hier lachte das Negergesicht laut vor Bewunderung seines Scharfsinns, und ein Mann mit einer sanften Stimme und einem feinen Gesichtchen, der es sich jederzeit zur Pflicht machte, jedermanns Ansicht beizupflichten, stimmte in das Lachen ein.

»Die Weiber, meine Herren«, sagte der enthusiastische Herr Snodgraß, »sind aber doch die Stützen und Zierden unseres Lebens.«

»Allerdings«, sagte der Herr mit dem Milchgesicht.

»Wenn sie guter Laune sind«, sprach das Negergesicht dazwischen.

»Ja, da haben Sie ganz recht«, stimmte das Milchgesicht ein.

»Ich weise diese Einschränkung zurück«, sagte Herr Snodgraß, dessen Gedanken ohne Zweifel zu Emilie Wardle zurückkehrten; »ich weise sie mit Unwillen – mit Empörung zurück. Zeigen Sie mir den Mann, der etwas gegen die Frauen als Frauen hat, und ich behaupte kühn, er ist kein Mann.«

Und Herr Snodgraß nahm seine Zigarre aus dem Munde und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

»Das ist ein gründliches Argument«, sagte das Milchgesicht.

»Eine Behauptung, der ich widerspreche«, unterbrach ihn das Negergesicht.

»Und es liegt gewiß sehr viel Wahres an dem, was Sie bemerken«, pflichtete das Milchgesicht bei.

»Ihre Gesundheit, mein Herr«, sagte der Krämer mit dem einen Auge, Herrn Snodgraß beifällig zuwinkend.

Herr Snodgraß erwiderte das Kompliment.

»Ich höre immer gern ein gutes Argument«, fuhr der Krämer fort, »besonders ein so scharfes, wie dieses; es ist sehr belehrend. Aber der kleine Diskurs über die Weiber bringt mich auf eine Geschichte, die ich einen alten Oheim von mir erzählen hörte, und eben die Erinnerung daran führte mich auf die Behauptung, es gebe bisweilen noch merkwürdigere Dinge als die Weiber.«

»Ich möchte wohl diese Geschichte hören«, sagte das Kupfergesicht mit der Zigarre.

»Möchten Sie«, war die einzige Erwiderung des Krämers, der mit großer Gewalt fortrauchte.

»Auch ich möchte es«, sagte Herr Tupman, zum ersten Male den Mund öffnend. Er war immer darauf bedacht, den Schatz seines Wissens zu erweitern.

»Möchten Sie? Wohlan denn, ich erzähle sie. Nein, ich tu‘ es nicht. Ich weiß, ihr würdet sie nicht glauben«, erwiderte der Mann mit dem schelmischen Auge, seinem Sehorgane noch einen schelmischeren Ausdruck gebend.

»Wenn Sie sagen, sie ist wahr, so glaube ich sie natürlich«, sagte Herr Tupman.

»Wohlan, unter der Bedingung will ich sie erzählen«, erwiderte der Reisende. »Haben Sie je von dem großen Handelshause Bilson und Slum gehört? Doch es tut nichts zur Sache, ob Sie davon gehört haben oder nicht, denn die Herren haben sich schon längst vom Geschäfte zurückgezogen. Es ist jetzt achtzig Jahre, seitdem diese Geschichte einem Reisenden dieses Hauses begegnet ist: er war ein besonderer Freund meines Oheims, und mein Oheim erzählte mir die Sache. Es ist ein sonderbarer Titel, aber er nannte sie nur

die Krämersgeschichte

und pflegte sie folgendermaßen wiederzugeben:

An einem Winterabend, gegen fünf Uhr, als es eben dunkel zu werden anfing, hätte man einen Mann in einem Zweiradwagen sehen können, der sein müdes Pferd längs der Straße hintrieb, die über die Marlborough-Ebene nach Bristol Alte Stadt und Grafschaft im südwestlichen England, einst neben London die wichtigste Stadt Britanniens. führt. Ich sage, man hätte sehen können, und ich zweifle auch nicht, man hätte gesehen, wenn einer, der nicht blind war, des Weges gegangen wäre: aber das Wetter war so schlecht und die Nacht so kalt und naß, daß niemand über Feld ging, als das Wasser. So fuhr denn der Reisende einsam und traurig auf der Mitte der Straße dahin. Wenn ein Krämer aus jenen Tagen den kleinen Zweiradwagen mit den tonfarbenen Kasten und den roten Rädern, nebst der launischen, übelgestimmten, trabenden Mähre, die die Mitte zwischen einem Metzgergaul und einem Zweipennypostklepper hielt, gesehen hätte – er würde sogleich erkannt haben, daß der Reisende niemand anders sein konnte, als Tom Smart von dem großen Hause Bilson und Slum, Cateatonstreet City. Da nun aber kein Krämer auf dem Wege war, um es zu sehen, so wußte überhaupt niemand von der Sache, weshalb sich Tom Smart und sein tonfarbener Wagen mit den roten Rädern und die launische Mähre mit dem stets gleichen Trott gemeinsam fortbewegten, und das Geheimnis unter sich teilten, ohne daß jemand klüger dadurch geworden wäre.

Sogar in dieser traurigen Welt gibt es immerhin angenehmere Punkte als die Marlborough-Ebene, wenn ein starker Wind geht. Wenn Sie dabei noch einen düstern Winterabend, einen schmutzigen, aufgeweichten Weg und tüchtiges Regenwetter in Rechnung setzen und auf dem Wege des Experiments den Versuch an Ihrer höchsteigenen Person machen, so wird Ihnen die Erfahrung diesen Satz zur Genüge bestätigen.

Der Wind blies – nicht die Straße hinauf oder hinunter, obwohl das schon schlimm genug ist, sondern gerade in die Quere, indem er den Regen in den schiefen Linien niedertrieb, wie sie gewöhnlich in den Schreibheften der Elementarschulen zu sehen sind. Für einen Augenblick wollte er nachlassen, und der Reisende fing an, sich der Hoffnung zu schmeicheln, er, d. h. der Wind, werde sich, erschöpft von seiner bisherigen Wut, zur Ruhe legen, als er ihn leider auf einmal in der Entfernung wieder rauschen und pfeifen hörte.

Brausend fuhr der Sturm über die Hügel dahin, senkte auf die Ebene, tobte immer stärker und stärker, und immer näher und näher, bis er sich mit gewaltigen Stößen auf Roß und Mann warf, den scharfen Regen ihnen in die Ohren und seinen kalten Hauch gegen die Beine treibend. Darnach fuhr er dahin immer ferner und ferner, mit furchtbarem Getöse, als spottete er ihrer Schwäche und triumphierte stolz auf seine Gewalt und Kraft.

Die Mähre trabte durch dick und dünn mit herabhängenden Ohren, dann und wann den Kopf schüttelnd, als wolle sie ihr Mißfallen über dieses höchst unhöfliche Benehmen der Elemente zu erkennen geben. Dabei hielt sie jedoch immer einen guten Trott, bis sie ein Windstoß, der alle früheren an Wut übertraf, plötzlich veranlaßte, halt zu machen und sich mit ihren vier Beinen fest gegen den Boden zu stemmen, um nicht über den Haufen geblasen zu werden. Es ist ein besonderes Glück, daß sie das tat, denn wäre sie weggeblasen worden – die launische Mähre war leicht, der Wagen nicht schwer, und Tom Smarts Körperschwere fiel dabei ohnedem nicht ins Gewicht – so würden sie unfehlbar alle miteinander kopfüber, kopfunter gepurzelt sein, bis sie das Ende der Erde erreicht oder der Wind nachgelassen hätte; und jedenfalls ist es wahrscheinlich, daß weder die launische Mähre, noch der tonfarbene Wagen mit den roten Rädern, noch Tom Smart jemals wieder diensttauglich geworden wären.

›Nun, hole der Teufel mein Fuhrwerk samt dem Geschirr‹, sagte Tom Smart (Tom hatte bisweilen die üble Gewohnheit, zu fluchen), hole der Teufel mein Fuhrwerk samt dem Geschirr, sagte Tom: ›wenn das nicht lustig ist, so blase mich –‹

Sie wollen mich wahrscheinlich fragen, warum Tom Smart, der doch bereits zerblasen genug war, den Wunsch ausdrückte, demselben Prozesse abermals unterworfen zu werden. Ich kann es nicht sagen, und weiß nur, daß Tom Smart so sagte – oder wenigstens erzählte mein Oheim immer, daß er so sagte, und das kommt am Ende auf eins heraus.

›Zerblase mich‹, sagte Tom Smart, und die Mähre wieherte, als ob sie genau der gleichen Ansicht wäre.

›Munter, alte Lisel‹, sagte Tom, den Braunen mit dem oberen Ende seiner Peitsche auf den Nacken tätschelnd. So eine Nacht wie diese kann’s nicht weitergehen. Im ersten Haus, zu dem wir kommen, kehren wir ein, und je schneller du läufst, desto schneller geht es vorüber. Oho, alte Lisel – sachte – sachte.

Ob die launische Mähre mit den Tonarten von Toms Stimme hinreichend bekannt war, um seine Meinung zu verstehen, oder ob sie fand, es sei kälter, wenn sie stehenbleibe, als wenn sie vorwärtsgehe, kann ich natürlich nicht behaupten. Aber das kann ich sagen, daß Tom kaum den Mund geschlossen hatte, als sie die Ohren spitzte und fortrannte, und der tonfarbene Wagen mit einer Hast hinterdreinrasselte, daß man hätte glauben können, die roten Speichen müßten jeden Augenblick auf die Wiesen der Marlborough- Ebene hinausfliegen. Sogar Tom konnte wegen der Geschwindigkeit, womit er fortgerissen wurde, ihren Schritt nicht hemmen, bis sie aus eigenem Antrieb vor einem Gasthaus auf der rechten Seite der Straße, ungefähr eine halbe Viertelmeile vor dem Ende der Ebene halt machte.

Tom warf einen schnellen Blick auf das obere Stockwerk des Hauses, überließ die Leine dem Hausknecht und steckte die Peitsche neben den Bock. Es war ein sonderbares altes Haus, aus schmalen Backsteinen gebaut und von Querbalken durchzogen, mit Giebelfenstern, die die ganze Breite des Fußweges neben der Straße überragten, und mit einem niederen Tor und dunklem Eingang. Ein paar steile Stufen führten in das Haus hinab, während bei den modernen Gebäuden gewöhnlich ein halb Dutzend breite und niedere Stufen in das Haus hinaufgehen. Dennoch hatte das Ganze ein einladendes Aussehen, denn auf dem Schenktisch brannte ein helles, lustiges Licht, das einen breiten Strahl über die Straße warf und sogar die gegenüberstehende Hecke beleuchtete. Am entgegengesetzten Fenster flackerte ein rotes Licht, das in einem Augenblicke kaum bemerkbar war, aber im nächsten hell durch die herabgelassenen Vorhänge schimmerte und dadurch verriet, daß im Innern ein munteres Feuer brannte. Diese unbedeutenden Umstände mit dem Auge des erfahrenen Reisenden beobachtend, stieg Tom so behend ab, wie seine halberfrorenen Glieder gestatteten, und trat in das Haus.

In weniger als fünf Minuten saß er im Hinterzimmer, demselben, worin er das Feuer vermutet hatte, vor einem einladenden Brennstoffe, der aus einem kleinen Rest Kohlen und einem Vorrat Holz, groß genug, um ein Halbdutzend ordentlicher Reiserbüschelchen daraus zu machen, bestand. Das Holz, zur anderen Hälfte noch auf dem Kamine aufgestapelt, ging mit einem Knistern und Prasseln im Feuer auf, daß sich schon an diesem Geräusche das Herz eines vernünftigen Mannes hätte erwärmen können. Das war ein behaglicher Anblick, aber es war noch nicht alles: denn ein schmuckgekleidetes Mädchen mit feurigen Augen und zierlichen Knöcheln, breitete ein sehr reines weißes Tischtuch vor ihm aus. Da Tom mit seinen Füßen, die bereits in Pantoffeln steckten, auf dem Kamingitter und mit dem Rücken der offenen Türe zugekehrt dasaß, so sah er auf dem Schenktisch durch den Spiegel, der über dem Kaminsimse hing, köstliche Reihen grüner Flaschen mit goldenen Etiketten. Er sah ferner Krüge mit eingemachten Früchten, Käse, gekochten Schinken und Ochsenfleisch, in schönster Ordnung und in appetitlichster Weise auf Brettern aufgestellt.

Nun, dieser Anblick war auch behaglich; aber es war noch nicht alles, denn beim Büfett saß am niedlichsten aller Teetischchen, das vor dem hellsten aller Feuerchen stand, eine muntere Witwe von ungefähr achtundvierzig Jahren, mit einem Gesicht so einladend, wie das Zimmer selbst. Es war offenbar die Frau des Hauses und sie hatte die oberste Leitung über alle diese herrlichen Besitztümer. Nur eine störende Linie war in dem ganzen schönen Gemälde, und das war ein großer Mann – ein sehr großer Mann, der neben der Witwe beim Tee saß. Er hatte einen braunen Rock mit glänzenden Seidenknöpfen an, einen schwarzen Backenbart und wallendes schwarzes Haar. Es gehörte gerade kein großer Scharfblick dazu, um zu entdecken, daß er auf dem besten Wege war, seine Nachbarin zu überreden, nicht länger Witfrau zu sein, sondern auf ihn das Vorrecht zu übertragen, den ganzen Rest seines Lebens hindurch im Schenkstübchen zu sitzen.

Tom Smart war keineswegs von reizbarer oder mißgünstiger Gemütsart. Aber sei dem wie es wolle, der große Mann in dem braunen Rock mit den glänzenden Seidenknöpfen regte das Tröpfchen Galle auf, das in seiner Natur lag, und machte ihn um so unwilliger, als er dann und wann von seinem Sitze vor dem Spiegel aus gewisse unbedeutende Vertraulichkeiten zärtlicher Natur bemerkte, die zwischen dem großen Mann und der Witwe vorgingen. Sie bestätigten hinlänglich, daß der große Mann sich einer mit seiner Größe im Verhältnis stehenden Gunst erfreute,

Tom war ein großer Freund von warmem Punsch – ich darf sagen ein sehr großer Freund von warmem Punsch – und nachdem seine launische Mähre gut untergebracht und versorgt war, und er selbst das köstliche warme Abendessen, das ihm die muntere Witwe mit eigenen Händen angerichtet, bis auf den letzten Bissen einverleibt hatte, bat er zur Probe um ein Glas von seinem Lieblingsgetränk. Nun gab es im ganzen Kapitel der Haushaltungskunst nicht einen Artikel, auf den sich die Witwe besser verstand, als die Punschbereitung. Das erste Glas sagte Tom Smarts Gaumen so sehr zu, daß er darum ersuchte, ihm möglichst rasch ein zweites zu servieren. Warmer Punsch ist etwas Angenehmes – meine Herren – etwas höchst Angenehmes unter allen Umständen. Aber in der bequemen alten Stube, vor dem knisternden Feuer, während der Wind draußen tobte, daß alle Balken im ganzen Hause krachten, fand ihn Tom Smart über alle Maßen köstlich. Er ließ sich noch ein Glas geben, und dann noch eins – ich weiß nicht genau, ob er nach diesem nicht noch eins trank – aber je mehr er warmen Punsch trank, desto mehr dachte er an den großen Mann.

›Verdammte Unverschämtheit‹, sagte Smart bei sich selbst: ›was hat er in dem behaglichen Schenkstübchen zu tun? Und noch obendrein so ein häßlicher Kerl!‹ sagte Tom. ›Wenn die Witwe nur irgend Geschmack hätte, würde sie sich sicherlich einen Besseren erwählen.‹ Hier wandte sich Toms Auge von dem Spiegelglas nach dem Trinkglas, und da er allgemach sentimental wurde, leerte er das vierte Glas Punsch und befahl ein fünftes,

Tom Smart, meine Herren, hatte immer große Neigung zum Gastwirtleben. Sein Ehrgeiz hatte schon lange danach getrachtet, in einem Schenkstübchen zu stehen, das er sein eigen nennen könnte, angetan mit einem grauen Rock, kurzen Hosen und Stulpenstiefeln. Er setzte großen Wert darein, bei geselligen Mahlzeiten den Vorsitz zu führen, und dachte oft daran, wie wohl es ihm anstehen würde, in seinem eigenen Zimmer die Unterhaltung zu leiten, und und mit welch trefflichem Beispiel er seinen Kunden in der Trinkstube vorangehen könnte.

Alle diese Gedanken gingen Tom rasch durch den Kopf, als er vor dem knisternden Feuer beim warmen Punsche saß. Er fühlte sich beleidigt, daß der große Mann auf so gutem Wege sein sollte, ein solch treffliches Haus zu erobern, während er, Tom Smart, so weit davon entfernt war, wie je. Nachdem er so bei seinen letzten zwei Gläsern mit sich zu Rate gegangen war, ob er ein begründetes Recht hätte, einen Streit mit dem großen Mann darüber anzufangen, daß er in der Gunst der muntern Witwe so große Fortschritte gemacht habe, kam Tom Smart endlich zu der Überzeugung, er sei eben ein geschlagener und vom Schicksal verfolgter Mann und tue wohl am besten, wenn er jetzt zu Bett gehe.

Das schmucke Dienstmädchen leuchtete Tom über eine breite, alte Treppe voran, indem sie die Hand ans Licht hielt, damit es der Wind, der in einem solchen alten Gebäude leicht überall durchstreicht, nicht ausblasen sollte, aber diese Vorsichtsmaßregel erreichte ihren Zweck nicht. Er blies es doch aus und gab dadurch Toms Feinden Gelegenheit zu der Behauptung, er habe das Licht ausgelöscht, und nicht der Wind, und unter dem Vorwande, es wieder anzublasen, das Mädchen geküßt. Wie dem auch sei, es wurde ein anderes Licht gebracht und Tom durch eine Menge Gemächer und ein Labyrinth von Gängen in ein Zimmer geführt, das zu seiner Aufnahme hergerichtet worden. Das Mädchen wünschte gute Aacht und ließ ihn allein.

Es war ein großes, geräumiges Zimmer mit hohen Schränken und einem Bett, das für ein ganzes Alumnat Raum genug gehabt hätte, ein paar eiserne Truhen nicht zu erwähnen, die das Gepäck einer kleinen Armee hätten in sich aufnehmen können. Aber, was Toms Augen am meisten auffiel, war ein sonderbarer, unheimlich aussehender Lehnstuhl mit hohem Rücken und höchst phantastischem Schnitzwerk. Er hatte einen Überzug von geblümtem Damast, und die runden Knäufe seiner Beine waren sorgfältig mit einem roten Tuche umwunden, als hätte er Gicht in den Zehen. Von jedem andern sonderbaren Stuhle würde Tom nichts anderes gedacht haben, als er sei nun einmal ein sonderbarer Stuhl. Damit wäre die Sache abgemacht gewesen; aber dieser eigentümliche Stuhl hatte etwas Besonderes an sich, und Tom konnte doch nicht sagen, was; so seltsam und so verschieden von jedem andern hatte er noch kein Gerät gesehen; er schien ihn ganz zu fesseln. Tom setzte sich vor das Feuer und starrte eine halbe Stunde lang den alten Stuhl an. – Hole der Teufel den Stuhl, er war ein so seltsames altes Stück, daß er seine Augen nicht davon abzuwenden vermochte.

›Nein‹, sagte Tom, sich langsam auskleidend und während dieser ganzen Zeit den alten Stuhl anstarrend, der mit seiner geheimnisvollen Gestalt vor dem Bett stand, ›mein Lebtag sah ich noch nie ein so seltsames Möbel, wie das da. Sehr seltsam‹, sagte Tom, den der warme Punsch etwas nachdenklich gemacht hatte, ›sehr seltsam.‹ Tom schüttelte den Kopf mit der Miene hoher Weisheit und sah wieder auf den Stuhl. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte, ging jedoch zu Bett, deckte sich warm zu und schlief ein.

Nach einer halben Stunde fuhr er aus dem Schlaf auf. Er hatte einen verwirrten Traum von großen Männern und Punschgläsern gehabt, und der erste Gegenstand, der sich seiner wachenden Einbildungskraft darbot, war der seltsame Stuhl.

›Ich will nicht mehr Hinsehen‹, sagte Tom zu sich selbst, drückte seine Augenlider zu und suchte sich zu überreden, er schlafe schon wieder ein. Umsonst. Nichts als seltsame Stühle tanzten vor seinen Augen, hoben die Beine empor, schwangen sich einander über den Rücken und machten allerlei tolle Sprünge.

›Ich will lieber einen wirklichen Stuhl sehen, als ein paar Dutzend eingebildete‹, sagte Tom, seinen Kopf unter der Bettdecke hervorstreckend. Er erkannte den Stuhl deutlich beim Schein des Feuers, wie er noch ebenso herausfordernd aussah, wie je.

Tom betrachtete den Stuhl starr, und wie er ihn so ansah, schien plötzlich eine außerordentliche Veränderung mit ihm vorzugehen. Das Schnitzwerk auf dem Rücken nahm allmählich die Züge und den Ausdruck eines alten gefurchten Menschengesichts an; das damastene Polster wurde eine altmodische Weste mit Schößen; die runden Knäufe verwandelten sich in ein paar Füße, die in roten Tuchpantoffeln steckten, und der ganze Stuhl glich einem häßlichen Alten aus dem vorigen Jahrhundert, mit untergestemmten Armen. Tom richtete sich im Bett auf und rieb seine Augen, um klar zu sehen. Vergebens. Der Stuhl war ein häßlicher alter Herr; und was noch mehr war, er winkte Tom zu.

Tom war von Natur ein herzhafter, mutiger Bursche und hatte zudem fünf Gläser warmen Punsch getrunken. Sein Ärger gewann daher bald die Oberhand über seine anfängliche Bestürzung, als er sah, wie der alte Herr mit so unverschämter Miene auf ihn hinstarrte und ihm zuwinkte, und er entschloß sich endlich, es nicht länger so geduldig hinzunehmen. Als ihm daher das alte Gesicht wieder stärker winkte als je, fragte Tom in sehr ärgerlichem Ton:

›Was zum Teufel hast du mir zu winken?‹

›Weil es mir so beliebt, Tom Smart‹, sagte der Stuhl, oder der alte Herr, wie Sie ihn nennen mögen. Doch hörte er auf zu winken, als Tom sprach und grinste ihn an, wie ein altersschwacher Affe.

›Woher weißt du meinen Namen, altes Nußknackergesicht?‹ fragte Tom Smart, etwas betreten; wenn er sich auch unbefangen stellte.

›Komm, komm, Tom‹, sagte der alte Herr, ›das ist nicht die Art, einen soliden spanischen Mahagoni anzureden. Gott straf mich, du könntest mir nicht weniger Achtung erweisen, selbst wenn ich nur furniert wäre.‹

Als er, der alte Herr, das sagte, warf er einen so zornigen Blick, daß Tom ordentlich erschrak.

›Ich wollte Sie durchaus nicht mit Verachtung behandeln, mein Herr‹, sagte Tom in einem demütigern Ton, als er ihn anfangs angenommen hatte.

›Schon recht, schon recht‹, erwiderte der Alte, ›es ist möglich, es ist möglich, Tom –‹

›Mein Herr –‹

›Ich kenne alle deine Verhältnisse, Tom; alle. Du bist sehr arm, Tom.‹

›Das ist nur zu gewiß‹, versetzte Tom, ›aber woher wissen Sie das?‹

›Forsche jetzt nicht danach‹, sagte der alte Herr! ›du bist auch ein viel zu großer Freund vom Punsch, Tom!‹

Tom Smart stand eben auf dem Punkt, zu behaupten, er habe seit seinem letzten Geburtstag keinen Tropfen mehr getrunken; aber als sein Auge dem Auge des alten Herrn begegnete, sah dieser so bekannt mit allem aus, daß Tom errötete und verstummte.

›Tom‹, fuhr der alte Herr fort, ›die Witwe ist eine hübsche Frau, eine außerordentlich hübsche Frau – nicht wahr, Tom?‹ Hier sperrte der Alte seine Augen weit auf, zog eins von seinen abgezehrten kleinen Beinen in die Höhe und machte dabei ein so widerlich verliebtes Gesicht, daß Tom einen rechten Ekel vor solchem leichtfertigen Benehmen faßte; – und gar noch in diesem Alter!

›Ich bin ihr Aufseher, Tom‹, sagte der alte Herr.

›So?‹ fragte Tom Smart.

›Ich kannte ihre Mutter, Tom‹, fuhr der Alte fort, ›und ihre Großmutter. Sie war sehr verliebt in mich – machte mir diese Weste, Tom.‹

›Wirklich?‹ fragte Tom Smart.

›Und diese Schuhe‹, erzählte der Alte weiter, einen seiner roten Tuchpantoffeln emporhebend; ›aber behalte das für dich, Tom. Ich möchte nicht, daß es bekannt würde, wie gut sie mir war. Es könnte die Familienverhältnisse stören.‹

Als der alte Geck das sagte, sah er so außerordentlich unverschämt drein, daß sich Tom Smart, wie er nachher erklärte, kein Gewissen daraus gemacht hätte, sich auf ihn zu setzen.

›Ich war zu meiner Zeit ein großer Liebling der Damen, Tom‹, fuhr der schamlose alte Sünder fort. ›Hundert schöne Weiber saßen stundenlang auf meinem Schoße. Was meinst du dazu, Bursche, he?‹ Der alte Herr war im Begriff, noch mehrere Heldentaten aus seiner Jugendzeit zu erzählen, als er einen solchen Anfall von Knarren bekam, daß er außerstande war, fortzufahren.

›Geschieht dir ganz recht, alter Kerl‹, dachte Tom Smart; sagte aber kein Wörtchen.

›Ach!‹ fing der Alte wieder an, ›ich habe nun meine liebe Not dafür. Ich werde alt, Tom, und habe beinahe alle meine Gelenkbänder eingebüßt. Auch habe ich eine Operation ausgestanden – man hat mir ein kleines Stück in den Rücken eingesetzt – und das war eine schwere Heimsuchung, Tom.‹

›Das glaube ich, mein Herr‹, sagte Tom Smart.

›Doch davon reden wir jetzt nicht‹, fuhr der alte Herr fort. ›Tom, du mußt die Witwe heiraten.‹

›Ich, mein Herr?‹ fragte Tom.

›Du‹, antwortete der alte Herr.

›Gott steh‘ Ihrem ehrwürdigen Haupte bei‹, sagte Tom – (er hatte nur noch einige Haare) – ›Gott steh‘ Ihrem ehrwürdigen Haupte bei! Sie will mich ja nicht.‹ Und Tom seufzte unwillkürlich, als er an das Schenkstübchen dachte.

›Sie will nicht?‹ fragte der alte Herr in festem Tone.

›Nein, gewiß nicht‹, antwortete Tom: ›sie hat einen andern aufs Korn genommen. – Einen großen Mann – einen verdammt großen Mann – mit einem schwarzen Backenbart.«

›Tom‹, sagte der alte Herr, ›sie wird ihn nicht nehmen.‹

›Nicht nehmen?‹ wiederholte Tom. ›Wären Sie im Schenkstübchen gewesen, alter Herr, so würden Sie anders reden.‹

›Pah! Pah!,‹ sagte der alte Herrn, ›weiß das alles.‹

›Was?‹ fragte Tom.

›Das Geküsse hinter der Tür und all das Zeug, Tom‹, antwortete der alte Herr, und nahm dabei wieder einen so frechen Blick an, daß Tom ordentlich zornig wurde: denn einen alten Knacker, der mehr Verstand haben sollte, von solchen Dingen sprechen zu hören, ist höchst widerlich – widerlicher, als alles! das ist Ihnen bekannt, meine Herren.

›Ich weiß das alles‹, sagte der alte Herr. ›Zu meiner Zeit habe ich das sehr oft gesehen, Tom, von mehr Leuten gesehen, als ich für gut finde, dir zu nennen; aber am Ende führte es doch zu nichts.‹

›Sie müssen sehr merkwürdige Dinge gesehen haben‹, bemerkte Tom mit forschendem Blick.

›Da magst du wohl recht haben, Tom‹, erwiderte der Alte mit sehr bedeutungsvollem Winke. ›Ich bin der letzte meiner Familie, Tom«, fügte er mit einem schwermütigen Seufzer hinzu.

›War sie zahlreich – Ihre Familie?« fragte Tom Smart.

›Wir waren unser zwölf, Tom‹, antwortete der alte Herr; ›hübsche, schmucke Gesellen mit festen Knochen, wie du nur einen sehen kannst. Keine von Euren neumodischen Mißgeburten, – alle mit Armen und herausgeputzt, daß einem das Herz im Leibe lachte, wenn man sie nur sah – doch ich sollte das nicht sagen.‹

›Und was wurde aus den andern, mein Herr?‹ fragte Tom Smart.

Der alte Herr führte den Ellbogen an sein Auge, als er erwiderte: ›Dahin, Tom, dahin. Wir hatten schweren Dienst, Tom, und sie waren nicht alle so stark gebaut, wie ich. Sie bekamen die Gicht in den Beinen und Armen und wanderten in Krankenhäuser und Hospitäler; einer von ihnen verlor durch den schweren Dienst und die übermäßige Anstrengung- alle seine Sinne – er wurde so elend, daß man ihn verbrennen mußte. Schauerlich das, Tom.‹

›Furchtbar!‹ bestätigte Tom Smart.

Der alte Knabe schwieg wieder einige Minuten lang, augenscheinlich mit seinen bewegten Gefühlen kämpfend, und fuhr dann fort:

›Doch ich komme von meinem Gegenstand ab, Tom. Jener große Mann, Tom, ist ein spitzbübischer Glücksritter. In demselben Augenblick, wo er die Witwe heiratete, würde er all ihr bewegliches Eigentum verkaufen und sich aus dem Staube machen. Was wäre die Folge davon? Sie wäre eine verlassene, zu Grunde gerichtete Frau, und ich würde in irgendeiner Trödlerbude an Erkältung sterben.‹

›Gut, aber –‹

›Unterbrich mich nicht‹, sagte der alte Herr. ›Von dir, Tom, habe ich eine ganz andere Meinung. Denn ich weiß, wenn du dich nur einmal in einem Wirtshause festgesetzt hättest, so würdest du es nimmer verlassen, solange es noch innerhalb seiner Wände etwas zu trinken gäbe.‹

›Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden‹, sagte Tom Smart.

›Eben deshalb‹, erklärte der alte Herr in diktatorischem Tone, ›sollst du, und nicht er, die Witwe haben.‹

›Wie ist das zu machen?‹ fragte Tom Smart hastig.

›Durch die Entdeckung, daß er schon verheiratet ist‹, versetzte der alte Herr.

›Wie kann ich das beweisen?‹ fragte Tom, und sprang halb aus dem Bette auf.

Der alte Herr hob seinen Arm in die Höhe und deutete nach einem der beiden Schränke und brachte ihn gleich wieder in seine vorige Lage zurück.

›Er denkt wohl nicht daran‹, sagte der alte Herr, ›daß er in der rechten Tasche seiner Beinkleider, die in diesem Schrank hängen, einen Brief steckengelassen hat, worin er dringend gebeten wird, zu seinem trostlosen Weibe mit sechs – höre, Tom – sechs Kindern, und alle noch unerzogen, zurückzukehren.‹

Wahrend der alte Herr in einem feierlichen Tone also sprach, wurden seine Züge immer unbestimmter und die Umrisse seiner Gestalt schwankender. Ein Schleier fiel über Tom Smarts Augen. Der alte Mann ging nach und nach in den Stuhl über, die Damastweste verwandelte sich in ein Polster, die roten Pantoffeln wurden zu kleinen roten Tuchläppchen, die die Knäufe umzogen. Das Licht wurde langsam matter und Tom Smart fiel auf sein Kissen zurück in die Arme des Schlafes.

Den andern Morgen erwachte Tom aus dem lethargischen Schlummer, in den er nach dem Verschwinden des alten Herrn gefallen war. Er setzte sich in seinem Bette auf und mühte sich einige Minuten lang vergebens ab, sich die Vorgänge der entwichenen Nacht in die Erinnerung zurückzurufen. Plötzlich tauchten sie wieder in seinem Gedächtnis auf. Er sah auf den Stuhl: es war ein phantastisches, grämlich aussehendes Stück Hausgerät, das ließ sich nicht bezweifeln. Aber, um zwischen ihm und einem alten Manne eine Ähnlichkeit zu entdecken, dazu gehörte denn doch eine ziemlich lebhafte und erfinderische Phantasie.

›Wie steht’s, alter Knabe?‹ fragte Tom. Er war bei Tage kühner: – wie die meisten Leute.

Der Stuhl blieb regungslos und sprach kein Wort.

›Ein ekliger Morgen‹, sagte Tom. Umsonst, der Stuhl war zu keiner Unterhaltung geneigt.

›Auf welchen Schrank hast du gedeutet? – das kannst du mir doch sagen‹, meinte Tom. Aber es war zum Kuckuck kein Wort aus dem Stuhl herauszubringen, meine Herren.

›Nun, es wird nicht schwer sein, sie irgendwie zu öffnen‹, sagte Tom, entschlossen aus seinem Bette aufspringend.

Er trat an einen der Schränke. Der Schlüssel steckte, er drehte um und öffnete. Es waren wirklich ein Paar Beinkleider im Schrank. Er fuhr mit der Hand in die Tasche derselben und zog den nämlichen Brief hervor, von dem der alte Herr gesprochen hatte.

›Seltsam‹, sagte Tom Smart, zuerst den Stuhl, dann den Schrank, dann den Brief und dann wieder den Stuhl ansehend. ›Sehr seltsam‹, sagte Tom. Aber da durchaus kein Schlüssel zu diesem Geheimnis vorhanden war, so hielt er es fürs zweckmäßigste, sich sogleich anzukleiden, die Sache mit dem großen Manne ins reine zu bringen – und seiner Not dadurch ein Ende zu machen.

Auf seinem Wege betrachtete Tom die Zimmer und Gänge mit dem prüfenden Blicke eines Gastwirts, und dachte dabei an die Möglichkeit, daß sie samt ihrem Inhalt in kurzem sein Eigentum werden könnten. Der große Mann stand in dem hübschen Schenkstübchen, die Hände auf dem Rücken, ganz, als ob er da zu Hause wäre. Er gaffte Tom mit einem nichtssagenden Blick an. Ein zufälliger Beobachter würde vermutet haben, er tue es bloß, um seine weißen Zähne zu zeigen. Aber Tom Smart sah darin ein triumphierendes Gefühl, das an der Stelle saß, wo das Herz des großen Mannes gewesen wäre, wenn er eins gehabt hätte. Tom lachte ihm ins Gesicht und verlangte die Wirtin zu sprechen.

›Guten Morgen, Madame‹, sagte Tom Smart, die Tür des Schenkstübchens schließend, als die Wirtin eintrat.

›Guten Morgen, mein Herr‹, antwortete die Witwe. ›Was befehlen Sie zum Frühstück?‹

Tom dachte darüber nach, wie er die Sache einfädeln sollte, und gab keine Antwort.

›Es gibt vortrefflichen Schinken‹, fuhr die Witwe fort, ›und ein schönes gespicktes Hühnchen. Soll ich Ihnen eins bringen, mein Herr?‹

Diese Worte weckten Tom aus seinem Nachdenken. Seine Bewunderung für die Witwe nahm zu, als sie sprach. ›Die gute Seele! wie man da versorgt wäre!‹

›Wer ist der Herr im Nebenzimmer, Madame?‹ fragte Tom.

›Er nennt sich Jinkins, mein Herr‹, antwortete die Wirtin, leicht errötend.

›Ein großer Mann‹, sagte Tom.

›Ein sehr schöner Mann‹, erwiderte die Witwe, ›und ein sehr gebildeter Herr.‹

›Ach was!‹ sagte Tom.

›Haben Sie noch etwas zu befehlen, mein Herr?‹ fragte die Witwe etwas verblüfft über Toms Benehmen.

›Nun ja‹, antwortete Tom. ›Liebe Frau, wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick Platz zu nehmen.‹

Die Witwe sah ganz verdutzt aus, setzte sich aber doch, und Tom setzte sich auch, und zwar hart an ihre Seite. Ich weiß nicht, wie es kam, meine Herren – wirklich, mein Oheim pflegte zu erzählen, daß Tom gesagt habe, er wisse es nicht, wie es gekommen sei, daß – doch dem sei, wie ihm wolle, Toms Hand senkte sich auf den Handrücken der Witwe, und blieb dort liegen, während er mit ihr sprach.

›Liebe Frau‹, sagte Tom Smart – er hielt immer viel darauf, den Liebenswürdigen zu spielen – ›Liebe Frau, Sie verdienen es, einen vortrefflichen Mann zu bekommen – ja, das verdienen Sie.‹

›Bitte, mein Herr‹, sagte die Witwe so höflich sie konnte, denn Toms Art und Weise, die Unterhaltung zu beginnen, war etwas ungewöhnlich, um nicht zu sagen abschreckend, besonders wenn man in Betracht zog, daß er sie vor dem vorhergehenden Abend noch mit keinem Auge gesehen hatte. ›Bitte, mein Herr.‹

›Ich bin ein Feind der Schmeichelei, liebe Frau‹, fuhr Tom Smart fort. ›Sie verdienen einen ausgezeichneten Mann, und wer immer es auch werden mag, er wird ein sehr glücklicher Mann sein.‹

Als Tom das sagte, wanderten seine Augen unwillkürlich von dem Gesichte der Witwe auf die wohlausgestattete Umgebung.

Die Witwe sah verblüffter aus als je und versuchte aufzustehen. Tom drückte ihr sanft die Hand, als wäre es nur, um sie zurückzuhalten, und sie blieb sitzen. Witwen, meine Herren, sind gewöhnlich nicht so scheu, wie mein Oheim zu sagen pflegte.

›Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre gute Meinung‹, sagte die muntere Wirtin halb lachend, ›und wenn ich je wieder heirate –‹

›Wenn‹, wiederholte Tom Smart mit einem schelmischen Blick aus dem rechten Winkel seines linken Auges. ›Wenn –‹

›Nun‹, sagte die Wirtin, diesmal laut lachend. › Wenn ich es tue, so hoffe ich, einen so guten Mann zu bekommen, wie Sie ihn schildern.‹

›Jinkins zum Beispiel?‹ meinte Tom.

›Was fällt Ihnen ein, Sir?‹ rief die Witwe aus.

›O, sagen Sie mir nichts‹, versetzte Tom; ›ich kenne ihn.‹

›Ich bin überzeugt, niemand, der ihn kennt, kann ihm etwas Schlechtes nachsagen‹, versetzte die Witwe, aufgebracht durch die geheimnisvolle Miene, mit der Tom gesprochen hatte.

›Hm‹, murmelte Tom Smart.

Jetzt glaubte die Witwe, gehöre es sich, zu weinen. Sie nahm ihr Taschentuch und fragte, ob Tom sie beleidigen wolle; ob er es für die Sache eines Mannes von Ehre halte, einem andern Ehrenmanne hinter seinem Rücken die Ehre abzuschneiden: warum er, wenn er etwas zu sagen hätte, es dem Manne nicht als Mann in« Gesicht sage, anstatt ein armes, schwaches Weib so zu ängstigen und dergleichen.

›Ich will es ihm deutlich genug sagen‹, erwiderte Tom, ›nur will ich, daß Sie es vorher hören.‹

›Was ist es denn?‹ fragte die Witwe, Tom aufmerksam betrachtend.

›Sie werden staunen‹, sagte Tom, seine Hand in die Tasche steckend.

›Wenn Sie damit sagen wollen, daß er geldbedürftig ist‹, äußerte die Witwe, ›so weiß ich das bereits, und Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern.‹

›Pah, Unsinn; das hätte nichts zu sagen‹, versetzte Tom Smart. ›Ich bin auch geldbedürftig. Das ist es nicht.‹

›Ach Gott, was kann es denn sein?‹ rief die arme Witwe.

›Erschrecken Sie nicht‹, sagte Tom Smart, zog langsam einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. ›Werden Sie aber auch nicht schreien?‹ fragte Tom zweifelnd.

›Nein, nein‹, erwiderte die Witwe, ›geben Sie her.‹

›Werden Sie nicht in Ohnmacht fallen oder sonstige Zufälle bekommen?‹ fragte Tom.

›Nein, nein‹, erwiderte die Witwe hastig.

›Und rennen Sie nicht fort, um es ihm vorzuhalten?‹ sagte Tom. ›Ihre Einmischung ist dabei ganz unnötig, da ich die Sache auf mich zu nehmen gedenke.‹

›Alles recht, geben Sie nur her!‹ bat die Witwe.

›Hier‹, sagte Tom Smart, und gab der Witwe den Brief in die Hand.

Meine Herren, ich habe meinen Oheim sagen hören, daß Tom Smart behauptete, die Wehklagen der Witwe, in die sie bei der Enthüllung des Geheimnisses ausbrach, hätten ein Herz von Stein durchbohren können. Tom hatte gewiß ein starkes Herz, aber sie drangen bis in sein Innerstes. Die Witwe fiel bald auf diese, bald auf die andere Seite und rang die Hände.

›O Niedertracht und Schlechtigkeit eines Mannes!‹ rief die Witwe aus.

›Schrecklich, liebe Frau, aber beruhigen Sie sich‹, sagte Tom Smart.

›Ach, ich kann mich nicht beruhigen‹, schrie die Witwe. ›Ich werde nie mehr einen finden, den ich so lieben kann.‹

›O gewiß, Sie werden, mein liebes Herz‹, versicherte Tom Smart, aus Mitleid mit dem kläglichen Geschick der Witwe einen Strom dicker Tränen vergießend.

Im Eifer seines Bedauerns hatte Tom Smart seinen Arm um den Leib der Witwe geschlungen, und die Witwe hatte im Übermaße des Schmerzes Toms Hand ergriffen. Sie sah Tom ins Gesicht und lächelte mitten in ihren Tränen, und Tom sah der Witwe in ihr Gesicht und lächelte mitten in seinen Tränen.

Ich konnte nie erfahren, meine Herren, ob Tom in diesem entscheidenden Augenblick die Witwe küßte oder nicht. Meinem Oheim pflegte er zu sagen, er habe es nicht getan, aber das bezweifle ich fast. Unter uns gesagt, meine Herren, ich glaube, er tat es.

Jedenfalls ist soviel gewiß, daß eine halbe Stunde darauf Tom den sehr großen Mann aus dem Hause warf und einen Monat später die Witwe heiratete. Lange fuhr er noch auf seinem tonfarbenen Wagen mit den roten Rädern und mit der launischen Mähre im Lande herum, bis er endlich nach vielen Jahren sein Geschäft aufgab und mit seinem Weib nach Frankreich ging, worauf das alte Haus niedergerissen wurde.«

 

»Wollen Sie mir eine Frage erlauben«, sagte der fragelustige alte Herr: »was wurde denn aus dem Stuhl?«

»Nun«, versetzte der einäugige Krämer, »man hörte ihn am Tage der Hochzeit sehr stark krachen; aber Tom Smart konnte nicht bestimmt sagen, ob aus Vergnügen oder aus Gebrechlichkeit. Er neigte jedoch mehr zur letzteren Ansicht, denn der Stuhl sprach nachher nie wieder.«

»Jedermann glaubte die Geschichte, nicht wahr?« fragte das Negergesicht, seine Pfeife wieder füllend.

»Mit Ausnahme der Feinde Toms«, antwortete der Krämer. »Einige von ihnen sagten, Tom habe sie rein erfunden, und andere sind der Ansicht, er sei betrunken gewesen, habe sie geträumt, und den Fund durch Verwechslung der Beinkleider vor dem Schlafengehen getan. Aber niemand hörte darauf, was diese neidischen Seelen sagten.«

»Tom Smart sagte, es sei alles wahr?«

»Wort für Wort.«

»Und Ihr Oheim?«

»Buchstäblich.«

»Beide müssen sonderbare Männer gewesen sein«, sagte das Negergesicht.

»Ja, das waren sie auch – in der Tat!«

 

Dickens Leben und Werke.


Dickens Leben und Werke.

Zu den vorliegenden Übersetzungen.

Als Charles Dickens, der große englische Humorist, 1870 gestorben war, wurden in den ersten zwölf Jahren nach seinem Tode in England allein vier Millionen Stück seiner Werke verkauft; ein Zeichen für die ungemeine Beliebtheit des Mannes, der dabei nicht, wie manch anderer großer Dichter, auf den Ruhm nach dem Tode als Ersatz für den fehlenden Ruhm bei Lebzeiten hat hoffen brauchen. Er war, sobald er zu schriftstellern begann, bereits vielgelesen, vielgekauft und gefeiert.

Auch in Deutschland erschienen in des Dichters besten Lebenstagen bereits umfangreiche Übersetzungen, die damals gern gelesen wurden. Aber sie sind heute veraltet. Zwar waren sie meist genaue Übertragungen, indessen sie blieben ganz in der zeitlichen Mode stecken und sind heute für den modernen Leser kaum genießbar. Unser Sprachgefühl verlangt einfachen klaren Satzbau, keine endlosen Satzperioden. Die reichliche Anwendung von Partizipien, die das Englische zuläßt, wirkt in unserer Sprache schleppend und unbeholfen. Viele Fremdwörter, die früher geläufig waren, sind gänzlich aus dem Sprachgebrauch verschwunden und durch deutsche Ausdrücke zu ersetzen. Daher bedeutet eine erneute, an der Hand des englischen Originals revidierte Übersetzung zugleich eine neue Wegbahnung zum Reiche des großen englischen Humoristen, der uns auch heute noch außerordentlich viel zu bedeuten vermag. Das Unternehmen des Gutenberg-Verlags, Dickens in einem äußerlich wie innerlich würdigen deutschen Gewande weiten Kreisen unseres Volkes wieder zu erschließen, ist daher überaus dankbar zu begrüßen.

 

Charles Dickens (Pseudonym »Boz«) ist am 7. Februar 1812 zu Landport bei Portsmouth geboren. Sein Vater war Marinezahlmeister, der sich mit Frau und Kindern schlecht und recht durchs Leben schlug. Als Charles klein war, ging es den Eltern oft recht kümmerlich. 1816 siedelte die Familie nach Chatham bei London über. Der Vater geriet in Schulden und mußte zwei Jahre ins Schuldgefängnis wandern. Die Entbehrungen des Vaters in den Kerkermauern, die Not der Mutter, der Hunger der Geschwister und der eigene machten auf den kleinen Charles einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck: und das traurige Leben der Armut, das er damals kennenlernte, spiegelt sich oft genug in seinen Schriften ergreifend wider, immer begleitet von dem heimlichen Wunsch um Abhilfe. Charles konnte unter diesen Umständen nur eine kümmerliche Ausbildung erhalten. Er las selbst viele Romane und Dramen und suchte nebenher an Wissen zu ergattern, was er auftreiben konnte. Zunächst ward er Laufjunge und Paketpacker bei einem Verwandten, der Stiefelwichsefabrikant war. Dann aber besserten sich die Verhältnisse der Familie etwas. Charles konnte die »Academy« zu Hamstead Road besuchen. Er ward jetzt Advokatenschreiber. Als solcher bekam er es mit den verschiedensten Menschen aus dem Volke zu tun, und seiner scharfen Beobachtungsgabe verdankte er die Fähigkeit, alle möglichen Originale, vom jovialen Ehrenmann bis zum Landstreicher, meisterhaft zeichnen zu können.

Die Welt des Schriftstellers aber erschloß sich ihm erst eigentlich, als er im Britischen Museum literarische Studien systematisch trieb. Er lernte Stenographie und ward zunächst Zeitungsreporter, Als Mitarbeiter von »The true sun« und »Morning Chronicle« machte er sich zuerst einen Namen. Seit Dezember 1833 veröffentlichte er in englischen Zeitschriften »Skizzen von London«, die mit Humor und Herzenswärme das Volk Londons, wie’s weint und lacht, darstellte. Diese Skizzen fanden außerordentlichen Anklang. Zum berühmten Manne aber machte ihn sein erster großer Roman »Die Pickwickier«, auch »Die Pickwickpapiere« ( Pickwick-Papers) genannt, worin er die (von ihm erdichteten) Berichte und Protokolle des Pickwick-Klubs veröffentlichte. Dieser Roman erschien heftweise in der Zeitung mit humoristischen Zeichnungen von Cruiksshank und Phiz. Das Publikum konnte es gar nicht erwarten, bis ein neues Heft erschien, um weitere Erlebnisse des wackeren Herrn Pickwick und seiner ergötzlichen Klubgenossen zu erfahren. Ein Griff ins volle Menschenleben war dieser Roman, und Dickens beglückte aus dem reichen Füllhorn seiner Phantasie die Leser darinnen immer wieder mit neuen kleineren, in sich abgeschlossenen Erzählungen, Anekdoten und Humoresken.

1836 heiratete Dickens die Tochter eines Redaktionskollegen und begann sich ein trautes Heim zu gründen. Sein schönes Haus am Regents-Park ward zum Treffpunkt der guten Gesellschaft und der zeitgenössischen Geistesgrößen.

1837 bis 1839 schrieb Dickens seinen zweiten Roman »Oliver Twist«, der die Erlebnisse, das Ringen und Streben eines Jungen aus den unteren Volksschichten zum Inhalt hat. Er ist wie der dritte Roman »Nicolas Nickleby« ein Entwicklungsroman; auch dieser stellt den Werdegang eines jungen Menschen mit Menschlichkeit, Wärme und Humor dar. Dickens schuf seine Werke, ähnlich wie Scott, sich naiv der Phantasie überlassend: er war ebenso wie das Publikum darauf gespannt, wie seine Romane enden würden. Seine weiteren Werke waren teils erschütternde Dokumente über das Elend der damals rasch emportreibenden Fabrikstädte, teils humoristisch-gütige Mahnungen, diesen Nöten zu steuern. Namentlich eine Reise nach Amerika bestärkte diese Tendenzen in Dickens Schriften. So klingt die Nächstenliebe in seinen Weihnachtserzählungen ( A Christmas carol) wunderbar erwärmend und herzlich wieder. In gleicher Weise ist der Roman »Zwei Städte« ein schönes Zeugnis für Dickens Kunst, tief ins volle Menschenleben zu führen und zugleich den Leser ethisch zu bereichern.

1849 bis 1850 folgte der große autobiographische Roman »David Copperfield«, in dem Dickens viel von seinem persönlichen Leben berichtet. Welche Fülle an Produktivität, an Arbeit und Gestaltungskraft zeigen diese ersten Jahrzehnte des Schriftsteller! Aber in jenen Zeiten hat sich der Dichter auch übernommen und seine Kräfte für späteres Schaffen geschwächt. 1845 war er außerdem Redakteur der neubegründeten Zeitung » Daily News« geworden, und seit 1849 leitete er eine Wochenschrift, die unter dem Titel » All the Year round« vieles aus seiner Feder brachte. Er verfaßte eine behaglich plaudernde, anschauliche und lebendige Geschichte Englands ( A childs history of England), und sein letzter großer Roman war »Little Dorrit«, in dem er diesmal das Schicksal und die Entwicklung eines gleichfalls aus ärmlichen widrigen Verhältnissen sich emporkämpfenden Mädchens zum Inhalt einer menschlich tief angelegten, dramatisch bewegten Erzählung machte.

Seine Familienverhältnisse bereiteten ihm in späteren Jahren oft trübe Stunden. 1858 trennte er sich von seiner Frau. Er schuf sich eine herrliche Besitzung Gadshill Place; aber seine innere Rastlosigkeit ließ ihn nicht zum ruhigen Genuß des Errungenen kommen. Er ging jetzt auf Reisen und hielt Vorlesungen aus seinen Werken in London, Schottland, Irland und Nordamerika. Bis an sein Lebensende blieb er ein Menschenfreund, der durch mancherlei gute Stiftungen seine Gesinnung in die Tat umsetzte. Von Ehren überhäuft starb er am 9. Juni 1870 und ward in der Westminster-Abtei zu London beigesetzt.

Den in den ersten beiden Bänden dieser Dickensausgabe erscheinenden »Pickwickiern« ist die Übersetzung von Dr. Kolb (Hoffmannsche Buchhandlung 1855) zugrunde gelegt. Sie ist entsprechend den anfangs dieser Einleitung gemachten Bemerkungen gründlich revidiert und durchgehend mit dem englischen Original verglichen worden. Dabei ist das sprachliche Gewand stark umgestaltet und das Ganze ist in modernes Deutsch gebracht worden. Die Anmerkungen, die dem Verständnis des zeitgeschichtlichen Hintergrundes dienen, dürften allen Lesern willkommen sein. Bei der Textrevision fand ich freundliche Unterstützung durch Frau Clara Weinberg, Hamburg, der ich auch an dieser Stelle herzlich danke.

Und nun, verehrte Freunde und Freundinnen eines unverwüstlichen Humors, bringt Zeit mit – denn Zeit und Muße gehören zum richtigen Auskosten des Gebotenen. Am besten ist ein stiller Nachmittag, wenn’s draußen stürmt, regnet oder schneit. Dann wird Dickens schon dafür sorgen, daß im Herzen der Leser sich die Heiterkeit der Augustsonne, die er so besonders liebte, zärtlich und lösend verbreitet.

Dresden, im Frühherbst 1926.
P. Th. H.

Dickens Vorrede zu den »Pickwickiern«.


Dickens Vorrede zu den »Pickwickiern«.

Der Verfasser hatte bei diesem Werke die Absicht, dem Leser eine fortlaufende Serie von Persönlichkeiten und Ereignissen vorzuführen, diese mit möglichst frischen Farben zu malen, und ihnen zugleich dadurch Interesse zu verleihen, daß sie dem wirklichen Leben einen Spiegel vorhalten.

Indem er sich anfangs bei seiner Arbeit den Ansichten anderer fügte, ließ er das Ganze zunächst von einem Klub ausgehen; ein Kunstgriff, der ihm als der seinem Zwecke entsprechendste an die Hand gegeben wurde. Weil er aber fand, daß ihn diese Einrahmung in seiner freieren Bewegung hemmte, so wich er nach und nach davon ab; denn es konnte ihm bei seinem Werk wenig daran liegen, ob dem Klub strenge epische Gerechtigkeit zuerkannt würde oder nicht.

Das Erscheinen des Werkes in Monatsheften – jedes nur zweiunddreißig Seiten stark – forderte, da die mannigfaltigen Begebenheiten einen möglichst genauen Zusammenhang haben mußten, um sich nicht als abgerissen und unmöglich zu geben, die Verfolgung eines möglichst einfachen Plans. Sollte die Erzählung doch nicht unter der getrennten und abspringenden Art einer Veröffentlichung leiden, die volle zwanzig Monate andauerte. Mit einem Wort, es war notwendig – oder es schien wenigstens dem Verfasser notwendig, daß jedes Heft gewissermaßen in sich selbst abgeschlossen wäre, und daß dann doch die zwanzig vollständigen Hefte ein leidliches, harmonisches Ganze bildeten, deren sich jedes durch einen gefälligen und nicht unnatürlichen Übergang an das andere anreihte.

Es versteht sich von selbst, daß man bei einem mit solchen Rücksichten veröffentlichten Werke billigerweise keinen kunstvoll gewebten oder geistreich entwickelten Plan erwarten kann. Der Verfasser schmeichelt sich indessen mit der Hoffnung, die Schwierigkeiten seines Unternehmens mit bestem Erfolg überwunden zu haben. Wenn man deü Pickwickpapieren den Vorwurf macht, daß sie eine bloße Reihe von Abenteuern sind, in denen die Szenen immer wechseln, und die Charaktere auftauchen und verschwinden, wie die Männer und Frauen, denen wir in der wirklichen Welt begegnen, so kann er sich nur mit dem Gedanken trösten, daß sie gar nichts anderes sein wollen, und daß man dieselbe Ausstellung an den Werken einiger der größten englischen Novellisten gemacht hat.

Die folgenden Blätter wurden von Zeit zu Zeit abgefaßt, je nachdem sich periodisch Gelegenheit dazu gab. Insofern sie größtenteils in der Gesellschaft eines sehr teuren jungen Freundes geschrieben wurden, der nicht mehr ist, hängen sie in der Seele des Verfassers zugleich mit der glücklichsten Periode seines Lebens und mit dem düstersten und schmerzlichsten Ereignis zusammen.

Die fast beispiellose Güte und Gunst, womit das Publikum dieses Werk aufnahm, werden dem Verfasser während seines ganzen Lebens eine nie versiegende Quelle der dankbarsten und heitersten Erinnerung sein. Hoffentlich wird man durch das ganze Buch hindurch auf keinen Vorfall und keinen Ausdruck stoßen, der auf der zartesten Wange eine Schamröte erwecken oder das Gefühl des Empfindlichsten beleidigen könnte. Wenn eine seiner unvollkommenen Schilderungen, während sie zur Unterhaltung gedient, auch nur einen einzigen Leser bewegen sollte, eine bessere Meinung von seinen Nebenmenschen zu fassen und seine Blicke auf die lichteren und freundlicheren Seiten der menschlichen Natur zu richten, so würde sich der Verfasser ob solchen Resultates stolz und glücklich fühlen.