36. Kapitel Enthusiasmus


36. Kapitel Enthusiasmus

Ich fing den nächsten Tag abermals mit einem Sprung in das römische Bad an und machte mich dann nach Highgate auf den Weg. Ich war jetzt nicht mehr mutlos, ich fürchtete mich nicht mehr vor einem schäbigen Rock und fühlte keine Sehnsucht nach feurigen Eisenschimmeln. Ich sah das Unglück, das uns betroffen, heute in einem ganz andern Licht als gestern. Alles, was ich tun konnte, war, daß ich meiner Tante zeigte, daß sie ihre Güte nicht an einen gefühllosen, undankbaren Menschen weggeworfen hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als an die harte Schule meiner jungen Jahre zu denken, mit entschloßnem und standhaftem Herzen ans Werk zu gehen, die Axt zur Hand zu nehmen, um mir selbst durch den Wald von Hindernissen einen Weg zu bahnen – zu Dora. Und ich ging raschen Schrittes, als könnte ich es schon dadurch verrichten.

Als ich auf der vertrauten Straße nach Highgate dahineilte, diesmal zu einem ganz andern Zweck als damals, schien es mir, als ob sich mein Leben ganz und gar verändert hätte. Aber das entmutigte mich nicht. Mit dem neuen Leben kam neuer Zweck und neue Anstrengung. Groß war die Arbeit, unschätzbar der Preis. Dora war der Preis und Dora mußte gewonnen werden.

Ich geriet derartig in Begeisterung, daß es mir ordentlich leid tat, keinen schäbigen Rock anzuhaben. Ich sehnte mich danach, mit der Axt auf die Schwierigkeiten loszuhauen; am liebsten hätte ich einen alten Mann mit einer Drahtbrille, der am Weg Steine klopfte, um seinen Hammer gebeten, damit ich für Dora einen Pfad aus Granit bahnen könnte. Meine Aufregung versetzte mich so in Hitze und außer Atem, daß ich mir vorkam, als hätte ich wer weiß wieviel schon vollbracht. In dieser Verfassung trat ich in ein Häuschen, das zu vermieten stand. Ich besichtigte es genau, denn ich fühlte die Notwendigkeit, praktisch zu werden. Es paßte für mich und Dora ausgezeichnet. Vorn ein kleiner Garten, in dem Jip herumlaufen und durch das Gitter die Leute anbellen konnte, und oben ein schönes Zimmer für meine Tante. Ich verließ das Haus noch erhitzter als vorher und stürmte nach Highgate in einem Tempo, daß ich eine volle Stunde zu früh ankam und mich erst lange abkühlen mußte, ehe ich fähig war, vor anständigen Leuten zu erscheinen.

Meine erste Sorge war, das Haus des Doktors ausfindig zu machen. Es lag nicht in dem Teil von Highgate, wo Mrs. Steerforth wohnte, sondern auf der andern Seite des kleinen Städtchens. Sodann ging ich, von einem unüberwindlichen Drange getrieben, in ein Gäßchen neben Mrs. Steerforths Haus zurück und blickte über die Gartenmauer. Die Laden vor den Fenstern seines Zimmers waren geschlossen. Die Tür des Gewächshauses stand offen, und Rosa Dartle ging barhaupt und mit raschem, ungestümem Schritt auf einem Kiesweg im Garten auf und ab. Sie kam mir vor wie ein wildes Tier, das sich vor den Käfigstäben an seiner Kette hin und her schleppt und sich das Herz zergrämt.

Ich wünschte, ich wäre lieber gar nicht hergekommen, stahl mich wieder fort und schlenderte bis zehn Uhr herum.

Als ich das Häuschen des Doktors erreichte – ein hübsches, altes Bauwerk, an das ziemlich viel Geld gewandt worden sein mußte, um es auszubessern und teilweise umzubauen –, sah ich meinen ehemaligen Lehrer im Garten an der Seite des Hauses auf und ab gehen, genauso mit Gamaschen und Brille wie in meiner Schulzeit. Auch viele hohe Bäume standen in seiner Nähe wie damals, und wieder hüpften zwei oder drei Krähen auf dem Rasen herum und sahen ihn an, als ob sie mit ihren Schwestern in Canterbury in Briefwechsel stünden und ihn deshalb so genau beobachteten.

Ich wußte, wie nutzlos es war, aus der Entfernung seine Aufmerksamkeit erregen zu wollen, und entschloß mich, die Türe zu öffnen und hinter ihm dreinzugehen, damit wir einander begegneten, wenn er sich umdrehte. Als er auf mich zukam, sah er mich eine Weile gedankenvoll an, offenbar im Geiste ganz woanders –, dann plötzlich erhellte sich sein wohlwollendes Gesicht, strahlte vor Freude, und er ergriff meine beiden Hände.

»Aber, mein lieber Copperfield«, sagte er, »Sie sind ja zum Manne gereift. Wie geht es Ihnen denn? Ich bin außer mir vor Freude, Sie wiederzusehen. Mein lieber Copperfield, wie Sie sich herausgemacht haben! Sie sind ja ganz – ja – weiß Gott!«

Ich sprach die Hoffnung aus, ihn wohl zu finden, ebenso Mrs. Strong.

»O ja, ja. Ännie ist wohlauf und wird entzückt sein, Sie wiederzusehen. Sie waren immer ihr Liebling. Sie äußerte es schon gestern abend, als Ihr Brief kam. Und – ja – natürlich – Sie erinnern sich doch noch Mr. Jack Maldons, Copperfield?«

»Vollkommen, Sir.«

»Natürlich, natürlich! Auch ihm geht es gut.«

»Ist er wieder heimgekehrt, Sir?« fragte ich.

»Aus Indien? Ja. Mr. Jack Maldon konnte das Klima nicht vertragen. Mrs. Markleham – haben Sie nicht Mrs. Markleham vergessen?«

Den »General« vergessen! In der kurzen Zeit!

»Die arme Mrs. Markleham«, fuhr der Doktor wieder fort, »war ganz außer sich seinetwegen; so ließen wir ihn wieder zurückkehren und kauften ihm eine patente kleine Stellung, wo es ihm viel besser gefällt.«

Ich kannte Mr. Jack Maldon zu gut, um nicht zu vermuten, daß es eine Stelle war, die nicht viel Arbeit erforderte, aber desto mehr Gehalt trug. Der Doktor, die Hand auf meine Schulter gelegt und sein freundliches Gesicht mir aufmunternd zugewendet, fuhr fort, auf und ab zu gehen, und sagte:

»Um auf Ihren Vorschlag zurückzukommen, lieber Copperfield! Es ist mir gewiß höchst angenehm, aber können Sie Ihre Zeit nicht besser anwenden? Sie haben sich damals bei uns sehr ausgezeichnet. Sie eignen sich zu allem möglichen. Sie haben einen Grund gelegt, auf dem sich jedes Gebäude erheben kann, und ist es nicht jammerschade, wenn Sie die schönste Zeit Ihres Lebens einer so armseligen Beschäftigung, wie Sie sie bei mir finden, widmen?«

Ich wurde wieder sehr enthusiastisch und verlieh meiner Bitte durch poetischen Schwung einen großen Nachdruck und wies darauf hin, daß ich noch einen andern Beruf habe.

»Das ist wohl richtig«, entgegnete der Doktor, »jedenfalls macht es einen Unterschied, daß Sie schon ein bestimmtes Studium vor sich haben, aber mein lieber, junger Freund, was sind siebzig Pfund jährlich!«

»Sie verdoppeln unser Einkommen, Dr. Strong«, sagte ich.

»O Gott! Wie schrecklich! Ich wollte sagen, nicht daß ich meine, mich streng auf siebzig Pfund jährlich zu beschränken, ich habe von vorneherein daran gedacht, dem jungen Mann, den ich auf diese Weise beschäftige, noch außerdem ein Präsent zu machen. Selbstverständlich denke ich auch an eine jährliche Extravergütung.«

»Mein verehrter Lehrer«, sagte ich – diesmal ohne poetischen Schwung »ich schulde Ihnen bereits mehr, als ich jemals in Worte bringen kann –«

»Nein, nein«, unterbrach mich der Doktor, »ich bitte Sie!«

»Wenn Sie mich in meiner freien Zeit – das ist morgens und abends beschäftigen können und glauben, daß das wirklich siebzig Pfund jährlich wert ist, so erweisen Sie mir einen so großen Dienst, daß ich es gar nicht ausdrücken kann.«

»O Gott. Daß man mit so wenig Geld so viel ausrichten kann! Gott! Gott! Aber sowie Sie irgend etwas Besseres finden, müssen Sie es nehmen. Auf Ihr Wort jetzt!« Das war so seine alte Art von jeher gewesen, wenn er sich im Ernst an das Ehrgefühl von uns Schulknaben gewendet hatte.

»Auf mein Wort, Sir«, antwortete ich, unserer alten Schulgewohnheit gemäß.

»So sei es.« Er klopfte mir auf die Schulter und ging eingehängt mit mir auf und ab.

»Und ich werde noch zwanzigmal glücklicher sein, Sir«, brachte ich eine unschuldige Schmeichelei an, »wenn Sie mich mit dem Wörterbuch beschäftigen.«

Der Doktor blieb stehen, klopfte mir wieder lächelnd auf die Schulter und rief mit höchst ergötzlich anzusehendem Triumph, als ob ich bis an die äußersten Grenzen menschlichen Scharfsinns vorgedrungen wäre:

»Mein lieber junger Freund. Sie haben es erraten! Es handelt sich um das Wörterbuch.«

Wie konnte es auch anders sein. Seine Taschen waren damit so angefüllt wie sein Kopf. Er sagte mir, daß er wunderbare Fortschritte mit seiner Arbeit gemacht habe, seitdem er sich vom Unterricht zurückgezogen, und daß ihm nichts besser passen könnte als mein Vorschlag, früh und abends ein paar Stunden zu arbeiten, da er den Tag über nachdenken müsse. Seine Papiere seien ein wenig in Verwirrung geraten, weil Mr. Jack Maldon sich ihm als Sekretär angeboten habe und an diese Art Beschäftigung nicht sehr gewöhnt sei; aber wir würden bald alles in Ordnung haben und dann rasche Fortschritte machen.

Später fand ich, daß Mr. Jack Maldons frühere Bemühungen die Sache viel schwieriger gestalteten, als zu erwarten war, denn er hatte sich nicht darauf beschränkt, unzählige Fehler zu machen, sondern hatte auch auf das Manuskript des Doktors so viele Soldaten und Damenköpfe gezeichnet, daß man oft gar nichts mehr lesen konnte.

Der Doktor war sehr erfreut über die Aussicht, bald ans Werk gehen zu können, und wir setzten den Beginn auf nächsten Morgen sieben Uhr fest. Wir wollten jeden Morgen und Abend je zwei bis drei Stunden arbeiten mit Ausnahme der Samstage, wo ich mich ausruhen sollte. Dasselbe war natürlich mit den Sonntagen der Fall; die Bedingungen fielen also sehr angenehm für mich aus.

Nachdem unsere Pläne so zu unserer gegenseitigen Zufriedenheit geordnet waren, führte mich der Doktor ins Haus, um mich Mrs. Strong vorzustellen. Wir fanden sie in ihres Gatten neuem Studierzimmer beschäftigt, seine Bücher abzustauben, – eine Freiheit, die nur sie sich mit diesen Heiligtümern erlauben durfte.

Man hatte meinetwegen das Frühstück verschoben, und wir setzten uns zusammen zu Tisch. Wir saßen noch nicht lange, als ich in Mrs. Strongs Gesicht, noch ehe ich einen Laut hörte, Anzeichen, daß irgend jemand ankäme, wahrnahm. Ein Herr kam an das Tor geritten, führte das Pferd in den kleinen Hof, als ob er hier zu Hause sei, band es an einen Ring an der Mauer an und trat, die Reitpeitsche in der Hand, in das Frühstückszimmer. Es war Mr. Jack Maldon. Er schien mir in Indien durchaus nicht gewonnen zu haben. Allerdings war ich heute sehr fanatisch, besonders jungen Leuten gegenüber, die keine Bäume im Walde der Schwierigkeiten fällten, und mein Urteil muß daher mit Vorsicht aufgenommen werden.

»Mr. Jack«, stellte uns der Doktor vor, »Copperfield.« Mr. Jack schüttelte mir die Hand, nicht besonders herzlich, wie mir vorkam, und mit einer gelangweilten Gönnermiene, die mich insgeheim sehr wurmte.

»Haben Sie schon gefrühstückt, Mr. Jack?«

»Ich frühstücke fast nie, Sir«, erwiderte er, den Kopf in den Großvaterstuhl zurückgelehnt. »Es langweilt mich.«

»Gibts etwas Neues?« fragte der Doktor.

»Gar nichts, Sir. Es verlautet, die Leute oben im Norden seien hungrig und unzufrieden. Aber irgendwo sind sie immer hungrig und unzufrieden.«

Der Doktor machte ein ernstes Gesicht und sagte, als wollte er von etwas anderm sprechen: »Und so gibt es also gar nichts Neues? Keine Nachricht, sagt man, ist eine gute Nachricht.«

»In den Zeitungen steht etwas Langes und Breites über einen Mord. Aber irgendwo wird ja immer gemordet; ich habe die Geschichte nicht gelesen.«

Eine affektierte Gleichgültigkeit allen Begebnissen und Leidenschaften der Menschheit gegenüber galt damals noch nicht wie heute als besonders vornehm. Ich habe sie später so zur Mode werden sehen, daß ich elegante Herren und Damen gekannt habe, die ebensogut als Raupen hätten geboren sein können. Vielleicht fiel es mir damals mehr auf, weil es mir etwas Neues war, aber keinesfalls erhöhte es meine Meinung von Mr. Jack Maldon, noch auch mein Vertrauen zu ihm.

»Ich wollte fragen, ob Ännie heute abend in die Oper gehen will?« fragte Mr. Maldon, zu seiner Kusine gewendet. »Es ist die letzte gute Vorstellung in der Saison, und eine Sängerin tritt heute auf, die sie sich wirklich anhören sollte. Sie ist ganz ausgezeichnet. Außerdem entzückend scheußlich«, schloß er, wieder in Gleichgültigkeit versinkend.

Der Doktor, immer voll Freude, wenn es galt, seiner jungen Frau ein Vergnügen zu bereiten, sagte:

»Du mußt gehen, Ännie, du mußt gehen.«

»Ich möchte lieber zu Hause bleiben«, entgegnete Mrs. Strong, »ich möchte wirklich lieber zu Hause bleiben.«

Ohne ihren Vetter anzusehen, wendete sie sich an mich, erkundigte sich nach Agnes und fragte, ob sie vielleicht heute auch käme, und legte dabei eine so deutliche Unruhe an den Tag, daß ich mich wunderte, daß es dem Doktor nicht auffiel.

Aber er sah nichts. Er sagte ihr scherzend, sie sei doch jung und müsse sich unterhalten und zerstreuen und dürfe sich von so einem alten langweiligen Menschen wie er nicht anöden lassen. Außerdem möchte er sie später gerne die Lieder der neuen Sängerin singen hören, und wie könnte sie das tun, wenn sie nicht hinginge. So ließ sich der Doktor nicht abbringen, und Mr. Jack Maldon sollte zum Mittagessen wiederkommen.

Ich war am nächsten Morgen sehr gespannt, ob Mrs. Strong wirklich in der Oper gewesen. Sie war nicht hingegangen, sondern hatte nach London geschickt, um ihrem Vetter abzusagen, und eine Art Nachmittagbesuch bei Agnes gemacht.

Sie hatte ihren Gatten überredet mitzugehen. Dann waren sie zu Fuß nach Hause zurückgekehrt, da der Abend, wie der Doktor mir sagte, herrlich gewesen sei. Ich hätte gerne gewußt, ob sie wohl ins Theater gegangen wäre, wenn Agnes nicht in London geweilt hätte, denn es interessierte mich, ob Agnes auch auf sie ihren guten Einfluß ausübte.

Sie sah nicht sehr glücklich aus, wie mir vorkam, aber immerhin zufrieden; oder verstellte sie sich vielleicht? Sie saß die ganze Zeit, während wir arbeiteten, am Fenster und bereitete unser Frühstück, das wir bissenweise während der Arbeit verzehrten. Als ich um neun Uhr fortging, kniete sie vor dem Doktor nieder und zog ihm die Schuhe und Gamaschen an. Ein zarter Schatten von ein paar grünen Zweigen, die vom Garten hereinhingen, fiel auf ihr Gesicht, und ich mußte den ganzen Heimweg an jenen Abend denken, wo sie zu ihrem Gatten aufgeblickt, während er ihr vorlas.

Ich hatte jetzt ziemlich viel zu tun, stand um fünf Uhr auf und kam erst um neun oder zehn Uhr abends nach Hause. Aber es gewährte mir eine außerordentliche Befriedigung, so angestrengt beschäftigt zu sein. Ich ging immer schnellen Schrittes und sagte mir voll Begeisterung, je mehr ich mich abmühe, desto mehr tue ich, mir Dora zu verdienen.

Ich hatte ihr noch nichts von meinen veränderten Lebensverhältnissen sagen lassen können, weil sie zu Miss Mills erst in einigen Tagen kommen sollte und ich eine Mitteilung bis dahin aufgeschoben hatte. In meinen Briefen (unsern ganzen Briefverkehr besorgte Miss Mills) hatte ich bloß angedeutet, daß ich ihr viel erzählen müßte. Unterdessen setzte ich mich auf halbe Ration Bärenpomade, gab wohlriechende Seife und Lavendelwasser auf und verkaufte mit großen Opfern drei Westen als zu luxuriös für meine ernste Lebensbahn.

Damit noch nicht zufrieden und von Ungeduld erfüllt, noch mehr zu tun, suchte ich Traddles auf, der jetzt im Dachgiebel eines Hauses in Holborn, Castlestreet, wohnte. Ich nahm Mr. Dick mit, der mich schon zweimal nach Highgate begleitet und seine Bekanntschaft mit dem Doktor wieder erneuert hatte.

Ich nahm ihn mit, weil er, das Mißgeschick meiner Tante lebhaft mitfühlend und von dem aufrichtigen Glauben durchdrungen, daß kein Galeerensträfling angestrengter arbeiten könnte als ich, anfing, Laune und Appetit zu verlieren aus Kummer, nichts Nützliches zu tun zu haben. In dieser Verfassung war er unfähiger als je, die Denkschrift zu Ende zu bringende angestrengter er daran arbeitete, desto öfter kam der unglückselige König Karl I. hinein. Von ernster Besorgnis erfüllt, daß seine Krankheit sich verschlimmern könnte, wenn wir ihn nicht durch eine unschuldige Täuschung glauben machten, daß er für uns von Nutzen sein könnte, hatte ich mich entschlossen Traddles zu fragen, ob er nicht Hilfe wüßte. Ehe ich hinging, setzte ich ihm das Geschehene ausführlich auseinander, und Traddles schrieb mir einen prachtvollen Brief zurück, in dem er mich seiner vollsten Teilnahme und unwandelbaren Freundschaft versicherte.

Wir fanden ihn, erquickt durch den immerwährenden Anblick des Blumentopfs und des kleinen runden Tisches, in einer Ecke des Zimmers eifrig am Schreibtisch beschäftigt. Er empfing uns mit offenen Armen, und seine Freundschaft mit Mr. Dick war im Nu geschlossen. Mr. Dick gab seiner festen Überzeugung Ausdruck, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, und wir beide sagten dazu: »Sehr wahrscheinlich!«

Das erste, worüber ich Traddles zu Rate zog, war folgendes: Mir war bekannt, daß viele Leute, die sich später auf den verschiedensten Gebieten ausgezeichnet, ihre Laufbahn mit Berichterstatten über die Parlamentsdebatten begonnen hatten. Ich wußte, daß Traddles die Zeitungskarriere als eine seiner Hoffnungen im Auge hatte, und so bat ich ihn um Rat. Er sagte mir, daß die rein mechanische Kunst der Kammerstenographie fast ebenso schwer sei wie das Erlernen von sechs Sprachen und daß man dazu bei großer Ausdauer immerhin ein paar Jahre brauche. Er meinte natürlich, daß das genüge, um mich von meinem Entschluß abzubringen, aber ich sah nichts als die Möglichkeit, hier einige Bäume im Walde der Hindernisse niederzuhauen, und beschloß sofort, mir meinen Weg zu Dora durch dieses Dickicht zu bahnen.

»Ich bin dir sehr verpflichtet, lieber Traddles,« sagte ich. »Ich werde morgen anfangen.«

Traddles machte ein erstauntes Gesicht, denn er wußte noch nichts von meiner begeisterten Stimmung.

»Ich werde mir ein gutes Lehrbuch der Stenographie kaufen und mich damit in den Commons beschäftigen, wo ich wenig genug zu tun habe; ich werde zu meiner Übung die Reden in unserm Gerichtshof mitschreiben, lieber Freund, und werde es schon lernen.«

»Mein Gott«, sagte Traddles und riß die Augen auf, »ich wußte gar nicht, daß du so ein entschlossener Charakter bist, Copperfield.«

Wie hätte er es auch wissen können, war es mir doch selbst neu genug. Ich ging jedoch darüber hinweg und brachte Mr. Dick aufs Tapet.

»Ach, wenn ich irgend etwas tun könnte, Mr. Traddles«, fiel Mr. Dick betrübt ein, – »wenn ich die Pauke schlagen könnte oder irgendein Instrument blasen!«

Der Ärmste! Ich zweifle nicht, daß er eine solche Beschäftigung jeder andern vorgezogen haben würde.

Traddles, der um nichts in der Welt die Miene verzogen hätte, erwiderte ruhig:

»Sie schreiben doch eine sehr hübsche Handschrift, Sir. Sagtest du es mir nicht, Copperfield?«

»Eine wunderschöne«, bestätigte ich. Und das war auch der Fall; er schrieb ungewöhnlich sauber und hübsch.

»Könnten Sie nicht vielleicht Akten kopieren, wenn ich Ihnen welche verschaffte?«

Mr. Dick sah mich fragend an. »Was glaubst du, Trotwood?«

Ich schüttelte den Kopf. Mr. Dick schüttelte auch den Kopf und seufzte. »Sag ihm das von der Denkschrift, Trotwood«, bat er mich.

Ich setzte Traddles auseinander, daß es sehr schwer sei, König Karl I. aus Mr. Dicks Manuskripten fernzuhalten, und Mr. Dick hörte zu, sah Traddles ehrerbietig und ernsthaft dabei an und lutschte an seinem Daumen.

»Aber die Akten, die ich meine, sind ja schon ganz fertig und brauchen bloß abgeschrieben zu werden«, sagte Traddles nach einer Weile Nachdenkens. »Mr. Dick hat mit dem Inhalt nichts zu schaffen. Würde das nicht einen Unterschied machen, Copperfield? Sollte man es nicht auf alle Fälle versuchen?«

Das flößte uns neue Hoffnung ein; Traddles und ich streckten die Köpfe zusammen, während uns Mr. Dick von seinem Stuhle aus besorgt beobachtete, und heckten einen Plan aus, der sich schon am nächsten Tag als unerwartet erfolgreich erwies.

Auf einem Tisch am Fenster in der Buckingham Straße legten wir ihm die von Traddles verschaffte Arbeit, darin bestehend, daß er eine Anzahl Kopien eines gerichtlichen Dokuments über ein Wegerecht anzufertigen hatte, – vor, und auf den Tisch daneben legten wir das letzte unvollendete Original der großen Denkschrift. Wir belehrten Mr. Dick, daß er genau abzuschreiben habe, was vor ihm lag, ohne im geringsten vom Inhalt der Akten abzuweichen. Dagegen müsse er sich schleunigst zur Denkschrift verfügen, wenn er sich gedrungen fühlen sollte, König Karl I. auch nur im mindesten zu erwähnen. Wir ermahnten ihn, darin unerbittlich zu sein, und ließen meine Tante bei ihm sitzen, damit sie ihn bewachte.

Sie erzählte uns später, daß er sich zuerst wie jemand, der mehrere Instrumente zugleich spielen müßte, benommen und seine Aufmerksamkeit beständig zwischen den beiden Tischen geteilt habe, bald aber dabei sehr müde geworden sei und seine Abschrift gehörig und in ordentlicher geschäftsmäßiger Weise vorgenommen, die Denkschrift hingegen auf eine passendere Zeit verschoben habe. Mit einem Wort, er hatte bereits am Samstag abend der nächsten Woche, obgleich wir Sorge trugen, daß er sich nicht überarbeitete, zehn Schilling neun Pence verdient.

Mein Leben lang werde ich nicht vergessen, wie er in allen Läden der Nachbarschaft herumlief, um seinen Schatz in Sixpencestücke umzuwechseln, und sie meiner Tante auf einem Teller in der Form eines Herzens zusammengelegt mit Tränen der Freude und des Stolzes in den Augen brachte. Er stand von dem Augenblicke an, wo er nützlich beschäftigt war, wie unter dem Einfluß eines Zaubers. Und wenn es an jenem Samstagabend einen glücklichen Menschen auf der Welt gab, so war es dieses dankbare Geschöpf, das meine Tante für die wunderbarste Frau der Schöpfung und mich für den wunderbarsten jungen Mann hielt.

»Jetzt ist es mit der Hungersnot vorbei, Trotwood«, sagte Mr. Dick, als er mir in der Ecke des Zimmers die Hand schüttelte. »Ich werde für sie sorgen, Sir!« und er fuhr mit den zehn Fingern in der Luft herum, als ob der Raum voll Goldstücke hinge.

Ich weiß kaum, wer sich mehr freute, Traddles oder ich. »Ich habe wahrhaftig Mr. Micawber ganz darüber vergessen«, sagte Traddles plötzlich, zog einen Brief aus der Tasche und gab ihn mir.

Der Brief – Mr. Micawber ließ nie die geringste Gelegenheit zu schreiben vorübergehen – war an mich adressiert:

»Durch gütige Vermittlung von T. Traddles, Hochgeboren, vom innern Juristenkollegium.« Er lautete:

Mein lieber Copperfield!

Sie sind vielleicht nicht ganz unvorbereitet auf die Nachricht, daß sich etwas gefunden hat. Ich erwähnte wohl schon bei einer früheren Gelegenheit, daß ich ein solches Ereignis erwartete. Ich stehe im Begriffe, mich in einer Provinzstadt unserer grünen Insel, die mit Recht als eine glückliche Mischung des ackerbautreibenden und des geistlichen Standes bezeichnet werden kann, in unmittelbarer Beziehung zu einem der gelehrten Berufsfächer niederzulassen, Mrs. Micawber und unsere Sprößlinge werden mich begleiten. In einer spätern Epoche wird unsere Asche wahrscheinlich vermischt gefunden werden mit der heiligen Erde des Friedhofs in der Nähe des ehrwürdigen Doms, durch den die von mir erwähnte Stadt einen Ruf erlangt hat, der, wie ich wohl sagen darf, von China bis Peru reicht.

Indem ich von dem modernen Babylon scheide, wo wir so manchen Schicksalswechsel – wie ich hoffe, ehrenhaft – ertragen haben, können Mrs. Micawber und ich uns nicht verhehlen, daß wir jetzt für Jahre und vielleicht für immer von einem Wesen scheiden, das durch starke Bande an den Altar unseres häuslichen Lebens gefesselt ist. Wenn Sie am Vorabend eines solchen Abschieds unseren gemeinsamen Freund, Mr. Thomas Traddles, in unsere gegenwärtige Heimstätte begleiten und dort die einer solchen Gelegenheit angemessenen Wünsche austauschen wollen, so werden Sie unendlich verpflichten einen, der sich immer nennen wird

Ihr
    Wilkins Micawber

Ich war froh, daß Mr. Micawber nicht mehr von Asche und Staub reden mußte und endlich wirklich etwas gefunden hatte. Da ich von Traddles erfuhr, daß die Einladung für den heutigen Abend galt, nahm ich sie an, und wir gingen zusammen nach der Wohnung, die Mr. Micawber unter dem Namen Mr. Mortimer innehatte und die am untern Ende von Grays-Inn-Road lag.

Die Räume dieser Wohnung waren so beschränkt, daß die Zwillinge – jetzt acht oder neun Jahre alt – in einem Klappbett im Familienzimmer schliefen, wo Mr. Micawber in einem Waschtischkruge ein Gebräu des angenehmen Getränks, wegen dessen er sich eines so großen Rufes erfreute, vorbereitet hatte. Es machte mir ein besonderes Vergnügen, bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft Master Micawbers, der jetzt zu einem vielversprechenden Knaben von zwölf oder dreizehn Jahren herangewachsen und mit jener Ruhelosigkeit der Glieder, die bei Jünglingen seines Alters kein allzu seltenes Phänomen ist, behaftet war, zu erneuern. Ich sah auch seine Schwester wieder, Miss Micawber, in der, wie Mr. Micawber uns sagte, seine Gattin, dem Phönix gleich, wiederauflebte.

»Mein lieber Copperfield«, begann Mr. Micawber, »Sie und Mr. Traddles finden uns im Begriffe, unsere Pilgerfahrt anzutreten, und werden gewiß die kleinen Unannehmlichkeiten, die von einem solchen Zustand unzertrennlich sind, entschuldigen.«

Ich sah mich um, während ich in entsprechender Weise antwortete, und bemerkte, daß die Familieneffekten, in keiner Hinsicht verwirrend umfangreich, bereits gepackt zur Reise bereit standen.

Ich wünschte Mrs. Micawber zur bevorstehenden Veränderung viel Glück.

»Mein lieber Mr. Copperfield«, sagte sie. »Von Ihrer freundlichen Teilnahme an allen unseren Schicksalen bin ich fest überzeugt. Meine Familie mag es meinetwegen als Verbannung betrachten, aber ich bin Gattin und Mutter und werde Mr. Micawber nie verlassen.«

Traddles, auf dem Mrs. Micawbers Auge ruhte, stimmte gefühlvoll bei.

»Das wenigstens«, sagte Mrs. Micawber, »ist meine Ansicht von der Pflicht, die ich übernahm, als ich die unwiderruflichen Worte wiederholte: ›Ich Emma nehme dich Wilkins‹. Ich las die Trauungsformel gestern abend bei Kerzenschimmer durch und bin zu dem Schlusse gekommen, daß ich Mr. Micawber nie verlassen kann, und«, setzte sie hinzu, »wenn ich mich auch in meiner Auffassung der kirchlichen Zeremonie irren kann, so werde ich ihn trotzdem nie verlassen.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber etwas ungeduldig, »es hat doch niemand von dir etwas anderes erwartet.«

»Ich bin mir bewußt, mein lieber Mr. Copperfield«, fuhr Mrs. Micawber fort, »daß mich jetzt das Schicksal mitten unter Fremde versetzt, und weiß auch, daß die verschiedenen Mitglieder meiner Familie, denen Mr. Micawber in der höflichsten Weise von der Welt die Angelegenheit anzeigte, nicht die mindeste Notiz von seiner Mitteilung genommen haben. Es mag Aberglaube sein, aber es scheint mir Mr. Micawbers Fatum zu sein, daß er niemals Antworten auf den größten Teil der Mitteilungen, die er schreibt, erhält. Aus dem Stillschweigen meiner Familie bin ich berechtigt zu mutmaßen, daß sie gegen meinen Entschluß Einwendungen erhebt, aber ich würde mich von dem Pfade der Pflicht selbst nicht von Papa und Mama, wenn sie noch am Leben wären, abbringen lassen.«

Ich sprach mich dahin aus, daß auch ich das für die einzige richtige Art hielte.

»Es ist vielleicht ein Opfer, sich in einer Episkopalstadt einzukerkern«, sagte Mrs. Micawber, »aber wenn es für mich ein Opfer bedeutet, ein wieviel größeres ist es, Mr. Copperfield, für einen Mann von meines Gatten Fähigkeiten!«

»O, Sie ziehen in eine Episkopalstadt?« fragte ich.

Mr. Micawber, der uns mittlerweile aus dem Waschtischkrug eingeschenkt hatte, erwiderte:

»Nach Canterbury. Die Sache ist die, lieber Copperfield. Ich habe mich kontraktlich gebunden und mit Handschlag verpflichtet, unserm gemeinsamen Freunde Heep in der Eigenschaft eines Privatsekretärs beizustehen und zu dienen.«

Ich starrte Mr. Micawber, dem meine Überraschung große Freude machte, erstaunt an.

»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen«, fuhr er mit wichtiger Miene fort, »daß Mrs. Micawbers Geschäftskenntnis und kluge Ratschläge in hohem Maße zu diesem Ausgang beigetragen haben. Der Fehdehandschuh, dessen Mrs. Micawber bereits bei einer früheren Gelegenheit Erwähnung tat, wurde in Form einer Annonce hingeworfen. Mein Freund Heep hob ihn auf, und so kam eine Zusammenkunft zustande. Von meinem Freunde Heep, der ein Mann von bemerkenswertem Scharfblick ist, möchte ich nur mit der allergrößten Hochachtung sprechen. Mein Freund Heep hat die Remuneration, die ich im voraus verlangte, nicht allzu hoch angesetzt, aber er machte von dem Werte meiner Dienste abhängig, inwieweit er mich vom Druck meiner materiellen Schwierigkeiten erlösen wolle, und auf diesen Wert meiner Dienstleistungen setze ich nun meine Hoffnung. Mein bißchen Geschicklichkeit und Intelligenz«, fügte er mit prahlerischer Bescheidenheit hinzu, »werde ich meinem Freunde Heep zur Verfügung stellen. Ich habe bereits einigen Einblick in die Jurisprudenz gewonnen – als Beklagter im Zivilprozeß – und werde mich ohne Verzug in die Kommentare des hervorragendsten und bemerkenswertesten unserer englischen Juristen vertiefen. Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß ich den Richter Blackstone meine.«

Ich saß die ganze Zeit über da, bestürzt über Mr. Micawbers Mitteilungen und außerstande, mir sie zu erklären, bis Mrs. Micawber den Faden des Gesprächs aufnahm.

»Auf eines vorzüglich möchte ich Mr. Micawbers Aufmerksamkeit lenken«, sagte sie. »Er darf sich während seiner Beschäftigung mit diesen untergeordneten Zweigen der Jurisprudenz in keiner Hinsicht der Möglichkeit berauben, später den Gipfel des Baumes erklimmen zu können. Ich bin fest überzeugt, daß, wenn Mr. Micawber sich mit ganzer Seele einem Beruf widmet, der seinen reichen Fähigkeiten und seiner fließenden Rednergabe so angemessen erscheint, er sich darin auszeichnen muß. Ich denke an die Stellung eines Richters oder eines Kanzlers. Schließt sich ein Individuum, ich frage Sie, Mr. Traddles, durch die Annahme einer Stelle, wie sie Mr. Micawber in Kürze bekleiden wird, dadurch von vorneherein von der Möglichkeit aus, zu einem der soeben genannten Posten befördert zu werden?«

»Meine Liebe«, bemerkte Mr. Micawber, nicht ohne ebenfalls einen fragenden Blick auf Traddles zu werfen, »zur Erörterung solcher Punkte haben wir wahrlich noch Zeit genug.«

»Micawber«, entgegnete sie, »nein! Du hast von jeher den Fehler im Leben begangen, daß du nicht weit genug in die Zukunft blicktest. Deiner Familie, wenn nicht dir selbst, bist du es schuldig, auch die entlegensten Punkte am Rande des Horizontes, bis zu dem dich deine Fähigkeiten führen können, ins Auge zu fassen.«

Mr. Micawber hustete und trank seinen Punsch mit einer Miene außerordentlicher Befriedigung aus, – blickte aber dabei immer noch fragend auf Traddles.

»Die Sache liegt einfach so, Mrs. Micawber«, erklärte Traddles, bemüht, ihr so schonend wie möglich die nötige Aufklärung beizubringen, »ich meine die wirkliche prosaische Tatsache, Sie verstehen –«

»Ganz recht«, sagte Mrs. Micawber, »mein lieber Mr. Traddles. Auch mein Wunsch ist es, hinsichtlich eines so hochwichtigen Gegenstandes so prosaisch und buchstäblich wie möglich zu Rate zu gehen.«

»Die wirkliche prosaische Tatsache liegt so«, fuhr Traddles fort, »daß dieser Zweig der juristischen Laufbahn, selbst wenn Mr. Micawber ein wirklicher Anwalt wäre –«

»Ganz recht«, unterbrach Mrs. Micawber.

»– damit gar nichts zu tun hat. Nur ein Rechtsgelehrter ist zu diesen Ämtern wählbar. Und Mr. Micawber kann nicht eher Rechtsgelehrter werden, ehe er nicht fünf Jahre Jus studiert hat.«

»Verstehe ich recht?« fragte Mrs. Micawber mit ihrer leutseligsten Geschäftsmiene, »verstehe ich Sie recht, lieber Mr. Traddles, daß nach Ablauf dieser Zeit Mr. Micawber als Richter oder Kanzler wählbar wäre?«

»Er wäre wählbar«, sagte Mr. Traddles und legte großen Nachdruck auf das letzte Wort.

»Ich danke Ihnen! Das genügt vollkommen. Wenn das der Fall ist und Mr. Micawber durch den Antritt seines neuen Amtes kein Recht aufgibt, so bin ich beruhigt. Ich spreche natürlich als Frau, aber ich bin von jeher der Meinung gewesen, daß Mr. Micawber das besitzt, was mein Papa ein juristisches Talent nannte. Und ich hoffe, Mr. Micawber betritt jetzt eine Laufbahn, wo sich diese Gabe entwickeln und ihm eine einflußreiche Stellung sichern wird.«

Mr. Micawber sah sich offenbar bereits am Ziele der Richterkarriere. Er strich sich mit der Hand wohlgefällig über den kahlen Kopf und sagte mit deutlich zur Schau getragener Resignation:

»Meine Liebe, wir wollen den Ratschlüssen des Schicksals nicht vorgreifen. Wenn es mir bestimmt ist, eine Richter-Perücke zu tragen, so bin ich wenigstens äußerlich auf diese Auszeichnung vorbereitet. Ich beklage den Verlust meines Haares nicht; wer weiß, ob ich nicht zu einem besonderen Zweck dessen beraubt wurde. – Es ist nebenbei bemerkt meine Absicht, lieber Copperfield, meinen Sohn für die Kirche zu erziehen, und ich will nicht leugnen, daß es mich seinetwegen glücklich machen würde, wenn ich zu bedeutender Stellung gelangte.«

»Für die Kirche?« fragte ich zerstreut, da ich immerwährend an Uriah Heep denken mußte.

»Ja«, sagte Mr. Micawber, »er hat eine sehr bemerkenswerte Kopfstimme und wird seine Laufbahn als Chorknabe beginnen. Unser Aufenthalt in Canterbury und unsere Konnexionen dortselbst werden ihn unzweifelhaft instand setzen, die erste sich bietende Stelle im Domchor zu erhalten.«

Als ich Master Micawber ansah und er uns, ehe er schlafen ging, das Lied vorsang: »Es klopft der Specht«, da schien es wirklich, als ob seine Stimme zwischen seinen Augenbrauen stäke und von dort ausginge. Er erntete viel Beifall, und dann wendete sich das Gespräch auf allgemeinere Themen. Meine veränderten Verhältnisse erfüllten mich zu sehr, als daß ich sie hätte für mich behalten können. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie außerordentlich entzückt Mr. und Mrs. Micawber waren, als sie von den Verlegenheiten meiner Tante erfuhren, und wie sehr es zur Vermehrung ihrer freundschaftlichen Stimmung beitrug.

Als es mit dem Punsch ziemlich auf die Neige ging, erinnerte ich Traddles, daß wir uns nicht trennen dürften, ohne unsern Freunden Gesundheit, Glück und Erfolg auf ihrer neuen Laufbahn zu wünschen. Ich bat Mr. Micawber unsere Gläser zu füllen und brachte den Toast in angemessener Form aus, worauf ich ihm über den Tisch die Hände schüttelte und zur Feier des großen Ereignisses Mrs. Micawber küßte. Im ersten Punkte ahmte mir Traddles nach. Hinsichtlich des zweiten hielt er seine freundschaftlichen Beziehungen nicht für alt genug, um es zu wagen.

»Mein lieber Copperfield«, antwortete Mr. Micawber, indem er aufstand, die Daumen in den Westentaschen, »Gefährte meiner Jugend, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, und mein geschätzter Freund Traddles – wenn es mir gestattet ist, ihn so zu nennen, Sie werden mir beide erlauben, Ihnen im Namen Mrs. Micawbers, meiner selbst und unserer Sprößlinge in wärmster und rückhaltlosester Weise für Ihre guten Wünsche zu danken. Man dürfte mit Recht erwarten, daß ich am Vorabende einer Wanderung, die uns zu einem ganz neuen Dasein führen wird«, – er redete, als ob er fünfhunderttausend Meilen reisen sollte – »einige Bemerkungen zum Abschied zwei solchen Freunden gegenüber machen würde, aber alles, was ich in diesem Sinn zu sagen hatte, ist bereits gesagt worden. Welche Stellung in der Gesellschaft ich auch immer auf dem Umwege über den gelehrten Beruf, dessen unwürdiges Mitglied ich zu werden im Begriff stehe, erklimmen werde, ich werde stets bemüht sein, ihr keine Schande zu machen, und Mrs. Micawber wird ihr in jeder Beziehung zur Zierde gereichen. Unter dem Druck vorübergehender pekuniärer Verbindlichkeiten, die ich mit der Absicht einging, sie sofort zu tilgen, doch leider daran durch eine Verkettung von Umständen verhindert war, habe ich mich genötigt gesehen, eine Tracht anzulegen, die meinen natürlichen Gefühlen widerstrebt – ich meine die Brille –, und einen Namen anzunehmen, auf den ich keinerlei gerechtfertigte Ansprüche besitze. Alles, was ich in dieser Beziehung zu sagen habe, ist, daß die Wolken über dem Schauplatz der Trostlosigkeit gewichen sind und daß der Gott des Tages abermals hoch über dem Bergesgipfel strahlt. Nächsten Montag mit Ankunft der Nachmittagpost berührt mein Fuß in Canterbury die heimatliche Heide, und mein Name wird wieder Micawber sein.«

Nach diesen Worten nahm Mr. Micawber seinen Platz wieder ein und trank mit gewichtigem Ernst zwei Gläser Punsch hintereinander. Dann sprach er feierlich:

»Noch eins bleibt mir zu tun, ehe diese Trennung vor sich geht, und zwar eine Tat, die das Billigkeitsgefühl von mir fordert. Mein Freund Mr. Thomas Traddles hat mir bei zwei verschiedenen Gelegenheiten mit seinem Wechselgiro ausgeholfen. Bei der ersten Gelegenheit ließ ich Mr. Thomas Traddles, lassen Sie es mich kurz sagen, – in der Tinte. Die Verfallzeit des zweiten ist noch nicht abgelaufen. Der Betrag der ersten Verbindlichkeit« – hier sah Mr. Micawber mit prüfendem Blick in sein Notizbuch – »war, wenn ich nicht irre, 23 £ 4 sh. 9½, der des zweiten 18?6?2, diese Summen machen zusammen, wenn ich nicht irre, 41 £ 10 sh. 11½. Mein Freund Copperfield wird vielleicht die Güte haben, es nachzurechnen.«

Ich tat es, und es stimmte.

»Diese Metropole und meinen Freund Mr. Thomas Traddles zu verlassen«, sagte Mr. Micawber, »ohne mich des pekuniären Teils meiner Verpflichtungen entledigt zu haben, würde wie eine unerträgliche Last auf meinen Geist drücken. Ich habe daher für meinen Freund Mr. Thomas Traddles dieses Dokument hier, das den gewünschten Zweck erfüllt, entworfen. Ich erlaube mir, meinem Freunde Mr. Thomas Traddles einen Schuldschein mit meiner Unterschrift über 41 £ 10 sh 11½ zu überreichen, und schätze mich glücklich, meine sittliche Würde gewahrt zu haben und zu wissen, daß ich jetzt wieder mit erhobenem Haupte vor meine Mitmenschen hintreten kann.«

Mit diesen Geleitworten legte er seinen Schuldschein in Traddles Hände und fügte hinzu, daß er ihm in allen Lebenslagen viel Glück und jedmöglichen Erfolg wünsche. Ich bin überzeugt, daß nicht nur er das Gefühl hatte, seine Schuld bar bezahlt zu haben, sondern auch, daß Traddles selbst den Unterschied nicht sogleich begriff.

Er fühlte sich auf seine Handlungsweise so stolz, daß seine Brust noch einmal so breit aussah, als er uns die Treppen hinableuchtete. Wir schieden beiderseits mit großer Herzlichkeit, und als ich Traddles nach Hause begleitet hatte und heimwärts ging, dachte ich mir des öfteren, daß ich es wohl nur den Erinnerungen an die Zeit, wo ich bei Mr. Micawber als Knabe gewohnt, verdankte, daß er mich nie um Geld ansprach, so leichtsinnig er auch sonst mit dem anderer Leute umging.

Ich hätte gewiß nicht den Mut gehabt, ihm eine Bitte abzuschlagen, und ich bezweifle nicht, – zu seiner Ehre sei es gesagt – daß er das ebenso genau wußte wie ich.

37. Kapitel Eine kalte Dusche


37. Kapitel Eine kalte Dusche

Mein neues Leben hatte schon länger als eine Woche gedauert und ich war stärker als je in den furchtbar praktischen Entschlüssen, die die Krisis erforderte. Ich fuhr fort, raschen Schrittes zu gehen, und lebte beständig unter dem Gedanken, daß ich vorwärtskäme. Ich machte es mir zur Pflicht, mich in allem, was ich tat, so viel anzustrengen, wie ich nur irgend konnte. Ich verfiel sogar auf den Gedanken, mich auf vegetarische Diät zu setzen, wahrscheinlich von der dunkeln Ahnung erfüllt, daß ich Dora ein Opfer brächte, wenn ich mich zu einem pflanzenfressenden Lebewesen entwickelte.

Noch hatte Dora keine Ahnung von meiner verzweifelten Entschlossenheit, die nur in meinen Briefen gewisse dunkle Schatten vorauswarf. Aber es kam ein Samstag heran, und an diesem Samstagabend sollte sie bei Miss Mills sein; wenn Mr. Mills in seinen Whistklub gegangen sein würde – was man mir durch das Aufstellen eines Vogelkäfigs im Mittelfenster des Gesellschaftszimmers auf die Straße telegraphieren wollte –, sollte ich zum Tee hinkommen.

Um diese Zeit herum hatten wir uns in der Buckingham-Straße ganz eingewohnt, und Mr. Dick fuhr fort, in einem Zustand ungestörter Glückseligkeit abzuschreiben. Meine Tante hatte einen entscheidenden Sieg über Mrs. Crupp erfochten, indem sie sie ablohnte, den ersten auf die Treppe gestellten Wasserkrug zum Fenster hinauswarf und eine Zugeherin, die wir aufgenommen hatten, in eigner Person zum Schutze die Treppen auf und ab geleitete. Diese energischen Maßregeln erfüllten Mrs. Crupps Brust mit solchem Entsetzen, daß sie sich, in der Meinung, meine Tante sei verrückt geworden, stets in ihre Küche flüchtete, wenn sie sie kommen sah. Da meiner Tante Mrs. Crupps Meinung ebenso wie die irgend jemand andern vollständig gleichgültig war, so wurde die früher so kühne Mrs. Crupp in wenigen Tagen derart mutlos, daß sie es vorzog, ihre stattliche Gestalt hinter Türen zu verstecken – wobei jedoch immer ein breiter Rand des flanellnen Unterrocks vorguckte – oder sich in dunkle Ecken zu drücken, wenn meine Tante in der Nähe erschien. Dies bereitete meiner Tante ein so außerordentliches Vergnügen, daß ich glaube, sie stürmte nur die Treppe auf und ab, den Hut schief aufgesetzt, um Mrs. Crupp ununterbrochen in Schrecken zu erhalten.

Da sie ungewöhnlich ordnungsliebend und erfinderisch war, nahm sie in meiner Haushaltung so viel kleine Verbesserungen vor, daß es den Anschein hatte, als seien wir reicher statt ärmer geworden. Unter anderm verwandelte sie die Speisekammer in eine Garderobe für mich und kaufte mir eine Bettstelle, die zur Tageszeit einem Bücherschrank so ähnlich sah, wie es ein Bett nur konnte. Ich war der Mittelpunkt ihrer beständigen Sorgfalt, und meine arme Mutter selbst hätte mich nicht lieber haben und sich mehr um mich kümmern können.

Peggotty fühlte sich außerordentlich geehrt, daß sie an diesen Arbeiten teilnehmen durfte, und obgleich ihr immer noch etwas von der alten Scheu vor meiner Tante anhaftete, so hatte ihr diese doch so viele Beweise von aufmunternder Leutseligkeit und Vertrauen gegeben, daß sie die besten Freunde geworden waren. An dem Samstagabend, als ich zum Tee bei Miss Mills erwartet wurde, war gerade die Zeit gekommen, wo Peggotty heimfahren mußte, um ihren Pflichten gegenüber Ham nachzukommen.

»So leben Sie denn wohl, Barkis«, sagte meine Tante, »und nehmen Sie sich gut in acht. Ich hätte wahrhaftig nie gedacht, daß es mir so leid tun würde, Sie zu verlieren.«

Ich begleitete Peggotty auf die Station und sah sie fortfahren. Sie weinte beim Abschied und legte mir ihren Bruder ans Herz, so wie damals Ham. Wir hatten seit jenem sonnigen Nachmittag nichts mehr wieder von ihm gehört.

»Und jetzt, mein einziger lieber Davy«, bat sie mich, »noch eins! Wenn du Geld brauchst während deiner Lehrzeit oder später, um dich zu etablieren, so hat gewiß niemand ein so gutes Recht, dich zu bitten, es dir leihen zu dürfen, als meines lieben guten Mädels alte dumme Peggotty.«

Ich ließ nicht nach, ich mußte es ihr versprechen. Nur die sofortige Annahme einer großen Summe, glaube ich, hätte sie noch glücklicher gemacht.

»Und noch eines, liebes Kind«, flüsterte sie mir zu. »Sag dem hübschen kleinen Engel, daß ich sie so gern nur eine einzige Minute gesehen hätte. Und sage ihr, daß ich dein Haus gar so gern schön herrichten möchte, bevor sie mein Liebling heiratet, wenn sie es mir erlaubt.«

Ich versicherte ihr, daß niemand anders es anrühren dürfte, und darüber freute sie sich so sehr, daß sie in bester Laune wegfuhr.

Ich mühte mich soviel ich konnte den Tag über in den Commons auf die verschiedenartigste Weise ab und begab mich zur festgesetzten Stunde abends in die Straße, wo Miss Mills wohnte. Ihr Vater, der entsetzlich lang nach dem Essen zu schlafen pflegte, war noch nicht fort, und im Mittelfenster hing noch immer kein Vogelbauer.

Endlich trat Mr. Mills aus der Türe, und ich sah, wie Dora selbst den Käfig aufhängte und über den Balkon nach mir ausspähte und wieder hineinlief, als sie mich erblickte, während Jip draußen blieb und auf einen riesenhaften Fleischerhund herausfordernd herunterbellte, der ihn wie eine Pille hätte verschlucken können.

Dora kam mir an der Salontür entgegen, und Jip kam herausgesprungen und verschluckte sich über sein Geknurr, als er sah, daß ich kein Einbrecher war, und wir alle drei begaben uns so glücklich und voll Liebe wie nur möglich ins Zimmer. Ich vernichtete – gewiß nicht in böser Absicht, aber mich erfüllte das Thema so sehr – im Nu die freudige Stimmung, indem ich Dora, ohne sie im mindesten vorzubereiten, fragte, ob sie einen Bettler lieben könnte.

Die hübsche kleine Dora, wie erschrocken sie war! Ihr einziger Gedanke bei den Worten mußte ein gelbes Gesicht und ein grüner Augenschirm oder ein paar Krücken, ein Holzbein oder ein Hund mit einer blechernen Schale im Maul oder etwas der Art gewesen sein, denn sie starrte mich mit einem ganz allerliebst verwunderten Gesicht an.

»Wie kannst du nur so etwas Albernes fragen!« schmollte sie. »Einen Bettler lieben!!«

»Dora, mein Herzensschatz«, sagte ich, »ich bin ein Bettler.«

»Wie kannst du so albern sein«, und sie schlug mir auf die Hand, »hier sitzen und mir solche Geschichten erzählen! Warte, Jip soll dich beißen.«

Ihr kindisches Wesen war mir das köstlichste auf der Welt, aber ich mußte mich ihr doch deutlicher machen und so wiederholte ich feierlich:

»Dora, mein Herz, ich bin dein zugrunde gerichteter David.«

»Warte nur, Jip wird dich schon beißen«, sagte sie und schüttelte ihre Locken; »wenn du nicht mit dem dummen Zeug aufhörst.«

Aber ich machte ein so ernstes Gesicht, daß sie endlich aufhörte ihre Locken zu schütteln, ihre kleine Hand zitternd auf meine Schulter legte, zuerst erschrocken und besorgt dreinsah und dann anfing zu weinen.

Es war schrecklich. Ich fiel vor dem Sofa auf die Knie nieder, liebkoste sie und bat sie, mir nicht das Herz zu zerreißen. Aber eine lange Zeit konnte die arme kleine Dora bloß ausrufen: »O Gott, o Gott, wie erschrocken bin ich, wo ist Julia Mills? Führe mich zu Julia Mills und geh, geh, ich bitte dich«, bis ich fast von Sinnen war.

Endlich nach vielen Bitten und Beteuerungen brachte ich sie dazu, mich mit ihrem entsetzten Gesicht anzusehen, und es gelang mir ihr Grauen zu mildern, bis sie mich nur mehr liebend ansah und ihre weiche Wange an meiner ruhte. Dann sagte ich ihr, während ich sie mit meinen Armen umschlungen hielt, wie sehr und innig ich sie liebte, sie aber von ihrem Versprechen entbinden müßte, weil ich jetzt arm sei, und daß ich es kaum ertragen würde, wenn ich sie verlieren müßte. Ich für meinen Teil fürchte mich nicht vor der Armut, wenn sie es nicht täte, denn mein Arm und mein Herz würden durch den Gedanken an sie gestählt. Ich erzählte ihr, wie ich schon jetzt mit einem Mute arbeitete, den nur Liebende kennen, schon viel praktischer geworden sei und für die Zukunft sorge. Ein sauer verdienter Bissen Brot sei süßer als ein geerbtes Festgelage. Noch vieles Ähnliche sagte ich ihr und gab es mit einer leidenschaftlichen Beredsamkeit zum besten, die mich ganz überraschte, obgleich ich Tag und Nacht, seit mir meine Tante die Hiobsbotschaft gebracht, an weiter nichts gedacht hatte.

»Ist dein Herz noch immer mein, Dora?« fragte ich begeistert, denn ihr zärtliches Anschmiegen verriet es mir.

»O ja!« rief Dora. »O ja. Es ist ganz dein. O, sei nur nicht so schrecklich.«

»Ich schrecklich! Meiner Dora schrecklich!«

»Sprich nicht von Armsein und harter Arbeit«, sagte Dora und schmiegte sich noch dichter an mich. »O bitte, bitte nicht!«

»Mein teuerstes Herz, der wohlverdiente Bissen Brot –«

»Ja, ja, aber ich mag nichts mehr vom Bissen Brot hören, und Jip muß jeden Mittag Schlag zwölf Uhr ein Hammelkotelett bekommen oder er stirbt.«

Ich war ganz bezaubert von ihrer kindischen entzückenden Weise. Ich versicherte ihr unter Liebkosungen, daß Jip sein Hammelkotelett mit der gewohnten Regelmäßigkeit bekommen sollte. Ich malte unsere bescheidne Häuslichkeit aus und benutzte dazu das kleine Haus, das ich in Highgate gesehen, und wies meiner Tante das obere Zimmer an.

»Bin ich dir noch schrecklich, Dora?« fragte ich dann zärtlich.

»O nein, nein«, schluchzte Dora. »Aber ich hoffe, deine Tante wird hübsch in ihrem Zimmer bleiben. Hoffentlich ist sie keine keifende Alte.«

Hätte ich mich noch mehr in Dora verlieben können, so wäre es sicher jetzt der Fall gewesen. Aber ich fühlte, daß sie doch zu wenig praktisch war. Es kühlte meine neugeborne Begeisterung etwas ab, daß ich sie so schwer damit anstecken konnte. Ich versuchte es noch einmal. Als sie wieder ganz zu sich gekommen war und die Ohren Jips, der auf ihrem Schoße lag, um ihre Finger drehte, wurde ich ernst und sagte:

»Mein Schatz, darf ich noch etwas sagen?«

»O bitte, sei nicht praktisch!« sagte sie liebkosend. »Es erschreckt mich so!«

»Mein Liebling, dabei ist doch nichts Erschreckliches. Ich möchte, daß du es nicht in diesem Lichte siehst. Ich möchte dir Kraft geben und dich begeistern, Dora.«

»O, das ist abscheulich!«

»Aber durchaus nicht, mein Herzensschatz. Ausdauer und Charakterstärke befähigen uns, viel Schlimmeres zu ertragen.«

»Aber ich habe gar keine Stärke«, sagte Dora und schüttelte ihre Locken. »Nicht wahr, Jip? O bitte, gib Jip einen Kuß und sei wieder lieb.«

Ich konnte unmöglich widerstehen und mußte Jip küssen, als sie ihn mir hinhielt, ihren eignen rosigen Mund gespitzt, als sie die Zeremonie leitete, und ich küßte ihn, wie sie es wünschte, genau mitten auf die Nase. Ich entschädigte mich dann für meinen Gehorsam, und ihre Liebkosungen ließen mich meinen Ernst eine lange Zeit vergessen.

»Aber meine geliebte Dora«, fing ich endlich wieder an, »ich wollte dir ja etwas sagen.«

Der Richter des Prärogativgerichts hätte sich in sie verlieben müssen, wie sie ihre Hände faltete, sie emporhielt und mich bat und flehte, ja nicht wieder schrecklich zu sein.

»Ich werde es gewiß nicht sein, mein Liebling«, beruhigte ich sie, »aber wenn du manchmal denken wolltest – nicht wie an etwas Entmutigendes, beileibe nicht – aber wenn du manchmal daran denken wolltest, – bloß um dir selbst Mut zu machen, – daß du mit einem armen Menschen verlobt bist –«

»Nicht, nicht! Bitte, nicht! Es ist so schrecklich.«

»Aber durchaus nicht, Herzensschatz«, sagte ich ermunternd. »Wenn du manchmal daran denken und dich dann und wann in deines Papas Haushalt umsehen wolltest und dich ein wenig gewöhntest, vielleicht Rechnung zu führen –«

Die arme, kleine Dora nahm diese Zumutung mit einem Weheruf auf, der halb Seufzer, halb ein Schrei war.

»– so wird das später sehr nützlich sein. Und wenn du mir versprechen wolltest, manchmal ein kleines – ein ganz kleines Kochbuch zu lesen, das ich dir schicken will, so wäre das ausgezeichnet für uns; denn unser Lebenspfad, Dora«, sagte ich und wurde schon wieder bei meinem Thema wärmer, »ist steinig und rauh, und an uns ist es, ihn zu ebnen. Wir müssen uns emporringen! Wir müssen tapfer sein! Es gilt Hindernisse zu überwinden, und wir müssen ihnen entgegentreten und sie niedertreten.«

Ich sprach mit größter Begeisterung mit geballter Faust und höchst enthusiastischer Miene, aber es war ganz unnütz fortzufahren; ich hatte bereits genug gesagt und schon wieder das Schlimmste angerichtet. Dora war außer sich. »Wo ist Julia Mills! Bringe mich zu Julia Mills. Bitte, bitte, geh!« so daß ich ganz von Sinnen kam und im Salon herumraste.

Ich glaubte damals wirklich, ich hätte sie getötet. Ich bespritzte ihr Gesicht mit Wasser, fiel auf die Knie nieder und zerraufte mein Haar. Ich nannte mich einen hartherzigen Barbaren und ein wildes Tier. Ich bat sie um Verzeihung und flehte sie an, mich doch nur anzusehen. Ich wühlte in Miss Mills‘ Arbeitskästchen nach einem Riechfläschchen herum, erwischte in meiner Verzweiflung anstatt dessen eine elfenbeinerne Nadelbüchse und schüttete alle Nadeln über Dora aus. Jip, der ebenso raste wie ich, drohte ich mit der Faust. Ich verübte jede Tollheit, die sich nur verüben ließ, und hatte längst den Verstand verloren, als Miss Mills hereintrat.

»Wer hat das getan!« rief Miss Mills aus, ihrer Freundin zu Hilfe eilend.

»Ich, Miss Mills! Ich habe es getan!« schrie ich. »Sehen Sie sich den Barbaren an!« – Und ich verbarg mein Gesicht in dem Sofakissen vor dem Lichte.

Anfangs glaubte Miss Mills, wir hätten uns gezankt und näherten uns wieder der Wüste Sahara, aber bald erfuhr sie die Wahrheit, denn meine liebe kleine Dora fiel ihr um den Hals und erklärte ihr weinend, ich sei ein armer Arbeiter, und rief dann mich herbei und fiel mir um den Hals und fragte mich, ob sie mir all ihr Geld zum Aufheben geben sollte, und dann sank sie wieder an Miss Mills‘ Brust und schluchzte, als ob ihr zärtliches Herzchen brechen sollte.

Miss Mills war ein wahrer Segen für uns. Mit wenigen Worten erfuhr sie von mir, um was es sich handelte, dann tröstete sie Dora und brachte sie allmählich zu der Überzeugung, daß ich kein Arbeiter sei – aus meiner Erzählung schien Dora geschlossen zu haben, daß ich Mörtelträger sei und den ganzen Tag über mit einem Schubkarren auf einem Brett auf- und abführe –, und stiftete wieder Frieden zwischen uns. Als wir uns ein wenig beruhigt hatten und Dora hinausgegangen war, um sich die Augen mit Rosenwasser zu kühlen, klingelte Miss Mills nach dem Tee. In der Zwischenzeit beteuerte ich ihr, daß sie ewig meine Freundin sein würde und mein Herz zu schlagen aufhören müßte, bevor ich ihre Anteilnahme vergessen könnte.

Dann setzte ich ihr auseinander, was ich mich so ohne allen Erfolg Dora klarzumachen bemüht hatte. Sie stellte fest, daß die Zufriedenheit in der Hütte besser sei als die kalte Pracht des Palastes und daß, wo Liebe wohne, es an nichts fehle.

Ich gab ihr vollkommen recht. Niemand könne das besser wissen als ich, der Dora liebe, wie noch kein Sterblicher geliebt.

Dann fragte ich, ob sie meine Vorschläge hinsichtlich des Haushaltes und des Kochbuchs für praktisch halte oder nicht.

Nach längerer Überlegung erwiderte sie: »Mr. Copperfield, ich will mit Ihnen offen reden. Seelenleiden und Prüfungen ersetzen bei manchen Naturen die Zahl der Jahre, und ich will so aufrichtig gegen Sie sein, als wäre ich eine Äbtissin. Nein, der Rat paßt nicht für Dora! Unsere liebe Dora ist ein Schoßkind der Natur, sie ist wie aus Licht, Luft und Freude gewoben. Ich gestehe recht gern zu, daß der Rat an und für sich gut ist, aber –« Sie schüttelte den Kopf.

Ihre letzten Worte flößten mir den Mut ein, sie zu fragen, ob sie bei Gelegenheit Doras Aufmerksamkeit auf den Ernst des Lebens würde lenken wollen. Sie bejahte so bereitwillig, daß ich weiter fragte, ob sie nicht auch Dora überreden möchte, das Kochbuch anzunehmen. Auch dieses Amt übernahm Miss Mills, machte sich aber nicht allzu große Hoffnungen.

Dora sah so liebreizend aus, als sie zurückkehrte, daß ich mich wirklich mit Zweifel im Herzen fragte, ob man sie mit so etwas Gewöhnlichem belästigen dürfte. Sie liebte mich so sehr und war so entzückend, besonders als sie Jip um Röstschnitten aufwarten ließ und so tat, als ob sie ihm zur Strafe für seinen Ungehorsam seine Nase an die heiße Teekanne hielte, daß ich mir wie eine Art Ungeheuer in einem Feengarten vorkam, wenn ich bedachte, wie ich sie bis zu Tränen erschreckt hatte.

Nach dem Tee nahm sie die Gitarre und sang die hübschen, alten französischen Lieder von der Unmöglichkeit, jemals mit Tanzen aufzuhören, tarala, tarala, bis ich mich noch mehr als Ungeheuer fühlte als vordem.

Nur ein Schatten fiel auf unser Glück und zwar kurz vor meinem Fortgehen, als ich unvorsichtigerweise verlauten ließ, daß ich meiner Arbeiten wegen jetzt um fünf Uhr früh aufstünde. Ob Dora vielleicht glaubte, ich sei Privatnachtwächter, weiß ich nicht, aber jedenfalls machte es einen tiefen Eindruck auf sie, und sie spielte und sang nicht mehr.

Es lag ihr immer noch auf der Seele, als ich Abschied von ihr nahm, und sie sagte zu mir in ihrer entzückenden, liebkosenden Weise wie zu einer Puppe:

»Also steh nicht um fünf Uhr auf, du nichtsnutziger Junge! Es ist doch ein Unsinn.«

»Schatz«, sagte ich, »ich habe zu arbeiten.«

»So tu es nicht. Warum nur?«

Ihrem hübschen verwunderten Gesichtchen konnte man nur scherzend sagen, daß wir arbeiten müßten, um zu leben.

»Ach Gott, wie lächerlich!« rief Dora.

»Aber wie sollen wir denn leben ohne Arbeit, Dora?«

»Wie? Irgendwie!«

Sie schien zu glauben, daß die Frage damit gänzlich aus der Welt geschafft sei, und gab mir einen so triumphierenden Kuß aus ihrem unschuldigen Herzen heraus, daß ich sie nicht um ein Vermögen hätte berichtigen mögen.

Also gut! Ich liebte sie und liebte sie weiter, hingebend und vollkommen, und nur sie. Aber ich fuhr auch fort recht angestrengt zu arbeiten und geschäftig alle Eisen zu schmieden, die ich im Feuer hatte, und manchmal, wenn ich abends meiner Tante gegenübersaß, mußte ich daran denken, wie sehr ich Dora erschreckt hatte; dann grübelte und grübelte ich, wie ich mir am besten meinen Weg durch die Welt – am liebsten mit einem Gitarrenfutteral – bahnen könnte, bis es mir vorkam, daß mein Kopf grau würde.

38. Kapitel Eine Trennung


38. Kapitel Eine Trennung

Ich ließ meinen Entschluß hinsichtlich der Parlamentsdebatten nicht in Vergessenheit geraten. Ich erstand ein gutes Lehrbuch über die Mysterien der Stenographie um 10 sh 6 d und stürzte mich in ein Meer von Verworrenheit. Und binnen wenigen Wochen stand ich am Rand der Verzweiflung.

Die mannigfaltigen Bedeutungen, die von Punkten abhingen, die in dieser Stellung das und in einer andern das Gegenteil bedeuteten, die tollen Streiche, die gewisse Kreise anstellten, die unberechenbaren Folgen, die aus Zeichen wie Fliegenbeinen entstanden, die entsetzlichen Wirkungen eines Hakens an falscher Stelle beunruhigten mich nicht nur im Wachen, sondern erschienen mir auch im Schlaf.

Als ich mir endlich Bahn gebrochen und das Alphabet bemeistert hatte, das an sich schon ein ägyptischer Tempel war, tauchte eine Reihe neuer Schrecken, die man »Charaktere« nannte, auf, – die despotischsten Charaktere, die mir jemals vorgekommen sind und die zum Beispiel behaupten, daß ein Ding am Anfang einer Spinnwebe »Erwartung« heißt und daß eine Tintenfleckrakete soviel wie »unvorteilhaft« bedeutet. – Als ich mir diese unglückseligen Zeichen ins Gehirn genagelt, bemerkte ich, daß sie mir alles übrige aus dem Kopf getrieben hatten. Dann fing ich wieder von vorn an und vergaß die Charaktere; wenn ich sie wieder nachholte, kamen mir die andern Fragmente der Kunst abhanden; kurz, es war zum Herzzerbrechen.

Es hätte mir vielleicht auch das Herz gebrochen ohne Dora, die den Anker meines im Sturm treibenden Bootes bildete. Jeder Strich in dem System war eine knorrige Eiche im Walde der Schwierigkeiten, und ich hieb eine nach der andern mit solcher Kraft um, daß ich in drei oder vier Monaten imstande war, mich an einen der Hauptsprecher in den Commons heranzumachen. Nie werde ich vergessen, wie mir der Mann entschlüpfte, ehe ich noch anfing, und wie mein Bleistift auf dem Papier herumstolperte wie besoffen.

So ging es also nicht, das war klar. Ich strebte zu hoch und konnte auf diese Art nichts erreichen. Traddles, den ich um Rat fragte, schlug mir vor, er wolle mir Reden diktieren, meiner Ungeübtheit angepaßt, langsam und mit angemessenen Pausen. Dankbar nahm ich seine freundliche Mithilfe an, und lange Zeit hielten wir, wenn ich von Doktor Strong nach Hause kam, eine Art Privatparlament in der Buckingham Straße ab.

Meine Tante und Mr. Dick stellten, je nachdem, die Regierung oder die Opposition vor, und Traddles richtete mit Hilfe von Enfields Rhetorik oder eines Bandes Parlamentsreden erstaunliche Angriffe gegen sie. Am Tische stehend, den Finger im Buch, um die Stelle zu behalten, und mit der Linken lebhaft gestikulierend, versetzte sich Traddles als Mr. Pitt, Mr. Fox, Mr. Sheridan, Mr. Burke, Lord Castlereagh, Viscount Sidmouth oder Mr. Canning in die entsetzlichste Aufregung und schleuderte die vernichtendsten Anklagen der Bestechlichkeit und Verderbtheit auf meine Tante und Mr. Dick, während ich mit dem Notizbuch auf dem Knie mit größter Anstrengung mitstenographierte.

Die Inkonsequenz und Rücksichtslosigkeit Traddles konnte von keinem Politiker übertroffen werden. Er wechselte jede Woche seine Meinung und hißte alle möglichen Flaggen auf seinem Maste. Meine Tante, die ganz wie ein steinerner Kanzler dasaß, warf gelegentlich eine Bemerkung dazwischen, ein Hört! oder Oho! je nachdem es der Text erforderte, was immer das Signal für Mr. Dick abgab, der ganz auf der Partei der Landedelleute stand, kräftig in denselben Ruf mit einzustimmen. Es wurden ihm im Verlauf seiner parlamentarischen Laufbahn so viel Vorwürfe ins Gesicht geschleudert und er wurde für so viel schreckliche Folgen verantwortlich gemacht, daß ihm zuweilen ganz bange wurde. Ich glaube, er fürchtete manchmal wirklich, an der britischen Verfassung zum Schaden des Landes gerüttelt zu haben.

Oft setzten wir die Debatten fort, bis die Lichter herabgebrannt waren und die Uhr auf Mitternacht zeigte. Die Folge der vielen Übungen war, daß ich allmählich mit Traddles leidlich Schritt halten konnte; nur wäre ich froh gewesen, wenn ich hätte herausbekommen können, was meine stenographischen Notizen eigentlich bedeuteten. Aber ebensowenig hätte ich die chinesischen Inschriften auf einer Teekiste oder die goldnen Zeichen auf den großen roten und grünen Flaschen in den Apothekerläden lesen können.

Da gab es keinen Ausweg, als noch einmal von vorn anzufangen. Das war sehr schlimm, aber ich versuchte es, wenn auch mit schwerem Herzen, und ging die ganze langweilige Arbeit im Schneckentempo noch einmal durch und verglich sorgfältig jede einzelne Stelle. Trotzdem war ich immer pünktlich in der Kanzlei und bei dem Doktor und arbeitete, sozusagen, wie ein Karrengaul.

Eines Tages, als ich wie gewöhnlich nach den Commons ging, sah ich Mr. Spenlow mit sehr ernstem Gesicht und mit sich selbst sprechend in der Türe stehen. Da er manchmal über Kopfschmerzen klagte – er hatte von Natur einen kurzen Hals und meiner Meinung nach viel zu steif gestärkte Kragen –, so kam mir zuerst der Gedanke, es sei etwas in dieser Hinsicht nicht in Ordnung; aber von meinem Irrtum befreite er mich bald.

Anstatt mein »Guten Morgen« mit der gewohnten Leutseligkeit zu erwidern, blickte er mich sehr kalt und zeremoniell an und forderte mich auf, ihm in ein gewisses Kaffeehaus zu folgen, das zu jener Zeit einen Eingang in den kleinen Torweg des St. Pauls-Kirchhofs hatte.

In recht unbehaglicher Stimmung und mit einem Gefühl von Wärme im ganzen Körper, als ob meine Befürchtungen Knospen treiben wollten, folgte ich ihm.

Als ich ihn wegen der Enge des Weges vorausgehen ließ, fiel es mir auf, daß er seinen Kopf in einer Weise, die durchaus nichts Gutes versprach, hoch trug, und eine böse Ahnung sagte mir, daß er meinem Verhältnis mit Dora auf die Spur gekommen sei.

Wenn ich es nicht schon unterwegs erraten hätte, so mußte es mir klar werden, als ich ihm in ein Zimmer eine Treppe hoch folgte und dort Miss Murdstone fand, an einen Seitentisch voll umgekehrter Gläser, Zitronen und zwei altmodische Messerkasten gelehnt.

Miss Murdstone, steif und aufrecht, reichte mir ihre kalten Fingernägel, Mr. Spenlow schloß die Türe, hieß mich auf einem Sessel Platz nehmen und stellte sich vor den Kamin.

»Wollen Sie die Güte haben, Miss Murdstone«, sagte er, »Mr. Copperfield zu zeigen, was sich in Ihrem Strickbeutel befindet.«

Ich glaube, es war der alte Strickbeutel mit dem Stahlbügel, der schon in meiner Kindheit wie ein Gebiß schloß. Mit zusammengepreßten Lippen öffnete ihn Miss Murdstone und zog meinen letzten Brief an Dora, der von Ausdrücken zärtlichster Liebe überfloß, heraus.

»Ich glaube, das ist Ihre Handschrift, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Spenlow.

Mir war sehr heiß, und die Stimme, die ich vernahm, als ich sagte, »so ist es, Sir«, klang der meinen sehr unähnlich.

»Wenn ich nicht irre«, fuhr Mr. Spenlow fort, als Miss Murdstone ein ganzes Paket Briefe, zugebunden mit einem allerliebsten blauen Band aus dem Strickbeutel hervorholte, »sind auch diese von Ihrer Hand, Mr. Copperfield.«

Ich nahm sie mit der trostlosesten Empfindung entgegen und meine Anreden wie »Meine ewig teuerste, einzige Dora! Mein bester geliebter Engel! Mein Herzensschatz!« und dergleichen überfliegend, errötete ich tief und neigte bejahend das Haupt.

»Nein, nein, ich danke Ihnen«, sagte Mr. Spenlow kalt, als ich sie ihm mechanisch hinreichte. »Ich will Sie der Briefe nicht berauben. Miss Murdstone, haben Sie die Güte, fortzufahren.«

Dieses liebenswürdige Geschöpf betrachtete eine Weile gedankenvoll den Teppich und begann dann salbungsvoll wie folgt:

»Ich muß gestehen, schon längere Zeit hatte ich Miss Spenlow wegen David Copperfield im Verdacht. Ich beobachtete Miss Spenlow und David Copperfield, als sie sich das erste Mal sahen, und der Eindruck, den ich damals empfing, war durchaus nicht günstig. Die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist so groß –«

»Sie würden mich verbinden, Ma’am«, unterbrach Mr. Spenlow, »wenn Sie sich lediglich auf Tatsachen beschränkten.«

Miss Murdstone schlug die Augen nieder, schüttelte wie gegen diese unpassende Bemerkung protestierend den Kopf und fuhr stirnrunzelnd würdevoll fort:

»Da ich mich also auf Tatsachen zu beschränken habe, will ich sie so trocken, wie ich es vermag, vortragen. Vielleicht wird das als das geeignetste Verfahren Gnade finden. Ich habe bereits gesagt, Sir, daß ich schon längere Zeit gegen Miss Spenlow wegen David Copperfield Verdacht hegte. Ich hatte mich des öfteren bemüht, eine entscheidende Bestätigung meiner Vermutung zu finden, jedoch ohne Erfolg. Ich habe mich daher enthalten, etwas davon Miss Spenlows Vater« – sie sah ihn dabei streng an – »zu verraten, wohl wissend, wie wenig Neigung oft in solchen Fällen vorhanden ist, gewissenhafte Pflichterfüllung anzuerkennen.«

Mr. Spenlow, ganz eingeschüchtert von Miss Murdstones männlicher Unbeugsamkeit, suchte ihre Strenge durch eine konziliante Handbewegung zu mildern.

»Als ich nach der Hochzeit meines Bruders zurückkehrte«, fuhr Miss Murdstone mit verachtungsvoller Stimme fort, »und als Miss Spenlow von dem Besuch bei ihrer Freundin, Miss Mills, nach Hause kam, schien mir Doras Benehmen noch mehr Veranlassung zum Argwohn als früher zu geben. Deshalb beobachtete ich sie auf das schärfste.«

Arme, liebe, kleine Dora! So ahnungslos dem Auge dieses Drachen preisgegeben!

»Aber trotzdem«, fuhr Miss Murdstone fort, »fand ich keine Beweise bis gestern abend. Es schien mir, daß Miss Spenlow merkwürdig viel Briefe von ihrer Freundin, Miss Mills, erhielt; da aber Miss Mills ihre Freundin war, und zwar mit ihres Vaters vollständiger Beistimmung« – wieder ein scharfer Hieb auf Mr. Spenlow –, »so durfte ich mich ja nicht weiter einmischen. Wenn es mir schon nicht erlaubt ist, von der Verderbtheit des menschlichen Herzens zu sprechen, so darf ich mir doch vielleicht erlauben, mich hier des Wortes ›übel angebrachtes Vertrauen‹ zu bedienen.«

Mr. Spenlow murmelte eine Zustimmung.

»Gestern abend nach dem Tee«, fuhr Miss Murdstone fort, »bemerkte ich, wie der kleine Hund aufsprang, knurrend im Zimmer hin und her lief und etwas herumzerrte. Ich sagte zu Miss Spenlow: »Dora, was hat der Hund im Maul, – es ist ein Papier.« Miss Spenlow fühlte nach ihrer Tasche, schrie auf und lief zu dem Hunde. Ich trat dazwischen und sagte: »Meine liebe Dora, Sie werden schon erlauben.«

O Jip, elender Schoßhund, das Unglück war also dein Werk!

»Miss Spenlow versuchte, mich mit Küssen, Arbeitskästchen und kleinen Schmucksachen zu bestechen – darüber gehe ich natürlich hinweg –, der Hund flüchtete sich unter das Sofa, als ich mich ihm näherte, und ließ sich nur schwer mit dem Schüreisen wieder hervortreiben. Selbst, als das gelungen war, hielt er immer noch den Brief mit den Zähnen fest, und als ich, auf die Gefahr hin, gebissen zu werden, mich bemühte ihm denselben zu entreißen, hielt er ihn so fest, daß er sich daran emporheben ließ. Endlich gelangte ich in den Besitz des Briefes. Nachdem ich ihn gelesen, sagte ich Miss Spenlow auf den Kopf zu, daß sie noch viele derartige besitzen müsse, und erhielt schließlich von ihr das Paket, das sich jetzt in David Copperfields Hand befindet.«

Dann schloß sie den Mund, ließ den Strickbeutel wieder zuschnappen und sah aus, als ob man sie wohl beugen, nie aber brechen könnte.

»Sie haben Miss Murdstone gehört«, sagte Mr. Spenlow zu mir. »Darf ich fragen, Mr. Copperfield, ob Sie etwas drauf zu erwidern haben?«

Ich sah den lieben kleinen Herzensschatz die ganze Nacht schluchzend und weinend in Angst und Kummer – wie sie das hartherzige Frauenzimmer kläglich gebeten und angefleht, ihm umsonst Küsse, Arbeitskästchen und Schmucksachen aufgedrängt, um mich und nur um mich von tiefstem Schmerz erfüllt – vor mir, und das tat dem bißchen Würde, das ich hätte auftreiben können, nicht wenig Abbruch. Ich glaube, ich zitterte, obgleich ich mein möglichstes tat, es zu verbergen.

»Ich habe nichts darauf zu erwidern, Sir«, gab ich zur Antwort, »außer, daß mich die ganze Schuld trifft. Dora –«

»Miss Spenlow, wenn ich bitten darf.«

»– wurde durch meine Unüberlegtheit verleitet«, fuhr ich fort, ohne auf die formelle Berichtigung Rücksicht zu nehmen, »die Sache geheim zu halten, und ich beklage es bitter.«

»Sie sind sehr zu tadeln, Sir«, sagte Mr. Spenlow, schritt auf dem Teppich vor dem Herd auf und nieder und verlieh jedem seiner Worte wegen der Steifheit seines Kragens und Rückens statt mit dem Kopf mit seinem ganzen Körper Nachdruck. »Sie haben sich einer hinterlistigen und unschicklichen Handlungsweise schuldig gemacht, Mr. Copperfield. Wenn ich einen Gentleman in mein Haus einführe, mag er neunzehn, neunundzwanzig oder neunzig Jahre alt sein, so setze ich in ihn vollkommenes Vertrauen. Wenn er mich darin hintergeht, so macht er sich einer unehrenhaften Handlung schuldig, Mr. Copperfield.«

»Ich fühle das jetzt selbst, glauben Sie mir«, erwiderte ich. »Aber ich habe es vorher nie bedacht. Aufrichtig und ehrlich kann ich Ihnen sagen, Mr. Spenlow, ich habe es nicht bedacht. Ich liebe Miss Spenlow derart –«

»Pah, Unsinn«, sagte Mr. Spenlow und wurde rot, »ich bitte mir nicht ins Gesicht zu sagen, daß Sie meine Tochter lieben, Mr. Copperfield.«

»Könnte ich denn mein Benehmen rechtfertigen, wenn es nicht der Fall wäre, Sir?« wandte ich in aller Demut ein.

»Und können Sie es rechtfertigen, wenn es der Fall ist, Sir?« fragte Mr. Spenlow, auf dem Teppich stehenbleibend. »Haben Sie an Ihr Alter und das meiner Tochter gedacht, Mr. Copperfield? Haben Sie bedacht, was das heißt, das Vertrauen zu untergraben, das zwischen mir und meiner Tochter bestehen sollte; haben Sie an die Lebensstellung meiner Tochter, an die Pläne, die ich zu ihrem Besten im Sinne habe, an die testamentarischen Bestimmungen, die ich ihretwegen getroffen habe, gedacht? Haben Sie überhaupt irgend etwas gedacht, Mr. Copperfield?«

»Ich fürchte, sehr wenig, Sir«, gestand ich, so ehrerbietig und sorgenvoll, wie mir zumute war, »aber glauben Sie mir, ich habe meine eigne Stellung nicht aus dem Auge verloren. Als ich sie Ihnen damals klarlegte, waren wir bereits verlobt –«

»Ich bitte«, sagte Mr. Spenlow, einem Policcinell, als er jetzt energisch die Hände zusammenschlug, ähnlicher sehend, als mir je aufgefallen war – »ich muß Sie sehr bitten, Mr. Copperfield, mir nicht von Verlobungen zu sprechen, Mr. Copperfield.«

Miss Murdstone ließ ein kurzes verächtliches Lachen hören.

»Als ich meine so plötzlich veränderten materiellen Verhältnisse Ihnen auseinandersetzte, Sir, hatte also das heimliche Verhältnis, zu dem ich Miss Spenlow unglücklicherweise verleitet habe, bereits begonnen. Seit ich mich in dieser veränderten Lebenslage befinde, habe ich keine Anstrengung gescheut, sie zu verbessern. Ich bin überzeugt, sie noch mit der Zeit wesentlich verbessern zu können. Wollen Sie mir Zeit lassen, – eine Reihe von Jahren, wir sind noch beide jung, Sir –«

»Sie haben recht«, unterbrach mich Mr. Spenlow, immerwährend mit dem Kopf nickend und die Stirn runzelnd, »Sie sind beide noch sehr jung. Es ist der reinste Unsinn. Machen Sie diesem Unsinn ein Ende. Werfen Sie diese Briefe ins Feuer. Geben Sie mir Miss Spenlows Briefe, damit ich sie ebenfalls verbrennen kann. Und da sich in Zukunft unser Verkehr natürlich bloß auf die Commons beschränken wird, wollen wir die Sache nicht mehr weiter erwähnen. Kommen Sie, Mr. Copperfield, Sie sind doch sonst ein einsichtsvoller junger Mann, es ist das Gescheiteste, was Sie tun können.«

Nein. Ich konnte nicht einschlagen. Es tat mir unendlich leid, aber hier galt es mehr als bloße Verständigkeit. Die Liebe ging über alle irdischen Rücksichten hinaus, und ich liebte Dora abgöttisch, und Dora liebte mich. Ich sagte es nicht mit denselben Worten und milderte es, soviel ich konnte; aber ich ließ es durchblicken und blieb fest.

»Nun gut, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Spenlow. »Dann muß ich meinen Einfluß bei meiner Tochter geltend zu machen suchen.«

Miss Murdstone gab durch einen ausdrucksvollen hörbaren Atemzug, der wie ein Seufzer und Stöhnen zugleich klang, ihre Meinung dahin ab, daß er das gleich anfangs hätte tun sollen.

»Ich muß meinen Einfluß«, wiederholte Mr. Spenlow, dadurch bestärkt, »also bei meiner Tochter geltend zu machen suchen. Verweigern Sie die Annahme dieser Briefe, Mr. Copperfield?« – ich hatte das Paket nämlich auf den Tisch gelegt.

»Ja.« Ich sagte, ich hoffte, er werde es mir nicht übelnehmen, aber ich könnte sie unmöglich von Miss Murdstone annehmen.

»Auch von mir nicht?«

»Nein«, erwiderte ich mit dem tiefsten Respekt. »Auch nicht von Ihnen.«

»Gut«, sagte Mr. Spenlow.

Es trat eine Pause ein, und ich wußte nicht, ob ich gehen oder bleiben sollte. Endlich ging ich ruhig nach der Türe und wollte gerade sagen, daß ich wohl seine Gefühle am besten berücksichtigen würde, wenn ich mich zurückzöge, da fuhr er fort, die Hände in die Taschen steckend oder wenigstens nach Möglichkeit bemüht, es zu tun, und mit einer Miene, die man eigentlich hätte fromm nennen können:

»Es ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, Mr. Copperfield, daß ich nicht ganz ohne Vermögen dastehe und daß meine Tochter meine nächste und mir teuerste Verwandte ist.«

Ich beeilte mich, ihm in dem Sinne zu erwidern; daß ich hoffte; mein Irrtum, zu dem mich die Heftigkeit meiner Liebe verleitet, veranlasse ihn nicht, mich für berechnend zu halten.

»Ich meine es nicht deswegen«, sagte Mr. Spenlow. »Es würde besser für Sie und uns alle sein, wenn Sie berechnender wären, Mr. Copperfield, – ich meine, wenn Sie verständiger wären und sich weniger von solch jugendlichem Unverstand leiten ließen. Nein. Ich frage in ganz anderer Absicht, nämlich ob Sie wissen, daß ich meiner Tochter einiges Vermögen zu vermachen habe?«

Ich sagte, daß ich das annehme.

»Bei den Erfahrungen, die Sie täglich in den Commons hinsichtlich der so häufigen, ganz unverantwortlichen Nachlässigkeit der Menschen betreffs testamentarischer Verfügungen gemacht haben – es ist vielleicht einer der Punkte, wo sich die menschliche Inkonsequenz am seltsamsten offenbart –, können Sie doch kaum glauben, daß ich meine Verfügungen noch nicht getroffen hätte.«

Ich nickte zustimmend.

»Ich würde nicht zugeben«, sagte Mr. Spenlow, sichtlich von einer frommen Empfindung ergriffen, den Kopf schüttelnd und sich abwechselnd auf seinen Zehen und Absätzen wiegend, »daß die passende Versorgung meines Kindes durch eine solche jugendliche Torheit wie die gegenwärtige beeinflußt würde. Es ist nackte Torheit. Reiner Unsinn. In kurzer Zeit wird es leichter wiegen als eine Feder. Aber ich könnte, ich könnte, – wenn sich diese alberne Geschichte nicht von selbst erledigen sollte, mich in einem Augenblick der Besorgnis verleiten lassen, meine Tochter durch gewisse Schutzmaßregeln vor einer törichten Heirat zu bewahren. Ich hoffe nun von Ihnen, Mr. Copperfield, daß Sie mich nicht zwingen werden, auch nur eine Viertelstunde lang eine abgeschloßne Seite im Buche des Lebens wieder zu öffnen und ernste, längst geregelte Bestimmungen umzustoßen.«

Er sprach dies mit einer seelenvollen Ruhe, die sich nur mit einem stillen Sonnenuntergang vergleichen ließ, so daß ich ganz gerührt war. Er sah so friedvoll und ergeben aus, hatte, das stand fest, alle seine Angelegenheiten in so vollständiger Ordnung, daß es ihm wohl anstand, bei solcher Betrachtung Rührung zu empfinden. Wahrhaftig, ich glaube, Tränen glänzten in seinen Augen, so tief ergriff es ihn.

Aber was konnte ich tun?! Ich konnte doch nicht Dora und mein eignes Herz verleugnen. Als er mir eine Woche Bedenkzeit gab, um mir seine Worte zu überlegen, wie durfte ich sie ausschlagen, aber ich mußte auch fühlen, daß überhaupt keine Zahl von Wochen Eindruck auf eine Liebe wie die meinige machen konnte.

»Unterdessen gehen Sie mit Miss Trotwood oder irgend jemand anders von einiger Lebenserfahrung zu Rate«, sagte Mr. Spenlow, indem er seine Halsbinde mit beiden Händen zurechtrückte. »Ich gebe Ihnen eine Woche Bedenkzeit, Mr. Copperfield.«

Ich mußte mich darein ergeben und verließ mit einem Gesicht, in das ich soviel Ausdruck niedergeschlagener und verzweifelnder Beharrlichkeit legte wie nur möglich das Zimmer. Miss Murdstones dräuende Augenbrauen sahen mir nach, ihre Augenbrauen, nicht ihre Augen, weil sie das Wichtigste in ihrem Gesichte waren; sie sah genau so aus wie damals in unserer Stube in Blunderstone, so daß ich eine Sekunde wieder glaubte, meine Lektion verlernt zu haben, und jenes entsetzliche alte ABC-Buch mit den ovalen Holzschnitten, die mir in meiner jugendlichen Phantasie wie Brillengläser vorgekommen waren, vor mir sah.

Als ich in die Kanzlei kam, mich an mein Pult setzte und an dieses so unerwartet hereingebrochene Erdbeben dachte und in der Bitternis meines Herzens Jip verfluchte, verfiel ich in einen Zustand so qualvoller Sorgen um Dora, daß es mich heute noch wundernimmt, wieso ich nicht den Hut nahm und wie ein Wahnsinniger nach Norwood stürmte. Der Gedanke, daß sie sie in Schrecken und Tränen versetzen würden und ich sie nicht trösten könnte, war mir so qualvoll, daß ich mich veranlaßt sah, einen verzweifelten Brief an Mr. Spenlow zu schreiben und ihn zu bitten, die Folgen des Geschehens nicht das Haupt seiner Tochter treffen zu lassen. Ich bat ihn, ihre weiche Natur zu schonen, eine zarte Blume nicht zu zertreten, und sprach zu ihm, als ob er nicht ihr Vater, sondern ein Werwolf oder der Drache von Wantley gewesen wäre. Diesen Brief versiegelte ich und legte ihn auf sein Pult, und als er zurückkam, sah ich durch die halboffne Tür seines Zimmers, wie er ihn erbrach und las.

Er sprach den ganzen Morgen nichts davon. Aber bevor er nachmittags wegging, rief er mich herein und sagte, ich brauchte mir wegen des Glücks seiner Tochter durchaus keine Sorgen zu machen. Er würde sie überzeugen, daß alles Unsinn sei, und weiter habe er ihr nichts zu sagen. Er glaube, ein nachsichtiger Vater zu sein – und das war er allerdings –, und ich könnte mir jede Sorge in dieser Hinsicht ersparen.

»Sie könnten mich vielleicht dazu zwingen, Mr. Copperfield, wenn Sie wirklich töricht oder widerspenstig sind«, bemerkte er, »meine Tochter wiederum ein halbes Jahr ins Ausland zu schicken, aber ich habe eine bessere Meinung von Ihnen. Ich hoffe, Sie werden in wenigen Tagen einsichtsvoller geworden sein. Was Miss Murdstone betrifft«, ich hatte ihrer im Briefe Erwähnung getan – »so hege ich alle Achtung von der Wachsamkeit dieser Dame und fühle mich ihr sehr verbunden, aber sie hat strengsten Befehl, von der Sache nicht mehr zu sprechen. Ich wünsche weiter nichts, Mr. Copperfield, als daß die Angelegenheit einfach in Vergessenheit gerät. Auch Sie haben weiter nichts zu tun, als zu vergessen.«

Weiter nichts! In meinem Briefe an Miss Mills führte ich diese Äußerung mit Bitterkeit an. Ich hätte weiter nichts zu tun, schrieb ich mit düsterem Sarkasmus, als Dora – zu vergessen. Das sei alles!!

Und was sei das?! Ich bat Miss Mills, sie heute abend besuchen zu dürfen. Wenn es nicht mit Mr. Mills‘ Zustimmung geschehen könnte, so bäte ich um ein heimliches Zusammentreffen in der Waschküche, wo die Mangel stehe. Ich versicherte ihr, daß mein Verstand zu wanken beginne und daß nur sie, Miss Mills, mich vor dem Wahnsinn retten könnte. Ich unterzeichnete: »In tiefster Verzweiflung Ihr usw. usw.« Und als ich den Brief noch einmal überflog, mußte ich mir gestehen, daß sein Stil ein wenig an den Mr. Micawbers erinnerte.

Nichtsdestoweniger sandte ich ihn ab. Abends begab ich mich nach Miss Mills‘ Wohnung und ging dort auf und ab, bis ihre Zofe mich heimlich hereinholte und die Hintertreppe hinauf in die Waschküche führte. Ich habe heute guten Grund zu glauben, daß nichts hindernd im Wege stand, wenn ich ruhig die Haupttreppe hinaufgegangen und in den Salon getreten wäre, außer höchstens Miss Mills‘ Hang zum Romantischen und Geheimnisvollen.

In der Waschküche raste ich, wie es sich für mich ziemte. Ich glaube, ich ging hin, um mich wie ein Wahnsinniger zu benehmen, und das gelang mir vollkommen. Miss Mills hatte ein hastig geschriebenes Billett von Dora erhalten, des Inhalts, daß alles entdeckt sei, und mit der Bitte: »Ach komm, Julia, komm, komm!« Aber Miss Mills fürchtete, ihre Anwesenheit würde den höheren Mächten mißfallen, und war deshalb noch nicht gegangen. Und uns alle umfing die finstere Nacht der Wüste Sahara.

Miss Mills besaß einen wunderbaren Redefluß und liebte es, ihn sich schrankenlos ergießen zu hören. Es entging mir nicht, daß sie in unserer Trübsal schwelgte, obgleich sie ihre Tränen mit den meinen vermischte. Sie wühlte förmlich in Gram. Ein klaffender Abgrund, sagte sie, habe sich zwischen Dora und mir geöffnet, und nur die Liebe könne ihn mit ihrem Regenbogen überspannen. Die Liebe müsse leiden in dieser finstern Welt, es sei immer so gewesen und werde immer so sein. Aber das tue nichts, bemerkte sie, die mit Spinnennetzen umwobenen Herzen würden schließlich brechen, und dann sei die Liebe gerächt.

Das klang wenig tröstlich, aber Miss Mills wollte nicht trügerische Hoffnungen erweckt sehen. Sie machte mich noch viel unglücklicher, als ich bereits war, aber ich fühlte und sagte es ihr auch mit der größten Dankbarkeit, daß sie eine wahre Freundin sei.

Wir beschlossen, daß sie am nächsten Morgen in aller Frühe zu Dora gehen und auf Mittel sinnen sollte, ihr durch Blick oder Wort Nachricht von meiner unwandelbaren Liebe und meinem Kummer zu geben. Wir schieden überwältigt von Schmerz, und ich glaube, Miss Mills empfand große Genüsse dabei.

Ich vertraute alles meiner Tante an, als ich nach Hause kam, und ging trotz aller ihrer Trostreden voll Verzweiflung zu Bett. Ich stand voll Verzweiflung auf und ging voll Verzweiflung aus. Es war Samstag früh, und ich ging geradewegs nach den Commons. Ich war überrascht, als ich von weitem die Austräger in einer Gruppe vor unserer Kanzleitür stehen sah. Ich beschleunigte meine Schritte, ging an ihnen vorbei, wobei mir ihr Aussehen auffiel, und trat hastig ein.

Die Schreiber waren alle versammelt, arbeiteten aber nicht. Der alte Tiffey saß, ich glaube, zum ersten Mal in seinem Leben, auf einem andern Stuhl und hatte seinen Hut nicht aufgehängt.

»Ein schreckliches Unglück, Mr. Copperfield«, sagte er, als ich eintrat.

»Was ist denn?« rief ich aus. »Was ist vorgefallen?«

»Sie wissen es noch nicht?« riefen Tiffey und alle übrigen, die mich jetzt umdrängten.

»Nein«, sagte ich und blickte von einem zum andern.

»Mr. Spenlow!«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist tot.«

Ich glaubte, die Kanzlei schwankte und nicht ich, als einer der Schreiber mich mit seinen Armen auffing. Sie setzten mich auf einen Stuhl, banden mir das Halstuch ab und brachten mir ein Glas Wasser. Ich weiß nicht, wieviel Zeit darüber verging.

»Tot?« sagte ich.

»Er speiste gestern in der Stadt und kutschierte seinen Phaeton allein«, erzählte Tiffey, »denn er hatte den Kutscher vorausgeschickt, wie er es manchmal zu tun pflegte.«

»Nun, und?«

»Der Wagen kam ohne ihn an. Die Pferde blieben vor der Stalltür stehen, der Diener ging mit einer Laterne hinaus. Es saß niemand im Wagen.

»Waren sie durchgegangen?«

»Sie schwitzten nicht«, sagte Tiffey und setzte die Brille auf. »Sie schwitzten nicht mehr als gewöhnlich. Die Zügel waren wohl zerrissen, aber auf dem Boden geschleift worden. Alle wurden sogleich geweckt, und drei von den Leuten gingen auf die Straße hinaus. Sie fanden ihn eine Meile vom Hause.«

»Mehr als eine Meile, Mr. Tiffey«, unterbrach ein jüngerer Schreiber.

»So? Ja, ich glaube, Sie haben recht, – also mehr als eine Meile vom Hause, – nicht weit von der Kirche. Er lag halb auf dem Fahrweg, halb auf dem Fußsteig auf dem Gesicht. Ob er vom Schlag getroffen vom Bock fiel oder ausstieg, weil ihm übel wurde, oder ob er überhaupt schon tot war, als sie ihn fanden, oder nur besinnungslos, scheint niemand zu wissen. Keinesfalls hat er sich wieder erholt. Ärztliche Hilfe wurde so schnell wie möglich geholt, – alles umsonst …«

Ich kann nicht schildern, in welchen Gemütszustand mich diese Nachricht versetzte. Der Schreck über die Plötzlichkeit des Ereignisses, das einen Menschen betraf, mit dem ich in jeder Hinsicht entzweit war, die grausige Leere in seinem Bureau, wo sein Tisch und sein Stuhl auf ihn zu warten schienen, und das, was er gestern noch geschrieben, wie gespensterhaft erschien, – die unerklärliche Unmöglichkeit, ihn von dem Orte zu trennen und jeden Augenblick, wenn die Türe aufging, zu glauben, daß er hereintreten müßte, die träge Stille und Ruhe in der Kanzlei, das unersättliche Behagen, mit dem unsere Leute immerwährend von dem Vorfall sprachen und andere den ganzen Tag ein- und ausgingen und sich das Gehirn mit dem Thema vollstopften, – alles das kann sich jeder selbst ausmalen. Ganz sonderbar war, daß ich in den tiefsten Tiefen meines Herzens eine heimliche Eifersucht selbst auf den Tod empfand; wie es mir vorkam, bangte mir, daß mich seine Macht aus Doras Gedanken verdrängen könnte. Ich empfand es wie einen Stich, daß ich auf ihren Schmerz neidisch war. Der Gedanke erfüllte mich mit Unruhe, daß sie vor andern weinte und von andern getröstet wurde. Ein selbstsüchtiger Wunsch erfüllte mich in dieser unpassendsten aller Zeiten, jeden von ihr fernzuhalten außer mich und ihr alles in allem zu sein.

In dieser wirren Stimmung ging ich abends nach Norwood, und da ich von der Dienerschaft erfuhr, daß Miss Mills dort gewesen, veranlaßte ich meine Tante, an diese einen Brief zu adressieren, den ich selbst schrieb. Ich beklagte aufrichtig den unerwarteten Tod Mr. Spenlows und vergoß Tränen dabei. Ich bat Miss Mills, Dora in einem passenden Moment zu sagen, daß ihr Vater mit mir mit der größten Güte und Rücksicht gesprochen und bei Erwähnung ihres Namens nur Worte der Liebe und nicht des Vorwurfs gebraucht hätte. Ich weiß, ich tat dies aus Selbstsucht, damit mein Name ihr vor Augen komme, aber ich bemühte mich zu glauben, daß ich damit nur seinem Andenken Gerechtigkeit widerfahren ließe. Vielleicht glaubte ich es wirklich.

Meine Tante erhielt am nächsten Morgen ein paar Antwortzeilen; sie waren außen an sie adressiert, inwendig an mich gerichtet. Dora war von Schmerz überwältigt gewesen und als ihre Freundin sie gefragt hatte, ob sie mir Grüße bestellen sollte, habe sie nur unter vielen Tränen gerufen: »Ach mein lieber Papa, ach mein lieber Papa!« Aber sie hatte nicht nein gesagt. Und das nahm ich als sehr viel auf.

Mr. Jorkins, der seit dem Vorfall in Norwood gewesen war, kam ein paar Tage später auf die Kanzlei. Er und Tiffey schlossen sich ein paar Minuten lang ein, dann steckte Tiffey den Kopf heraus und winkte mir einzutreten.

»O«, sagte Mr. Jorkins, »Tiffey und ich, Mr. Copperfield, stehen im Begriff, das Pult, die Schränke und ähnliche Repositorien des Verblichenen zu untersuchen, um seine Privatpapiere zu versiegeln und nach einem Testament zu suchen. Nirgends ist eine Spur davon zu finden. Würden Sie vielleicht so gut sein, uns ein wenig zu helfen?«

Ich war in größter Sorge gewesen, wie sich wohl Doras Verhältnisse gestalteten, unter wessen Vormundschaft sie kommen würde, und so weiter, und hier konnte ich etwas erfahren. Wir begannen sofort zu suchen; Mr. Jorkins schloß die Pulte und Kasten auf, und wir nahmen alle Papiere heraus. Die Akten legten wir auf die eine Seite, die nicht sehr zahlreichen Privatpapiere auf die andere. Wir waren sehr ernst, und wenn wir ein Siegel, einen Bleistift, einen Ring oder irgendeine andere Kleinigkeit fanden, die besonders an ihn erinnerte, sprachen wir besonders leise.

Wir hatten schon verschiedene Pakete gesiegelt und immer noch nichts gefunden, als Mr. Jorkins mit denselben Worten, die sein verstorbener Kompagnon immer auf ihn anzuwenden pflegte, zu uns sagte: »Mr. Spenlow war sehr schwer von seinem gewohnten Wege abzubringen. Sie wissen, wie er war. Ich neige der Ansicht zu, daß er kein Testament gemacht hat.«

»O nein, ich weiß es bestimmt«, sagte ich.

Sie hielten beide inne und sahen mich an.

»An dem Tag, als ich das letzte Mal mit ihm sprach, redete er zu mir davon und sagte, seine Angelegenheiten seien längst geordnet.«

Die beiden schüttelten den Kopf.

»Das sieht schlimm aus«, meinte Tiffey.

»Sehr schlimm«, bestätigte Mr. Jorkins.

»Sie glauben doch nicht etwa –« fing ich an.

»Mein guter Mr. Copperfield«, sagte Tiffey, legte die Hand auf meinen Arm und machte beide Augen zu, während er den Kopf schüttelte, »wenn Sie in den Commons so lang gewesen wären wie ich, so würden Sie wissen, daß es keinen Punkt gibt, hinsichtlich dessen die Menschen so inkonsequent und so wenig verlässig sind.«

»Aber mein Gott, ganz dieselbe Bemerkung ließ er mir gegenüber fallen«, wandte ich mit Beharrlichkeit ein.

»Das möchte ich fast ausschlaggebend nennen«, bemerkte Tiffey. »Meine Meinung ist jetzt: – kein Testament.«

Das erschien mir wunderbar; aber es zeigte sich wirklich, daß es sich so verhielt. Mr. Spenlow hatte niemals daran gedacht, ein Testament aufzusetzen, soweit das aus seinen Papieren hervorgehen konnte; es fand sich keine Notiz, kein Entwurf, kein Wort, das auf ein solches hindeutete. Was mich nicht weniger in Verwunderung setzte, war, daß sich seine Angelegenheiten in der denkbar größten Unordnung befanden. Wie ich hörte, hielt es außerordentlich schwer, herauszubekommen, was er schuldete oder bezahlt hatte oder wie hoch sich bei seinem Tode sein Vermögen belief. Er schien es offenbar seit Jahren selbst nicht gewußt zu haben. Allmählich zeigte sich, daß er in seinem Eifer, in den Commons in Äußerlichkeiten zu glänzen, mehr als sein Einkommen aus der Kanzlei verbraucht und sein nie sehr großes Vermögen stark angegriffen hatte.

Norwood wurde verkauft, und Tiffey sagte mir, ohne zu wissen, wie sehr mich seine Mitteilungen interessierten, daß er nach Bezahlung aller Schulden und nach Abzug der schlechten und zweifelhaften Außenstände nicht tausend Pfund für den Rest geben würde.

So stand die Sachlage nach Ablauf von ungefähr sechs Wochen. Ich hatte die ganze Zeit über unsäglich gelitten und glaubte wirklich, ich müßte Hand an mich legen, wenn Miss Mills mir immer wieder mitteilte, daß meine arme kleine Dora bei Nennung meines Namens nichts als: »Ach armer Papa, ach mein guter Papa!« riefe. Ich erfuhr auch, daß sie keine andern Verwandten hatte als zwei unverheiratete Schwestern Mr. Spenlows, die in Putney wohnten und seit vielen Jahren mit ihrem Bruder nicht mehr in Verkehr standen. Man hatte sie bei Doras Taufe, sagte Miss Mills, bloß zum Tee und nicht zum Mittagessen eingeladen, und daraufhin hätten sie sich schriftlich ausgesprochen, es sei wohl besser für das Wohl aller Beteiligten, wenn sie wegblieben. Seitdem waren sie ihre Wege gegangen und ihr Bruder die seinigen.

Diese beiden Damen tauchten jetzt aus ihrer Zurückgezogenheit auf und schlugen Dora vor, nach Putney zu ziehen. Dora hatte sich in ihre Arme geworfen und weinend ausgerufen: »O ja, liebe Tanten, bitte nehmen Sie Julia Mills und mich und Jip nach Putney!«

So verließ sie denn Norwood kurz nach dem Begräbnis.

Wie ich Zeit fand, mich bis in die Umgebung von Putney herumzutreiben, begreife ich heute wirklich nicht, aber durch irgendwelche Mittel wußte ich es ziemlich häufig zu bewerkstelligen. Um ihre Freundschaftspflichten besser zu erfüllen, führte Miss Mills ein Tagebuch und las es mir vor, wenn sie manchmal mit mir auf der Heide zusammenkam, oder lieh es mir, wenn sie dazu keine Zeit hatte. Einige Stellen lauteten:

Montag. Meine liebe D. immer noch sehr niedergeschlagen. Kopfweh. Machte sie aufmerksam, wie hübsch glatt J. gekämmt sei. D. streichelte ihn. Die Erinnerungen öffneten die Schleusen des Schmerzes. Heftiger Ausbruch von Kummer (sind Tränen Tautropfen des Herzens? J. M.).

Dienstag. D. angegriffen und nervös. Schön in ihrer Blässe (bemerken wir dies nicht zuweilen auch am Monde? J. M.). D., ich und J. fahren aus. J. sieht zum Fenster hinaus und bellt den Straßenverkehr heftig an. Ein Lächeln überzieht D.s Züge. (Aus solch unbedeutenden Gliedern ist die Kette des Lebens geschmiedet! J. M.).

Mittwoch. D. verhältnismäßig heiter. Ich sang ihr als passende Melodie »Die Abendglocken« vor. Wirkung nicht besänftigend, eher das Gegenteil. D. unaussprechlich gerührt. Ich fand sie später in ihrem Zimmer schluchzend. Ich rezitierte einige Verse, die das Ich mit einer jungen Gazelle vergleichen. Wirkungslos. Erwähnte auch »Geduld« auf einem Denkmal (Frage: Warum auf einem Denkmal? J. M.).

Donnerstag. D. offenbar ein wenig getröstet. Besser geschlafen. Ein leichter Hauch von Rot wieder auf den Wangen. Beschloß D. C. zu erwähnen. Sprach von ihm vorsichtig während des Ausfahrens. D. sogleich vom Schmerz überwältigt. »O liebe, liebe Julia! Ich bin ein böses und unfolgsames Kind gewesen!« Beruhigte und liebkoste sie. Entwarf ein ideales Bild von D. C. am Rande des Grabes. D. abermals vom Schmerz überwältigt. »Ach, was soll ich tun! Was soll ich tun! Ach bring mich irgendwohin!« Bin sehr erschrocken. D. fällt in Ohnmacht, und ich hole ein Glas Wasser aus dem Wirtshaus (poetische Verwandtschaft: Buntscheckiges Schild über der Tür – Buntscheckigkeit des menschlichen Lebens. Ach! J. M.).

Freitag. Tag großer Ereignisse. Ein Mensch kommt in die Küche mit einem blauen Sack und will Damenstiefel zum Ausbessern abholen. Die Köchin sagt: Kein Auftrag. Der Mann will es nicht glauben: Die Köchin geht hinaus, um zu fragen, und läßt den Mann mit Jip allein. Wie die Köchin zurückkehrt, will es der Mann immer noch nicht glauben, aber geht endlich. J. fehlt. – D. außer sich. Nach der Polizei geschickt. Der Mann beschrieben: breite Nase und Beine wie Brückenpfeiler. Nachforschungen in allen Richtungen. Kein J. zu finden. D. weint bitterlich und ist untröstlich. Erwähne abermals die junge Gazelle. Passend, aber nutzlos. Gegen Abend kommt ein fremder Junge. Wird ins Zimmer geführt. Breite Nase, aber keine Brückenpfeiler. Sagt, er wisse von einem Hund, und will ein Pfund haben. Will sich nicht weiter erklären, obgleich wir sehr in ihn dringen. Dora gibt ihm ein Pfund, und er führt die Köchin in ein kleines Haus, wo J. an ein Tischbein gebunden ist. Große Freude, Dora umtanzt J., während er sein Abendbrot verzehrt. Ermutigt durch diesen glücklichen Zufall erwähne ich oben D. C. – D. fängt wieder zu weinen an und zu seufzen: »Ach ich bitte dich, ich bitte dich. Es ist so schlecht, an jemand anders zu denken als an den armen Papa.« Umarmt J. und weint sich in Schlaf. (Muß nicht D. C. den mächtigen Schwingen der Zeit vertrauen? J. M.)

 

Miss Mills und ihr Tagebuch waren zu jener Zeit mein einziger Trost. Sie, die bei Dora noch vor ein paar Augenblicken geweilt, zu sehen, den Anfangsbuchstaben von Doras Namen in dem Tagebuch aufzusuchen, sich von ihr immer unglücklicher und unglücklicher machen zu lassen, war meine einzige Erquickung.

39. Kapitel Wickfield und Heep


39. Kapitel Wickfield und Heep

Meine Tante, wahrscheinlich über meine fortdauernde Niedergeschlagenheit ernstlich besorgt, stellte sich, als ob ihr sehr viel daran läge, wenn ich nach Dover nachsehen führe, wie es mit der Mietsverlängerung stünde, und um geeigneten Falles mit dem gegenwärtigen Inwohner einen neuen Kontrakt abzuschließen.

Janet stand jetzt in Mr. Strongs Diensten, wo ich sie jeden Tag sah. Als sie von Dover wegzog, schwankte sie, ob sie die Lossagung von der Männerwelt, zu der man sie erzogen hatte, dadurch krönen sollte, daß sie einen Lotsen heiratete; aber sie entschied sich dagegen. Nicht so sehr des Prinzips willen, als weil er ihr nicht gefiel.

Obwohl es mich viel kostete, Miss Mills zu verlassen, ging ich doch ziemlich gern auf den Plan meiner Tante ein, da er mich instand setzte, ein paar ruhige Stunden mit Agnes zu verleben. Ich bat den guten Doktor um einen Urlaub von drei Tagen – er wollte mir viel mehr bewilligen, aber meine Arbeitsenergie sträubte sich dagegen ? und entschloß mich, die kleine Reise anzutreten.

Wegen meiner Pflicht in den Commons brauchte ich mir keine großen Skrupel zu machen. Die Wahrheit zu gestehen, wir kamen allmählich in keinen sehr guten Geruch bei den eleganteren Proktoren und sanken rasch zu einer recht zweifelhaften Stellung herab. Das Geschäft war vor Mr. Spenlows Eintritt schon nicht sehr bedeutend gewesen, hatte sich durch den Glanz, den derselbe zur Schau trug, gebessert, besaß jedoch keine genügend solide Grundlage, um ohne Schaden den plötzlichen Verlust seines eigentlichen Leiters zu ertragen. Es sank sehr schnell. Mr. Jorkins, trotz seines Ansehens in der Firma selbst, ein nachlässiger unfähiger Mann nach außen, war bei dem wenigen guten Ruf, den er in der Stadt genoß, nicht imstande, das Geschäft zu heben. Ich kam jetzt unter seine Leitung, und als ich sah, wie er immer zur Tabaksdose griff und das Geschäft ruhig treiben ließ, reuten mich die tausend Pfund meiner Tante mehr als je.

Aber das war nicht das Schlimmste. In den Commons gab es eine Anzahl Mitläufer, die, ohne selbst Proktoren zu sein, doch in Rechtsgeschäften herumpfuschten und sich zu deren Besorgung gegen einen Anteil an der Beute die Namen von wirklichen Proktoren liehen; und es gab eine ziemliche Menge solcher Leute. Da unsere Firma Beschäftigung um jeden Preis brauchte, so verbanden wir uns mit dieser noblen Schar.

Trauscheine und Bestätigungen kleiner Testamente waren das Rentabelste, und um sie riß man sich am meisten. In allen Eingängen der Commons lauerten Aufpasser und Schlepper, mit der genauen Instruktion, alle Leute in Trauer und Herren, die etwas verschämt aussahen, anzufallen und sie in die Kanzleien zu bringen, für die ihre Auftraggeber Geschäfte betrieben. So gut wurden diese Instruktionen befolgt, daß ich selbst, ehe man mich kannte, zweimal in die Kanzlei unseres Hauptgegners geschleppt wurde. Die einander widerstrebenden Interessen dieser Aufpasser machten Kollisionen nicht selten. Hinsichtlich der Trauscheine war der Wetteifer so groß, daß oft um irgendeinen blöde aussehenden Herrn so lange geboxt wurde, bis er als Beute dem Stärksten zufiel. Einmal stürzte ein höflicher Mann mit einer weißen Schürze unter einem Torweg hervor auf mich los, flüsterte mir das Wort »Trauschein« ins Ohr und war nur sehr schwer abzuhalten, mich auf die Arme zu nehmen und zu einem Proktor zu tragen.

Also, ich fuhr eines Tages nach Dover. Ich fand das Häuschen in bester Ordnung und konnte meine Tante mit der Nachricht erfreuen, daß auch ihr Mieter die Fehde mit den Eseln fortführte.

Nachdem ich das Geschäft abgemacht und eine Nacht dort geblieben war, begab ich mich frühzeitig nach Canterbury. Es war jetzt wieder Winterzeit, und der frische, kalte, windige Tag und die salzige Luft auf den Dünen stärkten meine Hoffnungsfreudigkeit ein wenig.

In Canterbury angekommen, schlenderte ich durch die alten Straßen, was mein Gemüt sehr beruhigte und mir das Herz erleichterte.

Seltsam. Den beschwichtigenden Zauber, der von Agnes ausging, schien selbst die Stadt zu teilen, wo sie wohnte. Die ehrwürdigen Domtürme und die Dohlen und Krähen, deren Stimmen hoch oben in der Luft die Stimmung noch ernster machten, als vollständiges Schweigen vermocht hätte, die verfallenen Portale, einst mit Bildwerken geschmückt, die längst herabgefallen und zu Staub geworden wie die ehrwürdigen Pilger, die zu ihnen emporgeblickt, – die stillen Winkel, wo vielhundertjähriger Efeu sich über spitze Giebel und Mauerruinen schlang, – die alten Häuser – das ländliche Bild von Feldern und Gärten und Obsthainen –, überall ruhte dieselbe stillheitere Luft, derselbe ruhige, sinnige, besänftigende Geist.

Als ich in Mr. Wickfields Haus trat, fand ich in der kleinen Stube im Erdgeschoß, wo früher Uriah Heep zu sitzen pflegte, Mr. Micawber eifrig mit Schreiben beschäftigt. Seinem jetzigen Stande gemäß schwarz angezogen, thronte er feierlich in der kleinen Kanzlei.

Mr. Micawber freute sich außerordentlich mich zu sehen, schien aber auch ein wenig verlegen. Er wollte mich sogleich zu Uriah führen, aber ich schlug es aus.

»Ich kenne das Haus von früher, Sie wissen doch«, sagte ich, »und werde mich schon hinauffinden. Wie gefällt Ihnen übrigens die Jurisprudenz, Mr. Micawber?«

»Mein lieber Copperfield, auf einen Mann, der ausgestattet ist mit den höheren Gaben der Phantasie, wirkt das Übermaß von Detail, das den juristischen Studien eigentümlich ist, einigermaßen unangenehm. Selbst in unserer Geschäftskorrespondenz«, sagte Mr. Micawber mit einem Blick auf ein paar Briefe, die er eben schrieb, »ist es dem Geiste nicht erlaubt, sich zu einer höhern Form des Ausdrucks aufzuschwingen. Aber dennoch ist es ein großartiges Studium. Ein wundervoller Beruf.«

Er teilte mir dann mit, daß er Uriah Heeps ehemalige Wohnung gemietet habe, und versicherte, daß sich Mrs. Micawber freuen werde, mich wieder einmal unter ihrem eignen Dach zu empfangen.

»Es ist eine niedrige Wohnung«, sagte er, »um einen Lieblingsausdruck meines Freundes Heep zu gebrauchen, aber sie bildet die erste Stufe zu einer anspruchsvolleren häuslichen Einrichtung.«

Ich fragte ihn, ob er bis jetzt mit seinem Freunde Heep zufrieden sei. Er stand auf, um sich zu versichern, daß die Türe gehörig geschlossen sei, ehe er mit leiserer Stimme antwortete:

»Lieber Copperfield, ein Mann, der unter dem Druck pekuniärer Verlegenheiten schmachtet, befindet sich der Mehrzahl der Menschen gegenüber im Nachteil. Diese Situation wird nicht besser, wenn der Druck der Lage die Annahme von pekuniären Akzidenzien nötig macht, ehe diese Akzidenzien eigentlich fällig sind. Ich kann nur sagen, daß mein Freund Heep auf Ansuchen, die ich nicht weiter auszumalen brauche, in einer Weise geantwortet hat, die ebensosehr seinem Kopf wie seinem Herzen zur Ehre gereichen muß.«

»Ich hätte nicht geglaubt, daß er mit seinem Geld so freigebig sein würde«, bemerkte ich.

»Verzeihen Sie«, sagte Mr. Micawber mit gezwungener Miene, »ich spreche von meinem Freunde Heep, wie ich ihn kennengelernt habe.«

»Es freut mich, daß Ihre Erfahrungen in diesem Punkte so günstig ausfielen«, erwiderte ich.

»Sie sind sehr gütig, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und summte ein Liedchen vor sich hin.

»Sehen Sie Mr. Wickfield häufig?« fragte ich, um von etwas anderem zu sprechen.

»Nicht oft«, sagte Mr. Micawber leichthin. »Mr. Wickfield ist, darf ich wohl sagen, ein Mann von vortrefflichen Absichten; aber er ist kurz, er ist invalid.«

»Ich fürchte, sein Kompagnon will ihn dazu machen«, sagte ich.

»Lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und rutschte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, »erlauben Sie mir eine Bemerkung. Ich befinde mich hier in einer Vertrauensstellung. Die Besprechungen mancher Themen, selbst mit Mrs. Micawber, einer Frau von so bemerkenswerter Klarheit des Geistes, ist meiner Überzeugung nach unverträglich mit den Funktionen, die mir jetzt obliegen. Ich möchte mir daher die Freiheit nehmen, Ihnen vorzuschlagen, daß wir in unserm freundschaftlichen Verkehr – der, hoffe ich, niemals gestört werden wird – eine Linie ziehen. Auf der einen Seite dieser Linie«, sagte Mr. Micawber und stellte sie auf dem Pulte mit dem Lineal dar, »ist das ganze Bereich des menschlichen Geistes mit einer einzigen unbedeutenden Ausnahme. Auf der andern liegt diese Ausnahme, nämlich die Angelegenheiten von Messrs. Wickfield & Heep mit allem, was dazu gehört. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß der Gefährte meiner Jugend es mir nicht verübeln wird, wenn ich seiner kühlern Überlegung diesen Vorschlag unterbreite.«

Obgleich ich an Mr. Micawber eine gewisse Unruhe wahrnahm, die ihn in beständiger Spannung zu erhalten schien, wie wenn seine neuen Pflichten ihm nicht recht paßten, fühlte ich mich doch nicht berechtigt beleidigt zu sein. Es schien ihn zu erleichtern, als ich ihm dies versicherte; und er schüttelte mir herzlich die Hand.

»Ich bin geradezu entzückt von Miss Wickfield, lassen Sie mich Ihnen das gestehen, Copperfield. Sie ist eine ausgezeichnete junge Dame von ungewöhnlichen Reizen, Eigenschaften und Tugenden. Auf Ehre!« sagte Mr. Micawber, küßte sich die Hand und verbeugte sich auf seine vornehmste Weise. »Ich liege Miss Wickfield zu Füßen! Hem.«

»Das wenigstens freut mich«, sagte ich.

»Lieber Copperfield, wenn Sie uns nicht an jenem prächtigen Nachmittag, den wir bei Ihnen zuzubringen das Vergnügen genossen, versichert hätten, daß D. Ihr Lieblingsanfangsbuchstabe sei, würde ich fraglos vorausgesetzt haben, es müßte das A. sein.«

Wir alle haben wohl schon das Gefühl kennengelernt, das uns gelegentlich überkommt, als wäre etwas schon lange, lange vorher gesagt und getan worden, als hätten wir in altersgrauer Zeit dieselben Gesichter, Gegenstände und Verhältnisse erlebt und wüßten genau, was im nächsten Augenblick geschehen wird, – ebenfalls aus alter Erinnerung her. Diese geheimnisvolle Empfindung war nie im Leben stärker in mir als bei diesen Worten Mr. Micawbers.

Ich verabschiedete mich von ihm vorläufig und trug ihm die besten Grüße an seine Familie auf.

Als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte, die Feder nahm und den Kopf in dem steifen Kragen zurechtrückte, um bequemer schreiben zu können, fühlte ich deutlich, daß sich seit seiner neuen Beschäftigung zwischen ihm und mir eine Schranke erhoben hatte, die unserm Verkehr einen ganz andern Charakter gab.

Es war niemand in dem altertümlichen Besuchszimmer zugegen, obgleich mir Spuren von Mrs. Heeps Anwesenheit nicht entgingen. Ich warf einen Blick in das anstoßende Zimmer und fand Agnes neben dem Kamin an einem hübschen altmodischen Pulte schreibend.

Mein Schatten in der Tür veranlaßte sie aufzublicken.

Welch ein Genuß, die Ursache der freudigen Veränderung auf ihrem aufmerksamen Gesicht und der Gegenstand ihres lieblichen Aufschauens und Willkommengrußes zu sein!

»Ach, Agnes«, sagte ich, als wir nebeneinander saßen; »ich habe dich wieder so sehr vermißt.«

»Wirklich, Trotwood? Wieder und so bald!«

Ich nickte. »Ich weiß es nicht, wie es kommt, Agnes; mir ist, als ob mir eine geistige Eigenschaft fehlte, die ich eigentlich besitzen sollte. Du nahmst mir in der schönen, alten Zeit so das Denken ab, und ich sah in dir meine Beraterin und meine Stütze immerwährend, daß ich wirklich glaube, ich habe mir diese Eigenschaft zu erwerben versäumt.«

»Und was ist das für eine?« fragte Agnes heiter.

»Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Ich glaube, ich besitze doch Ausdauer und ernstes Streben?«

»Sicherlich!«

»Und Geduld, Agnes?« fragte ich mit einigem Zögern.

»Ja«, gab Agnes lachend zu, »leidlich.«

»Und doch«, sagte ich, »fühle ich mich manchmal so unglücklich, bin so schwankend und unentschlossen und unfähig, ruhig zu bleiben, daß mir etwas fehlen muß. – Selbstvertrauen möchte ich es vielleicht nennen.«

»Nenn es so, wenn du willst«, sagte Agnes.

»Schau mal her«, fuhr ich fort. »Du kommst nach London, ich vertraue auf dich, und sofort liegen ein Ziel und eine Laufbahn vor mir. Umstände lenken mich von dem Wege ab, und ich komme hierher und bin im Augenblick wie umgewandelt. Die Verhältnisse, die mir Schmerz bereiteten, sind dieselben, aber seit ich im Zimmer bin, hat sich ein Einfluß meiner bemächtigt, der mich sie so viel leichter ertragen läßt. Was ist das? Worin besteht dein Geheimnis, Agnes?«

Ihr Haupt war gesenkt, und sie blickte ins Feuer.

»Es ist die alte Geschichte. Lach nicht, wenn ich sage, es war immer im kleinen so wie jetzt in wichtigen Dingen. Meine alten Sorgen waren Unsinn, und jetzt sind sie Ernst. Aber sooft ich meine Adoptivschwester verlasse –«

Agnes sah mich an – mit einem himmlischen Gesicht – und reichte mir ihre Hand hin.

Ich drückte einen Kuß darauf.

»Sooft du mir gefehlt hast, Agnes, um mir gleich zu Anfang zu raten, mir zur Seite zu stehen, da ging ich stets irr und geriet in allerlei Schwierigkeiten. Und wenn ich schließlich immer wieder zu dir kam, da fand ich Frieden und Glück. Ich komme jetzt heim wie ein müder Wanderer, und wieder erfüllt mich die Seligkeit der Ruhe.«

Ich fühlte so tief, was ich sagte, und es rührte mich so aufrichtig, daß mir die Stimme versagte und ich das Gesicht mit den Händen bedeckte und in Tränen ausbrach.

In ihrer stillen schwesterlichen Weise machte mich Agnes bald meine Schwäche vergessen und ließ sich alles von mir erzählen, was sich seit unserm letzten Zusammentreffen begeben hatte.

»So, das ist alles, Agnes«, sagte ich, als ich fertig war. »Jetzt vertraue ich auf dich.«

»Aber du darfst nicht allein auf mich vertrauen, Trotwood. Du hast auch noch jemand anders.«

»Dora?«

»Gewiß.«

»Ja, ich habe dir noch nicht gesagt, Agnes«, begann ich ein wenig verlegen, »daß man auf Dora eigentlich schwer«, – nicht um alles in der Welt hätte ich die Worte ›vertrauen kann‹ herausgebracht, – »aber sie ist schwer – ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll, Agnes. Sie ist ein furchtsames kleines Geschöpf, leicht erschreckt und außer Fassung gebracht. Vor einiger Zeit, kurz vor ihres Vaters Tod, wollte ich – aber ich muß es dir ausführlich erzählen, wenn du Geduld hast.«

Ich erzählte Agnes von dem Kochbuch, dem Rechnungsführen, der Eröffnung meiner Armut und alles übrige.

»O Trotwood«, sagte sie mit einem Lächeln, »ganz deine alte überstürzte Weise! Du kannst ganz ernst in der Welt vorwärtsstreben und brauchst doch dabei nicht so mit der Tür ins Haus zu fallen bei einem furchtsamen, liebevollen und unerfahrenen Mädchen. Arme Dora!«

Ich hatte noch nie so liebliche und freundliche Milde in einer Stimme klingen hören. Ich empfand für Agnes so viel Dankbarkeit und bewunderte sie so sehr. Ich sah in einer schönen Zukunft die beiden nebeneinander als Freundinnen, jede der andern ein Schmuck und eine Zierde.

»Meiner Meinung nach wäre der ehrenhafteste Weg, an die zwei alten Damen zu schreiben«, sagte sie auf meine Frage, was wohl das beste sei. »Meinst du nicht auch, daß jedes Geheimnis ein unwürdiges Vorgehen bedeutet?«

»Ja, wenn du es meinst.«

»Ich kann solche Dinge nur schlecht beurteilen«, entgegnete Agnes mit bescheidenem Zögern, »aber meinem Gefühl nach ist Heimlichkeit deiner nicht würdig.«

»Meiner nicht würdig, weil du eine so hohe Meinung von mir hast, fürchte ich.«

»Deiner nicht würdig bei der Offenheit deines Charakters, und deshalb würde ich an diese beiden Damen schreiben. Ich würde so einfach und offen wie möglich alles Vorgefallene erzählen und sie um Erlaubnis bitten, manchmal ihr Haus besuchen zu dürfen. Da du jung bist und dir eine Stellung im Leben erst erringen willst, so glaube ich, du sagst am besten, du würdest dich selbstverständlich in alle Bedingungen fügen, die sie dir auferlegten. Ich würde sie bitten, dein Ersuchen nicht abzuschlagen, ohne erst mit Dora zu sprechen, wenn sie die Zeit für passend halten. Ich würde nicht zu leidenschaftlich sein«, sagte Agnes sanft, »oder zu viel versprechen. Ich würde mich auf meine Treue und Ausdauer verlassen – und auf Dora.«

»Aber wenn sie Dora durch Nennung meines Namens wieder erschrecken?« wandte ich ein. »Und wenn sie dann anfängt zu weinen und nichts von mir sagt?«

»Ist das wahrscheinlich?«

»Ach, sie ist so leicht einzuschüchtern wie ein Vögelchen. Es wäre doch möglich. Oder wenn die beiden Misses Spenlow – ältere Damen dieser Art sind manchmal recht wunderlich – nicht Personen sind, an die man sich in dieser Weise wenden könnte?«

»Ich glaube nicht, Trotwood, daß ich das weiter in Betracht ziehen würde. Vielleicht wäre es besser, nur zu bedenken, ob man recht handelt, und wenn man sich darüber klargeworden, es zu tun.«

Ich hatte keine Zweifel mehr. Mit erleichtertem Herzen, obgleich von der hohen Wichtigkeit meiner Arbeit ganz durchdrungen, widmete ich den ganzen Nachmittag dem Entwurf des Briefes, und Agnes überließ mir zu diesem großen Zweck ihr Pult. Aber zuerst ging ich hinunter, um Mr. Wickfield und Uriah Heep aufzusuchen.

Uriah fand ich in einem neuen, nach frischer Tünche riechenden Zimmer, das in den Garten hinausging. Inmitten eines Haufens von Büchern und Papieren sitzend sah er unaussprechlich niederträchtig aus. Er empfing mich mit seiner gewohnten kriecherischen Weise und stellte sich, als ob ihm Mr. Micawber von meiner Ankunft nichts gesagt hätte, – eine Vorspiegelung, die ich mir die Freiheit nahm zu bezweifeln. Er begleitete mich in Mr. Wickfields Zimmer, das ich kaum mehr wiedererkannte, so war es, um das des neuen Kompagnons auszustatten, der meisten Möbel beraubt worden. Hier stellte sich Uriah vor den Kamin, wärmte sich den Rücken und schabte sich mit der knochigen Hand das Kinn, während ich Mr. Wickfield begrüßte.

»Du bleibst bei uns, Trotwood, solange du in Canterbury bist?« sagte Mr. Wickfield, nicht ohne durch einen Blick Uriah um Erlaubnis zu fragen.

»Ist Platz für mich vorhanden?« fragte ich.

»O gewiß, Master Copperfield – ich wollte Mister sagen, aber es drängt sich mir immer so auf der Zunge«, sagte Uriah. »Ich mecht gern Ihr altes Zimmer räumen, wenns angenehm wäre.«

»Nein, nein«, Mr. Wickfield wehrte ab, »warum sollten Sie sich Unannehmlichkeiten bereiten? Es ist noch ein anderes Zimmer da.«

»Aber Sie wissen ja, ich mecht es von Herzen gerne tun, Sie kennen mich doch«, entgegnete Uriah mit einem Grinsen.

Um ein Ende zu machen, erklärte ich, nur das andere oder gar kein Zimmer annehmen zu wollen. Dabei blieb es, und ich verabschiedete mich bis Mittag und ging wieder hinauf.

Ich hatte gehofft, niemand anders zu finden als Agnes. Aber Mrs. Heep hatte um Erlaubnis gebeten, sich mit dem Strickzeug neben den Kamin in diesem Zimmer setzen zu dürfen. Sie behauptete, es läge bei der augenblicklichen Windrichtung besser für ihren Rheumatismus als das Gesellschafts- oder Speisezimmer. Obgleich ich sie ohne Reuegefühl der Barmherzigkeit des Windes auch auf der obersten Spitze des Doms überlassen haben würde, machte ich doch aus der Not eine Tugend und begrüßte sie freundschaftlich.

»Ich danke Ihnen allerergebenst«, sagte Mrs. Heep auf meine Frage nach ihrem Befinden, »aber ich befind mich nur leidlich wohl. Ich derf nicht sehr groß tun dermit; wenn ich meinen Uriah gut im Leben dastehen sehe, brauch ich nicht viel mehr anderes zu erwarten. Wie finden Sie mein Ury aussehen, Sir?«

Ich fand ihn natürlich genauso konfisziert aussehen wie immer und antwortete, daß ich keine Veränderung an ihm bemerkte.

»O, meinen Sie nicht, daß er sich verändert hat?« fragte Mrs. Heep. »Da mecht ich mir die Freiheit herausnehmen, anderer Meinung zu sein. Sehen Sie nicht etwas eine Abmagerung an ihm?«

»Keineswegs«, erwiderte ich.

»Wirklich nicht? Aber Sie sehen ihn nicht mit dem Auge einer Mutter an.«

Ihr Mutterauge war ein böses für die übrige Welt, dachte ich mir, als ich ihm begegnete, – so lieb sie auch ihren Sohn haben mochte – und ich glaube, sie und Uriah liebten einander wirklich. – Ihr Blick verließ mich und fiel auf Agnes.

»Bemerken Sie auch nicht, wie er sich abzehrt, Miss Wickfield?« forschte Mrs. Heep.

»Nein«, sagte Agnes und fuhr ruhig fort zu arbeiten. »Sie machen sich zu viel Sorge um ihn. Er ist vollkommen wohl.«

Mit einem kurzen verdrießlichen Schnaufen nahm Mrs. Heep ihren Strickstrumpf wieder vor.

Sie hörte nie auf zu stricken und ließ uns keinen Augenblick allein.

Ich war ziemlich zeitig vormittags gekommen, und wir hatten immer noch drei bis vier Stunden bis zum Essen vor uns, aber sie blieb sitzen und bewegte ihre Stricknadeln so einförmig, wie ein Stundenglas den Sand ablaufen läßt. Sie saß auf der einen Seite des Kamins, Agnes auf der andern und ich an dem Schreibpulte davor. Sooft ich über meinen Brief nachdenkend die Augen erhob, fühlte ich, wie Mrs. Heeps böser Blick an mir vorüberschweifte, dann zu mir zurückkehrte und wieder langsam auf das Strickzeug sank. Was sie strickte, weiß ich nicht, aber es sah aus wie ein Netz; in dem Glanze des Feuers glich sie einer bösen Zauberin, jetzt noch ohnmächtig der strahlenden Güte Agnes‘ gegenüber, aber in Bälde bereit, ihr Netz auszuwerfen.

Bei Tisch bewahrte sie mit derselben Unermüdlichkeit ihre beobachtende Haltung. Nach dem Essen kam ihr Sohn an die Reihe, der mich anschielte, als Mr. Wickfield, er und ich allein beisammen saßen und sich wand und krümmte, bis ich es kaum mehr aushalten konnte. Im Gesellschaftszimmer strickte und beobachtete die Mutter wieder. Die ganze Zeit über, wo Agnes sang und spielte, saß sie neben dem Piano. Einmal verlangte sie eine besondere Ballade, in die ihr Ury, – der in einem Lehnstuhl gähnte – ganz vernarrt wäre; und zuweilen sah sie sich nach ihm um und berichtete Agnes, daß er ganz ergriffen von der Musik sei. Sie sprach fast niemals, ohne ihn in irgendeiner Weise zu erwähnen; offenbar war das die ihr zugewiesene Pflicht.

Das dauerte bis zum Schlafengehen. Der Anblick von Mutter und Sohn, die wie zwei große Fledermäuse mit ihrem scheußlichen Anblick das Haus verdüsterten, machte mir die Nacht so unbehaglich, daß ich trotz Strickens und allem übrigen lieber unten geblieben wäre. Schlafen konnte ich fast gar nicht.

Am nächsten Tag begann das Stricken und Belauern von neuem und dauerte bis zum Abend.

Ich fand kaum Gelegenheit, zehn Minuten mit Agnes zu sprechen und ihr meinen Brief zu zeigen. Ich schlug ihr einen Spaziergang vor, aber da Mrs. Heep wiederholt über stärkeres Unwohlsein klagte, blieb Agnes aus Mitleid mit ihr zu Hause. In der Dämmerung ging ich selbst aus, um darüber nachzudenken, was ich zunächst tun sollte, und zu überlegen, ob ich Agnes länger verhehlen dürfte, was mir Uriah Heep in London gesagt hatte, denn es begann mich wieder sehr zu beunruhigen.

Ich hatte die letzten Häuser der Stadt auf der Straße nach Ramsgate noch nicht hinter mir, als mir durch die Dämmerung jemand nachlief. Der schleppende Gang und der ausgewachsene Überrock waren nicht zu verkennen. Ich blieb stehen, und Uriah Heep holte mich ein.

»Nun?« fragte ich.

»Wie schnell Sie gehen«, sagte er. »Meine Beine sind ziemlich lang, aber es hat mir wirklich Schweiß gekostet.«

»Wohin gehen Sie?« fragte ich.

»Ich wollte Sie begleiten, Master Copperfield, wenn Sie mir als einem alten Bekannten das Vergnügen eines Spaziergangs gestatten wollen.« Mit diesen Worten und einer schnellenden Bewegung seines Körpers, die ebensogut einschmeichelnd wie verhöhnend sein konnte, schritt er neben mir her.

»Uriah«, sagte ich nach einigem Schweigen so höflich wie möglich.

»Master Copperfield!«

»Die Wahrheit zu gestehen – Sie dürfen sich dadurch nicht verletzt fühlen –, ich wollte allein spazierengehen, weil ich zuviel Gesellschaft gehabt habe.«

Er sah mich von der Seite an und sagte mit seinem unangenehmsten Grinsen: »Sie meinen die Mutter.«

»Nun ja«, gab ich zu.

»Ach, Sie wissen, mir sind so niedrige Leut, und da mir uns unsrer Niedrigkeit bewußt sin, müssen mir wirklich Sorge tragen, daß mir nicht gegen die, was nicht so niedrig sin, zu kurz kommen. In der Liebe gelten alle Listen, Sir.«

Er erhob seine großen Hände bis zum Kinn, rieb sie sanft aneinander und kicherte in sich hinein und sah dabei einem bösartigen Pavian so ähnlich wie nur möglich.

»Schauen Sie«, fuhr er fort in seiner ekelhaften Art und wackelte mit dem Kopf. »Sie sind ein gefährlicher Nebenbuhler, Master Copperfield. Sie waren das immer. Sie begreifen.«

»Belauern Sie Miss Wickfield und vernichten Sie das Behagen ihrer Häuslichkeit also meinetwegen?« fragte ich.

»Ach, Master Copperfield, das sin sehr harte Worte.«

»Nennen Sie sie, wie Sie wollen. Sie wissen so gut wie ich, was ich sagen will, Uriah.«

»Gott, nein! Sie müssen es selbst in Worte bringen«, sagte er. »Wahrhaftig! Ich könnte es nicht.«

»Glauben Sie etwa«, – ich gab mir alle Mühe, Agnes‘ wegen so gemäßigt wie möglich gegen ihn zu sein, – »daß ich in Miss Wickfield etwas anderes sehe als eine mir sehr teuere Schwester?«

»Schauen Sie, Master Copperfield«, entgegnete er, »ich bin nicht verpflichtet diese Frage zu beantworten. Vielleicht ist es so, – vielleicht auch nicht.«

Etwas, was der niedrigen Listigkeit in seinem Gesicht und seinen wimperlosen Augen nur annähernd gleichgekommen wäre, habe ich nie gesehen.

»So hören Sie«, sagte ich. »Um Miss Wickfields willen.«

»Meine Agnes!« rief er mit einer verkrampften Windung seines Leibes aus. »Wollen Sie nicht so gut sein, sie Agnes zu nennen, Master Copperfield?!«

»Um Agnes Wickfields willen – der Segen des Himmels sei mit ihr.«

»Dank, Dank für diese Segnung, Master Copperfield!« unterbrach er mich.

»Ich will Ihnen sagen, was ich unter allen andern Umständen ebensogut, ich weiß nicht wem, gesagt hätte, meinetwegen dem Herrn Hans Strick –«

»Wem, Sir?« fragte Uriah mit vorgerecktem Halse und die Hände ans Ohr haltend.

»Dem Henker!« – Die unwahrscheinlichste Person, an die ich denken konnte, – obgleich Uriahs Gesicht dem Gedanken nicht so ganz fremd stand. »Ich bin mit einer andern jungen Dame verlobt. Ich hoffe, das genügt Ihnen.«

»Auf Ihre Seligkeit?« fragte Uriah.

Ich wollte empört meiner Erklärung die verlangte Bekräftigung geben, als er meine Hand ergriff und sie drückte.

»Ach, Master Copperfield. Wenn Sie sich herabgelassen hätten, mein Vertrauen zu erwidern, als ich an jenem Abend mein Herz vor Ihnen ausschüttete, hätte ich nie Zweifel in Sie gesetzt. Da es so steht, will ich Mutter gleich wegschicken und nur zu glücklich sein. Ich weiß, Sie werden die Vorsichtsmaßregeln eines liebenden Herzens entschuldigen, nicht wahr? Wie schade, Master Copperfield, daß Sie sich nicht herabließen, mein Vertrauen zu erwidern. Ich habe Ihnen gewiß jede Gelegenheit gegeben. Aber Sie haben sich nie bis zu mir herabgelassen, sosehr ich es gewünscht hätte. Ich weiß, Sie haben mich nie so gern gehabt wie ich Sie!«

Ununterbrochen drückte er mir mit seinen feuchten fischigen Fingern die Hand, während ich mir alle Mühe gab, sie ihm zu entziehen. Aber es gelang mir nicht. Er zog sie unter den Ärmel seines maulbeerfarbenen Überrockes, und ich ging fast gezwungen Arm in Arm mit ihm.

»Wollen mir nicht umkehren?« fragte er und wendete sich mit mir nach der Stadt zu, die jetzt der aufgehende Mond, die fernen Fenster versilbernd, beschien.

»Ehe wir von der Sache abbrechen, muß ich Ihnen sagen«, begann ich nach einem ziemlich langen Schweigen wieder, »daß ich der Meinung bin, Agnes Wickfield steht so hoch über Ihnen und ist allen Ihren Bewerbungen so weit entrückt wie der Mond dort oben.«

»Friedvoll! Nicht wahr, sie ist es!« sagte Uriah. »Ja. Jetzt gestehen Sie, Master Copperfield, selbst, daß Sie mich nicht so haben leiden können als ich Sie. Die ganze Zeit über haben Sie mich für zu niedrig gehalten, und das wundert mich nicht.«

»Ich liebe Beteuerungen der Demut nicht«, erwiderte ich, »überhaupt keine Beteuerungen.«

»Was sagt man!« wand sich Uriah, der in dem Mondschein ganz schwammig und bleifarben aussah. »Wußt ichs doch! Aber wie wenig bedenken Sie die Berechtigung der Unterwürfigkeit einer Person in meiner Stellung, Master Copperfield! Vater und ich, mir wurden beide in einer Stiftschule für Knaben erzogen, und Mutter ging in eine Freischule, was so eine Art Wohltätigkeitsanstalt war. Man lehrte uns allerlei Unterwürfigkeit – nicht viel anderes sonst vom Morgen bis Abend. Mir sollten uns demütigen vor dieser und jener Person; unsere Mützen hier abziehen und dort Verbeugungen machen und immer unsere Stellung kennen und denen, die über uns stehen, unterwürfig sein. Und deren waren so viele! Vater bekam die Anstaltmedaille, weil er so unterwürfig war. Ich auch. Vater wurde Küster und Totengräber, weil er demütig war. Er genoß unter den vornehmen Leuten den Ruf, sich so schicklich zu benehmen, daß man ihn anstellte. ›Sei demütig, Uriah!‹ sagte Vater stets zu mir, ›und du wirst es zu was bringen. Das wurde dir und mir immer in der Schule gepredigt. Und das fördert am meisten. Sei demütig‹, sagte Vater, ›und es wird dir gut anschlagen.‹ Und wirklich, es ist nicht schlecht gegangen.«

Mir fiel es heute zum ersten Mal ein, daß diese verabscheuenswürdige Hülle falscher Demut aus anderer Quelle stammen könnte als aus dem Blute der Familie Heep. Ich hatte wohl die Ernte gesehen, aber nie die Saat bedacht.

»Als ich noch ein kleiner Knabe war«, sagte Uriah, »erfuhr ich, was Demut ausrichten kann, und ich gewöhnte sie mir an. Ich aß bescheidne Rationen mit Appetit. Ich hielt bei meinem Lernen an einem bescheidnen Punkte still und sagte: halt ein. Als Sie mir anboten, mir Lateinisch zu lehren, da wußte ichs besser. ›Die Leute sehens gern, wenn sie über einem stehen‹, sagte Vater, ›darum halte dich unten.‹ Ich bin jetzt noch eine sehr demütige Person, Master Copperfield, aber ich habe ein bißchen Macht.«

Er sagte dies, – ich sah es in seinem vom Mondschein erhellten Gesicht – um mir zu verstehen zu geben, daß er diese Macht bis aufs letzte auszunützen entschlossen sei. An seiner Niederträchtigkeit, seiner List und Bosheit hatte ich nie gezweifelt, aber jetzt erkannte ich zum ersten Mal genau, welch niedriger, unbarmherziger und rachsüchtiger Geist in ihm durch die frühzeitige und langjährige Unterdrückung genährt worden war.

Die Auseinandersetzung seiner Erziehung hatte für mich wenigstens die angenehme Folge, daß er die Hand von meinem Arme nahm, um sich abermals das Kinn zu streicheln. Ich beschloß, keine neue Annäherung mehr zu dulden, und wir kehrten nebeneinander nach der Stadt zurück, ohne unterwegs viel Worte zu verlieren.

Ob ihn das von mir Gehörte oder der Rückblick auf seine Jugend aufgeheitert hatte, weiß ich nicht, aber er war aus irgendeinem Grunde gehobener Stimmung. Er sprach bei Tisch mehr als gewöhnlich, fragte seine Mutter, die vom Augenblicke seines Wiedererscheinens im Hause an ihre Wachsamkeit aufgab, ob er nicht zu alt werde für einen Junggesellen, und warf einmal auf Agnes einen solchen Blick, daß ich alles, was ich besaß, für die Erlaubnis hingegeben hätte, ihn zu Boden schlagen zu dürfen.

Als Mr. Wickfield, er und ich nach dem Essen allein waren, hob sich seine Laune noch mehr. Er hatte wenig oder gar keinen Wein getrunken, und ich vermute, es war nur seine Siegesgewißheit, die, vielleicht noch durch die Versuchung, meine Anwesenheit zur Entfaltung seiner Macht zu benutzen, gesteigert, ihn so anregte.

Es war mir schon am Tag vorher aufgefallen, daß er Mr. Wickfield zum Trinken zu verführen suchte, und gehorsam einem Blick von Agnes hatte ich mich selbst auf ein Glas beschränkt und dann vorgeschlagen, zu den Damen zu gehen. Ich wollte heute dasselbe tun, aber Uriah kam mir zuvor.

»Mir sehen nur selten unsern gegenwärtigen Gast, Sir«, begann er zu Mr. Wickfield gewendet, der von ihm in jeder Beziehung abstechend am entferntesten Ende des Tisches saß, »ich möchte vorschlagen, seine Anwesenheit noch mit ein paar Gläsern Wein zu feiern, wenn Sie nichts dagegen haben. – Mr. Copperfield, auf Ihr Wohl und Gesundheit!«

Ich mußte anstandshalber seine mir entgegengestreckte Hand annehmen, und dann ergriff ich mit ganz andern Gefühlen die meines gebrochnen alten Freundes, seines Teilhabers.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah, »wenn ich mir die Freiheit nehmen derf, – wollen Sie nicht auch noch einen passenden Toast auf Copperfield ausbringen?«

Ich will darüber hinweggehen, wie Mr. Wickfield zuerst meine Tante, dann Mr. Dick, dann die Commons, dann Uriah leben ließ und jeden Toast zweimal trank – wie er, sich seiner Schwäche wohl bewußt, sich vergeblich bemühte, ihrer Herr zu werden, wie seine Scham über Uriahs Benehmen mit der Angst ihn zu reizen in ihm kämpfte, wie Uriah Heep sich mit sichtlichem Frohlocken wand und krümmte und ihn vor mir zur Schau stellte.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah schließlich, »jetzt will ich noch einen andern Toast ausbringen und erlaube mir, um hohe Gläser zu bitten, denn er soll der Göttlichsten ihres Geschlechtes gelten.«

Mr. Wickfield hielt sein leeres Glas in der Hand. Ich sah, wie er es niedersetzte, wie er einen Blick auf das Bild warf, das Agnes so ähnlich sah, die Hand auf seine Stirne legte und in den Lehnstuhl zurücksank.

»Ich bin eigentlich eine viel zu niedrige Person, um ihre Gesundheit auszubringen«, fuhr Uriah fort, »aber ich bewundere sie – ich bete sie an.«

Kein physischer Schmerz, der Mr. Wickfields graues Haupt hätte treffen können, konnte mir schrecklicher sein als die geistige Qual, die er vergeblich durch Verkrampfen der Hände zu verbergen suchte.

»Agnes«, fuhr Uriah fort, der entweder nicht auf ihn sah oder seine Gebärde nicht verstand, »Agnes Wickfield ist, derf ich wohl sagen, die Göttlichste ihres Geschlechts. Derf ich unter Freunden offenherzig sprechen? Ihr Vater zu sein ist eine stolze Auszeichnung, aber ihr Gatte –«

Möge ich nie wieder einen solchen Schrei hören wie den, den Mr. Wickfield ausstieß, als er vom Tische aufsprang.

»Was ist los?« Uriah fuhr auf und wurde leichenblaß. »Sie sind doch nicht verrückt geworden, Mr. Wickfield, hoffe ich! Wenn ich sage, ich besitze so viel Ehrgeiz, Ihre Agnes zu meiner Agnes machen zu wollen, so habe ich dazu so gut ein Recht wie jeder andere.«

Ich hielt Mr. Wickfield mit meinen Armen umschlungen, beschwor ihn bei allem, was mir einfiel, und bei seiner Liebe zu Agnes, sich ein wenig zu beruhigen. Er gebärdete sich wie wahnsinnig, zerraufte sich das Haar, schlug sich vor die Stirn, versuchte sich von mir loszureißen, sprach kein Wort und starrte ins Leere. Blind gegen etwas Unsichtbares ankämpfend, das Gesicht verzerrt und mit stieren Augen – ein entsetzliches Schauspiel!

Ich beschwor ihn unzusammenhängend, aber in der inbrünstigsten Weise, sich nicht seiner Verzweiflung hinzugeben, sondern mich anzuhören. Ich bat ihn, an Agnes zu denken, mich mit ihr in Verbindung zu bringen, sich daran zu erinnern, wie sie und ich zusammen aufgewachsen waren, wie ich sie verehrte und liebte, sie, seine Freude und seinen Stolz!

Ich versuchte ihm ihr Bild in jeder Gestalt vorzuführen; ich warf ihm sogar vor, daß er nicht Festigkeit genug habe, ihr den Anblick einer solchen Szene zu ersparen. Vielleicht gelang es mir, ihn zu beruhigen, oder ließ seine Leidenschaftlichkeit von selbst nach, allmählich sträubte er sich weniger, sah mich anfangs leer, dann mit dankbarem Ausdruck in den Augen an und murmelte: »Ich weiß, Trotwood, ihr seid meine Lieblinge. Das Kind und du – ich weiß. Aber sieh ihn an.«

Er deutete auf Uriah, der bleich und starr in einer Ecke stand, ganz bestürzt, sich in seinen Berechnungen so getäuscht zu sehen.

»Sieh diesen Folterknecht an! Vor ihm habe ich Schritt um Schritt Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie aufgegeben.«

»Ich habe für Sie Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie erhalten«, sagte Uriah mit einer hastigen, bestürzten Miene, bemüht, einzulenken. »Seien Sie nicht verrückt, Mr. Wickfield! Wenn ich ein bißchen weiter gegangen bin, als Sie vorbereitet waren, kann ich doch einen Schritt zurück tun, dächte ich. Es ist doch noch nichts geschehen!«

»Ich forschte bei allem nach einfachen Beweggründen«, sagte Mr. Wickfield, »und begnügte mich mit dem Bewußtsein, seinen Eigennutz an mich gefesselt zu haben, als ich ihn aufnahm. Aber sieh ihn – sieh ihn an jetzt in seiner wahren Gestalt.«

»Sie täten auch besser, ihn zum Schweigen zu bringen, Copperfield«, rief Uriah und wies zitternd mit seinem langen Zeigefinger auf mich. »Er wird gleich etwas sagen – hören Sie doch zu –, was ihm später leid tun wird, Ihnen verraten zu haben.«

»Ich will alles sagen«, schrie Mr. Wickfield verzweifelt. »Warum sollte ich nicht in der Hand jedes Menschen sein, wenn ich in der Ihrigen bin!«

»Hüten Sie sich! Ich sag es Ihnen!« rief Uriah mir wieder warnend zu. »Wenn Sie ihn nicht zum Schweigen bringen, sind Sie nicht sein Freund. Warum Sie nicht in der Hand jedes Menschen sein dürfen, Mr. Wickfield? Weil Sie eine Tochter haben! Sie und ich wissen, was mir wissen, nicht wahr?! Lassen Sie die Toten ruhen – wer wird es zur Sprache bringen? Ich gewiß nicht! Sehen Sie denn nicht, daß ich so unterwürfig bin, wie es nur sein kann?! Ich sag Ihnen doch, ich bin zu weit gegangen, und es tut mir leid. Was wollen Sie denn mehr, Sir?!«

»Ach Trotwood, Trotwood!« rief Mr. Wickfield, die Hände ringend. »Was ist aus mir geworden, seitdem ich dich das erste Mal in diesem Hause sah! Es ging schon damals mit mir bergab, aber durch welche Wüsteneien bin ich seitdem gewandert. Schwaches Gewährenlassen hat mich zugrunde gerichtet. Ein Schwelgen in der Erinnerung und ein Schwelgen im Vergessen. Mein Gram um die Mutter meines Kindes wurde zu einer Krankheit. Alles, was ich berührte, habe ich angesteckt. Ich habe elend gemacht, was ich am teuersten liebe, und ich weiß es, und du weißt es. Ich hielt es für möglich, ein Wesen in dieser Welt wahrhaftig lieben zu können und alle übrigen auszuschließen; ich hielt es für möglich, für eine Dahingeschiedne wahrhaft trauern zu können, ohne Anteil an dem Kummer aller andern Trauernden zu nehmen. So haben sich die Lehren, die mir das Leben gab, verzerrt. Ich habe von meinem eignen kranken, feigen Herzen gezehrt, und es hat von mir gezehrt. Geizend mit meinem Gram, geizend mit meiner Liebe, selbstsüchtig in elender Scheu vor der dunkeln Seite der beiden Gefühle zurückschrecken – o, sieh her, welche Ruine ich bin, und hasse mich, verabscheue mich!«

Er sank in seinen Stuhl und schluchzte leise. Seine Aufregung ließ mehr und mehr nach. Uriah kam aus seiner Ecke hervor.

»Ich weiß es ja nicht, was ich alles im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit getan habe«, sagte Mr. Wickfield und streckte die Hände gegen mich aus, als wolle er ein Verdammungsurteil bittend abwehren. »Er, er weiß es am besten«, – er blickte auf Uriah Heep – »denn er hat immer als Einflüsterer hinter mir gestanden. Da siehst du den Mühlstein um meinen Hals. Du findest ihn in meinem Haus und in meiner Kanzlei. Du hörst, was Heep noch vor wenigen Minuten sprach, was brauche ich noch mehr zu sagen!«

»Sie haben überhaupt nicht nötig, soviel oder nur halb soviel oder überhaupt etwas zu sagen«, sprudelte Uriah, halb tückisch, halb kriecherisch hervor. »Sie hätten auch gar nicht so viel Aufhebens davon gemacht, wenn nicht der Wein gewesen wäre. Sie werden morgen klarer drüber denken, Sir. Wenn ich zuviel gesagt habe oder mehr als ich meinte, was tut das! Ich habe es doch wieder zurückgenommen!«

Die Türe ging auf, und Agnes glitt herein, ohne eine Spur von Farbe auf ihrem Gesicht, legte den Arm um Mr. Wickfields Hals und sagte gefaßt: »Papa, du bist nicht wohl. Komm mit mir!«

Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter wie in tiefer Scham und verließ mit ihr das Zimmer. Ihre Blicke begegneten den meinen nur eine Sekunde lang, aber ich erkannte, wie viel sie von dem Geschehenen wußte.

»Ich hätte nicht gedacht, daß er es so übel aufnehmen würde, Master Copperfield«, sagte Uriah. »Schadet nichts. Morgen werden mir wieder gute Freunde sein. Es ist zu seinem Besten. Ich bin immer demütigst um sein Bestes besorgt.«

Ich gab keine Antwort und ging hinauf in das stille Zimmer, wo Agnes so oft neben mir, wenn ich studierte, gesessen hatte. Es wurde spät nachts, doch niemand kam. Ich nahm ein Buch und versuchte zu lesen. Ich hörte die Uhren zwölf Uhr schlagen und las immer noch, ohne zu wissen was, als Agnes‘ Hand mich berührte.

»Du reisest morgen frühzeitig ab, Trotwood. Laß uns jetzt Abschied nehmen.«

Sie hatte geweint, aber ihr Antlitz war jetzt ruhig und schön.

»Gott segne dich!« sagte sie und gab mir die Hand.

»Liebste Agnes, ich sehe, du wünschest nicht von dem Vorfall heute abend zu sprechen ? aber läßt sich denn gar nichts tun?«

»Wir müssen unser Vertrauen auf Gott setzen«, gab sie zur Antwort.

»Kann ich nichts tun, ich – der immer mit seinen kleinen Schmerzen zu dir kommt.«

»Und die meinigen damit um soviel leichter macht«, erwiderte sie. »Nein, lieber Trotwood.«

»Es klingt anmaßend von mir, liebe Agnes, wo ich so arm an allem bin und du so reich an Güte, Entschlossenheit und allen edlen Eigenschaften, – an dir zu zweifeln oder dir Ratschläge zu geben, aber du weißt, wie sehr ich dich liebe und wie viel ich dir verdanke. Du wirst dich niemals einem falschen Pflichtgefühl aufopfern, nicht wahr, Agnes?«

Einen Augenblick lang viel aufgeregter als ich sie je gesehen, trat sie einen Schritt zurück.

»Sage, daß du nicht an so etwas denkst, liebe Agnes, die du mir mehr bist als eine Schwester! Denke, was es heißt, ein Herz und eine Liebe wie die deinige hinzugeben!«

Noch viele, viele Jahre später sah ich dieses Gesicht vor mir aufsteigen mit einem schnell verschwindenden Blick, nicht erstaunt, nicht anklagend, nicht bedauernd.

Gleich darauf wurde ihr Ausdruck zu einem lieblichen Lächeln, und sie sagte zu mir, sie habe ihretwegen keine Furcht, noch brauchte ich welche zu haben. Dann nahm sie Abschied von mir, nannte mich Bruder und ging.

 

Der Tag war noch nicht angebrochen, als ich vor dem Gasthof auf die Landkutsche stieg. Eben wollten wir abfahren, da tauchte in der Dämmerung Uriahs Kopf auf.

»Copperfield«, sagte er mit einem heiseren Flüstern, als er sich an dem eisernen Geländer des Daches festhielt, »ich glaubte, Sie würden es gerne hören vor Ihrer Abreise, daß alles zwischen uns wieder geebnet ist. Ich war heute früh in seinem Zimmer und habe alles in Ordnung gebracht. Obgleich ich nur eine niedrige Person bin, bin ich doch für ihn von Nutzen, und er versteht sich auf sein Interesse, wenn er nicht berauscht ist. Was für ein angenehmer Mann er doch im Grunde ist, Master Copperfield!«

Ich erwiderte bloß, ich freute mich, daß er ihn um Verzeihung gebeten habe.

»O selbstverständlich! Bei einer niedrigen Person, was ist da eine Bitte um Verzeihung! Nichts ist leichter! ? Noch eins. Haben Sie schon einmal«, sagte Uriah mit einem Zucken, »eine Birne gepflückt, ehe sie reif war, Master Copperfield?«

»Ich glaube wohl.«

»Das tat ich gestern abend, aber sie wird schon noch reif werden. Nur abwarten muß man es. Ich kann warten!«

Nach einem vor Worten übersprudelnden Abschied stieg er wieder hinunter, als der Kutscher sich auf den Bock setzte. Ich weiß nicht, ob er etwas kaute, um sich gegen die rauhe Morgenluft zu schützen, aber er machte Bewegungen mit seinem Mund, als wäre die Birne schon reif und er schmatze mit den Lippen danach.

40. Kapitel Der Wanderer


40. Kapitel Der Wanderer

Wir hatten über diese Vorfälle abends ein sehr ernstes Gespräch in der Buckingham Straße. Meine Tante nahm lebhaftesten Anteil daran und ging mehr als zwei Stunden lang mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Das tat sie stets, wenn ihre Stimmung besonders aus dem Gleichgewicht geraten war. Jetzt schien sie so beunruhigt, daß sie die Schlafzimmertür öffnete, um mehr Platz zum Auf- und Abgehen zu haben; und während Mr. Dick und ich ruhig am Kamin saßen, ging sie auf ihrer abgesteckten Bahn in immer gleichem Schritt und mit der Regelmäßigkeit eines Pendels auf und ab.

Als Mr. Dick schlafen gegangen war, setzte ich mich hin, um den Brief an die beiden alten Damen zu schreiben. Meine Tante, müde geworden, saß, den Oberrock wie gewöhnlich in die Höhe gesteckt, am Kamin. Anstatt wie sonst das Glas auf den Knien zu halten, ließ sie es unbeachtet auf dem Kaminsims stehen und sah mich gedankenvoll an, das Kinn auf die linke Hand gestützt. Sooft ich ihrem Blicke begegnete, sagte sie: »Ich bin in der allerbesten Stimmung, lieber Trot, aber ich bin unruhig und besorgt.«

In meiner Geschäftigkeit bemerkte ich erst, als sie schon zu Bett gegangen war, daß sie ihren Schlaftrunk unberührt auf dem Kaminsims hatte stehenlassen.

»Ich kann es heute nicht über das Herz bringen, ihn zu trinken, Trot«, erwiderte sie, als ich an die Tür klopfte und sie darauf aufmerksam machte.

Am Morgen las sie meinen Brief an die beiden alten Damen und billigte ihn. Ich brachte ihn zur Post und hatte dann weiter nichts mehr zu tun, als so geduldig wie nur möglich auf eine Antwort zu warten. In einer solchen Wartestimmung befand ich mich schon eine volle Woche, als ich eines Abends bei Schneewetter den Doktor verließ und nach Hause ging.

Es war bitterkalt und ein schneidender Nordost wehte. Gegen Abend legte sich der Sturm und es schneite in großen, schweren, dicken Flocken. Das Geräusch der Räder und Tritte klang so gedämpft, als wären die Straßen mit Federn bestreut.

Mein kürzester Nachhauseweg – den ich natürlich bei solchem Wetter wählte – ging durch die Saint Martin’s Lane. Die Kirche, die der Straße ihren Namen gibt, stand damals weniger frei als jetzt. Als ich an den Stufen des Portals vorüberging, begegnete ich einer Frauensperson. Sie sah mich an, ging über die schmale Straße und verschwand. Ich kannte doch das Gesicht! Irgendwo hatte ich es gesehen! Ich konnte mich nur nicht entsinnen, wo. Es knüpften sich an das Gesicht Erinnerungen, die mir tief ans Herz griffen. Aber ich dachte an ganz andere Dinge und war verwirrt.

 

Auf den Stufen der Kirche stand ein Mann, der, über ein Bündel gebückt, es ordnete, um es besser auf die Schulter nehmen zu können. Wir blickten einander im selben Augenblick ins Gesicht. Ich stand Mr. Peggotty gegenüber.

Jetzt besann ich mich auch auf das Frauenzimmer. Es war Marta Endell gewesen.

Wir schüttelten uns herzlich die Hände. Anfangs konnte keiner von uns ein Wort hervorbringen.

»Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty und drückte mir fest die Hand. »Es tut meinem Herzen wohl, Sie zu sehen. Willkommen! Willkommen!«

»Willkommen, mein guter alter Freund!« sagte ich.

»Ich machte mir so meine Gedanken, ob ich Sie heute abend noch aufsuchen könnte, aber ich weiß, daß Sie mit Ihrer Tante zusammenwohnen – denn ich bin unten gewesen in Yarmouth –, und fürchtete, es sei zu spät. Ich wäre morgen früh ganz zeitig gekommen, ehe ich wieder abreiste.«

»Wieder?«

»Ja, Sir.« Er nickte geduldig mit dem Kopf. – »Ich will morgen wieder fort.«

»Wohin gehen Sie jetzt?«

»Ich wollte mir ein Nachtquartier suchen«, sagte er und schüttelte den Schnee aus seinem langen Haar. »Irgendwo.«

Zu jener Zeit führte ein Nebeneingang in den Hof des »Goldnen Kreuzes«, des Gasthofs, der mir in Verbindung mit Mr. Peggottys Unglück so denkwürdig war und in dessen unmittelbarer Nähe wir uns befanden. Ich wies auf den Torweg, hängte mich in Mr. Peggotty ein und wir gingen hinüber. Zwei oder drei Gastzimmer mündeten auf den Hof hinaus, und da das eine leer war und ein gutes Feuer darin brannte, zog ich ihn mit hinein.

Als ich ihn bei Licht sah, bemerkte ich, daß nicht nur sein Haar lang und wirr, sondern auch sein Gesicht von der Sonne braun gebrannt war. Die Furchen auf Wangen und Stirne schienen tiefer und die Haare grauer geworden zu sein, aber er sah sehr kräftig und wie ein Mann aus, den ein fester Wille aufrecht erhält und nichts ermüden kann. Er schüttelte den Schnee von Hut und Kleidern und Bart, während ich diese Beobachtung machte.

»Ick will Sej vertellen, wo ick wesen bün, Masr Davy, und wat ick erfahren hew. Ick bün wiet wesen und hew wenig erfahren, aber ick will et Sej verteilen.«

Ich schellte, um etwas Warmes zum Trinken zu bestellen. Er wollte nichts nehmen als Ale, und während es geholt und am Feuer gewärmt wurde, saß er in Gedanken da. Es lag ein schöner, tiefer Ernst auf seinem Gesicht, den ich nicht zu stören wagte.

»Als sie noch ein Kind war«, begann er endlich, »sprach sie mir oft von dem Meere und von den Ufern, wo die See dunkelblau wird und glänzend und funkelnd in der Sonne daliegt. Manchmal dachte ich, sie denke soviel daran, weil ihr Vater ertrunken war. Ich weiß nicht, ob sie vielleicht glaubte oder hoffte, er wäre hingetrieben nach jenen Ländern, wo die Blumen immer blühen und der Himmel immer heiter ist.«

»Wohl möglich, daß sie solch kindliche Phantasien gehabt hat.«

»Als sie – mir verlorenging, da wußte ich gleich, daß – er – sie nach jenen Gegenden bringen würde. Ich wußte es gleich, denn er hatte ihr oft Wunderdinge von ihnen erzählt und sich durch solche Geschichten zuerst Gehör bei ihr verschafft. Als wir bei seiner Mutter waren, da merkte ich gleich, daß mich meine Ahnung nicht täuschte. Ich ging über den Kanal nach Frankreich.«

Ich sah die Türe sich bewegen und Schnee hereinwehen. Dann öffnete sie sich noch ein wenig weiter, und eine Hand griff vorsichtig in die Spalte, um sie offenzuhalten.

»Ich machte einen englischen Gentleman ausfindig, der von der Regierung angestellt ist, und sagte ihm, ich wollte meine Nichte aufsuchen. Er verschaffte mir die nötigen Papiere – ich weiß nicht recht, wie sie heißen –, und er wollte mir auch Geld geben, aber ich dankte ihm, denn ich brauchte es nicht. Ich bin ihm dankbar für alles, was er getan hat. ›Ich habe schon an verschiedene Orte, durch die Sie kommen werden, Briefe vorausgeschickt‹, sagte er zu mir, ›und werde viele aufmerksam machen, die denselben Weg reisen, und viele werden Sie erkennen, wenn sie Ihnen begegnen, und Ihnen behilflich sein.‹ Ich sprach ihm, so gut ich konnte, meine Dankbarkeit aus und reiste durch Frankreich weiter.«

»Allein und zu Fuß?«

»Meistens zu Fuß, manchmal im Marktwagen mit den Landleuten, manchmal in leeren Leiterwagen. Manche Meile des Tags zu Fuß und oft mit irgendeinem armen Soldaten, der zu seinen Verwandten nach Hause wanderte. Ich konnte nicht mit ihnen reden«, sagte Mr. Peggotty, »und sie nicht mit mir, aber wir leisteten uns doch Gesellschaft auf der staubigen Straße.«

Ich hätte das schon an der Herzlichkeit seines Tones erraten.

»Wenn ich in eine Stadt kam, wartete ich vor einem Gasthof, bis sich jemand fand, der Englisch verstand, was meistens der Fall war.

Dann sagte ich ihm, daß ich meine Nichte suchte, und ließ mir erzählen, was für Herrschaften im Hause wären, und wenn ich glaubte, daß Emly dabei sein könnte, so wartete ich ab, bis sie heraustraten. Wenn ich später in ein Dorf zu armen Leuten kam, da kannten sie mich schon. Das Gerücht war mir vorausgeeilt. Sie räumten mir einen Platz in ihren Hütten ein und gaben mir das Beste, was sie hatten, zu essen und zu trinken und luden mich ein, bei ihnen zu schlafen. Und manche Frau, Masr Davy, die eine Tochter in Emlys Alter hatte, wartete draußen vor dem Dorf am Wegkreuz, um mir solche Freundschaft zu erweisen. Manchen waren die Töchter gestorben. Nur Gott weiß, wie gut diese Mütter gegen mich waren.«

Marta stand an der Tür. Ich sah ihr abgezehrtes, lauschendes Gesicht ganz deutlich. Ich fürchtete nur, er werde sich umdrehen und sie sehen.

»Oft setzten sie mir ihre Kinder, vornehmlich die Mädchen, auf den Schoß, und manchen Abend hätten Sie mich vor solchen Türen sitzen sehen können, als ob es meines Lieblings Kinder gewesen wären!«

Überwältigt von plötzlichem Schmerz schluchzte er laut. Ich legte meine bebende Hand auf die seinen, mit denen er sein Gesicht verdeckte.

»Ich danke Ihnen, Sir, beachten Sie es nicht weiter!«

Und er fuhr in seiner Erzählung fort. »Oft begleiteten sie mich wohl eine halbe Stunde lang; und wenn ich ihnen beim Abschied sagte: Ich danke euch, Gott segne euch! schienen sie es immer zu verstehen und antworteten freundlich. Endlich erreichte ich das Meer. Für einen Seemann wie ich ist es nicht schwer, sich die Überfahrt nach Italien zu verdienen. Das können Sie sich leicht denken. Dann wanderte ich weiter wie früher. Ich wäre vielleicht von Stadt zu Stadt, vielleicht durch das ganze Land gewandert, wenn ich nicht Nachricht erhalten hätte, man habe sie in den Schweizer Bergen gesehen. Jemand, der seinen Bedienten kannte, hatte sie dort alle drei getroffen und erzählte mir, wie sie reisten und wo sie sich aufhielten. Tag und Nacht wanderte ich, Masr Davy, den Bergen entgegen, Tag und Nacht, aber je weiter ich kam, desto weiter schienen sie vor mir zurückzutreten. Aber endlich kam ich doch hin. In der Nähe des Ortes, wo Emly sein sollte, fing ich an, bei mir zu denken: was soll ich tun, wenn ich sie vor mir sehe?«

Die lauschende Gestalt stand immer noch an der Tür, und ihre Hände flehten mich an, sie nicht zu verraten.

»Ich habe nie an ihr gezweifelt«, fuhr Mr. Peggotty fort. »Nein, nicht ein bißchen! Sie soll nur mein Gesicht sehen, meine Stimme hören, und sie wird sich erinnern an die Häuslichkeit, die sie verlassen hat, und an das Kind, das sie gewesen ist, – und wenn sie eine Königin geworden wäre, sie würde niedergefallen sein zu meinen Füßen. Ich weiß es gewiß. Wie oft in meinen Träumen hatte ich sie rufen hören: Onkel! und sie tot vor mir niederfallen sehen, und immer hatte ich sie aufgehoben und zu ihr gesagt: Liebe Emly, ich komme, um dir Verzeihung zu bringen und dich mit heimzunehmen.«

Er hielt inne, nickte mit dem Kopf und fuhr mit einem Seufzer fort zu erzählen.

»Er sollte mich nichts angehen. Emly war mir alles. Ich würde ein Bauernkleid für sie kaufen, und ich wußte, wenn ich sie einmal fände, würde sie neben mir hergehen auf diesen rauhen Wegen und mich nie, nie mehr verlassen. Ihr dieses Kleid anzuziehen und das, was sie getragen, wegzuwerfen, sie wieder auf meinen Arm zu nehmen und der Heimat entgegenzuwandern, – manchmal auf dem Weg auszuruhen und ihre wunden Füße und ihr noch wunderes Herz zu heilen, an weiter dachte ich nichts. Ich glaube kaum, daß ich ihn auch nur mit einem Blick angesehen hätte. Aber Masr Davy, es sollte nicht sein – noch nicht. Ich kam zu spät, und sie waren schon fort. Wohin, konnte ich nicht erfahren. Einige sagten hierhin, andere dorthin, aber nirgends fand ich Emly und reiste nach Haus.

»Wann war das?« fragte ich.

»Vor ein paar Tagen bekam ich das alte Boot nach Dunkelwerden zu Gesicht, und das Licht schimmerte im Fenster. Als ich herankam und durch die Scheiben blickte, sah ich die alte treue Mrs. Gummidge allein am Feuer sitzen, wie wir es ausgemacht hatten. Ich rief: »Erschrick nicht. Es ist Daniel«, und ging hinein. Ich hätte nie gedacht, daß mir das alte Boot würde so fremd vorkommen können.«

Er zog jetzt aus seiner Brusttasche sehr behutsam ein Paket von zwei oder drei Briefen heraus und legte es auf den Tisch.

»Der erste hier«, sagte er, »kam, ehe ich eine Woche fort war. Eine Fünfzig-Pfundnote in einen Bogen Papier gewickelt lag darin, an mich adressiert und nachts unter die Türe gesteckt. Sie hatte versucht, ihre Handschrift zu verstellen, aber vor mir kann sie nichts verbergen.«

Er faltete den Brief sehr sorgfältig genau in derselben Form wieder zu und legte ihn zur Seite.

»Dieser zweite kam einige Tage später an Mrs. Gummidge.«

Er sah ihn eine Weile an, reichte ihn mir und setzte mit leiser Stimme hinzu:

»Seien Sie so gut und lesen Sie ihn, Sir!«

Ich las folgendes:

O, was wirst Du nur fühlen, wenn Du diese Schrift siehst und weißt, sie kommt von meiner verruchten Hand! Aber versuche – nicht um meinetwillen, sondern um meines Onkels Güte willen – versuche, nur eine kleine, kleine Weile mit mildem Herzen meiner zu gedenken; versuche, bitte, tue es, barmherzig zu sein gegen ein unglückliches Mädchen und auf einen Zettel zu schreiben, ob er gesund ist und was er von mir sagte, bevor Ihr aufhörtet, meinen Namen unter Euch zu nennen, und ob er abends, wenn die alte Stunde meines Nachhausekommens naht, dreinschaut, als ob er an die denkt, die er einst so innig liebte. Mir ist, als wollte mir das Herz brechen, wenn ich daran denke. Ich knie vor Dir nieder und flehe Dich an, nicht so hart gegen mich zu sein, wie ich es verdiene – wie ich sehr wohl weiß, daß ich es verdiene –, sondern so sanft und gut zu sein, etwas über ihn auf einen Zettel zu schreiben und mir zu schicken. Nenn mich nicht Emly, nenne mich nicht bei dem Namen, den ich geschändet habe, aber höre auf mich in meiner Todesangst und habe Erbarmen mit mir und schreibe mir ein Wort von meinem Onkel, den meine Augen nie, nie mehr wiedersehen sollen.

Du Liebe, Gute, wenn Dein Herz hart ist gegen mich – mit Recht hart, das weiß ich wohl –, so bitte ich Dich, frage den, dem ich am wehesten getan habe, dessen Weib ich werden sollte, bevor Du mir meine armselige Bitte abschlägst. Wenn er so barmherzig ist Dir zu sagen, Du mögest eine Zeile an mich schreiben, – ich glaube, er tut es – er tut es, wenn Du ihn nur darum fragst, denn sein Herz war immer voll Güte und Verzeihung, – dann sage ihm, daß mir ist, wenn ich des Nachts den Wind brausen höre, als stürme er zornig vorbei, weil er ihn und den Onkel gesehen habe und hinauf ginge zu Gott, um gegen mich zu klagen. Sage ihm, wenn ich morgen sterben müßte – und wie gern würde ich sterben, wenn ich es mit gutem Gewissen könnte –, ich würde ihn und den Onkel mit meinen letzten Worten segnen und mit dem letzten Atemzuge um ein glückliches Heim für ihn beten.

Auch diesem Briefe lag Geld bei. Fünf Pfund. Es war ebensowenig berührt wie das andere, und Mr. Peggotty faltete es ebenso zusammen. Genaue Anweisungen hinsichtlich der Adresse einer Antwort waren hinzugefügt, und, obgleich der Brief durch mehrere Hände gegangen zu sein schien und auf ihren gegenwärtigen Aufenthalt daraus nicht geschlossen werden konnte, so war es doch nicht unwahrscheinlich, daß er von dem Orte ausging, wo sie zuletzt gesehen worden war.

»Was hat man ihr geantwortet«? fragte ich.

»Da Mrs. Gummidge nicht viel davon versteht, so verfaßte Ham den Brief, und sie schrieb ihn ab. Es stand darin, ich sei fort, um sie zu suchen, und meine letzten Worte an sie.

»Sie haben da noch einen Brief in der Hand.«

»Es ist Geld, Sir«, sagte Mr. Peggotty und öffnete ein wenig den Briefumschlag. »Zehn Pfund, sehen Sie her. Darinnen steht: »Von einem wahren Freunde!« wie in dem ersten, aber der erste wurde unter die Tür gesteckt, und dieser kam vorgestern mit der Post. Ich will sie an dem Orte suchen gehen, den der Stempel anzeigt.«

Er zeigte mir den Brief. Er kam aus einer Stadt des Oberrheins. Mr. Peggotty hatte in Yarmouth ein paar auswärtige Kaufleute aufgefunden, die die Gegend kannten, und sie hatten ihm eine flüchtige Skizze einer Karte entworfen, die er recht gut verstand. Er legte sie auf den Tisch und verfolgte seinen Weg darauf mit dem Finger, das Kinn auf die eine Hand gestützt.

Ich fragte ihn, wie es Ham gehe. Er schüttelte nur den Kopf.

»Er arbeitet, wie es einem Menschen nur irgend möglich ist«, sagte er. »Sein Name ist in der ganzen Gegend so gut angeschrieben wie der keines andern. Jedermann ist bereit, ihm zu helfen, und auch er hilft jedem gern. Klagen hört man ihn nie. Aber unter uns – meine Schwester meint, daß es ihn tief getroffen hat.«

»Der Arme! Ich kann es mir denken!«

»Sein Leben gilt ihm nichts, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty mit feierlichem Flüstern, »wenn man bei bösem Wetter jemand für ein gefährliches Unternehmen braucht, so ist er da. Wenns etwas Anstrengendes und Gefährliches zu tun gibt, ist er bei der Hand. Und doch ist er so sanft wie ein Kind. Jedes Kind in Yarmouth liebt ihn.«

Er nahm die Briefe gedankenvoll zusammen, glättete sie und steckte sie sorgfältig in die Tasche.

Das Gesicht war von der Tür verschwunden. Der Schnee wehte immer noch herein, aber sonst war nichts zu sehen.

»Nun, da ich Sie heute abend gesprochen habe, Masr Davy, – und es hat mir gutgetan«, sagte er und warf einen Blick auf sein Bündel, »so will ich mich morgen früh beizeiten auf den Weg machen. Sie wissen, was ich hier bei mir trage«, fuhr er fort und legte die Hand auf seine Brusttasche. »Ich habe nur die eine Sorge, daß mir etwas zustoßen könnte, ehe ich das Geld zurückgeben kann. Wenn ich sterben sollte, und es ginge verloren oder würde gestohlen, und – er – wäre im Glauben, ich hätte es angenommen, ich würde es in der andern Welt nicht aushalten können. Ich glaube, ich müßte zurück.«

Wir standen auf und drückten einander noch herzlich die Hand, ehe wir hinausgingen.

»Ich würde zehntausend Meilen wandern«, sagte er, »bis ich tot niederfiele, um ihm das Geld vor die Füße zu werfen. Wenn ich das getan und meine Emly gefunden habe, dann bin ich zufrieden. Wenn ich sie nicht finde, so erfährt sie vielleicht einmal, daß ihr Onkel erst mit seinem Tode aufgehört hat, sie zu suchen; und kenne ich sie recht, wird dieser Gedanke sie nach Hause führen.«

Als wir hinaus in die kalte Nacht traten, sah ich die einsame Gestalt vor uns davoneilen. Unter einem Vorwand bewog ich Mr. Peggotty sich umzudrehen und hielt ihn im Gespräche fest, bis sie fort war.

Er sprach von einer kleinen Schenke auf der Straße nach Dover, wo er ein reinliches und einfaches Nachtquartier suchen wollte. Ich begleitete ihn über die Westminsterbrücke und wir schieden am Surreyufer. Mir war es, als ob alles vor ihm totenstill würde, wie er seine einsame Wanderung durch den Schnee wieder antrat.

Ich kehrte nach dem Gasthof zurück und sah mich, noch unter der Erinnerung an jenes Gesicht stehend, bange nach der Gestalt um. Sie war nicht mehr da. Der Schnee hatte unsere Fußstapfen verweht, und meine neue Spur war die einzig sichtbare, und selbst diese sah ich rasch verschwinden unter den fallenden Flocken, als ich zurückblickte.

61. Kapitel Zwei interessante Reuige werden vorgeführt


61. Kapitel Zwei interessante Reuige werden vorgeführt

Eine Zeitlang wohnte ich bei meiner Tante in Dover und schrieb dort ungestört und eifrig an meinem Roman an demselben Fenster, von dem aus ich einst auf den Mondschein auf dem Meere draußen geblickt hatte, als dieses Haus mir das erste Mal Obdach gewährte.

Zuweilen besuchte ich London, um mich in dem Gewühl des Lebens ein wenig zu verlieren oder mit Traddles über eine Geschäftsangelegenheit zu beraten. Er hatte meine Angelegenheiten während meiner Abwesenheit mit größter Umsicht verwaltet, und meine Vermögensverhältnisse standen sehr gut. Als mir mein Bekanntwerden als Schriftsteller eine ungeheure Menge Briefe von mir unbekannten Leuten ins Haus brachte, die meist von nichts handelten und sehr schwer zu beantworten waren, – einigte ich mich mit Traddles, an seine Tür auch meinen Namen anschlagen zu lassen.

Dort lieferten die unglücklichen Briefträger dieses Bezirkes ganze Scheffel von Briefen an mich ab, und ich arbeitete mich von Zeit zu Zeit durch die Papiermassen durch wie ein Staatssekretär. Nur ohne Gehalt. Unter diesen Briefen fand sich dann und wann ein Angebot von einem der zahllosen Outsiders, die sich immer in den Commons herumtreiben, mit Benützung meines Namens, da ich jetzt Proktor geworden, zu praktizieren und mit mir den Gewinn zu teilen. Aber ich lehnte jedes Mal ab, da ich die Commons für schlecht genug hielt, um noch etwas dazu beitragen zu müssen.

Die Mädchen waren nach Hause gereist, und der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht sah den ganzen Tag aus, als ob er nicht das mindeste von Sophie wüßte, die bei ihrer Arbeit in ihrem Hofzimmer mit der Aussicht auf ein rauchgeschwärztes Streifchen Garten mit einem Ziehbrunnen darin zu sitzen pflegte. Immer fand ich sie dort, immer dieselbe muntere Hausfrau, und oft summte sie ihre Devonshirer Balladen und erquickte damit das Ohr des pfiffigen Burschen.

Im Anfang wunderte ich mich, warum ich sie so oft mit Schreiben beschäftigt fand und warum sie immer, wenn ich kam, ihr Buch zuklappte und es schnell in die Schublade legte. Aber das Geheimnis löste sich bald. Eines Tages nämlich nahm Traddles, als er bei regnerischem Wetter vom Gericht nach Hause kam, ein Papier aus seinem Pult und fragte mich, was ich von der Handschrift hielte.

»Aber laß doch, Tom«, rief Sophie, die seine Hausschuhe am Kamin wärmte.

»Warum nicht, liebe Sophie?« erwiderte Tom ganz entzückt. »Was hältst du von dieser Handschrift, Copperfield?«

»Eine ausgeschriebne Advokatenhand. Ich habe kaum je eine festere gesehen.«

»Keine Damenhand?«

»Eine Damenhand!« wiederholte ich. »Mauersteine und Kalk sehen einer Damenhand ähnlicher.«

Traddles brach in ein entzücktes Lächeln aus und sagte mir, es sei Sophies Schrift. Sie habe sie sich, damit sie einen Schreiber sparen könnten, nach Vorlagen angeeignet. Ich weiß nicht mehr, wieviel Folioseiten in der Stunde sie schreiben konnte. Sie wurde sehr verlegen und meinte, wenn Tom erst einmal Richter wäre, werde er es nicht mehr so bereitwillig ausplaudern. Das leugnete Tom und behauptete, er werde unter allen Verhältnissen gleich stolz darauf sein.

 

»Wie gut und liebenswürdig deine Frau ist, Traddles«, sagte ich, als sie lachend fortgegangen war.

»Lieber Copperfield, sie ist ohne Ausnahme das beste Mädchen von der Welt! Und wie sie wirtschaftet! Ihre Pünktlichkeit, Häuslichkeit, Sparsamkeit und ihr heiterer Sinn, Copperfield!«

»Du hast alle Ursache, sie zu loben«, stimmte ich ein. »Du bist ein glücklicher Mensch. Ich glaube, ihr beide macht euch gegenseitig zu den glücklichsten Menschen auf Erden.«

»Ich bin überzeugt, daß wir es sind. Ich gebe das in jeder Hinsicht zu. Mein Gott, wenn ich sie früh bei Tagesanbruch aufstehen sehe, wie sie alles vorbereitet, auf den Markt geht bei jedem Wetter, ehe die Schreiber in die Inn kommen, die prächtigsten kleinen Mittagessen aus den einfachsten Sachen herstellt, Puddings und Pasteten bereitet, jedes Ding an seinem rechten Platz erhält, auf mich abends wartet, wenn es noch so spät wird, und immer fröhlich und guten Mutes ist und dabei schmuck und hübsch aussieht, kann ich es manchmal kaum glauben, Copperfield.«

Er war selbst gegen die Pantoffel, die sie gewärmt hatte, zärtlich, als er sie anzog und seine Füße vergnügt an das Kamingitter stellte.

»Und dann erst unsere Vergnügungen! Mein Gott, kostspielig sind sie nicht, aber ganz wundervoll. Wenn wir abends zu Hause sitzen, die Außentür zuschließen und die Vorhänge hier, die sie selbst gemacht hat, zuziehen, wo kann es da gemütlicher sein! Wenn wir bei schönem Wetter spazierengehen, bieten sich uns in den Straßen tausenderlei Freuden. Wir schauen in die blitzenden Juwelierläden, und ich zeige Sophie die Schlangen mit den Diamantaugen auf den kleinen Hügeln aus weißem Atlas, die ich ihr schenken würde, wenn ich das Geld dazu hätte, und sie zeigt mir, welche von den goldnen, mit Steinen besetzten Uhren sie mir kaufen möchte, wenn es langte. Wir suchen uns die Löffel und Gabeln, Fischkellen, Buttermesser und Zuckerzangen aus und gehen mit einem Gefühl fort, als ob wir sie schon hätten. Dann, wenn wir auf die freien Plätze und in die breiten Straßen kommen, besprechen wir, wie das oder jenes Haus sich machen würde, wenn ich erst Richter wäre, und teilen es ein: – soviel Zimmer für uns, soviel für die Mädchen und so weiter, bis wir zu unserer Zufriedenheit festgestellt haben, ob es passen würde oder nicht. Manchmal gehen wir bei halben Preisen ins Theater ins Parterre – dessen Geruch schon meiner Meinung nach für das Geld billig ist – und genießen das Stück, von dem Sophie jedes Wort glaubt und ich auch.

Auf dem Nachhausewege kaufen wir vielleicht eine kleine Delikatesse in einer Garküche oder einen kleinen Hummer bei einem Fischhändler und bereiten uns zu Hause ein glänzendes Abendessen, bei dem wir über alles, was wir gesehen, plaudern. Siehst du, wenn ich Lordkanzler wäre, Copperfield, könnte ich das alles nicht tun.«

Du würdest in jeder Stellung etwas Hübsches, Liebenswürdiges tun, Traddles, dachte ich bei mir.

»Übrigens«, sagte ich, »du zeichnest jetzt gewiß keine Gerippe mehr.«

»O doch«, entgegnete Traddles mit Lachen und ein wenig errötend, »ich kann es nicht leugnen, lieber Copperfield. Als ich neulich mit der Feder in der Hand in einer der rückwärtigen Reihen in Kingsbench saß, fiel mir ein, ob ich es noch könnte. Und ich fürchte, es ist jetzt ein Gerippe mit einer Perücke auf dem Rande des Pultes zu sehen.«

Nachdem wir beide herzlich gelacht hatten, schloß Traddles, ins Feuer blickend, in seiner milden, verzeihenden Weise:

»Der alte Creakle!«

»Ich habe einen Brief hier von diesem alten – Halunken«, sagte ich, denn ich dachte weniger versöhnlich.

»Von Creakle, unserm Lehrer?!« rief Traddles. »Nicht möglich!«

»Unter den Personen, die mein Ruf als Schriftsteller anzieht«, sagte ich und blätterte in meinen Briefen, »und die jetzt mit einem Mal entdecken, daß sie mich von jeher geliebt haben, ist dieser selbige Creakle. Er ist jetzt nicht mehr Schuldirektor, Traddles. Er hat sich zurückgezogen. Er ist Gefängnisdirektor in Middlessex.«

Traddles war gar nicht so erstaunt, wie ich erwartet hatte.

»Wie mag er es wohl dazu gebracht haben?« fragte ich.

»Mein Gott, das ist wohl schwer zu beantworten. Vielleicht hat er für jemand seine Stimme abgegeben, jemand Geld geliehen oder auf andere Weise verpflichtet; eine schmutzige Geschichte für jemand auf sich genommen, der dann den Grafschaftsgouverneur veranlaßte, ihn zu ernennen.«

»Im Amt ist er jedenfalls«, sagte ich. »Er schreibt mir hier, er würde sich freuen, mir das einzig wahre System der Gefangenenbehandlung vorführen zu dürfen; die einzig richtige Methode, aufrichtige; dauernde Bekehrung und Reue zu erwecken. Du weißt, durch Einzelhaft. Was meinst du dazu?«

»Zu der Methode?«

»Nein. Ob ich das Anerbieten annehmen soll und ob du mitkommen willst?«

»Ich habe nichts dagegen.«

»Dann will ich ihm schreiben. Du weißt doch noch, wie dieser Creakle seinen Sohn verstieß und seine Frau und Tochter behandelte, von unserer Behandlung gar nicht zu sprechen.«

»Vollkommen.«

»Wenn du jetzt seinen Brief liest; wirst du finden, daß er der allerzärtlichste Mensch gegen Verbrecher ist, die sämtlicher Paragraphen des Kriminalgesetzes überführt sind. Auf keine andere Klasse von Geschöpfen scheint sich seine Liebe zu erstrecken.«

Traddles zuckte nur mit den Schultern und war gar nicht verwundert.

Ich selbst war eigentlich auch nicht darüber erstaunt, hatte ich doch nicht selten ähnliche praktische Satiren in Wirklichkeit mitangesehen.

 

An dem bestimmten Tag begaben wir uns nach dem Gefängnis, wo Mr. Creakle allmächtig war. Es war ein riesiges solides Gebäude, das unendlich viel Geld gekostet hatte. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, wieviel Geschrei wohl im Lande gewesen wäre, würde jemand vorgeschlagen haben, auch nur halb soviel zur Errichtung einer Industrieschule für die Jugend oder einer Stiftung für alte verdiente Bedürftige auszugeben.

In einem Amtszimmer, das geradesogut für das Erdgeschoß des Turms zu Babel gepaßt hätte, so fest war es, wurden wir unserm alten Schulmeister vorgestellt. Inmitten einer Gruppe von zwei oder drei geschäftseifrigen Beamten und einigen Gästen empfing mich Mr. Creakle wie ein Mann, der meinen Geist in früheren Zeiten gebildet und mich immer zärtlich geliebt hätte. Als ich ihm Traddles vorstellte, sprach er sich in ähnlicher Weise, wenn auch gemäßigter aus, daß er immer Traddles‘ Führer und Freund gewesen sei. Er sah viel älter aus als damals, aber keineswegs angenehmer. Sein Gesicht war noch so rot wie früher, die Augen, ebenso klein, schienen noch tiefer zu liegen. Das dünne, feucht aussehende graue Haar war fast ganz verschwunden, und die dicken Adern auf dem kahlen Kopf machten ihn durchaus nicht anziehender.

Nach längerer Unterhaltung mit den verschiednen Herren, nach der ich hätte annehmen müssen, es könne auf der Welt nichts Wichtigeres geben als die höchstmögliche Bequemlichkeit der Gefangenen und koste sie, was sie wolle, begannen wir unsere Besichtigung. Da gerade Essenszeit war, gingen wir zuerst in die große Küche, wo das Essen, für jeden einzelnen Gefangenen besonders, mit der Genauigkeit einer Maschine abgeteilt wurde. Ich sagte halblaut zu Traddles, ob denn niemand der Unterschied zwischen diesen reichlichen Speisen von auserlesener Güte und dem Mittagessen – nicht etwa der Armenhausbewohner –, nein, auch der Soldaten, Matrosen, der großen Masse ehrenwerter Arbeiter, von denen auch nicht einer von fünfhundert nur ein einziges Mal halb so gut speisen könnte, zu denken gäbe. Aber ich erfuhr, daß das »System« gute Kost erfordere, und fand, daß in dieser Hinsicht wie in jeder andern ein »System« allem Zweifel ein Ende macht und alle Anomalien erklärt. Niemand schien die geringste Ahnung zu haben, daß es noch ein anderes »System« geben könnte als dieses hier.

Als wir durch die prächtig gewölbten Gänge schritten, fragte ich Mr. Creakle und seine Freunde, worin denn eigentlich die Hauptvorzüge dieses alles überragenden »Systems« beständen. Die Vorzüge waren: vollständige Isolierung der Gefangenen, so daß keiner das geringste von den andern wüßte, und allmähliche Erziehung zu einem gesunden Gemütszustand, der schließlich zu aufrichtiger Reue führen sollte.

Aber, als wir einzelne Zellen besichtigten und uns erklären ließen, wie die Gefangenen dem Gottesdienst beiwohnten, da kam es mir sehr wahrscheinlich vor, daß sie ziemlich viel voneinander wüßten und ein recht vollständiges System des Gedankenaustausches besäßen.

Inzwischen ist das, glaube ich, nachgewiesen worden. Doch da es plumpe Lästerung des Erziehungssystems bedeutet hätte, wenn ich einen Zweifel auch nur angedeutet haben würde, beschränkte ich mich darauf, mich so fleißig wie möglich nach den Resultaten hinsichtlich der erzielten Reue umzusehen.

Auch hier konnte ich mich des Mißtrauens nicht erwehren. Ich fand in der Form der Buße eine Mode so vorherrschend wie in den Schneiderläden an den Röcken und Westen. Ich sah sehr viel zur Schau getragen von einer Reue, die sich überall verdächtig gleich blieb und sich kaum in den Worten unterschied. Ich fand sehr viel Füchse, denen die Trauben zu sauer waren, und daß diejenigen, die ihre Reue am meisten zur Schau trugen, sich der allergrößten Teilnahme erfreuten.

Ich hörte so oft einen Numero 27 als Mustergefangenen erwähnen, daß ich mein Urteil verschob, bis ich ihn zu Gesicht bekäme.

Numero 28 sei ebenfalls ein besonders heller Stern, hieß es, aber er hatte das Unglück, daß sein Glanz durch Numero 27 verdunkelt wurde. Ich hörte so viel von Nummer 27, seinen frommen Ermahnungen an alle, die in seine Nähe kämen, und von den schönen Briefen, die er rastlos an seine Mutter, die er auf sehr schlechtem Wege zu glauben schien, schriebe, daß ich darauf brannte, ihn kennenzulernen.

Ich mußte meine Ungeduld einige Zeit zügeln, da sein Anblick als Schlußeffekt aufbewahrt war, aber endlich standen wir vor der Tür seiner Zelle, und Mr. Creakle blickte durch ein kleines Loch hinein und berichtete uns in höchster Bewunderung, daß der Gefangene in seinem Gesangbuch läse. So viel Köpfe drängten sich sofort vor, um Numero 27 im Gesangbuch lesen zu sehen, daß das kleine Loch von mindestens sechs Köpfen auf einmal besetzt war. Um diesem Übelstand abzuhelfen und uns Gelegenheit zu geben, mit Numero 27 in seiner ganzen Reinheit sprechen zu können, ließ Mr. Creakle die Zelle aufsperren und den Gefangenen herauskommen. Wen anders erkannten Traddles und ich zu unserm größten Erstaunen in dem bekehrten Numero 27 als – Uriah Heep.

Er bemerkte uns sofort und sagte schon beim Heraustreten mit seiner alten kriecherischen Verrenkung:

»Wie geht es Ihnen, Mr. Copperfield, und Ihnen, Mr. Traddles?«

Die Erkennungsszene erregte die Bewunderung aller Anwesenden. Mir schien es, als seien alle tief ergriffen darüber, daß er nicht stolz war und uns beachtete.

»Nun 27«, sagte Mr. Creakle mit schwermütiger Teilnahme, »wie befinden Sie sich zur Zeit?«

»Ich bin sehr demütig, Sir.«

»Das sind Sie immer, 27«, bestätigte Mr. Creakle.

Ein Herr fragte angelegentlichst: »Befinden Sie sich wirklich recht wohl hier?«

»Ja, ich danke Ihnen, Sir«, gab Uriah Heep zur Antwort und blickte den Fragenden an. »Ich fühle mich hier viel wohler als jemals draußen. Ich erkenne jetzt meine Fehler, Sir, und das ist so tröstlich.«

Viele der Herren waren tief ergriffen, einer drängte sich vor und forschte gefühlvoll: »Wie finden Sie das Rindfleisch?«

»Ich danke Ihnen, Sir! Es war gestern zäher als wünschenswert, aber es ist meine Pflicht, zu dulden. Ich habe Torheiten begangen, meine Herrn«, sagte Uriah und blickte mit demütigem Lächeln umher, »und muß jetzt die Folgen ohne Murren tragen.«

Mitten in dem Gemurmel, das halb wie Befriedigung klang über 27s engelreinen Seelenzustand, halb wie Entrüstung über den Lieferanten, der Anlaß zur Klage gab – was Mr. Creakle sofort notierte, – stand Numero 27 da, als fühle er sich als schönstes Stück in einem reichhaltigen Museum.

Damit auf uns Laien ein Übermaß von Licht herabstrahle, wurde auch 28 herausgelassen.

Ich war schon so erstaunt, daß ich es nur noch zu einer Art resignierter Verwunderung bringen konnte, als Mr. Littimer heraustrat, in der Hand ein gutes Buch.

»28«, sagte ein Herr mit Brille, »Sie klagten vorige Woche über den Kakao, mein Bester. Wie ist er seitdem gewesen?«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mr. Littimer. »Er war besser zubereitet. Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, es zu erwähnen, Sir, so glaube ich nicht, daß die Milch, mit der er gekocht wird, ganz echt ist, aber ich weiß recht gut, Sir, daß man sie in London sehr verfälscht und daß dieser Artikel in reinem Zustand nur schwierig zu erlangen ist.«

Der Herr mit der Brille schien seine Nummer 28 gegen Mr. Creakles 27 ausspielen zu wollen, und er wie Creakle wetteiferte darin, seinen Mann vorzureiten.

»Wie ist Ihr Seelenzustand, 28?«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mr. Littimer, »ich sehe jetzt meine Torheiten ein, Sir. Es bereitet mir sehr viel Kummer, wenn ich an die Sündhaftigkeit meiner früheren Genossen denke; aber ich hoffe, daß sie Vergebung finden werden.«

»Sie selbst sind ganz glücklich?« fragte der Herr und nickte ermutigend.

»Ich danke Ihnen sehr, Sir. Vollkommen glücklich.«

»Haben Sie irgend etwas auf dem Herzen? Dann sprechen Sie es aus, 28.«

»Sir«, sagte Mr. Littimer, ohne aufzublicken, »wenn mich meine Augen nicht täuschen, so ist ein Gentleman hier, der in meinem früheren Leben mit mir bekannt war. Es kann diesem Herrn vielleicht von Nutzen sein, wenn er erfährt, Sir, daß ich meine früheren Torheiten lediglich dem Umstand zuschreibe, daß ich ein gedankenloses Leben im Dienste junger Leute geführt habe und mich von ihnen zu Schwächen habe hinreißen lassen, denen zu widerstehen ich nicht stark genug war. Ich hoffe, der Gentleman wird das als Warnung annehmen und es mir nicht als Anmaßung auslegen. Es geschieht zu seinem Besten. Ich bin mir meiner früheren Torheit bewußt. Ich hoffe, er wird all die Schlechtigkeit und Sünde bereuen, an der er teilgenommen hat.«

Ich sah, daß mehrere der Herren sich die Hand vor die Augen hielten, als ob sie eben in eine Kirche getreten wären.

»Das macht Ihnen Ehre, 28«, sprach der Herr mit der Brille, »Ich habe es von Ihnen erwartet. Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen?«

»Sir«, gab Mr. Littimer zur Antwort, ohne aufzusehen, nur die Brauen ein wenig in die Höhe ziehend, »ich kannte ein Mädchen, das auf schlechte Wege geriet und das ich vergeblich zu retten versuchte. Ich bitte diesen Herrn, wenn es in seiner Macht steht, dem Mädchen von mir zu sagen, daß ich ihr ihr schlechtes Betragen gegen mich verzeihe und sie zur Reue ermahne – wenn er so gut sein will.«

»Ich bezweifle nicht, 28«, sagte der Herr mit der Brille, »daß der Gentleman, den Sie meinen, so tief wie wir alle fühlt, was Sie so angemessen ausgedrückt haben. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Mr. Littimer. »Ich wünsche Ihnen Guten Tag und hoffe, daß Sie und Ihre Familien ebenfalls Ihre Sündhaftigkeit einsehen und sich bessern werden.«

Damit entfernte er sich, nachdem er noch einen Blick mit Uriah gewechselt, als ob sie durchaus nicht so unbekannt miteinander wären; und ein Murmeln ging durch die Gruppe, als die Zellentür sich schloß, daß Numero 28 ein höchst respektabler Mann und ein schöner Fall sei.

»Nun 27?« sagte Mr. Creakle, jetzt mit seinem Prachtexemplar in die Arena tretend. »Kann jemand etwas für Sie tun? Sagen Sie es nur!«

»Ich möchte demütigst um Erlaubnis bitten, Sir«, antwortete Uriah mit einem Zucken in seinem tückischen Gesicht, »Mutter schreiben zu derfen.«

»Das soll Ihnen gewiß gestattet werden«, sagte Mr. Creakle.

»O, ich danke Ihnen, Sir. Ich bin in großer Sorge um Mutter. Ich fürchte, sie ist nicht sicher.«

»Wovor?« fragte jemand unvorsichtigerweise. Ein allgemeines entrüstetes »Still!« verwies den Vorwitzigen zur Ruhe.

»Der ewigen Seligkeit nicht sicher, Sir«, gab Uriah zur Antwort und krümmte sich in der Richtung des Fragers hin. »Ich wollte, Mutter befände sich in meinem Seelenzustand. Ich würde nie so geworden sein, wie ich jetzt bin, wenn ich nicht hierhergekommen wäre. Ich wollte, Mutter wäre hier. Es wäre besser für alle, wenn sie verhaftet und hierher gebracht würde.«

Diese Äußerung erregte unbegrenzte Befriedigung – größere als jede andere bisher.

»Ehe ich hierher kam«, sagte Uriah und warf uns einen Seitenblick zu, als hätte er am liebsten die ganze Außenwelt, zu der wir gehörten, vergiftet, »beging ich Torheiten. Aber jetzt sehe ich sie ein. Es herrscht viel Sünde draußen. Es ist viel Sünde in Mutter. Es ist nichts als Sünde überall außer hier.«

»Sie sind also ganz verändert?« fragte Mr. Creakle.

»Der Himmel weiß es, Sir«, rief der hoffnungsvolle Büßer.

»Sie würden nicht rückfällig werden, wenn Sie hinauskämen?« fragte jemand.

»O Gott im Himmel nein, Sir.«

»Das ist hocherfreulich«, triumphierte Mr. Creakle. »Sie haben vorhin Mr. Copperfield angesprochen, 27. Wünschen Sie ihm noch etwas zu sagen?«

»Sie kannten mich lange Zeit, bevor ich hierher kam und mich änderte, Mr. Copperfield«, sagte Uriah mit seinem allerniederträchtigsten Blick, dessen er fähig war. »Sie kannten mich, als ich demütig war unter denen, die da stolz sind, und sanft unter den Gewalttätigen. Sie selbst waren einmal gewalttätig gegen mich, Mr. Copperfield. Einmal schlugen Sie mich ins Gesicht. Sie wissen doch.«

Allgemeines Mitleid. – Verschiedne unwillige Blicke richteten sich auf mich.

»Aber ich verzeihe Ihnen, Mr. Copperfield. Ich vergebe Ihnen allen. Es würde mir schlecht anstehen, Groll im Herzen zu hegen. Ich vergebe Ihnen aus eignem Antrieb und hoffe, Sie werden in Zukunft Ihre Leidenschaften bezähmen. Ich hoffe, Mr. W. wird bereuen und Miss W. und die ganze sündhafte Rotte. Sie sind von großem Leid heimgesucht worden, und ich hoffe, daß es Ihnen zum Guten gereicht. Aber besser wäre es dennoch, Sie kämen hierher. Und für Mr. W. wäre es ebenfalls besser und auch für Miss W. – Nichts kann ich Ihnen mehr wünschen, Mr. Copperfield, und allen diesen Herren, als daß man Sie hierher brächte. Wenn ich an meine früheren Torheiten zurückdenke und mir meinen gegenwärtigen Zustand vor Augen halte, fühle ich, daß es das Beste für Sie wäre. Ich bemitleide alle, die nicht hierher gebracht werden.«

Unter allgemeinem Beifallsgemurmel schlängelte er sich in seine Zelle zurück, und Traddles und ich fühlten uns sehr erleichtert, als sich die Türe hinter ihm wieder schloß.

 

Es war ein charakteristischer Zug in dieser Besserungsanstalt, daß ich erst nach der Ursache der Gefängnisstrafe der beiden Verbrecher fragen mußte. Wie es schien, war das ein nebensächlicher Punkt, und ich wendete mich an einen der beiden Gefangenenwärter, die, wie ich nach gewissen leisen Andeutungen in ihren Gesichtern merkte, sehr wohl wußten, wie sie mit den Sträflingen dran waren.

»Wissen Sie vielleicht?« fragte ich, als wir den Gang entlangschritten, »aus welchem Verbrechen Numero 27s ›letzte Torheit‹ bestand?«

Die Antwort war, es sei eine Banksache gewesen.

»Ein Betrug gegen die Bank von England?«

»Ja, Sir! Betrug, Fälschung, Komplott. Er und noch ein paar andere. Er war der Anstifter. Es war ein groß angelegter Plan, und es handelte sich um eine bedeutende Summe. Das Urteil lautet auf lebenslängliche Deportation. 27 war der schlauste Vogel von der ganzen Bande und log sich beinah heraus; aber nicht ganz. Die Bank war gerade noch imstande, ihn bei einem Fittich zu erwischen. – Aber nur mit knapper Not.«

»Wissen Sie, was 28 verbrochen hat?«

»28«, sagte der Mann in leisem Ton und mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter, um nicht bei so statutenwidrigen Äußerungen von Creakle und den Übrigen belauscht zu werden: »28 – ebenfalls Deportation – stand bei einem jungen Herrn in Diensten und stahl ihm am Tag vor einer Reise ins Ausland zweihundertfünfzig Pfund in Geld und Pretiosen. Ich erinnere mich deshalb des Falles noch so genau, weil der Verbrecher von einer Zwergin gefaßt wurde.«

»Von wem?«

»Von einer Zwergin. Ich habe den Namen vergessen.«

»Doch nicht Mowcher?«

»Ja, ja, so hieß sie. Er war allen Nachforschungen entgangen und eben im Begriff, sich mit falscher Perücke und Bart und geschickt verkleidet nach Amerika einzuschiffen, als die Zwergin, die sich gerade in Southampton aufhielt, ihn zufällig auf der Straße traf und erkannte, ihm vor die Beine lief, ihn zu Fall brachte und festhielt wie der leibhaftige Tod.«

»Prächtige Miss Mowcher!« rief ich.

»Das hätten Sie erst recht gesagt, Sir, wenn Sie die Zwergin bei der Verhandlung in der Zeugenloge hätten stehen sehen. Er schlug ihr das Gesicht blutig und hämmerte ihr in der gräßlichsten Weise auf dem Kopf herum, als sie ihn gepackt hielt, aber sie ließ nicht einen Augenblick los, bis er die Handschellen bekam. Man konnte sie gar nicht von ihm losreißen, so daß die Polizisten beide zusammen festnehmen mußten. Sie gab ihre Zeugenaussagen in der klarsten und bestimmtesten Weise ab und wurde vom Gerichtshof aufs höchste bekomplimentiert und auf der Straße mit lautem Hurra empfangen. Sie sagte vor Gericht, sie hätte ihn ganz allein festgenommen – wegen irgend etwas, was sie von ihm wußte –, und wenn er der Simson gewesen wäre. Und ich glaube das wirklich.«

Ich glaubte das auch und zollte Miss Mowcher die größte Anerkennung.

 

Wir hatten jetzt alles gesehen. Es wäre vergebliche Mühe gewesen, einem Mann wie dem ehrenwerten Mr. Creakle vorzustellen, daß 27 und 28 noch ganz dasselbe wären wie früher und das ganze »System« nichts als eine faule, hohle Rederei sei.

»Vielleicht ist es gut, Traddles«, sagte ich, als wir nach Hause gingen, »wenn schlechte Steckenpferde gleich zu Anfang scharf geritten werden. Um so eher gehen sie entzwei.«

»Das ist auch meine Hoffnung«, nickte Traddles.

62. Kapitel Ein Lichtstrahl fällt auf meinen Weg


62. Kapitel Ein Lichtstrahl fällt auf meinen Weg

Weihnachten kam heran, und ich war bereits über zwei Monate in England. Ich hatte Agnes oft gesehen. So laut mich auch die Stimme der Öffentlichkeit in der Schriftstellerei ermutigte und zu immer eifrigeren Anstrengungen anstachelte, das leiseste Wort ihres Lobes ging mir doch über alles.

Wenigstens einmal in der Woche ritt ich nach Canterbury und brachte den Abend bei ihr zu. Meistens kehrte ich nachts zurück und war froh, mir körperliche Bewegung verschaffen zu können, denn das alte Leidgefühl überkam mich noch stärker, wenn ich lange mit Agnes beisammen gewesen war. Mit diesen Ritten verbrachte ich den längsten Teil manch trüber, trauriger Nacht, und die Gedanken, die mich während meines langen Aufenthalts im Auslande beschäftigt hatten, lebten dabei wieder in mir auf.

Sie sprachen zu mir wie aus weiter Ferne, und ich hatte mich in mein Schicksal ergeben. Wenn ich Agnes meinen Roman vorlas, ihre aufmerksame Miene sah, sie zu Lächeln oder Tränen bewegte und ihre liebe Stimme so ernst sprechen hörte über die schemenhaften Ereignisse der phantastischen Welt, in der ich lebte, da dachte ich manchmal, welches Los mir hätte werden können.

Ich wußte, ich hatte kein Recht zu murren, und mußte ruhig tragen, was ich mir selbst geschaffen. Aber ich liebte sie. Es war mir fast wie Trost, mir eine ferne Zukunft auszumalen, wo ich ihr eines Tages ruhig gestehen dürfte: Agnes, so war es, als ich damals heimkam, und jetzt bin ich alt und habe seitdem nie wieder geliebt.

An ihr war nicht die geringste Veränderung zu bemerken. Wie sie von jeher zu mir gewesen, so war sie noch.

Zwischen meiner Tante und mir war seit dem ersten Abend meiner Rückkehr in bezug auf diese Herzensangelegenheit etwas entstanden, was ich nicht ein Vermeiden dieses Themas, sondern eher ein stillschweigendes Einverständnis nennen möchte. Wenn wir nach alter Gewohnheit abends am Kamin saßen, beschäftigten uns diese Gedanken so lebhaft und deutlich, als ob wir uns mit Worten verständigt hätten. Aber wir wahrten beide unser Schweigen. Ich glaubte, daß sie an jenem Abend mir meine Gedanken wenigstens zum Teil von der Stirne gelesen hätte und vollständig begriffe, warum ich sie nicht offen ausspräche.

Als die Weihnachtszeit gekommen war und Agnes mich noch immer nicht ins Vertrauen zog, begannen mich Zweifel zu quälen, ob nicht eine Erkenntnis des wahren Zustandes meines Herzens sie aus Furcht, mir Schmerz zu bereiten, vielleicht davon abhielte. In einem solchen Fall wäre meine einfachste Pflicht unerfüllt geblieben, und alles, was ich hatte vermeiden wollen, beging ich stündlich. Ich beschloß Klarheit zu schaffen, und wenn eine solche Schranke wirklich noch zwischen uns stünde, sie mit entschlossener Hand niederzureißen.

 

Es war ein kalter, strenger Wintertag. Der Schnee, erst vor einigen Stunden gefallen, bedeckte nicht tief, aber hart gefroren den Boden. Draußen auf der See vor meinem Fenster blies der Wind rauh aus Norden.

»Reitest du heute aus, Trot?« fragte meine Tante, den Kopf zur Türe hereinstreckend.

»Ja. Ich will hinüber nach Canterbury. Es ist ein guter Tag für einen Ritt.«

»Hoffentlich wird dein Pferd auch so denken; vorderhand läßt es den Kopf und die Ohren hängen vor der Tür draußen und scheint den Stall vorzuziehen.«

Meine Tante, muß ich bemerken, gestattete wohl meinem Pferd das Betreten des verbotnen Rasenstücks, war aber den Eseln gegenüber durchaus nicht milder geworden.

»Es wird schon munter werden«, sagte ich.

»Jedenfalls wird der Ritt dir guttun«, sagte meine Tante mit einem Blick auf die Papiere auf dem Tisch. »Ach Kind, du bringst viele, viele Stunden hier zu. Ich hätte niemals beim Bücherlesen gedacht, was für eine Mühe es kostet, sie zu schreiben.«

»Manchmal macht es Arbeit genug, sie zu lesen, Tante, und was das Schreiben anbetrifft, so hat das seine eignen Reize.«

»Ach ich verstehe«, sagte meine Tante. »Ehrgeiz, Freude an Beifall, Sympathie und dergleichen, wie? Aber jetzt mache, daß du fortkommst.«

»Weißt du etwas Näheres«, fragte ich und stand gefaßt vor ihr – sie hatte mir auf die Schulter geklopft und sich dann in meinen Stuhl gesetzt – »von Agnes‘ Herzensangelegenheit?«

Sie sah mich eine Weile an, ehe sie antwortete:

»Ich glaube wohl, Trot.«

»Bist du in deiner Meinung noch bestärkt worden?«

»Ich denke ja, Trot.«

Sie sah mich fest an, wie zweifelnd, bedauernd oder ungewiß, so daß ich nur um so fester entschlossen war, ihr eine heitere Miene zu zeigen.

»Und was noch mehr ist, Trot ?«

»Nun?«

»Ich glaube, Agnes wird bald heiraten.«

»Gott segne sie«, sagte ich heiter.

»Gott segne sie«, sagte meine Tante, »und auch ihren Gatten.«

Ich ging rasch die Treppe hinab und ritt davon. Ich hatte jetzt um so mehr Grund, meinen Entschluß auszuführen.

 

Kleine Eisstäubchen riß der Wind von den Grashalmen und trieb sie mir ins Gesicht. Der helle Schall der Hufe meines Pferdes klang wie eine Melodie auf dem Boden; die weiß überzognen sanften Täler und Hügel hoben sich von dem dunklen Himmel ab, wie auf eine Schiefertafel gezeichnet. Ein dampfendes Gespann vor einem Wagen voll Heu hielt Rast auf der Spitze einer Straßenerhebung und schüttelte melodisch die Schellen.

Ich fand Agnes allein. Die kleinen Mädchen waren nach Hause gereist, und sie saß am Kamin und las. Sie legte das Buch hin, als sie mich eintreten sah, und nachdem sie mich wie gewöhnlich begrüßt hatte, nahm sie ihr Arbeitskörbchen, und wir setzten uns in eins der altmodischen Fenster.

Wir sprachen von meinem jetzigen Roman, wann er fertig würde, und von den Fortschritten, die er seit meinem letzten Besuch gemacht. Agnes war sehr heiter und prophezeite mir lachend, ich würde bald viel zu berühmt werden, als daß man über solche Sachen werde sprechen dürfen.

»So benutze ich denn die Gegenwart aufs beste, wie du siehst«, sagte sie, »und rede mit dir davon, solange ich noch darf.«

Sie blickte von ihrer Arbeit auf und bemerkte, daß ich sie forschend ansah.

»Du bist heute sehr nachdenklich, Trotwood.«

»Agnes, soll ich dir sagen, warum? Ich kam mit der Absicht her, es zu tun.«

Sie legte ihre Arbeit weg wie gewöhnlich, wenn wir etwas ernstlich besprachen, und schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit.

»Liebe Agnes, zweifelst du an meiner Aufrichtigkeit gegen dich?«

»Nein«, erwiderte sie mit einem erstaunten Blick.

»Glaubst du, ich sei anders gegen dich als früher?«

»Nein«, antwortete sie wie zuvor.

»Erinnerst du dich, daß ich dir gleich nach meiner Heimkehr auszudrücken versuchte, in welcher Schuld ich bei dir stehe, liebste Agnes, und wie tief ich das fühle?«

»Ich erinnere mich dessen noch recht gut.«

»Du hast ein Geheimnis«, sagte ich. »Laß es mich mit dir teilen, Agnes!«

Sie schlug die Augen nieder und zitterte.

»Es würde mir kaum entgangen sein«, sagte ich, »auch wenn ich es nicht gehört hätte – von andern Lippen als den deinen, Agnes, befremdlicherweise –, daß du jemand dein Herz geschenkt hast. Schließ mich nicht aus von dem, was dein Glück so nahe angeht! Wenn du mir so vertraust, wie ich weiß und wie du sagst, so laß mich dein Freund und Bruder in dieser Sache vor allen andern sein!«

Mit einem flehentlichen, fast vorwurfsvollen Blick stand sie vom Fenster auf, eilte verwirrt in den Hintergrund des Zimmers, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus, daß es mir das Herz zerriß.

Und doch erweckten diese Tränen etwas in mir wie leise Hoffnung. Ohne daß ich mir darüber klarwerden konnte, warum, brachte ich sie mit jenem stillen, trüben Lächeln, das ich so gar nicht vergessen konnte, in Verbindung, und mehr Hoffnung als Besorgnis oder Schmerz durchbebte mich.

»Agnes! Schwester! Liebste Schwester! Was habe ich getan!«

»Laß mich fort, Trotwood. Mir ist nicht wohl. Ich kann nicht klar denken. Ich will später mit dir davon sprechen – ein ander Mal. Ich will dir schreiben. Sprich jetzt nicht mit mir. Bitte, bitte!«

Ich suchte mich ihrer Worte zu entsinnen, als ich mit ihr eines Abends davon gesprochen, daß ihre Liebe keiner Erwiderung bedürfe. Mir war, als müßte ich in einem Augenblick eine ganze Welt durchsuchen.

»Agnes, ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen und zu denken, daß ich die Ursache davon bin. Meine liebste Agnes, du bist mir teurer als irgend etwas im Leben, und wenn du unglücklich bist, so laß mich dein Unglück teilen. Wenn du Hilfe oder Rat bedarfst, so will ich versuchen, dir beizustehen. Wenn du wirklich eine Last auf dem Herzen hast, so laß mich versuchen, sie dir leichter zu machen. Für wen lebe ich jetzt, Agnes, wenn nicht für dich!«

»O, schone mich! Ich kann nicht klar denken. Ein ander Mal –«, weiter konnte ich nichts verstehen.

War es Selbstbetrug, der mich irreführte, oder tat sich eine Hoffnung vor mir auf, an die zu denken ich nicht gewagt hatte?

»Ich muß dir alles sagen, so darfst du mich nicht verlassen!« rief ich. »Um Himmels willen, Agnes, laß kein Mißverständnis zwischen uns treten nach so vielen Jahren. Ich muß offen sprechen. Wenn du noch einen Gedanken hast, daß ich jemand das Glück, das du ihm gibst, neiden, daß ich nicht einem andern, den du liebst, weichen und aus der Ferne Zeuge deines Glücks sein könnte, so vergiß diesen Gedanken, denn ich verdiene ihn nicht. Ich habe nicht umsonst Leid ertragen. Es ist nichts Selbstsüchtiges in dem, was ich für dich fühle.«

Sie war jetzt ruhiger geworden. Nach einer kleinen Pause wandte sie mir ihr blasses Gesicht zu und sagte mit leiser, deutlicher, wenn auch stockender Stimme:

»Ich schulde es deiner reinen Freundschaft, Trotwood, in die ich nicht den geringsten Zweifel setze, – dir zu sagen, daß du dich irrst. Mehr kann ich nicht tun. Wenn ich manchmal im Lauf der Jahre Hilfe und Rat gebraucht habe, so sind sie mir immer zuteil geworden. Wenn ich manchmal unglücklich gewesen bin, so ist es vorübergegangen. Habe ich jemals eine Last auf dem Herzen gehabt, so ist sie leichter geworden. Wenn ich ein Geheimnis habe, so ist es – kein neues, und ist nicht – was du vermutest. Ich kann es nicht offenbaren oder mit dir teilen. Es ist lange mein gewesen und muß mein bleiben.«

»Agnes! Bleib! Einen Augenblick!«

Sie wollte weggehen, aber ich hielt sie zurück. Ich legte meinen Arm um sie. »Im Lauf der Jahre? – Es ist kein neues?«

Neue Gedanken und Hoffnungen stürmten mir durch die Seele, und alle Farben meines Lebens veränderten sich.

»Liebste Agnes! Die ich dich so verehre und achte, – so innig liebe! Als ich heute hierherkam, glaubte ich, daß mir nichts dieses Bekenntnis entreißen würde. Ich glaubte, ich könnte es in meiner Brust verschlossen halten, bis wir alt sein würden. Aber Agnes, wenn ich wirklich noch zu einer Hoffnung berechtigt bin, dich jemals anders nennen zu dürfen als Schwester! …«

Sie weinte wieder, aber nicht mehr wie vorhin, und ich sah meine Hoffnung heller werden.

»Agnes, du warst stets meine Stütze und mein Halt. Hättest du mehr an dich und weniger an mich gedacht, als wir hier zusammen aufwuchsen, ich glaube, mein achtlos blindes Herz hätte sich nie weg von dir verirrt. Aber du warst soviel besser als ich, mir so unentbehrlich in meinen knabenhaften Hoffnungen und Irrtümern, daß es mir zur zweiten Natur wurde, in allen Dingen dir zu vertrauen und meinen Halt an dir zu finden. Und so wurde die Liebe für jene Zeit in den Hintergrund gedrängt.«

Sie weinte immer noch, aber nicht aus Schmerz, – sondern vor Freude. Ich hielt sie in meinen Armen, wie ich nie gedacht hätte, daß es sein könnte.

»Als ich Dora liebte – herzlich und aufrichtig, wie du weißt –«

»Ja«, sagte Agnes ernst. »Und ich freue mich, es zu wissen.«

»Als ich sie liebte, selbst da wäre meine Liebe unvollständig gewesen – ohne deine Teilnahme. Und als ich Dora verlor, was wäre ich da ohne dich gewesen, Agnes!«

Sie ruhte an meinem Herzen, die zitternden Hände auf meine Schulter gelegt, und ihre lieben Augen glänzten durch Tränen den meinen entgegen.

»Ich verließ die Heimat, Agnes, und liebte dich. Ich war in der Fremde und liebte dich. Ich kehrte zurück und liebte dich.«

Und jetzt versuchte ich ihr den Kampf, den ich ausgestanden, und den Entschluß, mit dem ich zu ihr gekommen war, begreiflich zu machen. Ich versuchte mein Herz offen vor sie hinzulegen.

»Ich bin so glücklich, Trotwood. Mein Herz ist so voll. – Eines muß ich dir noch sagen.«

»Was, Geliebteste?«

Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und sah mir ruhevoll ins Gesicht:

»Weißt du, was es ist?«

»Ich scheue mich, darüber nachzugrübeln. Sag es mir lieber.«

»Ich habe dich geliebt mein ganzes Leben lang –«

Wie waren wir glücklich! Unsere Tränen galten nicht den Prüfungen – wieviel größer waren die ihren als die meinigen gewesen –, durch die wir hindurchgegangen, sondern dem Entzücken, nie mehr getrennt zu werden.

Wir gingen in den Winterabend hinaus durch die Felder, und die selige Ruhe in uns schien sich der frostigen Luft mitzuteilen. Die Sterne fingen an zu scheinen, und als wir zu ihnen aufsahen, dankten wir Gott, daß er uns zu diesem Frieden geführt.

Wir standen abends beisammen in demselben altmodischen Fenster, und der Mond schien über der Stadt. Lange Meilen Wegs taten sich auf vor meinem Geist, und ich sah einen zerlumpten, vernachlässigten, müden Knaben die Straße wandern.

 

Es war fast Mittagszeit, als wir vor meiner Tante erschienen. Sie sei in meinem Studierzimmer, sagte Peggotty. – Es war nämlich ihr Stolz, es für mich stets selbst in Ordnung zu halten. Sie saß, die Brille auf der Nase, am Kamin.

»Du meine Güte«, rief sie, durch das Dämmerlicht im Zimmer spähend, »wen bringst du da mit nach Hause?«

»Agnes«, sagte ich.

Da wir verabredet hatten, uns anfangs nicht zu verraten, war meine Tante nicht wenig enttäuscht. Sie warf mir einen freudig überraschten Blick zu, als ich sagte: »Agnes«, aber als sie fand, daß ich aussah wie gewöhnlich, nahm sie verzweifelt die Brille ab und rieb sich die Nase damit.

Dennoch begrüßte sie Agnes aufs herzlichste, und wir saßen bald unten in dem erleuchteten Wohnzimmer beim Essen. Meine Tante setzte zwei oder dreimal die Brille auf, um mich forschend anzusehen, nahm sie aber ebenso oft enttäuscht wieder ab und rieb sich die Nase damit; sehr zu Mr. Dicks Unbehagen, der darin ein schlechtes Zeichen sah.

»Übrigens, Tante«, sagte ich nach dem Essen, »ich habe mit Agnes über das gesprochen, was du mir gesagt hast.«

»Da hast du Unrecht getan, Trot«, sagte meine Tante und wurde blutrot, »und hast dein Versprechen nicht gehalten.«

»Du bist doch nicht böse, Tante? Du wirst es gewiß nicht sein, wenn du erfährst, daß Agnes keine unglückliche Liebe hat.«

»Dummes Zeug«, sagte meine Tante.

Da sie sehr verstimmt schien, hielt ich es fürs beste, die Sache abzukürzen. Ich führte Agnes hinter ihren Stuhl, und wir beide beugten uns über sie herab. Die Hände zusammenschlagend und nach einem einzigen Blick durch die Brille bekam sie augenblicklich Lach- und Weinkrämpfe, das erste und einzige Mal in ihrem Leben, soviel ich weiß. Bestürzt kam Peggotty herein. Kaum war meine Tante wieder zu sich gekommen, stürzte sie auf Peggotty los, nannte sie ein einfältiges altes Geschöpf und umarmte sie mit aller Kraft. Dann schloß sie Mr. Dick in die Arme, der sich hochgeehrt fühlte, aber sehr überrascht war, und erklärte ihm den Zusammenhang. Dann waren wir alle sehr glücklich. Ich konnte nicht herausbekommen, ob meine Tante bei unserer letzten kurzen Unterredung einen frommen Betrug begangen oder meinen Herzenszustand wirklich mißverstanden hatte. Es wäre vollständig hinreichend, meinte sie, daß sie mir gesagt habe, Agnes würde bald heiraten. Ich selbst wisse jetzt besser als jeder andere, wie wahr es gewesen sei.

 

In vierzehn Tagen wurden wir getraut. Traddles, Sophie, Doktor und Mrs. Strong waren die einzigen Gäste bei unserer stillen Hochzeit. Wir ließen sie in freudigster Stimmung zurück und fuhren zusammen nach London. In meinen Armen hielt ich den Mittelpunkt meines Selbst, die Triebfeder meines Lebens, mein teures Weib, zu der meine Liebe auf Felsen gebaut war.

»Mein lieber, lieber Gatte«, sagte Agnes, »jetzt, wo ich dir diesen Namen geben darf, habe ich dir noch etwas zu sagen.«

»Was ist es, mein Lieb?«

»Es hängt mit dem Abend zusammen, wo Dora starb. Sie ließ mich durch dich rufen.«

»Ja.«

»Sie sagte, sie hinterlasse mir etwas. Errätst du, was es war?«

Ich zog das Wesen, das mich so lange geliebt, dichter an mich.

»Sie sagte, sie habe eine letzte Bitte an mich und hinterlasse mir einen letzten Auftrag.«

»Und der war?«

»Daß ich ihre Stelle einnehmen möchte.«

Und Agnes legte ihr Haupt auf meine Brust und weinte, und ich mit ihr, obgleich wir so glücklich waren.

63. Kapitel Ein Besuch


63. Kapitel Ein Besuch

Mein Ruf und Wohlstand waren gewachsen, mein häusliches Glück vollständig. Zehn glückliche Jahre waren wir verheiratet. Agnes und ich saßen an einem Frühlingsabend in unserm Haus in London am Kamin, und unsere drei Kinder spielten im Zimmer, als ein Fremder, der mich zu sprechen wünschte, gemeldet wurde.

Man hatte ihn gefragt, ob er in Geschäften komme, und er hatte geantwortet, er wollte nur das Vergnügen haben mich zu sehen und wäre weit hergekommen. Es sei ein alter Mann, sagte das Dienstmädchen, und sähe aus wie ein Farmer.

Da das den Kindern geheimnisvoll klang und dem Anfang einer Liebesgeschichte ähnlich war, die ihnen Agnes zu erzählen pflegte, in der eine böse alte Fee in einem schwarzen Mantel, die jedermann haßte, vorkam, rief es einige Aufregung hervor. Einer unserer Knaben legte den Kopf in den Schoß der Mutter, um außer Gefahr zu sein, und die kleine Agnes, unser ältestes, setzte ihre Puppe an ihrer Statt in den Stuhl und guckte mit dem goldgelockten Köpfchen zwischen den Gardinen hervor, um zu sehen, was geschehen würde.

»Lassen Sie ihn eintreten«, sagte ich.

Gleich darauf erschien ein sonnverbrannter grauköpfiger alter Mann in der Tür. Es war Mr. Peggotty; ein Greis jetzt, aber rüstig und kräftig. Als sich unsere erste Ergriffenheit gelegt hatte, und er vor dem Feuer saß, ein Kind auf jedem Knie, und die Glut auf sein Gesicht schien, sah er mir so stark und rüstig aus, wie ich nur je einen alten Mann gesehen.

»Masr Davy«, sagte er, – wie mir der alte Name so vertraut klang! – »Masr Davy, das ist eine frohe Stunde für mich, wo ich Sie nochmals wiedersehe an der Seite Ihrer guten Frau.«

»Eine frohe Stunde, wirklich wahr, alter Freund!« rief ich aus.

»Und die hübschen Kinderchen! Die frischen Gesichter zu sehen! Ach, Masr Davy, Sie selbst waren nicht größer als das kleinste von diesen, wie ich Sie zuerst sah, und Emly war auch nicht größer, und unser armer Ham war noch ein Junge.«

»Die Zeit hat mich seitdem mehr verändert als Sie«, sagte ich. »Aber lassen wir die kleinen Schlingel erst zu Bett gehen, und da kein Haus in England als dieses Sie beherbergen darf, so sagen Sie mir, wo ich Ihr Gepäck holen lassen kann? Und dann wollen wir bei einem Glas Yarmouth-Grog von den letzten zehn Jahren reden.«

»Sind Sie allein gekommen?« fragte Agnes.

»Ja, Maam«, sagte er und küßte ihr die Hand. »Ganz allein.«

Wir setzten ihn zwischen uns und wußten nicht, wie wir ihn genug bewillkommnen könnten.

»Es ist eine sehr große Strecke Wasser für eine Reise«, sagte Mr. Peggotty, »zumal, wenn man nur ein paar Wochen bleiben will. Aber Wasser, besonders, wenn es salzig ist, ist mir eine vertraute Sache, und Freunde sind viel wert, und so bin ich hier.«

»Wollen Sie sobald schon diese vielen tausend Meilen wieder zurückreisen?« fragte Agnes.

»Ja, Maam. Ich hab es Emly versprochen, ehe ich abfuhr. Ich werde auch nicht jünger mit den Jahren, sehen Sie, und wenn ich jetzt die Reise nicht machte, so würde es wahrscheinlich nie geschehen. Und es hat mir immer auf der Seele gelegen, daß ich Masr Davys und Ihr liebes Gesicht glücklich vereint sehen müßte, ehe ich zu alt dazu würde.«

Er betrachtete uns, als könnten seine Augen nicht satt an uns werden.

Scherzend strich ihm Agnes ein paar seiner grauen Locken aus der Stirn, damit er uns besser sehen könnte.

»Und jetzt erzählen Sie uns, wie es Ihnen gegangen ist, Mr. Peggotty!«

»Unsere Geschichte ist bald erzählt, Masr Davy. Es ist uns nicht gerade glänzend gegangen, aber wir sind immer durchgekommen. Im Anfang haben wir uns vielleicht ein bißchen sehr einschränken müssen, aber wir sind immer gut durchgekommen. Bald mit Schafzucht und Feldbau, bald mit diesem und jenem haben wir uns fortgeholfen, und es geht uns jetzt so gut, wie wir nur wünschen können. Gottes Segen hat uns nicht gefehlt, und es ist uns bis zuletzt gutgegangen. Das heißt so im ganzen; wenn nicht gestern, dann heute, wenn nicht heute, dann morgen.«

»Und Emly?« fragten Agnes und ich wie aus einem Munde.

»Als Sie sie verlassen hatten, Maam, und Masr Davy unsern Blicken entschwand, da war sie so niedergedrückt, daß es sicherlich ihr Tod gewesen wäre, wenn sie gewußt hätte, was Masr Davy uns so gütig und vorsichtig geheimgehalten hatte. Aber es waren ein paar arme Kranke an Bord, und die pflegte sie und auch die Kinder, und so hatte sie zu tun, und das richtete sie auf.«

»Wann erfuhren Sie es zuerst?« fragte ich.

»Ich hielt es ihr wohl noch ein Jahr lang geheim, nachdem ich es selbst erfahren hatte. Wir lebten damals an einem einsamen Fleck mitten unter den schönsten Blumen, und die Rosen bedeckten unsere Hütte bis zum Dach. Da kam eines Tages, als ich draußen auf dem Felde arbeitete, ein Landsmann aus Norfolk oder Suffolk durch, und wir nahmen ihn natürlich auf als Gast, wie das in den Kolonien dort Sitte ist. Er hatte eine alte Zeitung mitgebracht, in der etwas über den Sturm stand. So erfuhr sie es. Als ich abends nach Hause kam, sah ich, daß sie es wußte.«

Seine Stimme wurde leiser, als er diese Worte sprach, und der Ernst, den ich an ihm kannte, lag wieder über seinem Gesicht.

»Hat die Kunde sie sehr verändert?« fragten wir.

»Jawohl, für eine lange Zeit. Wenn nicht bis zu dieser Stunde. Aber ich glaube, die Einsamkeit hat ihr gutgetan. Es gab viel Arbeit mit dem Federvieh und der Wirtschaft, und so kam sie darüber weg. Ich möchte gern wissen«, sagte er nachdenklich, »ob Sie meine Emly noch erkennen würden, Masr Davy.«

»Hat sie sich sehr verändert?«

»Ick weet dat nich – Ich sehe sie jeden Tag und weiß es nicht. Aber oft hab ich es gedacht. Eine zarte Gestalt«, sagte Mr. Peggotty und sah ins Feuer. »Etwas angegriffen; sanfte, traurige, blaue Augen; ein schmales Gesicht, den hübschen Kopf ein wenig geneigt; ein stilles Wesen und eine sanfte Stimme – fast schüchtern. So ist Emly.«

Wir betrachteten ihn stillschweigend, wie er dasaß und ins Feuer blickte.

»Manche glauben, sie habe eine unglückliche Liebe gehabt«, fuhr er fort; »andere, ihre Verheiratung sei durch den Tod ihres Bräutigams verhindert worden. Niemand kennt ihre wahre Geschichte. Sie hätte sich viele, viele Male gut verheiraten können, aber, ›Onkel‹, sagt sie stets zu mir, ›damit ist es vorbei für immer.‹ Heiter, wenn ich bei ihr bin; verschlossen, wenn andere da sind; immer bereit, meilenweit zu gehen, wenn es gilt, ein Kind zu unterrichten oder einen Kranken zu pflegen oder bei der Hochzeit eines jungen Mädchens zu helfen; voll zärtlicher Liebe zu ihrem Onkel, beliebt bei jung und alt, so ist Emly. Alle, die einen Kummer auf dem Herzen haben, kommen zu ihr.«

Er strich sich mit der Hand übers Gesicht und blickte mit einem Seufzer vom Feuer auf.

»Ist Marta noch bei Ihnen?« fragte ich.

»Marta heiratete im zweiten Jahr, Masr Davy. Ein junger Bursche, ein Farmarbeiter, der mit Waren an uns vorüber zum Markte fuhr – eine Reise von über hundert Meilen hin und zurück –, wollte sie zur Frau haben und sich dann selbst Land kaufen. Sie bat mich, ihm ihre Geschichte zu erzählen, und ich tat es. Sie heirateten sich und wohnen ein paar hundert Meilen entfernt von jeder Menschenstimme im wilden Busch.«

»Und Mrs. Gummidge?«

Damit berührte ich eine angenehme Seite bei Mr. Peggotty, denn er brach plötzlich in lautes Gelächter aus und rieb sich mit den Händen die Knie, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er in dem alten untergegangnen Boothause sich so recht von Herzen freute.

»Werden Sie glauben, daß sogar der jemand einen Heiratsantrag gemacht hat? Wenn nicht ein Schiffskoch, der sich ansiedeln wollte, Masr Davy, Mrs. Gummidge einen Heiratsantrag gemacht hat, so will ick – gormet sien und mehr kann ick nich seggen.«

Ich habe Agnes nie so lachen sehen. Der plötzliche Freudenausbruch Mr. Peggottys machte ihr so viel Spaß, daß sie gar nicht aufhören konnte; je mehr sie und ich lachen mußten, desto lauter wurde Mr. Peggottys Freude und desto mehr rieb er sich die Knie.

»Und was sagte Mrs. Gummidge dazu?«

»Anstatt zu sagen, ich danke Ihnen, ick bün Ihnen sehr verbunnen, Sir, aber ich will mich in meinen Jahren nicht mehr verändern, nimmt sie einen Wassereimer, der neben ihr steht, und bearbeitet damit den Kopf des Schiffskochs, bis er nach Hilfe ruft und ich hinzukomme und ihn befreie.«

Mr. Peggotty brach wieder in ein schallendes Gelächter aus, und Agnes und ich stimmten mit ein.

»Was ich aber der guten Alten nachsagen muß«, fing er wieder an, »ist, daß sie uns alles gewesen ist, was sie versprochen hat, und mehr noch. Sie ist die willigste und treueste Gehilfin, Masr Davy, die jemals gelebt hat. Ich habe sie keinen Augenblick traurig und niedergeschlagen gesehen, selbst, als die Kolonie noch ganz neu für uns war. Und an den ›Alten‹ hat sie nicht ein einziges Mal gedacht, versichere ich Ihnen, seitdem sie England verließ.«

»Und nun das Letzte, wenn auch nicht das Nebensächlichste! Wie geht es denn Mr. Micawber? Er hat hier alle seine Schulden bezahlt – selbst Traddles Wechsel, du weißt, liebe Agnes –, und deshalb können wir wohl als gewiß annehmen, daß es ihm gutgeht. Aber was gibt es Neues von ihm?«

Mr. Peggotty zog lächelnd ein zusammengefaltetes Papier aus der Brusttasche und wickelte sorgfältig eine kleine wunderlich aussehende Zeitung heraus.

»Sie müssen wissen, Masr Davy, daß wir jetzt nicht mehr im wilden Busch sind, und in Port Middlebay-Harbour, was eine Stadt ist – wir nennen sie wenigstens so –, wohnen.«

»Mr. Micawber war im Busch Ihr Nachbar?«

»Das will ich meinen. Er ist tüchtig drangegangen. Ich konnte mir keinen Tüchtigeren denken. Ich habe seinen kahlen Kopf in der Sonne schwitzen sehen, daß ich schon dachte, er würde ihm wegschmelzen, Masr Davy; und jetzt ist er Friedensrichter.«

»Was? Friedensrichter ist er?«

Mr. Peggotty wies auf eine Stelle in der Zeitung, wo ich laut aus der Port Middlebay-Times vorlas:

»Das Gastmahl zu Ehren unseres ausgezeichneten Mitkolonisten und Mitbürgers Wilkins Micawber Esquire, Distriktrichters von Port Middlebay, fand gestern im großen Saale des Hotels, der zum Ersticken voll war, statt. Es waren nicht weniger als siebenundvierzig Personen, außer der Gesellschaft auf dem Gang und auf der Treppe, zugegen. Die ganze schöne und vornehme Welt von Port Middlebay drängte sich herbei, um einen so hochverdienten, begabten und allgemein beliebten Mann zu ehren. Dr. Meli vom Salemhaus-Gymnasium, Port Middlebay, führte den Vorsitz, und ihm zur Rechten saß der Held des Abends.

Nach der Entfernung der Gedecke und dem Absingen des Liedes ›Non Nobis‹, aus dem man leicht die glockenreinen Töne des begabten Dilettanten Wilkins Micawber Esquire junior heraushören konnte, wurden die gebräuchlichen patriotischen Toaste ausgebracht und begeistert aufgenommen. In einer sehr gefühlvollen Rede brachte Dr. Mell ein Hoch aus auf den ausgezeichneten Gast, diese Zierde unserer Stadt. ›Möge er uns nie verlassen, außer, um seine Stellung zu verbessern, und möge sein Erfolg unter uns derart sein, daß eine Verbesserung seiner Stellung überhaupt ausgeschlossen erscheint!‹ Das Hurra, mit dem dieser Toast aufgenommen wurde, spottet jeder Beschreibung, und immer wieder rauschte es empor wie die Wellen des Ozeans.

Dann stand Wilkins Micawber Esquire auf, um zu danken.

Fern sei es von uns, in dem gegenwärtig verhältnismäßig unvollkommenen Zustande der Hilfsmittel unseres Etablissements uns bemühen zu wollen, unserm ausgezeichneten Mitbürger durch die wohllautenden Perioden seiner klassisch gerundeten bilderreichen Rede zu folgen. Es genüge zu bemerken, daß sie ein Meisterwerk der Beredsamkeit war und daß die Stelle, in der er die Erfolge seines Lebens bis an seine Quelle zurückverfolgte und den jungem Teil der Anwesenden vor der Gefahr warnte, pekuniäre Verpflichtungen einzugehen, denen sie nicht nachkommen könnten, auch den männlichsten Augen Tränen entlockte. Die übrigen Toaste galten Dr. Mell, Mrs. Micawber, die sich zum Danke in der Tür eines Seitenzimmers anmutsvoll verneigte, wo ein Blütenkranz von Schönheit auf erhöhten Stühlen thronte, um Zeugen und Zierden des erhebenden Schauspiels zu sein, – Mrs. Ridger Begs, geborne Miss Micawber, Mrs. Mell, Wilkins Micawber jun. Esquire, – der mit großem Humor die Heiterkeit der Versammlung durch die Bemerkung erregte, er sei außerstande, seinen Dank in einer Rede auszusprechen, wolle aber mit Erlaubnis der hochansehnlichen Versammlung mit einem Liede danken, – dann Mrs. Micawbers Familie, die, wie wohl nicht erst erwähnt werden muß, im alten Vaterlande wohlbekannt und angesehen ist, und vielen andern. Nach dem Essen wurden die Tische wie durch Zauberschlag beseitigt, um den Saal zum Tanze zu räumen.

Unter den Jüngern Terpsichores, die sich ergötzten, bis Helios das Zeichen zum Aufbruch gab, zeichneten sich vor allem Wilkins Micawber junior Esquire und die liebenswürdige und feingebildete Miss Helena, Dr. Mells vierte Tochter, aus.«

Voller Freude dachte ich an Dr. Mell, in dem ich den armen tyrannisierten Unterlehrer des jetzigen Gefängnisdirektors von Middlessex erkannte. Dann wies Mr. Peggotty auf eine andere Stelle in der Zeitung, wo meine Blicke auf meinen eignen Namen fielen, und ich folgenden öffentlichen Brief las:

An den ausgezeichneten und hervorragenden Dichter David Copperfield Esquire.

Verehrter Herr! Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal Gelegenheit hatte, mit eignen Augen die Züge zu schauen, die jetzt einem beträchtlichen Teil der zivilisierten Welt so wohl vertraut sind. Aber, verehrter Herr, obgleich mich die Macht der Verhältnisse der persönlichen Gesellschaft des Freundes und Gefährten meiner Jugend entfremdet hat, so bin ich doch von seinem hohen Fluge gar wohl unterrichtet. Auch ich bin nicht ausgeschlossen gewesen ›ob Meere wild auch zwischen uns gebraust‹ die geistigen Genüsse zu teilen, die Sie uns geschenkt haben.

Ich kann daher die Abreise einer Persönlichkeit, die wir beide ehren und achten, nicht ungenützt vorübergehen lassen, verehrter Herr, ohne öffentlich die Gelegenheit zu ergreifen, in meinem Namen und, wie ich wohl hinzusetzen darf, im Namen sämtlicher Bewohner von Port Middlebay Ihnen für die hohen Genüsse zu danken, die uns Ihre Geistesgaben bereiteten.

Fahren Sie so fort, verehrter Herr. Sie sind hier nicht unbekannt in diesem fernen Lande. Fahren Sie fort, verehrter Meister, in Ihrem Adlerflug. Die Bewohner von Port Middlebay werden sich bestreben, Ihnen mit Blicken voll Entzücken und zu ihrer Belehrung zu folgen.

Unter den von diesem Teil des Erdballs zu Ihnen erhobenen Augen wird sich, solange es Licht und Leben hat, immer befinden das Auge

Ihres Jugendfreundes Wilkins Micawber,
        Friedensrichter.

Als ich den übrigen Inhalt der Zeitung überflog, entdeckte ich, daß Mr. Micawber ein fleißiger und geschätzter Mitarbeiter des Blattes war. In derselben Nummer stand noch ein anderer Brief von ihm, der von einer Brücke handelte, und eine Anzeige einer Sammlung ähnlicher Briefe, die demnächst »mit beträchtlichen Zusätzen, in einem zierlichen Bande vereinigt«, erscheinen sollten. Wenn ich mich nicht sehr irrte, stammte auch der Leitartikel aus seiner Feder.

Wir sprachen an den vielen Abenden, wo Mr. Peggotty bei uns blieb, viel von Mr. Micawber.

Mr. Peggotty wohnte bei uns fast einen ganzen Monat, und seine Schwester und meine Tante kamen nach London, um ihn zu besuchen. Agnes und ich schieden erst an Bord des Schiffes von ihm, als er wieder abreiste, und wir werden uns auf Erden wohl kaum mehr wiedersehen.

Vorher fuhr er mit mir nach Yarmouth, um den kleinen Grabstein zu besuchen, den ich Ham zu Gedächtnis hatte setzen lassen. Während ich die einfache Inschrift auf seine Bitte für ihn abschrieb, sah ich, wie er sich bückte und einen Büschel Gras und eine Handvoll Erde von dem Grabe nahm.

»Für Emly«, sagte er und steckte es ein. »Ich hab es ihr versprochen, Masr Davy.«

64. Kapitel Ein letzter Rückblick


64. Kapitel Ein letzter Rückblick

Ich wandere mit Agnes auf der Straße des Lebens dahin. Ich sehe unsere Kinder und Freunde um uns her und höre das Rauschen vieler alter vertrauter Stimmen.

Welche Gesichter sind mir die deutlichsten in dem flutenden Gewühl? Alle wenden sich mir zu, wie ich meine Gedanken so frage.

Meine Tante mit einer scharfen Brille, – eine Greisin von achtzig Jahren und mehr, aber noch kerzengerade und aufrecht. Sie kann ihre sechs englischen Meilen bei Wind und Wetter gehen, ohne sich niedersetzen zu müssen.

Unzertrennlich von ihr Peggotty, meine gute alte Kindsfrau. Auch sie trägt eine Brille und näht abends sehr dicht bei der Lampe. Aber nie ohne einen Wachsstumpf, das Ellenmaß in dem kleinen Häuschen und den Arbeitskasten mit dem Bilde der St.-Pauls-Kirche auf dem Deckel neben sich.

Ihre Wangen, so hart und rot gewesen in meinen Kindertagen, daß ich mich wunderte, warum die Vögel nicht lieber an ihnen anstatt an Äpfeln pickten, sind ganz runzlig geworden, und ihre Augen, die ihr ganzes Gesicht weithin dunkel machten, sind jetzt nicht mehr so glänzend; aber ihr grauer Zeigefinger, der mir früher wie ein Muskatnußreibeisen vorkam, ist immer noch der alte, und wie ich mein Kleinstes danach haschen sehe, wenn es zwischen mir und meiner Tante zu ihr hinschwankt, da muß ich an unser kleines Wohnzimmer in Blunderstone denken, damals, als ich selbst kaum laufen konnte.

Meine Tante ist jetzt endlich befriedigt. Sie ist Patin einer wirklichen lebendigen Betsey Trotwood, und Dora, die nächste, meint, sie werde von ihr verzogen.

Peggottys Tasche ist hoch aufgebauscht. Es steckt nichts Geringeres darin als das Krokodilbuch, zurzeit in recht altersschwachem Zustand, einzelne Blätter zerrissen und zusammengenäht; – aber immer zeigt es Peggotty den Kindern als eine kostbare Reliquie. Es ist so seltsam, wenn meine eignen Züge als Kindergesicht von den Krokodilgeschichten zu mir aufblicken und mich an meinen alten Bekannten Brooks von Sheffield erinnern.

Mitten unter meinen Jungen sehe ich in den Sommerferien einen alten Mann, der riesige Papierdrachen macht und in die Luft aufblickt mit einer Wonne, für die es keine Worte gibt. Er begrüßt mich begeistert und flüstert mir mit vielem Nicken und Winken zu: »Trotwood, es wird dich freuen zu hören, daß ich demnächst meine Denkschrift beendigen werde, wenn ich weiter nichts zu tun habe, und daß deine Tante die wunderbarste Frau von der Welt ist.«

Wer ist diese tiefgebeugte Dame, die sich auf einen Stock stützt und mir ein Gesicht zeigt, in dem Spuren alten Stolzes und alter Schönheit schwach ankämpfen gegen ein verdrießliches, schwachsinniges, launisches Irrsein? Sie sitzt in ihrem Garten, und neben ihr steht ein hageres dunkles verwelktes Weib mit einer weißen Narbe auf der Lippe.

 

»Rosa, ich habe den Namen des Herrn vergessen.«

Rosa beugt sich über sie und ruft ihr in die Ohren: »Mr. Copperfield.«

»Es freut mich, Sie zu sehen, Sir. Ich bemerke zu meinem Bedauern, daß Sie Trauer tragen. Ich hoffe, die Zeit wird Ihnen Linderung bringen.«

Ihre ungeduldige Gesellschafterin schilt sie aus und sagt ihr, ich sei doch gar nicht in Trauer, – heißt sie mich wieder ansehen und versucht ihre Aufmerksamkeit zu wecken.

»Sie haben meinen Sohn gesehen, Sir? Sind Sie mit ihm ausgesöhnt?«

Sie sieht mich starr an, legt die Hand an die Stirn und stöhnt. Plötzlich schreit sie mit schrecklicher Stimme auf: »Rosa, komm zu mir. Er ist tot.« Rosa kniet vor ihr nieder, liebkost sie, schilt sie aus und sagt leidenschaftlich zu ihr: »Ich liebte ihn mehr als du.« Dann lullt sie die Alte an ihrer Brust ein wie ein krankes Kind. So verlasse ich sie. So finde ich sie immer, so schleppen sie sich hin Jahr um Jahr.

 

Ein Schiff kommt von Indien her, und wer ist die englische Dame, die Gattin eines wortkargen alten schottischen Krösus mit großen flappigen Ohren? Julia Mills?

Es ist Julia Mills, nervös und vornehm, mit einem schwarzen Diener, der ihr Briefe und Karten auf einem goldnen Teller überreicht, und einer kupferfarbigen Dienerin in Leinenkleid mit einem bunten Tuch auf dem Kopf, die ihr das Tiffin (indisches Frühstück) im Ankleidezimmer serviert. Julia hält kein Tagebuch mehr, singt nicht mehr der »Liebe Sterbelied« und streitet ewig mit dem alten schottischen Krösus, der eine Art gelber Bär mit gegerbter Haut ist. Sie steckt im Geld bis an den Hals und spricht und denkt an weiter nichts. Sie gefiel mir besser in der Wüste Sahara.

Oder ist vielleicht das die Wüste Sahara? Denn, obgleich Julia ein Schloß hat und vornehme Gesellschaft und prächtige Diners Tag für Tag, nichts Grünes sehe ich in ihrer Nähe wachsen. Nichts, das jemals Frucht oder Blüte trägt.

Was Julia Gesellschaft nennt, sehe ich; darunter Mr. Jack Maldon in seiner Sinekure, der die Hand verspottet, die sie ihm verschafft hat, und den Doktor einen liebenswürdigen altmodischen Kauz nennt.

Ich sehe den Doktor, unsern guten treuen Freund immer noch mit dem Wörterbuch beschäftigt. Er hält beim Buchstaben D und ist glücklich in seinem Familienleben und mit seiner Gattin. Der »General« ist nicht mehr so einflußreich wie ehemals.

In seiner Kanzlei arbeitet mein lieber alter Traddles mit geschäftiger Miene, und sein Haar, soweit sein Kopf noch nicht kahl ist, ist womöglich noch rebellischer geworden durch den beständigen Druck der Advokatenperücke. Auf seinem Tisch liegen hohe Stöße von Akten, ich sehe mich um und sage:

»Wenn Sophie jetzt dein Schreiber wäre, Traddles, hätte sie viel zu tun.«

»Das stimmt, lieber Copperfield! Aber es waren doch herrliche Tage in Holborn Court! Nicht wahr?«

»Wo sie zu dir sagte, du würdest Richter werden? Aber damals war es noch nicht Stadtgespräch, Traddles.«

»Jedenfalls, lieber Copperfield, wenn ich es erst einmal bin, werde ich erzählen, daß sie die Akten abschrieb.«

Wir gehen fort, Arm in Arm. Ich bin zu einem Familiendinner bei Traddles eingeladen. Es ist Sophies Geburtstag, und unterwegs erzählt mir Traddles von dem Glück, das ihm zuteil geworden ist.

»Ich bin wirklich imstande gewesen, lieber Copperfield, alles zu tun, was mir am meisten am Herzen lag. Seine Ehrwürden hat jetzt die Pfründe von vierhundertfünfzig Pfund jährlich. Unsere beiden Jungen werden aufs beste erzogen und zeichnen sich durch Fleiß aus; drei der Mädchen sind recht gut verheiratet, drei leben bei uns; die drei übrigen führen seit Mrs. Crewlers Tod dem Vater die Wirtschaft; und alle sind glücklich. – Mit Ausnahme der ›Schönheit‹«, fügt er hinzu. »Ja. Es war ein großes Unglück, daß sie so einen Vagabunden heiratete. Aber er hatte etwas Blendendes an sich, was sie bestach. Wo wir sie jetzt wieder sicher zu Hause haben und ihn los sind, müssen wir sie zu trösten suchen.«

Traddles Haus ist wahrscheinlich eins von denen, die er und Sophie bei ihren Abendspaziergängen im Geiste für sich eingerichtet haben. Es ist ein großes Haus, aber Traddles hebt seine Akten im Ankleidezimmer auf und seine Stiefel dabei, und er und Sophie quetschen sich in die obersten Zimmer, um die besten der »Schönheit« und den Mädchen zu überlassen. Es ist kein Platz im Hause sonst, denn immer sind mehr der Mädchen hier, als ich zählen kann. Tritt man ein, kommt eine ganze Schar an die Türe gerannt und reicht Traddles zum Küssen herum, bis er außer Atem ist. Hier wohnt für Lebenszeit die unglückliche »Schönheit« mit einem Kind; hier sehe ich zu Sophies Geburtstag die drei verheirateten Schwestern mit ihren drei Gatten, einem Schwager, einem Vetter und einer Schwägerin, die mit diesem verlobt zu sein scheint. Traddles, genau derselbe einfache, ungezierte, gute Bursche, der er immer war, sitzt am untern Ende der langen Tafel und blickt über den gedeckten Tisch, auf dem jetzt wirkliches Silber blitzt.

 

Dann verschwimmen diese Gesichter. Nur eins, das auf mich niederscheint wie ein himmlisches Licht, das mir alles erleuchtet, steht über ihnen. Und das bleibt.

Ich wende meinen Kopf und sehe es in seiner schönen, heitern Ruhe neben mir. Meine Lampe brennt herunter, und ich habe tief bis in die Nacht hinein geschrieben, aber das teure Wesen, ohne das ich nichts wäre, leistet mir immer Gesellschaft.

35. Kapitel Niedergeschlagenheit


35. Kapitel Niedergeschlagenheit

Sobald ich meine Geistesgegenwart, die mich beim ersten überwältigenden Eindruck der eben gehörten Nachricht ganz und gar verlassen, wiedergewonnen hatte, schlug ich Mr. Dick vor, mit mir zu dem Wachszieher zu gehen, wegen des durch Mr. Peggottys Abreise freigewordnen Bettes.

Der Laden des Wachsziehers befand sich auf dem Hungerfordmarkt. Der Platz sah damals noch ganz anders aus als jetzt, und vor dem Tor war ein niedriger Säulengang aus Holz angebracht, der Mr. Dick außerordentlich gefiel. Das Haus glich einem der bekannten altmodischen Wettergläser mit den zwei drehbaren Figuren.

Ich glaube, der Glorienschein, in diesem stolzen Bauwerk wohnen zu dürfen, hätte Mr. Dick für vielerlei Ungemach entschädigt, aber da eigentlich mit Ausnahme der sonderbaren Gerüche, die dem Laden entströmten, und des vielleicht ein wenig beschränkten Raumes keines zu ertragen war, versetzte ihn die neue Wohnung in umso größeres Entzücken. Mrs. Crupp hatte ihm zwar verächtlich versichert, daß dort nicht Platz genug wäre, um eine Katze zu schaukeln, aber Mr. Dick bemerkte sehr richtig zu mir, indem er sich aufs Bettende niedersetzte: »Du weißt, Trotwood, ich will gar keine Katze schaukeln. Ich schaukle nie Katzen. Was geht das also mich an?«

Ich versuchte zu erfahren, ob er etwas über die plötzlichen einschneidenden Veränderungen in den Verhältnissen meiner Tante wüßte. Wie vorauszusehen, hatte er keine Ahnung. Er konnte mir nichts sagen, als daß meine Tante vorgestern zu ihm geäußert hatte:

»Jetzt wollen wir einmal sehen, Dick, ob Sie wirklich der Philosoph sind, für den ich Sie halte.« Darauf habe er erwidert: ja, er hoffe es, und dann habe sie gesagt: »Ich bin zugrunde gerichtet«, und er habe darauf geantwortet: »Ach wirklich!« und sei zu seiner Freude sehr gelobt worden. Dann wären sie zu mir gereist und hätten ein paar Flaschen Porter und belegte Brote unterwegs genossen.

Mr. Dick war so ruhig und heiter, wie er mir das mit erstaunt aufgerißnen Augen und einem verwunderten Lächeln erzählte, daß ich mich leider verleiten ließ, ihm zu erklären, daß Zugrundegerichtet ein Not, Mangel und Hunger bedeute. Bald aber sah ich mich bitter bestraft für meine übereilten Worte, denn er wurde ganz blaß, und Tränen liefen ihm über die Wangen, und er warf mir einen Blick so unsäglichen Kummers zu, daß ein härteres Herz als das meinige weich geworden wäre. Ihn wieder aufzuheitern, kostete mir viel mehr Mühe, als ich vorhin gehabt, ihn in Kümmernis zu versetzen, und ich erkannte bald, was ich gleich hätte wissen können, daß er bloß zuversichtlich gewesen war, weil er in die »weiseste und wunderbarste aller Frauen« und auf die unerschöpflichen Hilfsquellen meines Geistes ein schrankenloses Vertrauen setzte. Die letztern hielt er, glaube ich, jedem nicht absolut tödlichen Übel für mindestens gewachsen.

»Was können wir nur tun, Trotwood?« fragte er. »Wir haben die Denkschrift –«

»Ja, allerdings. Gewiß. Aber alles, was wir vorderhand tun können, Mr. Dick, ist, daß wir unsern Kummer meiner Tante nicht merken lassen und ein freundliches Gesicht machen.«

Er stimmte dem auf das eifrigste bei und flehte mich an, ihn, wenn ich ihn nur einen Zollbreit von dem rechten Wege abweichen sehen sollte, durch eine jener überlegenen Methoden, die mir immer zu Gebote stünden, wieder zur Besinnung zu bringen. Aber leider muß ich sagen, daß der Schrecken, den meine unvorsichtige Mitteilung ihm eingejagt, zu stark für ihn war, als daß er ihn hätte verbergen können. Den ganzen Abend schweiften seine Blicke immer wieder zu meiner Tante hin, voll des Ausdrucks allertiefster Besorgnis, als ob er fürchte, sie jede Sekunde vor seinen Augen rapid abmagern zu sehen. Er war sich dessen wohl bewußt und nahm sich nach Kräften zusammen, aber daß er sich ganz steif hielt und nur mit den Augen rollte wie eine Maschinerie, machte die Sache nicht besser.

Ich bemerkte, wie er während des Abendessens das Brot, das zufällig klein war, betrachtete, als ob es unser letzter Rettungsanker sei. Und als die Tante ihn zum Essen nötigte, ertappte ich ihn, wie er heimlich Stücke von seinem Käse in die Tasche steckte, – ganz sicher nur, um uns mit dem Aufgehobenen wieder lebendig zu machen, wenn wir auf dem Pfade des Hungertodes entsprechend weit vorgeschritten sein würden.

Meine Tante hingegen war sehr gefaßt und darin uns allen ein Vorbild – zum mindesten mir. Sie benahm sich außerordentlich freundlich gegen Barkis, außer, wenn ich sie mit dem Namen Peggotty rief, und tat, als ob sie ganz zu Hause sei, obgleich ich recht wohl wußte, daß sie sich in London nie heimisch fühlen konnte.

Sie sollte in meinem Bett schlafen, und ich wollte mich in das Wohnzimmer legen, um sie zu bewachen. Sie legte großes Gewicht darauf, dem Flusse möglichst nah zu sein im Falle einer Feuersbrunst. Und ich glaube wirklich, sie fühlte sich durch meine Anordnung einigermaßen beruhigt.

»Lieber Trot«, sagte sie, als ich Vorbereitungen traf, ihren gewöhnlichen Schlaftrunk zu mischen. »Nein.«

»Nichts, Tante?«

»Keinen Wein, Trot, Ale!«

»Aber es ist Wein hier, Tante, und du hast ihn dir immer aus Wein bereiten lassen.«

»Heb ihn für Krankheitsfälle auf. Wir dürfen nicht verschwenderisch damit umgehen, Trot. Ale genügt. Eine halbe Pinte!«

Ich dachte, Mr. Dick würde in Ohnmacht fallen. Aber meine Tante beharrte auf ihrem Willen, und ich holte das Ale selbst. Da es schon spät wurde, benützten Peggotty und Mr. Dick die Gelegenheit, zusammen nach Hause zu gehen. Ich schied an der Ecke der nächsten Straße von dem Ärmsten. Er trug niedergeschlagen seinen großen Drachen auf dem Rücken, ein wahres Beispiel menschlicher Trübsal.

Als ich zurückkehrte, ging meine Tante im Zimmer auf und ab und kräuselte die Besatzstreifen ihrer Nachtmütze mit den Fingern. Ich wärmte das Ale und bereitete den Toast nach den gewohnten unfehlbaren Rezepten. Als der Schlaftrunk fertig war, hatte sie bereits die Nachtmütze aufgesetzt und ihren Oberrock auf die Knie zurückgeschlagen.

»Lieber Trot«, sagte sie, nachdem sie einen Löffel voll gekostet hatte, »es ist bedeutend besser als Wein, lange nicht so schwer.«

Ich muß wohl eine etwas zweifelhafte Miene gemacht haben, denn sie fügte hinzu: »Still, still, Kind! Wenn uns nichts Schlimmeres widerfährt, als daß wir Ale trinken müssen, sind wir gut dran.«

»Ich ja, Tante.«

»Wieso nur du?«

»Weil wir ganz verschieden sind.«

»Dummes Zeug und Unsinn, Trot.«

Sie fuhr mit gelassener Heiterkeit fort, das warme Ale auszulöffeln und ihre Röstschnitten zu verzehren.

»Trot, im allgemeinen sind mir fremde Gesichter gleichgültig, aber fast möchte ich sagen, daß mir deine Barkis sehr gut gefällt.«

»Das zu hören ist mir lieber als hundert Pfund.«

»Es ist doch eine ganz seltsame Welt«, bemerkte sie und rieb sich die Nase. »Wie diese Frau jemals mit diesem Namen hineingeraten konnte, ist mir unerklärlich. Es wäre doch viel leichter gewesen, als eine Jackson oder dergleichen auf die Welt zu kommen, sollte man meinen.«

»Vielleicht ist das auch ihre Ansicht; gewiß trägt sie keine Schuld daran.«

»Allerdings nicht«, murrte meine Tante widerstrebend, »aber schlimm ist es doch. Na! Wenigstens heißt sie jetzt Barkis. Wenigstens ein Trost. Barkis hat dich ungemein gern, Trot.«

»Es gibt nichts, was sie meinetwegen nicht täte«, sagte ich.

»Ja, das glaube ich auch. Was hat mich das arme Geschöpf gebeten und angefleht, etwas von ihrem Gelde anzunehmen, – ›weil sie zuviel hat.‹ Das arme Schaf.« Dabei rannen meiner Tante Tränen der Rührung in das warme Ale.

»Sie ist das lächerlichste Geschöpf, das je geboren wurde«, fuhr sie fort. »Vom ersten Augenblick an, als ich sie bei deiner Mutter, dem armen, guten Kinde, sah, erschien sie mir schon als die allerlächerlichste Person auf der Welt. Aber die Barkis hat ihre guten Seiten.«

Sie stellte sich, als ob sie lachte, trocknete sich aber heimlich die Tränen. Dann beschäftigte sie sich wieder mit ihren Röstschnitten. »Ach du meine Güte«, seufzte sie dabei, »ich weiß alles, Trot. Barkis und ich hatten eine lange Unterredung, als du mit Dick fort warst. Ich weiß alles. Ich weiß nur nicht, wo diese unglückseligen Mädchen immer hinauswollen. Sie müssen sich mit aller Gewalt den Schädel einrennen an – an Kaminsimsen –« dieser Gedanke fiel ihr wahrscheinlich ein, weil sie gerade das meinige betrachtete.

»Arme Emly!« sagte ich.

»Ach, sprich mir nicht von arm. Sie hätte sichs vorher überlegen müssen, ehe sie so viel Unheil anrichtete. Gib mir einen Kuß, Trot. Es tut mir leid, daß du so frühzeitig so traurige Erfahrungen machen mußtest.«

Als ich mich zu ihr hinüberbeugte, stellte sie ihr Glas auf mein Knie, um mich auf dem Stuhl festzuhalten, und sagte:

»Ach Trot, Trot! du bildest dir also ein, du wärest verliebt. Wie?«

»Einbilden!« rief ich aus mit brennrotem Gesicht. »Ich bete sie aus ganzer Seele an.«

»Dora. Hm, hm«, entgegnete meine Tante. »Du wirst natürlich behaupten, das kleine Ding sei bezaubernd.«

»Liebe Tante, kein Mensch kann sich vorstellen, wie sie wirklich ist.«

»Kein Gänschen?«

»Ein Gänschen, Tante!«

Ich glaube wirklich, ich hatte mich auch nicht einen Augenblick je gefragt, ob Dora das sei oder nicht. Ich wies den Gedanken natürlich zurück, aber seine Neuheit machte einigen Eindruck auf mich.

»Nicht leichtsinnig?« fragte meine Tante.

»Leichtsinnig, Tante!«

»Schon gut, schon gut, ich frage ja nur. Ich will sie nicht herabsetzen. Armes Liebespärchen! Und ihr glaubt also, ihr wäret füreinander geschaffen und wollt ein Leben miteinander führen wie zwei kleine Zuckerpuppen, nicht wahr, Trot?«

Sie sprach so freundlich zu mir und mit so sanfter, halb scherzender, halb bekümmerter Miene, daß ich ganz gerührt war.

»Ich weiß wohl, Tante, wir sind jung und unerfahren und schwatzen viel kindisches Zeug. Aber wir lieben uns wahrhaftig, das weiß ich gewiß. Wenn ich denken könnte, daß Dora je einen andern lieben würde, so weiß ich nicht, was ich tun müßte, – ich glaube, ich würde wahnsinnig.«

»Ach Trot«, sagte meine Tante und schüttelte ernst lächelnd den Kopf, »blind, blind, blind.«

»Jemand, den ich kenne, Trot«, fuhr sie nach einer Pause fort, »hat einen fügsamen Charakter und eine Tiefe des Gemütes, die mich an das arme Kind erinnert. Nach echtem, aufrichtigem Ernst muß sich dieser Jemand umsehen, damit es ihn stütze und vervollkommne, Trot! Nach wirklicher ernster Gemütstiefe!«

»Wenn du nur Dora kenntest«, rief ich aus.

»O Trot«, sagte meine Tante wieder, »blind, blind!« Und ohne zu wissen, warum und wieso, empfand ich ein dunkles Gefühl eines Mangels an etwas, das wie eine Wolke mein Gemüt verdunkelte.

»Ich will nicht etwa zwei junge Geschöpfe auseinanderbringen oder unglücklich machen, und wenn es auch eine Knaben- und Mädchenliebe ist und aus solchen Liebschaften sehr oft – ich sage, nicht immer – nichts wird, so wollen wir doch ernsthaft davon sprechen und hoffen, daß alles einen glücklichen Ausgang nimmt. Wir haben ja Zeit genug zu warten.«

Das klang für einen leidenschaftlich Verliebten nicht sehr tröstlich, aber immerhin freute es mich, daß mich meine Tante ins Vertrauen gezogen hatte, und ich bedachte, wie erschöpft sie sein mußte. So bedankte ich mich denn bei ihr innigst für den Beweis ihrer Liebe und für alles andre Gute, was sie an mir getan, und nach einem zärtlichen Gutenacht ging sie in mein Schlafzimmer.

Wie unglücklich fühlte ich mich, als ich mich niederlegte. Immer und immer wieder mußte ich daran denken, daß Mr. Spenlow in mir nur den armen Menschen sehen würde; daß ich nicht mehr derselbe sei wie damals, als ich mich mit Dora verlobte, und als anständiger Mensch verpflichtet wäre ihr zu sagen, wie sich mit einem Schlag meine Lage verändert habe und sie ihres Wortes entbinden müßte. Dazu kamen noch die Sorgen, wovon ich während meiner Lehrzeit, wo ich noch nichts verdiente, leben sollte. Ich mußte doch etwas für meine Tante tun und konnte nichts entdecken. Ich malte mir aus, ich würde schließlich so herunterkommen, daß ich kein Geld mehr hätte und einen schäbigen Rock tragen müßte, Dora keine kleinen Geschenke mehr bringen und keine feurigen Eisenschimmel mehr würde reiten können. Sosehr ich in all dem meine Selbstsucht erkannte, so liebte ich doch Dora zu sehr, um nicht daran denken zu müssen. Ich wußte, daß es unrecht war, nicht immerwährend meine Tante vor Augen zu haben, aber meine Selbstsucht war so unzertrennlich von Dora, daß ich auf keine andern Gedanken kommen konnte. Wie entsetzlich unglücklich ich mich in jener Nacht fühlte!

Im Halbschlaf träumte ich von Armut in allen möglichen Gestalten. Ich ging zerlumpt einher, verkaufte Dora Zündhölzer, sechs Schachteln für einen halben Penny, saß in der Kanzlei im Nachthemd, und Mr. Spenlow machte mir Vorwürfe, daß ich in so luftiger Kleidung vor den Klienten erscheine; dann las ich wieder gierig die Brösel auf, die der alte Tiffey von seinem Frühstückszwieback, den er regelmäßig Schlag ein Uhr verzehrte, fallen ließ, und machte den hoffnungslosen Versuch, einen Eheschein für Dora und mich zu bekommen, hatte aber dafür nichts anzubieten als einen von Uriah Heeps Handschuhen, den die ganze Richterversammlung der Commons einstimmig zurückwies; und immer wälzte ich mich, mir meines eignen Zimmers mehr oder weniger bewußt, wie ein abgetakeltes Schiff in einem Meer von Bettlaken herum.

Meine Tante konnte auch nicht schlafen, und ich hörte sie mehrere Male im Zimmer auf und ab gehen. Zwei- oder dreimal kam sie in einem langen Flanelltuch, in dem sie sieben Fuß hoch aussah, wie ein Geist in mein Zimmer und trat an mein Sofa. Das erste Mal sprang ich erschrocken auf und vernahm, daß sie aus einem eigentümlich hellen Schein am Himmel schloß, die Westminster-Abtei stehe in Flammen, und wissen wollte, ob bei Umspringen des Windes Gefahr sei, daß das Feuer die Buckingham Straße ergriffe. Die beiden andern Male blieb ich still liegen, und da setzte sie sich auf einen Stuhl in meiner Nähe, murmelte leise vor sich hin: Armer Junge! und ich fühlte mich zwanzigmal unglücklicher noch durch das Bewußtsein, wie uneigennützig sie und wie selbstsüchtig ich dachte.

Ich konnte kaum glauben, daß eine Nacht, die mir so lang erschien, irgend jemand auf der Welt kürzer vorkommen könnte. Diese Betrachtung gaukelte mir eine Gesellschaft vor, wo die Leute sich die Zeit mit Tanz vertrieben, bis alles ein Traum wurde und ich die Musik unaufhörlich eine Melodie spielen hörte und Dora unablässig tanzen sah, ohne daß sie mich im mindesten beachtete. Der Mann, der die ganze Nacht hindurch die Harfe gespielt hatte, wollte dann sein Instrument vergeblich in eine gewöhnliche Nachtmütze einwickeln, als ich aufwachte, oder besser gesagt, als ich aufhörte zu versuchen, einzuschlafen, und endlich die Sonne durch die Fenster scheinen sah.

Damals befand sich am Ende einer der Nebenstraßen, die in den Strand ausmünden, ein römisches Bad, wo ich oft hinzugehen pflegte, um eine kalte Dusche zu nehmen. Ich zog mich so still wie möglich an, überließ Peggotty die Sorge für meine Tante und stürzte mich kopfüber ins Wasser, um sodann einen Spaziergang nach Hamptstead zu machen. Ich hoffte, daß diese Erfrischung mir einen klaren Kopf verschaffen würde, und es schien auch der Fall gewesen zu sein, denn ich faßte sogleich den Entschluß, einen Versuch zu machen, ob nicht mein Lehrkontrakt aufgehoben und das Einschreibegeld wieder zurückbezahlt werden könnte. Ich ließ mir in einem Gasthaus auf der Heide ein Frühstück geben und ging auf den taubenetzten Wegen, umgeben von dem angenehmen Duft der Sommerblumen, die in den Gärten wuchsen oder in die Stadt getragen wurden, in die Kanzlei, um meinen Plan auszuführen.

Ich kam so früh, daß ich noch eine halbe Stunde vor dem Bureau auf und ab gehen mußte, ehe der alte Tiffey, der immer der erste war, mit den Schlüsseln erschien. Dann setzte ich mich in einen dunkeln Winkel, betrachtete das Sonnenlicht an den Schornsteinen gegenüber und dachte an Dora, bis Mr. Spenlow, gelockt und gekräuselt wie immer, hereintrat.

»Wie gehts, Copperfield?« sagte er. »Ein feiner Morgen.«

»Ein schöner Morgen, Sir. Könnte ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, ehe Sie aufs Gericht gehen?«

»Selbstverständlich«, sagte er. »Kommen Sie in mein Zimmer.«

Ich folgte ihm in sein Bureau, wo er seinen Talar anzog und sich in einem kleinen Spiegel an der Innenseite einer Schranktür betrachtete.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Sir«, begann ich, »daß ich recht unangenehme Nachrichten von meiner Tante erhalten habe.«

»O Gott! Doch hoffentlich kein Schlaganfall?«

»Es hat mit Gesundheit nichts zu tun, Sir. Sie hat große Verluste erlitten. Es bleibt ihr nur mehr sehr wenig übrig.«

»Sie über-raschen mich, Copperfield!« rief Mr. Spenlow.

Ich schüttelte den Kopf. »Ihre Verhältnisse haben sich derart verändert, daß ich Sie fragen möchte, ob es nicht möglich wäre, natürlich mit Aufopferung eines Teils meiner Einschreibegebühr«, – das setzte ich aus freien Stücken hinzu, veranlaßt durch den Ausdruck seines Gesichts – »meinen Kontrakt rückgängig zu machen.«

Niemand kann sich eine Vorstellung machen, was dieser Vorschlag für mich bedeutete. Es war so gut wie eine Bitte, auf Gnadenwege zur Verbannung von Dora verurteilt zu werden.

»Ihren Lehrkontrakt rückgängig zu machen, Copperfield? rückgängig zu machen?«

Ich setzte mit leidlicher Fassung auseinander, daß ich wirklich nicht wüßte, woher ich meine Subsistenzmittel hernehmen sollte, wenn ich sie nicht selbst verdiente.

»Betreffs der Zukunft«, sagte ich, »hege ich keine Besorgnis –« und ich legte darauf großen Nachdruck, wie, um auf eine Möglichkeit, später einmal doch noch sein Schwiegersohn werden zu können, hinzudeuten –, aber für jetzt sei ich auf meine eignen Einkünfte angewiesen.

»Es tut mir außerordentlich leid, Copperfield, das zu hören«, sagte Mr. Spenlow. »Ganz außerordentlich leid. Es ist nicht üblich, aus solchem Anlaß Lehrkontrakte rückgängig zu machen. Es ist in keiner Hinsicht geschäftsmäßig. Es ist kein empfehlenswerter Präzedenzfall. Durchaus nicht. Andererseits –«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, murmelte ich in der Annahme, daß er eine Ausnahme machen wolle.

»O, ich bitte sehr«, wehrte Mr. Spenlow ab. »Andererseits, wollte ich sagen, wenn es mir vergönnt wäre, freie Hand zu haben, – wenn ich nicht einen Associe hätte, – Mr. Jorkins –«

Meine Hoffnungen waren mit einem Schlage vernichtet, aber ich machte noch einen Versuch.

»Meinen Sie nicht vielleicht, Sir«, sagte ich, »wenn ich mit Mr. Jorkins spräche –«

Mr. Spenlow schüttelte entmutigend den Kopf. »Gott verhüte, Copperfield, daß ich jemand Unrecht tun sollte, am allerwenigsten Mr. Jorkins. Aber ich kenne meinen Associe, Copperfield! Mr. Jorkins ist nicht der Mann, der auf einen Vorschlag so eigentümlicher Art eingehen würde. Mr. Jorkins läßt sich nur sehr schwer von dem gewohnten Wege abbringen. Sie wissen doch, wie er ist.«

Ich wußte gar nichts von ihm, als daß er ursprünglich allein im Geschäft gewesen war und jetzt in einem kahlen Hause nicht weit vom Montagu Square wohnte, sehr spät kam und sehr früh wegging, eine Treppe höher ein kleines finsteres Bureau innehatte, wo nie Geschäfte abgewickelt wurden, auf einem Pult eine alte Papiermappe lag, ohne jeden Tintenfleck und, wie die Sage ging, zwanzig Jahre alt.

»Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mit ihm davon spräche, Sir?«

»Durchaus nicht, aber ich kenne Mr. Jorkins einigermaßen. Ich wollte, es wäre anders, und ich würde mich glücklich schätzen, Ihren Wünschen entsprechen zu dürfen. Ich habe nicht das mindeste dagegen, daß Sie mit Mr. Jorkins darüber sprechen, Copperfield, – wenn Sie es der Mühe wert halten.«

Entschlossen, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen, die Mr. Spenlow mir mit einem warmen Händedruck gab, setzte ich mich wieder hin, dachte an Dora und beobachtete, wie sich die Sonnenstrahlen von den Rauchfängen auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauses stahlen, bis Mr. Jorkins kam. Dann stieg ich in sein Zimmer hinauf und überraschte ihn offenbar sehr durch mein Erscheinen.

»Nur herein, Mr. Copperfield«, sagte er. »Nur herein.«

Ich trat ein und setzte mich und brachte mein Anliegen mit denselben Worten vor wie soeben Mr. Spenlow. Mr. Jorkins war keineswegs der schreckliche Mensch, den man hätte erwarten sollen, sondern ein dicker Herr von sechzig Jahren und einem sanften Gesicht. Er verbrauchte so viel Schnupftabak, daß in den Commons die Sage ging, er lebe fast nur von diesem Reizmittel, da für einen andern Nahrungsstoff in seinem System kein Platz mehr sei.

»Sie haben wahrscheinlich darüber schon mit Mr. Spenlow gesprochen«, sagte Mr. Jorkins, als er mir sehr unruhig bis zu Ende zugehört hatte.

Ich bejahte und sagte ihm, Mr. Spenlow habe seinen Namen genannt.

»Er sagte, ich würde Einwendungen erheben?«

Ich mußte zugeben, daß Mr. Spenlow dies für wahrscheinlich gehalten hatte.

»Es tut mir leid, Ihrem Wunsche nicht willfahren zu können, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Jorkins nervös. »Tatsache ist – aber ich habe auf der Bank zu tun, und Sie werden gewiß die Güte haben mich zu entschuldigen.«

Damit stand er in größter Eile auf und wollte das Zimmer verlassen, als ich mir noch einmal ein Herz faßte und sagte, daß sich also leider wohl die Sache nicht würde arrangieren lassen.

»Nein.« Mr. Jorkins blieb in der Türe stehen, um den Kopf zu schütteln. »Nein, ich erhebe Einwand dagegen«, sagte er rasch und ging hinaus. »Sie müssen bedenken, Mr. Copperfield«, setzte er hinzu und sah wieder zur Türe herein, »wenn Mr. Spenlow Einwendungen erhebt –«

»Persönlich macht er keine Einwendungen«, warf ich ein.

»Ja, ja, persönlich!« wiederholte Mr. Jorkins ungeduldig. »Ich versichere Ihnen, Mr. Copperfield, es sind eben Einwendungen da, die Sache ist hoffnungslos. Was sie wünschen, kann nicht geschehen. Ich – ich habe wahrhaftig auf der Bank zu tun.« Damit floh er geradezu und zeigte sich, soviel ich weiß, drei Tage lang nicht wieder in den Commons.

Da ich nichts unversucht lassen wollte, wartete ich, bis Mr. Spenlow wieder zurückkam, und erzählte ihm, was geschehen war, wobei ich ihm zu verstehen gab, daß ich nicht ohne Hoffnung sei, ihm werde es gelingen, das steinerne Herz Mr. Jorkins‘ zu erweichen, wenn er es nur versuchen wollte.

»Copperfield«, entgegnete Mr. Spenlow mit einem gewinnenden Lächeln«, Sie kennen meinen Associe, Mr. Jorkins, noch nicht so lange wie ich. Nichts liegt mir ferner, als Mr. Jorkins irgendwelche Unaufrichtigkeiten zuzutrauen, aber er hat eine eigentümliche Art, seinen Einwendungen Ausdruck zu verleihen, wodurch sich die Leute oft täuschen lassen. Nein, Copperfield, Mr. Jorkins läßt sich nicht umstimmen, darauf können Sie sich verlassen.«

Ich wußte gar nicht mehr, wen von beiden, Mr. Spenlow oder Mr. Jorkins, ich eigentlich für den Einwand erhebenden Firmateilhaber halten sollte, aber das eine war mir klar, daß von einer Rückzahlung der tausend Pfund nicht die Rede sein konnte. In großer Niedergeschlagenheit verließ ich die Kanzlei, immer in Gedanken mit Dora beschäftigt, und ging nach Hause.

Ich stellte mir im Geiste bereits das Allerschlimmste vor und malte mir alles im schwärzesten Lichte aus, als ein Fiaker mich einholte, neben mir hielt und mich dadurch aufblicken machte. Eine schöne Hand streckte sich mir aus dem Fenster entgegen und das Gesicht, in das ich nie ohne eine Empfindung von Beruhigung und Glück geblickt, von dem Augenblick an, wo es sich zum ersten Mal auf der eichenen alten Treppe mit dem großen breiten Geländer zurückwandte und ich seine sanfte Schönheit mit einem Kirchenfenster verglichen hatte, lächelte mir zu.

»Agnes!« rief ich entzückt, »liebe Agnes, welche Freude, gerade dich von allen Menschen auf der Welt zu sehen.«

»Wirklich?« sagte sie herzlich.

»Ich möchte so gerne mit dir sprechen. Wie wird mir das Herz so leicht, wenn ich dich nur ansehe. Wenn ich einen Zauberstab besäße, niemand anders als dich würde ich mir herbeigewünscht haben.«

»So?« – Agnes lächelte.

»Nun, vielleicht zuerst Dora«, gab ich errötend zu.

»Gewiß, zuerst Dora. Hoffentlich!« sagte Agnes lachend.

»Dann aber sofort dich! Wohin fährst du?«

Sie stand im Begriffe in meine Wohnung zu fahren, um meine Tante zu besuchen. Da das Wetter sehr schön war, schickten wir den Wagen fort, sie nahm meinen Arm, und wir gingen zusammen weiter. Sie kam mir vor wie die verkörperte Hoffnung. Wie ganz anders fühlte ich mich jetzt, wo sie neben mir ging.

Meine Tante hatte Agnes eins ihrer wunderlichen kurzen Billeten geschrieben – nicht länger als eine Banknote –, auf die sich ihre briefstellerischen Leistungen gewöhnlich beschränkten. Sie hatte darin gesagt, daß sie in Unglück geraten sei und Dover verlassen habe, sich aber sonst wohl befinde, so daß sich ihre Freunde keine Sorge um sie zu machen brauchten.

Agnes war nach London gekommen, um sie zu besuchen, da sie schon seit mehreren Jahren auf sehr gutem Fuße mit ihr stand. Die gegenseitige Zuneigung der beiden datierte von jener Zeit her, als ich in Mr. Wickfields Haus zog.

Agnes sagte, sie sei nicht allein. Ihr Papa hätte sie begleitet und – Uriah Heep.

»Also sind sie jetzt Associes?« fragte ich. »Verwünscht sei dieser Heep!«

»Ja, sie haben verschiedene Geschäfte hier abzuwickeln, und ich benützte die Gelegenheit, um ebenfalls mitzukommen. Du mußt nicht glauben, daß mein Besuch bei deiner Tante ganz allein aus Freundschaft entspringt, Trotwood, aber um es dir nur zu gestehen, ich fürchte mich, Papa mit Uriah allein reisen zu lassen.«

»Übt er immer noch denselben Einfluß auf Mr. Wickfield aus?«

Agnes nickte. »Daheim ist alles so verändert, daß du das alte liebe Haus kaum mehr wiedererkennen würdest. Sie wohnen jetzt bei uns.«

»Sie?« fragte ich.

»Mr. Heep und seine Mutter. Er schläft in deinem alten Zimmer«, sagte Agnes und sah mir ruhig in die Augen.

»Ich wollte, ich könnte seine Träume beeinflussen«, seufzte ich. »Dann würde er nicht mehr lang dort schlafen.«

»Ich habe noch mein kleines Zimmerchen, wo ich früher meine Aufgaben machte. Wie doch die Zeit vergeht! Erinnerst du dich? Das kleine getäfelte Zimmer neben dem Salon.«

»Ob ich mich noch erinnere, Agnes? Wo ich dich zum ersten Mal sah, wie du mit dem hübschen, kleinen Schlüsselkörbchen am Arm zur Türe heraustratest.«

»Ja, ja«, sagte Agnes lächelnd. »Es freut mich, daß du noch mit Liebe daran zurückdenkst. Wir waren damals sehr glücklich.«

»Ja, das waren wir, Agnes.«

»Es ist jetzt noch mein Zimmer, aber ich kann Mrs. Heep nicht immer allein lassen und muß ihr manchmal Gesellschaft leisten, wenn ich lieber allein sein möchte. Aber sonst kann ich mich über sie nicht beklagen. Wenn sie mich manchmal durch ihre ewigen Lobsprüche auf ihren Sohn langweilt, so ist das bei einer Mutter natürlich. Er handelt als guter Sohn an ihr.«

Ich blickte Agnes forschend an, konnte aber in ihren Zügen nicht entdecken, ob sie etwas von Uriahs Plänen erraten hatte. Ihre sanften, ernsten Augen sahen mich mit ihrer gewohnten schönen Offenheit an, und in ihrem Antlitz war keine Veränderung zu bemerken.

»Das Hauptübel ihrer Anwesenheit im Hause ist, daß ich nicht mehr so beständig in Papas Nähe sein und ihn bewachen kann, wenn ich mich damit nicht zu kühn ausdrücke. Spinnt Uriah Heep einen verräterischen Plan gegen ihn, so hoffe ich, daß Wahrheit und schlichte Liebe am Ende stärker sein werden. Ich hoffe, daß sie imstande sind, alles Übel und Unglück in der Welt am Ende zu überwinden.«

Ein gewisses freudiges Lächeln, das ich nie auf einem andern Gesicht gesehen, verschwand in ihren Mienen, während ich noch darüber nachdenken mußte, wie schön es sei und wie oft ich es gesehen, und sie fragte mich mit rasch verändertem Ausdruck – wir bogen gerade in die Buckingham Straße ein –, ob ich wüßte, wie es mit dem Vermögensverlust meiner Tante zugegangen sei. Auf meine verneinende Antwort wurde sie nachdenklich, und es kam mir vor, als ob ihr Arm in dem meinen zitterte.

Wir fanden meine Tante allein und in einiger Aufregung. Eine Meinungsverschiedenheit hatte sich zwischen ihr und Mrs. Crupp über eine theoretische Frage (ob es sich für das schönere Geschlecht schicke, in möblierten Mietszimmern zu wohnen) abgespielt, und meine Tante, gegen die »Krämpf« der Mrs. Crupp gänzlich unempfindlich, hatte den Streit damit kurz abgeschnitten, daß sie dieser Dame rundheraus sagte, sie röche nach Schnaps und möchte so gut sein, lieber hinauszugehen. Beide Äußerungen betrachtete Mrs. Crupp als strafbare Beleidigungen und hatte die Absicht ausgesprochen, das »Gricht« anzurufen.

Meine Tante hatte jedoch Zeit und Muße gehabt sich zu beruhigen, denn Peggotty war mit Mr. Dick ausgegangen, um ihm die berittene Leibwache zu zeigen, – und freute sich sehr, Agnes zu sehen. Sie schien auf den erlittenen Schicksalsschlag fast stolz zu sein und empfing uns in bester Laune. Als Agnes ihren Hut ablegte und sich neben meine Tante setzte, konnte ich nicht umhin mir zu denken, daß hier so recht ihr natürlicher Platz sei. Wie fest vertraute ihr meine Tante trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit, und wie stark war Agnes in ihrer schlichten Liebe und Wahrhaftigkeit.

Wir sprachen von dem Vermögensverlust, und ich erzählte, wie mein Versuch heute morgen ausgefallen.

»Das war unüberlegt, Trot«, sagte meine Tante, »wenn auch gut gemeint. Du bist ein hochherziger Junge, – ich muß jetzt wohl schon sagen, junger Mann, und ich bin stolz auf dich. Soweit wäre alles gut. Aber jetzt, Trot und Agnes, wollen wir dem Fall Betsey Trotwood ins Gesicht sehen und uns klarwerden, wie alles steht.«

Ich bemerkte, daß Agnes blaß wurde und meine Tante sehr aufmerksam beobachtete. Meine Tante streichelte ihre Katze und sah Agnes ebenfalls sehr aufmerksam an.

»Betsey Trotwood also, die immer ihre Geldangelegenheiten selbst abwickelte – ich meine nicht deine Schwester, lieber Trot, sondern mich selbst –, besaß einiges Vermögen. Es kommt nicht darauf an, wieviel, aber es war genug, um zu leben. Eigentlich noch mehr; sie hatte etwas gespart und dazugelegt. Betsey deponierte ihr Vermögen für einige Zeit in der Bank und legte es dann auf den Rat ihres Anwalts in Hypotheken an. Das warf recht anständige Zinsen ab, bis Betsey ausbezahlt wurde. Jetzt hatte sich also Betsey nach einer neuen Gelegenheit, ihr Geld anzulegen, umzusehen. Sie glaubte, sie sei klüger als ihr Anwalt, der jetzt kein so guter Geschäftsmann mehr zu sein schien wie früher – ich meine deinen Vater, Agnes –, und sie setzte sich in den Kopf, das Geld auf eigne Faust zu verwalten. Sie trieb sozusagen ihre Schafe auf einen auswärtigen Markt, und zwar in einen schlechten. Zuerst verlor sie in Minenwerten und dann beim Suchen nach Schätzen im Meer und anderm Unsinn, verlor dann wieder bei Minenwerten und zum Schluß den letzten Rest in Bankpapieren. Ich weiß nicht, wieviel die Bankaktien eine Zeitlang wert waren, sie notierten sogar einmal hundert Prozent über pari. Aber die Bank stand am andern Ende der Erde und muß wohl in den Weltraum hinabgerutscht sein. Jedenfalls ging sie in Trümmer, und niemals mehr wird ein Sixpence herausschauen. Und damit ist die Geschichte aus. Je weniger man darüber spricht, desto besser.«

Meine Tante schloß ihren philosophischen Bericht mit einem triumphierenden Blick auf Agnes, deren Farbe allmählich wieder zurückkehrte.

»Ist das die ganze Geschichte, liebe Miss Trotwood?« fragte Agnes.

»Ich denke, es ist genug, mein Kind. Wenn noch mehr Geld zuzusetzen gewesen wäre, würde sie gewiß noch nicht aus sein. Es wäre Betsey schon gelungen, auch den Rest noch dem übrigen nachzuwerfen und ein zweites Kapitel daraus zu machen. Aber das Geld ist alle, und die Geschichte ist aus.«

Agnes hatte zuerst mit angehaltnem Atem zugehört, sie wurde immer noch abwechselnd blaß und rot, atmete aber freier auf. Ich glaubte zu wissen, warum. Sie fürchtete, ihr armer Vater wäre in irgendeiner Weise an dem Geschehenen schuld.

Meine Tante faßte sie bei der Hand und lachte.

»Die Geschichte ist aus, und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch glücklich und in Freuden. Vielleicht kann ich das auch noch einmal von Betsey sagen. Du, Agnes, bist ein gescheites Kind und auch du, Trot, wenigstens in manchen Dingen, in allen kann man das noch nicht behaupten«; bei diesen Worten schüttelte meine Tante mit der ihr eigentümlichen Energie den Kopf. »Was ist also zu tun? Vorerst haben wir das Häuschen, das jährlich so ungefähr siebzig Pfund einbringt. Ich glaube, wir können es dafür lassen. Das ist alles«, sagte meine Tante, die die Eigentümlichkeit hatte, wie edle Pferde mit einem Ruck mitten im schärfsten Tempo innezuhalten.

»Dann«, fuhr sie nach einer Pause fort, »haben wir Dick. Er bekommt hundert Pfund jährlich, aber das muß natürlich für ihn allein ausgegeben werden. Ich würde ihn lieber fortschicken, obgleich ich weiß, daß ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der ihn gehörig würdigt, als daß ich ihn bei mir behielte und das Geld anders als für ihn verwendete. Wie können also, Trot und ich, am besten mit unsern Mitteln auskommen. Was meinst du, Agnes?«

»Ich meine, Tante«, fiel ich ein, »daß ich irgend etwas anfangen muß.«

»Soldat werden, meinst du wohl?« rief meine Tante ganz erschrocken, »oder zur See gehen? Ich will nichts hören. Du sollst ein Proktor werden.«

Ich wollte gerade eine neue Auseinandersetzung beginnen, als Agnes fragte, ob meine Zimmer für lange Zeit gemietet seien.

»Du triffst den rechten Punkt, meine Liebe«, sagte meine Tante. »Für die nächsten sechs Monate wenigstens sind sie nicht loszuwerden. Wir müßten sie denn anderweitig anbringen können, und daran glaube ich nicht. Der letzte Mieter starb hier. Fünf Menschen von sechsen würden natürlich an dieser Frau in Nankingkleidern mit dem flanellnen Unterrock zugrunde gehen. Ich besitze noch eine kleine Summe in bar und glaube, es ist das beste, die noch übrigen sechs Monate hierzubleiben und für Dick ganz in der Nähe ein Schlafzimmer zu suchen.«

Ich hielt es für meine Pflicht, meine Tante auf die Unannehmlichkeit eines beständigen Guerillakrieges mit Mrs. Crupp aufmerksam zu machen, aber sie beseitigte den Einwand summarisch durch die Erklärung, daß sie bei dem ersten Ausbruch von Feindseligkeiten Mrs. Crupp für den ganzen Rest ihrer Lebenszeit in höchstes Erstaunen setzen wollte.

»Ich habe mir gedacht, Trotwood«, sagte Agnes schüchtern, »daß, wenn du Zeit hättest –«

»Ich habe sehr viel Zeit, Agnes. Ich bin immer von vier oder fünf Uhr an frei und habe auch in den Morgenstunden Zeit. So und so«, sagte ich und errötete bei dem Gedanken, wie viele, viele Stunden ich in den Straßen der Stadt und auf der Landstraße nach Norwood vertrödelt hatte, »bleibt mir vollauf Zeit übrig.«

»Ich glaube, die Beschäftigung eines Sekretärs würde dir vielleicht nicht schwerfallen«, sagte Agnes, beugte sich zu mir und sprach mit leiser Stimme so lieb und voll Hoffnungsfreudigkeit, daß es mir heute noch in den Ohren klingt.

»Schwerfallen, liebe Agnes?«

»Dr. Strong hat nämlich jetzt wirklich seine Stelle niedergelegt«, fuhr sie fort, »ist nach London gezogen und hat Papa nach einem Sekretär gefragt. Meinst du nicht, er würde lieber als jeden andern seinen ehemaligen Lieblingsschüler um sich haben?«

»Liebe Agnes«, rief ich aus, »was wäre ich ohne dich! Du bist stets mein guter Engel. Ich habe es doch immer gesagt. Du bist es immer und immer wieder.«

Agnes erwiderte mit fröhlichem Lachen, daß vorläufig ein guter Engel – sie spielte auf Dora an – ausreiche, und erzählte mir, daß der Doktor gewöhnlich die frühen Morgenstunden und den Abend zu arbeiten pflegte und meine freie Zeit ihm daher vortrefflich passen würde. Die Aussicht, mir mein Brot selbst zu verdienen, war mir kaum angenehmer als die Hoffnung, bei meinem alten Lehrer angestellt zu sein; kurz, ich schrieb sofort, dem Rate Agnes‘ folgend, einen Brief an ihn, worin ich meinen Wunsch vortrug und meinen Besuch für den nächsten Morgen um zehn Uhr ankündigte. Ich adressierte den Brief nach Highgate – denn in jener für mich so denkwürdigen Gegend wohnte er – und trug ihn augenblicklich selbst auf die Post.

Wo auch Agnes hinkam, immer verriet sogleich irgendein angenehmes Zeichen ihre Gegenwart und geräuschlose Tätigkeit. Als ich zurückkam, hatten die Vogelbauer meiner Tante einen Platz am Fenster gefunden, genau so, wie sie in dem Landhaus in Dover gehangen; mein Lehnstuhl, allerdings nicht so bequem wie der dortige, stand an der entsprechenden Stelle am offenen Fenster, und selbst der runde, grüne Schirm, den meine Tante mitgebracht, war auf das Fensterbrett festgeschraubt. Ich würde im Augenblick erraten haben, wer das alles gemacht und meine lange vernachlässigten Bücher in der aus der Schulzeit gewohnten Ordnung aufgestellt hatte, selbst wenn ich von Agnes‘ Anwesenheit nichts gewußt hätte.

Meine Tante war sehr gnädig hinsichtlich des Anblicks der Themse (der Fluß sah im Sonnenschein ganz hübsch aus, wenn auch nicht so schön wie das Meer vor dem Landhause), aber mit dem Londoner Rauch konnte sie sich nicht abfinden, der, wie sie sich ausdrückte, alles mit Pfeffer bestreue.

Wegen dieses Pfeffers wurde eine vollständige Umwälzung, bei der Peggotty eine hervorragende Rolle spielte, in jedem Winkel meines Zimmers veranstaltet, und ich sah zu und dachte, wie geräuschvoll selbst Peggotty zu hantieren schien, verglichen mit Agnes, – da klopfte es an die Tür.

»Ich glaube«, sagte Agnes und wurde blaß, »es ist Papa. Er versprach mir herzukommen.«

Ich öffnete die Tür, und nicht nur Mr. Wickfield, sondern auch Uriah Heep traten herein. Ich hatte Mr. Wickfield längere Zeit nicht gesehen. Nach Agnes‘ Erzählungen hatte ich mich wohl darauf gefaßt gemacht, ihn sehr verändert zu finden, aber sein Aussehen erschütterte mich geradezu.

Er sah viele Jahre älter aus, sein Gesicht zeigte eine ungesunde Röte, aber er war immer noch mit derselben peinlichen Sorgfalt gekleidet; seine Augen waren entzündet und blutunterlaufen, und seine Hand zitterte – ich wußte warum und hatte es schon vor Jahren kommen sehen. Aber nicht sein verändertes Aussehen – von seiner vornehmen Haltung hatte er nicht das geringste eingebüßt – fiel mir so sehr auf, sondern der Umstand, daß er bei allen noch vorhandenen Zeichen einer angebornen Überlegenheit sich dieser kriecherischen Verkörperung von Gemeinheit – Uriah Heep – unterordnete. Die unnatürliche Stellung dieser beiden Charaktere zueinander, so daß Uriah jetzt der Gebieter und Mr. Wickfield der Abhängige war, machte mir einen peinlicheren und entwürdigenderen Eindruck, als wenn ich einen Affen hätte einem Menschen befehlen sehen.

Mr. Wickfield schien sich alles dessen nur zu sehr bewußt zu sein. Als er hereinkam, blieb er stehen, das Haupt gebeugt, als ob er es fühlte. Das dauerte aber nur einen Augenblick lang, denn Agnes sagte mit sanfter Stimme zu ihm:

»Papa, hier sind Miss Trotwood – und Trotwood, den du so lange nicht gesehen hast!« Und dann trat er näher, gab meiner Tante mit gezwungener Miene die Hand und schüttelte die meine mit größerer Herzlichkeit. Eine Sekunde lang sah ich, daß sich Uriahs Gesicht zu einem bösen Lächeln verzerrte. Ich glaube, auch Agnes sah es, denn sie zog sich schaudernd vor ihm zurück.

Was meine Tante sah oder nicht sah, hätte auch der scharfsinnigste Physiognom nicht aus ihren Mienen lesen können. Ich glaube, es hat nie jemand auf der Welt gegeben, der ein so vollkommen steinernes Gesicht machen konnte. Ihre Mienen hätten in dem vorliegenden Fall ebensogut kahles Mauerwerk sein können, so wenig Licht warfen sie auf ihre Gedanken, bis sie mit ihrer gewohnten Plötzlichkeit das Schweigen brach.

»Na, Wickfield!«

Er sah sie jetzt zum ersten Male an.

»Ich habe Ihrer Tochter erzählt, wie gut ich mein Geld allein angelegt habe, weil ich es Ihnen nicht anvertrauen wollte, da Sie in Geschäftssachen ein wenig schläfrig geworden zu sein schienen. Wir haben die Sache zusammen beraten und sind zu einem guten Schluß gekommen. Agnes wiegt meiner Meinung nach die ganze Firma auf.«

»Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf«, sagte Uriah Heep und krümmte sich, »so erlaube ich mir, mit Miss Betsey Trotwood ganz übereinzustimmen, und würde mich glücklich schätzen, wenn Miss Agnes mit zum Geschäft gehörte.«

»Sie gehören ja selbst zum Geschäft«, entgegnete meine Tante, »und das ist gerade genug für Sie, sollte ich meinen. Wie befinden Sie sich?«

Auf diese Frage, die mit ungewöhnlicher Schroffheit gestellt wurde, erwiderte Heep, indem er unruhig die blaue Aktentasche umklammerte, daß er sich recht wohl befinde, meiner Tante danke und hoffe, es gehe ihr ebenso.

»Und Ihnen, Master ? ich wollte sagen, Mister Copperfield?« fuhr er fort, »ich hoffe, Sie sind ebenfalls wohl. Es freut mich außerordentlich, Sie zu sehen, Mister Copperfield, selbst unter den gegenwärtigen Verhältnissen.« Ich glaubte ihm das aufs Wort, denn er strahlte vor Schadenfreude.

»Ihre gegenwärtigen Verhältnisse sind wohl nicht so, wie Ihre Freunde wünschen möchten, Mister Copperfield, aber Geld macht nicht den Mann. Es ist ? meine bescheidenen Kräfte reichen wahrhaftig nicht aus, es in die richtigen Worte zu kleiden ?« sagte Uriah mit einer kriechenden Bewegung, »aber Geld machts nicht.«

Dabei schüttelte er mir die Hand, nicht auf die gewöhnliche Art, sondern indem er in ziemlicher Entfernung von mir stehenblieb und meine Hand wie einen Pumpenschwengel, vor dem er sich ein wenig fürchte, auf und nieder bewegte.

»Und wie finden Sie, sehen wir aus, Master Copperfield ? ich wollte sagen, Mister?« schmeichelte er weiter. »Finden Sie nicht Mr. Wickfield blühend aussehend, Sir? In unserm Geschäft machen Jahre nichts aus, Master Copperfield, außer daß sie die Demütigen, nämlich Mutter und mich, erheben ? und das Schöne, nämlich Miss Agnes, entwickeln.« Er schnellte sich in so widerwärtiger Weise, daß meine Tante, die ihn starr angesehen, alle Geduld verlor.

»Der Kuckuck hole den Menschen«, sagte sie streng. »Was hat er nur? Zappeln Sie nicht so, Sir!«

»Ich bitte um Entschuldigung, Miss Trotwood«, entgegnete Uriah, »ich weiß, Sie sind nervös.«

»Halten Sie den Mund«, sagte meine Tante, durchaus nicht besänftigt. »Was erlauben Sie sich! Ich bin gar nicht nervös. Aber Sie sind ein Aal und benehmen sich so. Wenn Sie ein Mensch sind, behalten Sie Ihre Glieder in der Gewalt, Sir, ? Gott im Himmel!« setzte sie mit großer Entrüstung hinzu. »Ich werde mich nicht aus meinen fünf Sinnen hinausschlängeln und korkziehern lassen.«

Wie leicht begreiflich, war Heep von dieser Explosion ziemlich bestürzt, die noch nachträglich immer stärker auf ihn wirkte, weil meine Tante mit unwilliger Miene auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und ihm böse Gesichter schnitt. Er nahm mich beiseite und sagte zu mir in schüchternem Ton:

»Ich weiß recht wohl, Master Copperfield, daß Miss Trotwood bei aller ihrer Vortrefflichkeit ein reizbares Temperament besitzt, habe ich doch schon das Vergnügen ihrer Bekanntschaft vor Ihnen gehabt, Master Copperfield, als ich noch ein niedriger Schreiber war, und es ist nur natürlich, daß sie in den gegenwärtigen Verhältnissen noch gereizter erscheint. Es ist nur ein Wunder, daß es nicht noch schlimmer ist. Ich komme nur her, um zu erklären, daß wir sehr erfreut sein möchten, wenn mir, Mutter und ich oder Wickfield & Heep, bei den gegenwärtigen Verhältnissen etwas tun könnten. – Darf ich mir so viel herausnehmen?« fragte Uriah mit einem verlegnen Lächeln auf seinen Associe.

»Uriah Heep«, sagte Mr. Wickfield monoton und gezwungen, »ist sehr tätig im Geschäft, Trotwood. Was er sagt, hat meine volle Zustimmung, und du weißt, ich fühlte von jeher ein Interesse für dich. Aber abgesehen davon, stimme ich ganz mit Uriah überein.«

»O, was für ein Lohn es ist«, sagte Uriah und zog ein Bein in die Höhe, auf die Gefahr hin, meine Tante abermals zu reizen, »ein solches Vertrauen zu genießen. Aber ich hoffe, ich bin imstande, ihn die Mühseligkeiten des Geschäftes ein wenig abnehmen zu können, Master Copperfield.«

»Uriah Heep ist eine große Stütze für mich«, sagte Mr. Wickfield mit derselben klanglosen Stimme. »Mir ist eine Last von der Seele, Trotwood, seit ich ihn zum Kompagnon habe.«

Ich begriff, der schlaue Rotfuchs ließ ihn das alles sagen, um ihn mir in der Zwangslage vorzustellen, die er mir in jener Nacht, als er meine Ruhe vergiftete, angedeutet hatte. Ich sah wieder dasselbe häßliche Lächeln auf seinem Gesicht und bemerkte, wie er mich lauernd beobachtete.

»Du gehst doch nicht fort, Papa?« fragte Agnes ängstlich. »Willst du nicht warten, bis Trotwood und ich dich heimbegleiten?«

Mr. Wickfield schien einen fragenden Blick auf Uriah werfen zu wollen, doch kam ihm dieser zuvor.

»Ich habe Geschäfte«, sagte Uriah, »sonst würde ich mich glücklich schätzen, hierbleiben zu können. Aber ich lasse meinen Associe als Stellvertreter der Firma da. Miss Agnes, immer der Ihrige! Ich wünsche Ihnen guten Tag, Master Copperfield, und empfehle mich untertänigst bei Miss Betsey Trotwood.«

Mit diesen Worten entfernte er sich, küßte seine große Hand und schielte uns an wie eine Maske.

Wir saßen wohl ein paar Stunden lang zusammen und sprachen von den schönen alten Zeiten in Canterbury. Neben Agnes gewann Mr. Wickfield viel von seinem alten Wesen wieder, obgleich er eine gewisse Gedrücktheit nie loswerden konnte. Dennoch wurde er fröhlicher und hörte uns mit sichtlichem Vergnügen zu, wenn wir uns die vielen kleinen Vorfälle unseres frühern Zusammenlebens zurückriefen. Er sagte, er erinnere sich so gern an die Zeiten, wo er mit Agnes und mir allein gewesen, und wünschte, sie hätten sich nie geändert. In Agnes‘ ruhigem Antlitz und in der bloßen Berührung ihrer Hand lag etwas, das Wunder an ihm tat.

Meine Tante, die sich die ganze Zeit über in dem andern Zimmer zusammen mit Peggotty beschäftigt hatte, wollte nicht mit uns gehen, als wir aufbrachen. So aßen wir zu dritt zusammen in Mr. Wickfields Wohnung. Nach dem Essen setzte sich Agnes neben ihren Vater und schenkte ihm seinen Wein ein.

Er trank nur, was sie ihm reichte und nicht mehr – wie ein gehorsames Kind –, und wir setzten uns, als der Abend anbrach, ans Fenster. Als es fast dunkel geworden war, legte er sich auf ein Sofa, und Agnes rückte ihm die Kissen zurecht und beugte sich eine Weile über ihn, und als sie wieder zum Fenster zurückkehrte, konnte ich Tränen in ihrem Auge glitzern sehen.

Wie sie dann mit mir von Dora sprach, als wir im Dunkeln am Fenster saßen, wie sie meine Lobsprüche anhörte und miteinstimmte! Ach Agnes, Schwester meiner Jugendzeit, wenn ich damals gewußt hätte, was ich lange später erst erfuhr!

Auf der Straße begegnete ich einem Bettler, und als ich nach dem Fenster zurückblickte und an Agnes‘ ruhige Engelsaugen dachte, erschreckte er mich durch sein Gemurmel, das wie ein Echo des Satzes vom verflossenen Morgen klang: »Blind, blind, blind!«