Viertes Kapitel. Die Vorbereitung.

Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Royal-George-Hotel den Kutschenschlag. Er tat dies mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel; denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.

Diesmal galt der Glückwunsch nur einem einzigen Passagier; denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, in den dichten, zottigen Umhüllungen, den niederhängenden Hutkrempen und den schmutzbespritzten Beinen den dazu gehörigen Hund vorstellen konnte.

»Geht morgen ein Paketschiff nach Calais, Kellner?«

»Ja, Sir, wenn das Wetter hält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Ein Bett, Sir?«

»Das werde ich heute nacht nicht brauchen. Doch wünsche ich ein Schlafzimmer zu haben. Schickt mir einen Barbier.«

»Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn’s beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentleman und heiß Wasser auf Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel ab! Ihr werdet ein schönes Seekohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier auf Concord! Hurtig da, auf Concord.«

Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen und ließ in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, die interessante Beobachtung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder herauskamen. Als daher zufällig ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die Wirtin an unterschiedlichen Punkten des Weges zwischen dem Concord- und dem Kaffeezimmer einherschlenderten, sahen sie einen Gentleman von etwa sechzig in einem förmlichen, zwar ziemlich verbrauchten, aber doch gut erhaltenen, braunen Anzug mit breiten Ärmelaufschlägen und großen Taschen auftauchen, um unten sein Frühstück einzunehmen.

Selbigen Vormittag barg das Kaffeezimmer keinen anderen Gast als den Gentleman in Braun. Der Frühstückstisch war vor den Kamin gerückt, und als der Fremde in der vollen Beleuchtung des Feuers dasaß und der Bedienung harrte, verhielt er sich so regungslos, als sei er im Begriff, sich porträtieren zu lassen.

Die Hände auf die Knie gelegt, sah er sehr regelmäßig und exakt aus, und eine laute Uhr tickte in seiner Westentasche eine helltönende Predigt, als wolle sie ihre Würde und ihr hohes Alter zu dem Leichtsinn und der raschen Vergänglichkeit der lodernden Flamme in einen Gegensatz bringen. Er hatte einen hübschen Fuß und war ein bißchen eitel darauf, denn die braunen Strümpfe vom feinsten Gewebe lagen glatt und knapp an, und auch seine Schnallenschuhe nahmen sich trotz ihrer Einfachheit recht sauber aus. Eine flachsfarbige Stutzperücke mit kurzem krausem Haar, das jedoch eher aus Seiden- oder Glasfädchen als aus natürlichen Haaren zu bestehen schien, bedeckte seinen Kopf. Die Leinwand entsprach in Feinheit allerdings nicht den Strümpfen, war aber so weiß wie der Schaum der Wellen, die sich am nahen Ufer brachen, oder wie die von der Sonne beleuchteten Reusenpunkte weit draußen in der See. Ein an Ruhe gewöhntes Gesicht wurde unter der wunderlichen Perücke durch ein Paar feuchte klare Augen erhellt, mit denen ihr Eigentümer wohl manche Not gehabt haben mochte, bis sie im Lauf der Jahre an den zurückhaltenden und abgemessenen Ausdruck von Tellsons Bank gewöhnt waren. Auf seinen Wangen lag ein frisches Rot, und sein furchiges Antlitz trug nur wenige Spuren der Sorge. Nun, vielleicht hatten die unverheirateten Kontoristen in Tellsons Bank hauptsächlich mit den Sorgen anderer Leute, mit Sorgen zweiter Hand zu tun, die wahrscheinlich wie die Kleider aus zweiter Hand schneller ein Ende nehmen.

Um das Bild des Mannes, der einem Porträtmaler sitzt, vollständig zu machen, schlummerte Mr. Lorry endlich ein. Die Ankunft des Frühstücks weckte ihn wieder. Als er seinen Stuhl an den Tisch rückte, sagte er zu dem Kellner:

»Ich wünsche, daß Ihr Vorbereitungen trefft für die Aufnahme eines jungen Frauenzimmers, das heute noch hier anlangen wird. Sie fragt vielleicht nach Mr. Jarvis Lorry, vielleicht auch einfach nach einem Herrn von Tellsons Bank. Habt die Güte, mich von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen.«

»Ja, Sir. Tellsons Bank in London, Sir?«

»Ja.«

»Ja, Sir. Die Herren Reisenden dieses Hauses beehren uns auf dem Hin- und Herweg von London nach Paris oft mit ihrem Besuch, Sir. Tellson und Kompanie lassen außerordentlich viel reisen, Sir.«

»Ja. Wir sind ebensogut ein französisches wie ein englisches Geschäftshaus.«

»Ja, Sir. Ihr selbst aber seid wohl an das Reisen nicht sehr gewöhnt, Sir?«

»In letzter Zeit nicht mehr. Es ist schon fünfzehn Jahre her, seit wir – seit ich – meine letzte Reise nach Frankreich machte.«

»Wirklich, Sir? Nun, damals war ich noch nicht im Hause; auch mein Chef noch nicht, Sir. Der George befand sich zu jener Zeit in andern Händen, Sir.«

»Ich glaube das gern.«

»Aber ich wollte eine schöne Wette darauf eingehen, Sir, daß ein Haus wie das von Tellson und Kompanie, ich will nicht sagen vor fünfzehn, sondern schon vor fünfzig Jahren florierte.«

»Ihr könnt die Zahl dreifach nehmen und hundertfünfzig sagen, ohne weit gegen die Wahrheit zu verstoßen.«

»Wirklich, Sir?«

Und Augen und Mund weit aufsperrend, trat der Kellner von dem Tisch zurück, warf seine Serviette vom rechten unter den linken Arm, nahm eine imposante Haltung an und betrachtete den Gast, während dieser aß und trank, wie von einem Wachturm oder einer Sternwarte aus, nach dem stereotypen Brauch der Kellner in allen Jahrhunderten.

Nach Beendigung des Frühstücks erhob sich Mr. Lorry, um einen Spaziergang am Ufer zu machen. Die kleine, schmale, winkelige Stadt Dover lag kaum beachtenswert an der Küste hin und verbarg wie eine Art Meeresanemone ihren Kopf in den Kalksteinklippen. Das Gestade war eine Wüste, in der Wasser und Steine sich untereinander tummelten; die See tat, was sie vermochte; und ihr Lieblingsgeschäft war Zerstören. Sie donnerte gegen die Stadt, donnerte gegen die Klippen und hauste wie toll an der Küste. Die Luft um die Häuser her hatte einen so starken Fischgeruch, daß man hätte meinen sollen, kranke Fische brauchten darin eine Luftkur, wie die kranken Menschen im Wasser drunten einer Seekur obzuliegen pflegten. In dem Hafen wurde etwas Fischerei betrieben; doch diente er noch weit mehr müßigen Spaziergängern zum Tummelplatz, die abends, namentlich um die Zeit der Fluthöhe, sich am Anblick des Meeres vergnügen wollten. Kleine Gewerbsleute ohne Geschäft kamen oft auf eine unerklärliche Weise zu großem Vermögen, und es war merkwürdig, daß in der ganzen Nachbarschaft niemand den Lampenanzünder ausstehen konnte.

Es wurde Nachmittag, und die Luft, die mitunter so klar gewesen, daß man die französische Küste sehen konnte, füllte sich aufs neue mit Dunst und Nebel. Auch Mr. Lorrys Gedanken schienen sich zu umwölken. Als er nach Einbruch der Dunkelheit neben dem Feuer des Kaffeezimmers saß, und wie am Morgen auf das Frühstück, so jetzt auf das Diner wartete, beschäftigte sich sein Geist emsig mit Graben, Graben und Graben in den glühroten Kohlen.

Eine Flasche guten Bordeaux‘ nach dem Essen konnte einem Kohlengräber bei so heißer Arbeit nicht schaden, indem sie höchstens dazu diente, ihm das Geschäft ein wenig zu verleiden. Mr. Lorry war schon geraume Zeit müßig gewesen und hatte eben mit einer so vollkommen befriedigten Miene, wie man sie nur bei einem ältlichen Gentleman mit frischer Gesichtsfarbe am Schluß einer Flasche finden kann, das letzte Glas voll eingeschenkt, als sich von der engen Straße her das Gerassel eines Wagens vernehmen ließ, der bald darauf in dem Wirtshaushof haltmachte.

Er stellte das Glas ungekostet wieder auf den Tisch und sagte zu sich selber:

»Dies ist die Mamsell.«

Einige Minuten später trat der Kellner ein, um zu melden, daß Miß Manette von London angelangt sei und sich darauf freue, den Gentleman von Tellson zu empfangen.«

»So bald?«

Miß Manette hatte unterwegs einige Erfrischungen zu sich genommen und brauchte für den Augenblick nichts, brannte aber vor Begier, den Gentleman von Tellson sogleich bei sich zu sehen, wofern es ihm gelegen und nicht unangenehm sei.

So blieb dem Gentleman von Tellson keine andere Wahl, als mit einer Miene stummer Verzweiflung sein Glas zu leeren, sein wunderliches Flachsperücklein zurechtzurücken und dem Kellner in Miß Manettes Zimmer zu folgen. Es war ein großes dunkles Gemach mit schwarzen Roßhaarmöbeln und schweren dunkelfarbigen Tischen, so, daß man an eine Trauerparade gemahnt wurde. Man hatte diesen Hausrat so lange geölt und geölt, bis die zwei hohen Lichter der mittleren Tafel auf jedem Tischblatt düster widerstrahlten, als seien sie tief in das schwarze Mahagoniholz eingesenkt und könne kein der Rede wertes Licht von ihnen erlangt werden, bevor sie ausgegraben wären.

Es war so dunkel, daß Mr. Lorry, der sich durch den abgenutzten türkischen Bodenteppich leiten ließ, schon glaubte, Miß Jeanette sei für einen Augenblick in das anstoßende Zimmer getreten. Als er aber die zwei hohen Kerzen hinter sich hatte, bemerkte er neben dem Tische zwischen diesem und dem Kamin, zu seinem Empfang bereit, eine junge Dame von nicht mehr als siebzehn in einem Reitkleid, die den Strohreisehut am Bande in der Hand hielt. Seine Augen ruhten auf einer kleinen, schmächtigen, hübschen Figur, einer Fülle goldenen Haars, einem Augenpaar, das dem seinigen mit fragenden Blicken begegnete, und einer Stirn, die die bei solcher Jugend und Glätte befremdliche Eigenschaft besaß, durch Heben und Zusammenziehen der Brauen eine Miene anzunehmen, die nicht gerade ein Ausdruck von Verwirrung, von Staunen, von Unruhe oder auch nur von gespannter Aufmerksamkeit genannt werden konnte, wohl aber etwas von allen diesen vier Eigenarten in sich faßte. Während nun seine Blicke auf diesem Bilde hafteten, fiel ihm plötzlich die lebhafte Ähnlichkeit mit einem Kinde auf, das er bei seiner Fahrt über eben diesen Dover-Kanal bei kaltem Hagelwetter und hochgehender See in den Armen gehabt hatte. Die Erinnerung war jedoch nur flüchtig und einem Hauch auf der Oberfläche des einzigen Pfeilerspiegels ähnlich, auf dessen Rahmen eine Spitalprozession von verkrüppelten und kopflosen schwarzen Genien einer Versammlung von schwarzen weiblichen Gottheiten in schwarzen Körben Früchte vom toten Meer darbrachten. Er machte Miß Manette eine förmliche Verbeugung.

»Ich bitte, nehmt Platz, Sir«, begann eine sehr helle und angenehme junge Stimme mit einem ganz leichten Anflug von ausländischem Akzent.

»Ich küß‘ Euch die Hand, Miß«, sagte Mr. Lorry mit den Manieren eines früheren Datums, während er nach einer abermaligen förmlichen Verbeugung seinen Sitz einnahm.

»Ich habe gestern von der Bank einen Brief erhalten, der von einer Neuigkeit oder einer Entdeckung spricht –«

»Das Wort ist nicht wesentlich. Miß; Ihr könnt es so oder so nennen.«

»Das kleine Eigentum meines Vaters betreffend, den ich nie sah und der schon lange tot ist.«

Mr. Lorry rückte auf seinem Stuhl und warf einen ängstlichen Blick auf die Spitalprozession der schwarzen Genien. Als ob sie für irgend jemand Hilfe bringen konnten in ihren abgeschmackten Körben!

»Es soll dadurch notwendig werden, daß ich nach Paris reise und daselbst gemeinschaftlich handle mit einem Herrn, der ausdrücklich wegen dieser Angelegenheit auch nach Paris geschickt worden sei.«

»Der bin ich.«

»Das habe ich erwartet, Sir.«

Sie machte einen Knix gegen ihn (damals knixten die jungen Frauenzimmer noch), um ihm damit zu verstehen zu geben, daß sie fühle, um wieviel älter und weiser er sei. Und er verbeugte sich abermals.

»Ich habe darauf der Bank geantwortet, Sir, wenn meinen sachverständigen freundlichen Beratern meine Reise nach Paris nötig erscheine, so werde ich als eine Waise, die keinen Verwandten hat, der sie begleiten kann, mich glücklich schätzen, diesem Auftrag unter dem Schutz des würdigen Herrn nachzukommen. Der Gentleman hatte zwar London schon verlassen; aber ich glaube, es ist ihm ein Bote nachgeschickt worden mit der Bitte, er möchte die Güte haben, mich hier zu erwarten.«

»Ich bin so glücklich gewesen, mit diesem Dienst betraut zu werden«, erwiderte Mr. Lorry. »Und noch glücklicher wird mich seine Ausführung machen.«

»Ich danke Euch, danke Euch von ganzem Herzen, Sir. Man hat mir in der Bank gesagt, der Herr werde mir die ganze Angelegenheit auseinandersetzen, und ich müsse mich darauf gefaßt machen, überraschende Dinge zu hören. Ich habe mein Bestes getan, um mich darauf vorzubereiten, und bin natürlich in hohem Grade auf Eure Mitteilungen gespannt.«

»Natürlich«, versetzte Mr. Lorry. »Ja – ich –«

Nach einer Pause fügte er, die Perücke gegen das Ohr rückend, bei:

»Es ist sehr schwer, den Anfang zu finden.«

Und so fing er lieber nicht an, begegnete aber in seiner Unschlüssigkeit ihrem Blicke. Die junge Stirn furchte sich zu jenem eigentümlichen Ausdruck, der zwar auffallend, aber doch hübsch und charakteristisch war; dabei erhob sie ihre Hand, als greife sie mit dieser unwillkürlichen Bewegung nach einem flüchtigen Schatten oder wolle ihn festhalten.

»Seid Ihr mir ganz fremd, Sir?«

»Bin ich’s nicht?«

Mr. Lorry öffnete seine Hände und streckte sie mit einem beweisführenden Lächeln aus.

Die Linie zwischen den Brauen und unmittelbar über dem Mädchennäschen, die so zart und fein wie nur immer möglich war, wurde ausdrucksvoller, als sie nachdenkend sich auf den Stuhl niederließ, neben dem sie bisher gestanden hatte. Er verwandte keinen Blick von dem gedankenvollen Wesen, und sobald sie ihre Augen wieder erhob, fuhr er fort:

»Ich vermute, daß ich in Eurem Adoptivvaterland nichts Besseres tun kann, als wenn ich mich gegen Euch wie gegen eine junge englische Lady benehme, Miß Manette?«

»Wenn es Euch so beliebt, Sir.«

»Miß Manette, ich bin ein Geschäftsmann und als ein solcher beauftragt, ein Geschäft auszurichten. Diesem meinem Auftrag gegenüber braucht Ihr mich nicht anders zu betrachten, als ob ich eine sprechende Maschine sei – in der Tat, ich bin auch kaum etwas anderes. Mit Eurer Erlaubnis, Miß, will ich Euch die Geschichte eines unserer Kunden erzählen.«

»Geschichte?«

Er schien absichtlich das Wort, das sie wiederholt hatte, mißzuverstehen, indem er hastig fortfuhr:

»Ja, eines Kunden. Im Bankgeschäft nennen wir gewöhnlich diejenigen, die mit uns in Geldbeziehungen treten, unsere Kunden. Er war ein Herr aus Frankreich, ein Gelehrter, ein Mann von ausgedehnten Kenntnissen, ein Doktor.«

»Nicht aus Beauvais?«

»Nun ja, von Beauvais. Gleich Eurem Vater, dem Monsieur Manette, war der Herr aus Beauvais und wie Euer Vater auch in Paris sehr angesehen. Ich hatte die Ehre, ihn dort kennenzulernen. Unsere Beziehungen waren geschäftlicher, aber doch vertraulicher Art. Ich arbeitete damals in unserem französischen Haus und wäre nicht – oh! zwanzig Jahre.«

»Damals, Sir – darf ich fragen, was Ihr mit diesem damals meint?«

»Ich spreche von der Zeit vor zwanzig Jahren, Miß. Er heiratete – eine englische Dame –, und ich war einer der Administratoren. Seine Angelegenheiten befanden sich wie die vieler französischer Herren und Familien ganz in Tellsons Händen. So bin ich denn oder war ich in der einen oder anderen Weise Güterpfleger für viele unserer Kunden. Dies sind bloß geschäftliche Beziehungen, die mit besonderem Interesse, Gefühl und Freundschaft nichts zu schaffen haben. Ich übernahm im Laufe meines Geschäftslebens bald diesen bald jenen Dienst, geradeso wie ich im Laufe des Geschäftstages von einem unserer Kunden zum anderen übergehe. Kurz, ich habe keine Gefühle – bin eine bloße Maschine. Um fortzufahren –«

»Aber Eure Geschichte betrifft wohl meinen Vater, Sir, und ich fange an zu glauben« – die seltsam gefurchte Stirn war ihm mit großer Angelegentlichkeit zugewendet –, »daß Ihr es wart, der mich nach England brachte, als ich nach dem Tod meiner Mutter, die meinen Vater nur um zwei Jahre überlebte, verwaist in der Welt stand. Ja, ich bin fest überzeugt davon.«

Mr. Lorry ergriff die zögernde kleine Hand, die sich ihm vertrauensvoll genähert hatte, um die seinige zu ergreifen, und brachte sie mit einiger Förmlichkeit an seine Lippen. Dann führte er die junge Dame wieder nach ihrem Stuhl, stützte seine Linke auf die Lehne und benutzte seine Rechte abwechselnd, um sich das Kinn zu reiben, die Stutzperücke gegen das Ohr zu ziehen oder seinen Worten Nachdruck zu geben, während er auf das achtsam zu ihm aufschauende Gesichtchen niederblickte.

»Ja, ich war es, Miß Manette. Und Ihr werdet sehen, wie wahr ich eben von mir selbst gesprochen, als ich sagte, daß ich keine Gefühle habe und meine Beziehungen zu meinen Nebenmenschen bloß geschäftlicher Natur seien, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt, daß ich Euch seitdem nie wieder gesehen habe. Nein, Ihr wart von jener Zeit an Tellsons Mündel, und ich hatte in anderen Geschäften des Hauses Tellson zu tun. Gefühle? Dafür finde ich weder Zeit noch Gelegenheit. Ich verbringe mein Leben damit, Miß, daß ich stets eine ungeheure finanzielle Waschanstalt im Gang halte.«

Nach dieser eigentümlichen Schilderung seines täglichen Geschäftslebens strich Mr. Lorry mit beiden Händen die flachsfarbige Perücke auf seinem Kopfe glatt (wohl ein unnötiges Bemühen, da ihre glänzende Oberfläche vorher schon nicht glatter hätte sein können) und nahm seine frühere Haltung wieder an.

»Wie Ihr bemerkt habt, Miß, paßt die seitherige Geschichte auf Euren bedauerten Vater; jetzt aber kommt der Unterschied. Wenn Euer Vater nicht gestorben wäre, als er – Ihr müßt nicht erschrecken. Warum fahrt Ihr so zusammen?«

Sie war wirklich zusammengefahren und faßte jetzt seinen Arm mit ihren beiden Händen.

»Ich bitte«, fuhr Mr. Lorry in beschwichtigendem Ton fort, indem er seine Linke von der Stuhllehne entfernte, um sie auf die flehenden Finger zu legen, die mit so heftigem Zittern seinen Arm umfaßt hielten – »ich bitte, bekämpft Eure Aufregung – eine Geschäftssache. Ich wollte sagen –«

Ihr Blick brachte ihn dermaßen außer Fassung, daß er innehielt, eine Abschweifung versuchte und dann von neuem anhub.

»Ich wollte sagen – wenn Monsieur Manette nicht gestorben, sondern nur plötzlich in aller Stille verschwunden und nach irgendeinem schrecklichen Platze entrückt worden wäre, den man wohl erraten, aber nicht ermitteln konnte; wenn er einen Feind gehabt hätte in einem Landsmann, dem ein Vorrecht zu Gebot stand, von dem zu meiner Zeit auch die kecksten Männer dort über dem Wasser drüben nur mit Flüstern sprachen – die Befugnis zum Beispiel, Förmlichkeiten auszufüllen, die irgend jemand für beliebige Zeit dem Vergessenwerden in einem Gefängnis überantworteten: wenn seine Gattin um Kunde von ihm sich vor König und Königin, Hof und Geistlichkeit in den Staub geworfen hätte, aber alles vergeblich – dann wäre die Geschichte Eures Vaters auch die jenes unglücklichen Mannes, des Doktor von Beauvais gewesen.«

»Ich bitte Euch flehentlich, mir alles zu sagen, Sir.«

»Es soll geschehen. Ich bin im Begriff. Könnt Ihr es ertragen?«

»Ich kann alles ertragen, nur nicht die Ungewißheit, in der Ihr mich schweben laßt.«

»Ihr sprecht gefaßt, und Ihr seid es wohl auch. Recht so.« Freilich schien er innerlich weniger befriedigt zu sein, als seine Worte ausdrückten. »Eine Geschäftssache. Betrachtet es als ein Geschäft, das abgetan werden muß. Wohlan, wenn die Frau dieses Doktors trotz ihres hohen Geistes und Mutes um dieses Umstandes willen so sehr gelitten hätte, daß sie noch vor der Geburt ihres Kindes« –

»Dieses Kind war eine Tochter, Sir.«

»Eine Tochter. Eine – eine – Geschäftsache – laßt Euch nicht beunruhigen, Miß. Wenn die arme Dame so furchtbar gelitten hätte, daß sie vor der Geburt ihres Kindes den Entschluß faßte, dem armen Wesen die Teilnahme an ihren eigenen Qualen zu ersparen, indem sie es in dem Glauben erzog, daß sein Vater tot sei – – Nein, kniet nicht nieder. Um Himmels willen, warum kniet Ihr denn vor mir?«

»Die Wahrheit. O mein lieber, guter, mitleidiger Herr, die Wahrheit!«

»Eine – eine Geschäftsache. Ihr bringt mich in Verwirrung, und wie kann ich ein Geschäft bereinigen, wenn mein Kopf nicht klar ist? Wir müssen uns zusammennehmen. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, mir zum Beispiel zu sagen, was neunmal neun Pence ausmacht, oder wie viele Schillinge man zu zwanzig Guineen braucht. Das wäre schon ermutigender und würde mich über den Zustand Eures Geistes beruhigen.«

Er führte sie sanft nach ihrem Stuhl; hier blieb sie, ohne auf seine Berufung unmittelbar zu antworten, so ruhig sitzen, und ihre Hände, die noch immer seinen Arm umfaßt hielten, zeigten gegen früher eine so augenfällig erhöhte Stetigkeit, daß er wieder ein Herz faßte.

»Recht so, recht so. Nur Mut. Geschäft – es handelt sich um ein Geschäft, um ein belangreiches Geschäft. Miß Manette, Eure Mutter hat es in der angeregten Weise mit Euch gehalten. Und als sie starb – ich glaube an gebrochenem Herzen, weil sie nie in dem fruchtlosen Forschen nach Eurem Vater innehielt –, konnte die von ihr zurückgelassene Waise zu einem blühend schönen, glücklichen Wesen heranwachsen, ohne daß die schwere Wolke der Ungewißheit, ob sich die Kräfte Eures Vaters im Kerker früh verzehrten oder eine Reihe von Jahren hinsiechten, Euer Dasein trübte.«

Während er diese Worte sprach, blickte er mit mitleidsvoller Bewunderung auf das wallende Goldhaar nieder, als komme es ihm vor, daß es sich bereits mit Grau zu mengen beginne.

»Ihr wißt, daß Eure Eltern kein großes Vermögen besaßen, und daß es Eurer Mutter und Euch gesichert worden ist. Etwas Neues, Gold oder sonstiges Eigentum betreffend, kann ich Euch also nicht mitteilen, wohl aber die Kunde –«

Er fühlte einen festeren Druck an seinem Handgelenk und hielt darum inne. Der Zug auf ihrer Stirn, der ihm schon so sehr aufgefallen war, hatte den Ausdruck des Schmerzes und Schreckens angenommen.

»Daß er – daß er aufgefunden worden ist. Er lebt. Daß er sich sehr verändert hat, ist freilich nur allzu wahrscheinlich; möglich, daß wir nur noch eine Ruine in ihm finden: doch wollen wir das Beste hoffen. Er lebt noch. Man hat Euren Vater nach dem Haus eines alten Dieners in Paris gebracht, und wir sind auf dem Wege zu ihm – ich, um seine Identität zu bestätigen, wenn ich kann. Ihr, um ihm durch Liebe und Kindesdienst das Leben ruhig und behaglich zu machen.«

Ein Schauder überströmte ihren Körper und ging von ihr aus auf ihn über. Vernehmlich zwar, aber mit leiser und angstvoller Stimme, als rede sie im Traum, sprach sie:

»Ich gehe hin, um seinen Geist zu sehen! Es wird sein Geist sein, nicht er.«

Mr. Lorry rieb ruhig die Hände, die seinen Arm festhielten.

»So, so. Jetzt wär‘ es heraus. Von dem Besten und dem Schlimmsten seid Ihr nunmehr unterrichtet. Ihr befindet Euch auf dem Weg zu dem armen, schwer mißhandelten Herrn; noch eine schöne Seereise und eine schöne Landreise, und Ihr werdet an seiner Seite sein.«

In demselben Ton, aber noch gedämpfter, fuhr sie fort:

»Ich bin frei, ich bin glücklich gewesen; und doch ist mir sein Geist nie nahe gekommen.«

»Noch eines«, sagte Mr. Lorry mit Nachdruck, als sehe er darin das beste Mittel, Aufmerksamkeit zu erzwingen; »er ist unter einem andern Namen aufgefunden worden. Sein eigener wurde entweder seitdem stets verheimlicht oder vergessen. Es wäre schlimmer als nutzlos, darüber Nachforschungen anzustellen – schlimmer als nutzlos, ausfindig machen zu wollen, ob er diese lange Reihe von Jahren übersehen oder absichtlich gefangen gehalten wurde. Solche Nachforschungen würden jetzt zu nichts Gutem führen, sondern im Gegenteil gefährlich werden. Besser, man schweigt ganz und gar über die Sache und schafft ihn, jedenfalls für eine Weile, fort aus Frankreich. Sogar ich vermeide es, davon zu reden, obschon mich meine Nationalität sicherstellt, und Tellsons nehmen sich in acht, trotz ihrer Bedeutung für den französischen Kredit. Ich trage keinen Fetzen Papier bei mir, der eine offene Beziehung darauf hätte. Es handelt sich ganz und gar um ein Dienstgeheimnis. Meine Beglaubigungs-, Einführungs- und Empfehlungsbriefe beschränken sich auf die paar Worte: ›Ins Leben zurückgerufen‹, und man kann unter ihnen alles verstehen. Doch was ist das? Sie hört mich nicht! Miß Manette!«

Sie saß vollkommen still und unbewegt unter seiner Hand und war nicht einmal gegen die Stuhllehne zurückgesunken, trotz des Zustandes von Bewußtlosigkeit, in dem sie sich befand. Ihre Augen standen offen und waren auf ihn gerichtet: auch schien der vorerwähnte Ausdruck mit dem Meißel oder dem Brandeisen in ihre Stirn eingegraben zu sein. Sie hielt seinen Arm so fest umschlungen, daß er sich, um ihr nicht weh zu tun, scheute, ihre Hände loszumachen, und in dieser Not rief er, ohne sich von der Stelle zu rühren, laut um Hilfe.

Eine wild aussehende Weibsperson – Mr. Lorry bemerkte sogar in seiner Aufregung, daß sie selbst bis auf die Haare ganz rot aussah, in eine merkwürdig knapp anliegende Tracht gekleidet war und eine höchst wundersame Haube von der Gestalt eines mächtigen hölzernen Grenadierkübels oder eines großen Stiltoner Käses auf dem Kopf hatte – kam als Vortrab des Wirtshausgesindes in das Zimmer gerannt und erledigte alsbald die Frage seines Gebanntseins an die arme junge Dame damit, daß sie ihm mit sehniger Faust einen Stoß vor die Brust versetzte, demzufolge er gegen die nächste Wand flog.

»Das muß wahrhaftig ein Mannsbild sein«, dachte der atemlose Mr. Lorry in seinem Innern, als er den Widerstand der Mauer fühlte.

»Was soll eure Gafferei da!« rief die Weibsperson, gegen die Gasthausdienerschaft gewandt. »Warum geht ihr nicht, um das Nötige zu holen, und steht her, um mich anzuglotzen? Ist denn so viel an mir zu sehen, he? Warum bringt ihr mir nichts? Gebt acht, ich mach‘ euch Beine, wenn nicht rasch Riechsalz, kalt Wasser und Weinessig herkommt. Nun, wird’s bald?«

Es flog alles auseinander, um die gewünschten Belebungsmittel herbeizuschaffen, nur die Frau legte in der Zwischenzeit die Ohnmächtige sanft auf das Sofa. Sie zeigte dabei viel Geschick und Zartheit, nannte sie ihr »Schätzchen«, ihr »Vögelchen« und streifte mit Sorgfalt und Stolz das goldne Haar aus dem Antlitz der Patientin gegen die Schultern zurück.

»Und Ihr, Brauner, da«, sagte sie, entrüstet sich gegen Mr. Lorry umwendend, »konntet Ihr dem armen Kind nicht sagen, was Ihr ihm zu sagen hattet, ohne es auf den Tod zu erschrecken? Schaut sie an mit ihrem hübschen, blassen Gesicht und ihren kalten Händen. Treiben es alle Bankiers so?«

Mr. Lorry war von dieser schwer zu beantwortenden Frage so übermäßig betroffen, daß er nur aus der Ferne mit viel schwächerer Sympathie und Zerknirschung zuzuschauen vermochte, während das Mannweib, nachdem es die Hausdienerschaft unter der geheimnisvollen Drohung verbannt hatte, sie etwas nicht namhaft Gemachtes wissen zu lassen, wenn sie gaffend stehenbleibe, ihren Pflegling allmählich zur Besinnung brachte und durch Schmeichelworte bewog, das haltlose Köpfchen auf ihre Schulter zu legen.

»Ich hoffe, es macht sich jetzt bei ihr«, sagte Mr. Lorry.

»Dann ist jedenfalls Euer brauner Rock unschuldig daran. Mein Herzkäferchen.«

»Ich hoffe«, bemerkte Mr. Lorry nach einer abermaligen Pause schwacher Sympathie und Zerknirschtheit, »daß Ihr Miß Manette nach Frankreich begleiten werdet?«

»Sehr wahrscheinlich«, versetzte die entschiedene Frau. »Wenn es mir je beschieden gewesen wäre, daß ich über das Salzwasser soll, meint Ihr, die Vorsehung hätte mir dann meine Bestimmung auf meiner Insel angewiesen?«

Abermals eine schwer zu beantwortende Frage, weshalb Mr. Jarvis Lorry sich zurückzog, um darüber nachzudenken.