Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Der Fortschritt einer Epidemie.

Daß es mindestens ebenso schwierig sei, einer moralischen Ansteckung Einhalt zu tun als einer physischen; daß eine solche Krankheit mit der Bösartigkeit und Raschheit der Pest umsichgreife; daß die Ansteckung, wenn sie mal begonnen, keinen Stand und Beruf schone, sondern sich auf Leute von der besten Gesundheit werfe und an den unempfänglichsten Konstitutionen hervorbreche, ist eine durch die Erfahrung ebensosehr bestätigte Tatsache, als daß wir menschlichen Geschöpfe in einer Atmosphäre atmen. Ein unschätzbares Glück wäre es für alle, wenn die Angesteckten, in deren Schwäche und Verdorbenheit sich der Giftstoff erzeugte, augenblicklich festgenommen und in strengen Gewahrsam gebracht (wir wollen nicht gerade sagen summarisch erstickt) werden könnten, ehe der Giftstoff sich weiter zu verbreiten imstande wäre.

Wie ein großes Feuer die Luft weit in der Runde mit seinem Krachen erfüllt, so ließ die heilige Flamme, die die mächtigen Barnacles angefacht, die Luft immer weiter und weiter von dem Namen Merdle erschallen. Er ertönte von jeder Lippe und klang in jedes Ohr. Ein Mann wie Mr. Merdle existierte außer ihm nicht, hatte niemals existiert und konnte niemals wieder existieren. Niemand, wie wir früher erwähnten, wußte, was er getan; aber jedermann wußte, daß er das größte Wunder sei, das jemals existierte.

Im Bleeding Heard Yard, wo es keinen unverwendeten halben Penny gab, nahm man ebenso lebhaftes Interesse an diesem Ausbund von Menschen als an der Fondsbörse. Mrs. Plornish, nunmehr Inhaberin eines kleinen Spezerei- und Allerleikrams in einem kleinen Laden am lebhaftesten Ende des Hofes, oben an der Treppe, in dem ihr kleiner alter Vater und Maggy sie unterstützten, predigte gewöhnlich ihren Kunden über den Ladentisch hinüber von ihm. Mr. Plornish, der einen kleinen Anteil an dem Geschäft eines kleinen Bauunternehmens in der Nachbarschaft hatte, sagte, mit der Kelle in der Hand, wenn er oben auf den Gerüsten oder auf den Dachziegeln der Häuser stand, wie die Leute ihm erzählten, sei Mr. Merdle der Mann, »der alles in bezug auf das, was wir alle erwarten, sage ich euch, ins Geleise bringen könnte und, sage ich euch, soviel wir brauchen, sicher auch ins Haus schaffen wird.« Von Mr. Baptist, dem einzigen Mieter von Mr. und Mrs. Plornish, flüsterten sich die Leute zu, er lege die Ersparnisse, die er bei seinem einfachen und mäßigen Leben mache, zurück, um sie in einer oder der andern von Mr. Merdles Unternehmungen anzulegen. Die Bewohnerinnen des Bleeding Heard Yard teilten, wenn sie ihr Lot Tee und ihren Zentner Klatsch holten, Mr. Plornish mit, daß, wie sie von ihrer Base Mary Anne gehört hätten, die in diesem Fache arbeite, die Kleider von Mrs. Merdle drei Frachtwagen füllen würden. Daß sie eine so schöne Frau sei, wie nur irgendwo eine existierte, und einen Busen habe wie Marmor. Daß, soviel sie gehört, ihr Sohn aus einer früheren Ehe bei der Regierung angestellt worden; daß dieser erste Gemahl derselben ein General gewesen, und Armeen habe er ins Feld geführt und sei siegreich aus dem Kampfe hervorgegangen, wenn man alles glauben dürfe, was erzählt werde. Daß man behaupte, Mr. Merdle habe gesagt, wenn sie es ihm der Mühe wert machten, das ganze Ministerium zu übernehmen, wollte er es ohne Profit tun, aber es übernehmen und dabei verlieren könne er nicht. Daß jedoch nicht zu erwarten gewesen, er würde verlieren, denn seine Wege seien, ohne Übertreibung dürfe man das sagen, mit Gold gepflastert; daß es aber sehr zu bedauern wäre, daß man nicht etwas Hübsches zusammengeschossen, um ihm die Übernahme der Mühe wert zu machen; denn solche und nur solche Leute wüßten, wie hoch das Brot und das Fleisch im Preise gestiegen; und solche und nur solche Leute könnten und würden die teuren Preise wieder herunterbringen.

So epidemisch und heftig war das Fieber im Bleeding Heard Yard, daß es selbst an Mr. Pancks‘ Einsammlungstagen nicht von den Patienten wich. Die Krankheit nahm bei solchen Gelegenheiten die eigentümliche Form an, daß die Kranken eine unergründliche Entschuldigung und einen unerschöpflichen Trost in Anspielungen auf den Zaubernamen fanden. »Nun denn!« sagte Mr. Pancks gewöhnlich zu einem säumigen Mietmann, »bezahlen Sie! Vorwärts!«

»Ich habe es nicht«, antwortet der Säumige. »Ich sage Ihnen die Wahrheit, wenn ich behaupte, ich habe auch nicht einen einzigen Sixpence.«

«Das geht nicht, wie Sie wissen«, versetzt dann Mr. Pancks. »Sie werden doch nicht glauben, daß das gehen kann?«

Der Schuldner gibt mit einem niedergeschlagenen »Nein, Sir«, zu, daß er das selbst nicht glaube.

»Mein Hauseigentümer läßt sich das nicht gefallen, wie Sie sich denken können«, antwortet Mr. Pancks. »Er schickt mich nicht deshalb her. Bezahlen Sie! Vorwärts!«

Der Schuldner antwortet dann: »Ach, Mr. Pancks. Wenn ich der reiche Herr wäre, dessen Name in jedermanns Munde ist, – wenn ich Merdle hieße, Sir, würde ich augenblicklich bezahlen und mit Freuden bezahlen.«

Zwiegespräche über die Mietefrage fanden gewöhnlich an den Haustüren oder in den Gängen statt und dies in Gegenwart verschiedener tief teilnehmender »blutender Herzen«. Eine Anspielung dieser Art rief stets bei ihnen ein leises zustimmendes Gemurmel hervor, als ob jene ganz überzeugend wäre; und der säumige Schuldner, mochte er auch vorher noch so ratlos und niedergeschlagen sein, fühlte sich davon immer ein wenig getröstet.

»Wenn ich Mr. Merdle wäre, Sir, so sollten Sie keine Ursache haben, über mich zu klagen. Nein, wahrhaftig nicht!« fährt der Schuldner mit Kopfschütteln fort. »Ich würde dann so rasch bezahlen, Mr. Pancks, daß Sie das Geld gar nicht erst zu verlangen brauchten.«

Dabei hörte man abermals das zustimmende Gemurmel, das sagen wollte, es sei unmöglich, etwas Besseres vorzubringen, und es stehe dem Bezahlen wohl am nächsten.

Mr. Pancks sah sich dann genötigt, während er die Sache in sein Notizbuch eintrug, sich mit den Worten zu begnügen: »Gut! Sie werden Exekution ins Haus bekommen und hinausgesetzt werden; das ist’s, was Sie treffen wird. Das nützt nichts, mir da von Mr. Merdle vorzuschwatzen. Sie sind mal nicht Mr. Merdle, so wenig wie ich.«

»Nein, Sir,« antwortete der Schuldner. »Ich wünschte nur, Sie wären es, Sir.«

»Sie wären nachsichtiger gegen uns, wenn Sie Mr. Merdle wären, Sir,« fuhr dann der Schuldner, mutiger werdend, fort, »und es wäre besser für alle Teile. Besser für uns und besser für Sie. Sie würden dann nicht nötig haben, uns zu quälen, und brauchten sich selbst auch nicht zu quälen. Es würde Ihnen leichter ums Herz sein, Sir, und Sie würden milder gegen andre sein, wenn Sie Mr. Merdle wären.«

Mr. Pancks, den diese unpersönlichen Komplimente immer sehr verblüfften, erholte sich nie wieder nach einem solchen Angriff. Er konnte nur an seinen Nägeln beißen und auf den nächsten säumigen Schuldner losdampfen. Der Chorus der »blutenden Herzen« sammelte sich dann um den Schuldner, den er soeben verlassen, und die übertriebensten Gerüchte in Beziehung auf die Masse baren Geldes in Mr. Merdles Besitz gingen dann zu ihrem nicht geringen Tröste im Kreise herum.

Nach einer der vielen solchen Niederlagen an einem der vielen Zinstage machte Mr. Pancks nach Beendigung der Tagesgeschäfte, mit seinem Notizbuch unter dem Arm, einen Besuch in Mr. Plornishs Winkel. Mr. Panck’s Zweck war nicht geschäftlicher, sondern sozialer Natur. Er hatte einen schweren Tag gehabt und bedurfte einiger Erheiterung. Er stand jetzt auf freundschaftlichem Fuße mit der Familie Plornish, da er oft bei ähnlichen Gelegenheiten sie besucht und mit ihnen von Miß Dorrit geplaudert und Erinnerungen ausgetauscht hatte.

Mrs. Plornishs Wohnstübchen hinter dem Laden war nach ihrer eigenen Angabe eingerichtet und gemalt worden und bot auf der Seite des Ladens ein kleines Phantasiestück, das Mrs. Plornish große Freude machte. Dieser poetische Reiz, der dem Stübchen gegeben wurde, bestand darin, daß man die Wand so gemalt, daß sie das Äußere einer strohgedeckten Hütte darstellte: der Künstler hatte (so effektvoll, als es die höchst unproportionierten Verhältnisse nur erlaubten) die wirkliche Tür und das wirkliche Fenster darauf angebracht. Die bescheidene Sonnenblume und die Rosenpappel waren in üppiger Pracht und großem Gedeihen vor dieser ländlichen Wohnung dargestellt, während eine dicke Masse Rauchs, die aus dem Kamin aufstieg, von dem guten Leben drinnen oder vielleicht davon zeugte, daß er lange nicht gekehrt worden. Ein treuer Hund war in dem Moment dargestellt, wie er von der Schwelle auffährt und dem befreundeten Besucher an die Füße springt: ein rundes Taubenhaus, von einer Wolke Tauben umhüllt, erhob sich hinter dem Gartengeländer. An der Tür, wenn sie geschlossen war, befand sich ein Messingschild mit der Aufschrift: »Glückshütte, T. und M. Plornish«: die beiden Namen gehörten Mann und Frau. Keine Poesie und keine Kunst hatte je größeren Reiz für die Phantasie, als die Verbindung beider in dieser gemalten Hütte für Mrs. Plornish hatte. Es war ihr einerlei, daß Plornish die Gewohnheit hatte, sich daran zu lehnen, wenn er nach der Arbeit seine Pfeife rauchte, wenn sein Hut den Taubenschlag und alle Tauben verdeckte, wenn sein Rücken das Haus verschwinden ließ und seine Hände in der Tasche den blühenden Garten ausrodeten und das ganze umliegende Land wüstlegten. Für Mrs. Plornish blieb es immer ein außerordentlich schönes Hüttchen, eine herrliche Täuschung; und sie machte sich nichts daraus, daß Mr. Plornishs Auge einige Zoll über dem Giebelschlafzimmer im Dache war. Nachdem der Laden geschlossen war, hinauszukommen und ihren Vater ein Lied drinnen singen zu hören, war für sie ein wahrhaftes ländliches Fest, das goldne Zeitalter war wieder angebrochen. Und wahrhaftig, wenn diese herrliche Zeit hätte wiederkehren können oder überhaupt je existiert hätte, so möchte man bezweifeln, ob sie je herzlicher bewundernde Töchter hätten zeugen können als diese arme Frau.

Von dem Klingeln an der Ladentür aufmerksam gemacht, kam sie aus der »Glückshütte«, um zu sehen, wer es sei. »Ich dachte mir’s doch, daß Sie es sein würden, Mr. Pancks«, sagte sie, »denn es ist Ihr gewöhnlicher Abend, nicht wahr? Sehen Sie, hier ist auch schon der Vater auf den Klang der Glocke wie ein flinker junger Ladendiener herbeigeeilt. Sieht er nicht prächtig aus? Vater freut sich mehr, daß Sie es sind, als wenn’s ein Kunde wäre, denn er plaudert gar zu gern: und wenn die Rede auf Miß Dorrit kommt, so ist ihm das um so lieber. Sie haben Vater noch nie so gut bei Stimme gehört wie gegenwärtig«, sagte Mrs. Plornish, und ihre eigne Stimme zitterte vor Stolz und Freude. »Er hat uns vergangenen Abend Strophen in einer Weise gesungen, daß Plornish aufstand und ihm folgende Rede über den Tisch hinüber hielt: ›John Edward Nandy‹, sagte Plorish zum Vater, ›ich habe Euch nie solchen Triller singen hören wie heute abend.‹ Ist das nicht wohltuend, Mr. Pancks; nicht wahr?«

Mr. Pancks, der den Alten in seiner freundlichsten Weise angeschnaubt hatte, antwortete bejahend und fragte beiläufig, ob der muntre Altrobursche schon da sei? Mrs. Plornish antwortete, nein, noch nicht, er sei mit einer Arbeit nach dem Westend gegangen und habe gesagt, er wolle zur Teezeit wieder da sein. Mr. Pancks wurde dann gastfreundlich eingeladen, in die »Glückshütte« zu treten, wo er den älteren Master Plornish fand, der eben aus der Schule gekommen war. Als er den jungen Schüler über die Fortschritte, die er heute in der Schule gemacht, leicht examinierte, fand er, daß die vorgerückteren Schüler, die schon große Buchstaben und das M. schrieben, als Vorschrift die Worte »Merdle, Millionen« erhalten hatten.

»Und wie geht es Ihnen im Geschäft, Mrs. Plornish«, sagte Pancks, »da wir gerade von Millionen sprechen?«

»Es geht seinen soliden Gang, Sir«, versetzte Mrs. Plornish. »Lieber Vater, würdest du wohl in den Laden gehen und das Fenster ein wenig putzen, ehe der Tee fertig ist, du verstehst das so vortrefflich.«

John Edward Nandy humpelte hinaus, ganz vergnügt, den Wunsch seiner Tochter erfüllen zu können. Mrs. Plornish, die immer bei Erwähnung von Geldangelegenheiten vor dem alten Mann in tödlicher Verlegenheit war, da sie befürchtete, eine ihrer Äußerungen möchte seinen Stolz verletzen und ihn verleiten, wieder in das Armenhaus zu gehen, konnte nun ganz offenherzig gegen Mr. Pancks sein.

»Es ist wahr, daß das Geschäft seinen soliden Gang geht«, sagte Mrs. Plornish, indem sie leiser sprach, »und auch eine ausgezeichnete Kundschaft hat. Das einzige, was ihm im Wege steht, Sir, ist der Kredit.«

Diese Fatalität, die die meisten Leute, die in Geschäftsbeziehung zu den Bewohnern des »blutenden Herzens« standen, in ihrer ganzen Strenge fühlten, war ein großer Stein des Anstoßes für das Geschäft von Mrs. Plornish. Als Mr. Dorrit sie in dem Laden eingerichtet hatte, legten die »blutenden Herzen« eine große Rührung und den festen Entschluß an den Tag, sie dabei zu unterstützen, ein Zug, der der menschlichen Natur große Ehre macht. Anerkennend, daß sie als ein langjähriges Mitglied ihrer Gemeinde einen Anspruch auf ihre Großmut habe, verpflichteten sie sich mit lebhafter Teilnahme, komme was da wolle, bei Mrs. Plornish zu kaufen und ihre Gönnerschaft keinem andern Geschäft zuzuwenden. Von diesen edlen Gefühlen getragen, hatten sie sich sogar etwas übernommen und Luxus im Ankauf von Waren in dem Spezereigeschäft getrieben, indem sie die Linie überschritten, die sie sonst gewöhnlich zogen: dabei entschuldigten sie sich gegenseitig damit, wenn sie zu viel täten, geschehe es ja nur für eine Nachbarin und Freundin: für wen sollte man denn über die Schnur hauen, wenn nicht für eine solche? So unterstützt ging das Geschäft außerordentlich glänzend, und die vorrätigen Artikel gingen reißend ab. Kurz, wenn die »blutenden Herzen« nur bezahlt hätten, wäre das Geschäft ein äußerst brillantes gewesen: da sie sich jedoch ausschließlich aufs Borgen verlegten, so hatten die wirklich realisierten Gewinne noch nicht begonnen, sich in den Büchern zu zeigen.

Mr. Pancks machte ein wahres Stachelschwein aus sich, indem er bei der Betrachtung dieser Sachlage sich beständig durch die Haare strich, als der alte Mr. Nandy, mit geheimnisvoller Miene wieder in die Hütte tretend, die Anwesenden aufforderte, hinauszukommen und zu sehen, wie seltsam sich Mr. Baptist gebare, dem etwas begegnet sein müsse, das ihn erschreckt hätte. Alle drei gingen in den Laden hinaus und sahen durch das Fenster, wie Mr. Baptist, blaß und aufgeregt, folgende Wunderlichkeiten den Zuschauern zum besten gab. Zuerst gewahrte man ihn, wie er oben an der Treppe, die in den Hof hinabführte, die Straße hinauf und hinab blickte, wobei er mit dem Kopf vorsichtig dicht an der Ladentür hervorlugte. Nach sehr ängstlichem Forschen kam er aus seinem Hinterhalt hervor und ging rasch die Straße hinab, als wenn er ganz fortgehen wollte: dann kehrte er plötzlich um und ging im selben Schritt und mit derselben Verstellung die Straße hinauf. Als er ebensoweit die Straße hinauf als hinunter gegangen war, ging er quer über den Weg und verschwand. Was dieses letzte Manöver beabsichtigte, ward erst klar, als er von der Treppe herab plötzlich in den Laden trat, woraus hervorging, daß er einen großen und versteckten Umweg an Doyce und Clennam vorbei gemacht haben und dann gerade über den Hof gelaufen sein mußte. Er war deshalb, wie man sich denken kann, ganz außer Atem, und sein Herz schien rascher zu schlagen als die kleine Ladenglocke, die von seinem hastigen Türzuwerfen hinter ihm zitterte und klingelte.

»Hallo, alter Junge!« sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Bursche! Was gibt’s?«

Mr. Baptist oder Signor Cavaletto verstand nunmehr das Englische beinahe so gut als Mr. Pancks selbst und konnte es auch sehr gut sprechen. Nichtsdestoweniger mischte sich Mrs. Plornish, mit verzeihlichem Stolz auf ihr Talent, das sie zu allem nur nicht zur Italienerin machte, als Dolmetscherin in das Gespräch.

»Ich fragen«, sagte Mrs. Plornish, »was geschehen sein?«

»Kommen Sie in die kleine ›Glückshütte‹, Padrona«, versetzte Mr. Baptiste, indem er noch verstohlener als gewöhnlich mit verkehrter Hand den rechten Zeigefinger rückwärtsdrehte. »Kommen Sie!«

Mrs. Plornish war stolz auf den Titel Padrona, dem sie nicht so sehr die Bedeutung Herrin vom Hause als Meisterin der italienischen Sprache beilegte. Sie erfüllte deshalb augenblicklich Mr. Baptists Wunsch, und sie traten alle in die Hütte.

»Ich hoffe, Sie sein nicht erschrocken«, sagte Mrs. Plornish und machte sich mit ihrem gewöhnlichen Reichtum an Auswegen zum Dolmetscher gegenüber von Mr. Pancks. »Was geschehen sein? Padrona wünsche wissen?«

»Ich habe jemand gesehen«, versetzte Baptist. »Ich habe ihn rincontrato.«

»Ihn? wer ihn sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Ein schlechter Mann. Der schlechteste Mensch. Ich hoffte, ihn nie wieder in meinem Leben zu sehen.«

»Wie wissen, daß schlecht sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Das ist gleichgültig, Padrona. Ich weiß es nur zu gut.«

»Er Euch aber gesehen?« fragte Mr. Plornish.

»Nein, ich hoffe nicht. Ich glaube nicht.«

»Er sagte«, erklärte dann Mrs. Plornish, sich mit gnädiger Herablassung an ihren Vater und Mr. Pancks wendend, »daß er einem schlechten Mann begegnet sei, jedoch hoffe, nicht von ihm gesehen worden zu sein. Nun«, fragte Mr. Plornish, zum italienischen Idiom zurückkehrend, »warum hoffen, daß schlechter Mann Euch nicht gesehen?«

»Beste Padrona«, versetzte der kleine Ausländer, den sie so gnädig beschützte, »bitte, fragen Sie nicht. Noch einmal sage ich, es ist gleichgültig. Ich will ihn nicht sehen, ich will nicht von ihm gekannt sein – nimmer, nimmer. Genug, Schönste. Lassen wir die Sache!«

Der Gegenstand war ihm so unangenehm und brachte seine gewöhnliche Munterkeit in solche Verwirrung, daß Mrs. Plornish sich enthielt, weiter in ihn zu dringen, um so mehr, als der Tee schon einige Zeit auf dem Feuer gezogen hatte. Aber sie war nichtsdestoweniger sehr überrascht und neugierig, wenn sie auch keine Fragen mehr an ihn richtete; das gleiche war mit Mr. Pancks der Fall, dessen ausdrucksvolles Atmen, seit der kleine Mann eingetreten war, sehr schwerfällig geworden, wie bei einer Lokomotive, die mit einer großen Last einen steilen Abhang hinaufarbeitet. Maggy, die jetzt besser gekleidet war als früher, aber dem monströsen Charakter ihrer Haube treu geblieben, hatte seit dem ersten Augenblick mit offenem Mund und Augen im Hintergrund gestanden, und die starrenden und gaffenden Augen verloren nichts an Breite durch die vorzeitige Beseitigung der Sache. Wenn auch nicht mehr von der Sache geredet wurde, schien man doch von allen Seiten noch daran zu denken; selbst den beiden kleinen Plornishs ging die Sache nicht aus dem Kopf, denn sie nahmen an dem Abendessen in einer Weise teil, als wenn das Essen von Butter und Brot beinahe überflüssig würde durch die peinliche Wahrscheinlichkeit, daß der schlimmste aller Menschen ehestens erscheinen werde, um sie alle aufzuessen. Mr. Baptist begann nach und nach etwas munterer zu werden; aber er verließ nicht einen Augenblick den Stuhl, den er hinter der Tür und dicht am Fenster eingenommen, obgleich es nicht sein gewöhnlicher Platz war. Sooft die kleine Glocke klang, fuhr er zusammen und sah versteckt hinaus, mit dem Zipfel des kleinen Vorhangs in der Hand und dem übrigen vor dem Gesicht, offenbar nichts weniger als beruhigt, daß der Gefürchtete trotz all seiner Umwege und Schliche mit der furchtbaren Sicherheit eines Bluthundes ihn ausfindig machen würde.

Das Kommen von zwei oder drei Kunden und von Mr. Plornish, was verschiedene Male Unruhe hervorbrachte, veranlaßte Mr. Baptist häufig genug, seine Manöver zu machen, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zu richten. Der Tee war getrunken und die Kinder zu Bett, und Mrs. Plornish brachte bereits den schüchternen Wunsch vor, ihr Vater möchte ihnen Chloë singen, als die Glocke wiederum ertönte und Mr. Clennam eintrat.

Clennam hatte lange über seinen Büchern und Briefen gesessen; denn die Wartezimmer des Circumlocution Office raubten ihm viel Zeit. Außerdem war er sehr niedergebeugt und unruhig durch den jüngsten Vorfall in seiner Mutter Hause. Er sah angegriffen und verlassen aus. Er fühlte es auch; aber nichtsdestoweniger ging er von seinem Kontor nach diesem Ende des Hofes, um ihnen mitzuteilen, daß er einen weiteren Brief von Miß Dorrit erhalten habe.

Diese Neuigkeit machte in der Hütte eine Sensation, die die allgemeine Aufmerksamkeit von Mr. Baptist ablenkte. Maggy, die sich alsbald in den Vordergrund drängte, schien die Nachrichten von ihrer kleinen Mutter gleicherweise mit Ohren, Nase, Mund und Augen einzusaugen, nur daß die letzteren von Tränen verschleiert waren. Sie war besonders erfreut, als Clennam ihr versicherte, daß es in Rom Spitäler gebe, und zwar sehr gut eingerichtete Spitäler. Mr. Pancks stieg im Ansehen, weil er in dem Briefe besonders erwähnt war. Jedermann war erfreut und voll Teilnahme und Clennam für seine Mühe wohl belohnt.

»Aber Sie sind müde, Sir. Lassen Sie mich eine Tasse Tee für Sie zurechtmachen«, sagte Mrs. Plornish, »wenn Sie sich herablassen wollen, eine solche in der Hütte anzunehmen, und vielen Dank auch, daß Sie uns so freundlich im Andenken behalten.«

Mr. Plornish, der es für seine Pflicht als Wirt hielt, seine persönliche Anerkennung hinzuzufügen, brachte sie in der Form vor, die immer sein höchstes Ideal der Verbindung von Zeremonie und Offenheit darstellte.

»John Edward Nandy«, sagte Plornish, indem er sich an den Alten wandte. »Sir. Es ist nicht zu oft, daß Ihr anspruchslose Handlungen ohne einen Funken von Stolz seht, und wenn Ihr deshalb sie seht, so erkennt sie mit dankbarer Verehrung an, denn wenn Ihr sie nicht seht und braucht sie einmal, wo Ihr sie nicht zu sehen bekommt, so ist es natürlich, daß Euch ganz recht geschieht.«

Auf diese Anrede antwortete Mr. Nandy:

»Ich bin ganz und gar Eurer Meinung, Thomas, und Eure Meinung ist dieselbe wie die meine, und deshalb kein Wort weiter davon, und da ich mit dieser Meinung nicht hinter dem Berge halte, sondern frei heraussage, ja, Thomas, ja, und diese Meinung ist die, in der Ihr und ich immer mit allen übereinstimmen und da also keine Verschiedenheit der Meinungen obwaltet, so kann nur eine Meinung sein, ganz gewiß, ja, Thomas, ja!«

Arthur sprach es mit etwas weniger Formalität aus, wie sehr es ihm wohltue, daß sie eine so kleine Aufmerksamkeit von seiner Seite so freundlich aufnähmen, und erklärte hinsichtlich des Tees, daß er noch nicht gespeist und direkt nach Hause gehen wollte, um sich nach einem angestrengten Tage zu erquicken, sonst würde er das gastfreundliche Anerbieten gern angenommen haben. Da Mr. Pancks ziemlich geräuschvoll seinen Dampf für die Abfahrt anspannte, schloß er mit der Frage an diesen Herrn, ob er ihn begleiten wollte? Mr. Pancks sagte, er wünsche nichts angelegentlicher, und die beiden verabschiedeten sich von der »Glückshütte«.

»Wenn Sie mit mir nach Hause gehen wollten, Pancks«, sagte Arthur, als sie auf der Straße waren, »und das Diner oder Souper, wie Sie’s heißen mögen, mit mir teilen wollten, so würden Sie mir nahezu einen Liebesdienst erzeigen; denn ich bin heute abend sehr müde und schlimmer Laune.«

»Verlangen Sie einen größern Dienst als diesen von mir«, sagte Pancks, »wenn Sie einen brauchen, und er soll getan werden.«

Zwischen diesem exzentrischen Charakter und Clennam hatte sich ein beständig wachsendes stilles Einvernehmen und Vertrauen hergestellt, seitdem Mr. Pancks auf dem Hofe des Marshalseagefängnisses über den Rücken von Mr. Rugg geflogen war. Als an dem denkwürdigen Tage der Abreise der Familie der Wagen wegfuhr, hatten diese beiden zusammen ihm nachgesehen und waren langsam miteinander weitergegangen. Als der erste Brief von Klein-Dorrit ankam, hörte niemand mit größerem Interesse seinen Inhalt als Mr. Pancks. Der zweite Brief, der gegenwärtig sich in Clennams Brusttasche befand, erwähnte seinen Namen ganz besonders. Obgleich er nie ein Geständnis oder eine Beteuerung gegen Clennam hatte laut werden lassen, und obgleich, was er soeben gesagt, wenig genug den Worten nach war, war doch die Überzeugung immer lebhafter und stärker bei Clennam geworden, daß Mr. Pancks in seiner eigentümlichen seltsamen Weise eine Neigung zu ihm gefaßt. Wenn man alle diese Fäden zusammenwand, so wurde Pancks an diesem Abend ein wahres Notankertau für ihn.

»Ich bin ganz allein«, sagte Arthur, als sie weitergingen. »Mein Kompagnon ist verreist, um an einem andern Ort etwas in der Branche unsres Geschäfts, die er besorgt, zu ordnen, und Sie werden ganz ungeniert sein.«

»Danke. Sie haben wohl eben nicht besonders auf den kleinen Altro geachtet, nicht wahr?« sagte Pancks.

»Nein. Warum?«

»Er ist ein munterer Junge, und ich bin ihm gut«, sagte Pancks. »Es muß ihm heute etwas Unangenehmes zugestoßen sein. Haben Sie keine Idee, was das sein mag, was ihn so außer Fassung gebracht?«

»Sie setzen mich in Erstaunen! Nein, durchaus nicht.«

Mr. Pancks setzte die Gründe zu seiner Frage auseinander. Arthur war ganz unvorbereitet und außerstande, eine Erklärung dafür beizubringen.

»Vielleicht fragen Sie ihn«, sagte Pancks, »da er ein Fremder ist?«

»Was soll ich ihn fragen?« versetzte Clennam.

»Was er auf der Seele hat.«

»Ich glaube, ich sollte zuerst selbst sehen, ob er etwas auf der Seele hat. Ich fand ihn immer und in jeder Beziehung so fleißig, so dankbar (für das wenige) und so zuverlässig, daß es aussehen möchte, als wenn ich ihm mißtraute. Und das wäre doch sehr ungerecht.«

»Wohl wahr«, sagte Pancks. »Aber wahrhaftig, Sie dürften kein Hauseigentümer sein, Mr. Clennam. Sie wären viel zu zartfühlend.«

»Was das betrifft«, versetzte Clennam lachend, »so habe ich auch kein großes Anrecht auf Cavaletto. Sein Holzschnitzen ist sein Broterwerb. Er hat die Schlüssel der Fabrik in Verwahrung, wacht jede zweite Nacht und vertritt gewissermaßen die Stelle eines Hausmeisters; aber wir haben wenig Arbeit für sein Fach und Talent, nur was wir haben, geben wir ihm. Nein, ich bin mehr sein Berater als sein Herr. Wenn ich mich seinen ständigen Rechtsfreund und Bankier nenne, so komme ich der Wahrheit noch näher. Da ich gerade davon spreche, daß ich sein Bankier sei, ist es nicht seltsam, Pancks, daß die Spekulationen, die jetzt in so vieler Leute Kopf herumgehen, auch den kleinen Cavaletto so lebhaft beschäftigen?«

»Spekulationen?« versetzte Pancks mit Schnauben. »Was für Spekulationen?«

»Die Spekulationen von Merdle.« »Ah! die Unternehmungen«, sagte Pancks. »Ja, ja! Ich wußte nicht, daß Sie von den Unternehmungen sprechen.«

Seine rasche Art, zu antworten, veranlaßte Clennam ihn zweifelhaft anzusehen, ob er mehr meine, als er sagte. Da jedoch seine Antwort von rascherem Gang und einem entsprechend lebhafteren Arbeiten der Maschinen begleitet war, so verfolgte Arthur die Sache nicht weiter, und sie kamen bald bei seinem Hause an.

Ein Diner, bestehend aus Suppe und Taubenpastete, auf einem kleinen runden Tisch vor dem Kamin aufgetragen und mit einer Flasche guten Weins versüßt, ölte Pancks Räderwerk auf höchst wirksame Weise ein; so daß, als Clennam seine türkische Pfeife holte und Mr. Pancks eine zweite türkische Pfeife übergab, der letztere sich außerordentlich behaglich fühlte.

Sie dampften eine Zeitlang schweigend, Pancks wie ein Dampfboot, das Wind, Flut, ruhige See und alle andern Bedingungen zu einer glücklichen Fahrt hat. Er war der erste, der zu sprechen anfing und sagte:

»Ja, Unternehmungen ist das richtige Wort.«

Clennam antwortete mit seinem früheren Blick: »Ah!«

»Ja, Ich komme darauf zurück, wie Sie sehen«, sagte Pancks.

»Ja. Ich sehe, Sie kommen darauf zurück«, versetzte Clennam, der neugierig war, warum.

»Ist es nicht seltsam, daß die Sache auch dem kleinen Altro im Kopfe herumgeht? Hm?« sagte Pancks, während er weiterrauchte, »Stellten Sie nicht die Frage so?«

»O ja, das war’s, was ich sagte.«

»So! Aber denken Sie sich nur, der ganze Hof ist voll davon. Sie kommen mir an meinen Zinstagen alle damit, wo ich nur hinkommen mag. Ob sie bezahlen oder nicht bezahlen. Merdle, Merdle, Merdle. Immer Merdle.«

»Sehr seltsam, wie diese Verblendung sich aller bemeistert«, sagte Arthur.

»Nicht wahr?« versetzte Pancks. Nachdem er eine oder zwei Minuten fortgeraucht, fügte er trockner, als sich mit seiner kürzlichen Ölung vertrug, hinzu: »Weil, wie Sie wissen, die Leute die Sache nicht verstehen.«

»Nicht im geringsten«, stimmte Clennam bei.

»Nicht im geringsten«, rief Pancks. »Sie verstehen nichts von Zahlen. Verstehen nichts von Geldfragen. Machen keine Berechnung. Haben nie eine solche gemacht, Sir!«

»Hätten sie das getan –« war Clennam im Begriff zu sagen, als Pancks ohne eine Veränderung des Gesichts einen seine gewöhnlichen Nasen- oder Kehlanstrengungen übertreffenden Ton hervorbrachte, daß er innehielt.

»Hätten sie das getan?« wiederholte Pancks in fragendem Tone.

»Ich dachte – Sie sprächen«, sagte Arthur, der in Verlegenheit war, welchen Namen er dieser Unterbrechung geben sollte.

»Durchaus nicht«, sagte Pancks. »Noch nicht. In einer Minute vielleicht. Wenn sie also das getan?« bemerkte Clennam, der nicht recht wußte, wie er seinen Freund nehmen sollte, »nun, so denke ich, würden sie es besser gewußt haben.«

»Wieso, Mr. Clennam?« fragte Pancks rasch und mit einem seltsamen Ausdruck, als wenn er seit dem Beginn des Gesprächs mit dem schweren Kaliber geladen gewesen, das er jetzt abschoß. »Sie haben recht, wissen Sie. Sie verstehen es nicht, aber sie haben recht.«

»Recht, wenn Sie Cavelettos Meinung, mit Mr. Merdle zu spekulieren, teilen?«

»Allerdings, Sir«, sagte Pancks. »Ich bin auf die Sache näher eingegangen. Ich habe die Berechnungen gemacht. Ich habe nachgerechnet. Sie sind gut und sicher.« Erleichtert von seiner Last, als er soweit gekommen war, sog Mr. Pancks einen so langen Zug, als seine Lungen erlaubten, aus seiner türkischen Pfeife und sah Clennam schlau und unverwandt an, während er aus- und eindampfte.

In solchen Augenblicken begann Mr. Pancks den gefährlichen Giftstoff, mit dem er geschwängert war, auszuströmen. Das ist die Art, wie die Krankheiten sich verbreiten; das ist die seine und verdeckte Weise, wie sie um sich greifen.

»Glauben Sie, mein guter Pancks«, fragte Clennam emphatisch, »daß Sie zum Beispiel Ihre tausend Pfund bei einem solchen Unternehmen aufs Spiel setzen würden?«

»Gewiß«, sagte Pancks, »und habe es auch bereits getan, Sir.«

Mr. Pancks sog abermals langsam den Rauch ein und dann noch einmal und warf dabei einen langen schlauen Blick auf Clennam.

»Ich sage Ihnen, Mr. Clennam, ich habe mich dabei beteiligt«, sagte Pancks. »Es ist ein Mann von ungeheuren Mitteln – enormem Kapitalvermögen – und von großem Einfluß bei der Regierung. Es sind die besten Spekulationen, die im Augenblick im Gange sind. Sie sind sicher. Sie sind gewiß.«

»So!« versetzte Clennam, indem er zuerst seinen Gefährten ernst ansah und dann ernst in das Feuer blickte. »Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Bah!« versetzte Pancks. »Sagen Sie das nicht, Sir. Sie sollten das selbst so machen. Warum machen Sie´s nicht wie ich?«

Von wem Mr. Pancks die epidemische Krankheit geerbt, konnte er ebensowenig sagen, als wenn er unbewußterweise von einem Fieber befallen worden wäre. Zuerst, wie manche physische Krankheiten, aus der Verderbtheit der Menschen entstanden, und dann in ihrer Unwissenheit weiter verbreitet, stecken diese Epidemien nach einiger Zeit gar manche Leidende an, die weder unwissend noch verderbt sind. Mr. Pancks mochte dir Krankheit selbst von einem Subjekte dieser Art geerbt haben oder nicht, jedenfalls erschien er vor Clennam als ein solcher, und der Krankheitsstoff, den er verbreitete, war um so bösartiger. »Gewiß, Sir!« versetzte Pancks keck, indem er Dampf ausblies. »Und ich wünschte nur, es wäre zehnmal soviel.«

Clennam lagen an diesem Abend zweierlei Dinge auf seiner vereinsamten Seele: das eine war seines Kompagnons lang hinausgeschobene Hoffnungen; das andre, was er bei seiner Mutter gesehen und gehört hatte. In dem erleichternden Bewußtsein, Mr. Pancks bei sich zu haben und diesem Manne sein Vertrauen schenken zu können, fing er von beiden Dingen zu reden an, und beide brachten ihn mit vermehrter und beschleunigter Kraft auf den Ausgangspunkt zurück.

Es machte sich auf die einfachste Weise. Indem er die Spekulationsfrage, nach einer Pause, während der er durch den Rauch seiner Pfeife auf das Feuer geblickt hatte, verließ, erzählte er Pancks, wie und warum er mit dem großen Staatsdepartment in Berührung stehe. »Es ist eine harte Sache gewesen und ist es noch für Doyce«, sagte er zuletzt mit dem ganzen ehrlichen Gefühl, das der Gegenstand immer in ihm erweckte.

»Allerdings, sehr hart,« gab Pancks zu. »Aber Sie haben die Sache für ihn in die Hand genommen, Mr. Clennam.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie besorgen die Geldangelegenheiten des Geschäfts?«

»Ja, so gut ich kann.«

»Besorgen sie jedenfalls besser, Sir«, sagte Pancks. »Belohnen ihn für seine Mühe und seine fehlgeschlagenen Hoffnungen. Bieten ihm die Chancen, die die Zeit herbeiführt. Er, der geduldige und vielbeschäftigte Techniker, würde doch nie auf diese Weise Nutzen ziehen können. Er verläßt sich auf Sie, Sir.«

»Ich tue mein Bestes, Pancks«, versetzte Clennam, dem etwas unbehaglich wurde. »Um diese neuen Unternehmungen, von denen ich keine Erfahrung habe, genau zu prüfen, dazu glaube ich, nicht mehr zu taugen. Ich werde alt.«

»Alt werden?« rief Pancks. »Ha, ha!«

Es lag etwas so unzweifelhaft Ungemachtes in diesem wunderbaren Lachen und in dem langandauernden Schnauben und Pusten, das Mr. Pancks Erstaunen über diesen Gedanken und die Zurückweisung desselben ausdrückte, daß es außer allem Zweifel war, es sei ihm ernst damit.

»Alt werden?« rief Pancks. »Hört, hört, hört! Alt? Hört, hört!«

Diese positive Weigerung, auch nur einen einzigen Augenblick diesen Gedanken zu hegen, die sich in Mr. Pancks‘ fortdauerndem Schnauben wie in den Ausrufungen aussprach, ließen auch Arthur nicht länger daran festhalten. Ja, er befürchtete, es möchte Mr. Pancks in dem heftigen Kampf zwischen dem Atem, den er ausstieß, und dem Rauch, den er hinunterschluckte, ein Unglück passieren. Dieses Verzichten auf den zweiten Gesprächsgegenstand brachte ihn auf den dritten.

»Und Sie haben wirklich Ihre tausend Pfund in der Unternehmung angelegt?« Clennam hatte sich das Wort bereits angeeignet. »Jung, alt oder in mittleren Jahren, Pancks«, sagte er, als eine gelegene Pause eintrat, »ich befinde mich in einer sehr peinlichen und ungewissen Lage, in einem Zustand, der mich bezweifeln läßt, ob überhaupt etwas, was mir zu gehören scheint, auch wirklich mir gehört. Soll ich Ihnen sagen, wie das kommt? Soll ich Ihnen volles Vertrauen schenken?«

»Allerdings Sir«, sagte Pancks, »wenn Sie mich desselben für würdig halten.«

»Gewiß.«

»Das können Sie auch!« Mr. Pancks‘ kurze und scharfe Antwort, bekräftigt durch das plötzliche Ausstrecken seiner kohligen Hand, war ungemein ausdrucksvoll und überzeugend. Arthur schüttelte ihm warm die Hand.

Indem er nun seine alten Befürchtungen so milde darstellte wie möglich, ohne unverständlich zu werden, und seine Mutter dabei niemals mit Namen nannte, sondern nur unbestimmt von einer Verwandten sprach, vertraute er Mr. Pancks in Umrissen die Befürchtungen mit, die er hegte, und die Zusammenkunft, bei der er zugegen gewesen war. Mr. Pancks hörte mit solchem Interesse zu, daß er, die Annehmlichkeit der türkischen Pfeife ganz vergessend, sie an das Kamingitter unter die Feuereisen stellte und während der ganzen Zeit, solange ihm erzählt wurde, die Zinken und Haken seiner Haare mit den Händen am ganzen Kopf in die Höhe strich, daß er, als die Sache zum Schluß kam, wie ein Handwerkerhamlet aussah, der mit dem Geist seines Vaters spricht.

»Bringt mich wieder auf die Unternehmungen zurück, Sir!« rief er laut, indem er dabei Clennam lebhaft auf das Knie schlug. »Ich meine nicht, daß Sie sich arm machen sollen, um ein Unrecht, das Sie gar nicht begangen, wieder gutzumachen. Das ist Ihre Sache. Ein Mann muß für sich selbst sorgen. Aber ich sage nur so viel. Da Sie fürchten, Sie werden Geld brauchen, um Ihr eigen Blut von Schmach und Schande zu retten – so suchen Sie soviel wie möglich zu erwerben!«

Arthur schüttelte seinen Kopf, aber sah ihn auch gedankenvoll an,

»Werden Sie so reich, wie Sie können, Sir«, beschwor ihn Pancks mit mächtiger Konzentration aller seiner Energie auf diesen Rat. »Seien Sie so reich, wie Sie es mit Ehren können. Es ist Ihre Pflicht. Nicht Ihretwegen, sondern andrer wegen tun Sie’s. Fassen Sie die Zeit beim Schopfe. Der arme Mr. Doyce (der wirklich alt wird) muß sich auf Sie verlassen. Ihr Verwandter hängt von Ihnen ab. Sie wissen nicht, was alles von Ihnen abhängt.«

»Schon recht, schon recht!« versetzte Arthur. »Genug für heute abend.«

»Noch ein Wort, Mr. Clennam«, versetzte Pancks, »dann soll es genug sein für heute abend. Warum sollten Sie allen Gewinn den Unersättlichen, Schelmen und Betrügern überlassen? Warum wollen Sie allen Gewinn, der zu machen ist, meinem Hauseigentümer und dergleichen Leuten überlassen? Und doch tun Sie es. Wenn ich sage Sie, so meine ich Leute wie Sie. Sie wissen, daß Sie das tun. Ich muß das jeden Tag meines Lebens sehen. Ich sehe nichts anderes. Es ist mein Beruf, es zu sehen. Deshalb sage ich«, drängte Pancks, »man muß wagen und gewinnen.«

»Aber wenn es heißt, wagen und verlieren, wie ist es dann?« sagte Arthur.

»Kann nicht geschehen, Sir«, versetzte Pancks. »Ich habe einen tiefen Blick in die Sache getan. Der Name überall obenan – ungeheure Mittel – enormes Kapital – großartige Stellung! – hohe Verbindungen – Einfluß auf die Regierung. Kann nicht sein!«

Nach dieser sie Sache zu» Abschluß, bringenden Auseinandersetzung, beruhigte sich Mr. Pancks nach und nach wieder und ließ sein Haar sich wieder so weit senken, als dies der größten Überredungskunst möglich war, reklamierte die Pfeife wieder aus den Feuereisen, stopfte sie aufs neue und rauchte sie aus. Sie sprachen wenig mehr, leisteten jedoch einander Gesellschaft, indem sie schweigend dieselben Gegenstände verfolgten, und schieden nicht vor Mitternacht. Als Mr. Pancks Abschied nahm, steuerte er, nachdem er Mr. Clennam die Hand geschüttelt, ganz um ihn herum, ehe er zur Tür hinausdampfte. Dies nahm Arthur als eine Versicherung auf, daß er sich ganz auf Pancks verlassen könne, wenn er je in die Notwendigkeit versetzt werden sollte, seines Beistandes zu bedürfen, sei es nun in einem von den Punkten, von denen heute abend die Rede gewesen, oder in irgendeiner andern ihn berührenden Angelegenheit.

Während des ganzen nächsten Tages, und selbst solange seine Gedanken auf ganz andere Dinge gerichtet waren, fiel ihm bisweilen Mr. Pancks Spekulation mit seinen tausend Pfund und die Behauptung ein, daß er einen tiefen Blick in die Sache getan hätte. Er dachte, wie sanguinisch Mr. Pancks in dieser Sache sei, während er doch sonst keinen sanguinischen Charakter habe. Er dachte an das große Nationaldepartement und an die Freude, die es ihm gewähren würde, Doyce in besseren Umständen zu sehen. Er dachte an den dunkel drohenden Ort, der in seiner Erinnerung den Namen Heimat trug, und an die sich zusammenziehenden Schatten, die ihn noch dunkler drohend denn sonst machten. Er bemerkte aufs neue, daß, wohin er sich wandte, er den berühmten Mann Merdle sah, hörte oder berührte; er fand es sogar schwer, ein paar Stunden lang hintereinander an seinem Pult zu bleiben, ohne daß sich durch irgendeine oder andere Vermittlung dieser Name seinen körperlichen Sinnen dargeboten hatte. Er begann es doch seltsam zu finden, daß er überall war, und daß niemand als er ihm zu mißtrauen scheine. Und doch, wenn er soweit war, begann er sich zu erinnern, daß ja selbst er ihm nicht mißtraue; er hatte sich nur zufällig davon ferngehalten.

Solche Symptome sind, wenn eine Krankheit der Art grassiert, die Zeichen des Krankwerdens.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Rats erholen.

Als die Briten am Ufer der gelben Tiber erfuhren, daß ihr intelligenter Landsmann Mr. Sparkler einer der Lords des Circumlocution Office geworden, nahmen sie es als eine Nachricht auf, die sie nicht näher anging als jede andere Neuigkeit – jedes andre Ereignis oder Verbrechen – in den englischen Zeitungen. Die einen lachten, die andern sagten, als Entschuldigung, die Stelle sei eine Sinekure, und jeder Dummkopf, der seinen Namen richtig schreiben könne, sei gut genug für dieselbe: noch andre endlich, und dies waren die feierlichsten politischen Orakel, sagten, Decimus handle klug, sich zu verstärken, und der einzige konstitutionelle Zweck aller Stellen, die Decimus zu vergeben habe, sei, daß Decimus sich verstärke. Einige gallige Briten waren allerdings vorhanden, die diesen Glaubensartikel nicht unterschreiben wollten: aber ihre Einwürfe waren rein theoretischer Art. In praktischer Hinsicht ließen sie die Sache gleichgültig liegen, als wenn es die Sache andrer irgendwo oder nirgendwo befindlichen Briten wäre. In gleicher Weise behaupteten viele Briten in der Heimat, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang nachher, daß diese unsichtbaren und namenlosen Briten »die Sache in die Hand nehmen sollten« und daß, wenn sie sich’s ruhig gefallen ließen, sie es auch nicht besser verdienten. Aber welcher Klasse diese trägen und gleichgültigen Briten angehörten, und wo diese unglücklichen Geschöpfe steckten, und weshalb sie sich verbargen, und woher es beständig kam, daß sie ihr Interesse vernachlässigten, während so viele andere Briten sich gar nicht erklären konnten, warum sie sich nicht um ihre Interessen kümmerten, war weder den Leuten an dem Ufer der gelben Tiber noch den Leuten am Ufer der schwarzen Themse klar.

Mrs. Merdle verbreitete die Nachricht, wie sie auch die Gratulationen empfing, mit der sorglosesten Grazie, die die Sache sehr zu ihrem Vorteil hob, wie die Fassung den Juwel. Ja, sagte sie, Edmund hat die Stelle angenommen. Mr. Merdle wünschte, daß er sie annehme, und er hat sie angenommen. Sie hoffe, die Stellung werde Edmund gefallen, aber gewiß wisse sie es nicht. Sie würde ihn einen großen Teil des Jahres in der Stadt festhalten, und er ziehe das Land vor. Es sei jedoch keine unangenehme Stellung – und es sei doch eine Stellung. Es sei nicht zu leugnen, daß es ein Kompliment für Mr. Merdle und keineswegs schlecht sei, wenn Edmund Geschmack daran finde. Es sei ganz gut, daß er etwas zu tun habe, und sei auch ganz gut, daß er etwas dafür bekäme. Ob es besser für Edmund, als wenn er in der Armee diente, das müsse man erst abwarten.

So sprach der Busen, geübt in der Kunst, scheinbar nur wenig Wert auf etwas zu legen und es dadurch gerade im Wert zu steigern. Indessen machte Henry Gowan, den Decimus abgeworfen, die Rundreise bei allen seinen bekannten, von der Porta del Popolo bis nach Albano, und beteuerte fast (wenn auch nicht ganz) mit Tränen in den Augen, daß Sparkler der gutmütigste, einfachste, kurz, der liebenswürdigste Esel sei, der jemals auf der Staatswiese gegrast: und daß nur eines ihm (Gowan) Freude bereitet, falls jener (der geliebte Esel) diesen Posten nicht bekommen, und das wäre gewesen, wenn er (Gowan) den Posten erhalten hätte. Er sagte, er passe ganz vortrefflich für Sparkler. Es sei nichts dabei zu tun und das würde er allerliebst machen, und dabei sei eine hübsche Besoldung einzustreichen und diese würde er allerliebst einstreichen; es sei eine angenehme, ganz passende, vortreffliche Stellung, und er vergab dem Verleiher derselben beinahe, daß er ihn übergangen, in der Freude darüber, daß der liebe Esel, für den er eine so große Vorliebe hatte, einen so guten Stall bekommen habe. Damit ließ sein Wohlwollen sich noch nicht genügen. Er nahm sich die Mühe, bei allen geselligen Gelegenheiten Mr. Sparkler hervorzuholen und ihn in der Gesellschaft zu zeigen; und obgleich diese rücksichtsvolle Handlung stets damit endigte, daß dieser junge Mann sich in einem traurigen und hilflosen geistigen Lichte zeigte, so ließ sich doch nicht an der freundlichen Absicht zweifeln.

Nur der Gegenstand von Mr. Sparklers Herzensneigung erlaubte sich daran zu zweifeln. Miß Fanny war nun in der schwierigen Lage, allgemein als dieser Gegenstand bekannt zu sein und Mr. Sparkler nicht verabschiedet zu haben, obgleich sie ihn sehr launisch behandelte. Daher war sie genug mit diesem Gentleman verknüpft, um sich kompromitiert zu fühlen, wenn er sich mehr als gewöhnlich lächerlich zeigte, und daher kam sie, da es ihr keineswegs an raschen Einfällen fehlte, ihm gegen Gowan zu Hilfe und leistete ihm sehr gute Dienste. Aber während sie dies tat, schämte sie sich seiner, unentschlossen, ob sie ihn gehen lassen oder ihn noch entschiedener aufreizen sollte, durch die Befürchtung in Verwirrung gesetzt, daß sie sich jeden Tag mehr in das Netz ihrer Ungewißheiten verstrickte, und gequält von dem Argwohn, daß Mrs. Merdle über ihre Verlegenheit triumphiere. Bei so stürmisch bewegtem Gemüt war es nicht zu verwundern, daß Miß Fanny eines Abends von einem Konzert und Ball bei Mrs. Merdle in großer Aufregung nach Hause kam, und als die Schwester sie liebreich trösten suchte, diese von dem Toilettentisch wegstieß, an dem sie saß, und zornig weinend mit gehobenem Busen erklärte, daß sie alle Menschen verabscheue und wünschte, sie wäre tot.

»Liebe Fanny, was gibt es? Sage es mir.«

»Was es gibt, du kleiner Maulwurf«, sagte Fanny. »Wenn du nicht die Blindeste der Blinden wärest, so brauchtest du mich nicht zu fragen. Der Gedanke, zu behaupten zu wagen, daß man Augen im Kopfe habe, und mich doch zu fragen, was es gebe?«

»Handelt es sich um Mr. Sparkler, meine Liebe?«

»Mi–ster Spark–ler!« wiederholte Fanny mit unendlicher Verachtung, als wenn er das letzte im Sonnensystem wäre, was möglicherweise ihrem Geiste nahe sein konnte. »Nein, Miß Fledermaus, das ist’s nicht.«

Alsbald jedoch wieder bereuend, daß sie ihrer Schwester solche Namen gegeben, erklärte sie unter Seufzern, sie wisse, sie mache sich verhaßt, aber die Leute drängten sie dazu.

»Ich glaube, du bist heute abend nicht ganz wohl, liebe Fanny.«

»Welch ein Unsinn!« versetzte das junge Mädchen ärgerlich werdend, »ich bin so wohl wie du. Vielleicht könnte ich sagen besser, ohne damit zu prahlen.«

Die arme Klein-Dorrit, die nicht wußte, wie sie ein beruhigendes Wort anbringen sollte, ohne befürchten zu müssen, zurückgewiesen zu werden, hielt es für das beste, ruhig zu bleiben. Anfangs nahm Fanny auch dies übel auf, indem sie ihrem Spiegel versicherte, daß von allen Prüfungen, die ein Mädchen ertragen müßte, eine Schwester, die nicht begreifen wolle, die größte Prüfung sei. Sie wisse, daß sie zu Zeiten in schrecklicher Stimmung sei; sie wisse, sie mache sich verhaßt, nichts wäre so gut für sie, als wenn man es ihr offen sagte; da sie jedoch eine Schwester habe, die nichts begreifen wolle, so sage man es ihr nie, und daher komme es, daß sie geradezu gereizt und gestachelt sei, sich unangenehm zu machen. Außerdem (sagte sie zornig zu ihrem Spiegel) wolle sie nicht, daß man ihr verzeihe. Es sei doch nicht richtig, wenn sie sich immer durch die Nachsicht einer jüngern Schwester demütigen lassen müsse. Das sei die Kunst, – daß man sie immer in die Lage bringe, wo ihr vergeben werden müsse, ob sie’s nun wolle, oder nicht. Zuletzt brach sie in heftiges Weinen aus, und als ihre Schwester kam und sich dicht neben sie setzte, um sie zu trösten, sagte sie: »Amy, du bist ein Engel!«

»Aber ich will dir etwas sagen, liebe Kleine«, sagte Fanny, als die Sanftmut ihrer Schwester sie etwas beruhigt hatte, »es ist jetzt an einem Punkt angekommen, daß es nicht mehr so fortgehen kann und soll, wie es im Augenblick geht, und daß auf die eine oder andere Art ein Ende gemacht werden muß.«

Da die Erklärung unbestimmt, obgleich sehr peremtorisch war, gab Klein-Dorrit zur Antwort: »Laß uns näher von der Sache sprechen.«

»Ganz recht, meine Liebe«, stimmte Fanny zu, während sie ihre Augen trocknete. »Laß uns von der Sache sprechen. Ich bin jetzt wieder vernünftig, und du sollst mir deinen Rat geben. Willst du mir deinen Rat geben, mein süßes Kind?«

Selbst Amy lächelte über diese Idee, sagte jedoch: »Ich will es, Fanny, so gut ich kann.«

»Dank dir, liebste Amy«, versetzte Fanny, indem sie sie küßte. »Du bist mein Anker.«

Nachdem sie ihren Anker mit großer Liebe geküßt, nahm Fanny einen Flacon mit feinem Parfüm vom Tisch und rief ihrem Mädchen, daß sie ihr ein feines Taschentuch bringe. Dann entließ sie die Dienerin für diese Nacht und machte sich bereit, sich Rats zu holen, indem sie von Zeit zu Zeit sich die Augen und Stirn mit dem Tuche betupfte, um sich zu kühlen.

»Meine Liebe«, begann Fanny, »unsre Charaktere und Ansichten sind sehr verschiedener Art (küsse mich wieder, mein Liebling), um es sehr wahrscheinlich zu machen, daß dich das, was ich zu sagen im Begriff bin, überraschen werde. Was ich sagen will, meine Liebe, ist, daß wir, trotz unseres großen Vermögens, sozial nicht die richtige Stellung einnehmen. Du wirst nicht verstehen, was ich meine, Amy?«

»Ich glaube doch, daß ich dich verstehen werde, wenn du noch ein paar Worte mehr sagst«, versetzte Amy mild.

»Gut, mein Liebe, was ich meine, ist dies, daß wir im ganzen Neulinge im fashionablen Leben sind.«

»Ich bin überzeugt, Fanny«, warf Klein-Dorrit in ihrem Eifer zu bewundern ein, »niemand wird dies an dir entdecken.«

»Gut, mein liebes Kind, vielleicht nicht«, sagte Fanny, »obgleich es recht freundlich und liebevoll von dir ist, du kostbares Mädchen, das zu sagen.« Hier tupfte sie die Stirn ihrer Schwester und blies ein wenig darauf. »Aber du bist, wie jedermann weiß, das liebste kleine Ding, das jemals existiert! Um jedoch wieder auf das frühere zu kommen, mein Kind. Papa ist außerordentlich vornehm in seinem Wesen und sehr gut unterrichtet; aber er ist in einigen Kleinigkeiten etwas verschieden von andern Gentlemen in seinen Vermögensumständen: teils infolgedessen, was er durchgemacht, der arme liebe Mann; teils, glaube ich, weil es ihm oft einfällt, daß andere Leute daran denken, während er mit ihnen spricht. Der Dünkel, meine Liebe, ist ganz unpräsentabel. Obgleich ein lieber Mann, dem ich sehr zugetan bin, ist er doch sozial höchst anstößig. Edward ist furchtbar verschwenderisch und liederlich. Ich sage damit nicht, daß etwas Ungentiles dabei sei – weit entfernt –, aber ich meine, daß er nichts geschickt angreift und daß er, wenn ich mich so ausdrücken darf, für den Ruf der Liederlichkeit, in den er sich setzt, nicht genug bekommt.«

»Der arme Edward!« seufzte Klein-Dorrit, und die ganze Geschichte der Familie lag in diesem Seufzer.

»Ja. Und auch du Arme und ich Arme«, versetzte Fanny ziemlich scharf. »Sehr wahr. Ferner, meine Liebe, haben wir keine Mutter, nur eine Mrs. General. Und ich sage dir noch einmal, mein Liebling, diese Mrs. General, wenn ich ein gewöhnliches Sprichwort umkehren und auf sie anwenden darf, ist eine Katze in Handschuhen, die Mäuse fangen wird. Diese Frau, davon bin ich fest überzeugt, wird unsere Stiefmutter werden.«

»Ich kann mir kaum denken, Fanny«, – Fanny unterbrach sie.

»Widersprich mir nicht, Amy«, sagte sie, »weil ich es besser weiß.« Da sie fühlte, daß sie wieder etwas scharf gewesen, tupfte sie ihrer Schwester Stirn und blies darauf. »Um jedoch wieder auf die Sache zu kommen, meine Liebe. Es entsteht jetzt für mich die Frage (aber ich bin stolz und lebhaft, Amy, wie du wohl weißt, vielleicht zu sehr), ob ich mich entschließen und es auf mich nehmen soll, der Familie durchzuhelfen.«

»Wie?« fragte Amy ängstlich.

»Ich will mich nicht von Mrs. General bestiefmuttern lassen«, sagte Fanny, ohne die Frage zu beantworten, »und ich will mich, auch in keiner Weise von Mrs. Merdle patronisieren und quälen lassen.«

Klein-Dorrit legte ihre Hand auf die Hand, die das Parfümfläschchen hielt, und sah dabei noch ängstlicher aus. Fanny, die ihre eigene Stirn mit dem heftigen Tupfen, das sie nun begann, eigentlich mehr strafte, fuhr etwas heftig fort:

»Daß er auf die eine oder andere Art – das Wie ist gleichgültig –- eine sehr gute Stellung bekommen hat, kann niemand leugnen. Daß er eine gute Partie ist, kann ebenfalls niemand leugnen. Und was die Frage betrifft, ob er gescheit oder nicht gescheit, so zweifle ich sehr, ob ein gescheiter Mann für mich taugte. Ich kann mal nicht nachgeben. Ich wäre nicht imstande, mich ihm genügend unterzuordnen.«

»Ah, meine liebe Fanny!« rief Klein-Dorrit, die eine Art von Schrecken erfaßt hatte, als sie begriff, was ihre Schwester meinte. »Wenn du jemanden liebtest, würden alle diese Gefühle sich ändern. Wenn du jemanden liebtest, würdest du nicht mehr du selbst sein, sondern dich ganz in der Hingabe an ihn aufgeben und verlieren. Wenn du ihn liebtest, Fanny«, – Fanny hatte mit Tupfen aufgehört und sah sie fest an.

«Oh, wirklich!« rief Fanny. »Wirklich? Der Tausend, wieviel gewisse Leute über gewisse Dinge wissen. Man sagte, jedermann habe einen Lieblingsgegenstand, und ich scheine wirklich den deinen berührt zu haben, Amy. Ich habe nur gescherzt, du kleines Ding«, sagte sie und betupfte dabei die Stirn ihrer Schwester; »aber sei kein albernes Kätzchen, und sprich nicht leichtsinnig und beredt von entarteten Unmöglichkeiten. So! Nun will ich aber wieder auf meine Sache zurückkommen.«

»Liebe Fanny, laß mich dir zuerst sagen, daß es mir weit lieber wäre, wenn wir für ein dürftiges Auskommen arbeiteten, als daß ich dich reich und mit Mr. Sparkler verheiratet sehen sollte.«

»Ich soll dich sagen lassen, meine Liebe?« versetzte Fanny. »Nun, ganz natürlich werde ich dich alles sagen lassen. Du brauchst dir hoffentlich keinen Zwang anzutun. Wir sind beieinander, um uns offen auszusprechen. Und was das Heiraten mit Mr. Sparkler betrifft, so habe ich nicht die geringste Absicht, es heute nacht, meine Liebe, oder morgen früh zu tun.«

»Aber irgendeinmal?«

»Niemals, soviel ich für jetzt weiß«, antwortete Fanny gleichgültig. Dann plötzlich aus ihrer Gleichgültigkeit in glühende Unruhe übergehend, fügte sie hinzu: »Du sprichst von gescheiten Männern, du kleines Ding. Es ist ganz hübsch und leicht, von gescheiten Männern zu sprechen: aber wo sind sie? Ich sehe sie nirgend in meiner Nähe!«

»Meine liebe Fanny, in der kurzen Zeit« –

»Kurze Zeit oder lange Zeit«, unterbrach Fanny, »ich bin unsrer Stellung überdrüssig, unsre Stellung ist mir zuwider, und wenig wäre nötig, um mich zu bewegen, sie zu verändern. Andre Mädchen, die anders erzogen und in andern Verhältnissen sind, würden sich vielleicht über das wundern, was ich sage oder tue. Meinetwegen, ihr Leben und ihr Charakter weist ihnen die Richtschnur an; mir weist sie mein Leben und mein Charakter an.«

»Fanny, meine liebe Fanny, du weißt, daß du Eigenschaften besitzest, die dich zur Gattin eines Mr. Sparkler weit überlegenen Mannes befähigen.«

»Amy, meine liebe Amy«, versetzte Fanny, ihre Worte parodierend, »ich weiß, daß ich eine entschiedenere, bestimmtere Stellung in der Gesellschaft einnehmen möchte, durch die ich mich mit größerem Nachdruck gegen diese insolente Frau behaupten könnte,«

»Würdest du dann – vergib mir die Frage, Fanny – ihren Sohn heiraten?«

»Nun, vielleicht«, sagte Fanny mit triumphierendem Lächeln. »Es kann viel weniger versprechende Wege geben, zu seinem Ziele zu kommen als diese, meine Liebe. Diese insolente Person denkt jetzt vielleicht, daß es ein großer Erfolg ihrer Taktik wäre, wenn sie ihren Sohn an mich losschlüge und mich losschälte. Aber es fällt ihr vielleicht wenig ein, wie ich’s ihr vergelten würde, wenn ich ihren Sohn heiratete. Ich würde ihr in allem opponieren und ihr den Rang streitig machen. Ich würde mir dies als Lebensaufgabe stellen.«

Fanny setzte das Riechfläschchen nieder, als sie soweit gekommen war, und ging im Zimmer auf und ab: sie blieb jedoch immer stehen, sobald sie sprach.

»Eines, mein Kind, könnte ich sicher tun: ich könnte sie älter machen, und ich würde es auch tun!«

Sie ging wieder auf und nieder.

»Ich würde von ihr als von einer alten Frau sprechen. Ich würde tun, als wüßt‘ ich – wenn ich’s auch nicht wüßte, aber ich wüßt‘ es von ihrem Sohne –, wie alt sie sei. Und sie sollte mich sagen hören, liebevoll, ganz wie es mir gebührt, und voll Hingebung, wie gut sie aussehe, wenn man ihr Alter in Anschlag bringe. Ich könnte sie älter aussehen machen, sofern ich weit jünger neben ihr wäre. Ich bin vielleicht nicht so hübsch wie sie, ich bin keine Autorität in dieser Beziehung, wie ich glaube: aber ich weiß, ich bin hübsch genug, um ihr ein Dorn im Auge zu sein. Und ich wäre es auch wirklich.«

»Aber, meine liebe Schwester, möchtest du dich auf solche Weise zu einem unglücklichen Leben verurteilen?«

»Das wäre ja kein unglückliches Leben für mich, Amy. Das wäre das Leben, wie ich’s brauche. Sei es nun, daß meine Disposition oder meine Umstände mich darauf hinweisen, das gilt gleich: ich brauche mal ein solches Leben mehr als ein anderes.«

Es klang eine gewisse Verzweiflung aus diesen Worten heraus, aber mit einem kurzen stolzen Lachen begann sie aufs neue im Zimmer auf und ab zu gehen, und nachdem sie vor einem großen Spiegel vorübergekommen, begann sie abermals stehenzubleiben. »Figur! Figur, Amy! Wohl, die Frau hat eine hübsche Figur. Ich will ihr geben, was ihr gebührt, und leugne es nicht. Aber ist sie darin allen andern so sehr überlegen, daß sie geradezu unnahbar wird? Auf mein Wort, ich bin davon nicht so sehr überzeugt. Gib einer viel jüngern Frau, wenn sie verheiratet ist, die Erlaubnis, sich so zu kleiden, wie sie, wir wollen sehen, wie es dann steht, meine Liebe!«

Es lag etwas in diesem Gedanken, das ihr angenehm war und schmeichelte, wodurch sie in bessere Stimmung kam und sich wieder setzte. Sie nahm ihrer Schwester Hände in die ihren, klatschte mit allen vier Händen über ihrem Kopfe, während sie Amy lachend ins Gesicht sah, und sagte:

»Und die Tänzerin, Amy, die sie ganz vergessen hat – die Tänzerin, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir hatte, und an die ich sie auch nie erinnere, o Liebe, nein! –, sollte durch ihr Leben tanzen und ihr im Wege herumtanzen nach einer Melodie, die ihre anmaßende Ruhe ein wenig aufrütteln würde. Ein ganz klein wenig, meine liebe Amy, nur ein ganz klein wenig!«

Da sie dem ernsten und bittenden Blicke Amys begegnete, brachte sie die vier Hände herunter und legte nur eine auf Amys Mund.

»Widersprich mir nicht, Kind«, sagte sie in ernsterem Ton, »weil es doch nichts nützt. Ich verstehe diese Sachen weit besser als du. Ich bin noch durchaus nicht entschlossen, aber es wird schon kommen. Wir haben nun die Sache ruhig miteinander besprochen und können zu Bett gehen. Du allerbestes und liebstes kleines Mäuschen, gute Nacht!« Mit diesen Worten lichtete Fanny ihren Anker und ließ – nachdem sie sich so viel Rats geholt – des Ratholens für diesmal genug sein.

Von dieser Zeit an beobachtete Amy die Behandlung, die Mr. Sparkler von seinem Unterdrücker zuteil wurde, mit neuen Gründen, allem, was zwischen ihnen vorging, Bedeutung beizulegen. Es gab Zeiten, wo Fanny durchaus nicht imstande zu sein schien, seine geistige Schwäche zu ertragen, und wo sie so ärgerlich und ungeduldig darüber wurde, daß sie gar nicht übel Lust hatte, ihm den Abschied zu geben. Zu andern Zeiten kam sie besser mit ihm zurecht, wo er sie amüsierte und das Bewußtsein der Überlegenheit diese andere Wagschale in der Schwebe zu erhalten schien.

Wenn Mr. Sparkler nicht der getreueste und gehorsamste Liebhaber gewesen wäre, so hätte die Härte, mit der er behandelt wurde, ihn wohl dazu bringen können, den Schauplatz seiner Leiden zu fliehen und mindestens die ganze Entfernung von Rom nach London zwischen sich und die Zauberin zu bringen. Aber er hatte keinen größeren Eigenwillen denn ein Boot, das von einem Dampfschiff ins Schlepptau genommen ist, und er folgte seiner grausamen Gebieterin, von gleich starker Macht in Bewegung gesetzt, durch dick und dünn. Mrs. Merdle sprach während dieser Zeit wenig mit Fanny, aber desto mehr von ihr. Sie war wie gezwungen, sie durch ihre Lorgnette anzusehen und in der allgemeinen Unterhaltung sich Lobeserhebungen über ihre Schönheit und die Unwiderstehlichkeit derselben abringen zu lassen. Der herausfordernde Charakter, den Fanny annahm, wenn sie diese Lobsprüche hörte (wie dies gewöhnlich geschah), zeugte nicht von Konzessionen, die sie dem unparteiischen Busen machte: aber die größte Rache, die der Busen nahm, war, recht vernehmlich zu sagen: »Eine verwöhnte Schönheit – aber bei diesem Gesicht und dieser Gestalt, kann man sich darüber wundern?«

Es mochte ungefähr einen Monat oder sechs Wochen nach dem Abend sein, an dem man sich Rats geholt, als Klein-Dorrit ein neues Einverständnis zwischen Mr. Sparkler und Fanny zu entdecken schien. Wie wenn ein Vertrag stipuliert worden, sprach Mr. Sparkler kaum je, ohne erst Fanny zuvor um Erlaubnis angesehen zu haben. Diese junge Dame war zu diskret, um ihn je wieder anzusehen: hatte Mr. Sparkler jedoch Erlaubnis zu sprechen, so schwieg sie: hatte er diese nicht, so sprach sie selbst. Außerdem ward es in die Augen springend, daß sooft Henry Gowan ihm den Freundschaftsdienst erweisen wollte, ihn bloßzustellen, er nicht bloßzustellen war. Und nicht allein das, sondern er pflegte auch stets ohne die mindeste nachweisbare Beziehung in der Welt etwas zu sagen, was einen solchen Stachel in sich hatte, daß Gowan augenblicklich sich zurückzog, als wenn er seine Hand in einen Bienenkorb gesteckt hätte.

Noch ein andrer Umstand bestärkte Klein-Dorrit nachdrücklich in ihren Besorgnissen, obgleich die Sache an und für sich unbedeutend war. Mr. Sparklers Benehmen gegen sie wurde anders. Es wurde brüderlich. Bisweilen, wenn sie in den äußersten Kreisen der Gesellschaft war – sei es nun im eigenen Hause, bei Mrs. Merdle oder sonstwo –, sah sie sich unversehens von Mr. Sparklers Arm umschlungen. Mr. Sparkler gab nie die geringste Erklärung über diese Aufmerksamkeit, sondern lächelte nur mit der Miene eines läppischen, zufriedenen, gutmütigen Menschen, der Eigentumsrechte geltend macht, was bei einem so schwerfälligen Menschen ominös ausdrucksvoll war.

Klein-Dorrit war eines Tages zu Hause und dachte mit schwerem Herzen an Fanny. Sie hatten ein Zimmer an dem einen Ende ihrer Reihe von Salons, das fast ganz aus einem über die Straße hervorragenden Erker bestand und das malerische Leben und Treiben des Korso hinauf und hinunter beherrschte. Um drei oder vier Uhr nachmittags, nach englischer Zeitrechnung, war die Aussicht von diesem Fenster sehr hübsch und eigentümlich: und Klein-Dorrit saß gewöhnlich in sinnendes Träumen versunken hier, wie sie in Venedig auf ihrem Balkon die Zeit zu verscheuchen gewöhnt gewesen war. Als sie eines Tages so dasaß, wurde sie sanft auf der Schulter berührt, und Fanny sagte: »Nun, meine liebe Amy«, und nahm neben ihr Platz. Ihr Sitz war ein Teil des Fensters; wenn eine Prozession oder eine derartige Feierlichkeit war, so pflegten sie bunte Teppiche aus diesem Fenster hinauszuhängen und knieten oder saßen auf einem Sitz und schauten über die glänzende Farbenpracht hinaus. An jenem Tage war jedoch keine Prozession, und Klein-Dorrit staunte einigermaßen darüber, daß Fanny zu dieser Stunde zu Hause war, während sie sonst gewöhnlich um diese Zeit ausritt.

»Nun, Amy«, sagte Fanny, »woran denkst du, kleines Geschöpf?«

»Ich dachte an dich, Fanny.«

»Wirklich? Welch ein Zusammentreffen. Hier ist noch jemand, muß ich dir sagen. Du hast doch nicht auch an diesen jemand gedacht; hm, Amy?«

Amy hatte wirklich auch an diesen Jemand gedacht: denn es war Mr. Sparkler. Sie sagte es jedoch nicht, als sie ihm die Hand gab. Mr. Sparkler kam herbei und setzte sich auf die andre Seite von ihr, und sie fühlte den brüderlichen Arm hinter sich herkommen, der offenbar auch Fanny einzuschließen im Begriff war.

»Nun, meine kleine Schwester«, sagte Fanny mit einem Seufzer, »ich denke, du weißt, was das bedeutet?«

»Sie ist so schön, wie sie feurig angebetet wird«, stammelte Mr. Sparkler, »und es ist kein Unsinn an ihr – es ist alles in Ordnung.«

»Du brauchst das nicht auseinanderzusetzen, Edmund«, sagte Fanny.

»Nein, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Kurz, mein Kind«, fuhr Fanny fort, »um es gleich heraus zu sagen, wir sind verlobt. Wir müssen heute abend oder morgen mit Papa davon sprechen, wie sich die Gelegenheit bietet. Dann ist die Sache abgemacht, und wir brauchen wenig Worte mehr darüber zu verlieren.«

»Meine liebe Fanny«, sagte Mr. Sparkler mit ehererbietigem Wesen, »ich möchte Amy ein Wort sagen.«

»Nun! nun! sage es meinetwegen«, versetzte die junge Dame.

»Ich bin überzeugt, meine liebe Amy«, sagte Mr. Sparkler, »wenn je ein Mädchen existiert, außer unsrer hochbegabten und schönen Schwester, die keinen Unsinn an sich hat –«

»Wir wissen das alle wohl, Edmund«, warf Miß Fanny ein. »Sprich nicht davon. Bitte, sprich von etwas anderem als davon, daß wir keinen Unsinn an uns haben.«

»Ja, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. »Und ich versichere Ihnen, Amy, daß nichts ein größeres Glück für mich, für mich sein kann – nächst dem Glück, durch die Wahl eines so herrlichen Mädchens geehrt zu sein, das nicht ein Atom von –«

»Bitte, Edmund, bitte«, unterbrach ihn Fanny, mit einem leichten Aufstampfen ihres hübschen Fußes auf den Boden. »Meine Liebe, du hast ganz recht«, sagte Mr. Sparkler, »und ich weiß, es ist meine Gewohnheit. Was ich Ihnen erklären wollte,, war, daß nichts ein größeres Glück für mich sein kann, mich sein kann – nächst dem Glück der Verbindung mit dem ausgezeichnetsten und herrlichsten Mädchen –, als das Glück zu haben, die aufrichtige Freundschaft Amys mir zu gewinnen und erhalten zu suchen. Ich bin vielleicht«, sagte Mr. Sparkler mit männlicher Offenheit, »über manche Dinge nicht immer ganz im reinen und aufgeklärt, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie die Gesellschaft um ihre Meinung befragen, diese ziemlich einstimmig sagen wird, ich sei es nicht, aber in Beziehung auf Amy bin ich im reinen!«

Mr. Sparkler küßte sie zum Zeugnis dessen.

»Ein Messer, eine Gabel und ein Zimmer wird immer Amy zu Gebote stehen«, fuhr Mr. Sparkler fort, der im Vergleich mit seinen Redeantezedenzien ganz weitschweifig wurde. »Mein Erzieher wird, das bin ich überzeugt, immer stolz sein, jemanden zu empfangen, den ich so hoch achte. Und rücksichtlich meiner Mutter«, sagte Mr. Sparkler, »welche eine merkwürdig schöne Frau ist –«

»Edmund, Edmund!« rief Fanny wie zuvor.

»Mit deiner Erlaubnis, meine Seele«, entschuldigte sich Mr. Sparkler. »Ich weiß, ich habe die Gewohnheit, und ich bin dir sehr dankbar, mein anbetungswürdiges Mädchen, daß du dir die Mühe nimmst, mich zurechtzuweisen; aber meine Mutter ist, nach der allgemeinen Stimme, eine merkwürdig schöne Frau und hat wirklich keinen Unsinn an sich.«

»Das mag sein oder nicht«, versetzte Fanny, »aber ich bitte, sprich nicht wieder davon.«

»Es soll nicht mehr geschehen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Dann hast du wirklich nichts mehr zu sagen, Edmund, nicht wahr«, fragte Fanny.

»So wenig, mein anbetungswürdiges Mädchen«, antwortete Mr. Sparkler, »daß ich mich entschuldige, so viel gesagt zu haben.«

Mr. Sparkler bemerkte durch eine Art Inspiration, daß die Frage die weitere enthielt, ob es nicht besser wäre, wenn er ginge? Er zog daher den brüderlichen Arm zurück und sagte hübsch, daß er mit ihrer Erlaubnis Abschied nehmen wolle. Er ging, nicht ohne Amys Glückwunsch zu empfangen, so gut sie dies in ihrer Aufregung und Betrübnis zu tun imstande war.

Als er fort war, sagte sie: »O Fanny, Fanny!« und drehte sich in dem hellen Fenster nach ihrer Schwester um und sank ihr an die Brust und weinte dort. Fanny lachte anfangs; aber bald lag ihr Gesicht an dem ihrer Schwester, und nun weinte auch sie – ein wenig. Es war das letztemal, daß Fanny zeigte, daß ein verborgenes, unterdrücktes oder überwundenes Gefühl in dieser Richtung in ihr lebte. Von dieser Stunde an lag der Weg, den sie gewählt, vor ihr, und sie ging ihn mit ihrem herrischen, eigenwilligen Schritt.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Keine gegründete Ursache und kein Hindernis, warum diese beiden Personen nicht getraut werden sollen.

Als Mr. Dorrit durch seine ältere Tochter angezeigt wurde, daß sie einen Heiratsantrag von Mr. Sparkler erhalten, mit dem sie sich verlobt habe, nahm er diese Mitteilung zu gleicher Zeit mit großer Würde und mit pomphafter Entfaltung seines väterlichen Stolzes auf: denn seine Würde vergrößerte sich durch die erweiterte Aussicht auf ein vorteilhaftes Terrain, von dem aus man leicht Bekanntschaften machen konnte, und sein väterlicher Stolz entwickelte sich durch Miß Fannys bereitwillige Sympathie mit seinem großen Lebenszweck. Er gab ihr zu verstehen, daß ihr edler Ehrgeiz harmonische Echos in seinem Herzen finde, und gab ihr seinen Segen, als einem Kinde voll Pflichtgefühl und guter Grundsätze, das sich der Vergrößerung des Familiennamens opfere.

Zu Mr. Sparkler, als Fanny ihm die Erlaubnis zu erscheinen gab, sagte Mr. Dorrit, er wolle nicht verhehlen, daß die Verbindung, die Mr. Sparkler ihm vorzuschlagen so freundlich sei, ganz mit seinen Gefühlen harmoniere, da sie sowohl mit den Herzensneigungen seiner Tochter Fanny im Einklang stehe, als auch eine Familienverbindung der freundlichsten Art mit Mr. Merdle, dem ersten Geist des Zeitalters, anknüpfe. Auch Mrs. Merdles, als einer tonangebenden, durch Eleganz, Grazie und Schönheit gleich ausgezeichneten Dame, erwähnte er in sehr rühmenden Ausdrücken. Er halte es jedoch für seine Pflicht zu bemerken (er sei überzeugt, ein Mann von Mr. Sparklers feinem Geist würde seine Worte richtig beurteilen), daß er diesen Antrag nicht als eine abgemachte Sache betrachten könne, bis er erlaubt habe, sich mit Mr. Merdle in Korrespondenz zu setzen, und sich versichert hätte, die Sache stimme soweit mit den Plänen dieses großen Mannes überein, daß seine (Mr. Dorrits) Tochter, in dem, was er, ohne den Schein der Dienerei auf sich zu laden, das Auge der großen Welt nennen dürfe, eine Stellung erhalte, wie ihr Stand, ihre Mitgift und ihre Aussichten ihn für sie zu fordern berechtigten. Während er dies sage, was sein Charakter als Mann von einiger Stellung und sein Charakter als Vater in gleicher Weise von ihm forderten, wolle er nicht so diplomatisch sein, zu verbergen, daß der Vorschlag vorderhand in hoffnungsvoller Unentschiedenheit bleibe und bloß bedingt angenommen sei, und daß er Mr. Sparkler für das Kompliment, das er ihm und seiner Familie gemacht habe, danke. Er schloß mit einigen weiteren und noch allgemeineren Bemerkungen über den – ha – Charakter eines unabhängigen Mannes und den – hm – Charakter eines möglicherweise zu parteiischen und von Bewunderung erfüllten Vaters. Alles in allem nahm er Mr. Sparklers Antrag ungefähr gerade so entgegen, wie er drei bis vier halbe Kronen in vergangenen Zeiten von ihm angenommen hätte. Mr. Sparkler, der sich durch die auf sein harmloses Haupt gehäuften Worte ganz betäubt fühlte, gab eine kurze, aber passende Antwort, die nicht weniger noch mehr besagen wollte, als daß er schon lange bemerkt, Miß Fanny habe keinen Unsinn an sich, und nicht zweifle, daß es seinem Erzieher genehm sein werde. Als er so weit gekommen, schloß ihn der Gegenstand seiner Neigung wie eine Büchse mit einer Springfeder zu und schickte ihn fort.

Als Mr. Dorrit kurz darauf dem Busen seinen Besuch abstattete, wurde er mit großer Achtung empfangen. Mrs. Merdle hatte durch Edmund von der Sache gehört. Sie sei anfangs sehr erstaunt gewesen, da sie nicht gedacht hätte, daß Edmund heiraten würde. Die Gesellschaft habe gedacht, Edmund würde nicht heiraten, und doch habe sie natürlich als Frau gesehen (wir Frauen sehen instinktmäßig dergleichen Sachen, Mr. Dorrit!), daß Edmund außerordentlich von Miß Dorrit eingenommen sei, und sie habe offen ausgesprochen, Mr. Dorrit treffe eine große Verantwortung, daß er ein so reizendes Mädchen ins Ausland gebracht habe, das seinen Landsleuten die Köpfe verdrehe.

»Darf ich also zu schließen wagen, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »daß die Richtung, die die Neigung von Mr. Sparkler genommen, von – ha – Ihnen gebilligt wird?«

»Ich versichere Ihnen, Mr. Dorrit«, versetzte die Dame, »daß es mir persönlich angenehm ist.«

Das sei für Mr. Dorrit sehr erfreulich.

»Persönlich«, wiederholte Mrs. Merdle, »angenehm.«

Diese zufällige Wiederholung des Wortes »persönlich« veranlaßte Mr. Dorrit, die Hoffnung auszudrücken, daß Mr. Merdles Zustimmung nicht ausbleiben werde.

»Ich kann es nicht auf mich nehmen«, sagte Mrs. Merdle, »positiv für Mr. Merdle zu antworten; Männer, namentlich Männer, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, haben ihre eignen Ideen über diese Sachen. Aber ich sollte denken – doch ist es nur eine Meinung, Mr. Dorrit –, ich sollte denken, daß es Mr. Merdle im ganzen« – hier hielt sie eine Rundschau über sich, ehe sie behaglich hinzufügte – »sehr angenehm sein werde.«

Bei der Erwähnung von Männern, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, hatte Mr. Dorrit gehustet, als ob er einen inneren Protest nicht unterdrücken könnte. Mrs. Merdle hatte es bemerkt und fuhr fort, um diesen Wink aufzunehmen.

»Obwohl es freilich, Mr. Dorrit, kaum nötig ist, diese Bemerkung zu machen; ich wollte nur die größte Offenheit gegen einen Mann an den Tag legen, den ich so hoch schätze und mit dem ich in noch angenehmere Verbindung zu kommen das Vergnügen zu haben hoffe. Denn es läßt sich mit der größten Wahrscheinlichkeit voraussetzen, daß Sie diese Sachen von Mr. Merdles eigenem Gesichtspunkte aus betrachten, wenn die Umstände nicht etwa es für Mr. Merdle glücklicher- oder unglücklicherweise so gestalten, daß er ganz in Geschäften steckt und, wie groß diese auch sein mögen, sein Horizont dadurch sich etwas verengt hat. Ich bin ein wahres Kind in Beziehung auf Geschäfte«, sagte Mrs. Merdle, »aber ich fürchte, das könnte der Fall sein.«

Dieses gewandte Hin- und Herwägen von Mr. Dorrit und Mr. Merdle, daß jeder den andern in die Höhe schnellte und jeder den andern herabzog und keiner im Vorteil blieb, wirkte beruhigend auf Mr. Dorrits Husten. Er bemerkte mit der größten Höflichkeit, er müsse bitten, daß die vollendete und anmutige Mrs. Merdle (sie verbeugte sich bei diesem Kompliment) sich der Ansicht entschlage, als wenn solche Unternehmungen wie die von Mr. Merdle, die ganz anderer Art als die jämmerlichen Unternehmungen der übrigen Menschen, irgendeine geringere Wirkung hätten, als den Geist, in dem sie empfangen worden, zu erweitern und vergrößern. »Sie sind die Großherzigkeit selbst«, erwiderte Mrs. Merdle mit ihrem anmutigsten Lächeln, »wir wollen uns dieser Hoffnung hingeben. Aber ich gestehe, daß ich in meinen Ansichten von Geschäften beinahe abergläubisch bin.«

Mr. Dorrit warf hier ein anderes Kompliment ein, das besagen wollte, Geschäfte, gerade wie die Zeit, die dabei so kostbar, seien für Sklaven gemacht; daß sie deshalb nichts für Mrs. Merdle taugen, die alle Herzen nach ihrem Gefallen regiere. Mrs. Merdle lachte und brachte Mr. Dorrit die Idee von dem Erröten des Busens bei – einem ihrer besten Effekte.

»Ich sagte dies bloß«, erklärte sie dann, »weil Mr. Merdle immer das größte Interesse an Edmund nahm und stets den lebhaftesten Wunsch an den Tag legte, seiner Zukunft förderlich zu sein. Edmunds öffentliche Stellung, denke ich, kennen Sie. Seine Privatstellung ruht ganz in Mr. Merdles Händen. In meiner kindischen Unfähigkeit für alles, was Geschäft heißt, versichere ich Sie, daß ich nichts weiter weiß.«

Mr. Dorrit drückte aufs neue in seiner Weise die Überzeugung aus, daß Geschäftssachen außerhalb des Gesichtskreises von Zauberinnen, die alles zu Sklaven machen, liegen. Er erwähnte dann seine Absicht, als Gentleman und Vater an Mr. Merdle zu schreiben. Mrs. Merdle war von ganzem Herzen – oder mit all ihrer Kunst, was genau dasselbe war – einverstanden und schickte selbst mit umgehender Post einen vorbereitenden Brief an das achte Wunder der Welt.

In seiner brieflichen Mitteilung wie in seinen Gesprächen und Abhandlungen über die große Frage, um die es sich handelte, umgab Mr. Dorrit die Sache mit Floskeln aller Art, wie Schreibkünstler die Schreib- und Rechenbücher mit Arabesken verschönern, wodurch die Titel der Elementarregeln der Arithmetik in Schwäne, Adler, Greife und andere kalligraphische Unterhaltungen auseinanderlaufen und die Anfangsbuchstaben in Extasen von Feder und Tinte Leib und Seele verleugnen. Nichtsdestoweniger machte er den Gegenstand seines Briefes hinlänglich klar, um Mr. Merdle in den Stand zu setzen, sagen zu können, daß er die Sache aus dieser Quelle erfahren habe. Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit demgemäß; Mr. Dorrit antwortete Mr. Merdle; Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit, und bald verlautete, daß die korrespondierenden Mächte zu einem befriedigenden Einverständnis gediehen seien.

Nun erst und nicht früher trat Miß Fanny, vollständig für ihre neue Rolle kostümiert, auf die Szene. Nun und nicht früher saugte sie Mr. Sparkler ganz in ihrem Lichte auf und leuchtete für beide und noch zwanzig mehr. Nicht länger den Mangel eines bestimmten Platzes und Charakters vermissend, was ihr so vielen Kummer verursacht, begann dieses schöne Schiff in einer festen Richtung zu steuern und mit einem Tiefgang und einem Gleichgewicht, die ihre hohen Seglereigenschaften entfalteten.

»Nachdem die Präliminarien zur Zufriedenheit arrangiert sind, so denke ich, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit, »will ich – ha – formell Mrs. General …«

»Papa«, versetzte Fanny, indem sie ihm bei diesem Namen rasch ins Wort fiel, »ich sehe nicht ein, was Mrs. General damit zu tun haben sollte.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, »es ist ein Akt der Höflichkeit gegen – hm – eine feingebildete und noble Dame –«

»Oh! ich habe Mrs. Generals feine Bildung und Noblesse satt, Papa«, sagte Fanny, »ich bin Mrs. Generals müde.«

»Müde«, wiederholte Mr. Dorrit mit vorwurfsvollem Erstaunen, »Mrs. Generals müde!«

»Ganz übersatt, Papa«, sagte Fanny, »ich weiß wirklich nicht, was sie mit meiner Heirat zu tun hat. Lasse sie sich mit ihren eigenen Heiratsprojekten beschäftigen – wenn sie welche hat.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit mit ernster und schwerfälliger Langsamkeit des Begreifens, die stark mit der Leichtfertigkeit seiner Tochter kontrastierte, »ich bitte, mir gefälligst erklären zu wollen – ha –, was du meinst.«

»Ich meine, Papa«, sagte Fanny, »daß, wenn Mrs. General zufällig selbst Heiratsprojekte haben sollte, diese meiner Ansicht nach ihre freie Zeit in Anspruch zu nehmen imstande sein werden. Wenn sie keine solchen hat, um so besser: aber ich wünsche doch nicht die Ehre zu haben, ihr besondere Mitteilung zu machen.«

»Erlaube mir zu fragen, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, »weshalb nicht?«

»Weil sie selbst hinter meine Verlobung kommen kann, Papa«, versetzte Fanny. »Sie ist meiner Ansicht nach wachsam genug. Ich glaube das an ihr beobachtet zu haben. Kommt sie nicht selbst dahinter, so wird sie’s merken, wenn ich verheiratet bin. Und ich hoffe, Sie werden mich deshalb nicht der Liebe gegen Sie zu ermangeln glauben, wenn ich sage, es scheint mir immer noch Zeit genug für Mrs. General zu sein.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit, »ich bin erstaunt, ich bin höchst ungehalten über diese – hm – launenhafte und unbegreifliche Gehässigkeit, die du gegen – ha – Mrs. General an den Tag legst.«

Bei diesen Worten erhob er sich mit einem festen Blick voll strengen Vorwurfs von seinem Stuhl und blieb in seiner Würde vor seiner Tochter stehen. Seine Tochter drehte das Bracelet an ihrem Arm, sah ihn bald an, bald von ihm weg und sagte: »Nun gut. Ich bedaure wirklich, wenn es dir nicht gefällt: aber ich kann mal nicht anders. Ich bin kein Kind mehr und bin nicht Amy, ich muß sprechen.«

»Fanny«, sagte Mr. Dorrit halb atemlos nach majestätischem Schweigen, »wenn ich verlange, daß du hier bleibst, während ich Mrs. General, als einer ausgezeichneten Dame, die – hm – ein treues Mitglied unserer Familie ist, – die Veränderung mitteile, die unter uns beabsichtigt ist; wenn ich – ha – nicht allein dies fordere, sondern – hm – darauf bestehe –«

»O, Papa«, fiel Fanny mit bedeutungsvollem Nachdruck ein, »wenn du, wie es scheint, so großes Gewicht darauf legst, so ist es meine Pflicht, zu gehorchen. Ich hoffe jedoch, daß ich mir meine Gedanken darüber machen darf, denn ich muß mir unter so bewandten Umständen welche machen.« Fanny setzte sich darauf mit einer Ergebung, die, wenn man die Extreme betrachtete, wie Herausforderung aussah: und ihr Vater, der entweder sie keiner Antwort würdigte oder nicht wußte, was er antworten sollte, lief nach Mr. Tinkler.

»Mrs. General.«

Mr. Tinkler, der nicht gewöhnt war, so kurze Befehle zu erhalten, wenn es sich um die schöne Firnisserin handelte, blieb stehen. Mr. Dorrit aber, der das ganze Marschallgefängnis und alle Ehrengaben in diesem Stehenbleiben erblickte, fuhr augenblicklich auf ihn zu und rief: »Wie können Sie es wagen, Sir? Was wollen Sie damit?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Mr. Tinkler zu seiner Verteidigung, »ich wünschte zu wissen –«

»Sie wünschten nichts zu wissen, Herr«, rief Mr. Dorrit stark gerötet. »Sagen Sie mir das nicht. Ha! Das war nichts. Sie haben sich einen Spott erlaubt, Herr.«

»Ich versichere Sie, Sir –«, begann Mr. Tinkler.

»Versichern Sie mir nichts!« sagte Mr. Dorrit. »Ich will keine Versicherung von einem Bedienten. Sie haben sich einen Spott zuschulden kommen lassen. Sie können zum Teufel gehen –-hm – die ganze Dienerschaft kann zum Teufel gehen, auf was warten Sie noch?«

»Nur auf meinen Auftrag, Sir.«

»Das ist nicht wahr, Sie haben Ihren Auftrag. Ha – hm. Meine Empfehlung an Mrs. General, und ich lasse sie bitten, die Güte zu haben, herüberzukommen, wenn es ihr gefällig, nur auf einige Minuten. Das ist Ihr Auftrag.« Bei der Entledigung dieses Auftrags ließ Mr. Tinkler vielleicht verlauten, daß Mr. Dorrit höchst aufgebracht sei. Wie dem nun auch war, Mrs. Generals Kleider hörte man alsbald draußen mit ungewöhnlicher Eile rauschen – ja, man möchte beinahe sagen anprallen. An der Tür ließen sie sich jedoch wieder nieder und schwebten mit gewöhnlicher Kälte herein.

»Mrs. General«, sagte Mr. Dorrit, »setzen Sie sich.«

Mrs. General ließ sich mit anmutig dankender Verbeugung, die einen schönen Bogen bildete, in den Stuhl nieder, den ihr Mr. Dorrit anbot.

»Madame«, fuhr dieser fort, »da Sie die Freundlichkeit hatten, sich – hm – mit der Bildung meiner Töchter zu beschäftigen, und da ich überzeugt bin, daß nichts, was dieselben nahe angeht – ha –, Ihnen gleichgültig sein kann –«

»Ganz unmöglich«, sagte Mrs. General in ihrer ruhigsten Art.

»– so wünsche ich Ihnen mitzuteilen, Madame, daß meine anwesende Tochter –«

Mrs. General machte eine leichte Kopfverbeugung gegen Fanny. Diese machte gleichfalls eine sehr tiefe Kopfverbeugung gegen Mrs. General und richtete sich dann wieder stolz auf.

»– daß meine Tochter Fanny sich – ha – mit Mr. Sparkler verlobt hat, den Sie kennen. Sie werden von nun an der Hälfte Ihrer schwierigen – ha – schwierigen Aufgabe enthoben sein.« – Mr. Dorrit wiederholte seine Worte mit einem ärgerlichen Blick auf Fanny. »Dagegen wird, wie ich hoffe, in keinem andern Teil der Stellung, die Sie im Augenblick in meiner Familie einzunehmen die Güte haben, die geringste Änderung oder Verminderung eintreten.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre behandschuhten Hände in exemplarischer Ruhe aufeinander lagen, »ist stets ungemein rücksichtsvoll und schlägt meine freundlichen Dienste viel zu hoch an.«

(Miß Fanny hustete, als wollte sie sagen: »Sie haben recht!«)

»Miß Dorrit hat ohne Zweifel mit der größten Besonnenheit gewählt, soweit dies die Umstände gestatteten, und wird mir wohl erlauben, ihr meine aufrichtigsten Glückwünsche darzubringen. Wenn keine Fesseln der Leidenschaft uns binden«, Mrs. General schloß ihre Augen bei dem Worte, als ob sie es nicht aussprechen und dabei jemanden ansehen könnte, »wenn die nächsten Verwandten ihre Zustimmung geben und das stolze Gebäude einer Familie dadurch befestigt wird – so sind dies gewöhnlich gute Vorbedeutungen. Ich hoffe. Miß Dorrit wird mir erlauben, ihr meine besten Glückwünsche darzubringen.«

Hier hielt Mrs. General inne und fügte bei sich hinzu, um ihr Gesicht wieder in die richtigen Falten zu legen: »Papa, Potatoes, Poultry, Prunes und Prism.«

»Mr. Dorrit«, fügte sie laut hinzu, »zeigt sich sehr verbindlich gegen mich: und für die Aufmerksamkeit, ja, ich möchte sagen Auszeichnung, daß mir von ihm und Miß Dorrit so früh diese vertrauliche Mitteilung geworden ist, erlaube ich mir, meinen lebhaftesten Dank auszusprechen. Mein Dank und mein Glückwunsch gehören gleicherweise Mr. Dorrit und Miß Dorrit.«

»Mir«, bemerkte Miß Fanny, »ist dies ausnehmend erfreulich, ganz außerordentlich erfreulich. Das wohltuende Bewußtsein, daß Sie nichts gegen meine Verbindung einzuwenden haben, Mrs. General, nimmt mir wahrhaftig eine große Last vom Herzen. Ich weiß kaum, was ich getan«, sagte Fanny, »wenn Sie Einwürfe gemacht, Mrs. General.«

Mrs. General änderte die Lage ihrer Handschuhe, indem sie den rechten nach oben, den linken nach unten legte und dabei lächelte, während ihr Mund Prunes und Prism auszusprechen schien.

»Ihre Zufriedenheit mir zu erhalten, Mrs. General,« sagte Fanny mit einem Lächeln, in dem nichts von Prunes und Prism zu gewahren war, »wird natürlich das höchste Streben meines Lebens sein; sie zu verlieren, wäre natürlich das größte Unglück für mich. Ich bin jedoch überzeugt, Ihre große Freundlichkeit wird nichts dagegen haben, und ich hoffe, auch Papa wird nichts dagegen haben, wenn ich einen kleinen Irrtum, den Sie begangen, berichtige. Die besten Menschen sind so sehr dem Irrtum ausgesetzt, daß selbst Sie, Mrs. General, einen kleinen Irrtum begangen haben. Die Aufmerksamkeit und Auszeichnung, deren Sie so nachdrücklich als in diesem Vertrauen liegend erwähnten, Mrs. General, mögen allerdings äußerst schmeichelhaft und wohltuend sein; aber sie kommen nicht von mir. Das Verdienst, Sie wegen dieser Sache zu Rate gezogen zu haben, wäre so groß für mich gewesen, daß ich fühle, ich darf keinen Anspruch darauf machen, wenn ich es nicht wirklich habe. Es ist ganz und gar Papas Verdienst. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Ermutigung und Ihr Wohlwollen, aber Papa war es, der sie heischte. Ich habe Ihnen zu danken, Mrs. General, daß Sie meine Brust von einer schweren Last befreiten, indem Sie so freundlich Ihre Zustimmung zu meiner Verbindung geben; aber Sie haben mir durchaus nicht dafür zu danken. Ich hoffe, Sie werden auch künftig, wenn ich das Vaterhaus verlassen habe, mein Tun und Treiben billigen, und meine Schwester wird der Lieblingsgegenstand Ihrer herablassenden Güte sein, Mrs. General.«

Nach dieser Anrede, die sie in ihrer höflichsten Weise vorbrachte, verließ Miß Fanny das Zimmer mit artiger und freundlicher Miene, um mit dunkelrotem Gesicht die Treppe hinaufzustürmen, sobald sie aus dem Hörkreis war, auf ihre Schwester loszufahren, sie einen kleinen Hamster zu schelten, sie zu schütteln, daß sie die Augen besser öffne, ihr zu sagen, was unten vorgegangen, und sie zu fragen, was sie jetzt von Papa dächte?

Gegen Mrs. Merdle benahm sich die junge Dame mit großer Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung; aber noch immer, ohne entschieden die Feindseligkeiten zu eröffnen. Bisweilen hatten sie ein kleines Scharmützel, wenn Fanny sich durch diese Dame auf den Rücken geklopft glaubte, oder wenn Mrs. Merdle besonders jung und gut aussah; aber Mrs. Merdle schloß diese Waffengänge immer nach kurzer Zeit damit, daß sie mit der anmutigsten Gleichgültigkeit in ihre Kissen sank und ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete. Die Gesellschaft (denn dieses geheimnisvolle Wesen saß auch auf den sieben Hügeln) fand, daß Miß Fanny sich durch ihre Verlobung sehr gebessert habe. Sie war zugänglicher, freier und einnehmender, weit weniger anmaßend; und dies in solchem Grade, daß sie jetzt ein ganzes Heer von Verehrern und Bewunderern um sich versammelte – zu nicht geringem Ärger der Frauen, die heiratsfähige Töchter hatten und die gewissermaßen wegen des Miß Dorritschen Kriegsfalls aus der Gesellschaft aufstanden und eine rebellische Fahne aufpflanzten. Miß Dorrit, die sich der Unruhen freute, die sie hervorrief, schritt nicht nur in eigner Person stolz durch dieselben hindurch, sondern führte selbst Mr. Sparkler prahlend durch die Massen, indem sie zu sagen schien: »Wenn ich es für passend halte, nur von diesem einen schwachen Gefangenen lieber, als von einem stärkeren in Fesseln begleitet, meinen Triumphzug zu halten, so ist das meine Sache. Genug, ich will es so!« Mr. Sparkler seinerseits fragte nichts, sondern ging, wohin man ihn führte, tat, was man ihm sagte, fühlte, daß, wenn er wegen seiner Brautwahl ausgezeichnet wurde, diese Auszeichnung zu erringen ihm wenig Mühe gekostet, und war herzlich dankbar für diese öffentliche Anerkennung.

Da der Winter seinem Ende entgegeneilte und der Frühling nahte, während diese Dinge vor sich gingen, wurde es nötig, daß Mr. Sparkler in die Heimat zurückkehrte und die ihm angewiesene Stellung für die Betätigung und Richtung seines Geistes, seiner Kenntnisse, seines Handelstalentes, seiner geistigen und körperlichen Kräfte einnehme. Das Land Shakespeares, Miltons, Bacons, Newtons, Watts, das Land eines Heeres von verstorbenen und lebenden abstrakten Philosophen, Naturphilosophen und Bezwingern der Natur und Kunst in ihren Myriaden Formen rief Mr. Sparkler, daß er komme und sich seiner annehme, da es sonst zugrunde gehen müsse. Mr. Sparkler, der nicht imstande war, den Todesschrei, der aus der Tiefe der Seele seines Landes drang, zu widerstehen, erklärte, daß er gehen müsse.

Dadurch wurde natürlich die Frage, wann, wo und wie Mr. Sparkler dem ersten Mädchen der ganzen Welt, das keinen Unsinn an sich habe, angetraut werden sollte, zu einer brennenden. Die Lösung derselben teilte Miß Fanny, nachdem man eine Zeitlang geheime Verhandlungen darüber gepflogen, ihrer Schwester selbst mit.

»Nun, mein Kind«, sagte sie, indem sie sie eines Tages aufsuchte, »ich will dir etwas sagen. Es ist eben erst zum Beschluß gekommen, und natürlich eile ich im selben Augenblick zu dir, wo die Sache zum Beschluß gekommen ist.« »Deine Heirat, Fanny?«

»Mein kostbares Kind«, sagte Fanny, »greife mir nicht vor. Lasse mich auf meine Weise mein Vertrauen mit dir teilen, du kleines, unruhiges Ding. Wenn ich deine Vermutung wörtlich beantwortete, so würde ich nein antworten. Denn es handelt sich nicht so sehr um meine Heirat als um Edmunds Heirat.«

Klein-Dorrit schien, und vielleicht nicht ohne Ursache, etwas verlegen, diese seine Unterscheidung zu verstehen.

»Ich mache keine Schwierigkeit«, rief Fanny, »und habe keine Eile. Mich braucht man auf keinem öffentlichen Bureau, noch bedarf man meiner Stimme sonstwo. Aber Edmund wird verlangt. Und Edmund ist sehr niedergeschlagen, daß er fort muß, und wahrhaftig, ich wünschte nicht, daß er sich selbst überlassen wäre. Denn wo es möglich – und es ist gewöhnlich möglich – etwas Törichtes zu tun, so tut er es sicher.«

Als sie diesen unparteiischen Inbegriff des Vertrauens, das man auf ihren künftigen Gatten setzen könne, geschlossen, nahm sie mit einer Geschäftsmiene den Hut ab, den sie trug, und ließ ihn an den Bändern auf dem Boden baumeln.

»Es handelt sich deshalb mehr um Edmund, als um mich. Doch wir brauchen nicht mehr davon zu sagen. Es springt von selbst in die Augen. Nun, meine liebste Amy, wenn die Frage aufsteigt, geht er allein, oder geht er nicht allein?, so steigt die weitere Frage auf, sollen wir hier und bald getraut werden, oder sollen wir in der Heimat und in einigen Monaten getraut werden?«

»Ich sehe, ich soll dich verlieren, Fanny.«

»Was für ein kleines Ding du bist«, rief Fanny, halb nachsichtig und halb ungeduldig, »daß du mir immer zuvorkommst! Bitte, mein Liebling, lasse mich ausreden. Jene Frau«, sie sprach natürlich von Mrs. Merdle, »bleibt bis nach Ostern hier; im Falle ich nun hier heirate und mit Edmund nach London gehe, hätte ich den Vorsprung vor ihr. Das ist etwas. Weiter, Amy. Ist jene Frau mir au« dem Wege, so wüßte ich nicht, was ich Besonderes gegen den Vorschlag einzuwenden haben sollte, den Mr. Merdle Papa machte, daß Edmund und ich unsere Wohnung in jenem Hause aufschlagen – du weißt, wo du einst mit einer Tänzerin warst, meine Liebe –, bis unser eigenes Haus gewählt und eingerichtet werden kann. Noch weiter, Amy. Da Papa immer die Absicht hatte, im Frühjahr nach London zu gehen, so würden wir, wenn Edmund und ich verheiratet wären, nach Florenz gehen, wohin uns Papa nachkäme, und wir könnten dann alle drei zusammen nach Hause reisen. Mr. Merdle hatte Papa gebeten, in dem bereits erwähnten Hause bei ihm zu wohnen, und ich glaube auch, er hat die Absicht. Aber er ist Herr seines Tuns, und über diesen Punkt (der auch gar nicht wesentlich ist) kann ich nicht mit Bestimmtheit sprechen.«

Fanny legte auf den Unterschied, daß Papa Herr seines Tuns sei, was bei Mr. Sparkler in keiner Weise der Fall, durch die Art, wie sie die Sache darstellte, einen besonderen Nachdruck. Ihre Schwester bemerkte es jedoch nicht; denn ihre Gefühle waren zwischen dem Schmerz einer baldigen Trennung und dem sehnsüchtigen Wunsche geteilt, daß man auch sie in den Plan, England zu besuchen, mit eingeschlossen habe.

»Das sind die Arrangements, liebe Fanny?«

»Das sind die Arrangements!« wiederholte Fanny. »Nun, wahrhaftig, Kind, du stellst mich nicht wenig auf die Probe. Du weißt, ich hütete mich ganz besonders davor, die Worte so zu setzen, daß irgendeine derartige Deutung möglich war. Was ich sagte, war, daß gewisse Fragen sich darbieten; und dies sind die Fragen.«

Klein-Dorrits gedankenvolle Augen ruhten zärtlich und sanft auf ihr.

»Nun, mein süßes Mädchen«, sagte Fanny, ihren Hut an seinen Bändern mit großer Ungeduld hin- und herschwingend, »was soll das Stieren? Eine kleine Eule könnte mich ebenso stark ansehen. Ich verlange Rat von dir, Amy. Was rätst du mir zu tun?«

»Glaubst du«, fragte Klein-Dorrit nach kurzem Zögern überredend, »glaubst du, Fanny, daß es nicht besser wäre, wenn man alles in Betracht zieht, daß du die Heirat noch einige Monate verschöbest?«

»Nein, kleine Schildkröte«, versetzte Fanny in außerordentlich scharfem Tone, »das denke ich durchaus nicht.«

Hier schleuderte sie den Hut ganz von sich und warf sich in einen Stuhl. Aber gleich darauf wieder von zärtlichen Gefühlen ergriffen, sprang sie vom Stuhl auf und kniete auf den Boden nieder, um ihre Schwester und den Stuhl und alles zu umarmen.

»Glaube nicht, daß ich heftig und unfreundlich bin, liebes Kind, ich bin es wirklich nicht. Aber du bist so ein kleines närrisches Ding! Du machst, daß man dir gleich den Kopf abbeißt, wenn man dich liebkosen möchte. Habe ich dir nicht gesagt, mein liebes Kind, daß man Edmund nicht sich selbst überlassen darf? Und weißt du wirklich nicht, daß dem so ist?«

»Doch, doch, Fanny. Du sagtest das, ich weiß es.«

»Und du weißt es, das weiß ich«, versetzte Fanny. »Nun, mein kostbares Kind! Wenn man ihn nicht sich selbst überlassen darf, denke ich, so sollt‘ ich mit ihm gehen – habe ich dich also, liebste Amy, so zu verstehen, daß du, nachdem du gehört, welche Schritte in dieser Sache möglich sind, mir im ganzen rätst, sie zu tun?«

»Es scheint so, meine Liebe«, sagte Klein-Dorrit.

»Nun gut!« rief Fanny mit resignierter Miene, »dann muß es wohl auch geschehen? Ich kam zu dir, meine Liebe, in dem Augenblick, wo ich den Zweifel und die Notwendigkeit, einen Entschluß zu fassen, fühlte. Ich habe meinen Entschluß nunmehr gefaßt. So mag es nun sein.«

Nachdem Fanny in dieser musterhaften Weise schwesterlichem Rat und dem Drang der Umstände nachgegeben, wurde sie außerordentlich wohlwollend, wie jemand, der seine eigenen Neigungen der teuersten Freundin geopfert und in diesem Bewußtsein ein höchst wohltuendes Gefühl empfand. »Im Grunde, meine Amy«, sagte sie zu ihrer Schwester, »bist du das beste kleine Geschöpf, das man sich denken kann; voll Klugheit und Einsicht; und ich wüßte nicht, wie ich’s ohne dich anfangen sollte!«

Mit diesen Worten umarmte sie sie noch einmal und mit noch größerer Innigkeit und Herzlichkeit.

»Nicht, daß ich beabsichtigte, je ohne dich zu sein, Amy, keineswegs, denn ich hoffe, wir werden beinahe unzertrennlich sein. Und nun, mein Liebling, will ich auch dir einen Rat geben. Wenn du hier allein mit Mrs. General bleibst –«

»Ich soll hier allein mit Mrs. General bleiben?« sagte Klein-Dorrit ruhig.

»Natürlich, mein kostbares Kind, bis der Papa zurückkommt! Wenn du nicht etwa Edward Gesellschaft nennen willst, was er gewiß nicht ist, selbst wenn er hier ist, und noch weniger natürlich, wenn er in Neapel oder Sizilien ist. Ich war im Begriff, zu sagen – aber du bist solch ein närrisches Ding, daß du einen aus dem Konzept bringst – wenn du hier allein mit Mrs. General zurückbleibst, Amy, so dulde nicht, daß sie dich irgendwie auf schlaue Weise dazu bringt, es als etwas Natürliches anzusehen, daß sie sich um Papa oder daß Papa sich um sie bekümmert. Sie wird das tun, wenn sie es kann. Ich kenne ihre schlaue Manier, sich mit ihren Handschuhen fortzutasten. Du aber darfst sie unter keiner Bedingung verstehen. Und wenn Papa dir bei seiner Rückkehr sagen sollte, daß er die Absicht habe, Mrs. General zu deiner Mama zu machen (was durch mein Weggehen nicht wenig wahrscheinlich wird), so rate ich dir, daß du sogleich erklärst: »Papa, ich bitte, mich entschieden dagegen aussprechen zu dürfen. Fanny hat mich davor gewarnt; sie ist dagegen, und ich bin dagegen.« Ich will damit nicht sagen, daß irgendein Einwurf von deiner Seite auch nur die geringste Wirkung zu machen, Aussicht hat, oder daß ich glaube, du werdest ihn mit der nötigen Festigkeit vorbringen. Aber es handelt sich hier um ein Prinzip – ein kindliches Prinzip, und ich bitte dich dringend, dich nicht von Mrs. General bestiefmuttern zu lassen, ohne jenes Prinzip dadurch zu manifestieren, daß du es jedermann so unbehaglich wie möglich machst. Ich erwarte von dir nicht, daß du fest bei demselben beharrst – ich weiß wirklich, du wirst es nicht tun, soweit die Sache Papa betrifft, aber ich möchte dich zum Bewußtsein des Pflichtgefühls bringen. Was die Unterstützung von meiner Seite oder den Widerspruch betrifft, den ich gegen eine solche Heirat einsetzen kann, so werde ich dich nicht im Stiche lassen, meine Liebe. Alles Gewicht, das mir meine Stellung als verheiratete Frau gibt, die nicht ganz aller Anziehungskraft entbehrt, – und gewohnt, dieser Frau Widerstand zu leisten, wie dies immer bei mir der Fall sein wird – all dies Gewicht, darauf kannst du dich verlassen, werde ich auf das Haupt und das falsche Haar (denn ich bin überzeugt, es ist nicht echt, so häßlich es auch ist, und so unwahrscheinlich es auch ist, daß jemand vernünftiges Geld dafür ausgeben sollte) von Mrs. General fallen lassen!«

Klein-Dorrit hörte diesen Rat an, ohne zu wagen, etwas gegen denselben einzuwenden, ohne jedoch auch Fanny irgendeinen Grund zu dem Glauben zu geben, sie beabsichtige, ihn zu befolgen. Da Fanny nun gewissermaßen ihr Jungfrauenleben förmlich abgeschlossen und ihre weltlichen Angelegenheiten geordnet hatte, begann sie mit dem ihr eigentümlichen Eifer, sich für die ernste Veränderung in ihrer Lage vorzubereiten.

Die Vorbereitung bestand darin, daß sie ihr Mädchen, in Begleitung eines Kuriers, nach Paris sandte, um die Ausstattung für eine Braut zu kaufen, der die gegenwärtige Erzählung –- ohne ins Platte zu verfallen – keinen englischen Namen geben kann, der jedoch einen französischen Namen zu geben (nach dem gewöhnlichen Grundsatz, bei der Sprache zu bleiben, in der sie mal geschrieben), ihr ebenso widerstrebt. Die von diesen Agenten angekaufte schöne und reiche Garderobe machte im Verlaufe weniger Wochen ihren Weg durch das dazwischen liegende Land, das mit Zollhäusern überfüllt war, in dem eine ungeheure Armee schäbiger Bettler in Uniform garnisonierte, die beständig die Bitte um Almosen wiederholten, als wenn jeder einzelne dieser Krieger der alte Belisar wäre, und deren es so zahlreiche Legionen gab, daß, wenn der Kurier nicht genau anderthalb Scheffel Silbergeld ausgegeben hätte, um ihrer Not abzuhelfen, sie durch das bloße Umdrehen schon die Garderobe zerfetzt hätten, ehe sie nach Rom gelangt wäre. Aus all diesen Gefahren ging sie jedoch siegreich hervor, Zoll um Zoll, und kam in bester Beschaffenheit am Ziel ihrer Reise an.

Dort wurde sie auserlesenen Gesellschaften von Besucherinnen vorgelegt, in deren zartem Busen sie unversöhnliche Gefühle weckte. Gleichzeitig wurden lebhafte Vorbereitungen für den Tag gemacht, an dem einige von diesen Schätzen öffentlich zur Schau gestellt werden sollten. Die Hälfte der Engländer in der Stadt des Romulus erhielt Einladungskarten zum Frühstück; die andre Hälfte machte Vorbereitungen, um als kritisierende Freiwillige an verschiedenen Vorposten der Feierlichkeit unter Waffen zu sein. Der hochgestellte und ausgezeichnete englische Signor Edgardo Dorrit kam mit Extrapost durch den tiefen Schmutz und auf den schlechten Wegen von Neapel (wo er dem strebenden neapolitanischen Adel Manieren beibrachte), um der Feierlichkeit anzuwohnen. Das beste Hotel und alle seine Kochkünstler waren mit der Bereitung des Festmahles in Anspruch genommen. Die Anweisungen von Mr. Dorrit brachten bei Torlonia beinahe eine Krisis hervor. Der britische Konsul hatte während seines ganzen Konsulats keine solche Hochzeit gehabt.

Der Tag erschien, und die Wölfin auf dem Kapitol hätte vor Neid die Zähne fletschen können, wenn sie hatte sehen müssen, wie die Inselwilden die Sache heutzutage treiben. Die bösen Kaiser der Soldateska mit den Mördergesichtern, denen die Bildhauer die abscheuliche Häßlichkeit nicht hatten wegschmeicheln können, hätten von ihren Piedestalen herabkommen können, um die Braut zu entführen. Die vertrocknete alte Fontäne, wo sich ehedem die Gladiatoren gewaschen, hätte zu Ehren der Feierlichkeit wieder springen können. Der Tempel der Vesta hätte sich wieder aus seinen Trümmern erheben können, um bei dieser feierlichen Gelegenheit sich in seiner ganzen Schönheit zu zeigen. Sie hätten es tun können: aber taten es nicht. Wie lebendige Wesen – selbst wie manchmal die Herren und Herrinnen der Schöpfung – hätten sie viel tun können, taten aber nichts. Die Feierlichkeit ging mit staunenswertem Pomp vor sich: Mönche in schwarzen Kutten, weißen Kutten und braunen Kutten blieben stehen, um den Wagen nachzusehen; herumziehende Landleute in Schafpelzen bettelten und bliesen unter den Fenstern des Hauses; die englischen Freiwilligen zogen vorüber; der Tag verging bis zur Vesperstunde; das Fest war vorbei; die Tausende von Kirchenglocken läuteten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, und St. Peter leugnete, daß er irgend etwas damit zu tun habe.

Inzwischen war die Braut dem Ziel ihrer ersten Tagreise auf dem Wege nach Florenz nahe. Es war eine Eigentümlichkeit dieser Hochzeit, daß sie ganz nur Braut war. Niemand nahm von dem Bräutigam Notiz. Niemand nahm von der ersten Brautjungfer Notiz. Wenige hätten vor dem Glanz Klein-Dorrit (die diese Stelle versah) bemerken können, selbst vorausgesetzt, daß viele sie gesucht hätten. So war die Braut in ihren schönen Wagen gestiegen, zufällig von dem Bräutigam begleitet, und fing jetzt an, nachdem sie wenige Minuten lang sanft über ein schönes Pflaster gerollt, sich durch einen melancholischen Sumpf und durch eine lange, lange Straße von Verfall und Trümmern hindurchzuwinden. Andere Hochzeitswagen sollen vorher und seitdem dieselbe Straße gefahren sein.

Wenn sich Klein-Dorrit an diesem Abend ein wenig einsam und gedrückt fühlte, so würde sie nichts so sehr erleichtert haben, als wenn sie neben ihrem Vater wie in frühern Zeiten an der Arbeit hätte sitzen oder ihm sein Nachtessen und sein Bett bereiten können. Aber daran war jetzt nicht zu denken, wo sie mit Mrs. General auf dem Bock der Zeremonienkutsche saß. Und das Nachtessen! Wenn Mr. Dorrit ein solches verlangte, mußten ein italienischer Koch und ein Schweizer Konditor Mützen so hoch wie die Mitra des Papstes aufsetzen und die Geheimnisse von Alchimisten in einem mit kupfernen Kasserollen versehenen Laboratorium unter der Erde verrichten, ehe er es bekommen konnte.

Er war an diesem Abend sententiös und belehrend; wäre er einfach herzlich gewesen, so hätte das Klein-Dorrit wohler getan; aber sie nahm ihn, wie er war – wann hatte sie ihn nicht genommen, wie er war – und faßte ihn von seiner besten Seite auf. Mrs. General zog sich endlich zurück. Ihr Weggehen am I?7 Abend war immer ihre frostigste Zeremonie, als fände sie es notwendig, die menschliche Phantasie zu Stein erstarren zu machen, daß man ihr nicht folge. Als sie ihre strengen Präliminarien gemacht, die bis zu platonischen Übungen sich verstiegen, verließ sie das Zimmer. Klein-Dorrit schlang dann ihren Arm um ihres Vaters Hals, um ihm gute Nacht zu sagen.

»Meine liebe Amy«, sagte Mr. Dorrit, indem er ihre Hand ergriff, »das ist das Ende eines Tages, der mich – ha – sehr gerührt und mir sehr wohlgetan hat.«

»Wohl auch ein wenig müde gemacht, Vater?«

»Nein«, sagte Mr. Dorrit, »nein, ich fühle keine Müdigkeit, wenn sie eine so – hm – mit Freude der reinsten Art verbundene Veranlassung hat.«

Klein-Dorrit freute sich, ihn bei so guter Stimmung zu finden, und lächelte voll Glückseligkeit.

»Mein Liebe«, fuhr er fort. »Dies ist ein Tag – ha –, der als ein gutes Beispiel gelten kann. Ein gutes Beispiel, mein treuer Liebling, – hm – für dich.«

Klein-Dorrit, durch seine Worte etwas in Verlegenheit gebracht, wußte nicht, was sie sagen sollte, obgleich er innehielt, als ob er erwartete, sie werde etwas sagen.

»Amy«, fuhr er fort, »deine liebe Schwester, unsere Fanny, hat – ha, hm – eine Ehe geschlossen, die vortrefflich geeignet ist, die Basis unserer – ha – Bekanntschaft auszudehnen und unsere – hm – sozialen Beziehungen zu konsolidieren. Meine Liebe, ich glaube, daß die Zeit nicht fern sein wird, wo eine – ha – annehmbare Partie sich für dich finden wird.«

»O, nein! Laß mich bei dir bleiben. Ich bitte dich, laß mich bei dir bleiben. Ich verlange nichts weiter, als bei dir zu bleiben und für dich zu sorgen!«

Sie sagte es wie jemand, der plötzlich aufgeschreckt wird.

»Nein, Amy, Amy«, sagte Mr. Dorrit. »Das ist schwach und kindisch, schwach und kindisch. Deine Stellung – ha – legt dir eine Verpflichtung auf. Es gilt, diese Stellung geltend zu machen; ich kann – ha – selbst für mich sorgen. Oder«, fügte er nach einem Augenblick hinzu, »wenn ich jemand brauchte, der für mich sorgte, so – hm – kann ich, mit dem – ha – Segen der Vorsehung, jemand finden, der für mich sorgt. Ich kann nicht – ha, hm – alle Last auf dich wälzen, liebes Kind, und – ha – dich gewissermaßen aufopfern.«

O, welch eine Tageszeit für diese Beteurung von Selbstverleugnung: o; welche Zeit, um sie mit einer Miene auszusprechen, als ob man Glauben für sie forderte; welch eine Zeit, daran zu glauben, wenn das möglich wäre!

»Sprich nicht, Amy. Ich sage es ganz entschieden, ich kann das nicht zugeben. – Ich – ha – darf – es nicht zugeben. Mein – hm – Gewissen würde es nicht erlauben. Ich ergreife daher die mir durch diese angenehme und rührende Gelegenheit gebotene Veranlassung, dir feierlich – ha – kundzutun, daß es jetzt mein innigster Wunsch und Vorsatz ist, dich – ha – angemessen (ich wiederhole angemessen) verheiratet zu sehen.«

»O nein, mein lieber Vater, ich bitte dich!«

»Amy!« sagte Mr. Dorrit, »ich bin fest überzeugt, daß, wenn die Sache, die wir hier besprechen, einer Person von höherer Weltkenntnis, größerem Zartgefühl und schärferer Einsicht vorgelegt würde – wir wollen zum Beispiel sagen, Mrs. General –, so würden nicht zweierlei Ansichten über den – hm – liebevollen Charakter und die Richtigkeit meiner Gefühle stattfinden. Da ich jedoch deinen liebevollen und gehorsamen Charakter aus – hm – Erfahrung kenne, so bin ich überzeugt, daß ich nichts weiter zu sagen brauche. Ich habe – hm – für den Augenblick keinen Gatten, den ich dir vorschlagen könnte; ich habe sogar nicht mal einen in Aussicht. Ich wünsche nur – ha –, daß wir uns verstehen. Hm. Gute Nacht, meine liebe und einzig mir bleibende Tochter. Gute Nacht. Gott sei mit dir!«

Wenn Klein-Dorrit jemals in dieser Nacht der Gedanke kam, daß er sie jetzt in seinem Glücke leicht hingeben könnte, jetzt, da er im Sinn hatte, sie durch eine zweite Gattin zu ersetzen, so verscheuchte sie diesen Gedanken alsbald wieder. Unverändert treu gegen ihn wie in den schlimmsten Zeiten, wo sie allein mit ihrer Hand ihn gestützt und aufrechterhalten, wies sie diesen Gedanken von sich ab und kannte in ihrer tränenvollen Ruhelosigkeit keinen herberen Gedanken, als daß er jetzt alles im Licht ihres Reichtums und mit der beständigen Sorge ins Auge faßte, reich zu bleiben und reicher zu werden.

Sie saßen noch drei Wochen länger in ihrer Staatskutsche, mit Mrs. General auf dem Bock; dann reiste er nach Florenz, um mit Fanny zusammenzutreffen. Klein-Dorrit hätte ihm so gern bis dahin Gesellschaft geleistet, einzig um ihrer Liebe willen, und wäre dann, an ihr teures England denkend, zurückgekehrt. Aber da der Kurier mit der Braut gegangen, war der Kammerdiener nunmehr an der Reihe; und diese wäre erst an sie gekommen, wenn man niemand mehr für Geld hätte haben können.

Mrs. General nahm das Leben leicht – so leicht, heißt das, wie sie überhaupt etwas nehmen konnte –, als der römische Haushalt in ihrem alleinigen Besitz blieb; und Klein-Dorrit fuhr oft in einem Mietswagen, den man ihnen gelassen, aus oder sprang auch allein aus dem Wagen und wanderte unter den Ruinen des alten Rom umher. Die Trümmer des großen alten Amphitheaters, der alten Tempel, der alten erinnerungsreichen Bogengänge, der alten vielbetretenen Straße, der alten Gräber erschienen ihr außer in ihrer eigentlichen Gestalt auch als Ruinen des alten Marschallgefängnisses – als Ruinen ihres eigenen ehemaligen Lebens – als Ruinen der Gesichter und Gestalten derer, die es damals bevölkert, als Ruinen der Neigungen, Hoffnungen, Sorgen und Freuden, die darin gewaltet hatten. Zwei untergegangene Sphären I?9 des Tuns und Leidens standen vor dem einsamen Mädchen, das oft auf einem zerbröckelten Steine saß; und an dem einsamen Orte, unter dem blauen Himmel, sah sie beides zugleich.

Dann kam gewöhnlich Mrs. General, nahm allem die Farbe, wie Natur und Kunst alle Farbe aus ihr genommen; sie schob zwischen Mr. Eustaces Text überall Prunes und Prism, wo sie nur konnte; sah sich überall nach Mr. Eustace und Kompagnie um und hatte sonst für nichts Auge; scharrte die dürrsten Knochen Altertum zusammen und verschlang sie ohne menschliches Erbarmen – wie ein Werwolf in Handschuhen.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Vorwärts

Das neuverheiratete Ehepaar wurde bei seiner Ankunft in Harleystreet, Cavendishsquare, London, von dem Oberhaushofmeister empfangen. Dieser große Mann nahm kein Interesse an ihnen, aber er duldete sie im ganzen. Es müssen beständig Leute verheiratet und getraut werden, sonst brauchte man keine Haushofmeister. Wie Staaten zum Besteuern da sind, so sind Familien da, um gehaushofmeistert zu werden. Der Oberhaushofmeister dachte jedenfalls, daß der Lauf der Natur seinetwegen die Fortpflanzung der reichen Bevölkerung vorschreibe.

Er ließ sich deshalb herab, den Wagen von der Haustür aus ohne zürnende Blicke zu betrachten, und sagte zu einem seiner Untergebenen auf höchst liebenswürdige Weise: »Thomas, hilf beim Abpacken!« Er geleitete sogar die junge Frau die Treppe hinauf zu Mr. Merdle; aber dies war als ein Akt der Huldigung gegen das schöne Geschlecht (das er bewunderte, wie er notorisch in die Reize einer gewissen Herzogin sich verliebt hatte) und nicht als ein Unterordnen seiner selbst unter die Familie zu betrachten.

Mr. Merdle schlich auf dem Kaminteppich umher und erwartete die Ankunft Mrs. Sparklers. Seine Hand schien beim Willkomm in seinen Rockärmel hinaufzukriechen, und er gab ihr einen solchen Überfluß von Rockaufschlag, daß es wie ein Empfang von dem der Volksvorstellung entsprechenden Bilde von Guy Fawkes3 war. Als er seine Lippen auf die ihren drückte, nahm er sich bei den Handgelenken fest und deckte sich den Rücken durch die Ottomanen und Stühle und Tische, als wenn er sein eigner Polizeimann wäre, und sagte zu sich: »Nun, nichts da! Kommt! Ich habe euch mal, wie ihr seht, und ihr geht ruhig mit mir!«

Mrs. Sparkler, die nun in den Staatszimmern installiert war – dem Allerheiligsten von Eiderdaunen, Seide und feinem Linnen –, fühlte, daß ihr Triumph gelungen und ihr Weg Schritt für Schritt gemacht sei. Am Tage vor ihrer Hochzeit hatte sie der Kammerfrau von Mrs. Merdle mit anmutiger Gleichgültigkeit in Mrs. Merdles Gegenwart ein hübsches kleines Andenken (Armband, Hut und zwei Kleider, alles ganz neu) geschenkt, was ungefähr viermal so viel wert war als das Geschenk, das Mrs. Merdle ihr früher gemacht hatte. Sie wohnte jetzt in Mrs. Merdles eigenen Zimmern, die mit einigen Extranachbesserungen ihrer würdiger gemacht worden waren. Während sie hier weilte, umgeben von allen Luxusgegenständen, die der Reichtum kaufen und die Phantasie erfinden konnte, sah sie mit ihrem innern Auge den schönen Busen, der im Einklang mit ihrem frohlockenden Herzen schlug, mit dem so lange berühmt gewesenen Busen wetteiferten, ihn überglänzen und verdrängen. Glücklich? Fanny mußte glücklich sein, denn sie wünschte nicht mehr, lieber tot zu sein.

Der Kurier hatte es nicht gebilligt, daß Mr. Dorrit in dem Hause eines Freundes wohne, und vorgezogen, ihn nach einem Hotel in Brook Street, Grosvenorsquare zu bringen. Mr. Merdle befahl, morgen früh seinen Wagen bereit zu halten, damit er sogleich nach dem Frühstück Mr. Dorrit seine Aufwartung machen könne.

Der Wagen sah glänzend aus, die Pferde waren glatt, das Geschirr funkelte, die Livreen machten den Eindruck des Reichen und Soliden. Ein herrliches entsprechendes Äußere. Eine Equipage für einen Merdle. Leute, die früh auf waren, sahen ihr nach, wie sie durch die Straßen hinrollte, und sagten mit ehrfurchtsvollem Ton: »Da fährt er!«

Da fuhr er hin, bis Brook Street ihm Halt gebot. Dann kam er wie ein Juwel aus seinem prachtvollen Gehäuse, aber nicht durch sich glänzend, sondern ganz das Gegenteil.

Aufruhr in dem Bureau des Hotels. Merdle! Der Wirt, obgleich ein Gentleman von großem Stolz, der kaum mit zwei Vollblutpferden in die Stadt gekommen war, kam heraus, um ihn die Treppe hinaufzuführen. Die Kommis und die Diener schnitten ihm durch Seitengänge den Weg ab und warteten wie zufällig an Gängen und Ecken, um ihn zu sehen. Merdle! O Sonne, Mond und Sterne, der große Mann! Der reiche Mann, der gewissermaßen das Neue Testament verbessert hat, indem er bereits in das Himmelreich gekommen war. Der Mann, der jeden, den er wollte, zu Tische einladen konnte und der so viel Geld verdiente. Als er die Treppe hinaufging, standen die Leute schon auf den untern Stufen, damit sein Schatten auf sie fiele, wenn er herabkäme. So brachte man die Kranken und legte sie auf den Weg, den der Apostel kommen mußte – der nicht in die gute Gesellschaft gekommen und kein Geld verdient hatte.

Mr. Dorrit saß im Schlafrock, mit der Morgenzeitung beschäftigt, beim Frühstück. Der Kurier meldete mit aufgeregter Stimme: »Mr. Mairdaile!« Mr. Dorrits übervolles Herz hüpfte vor Freude, als er aufsprang. »Mr. Merdle, das ist wahrhaftig eine Ehre. Erlauben Sie mir, Ihnen auszusprechen, wie – hm – hoch ich die Ehre – ha – diesen – ha, hm – schmeichelhaften Beweis Ihrer Aufmerksamkeit zu schätzen weiß. Ich weiß recht gut, mein Herr, wie sehr Ihre Zeit in Anspruch genommen ist und – ha – welch unermeßlichen Wert sie hat.« Mr. Dorrit konnte das Wort unermeßlich nicht rund genug zu seiner Zufriedenheit aussprechen. »Daß Sie – ha – zu dieser frühen Stunde etwas von Ihrer unschätzbaren Zeit auf mich verwenden, ist – ha – ein Kompliment, das ich mit der größten Achtung anerkenne.« Mr. Dorrit zitterte wirklich, als er den großen Mann anredete.

Mr. Merdle ließ in seiner gedämpften, innerlichen, zögernden Stimme ein paar Worte hören, die nichts besagen wollten; und zuletzt sagte er: »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen, Sir.«

»Sie sind sehr freundlich«, sagte Mr. Dorrit, »wirklich sehr freundlich.« Inzwischen hatte sich der Besuch gesetzt und fuhr mit seiner großen Hand über die erschöpfte Stirn. »Sie sind hoffentlich wohl, Mr. Merdle?«

»Ich bin so wohl, wie ich – ja, ich bin so wohl, wie ich gewöhnlich bin«, sagte Mr. Merdle.

»Ihre Geschäfte müssen Sie außerordentlich in Anspruch nehmen?«

»So ziemlich. Aber – o nein, es fehlt mir eigentlich nichts«, sagte Mr. Merdle im Zimmer umhersehend.

»Etwas schlechte Verdauung?« deutete Mr. Dorrit an.

»Wohl möglich. Aber ich – o ich befinde mich ganz gut«, sagte Mr. Merdle.

Auf seinen Lippen, wo sie sich schlossen, waren schwarze Streifen, als wenn etwas Pulver darauf abgebrannt worden wäre; und er sah aus wie ein Mann, der, wenn er von etwas lebhafterem Temperament wäre, heute morgen starkes Fieber gehabt haben würde. Dies und die schwerfällige Weise, wie er über seine Stirn strich, hatten Mr. Dorrits besorgliche Erkundigungen veranlaßt.

»Mrs. Merdle«, fuhr Dorrit einschmeichelnd fort, »verließ ich, wie Sie wohl zu hören erwarten werden, als die von allen – ha – Beobachtern Beobachtete, von allen – hm – Bewunderern Bewunderte, als die, die die ganze römische Gesellschaft entzückt und bezaubert hat. Sie sah außerordentlich gut aus, als ich die Römerstadt verließ.«

»Mrs. Merdle«, sagte Mr. Merdle, »gilt im allgemeinen als eine sehr anziehende Frau. Und sie ist es auch ganz gewiß. Ich weiß es wohl, daß sie es ist.«

»Wer wüßte es nicht?« antwortete Mr. Dorrit.

Mr. Merdle drehte seine Zunge in seinem geschlossenen Munde umher – es schien eine steife und unlenksame Zunge –, feuchtete die Lippen an, strich mit der Hand über die Stirn und sah wieder im Zimmer umher, hauptsächlich unter die Stühle. »Aber«, sagte er, indem er Mr. Dorrit zum ersten Male ins Gesicht sah und dann augenblicklich die Blicke auf die Westenknöpfe von Mr. Dorrit herabsinken ließ, »wenn wir von anziehendem Wesen sprechen, so sollte Ihre Tochter unser Gesprächsgegenstand sein. Sie ist ausnehmend schön. Nach Gesicht wie Gestalt ist sie eine ungewöhnliche Erscheinung. Als die jungen Leute vergangenen Abend ankamen, war ich wirklich überrascht von dem Anblick solcher Reize.«

Mr. Dorrit fühlte sich so geschmeichelt, daß er sagte – ha –, er könne nicht umhin, mündlich Mr. Merdle zu wiederholen, was er bereits brieflich getan, daß er die Verbindung ihrer Familien für eine große Ehre und ein großes Glück halte. Und er bot ihm seine Hand. Mr. Merdle betrachtete die Hand eine Augenblick, nahm sie einen Augenblick, als wenn sie ein gelber Präsentierteller oder eine Fischscheibe wäre, und gab sie dann Mr. Dorrit zurück.

»Ich dachte, ich wolle sogleich hierherfahren«, sagte Mr. Merdle, »um meine Dienste anzubieten, im Falle ich etwas für Sie tun kann, und Ihnen zu sagen, ich hoffe, Sie werden mir wenigstens die Ehre erweisen, heute und immer bei mir zu speisen, solange Sie in der Stadt und nicht anderwärts besser in Anspruch genommen sind.«

Mr. Dorrit war entzückt über diese Aufmerksamkeiten.

»Werden Sie sich lange hier aufhalten?«

»Ich habe vorderhand die Absicht«, sagte Mr. Dorrit, »nicht länger als vierzehn Tage zu verweilen.«

»Das ist nach einer so langen Reise ein sehr kurzer Aufenthalt«, versetzte Mr. Merdle.

»Hm. Ja«, sagte Mr. Dorrit. »Aber offen gesagt – ha – mein lieber Merdle, ich finde das Leben auf dem Kontinent meiner Gesundheit so zuträglich und meinem gegenwärtigen Geschmack so entsprechend, daß ich – hm – bei meinem gegenwärtigen Besuche in London nur zweierlei im Auge habe. Nämlich erstens – ha – das ausgezeichnete Glück und – ha – die Ehre, die mir gegenwärtig zuteil wird und die ich zu schätzen weiß; und zweitens das Arrangement – hm –, das heißt, die beste Anlegung – ha, hm – meiner Kapitalien.«

»Nun, Sir«, sagte Mr. Merdle, nachdem er seine Zunge noch einmal gedreht, »wenn ich Ihnen in dieser Beziehung irgendwie von Nutzen sein kann, so befehlen Sie über mich.«

Mr. Dorrit zögerte mehr denn gewöhnlich mit seinen Worten, als er auf diesen kitzlichen Punkt zu sprechen kam, denn er war sich nicht ganz klar, wie ein so erhabener Potentat es aufnehmen möchte. Er zweifelte, ob die Erwähnung eines persönlichen Kapitals oder Vermögens nicht ein zu elender Detailkram für einen solchen Großhändler sei. Sehr erleichtert durch Mr. Merdles freundliches Anerbieten seiner Dienste, säumte er nicht, sie anzunehmen, und überhäufte ihn mit Dank.

»Ich hätte – ha – kaum gewagt«, sagte Mr. Dorrit, »versichere ich Ihnen, einen so außerordentlichen Vorteil wie Ihren unmittelbaren Rat und Beistand zu hoffen. Obgleich ich natürlich, unter allen Umständen, wie die – ha, hm – ganze übrige zivilisierte Welt Mr. Merdles Spuren gefolgt wäre.«

»Sie wissen, wir können uns beinahe Verwandte nennen, Sir«, sagte Mr. Merdle, indem er mit großem Interesse das Muster des Teppichs betrachtete, »und deshalb können Sie ganz auf meine Dienste zählen zu dürfen versichert sein.«

»Ah. Sehr hübsch, wahrhaftig!« rief Mr. Dorrit. »Ah. Sehr hübsch!«

»Es würde«, sagte Mr. Merdle, »im gegenwärtigen Augenblick für einen, der nicht eingeweiht ist, sehr schwer sein, an einer der guten Spekulationen teilzunehmen – natürlich spreche ich von meinen eigenen guten Spekulationen –«

»Natürlich, natürlich!« rief Mr. Dorrit, in einem Ton, der deutlich zu sagen schien, daß es gar keine andern guten Spekulationen geben könne.

»– außer zu sehr hohem Preis, was wir eine sehr lange Zahl zu nennen pflegen.«

Mr. Dorrit lachte in der gehobenen Stimmung, in der er sich befand. »Ha, ha, ha! Lange Zahl. Gut. Ha. Wirklich sehr bezeichnend.«

»Ich behalte jedoch«, sagte Mr. Merdle, »gewöhnlich die Vollmacht für mich, einzelne zu bevorzugen – die Leute würden es vielleicht begünstigen heißen –, was ich als eine Art Belohnung für meine Sorge und Mühe ansehe.«

»Und ihren Gemeingeist und Ihr Genie«, fügte Mr. Dorrit hinzu.

Mr. Merdle schien mit einer trocknen schlingenden Bewegung diese Eigenschaften wie eine Pille hinunterzuschlucken; dann fügte er hinzu: »Eine Art von Entschädigung. Wenn Sie mir erlauben, will ich sehen, wie ich von dieser beschränkten Vollmacht (denn die Leute sind eifersüchtig, und sie ist beschränkt) in Ihrem Interesse Gebrauch machen kann.«

»Sie sind sehr gut«, versetzte Mr. Dorrit. »Sie sind sehr gut.«

»Natürlich«, sagte Mr. Merdle, »muß bei diesen Geschäften die größte Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit herrschen; Glaube auf Wort muß zwischen den einzelnen gelten; zweifelloses und unzweifelhaftes Vertrauen muß obwalten; sonst könnte man kein Geschäft machen.«

Mr. Dorrit begrüßte diese edlen Gesinnungen lebhaft und freudig.

»Deshalb«, sagte Mr. Merdle, »kann ich Ihnen bloß bis zu einer gewissen Ausdehnung den Vorzug geben.«

»Ich verstehe. In einer beschränkten Ausdehnung«, bemerkte Mr. Dorrit.

»Beschränkten Ausdehnung. Und ganz offen vor der Welt. Mit meinem Rate dagegen ist es etwas anderes«, sagte Mr. Merdle. »Soviel dieser gilt –«

»Oh! Soviel dieser gilt!« (Mr. Dorrit konnte selbst bei Mr. Merdle nicht die geringste Unterschätzung seines Wertes ertragen.)

»– diesen zu geben, wenn ich Lust habe, hindert mich nichts, was die makellose Ehre zwischen mir und meinen Genossen verlangt. Und dieser«, sagte Mr. Merdle, jetzt ganz auf den Kehrichtkarren, der unter dem Fenster vorüberfuhr, seine Aufmerksamkeit richtend, »wird stets zu Ihren Diensten stehen, wenn Sie denselben einzuholen für passend erachten.«

Neuer Dank von seiten Mr. Dorrits. Abermaliges Über-die-Stirne-Fahren von Mr. Merdles Hand. Pause und Schweigen. Betrachten der Westenknöpfe Mr. Dorrits von seiten Mr. Merdles.

»Da meine Zeit ziemlich kostbar ist«, sagte Mr. Merdle plötzlich aufstehend, als wenn er inzwischen auf seine Beine gewartet und diese nun gekommen wären, »so muß ich mich jetzt nach der City begeben. Kann ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen? Ich würde mich glücklich schätzen, Sie irgendwo aussteigen oder mit meinem Wagen weiterfahren zu lassen. Er steht zu Ihren Diensten.«

Mr. Dorrit bedachte sich, daß er Geschäfte bei seinem Bankier habe. Sein Bankier wohnte in der City. Das traf sich glücklich; Mr. Merdle konnte ihn in die City mitnehmen. Aber er dürfe natürlich Mr. Merdle nicht aufhalten, bis er seinen Rock angezogen? Jawohl dürfe und müsse er das; Mr. Merdle bestand darauf. Mr. Dorrit zog sich deshalb in das nächste Zimmer zurück, vertraute sich seinem Kammerdiener an und kam nach fünf Minuten strahlend wieder.

Dann sagte Mr. Merdle: »Erlauben Sie mir, Sir. Nehmen Sie meinen Arm.« Dann stieg Mr. Dorrit, auf Mr. Merdles Arm gelehnt, die Treppe hinab, sah die Gläubigen auf den Stufen stehen und fühlte, daß ein Abglanz des Lichts von Mr. Merdle auf ihn fiel. Dann stieg man in den Wagen und fuhr in die City, und das Volk staunte sie an, und die Hüte flogen von grauen Köpfen herunter, und es war ein allgemeines Bücken und Kriechen vor diesem wunderbaren Sterblichen; eine solche Demut im Geiste war – beim Himmel, nein! das mögen die Schmeichler aller Namen bedenken – weder in der Westminster-Abtei noch in der St. Paulskirche zusammengenommen an irgendeinem Sonntag im Jahre zu sehen. Es war ein berauschender Traum für Mr. Dorrit, so hoch erhaben in diesem öffentlichen Triumphwagen zu sitzen und diese prachtvolle Fahrt nach dem entsprechenden Ziele, der goldenen Lombardstraße mitzumachen.

Dort bestand Mr. Merdle darauf, auszusteigen und seinen Weg zu Fuß zu machen, indem er seinen armen Wagen zu Mr. Dorrits Disposition stellte. So wurde der Traum noch berauschender, als Mr. Dorrit allein von dem Bankier herauskam und die Leute in Abwesenheit Mr. Merdles ihn ansahen und er mit den Ohren seines Geistes den häufigen Ausruf hörte, während er blitzschnell dahinfuhr: »Ein ausgezeichneter Mann muß das sein, wenn er Mr. Merdles Freund ist!«

Bei dem Mittagsmahl dieses Tages, obgleich es ganz unvorbereitet arrangiert war, befand sich eine glänzende Gesellschaft von lauter Leuten, die nicht aus irdischem Staube, sondern aus einem wertvolleren, bis jetzt unbekannten Stoffe gemacht waren und ihren herrlichen Segen auf die Ehe der Tochter Mr. Dorrits ausströmten. Und Mr. Dorrits Tochter begann an diesem Tage in allem Ernst ihren Wettkampf mit jener nicht anwesenden Frau; und begann ihn so gut, daß Mr. Dorrit, wenn man es verlangt, die eidliche Erklärung hätte abgeben können, Mrs. Sparkler habe ihr ganzes Leben der vollen Länge nach im Schoße des Glückes gelegen und habe nie von einem so groben Worte der englischen Sprache wie Marshalsea gehört.

Am nächsten und übernächsten und allen darauffolgenden Tagen, die stets von neuen Tischgesellschaften beehrt waren, wirbelten Karten auf Mr. Dorrit herab wie Theaterschnee. Als Freund und Verwandter des berühmten Mr. Merdle wünschten Advokat, Bischof, Schatz, Chornus und jedermann Mr. Dorrit kennenzulernen. In den zahlreichen Kontors Mr. Merdles in der City war, wenn Mr. Dorrit in einem derselben bei seinen Geschäftsbesuchen im Osten erschien (was häufig geschah, denn diese nahmen erstaunlich zu), der Name Dorrit stets ein Paß, der Zutritt zu dem großen Merdle verschaffte. So wurde der Traum mit jeder Stunde berauschender, und Mr. Dorrit fühlte immer mehr, daß diese Verbindung ihn wirklich vorwärtsgebracht habe.

Nur eines lag nichts weniger als golden und leicht auf Mr. Dorrits Seele. Das war der Oberhaushofmeister. Diese erstaunliche Persönlichkeit sah ihn während seiner offiziellen Beaufsichtigung des Diners in einer Weise an, die Mr. Dorrit sehr in Frage zu ziehen geneigt war. Wenn er durch die Halle und über die Treppe ging, um sich zum Diner zu begeben, sah er ihn mit einer glasigen Starrheit an, die Mr. Dorrit nicht gefiel. Wenn Mr. Dorrit bei Tische saß und trank, sah er durch sein Weinglas, wie der Oberhaushofmeister ihn mit kaltem und geisterhaftem Blicke betrachtete. Der Zweifel stieg in ihm auf, ob ihn nicht der Oberhaushofmeister als Gefangenen gekannt, ihn im Gefängnis gesehen – vielleicht ihm sogar vorgestellt worden. Er sah den Oberhaushofmeister so genau an, als man überhaupt einen solchen Mann ansehen kann, und doch erinnerte er sich nicht, daß er ihn je anderwärts gesehen hatte. Zuletzt neigte er sich zu der Ansicht, daß der Mann keine Ehrfurcht, diese große Kreatur kein Gefühl besitze. Aber das beruhigte ihn nicht, denn, er mochte denken, was er wollte, der Oberhaushofmeister ließ sein geringschätziges Auge auf ihm ruhen, selbst wenn dieses Auge auf das Silberzeug oder andern Tafelschmuck sah. Ihm einen Wink zu geben, daß diese Begrenzung seines Blickes unangenehm sei, oder ihn zu fragen, was das heißen solle, war ein zu kühnes Wagstück, um sich dazu zu entschließen, denn er war gegen seinen Herrn und dessen Gäste entsetzlich streng und erlaubte ihnen nicht, sich die geringste Freiheit gegen ihn herauszunehmen.